Protokoll:
3018

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 3

  • date_rangeSitzungsnummer: 18

  • date_rangeDatum: 20. März 1958

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:03 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:25 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 18. Sitzung Bonn, den 20. März 1958 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abg. Frau Dr. h. c. Weber 823 A Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. die deutsche Frage auf künftigen internationalen Konferenzen (Drucksache 238) ; Große Anfrage der Fraktion der FDP betr. Gipfelkonferenz und atomwaffenfreie Zone (Drucksache 230) Dr. Gradl (CDU/CSU) 823 D Dr. Mende (FDP) 828 D Dr. Adenauer, Bundeskanzler . 840 C, 893 B Dr. von Brentano, Bundesminister 847 D, 894 C Dr. Arndt (SPD) 854 D Strauß, Bundesminister 861 B Erler (SPD) 880 B Dr. Maier (Stuttgart) (FDP) 895 B Kiesinger (CDU/CSU) 902 C Nächste Sitzung 913 D Anlage 915 A Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 18. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. März 1958 823 18. Sitzung Bonn, den 20. März 1958 Stenographischer Bericht Beginn: 9.03 Uhr.
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Albrecht 12. 4. Dr.-Ing. e. h. Arnold 20. 3. Dr. Baade 21. 3. Bading 20. 3. Bazille * 1. 4. Dr. Becker (Hersfeld) 19. 4. Bergmann * 21. 3. Birkelbach * 21. 3. Dr. Birrenbach * 21. 3. Blachstein 29. 3. Dr. Burgbacher * 21.3. Conrad 18.4. Cramer 21. 3. Dr. Deist * 21.3. Deringer * 21.3. Dr. Elbrächter * 21.3. Engelbrecht-Greve * 21. 3. Felder 31.3. Dr. Friedensburg * 21. 3. Frau Friese-Korn 31. 5. Funk 21.3. Dr. Furler * 21. 3. Frau Dr. Gantenberg 21. 3. Gehring 22.3. Geiger (München) * 21. 3. Gottesleben 22. 3. Dr. Greve 21.3. Hahn * 21. 3. Heiland 31.3. Hellenbrock 24.3. Heye 20. 3. Dr. Höck (Salzgitter) 31. 3. Höcker 15.4. Frau Dr. Hubert 12.4. Illerhaus * 21.3. Jahn (Frankfurt) 29.3. Jürgensen 31.3. Kalbitzer * 21. 3. Frau Kipp-Kaule 29.3. Dr. Kopf * 21.3. Dr. Kreyssig * 21.3. Kunze 15.5. Leber * 21.3. Lenz (Brühl) * 21. 3. Lenz (Trossingen) 29.3. Dr. Leverkuehn * 21.3. Dr. Lindenberg * 29. 3. Logemann 20. 3. Lücker (München) * 21. 3. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 30. 4. Margulies * 21. 3. Mellies 25.4. Metzger* 21. 3. Müller (Worms) 22. 3. Müller-Hermann * 21. 3. Neumann 12.4. Frau Niggemeyer 21. 3. Dr. Oesterle * 21. 3. Paul 30.4. Pelster 1.4. Frau Dr. Probst * 21. 3. Pütz 21.3. Ramms 31.3. Dr. Ratzel* 21.3. Richarts * 21.3. Frau Rudoll 20. 3. Scheel * 21. 3. Dr. Schmidt (Gellsersen) * 21. 3. Schneider (Hamburg) 31. 3. Dr. Schneider (Saarbrücken) 21. 3. Dr. Starke 21. 3. Storch * 21.3. Storm (Meischenstorf) 20. 3. Sträter * 21. 3. Frau Strobel * 21. 3. Struve 21.3. Unertl 20. 3. Dr. Vogel 22. 3. Vogt 12.4. Wehking 20. 3 Wehr 31.3. Weinkamm 29. 3. Dr. Will 21. 3. Wittmann 20. 3. b) Urlaubsanträge Frau Dr. Steinbiß 29. 3. Dr. Zimmermann 6. 5. * Für die Teilnahme an der Tagung der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Gesamtes Protokol
Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301800000
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich unserer Kollegin Frau Dr. h. c. Weber die Glückwünsche des Hauses aussprechen. Zum wievielten Geburtstag, sage ich nicht.

(Heiterkeit und Beifall.)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung erweitert werden um den Schriftlichen Bericht des Außenhandelsausschusses über den Entwurf einer Zweiten Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1958 (Drucksachen 292, 277). Ich werde diesen Tagesordnungspunkt I morgen aufrufen. — Das Haus ist damit einverstanden; es ist so beschlossen.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 14. März 1958 dem Gesetz zur Änderung des Bundesrückerstattungsgesetzes und dem
Gesetz zur Änderung des Selbstverwaltungsgesetzes zugestimmt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 14. März 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Reform des Umsatzsteuersystems (Drucksache 234) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 282 verteilt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 14. März 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Umsatzsteuererleichterung für Vereinigungen von Obst- und Gemüseerzeugern (Drucksache 233) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 283 verteilt.
Der Herr Bundesminister für Familien- und Jugendfragen hat unter dem 15. März 1958 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Probst, Frau Dr. Kuchtner, Frau Geisendörfer, Höcherl und Genossen betreffend Förderung des Einsatzes von Familienpflegerinnen und Dorfhelferinnen (Drucksache 227) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 284 verteilt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 14. März 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Gesetz über die Personalvertretung im Bundesgrenzschutz (Drucksache 235) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 285 verteilt.
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dein 17. März 1958 die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Verhalten der Bundesregierung bei der Wahl des Staatssekretärs Hallstein zum Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Drucksache 166) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 293 verteilt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 14. März 1958 auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestages in seiner 193. Sitzung am 21. Februar 1957 über die Auswirkungen des Verkehrsfinanzgesetzes 1955, insbesondere über den Werkfernverkehr, berichtet. Sein Schreiben wird als Drucksache 281 verteilt.
Der Herr Stellvertreter des Bundeskanzlers hat unter dem 14. März 1958 gemäß § 30 Abs. 4 des Bundesbahngesetzes den Wirtschaftsplan und Stellenplan für die Sonderrechnung der
Bundesbahndirektion Saarbrücken für das Geschäftsjahr 1957 übersandt, der im Archiv zur Einsichtnahme ausliegt.
Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP betreffend Ferienaktion für Berliner Kinder (Drucksache 270) ist von den Antragstellern zurückgezogen worden, da die Angelegenheit auf andere Weise erledigt werden wird.
Ich rufe auf Punkt 1 der Tagesordnung:
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU
betreffend die deutsche Frage auf künftigen
internationalen Konferenzen (Drucksache 238).
Ich verbinde damit die
Große Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Gipfelkonferenz und atomwaffenfreie Zone (Drucksache 230).
Wir haben im Ältestenrat vereinbart, daß die Großen Anfragen der Punkte 1 und 2 zunächst begründet und dann von der Bundesregierung beantwortet werden. Im Anschluß daran wird das Haus in die Aussprache eintreten.
Wer wünscht das Wort zur Begründung der Großen Anfrage der CDU/CSU? — Herr Abgeordneter Dr. Gradl, bitte sehr, Sie haben das Wort.

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0301800100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union hat am 27. Februar eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Der Text liegt ihnen in der Drucksache 238 vor. Thema der Anfrage ist die Behandlung der deutschen Frage auf künftigen internationalen Konferenzen.
Noch ist nicht sicher, wann sich die Mächte am Konferenztisch gegenübersitzen. Aber in den üblichen Formen internationalen Meinungsaustausches, im Brief- und Notenwechsel, in Interviews und in Erklärungen der Staatsmänner ist die Begegnung in Wirklichkeit bereits im Gange, und die internationale Diskussion über den Inhalt einer Konferenz ist so intensiv, daß es uns notwendig erscheint, die deutschen Auffassungen nachhaltig
— und das heißt: durch Regierung und Parlament
— in die internationale Diskussion einzufügen. Von dem weiteren Verlauf dessen, was jetzt unter dem Kennwort „Gipfelkonferenz" in der internationalen Politik in Gang gekommen ist, hängt zuviel für Deutschland ab. In unserem Volk besteht unverkennbar die Sorge, auch der jetzt beginnende, nächste Abschnitt der Weltpolitik könnte schließlich an dem vorbeigehen, was uns besonders bedrängt.
Es wäre deshalb, so meinen wir, ein grobes Versäumnis, den deutschen Standpunkt nicht genügend



Dr. Gradl
in das Bewußtsein der internationalen Politik und Öffentlichkeit zu bringen.
Ich habe diese kurze Vorbemerkung über den Sinn dieser Debatte gemacht, weil es falsch wäre, in ihr nur eine Verlängerung der turbulenten Nacht des 23. Januar zu sehen. Dabei verhehlen wir nicht, daß uns die außenpolitische Debatte am 23. Januar, so wie sich nächtlich schließlich ergeben hat, keineswegs geeignet erscheint, unnötig lange als der deutschen Weisheit letzter Schluß zu gelten.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Das heißt man Nachtisch!)

Manches aus jener Debatte bedarf auch der Klarstellung, einfach der Geltung des deutschen Willens wegen. Außerdem wuchern seit jener Debatte in der innerdeutschen Diskussion rund um die Begriffe Pankow und Konföderation Vorstellungen, die nach unserer Meinung die deutsche Position in dem kommenden Ost-West-Ringen schwächen.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

Hier Klarheit zu bringen ist auch notwendig im Interesse der Menschen in der Zone.

(Lebhafte Zustimmung in der Mitte.)

Durch präzise Feststellungen nach draußen und durch Klärung im Innern in rechter Weise die deutsche Frage zu unterstreichen und international einzuschalten, das ist, in einem Satz gesagt, der Sinn dieser Debatte, so wie die Christlichen Demokraten ihn sehen.
An der Spitze unserer konkreten Fragen steht die Frage, ob die Bundesregierung der Auffassung ist, daß die Wiedervereinigung Deutschlands auf der Gipfelkonferenz behandelt werden muß. Eigentlich sollte sich das Ja auf diese Frage von selbst verstehen, aber tatsächlich ist das nicht selbstverständlich. In unserem eigenen Lande vertreten gewichtige Stimmen der Opposition den Standpunkt, man sollte nicht unbedingt darauf bestehen, daß die Wiedervereinigung auf die Tagesordnung kommt,

(Hört! Hört! in der Mitte)

man sollte anderen Aufgaben den Vorrang geben.

(Abg. Dr. Mommer: Sagen Sie das Ihrem Pressechef!)

Unser Ausgangspunkt in dieser Frage ist von der Überzeugung bestimmt, daß eine früher oder später kommende Gipfelkonferenz ein entscheidender Versuch sein wird, die weltpolitische Situation zu entspannen. Der letzte Versuch dieser Art war im Juli 1955 in Genf, und er ist gescheitert. Seitdem sind drei Jahre vergangen. Mit Gipfelkonferenzen kann man nicht in kurzen Abständen rechnen. Bleibt eine Frage auf einer solchen Tagung ungelöst oder gar unerörtert, dann bleibt sie es nach menschlichem Ermessen für geraume Zeit. .Für wie außergewöhnlich die Sowjetunion selbst diese Gipfelkonferenz hält, zeigt sie, indem sie in ihrer Note vom 28. Februar an die Vereinigten Staaten von der „historischen Aufgabe" der Konferenz spricht. Wir
dürfen uns also nichts vormachen. Bei dem Tauziehen um die Tagesordnung ging und geht es nicht nur um Fragen des Verfahrens, sondern um den Versuch, sachliche Entscheidungen vorwegzunehmen. Die Aufnahme der Wiedervereinigung in den Verhandlungsbereich der Gipfelkonferenz verweigern, das heißt, die Sache selbst von vornherein verweigern wollen.
Alle sowjetischen Äußerungen im bisherigen Vorspiel der Gipfelkonferenz sprechen völlig klar aus, daß die Sowjetunion ihre Ziele auf der Basis des Status quo, auf der Basis des geteilten Deutschland, erreichen will. In den letzten Tagen hat es Rätselraten darüber gegeben, ob die Sowjetregierung es nunmehr nicht auch für möglich halte, daß ein deutscher Friedensvertrag mit einem tatsächlich repräsentativen gesamtdeutschen Gremium verhandelt werden könne. Es gab darüber widerspruchsvolle Meldungen. Solange sich, so meinen wir, die Sowjetregierung nicht verbindlich und klar anders äußert, muß man von dem ausgehen, was von ihr schwarz auf weiß vorliegt. Das ist ihr Memorandum vom 28. Februar. Dieses Memorandum zeigt keine andere Grundlage für eine friedensvertragliche Regelung als das Nebeneinander von Bonn und Pankow oder die sogenannte Konföderation beider.

(Abg. Dr. Mommer: Was war gestern?)

Es ist eine alte Taktik der sowjetischen Deutschlandpolitik, durch Andeutungen Illusionen zu wekken, ohne dabei die Sowjetpolitik irgendwie verbindlich zu formulieren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Im Grunde ist all das, was heute in sowjetische Noten und Äußerungen von 1950 bis 1955 hineingedeutet wird, durch die helldunklen sowjetischen Formulierungen in jenen Jahren ausgelöst worden. Um so mehr haben wir Anlaß, nunmehr und künftig auf Deutlichkeit sowjetischer Erklärungen Wert zu legen, um nicht neuen Stoff für neue Legendenbildung zu bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Auf jeden Fall halten wir es für angebracht, daß sich die Bundesregierung hierzu äußert.
Unsere Frage wird auch durch folgende Überlegung veranlaßt. Der Teilnehmerkreis der Gipfelkonferenz steht noch nicht fest; aber ganz sicher gehören ihm die Vier Mächte an, die 1945 in Potsdam die Verantwortung für Deutschland übernommen haben, dieselben Vier Mächte, die 1955 in Genf die Verantwortung für die Wiedervereinigung bestätigt haben. Wenn nun nach langer Zeit diese Vier, wenn auch vielleicht in größerem Rahmen, zusammenkommen, kann doch von deutscher Seite nicht darauf verzichtet werden, eine Betätigung im Sinne dieser Verantwortung zu verlangen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn diese Mächte zusammentreffen, um gemeinsam für die Welt Frieden und Entspannung zu suchen, dann haben wir Deutsche ganz sicher die Pflicht, ihnen dabei nach besten Kräften zu helfen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)




Dr. Gradl
Wir haben jedoch auch die Pflicht, deutlich zu verlangen, daß 13 Jahre nach Kriegsende die deutsche Einheit zu einem wesentlichen Gegenstand ihrer Verhandlungen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Muß also unter allen diesen Umständen eine deutsche Regierung nicht unbedingt daran festhalten, daß in den Kreis der Gipfelaufgaben auch die Wiedervereinigung einbezogen wird? Wenn die deutsche Regierung nicht mit größter Eindringlichkeit darauf beharrt, wer soll es sonst tun? Können wir erwarten, daß es dann andere Regierungen tun?

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Mommer: Wem sagen Sie das?)

Das etwa sind die Überlegungen, die unsere Frage veranlaßt haben, ob die Bundesregierung der Auffassung ist, daß die Wiedervereinigung auf der OstWest-Gipfelkonferenz behandelt werden muß.
Wir haben diese Hauptfrage ergänzt durch die Frage, ob die Bundesregierung der Auffassung ist, „daß keine wirkliche Lösung der internationalen Spannungen möglich ist ohne die Wiedervereinigung". Unter Deutschen ist diese Frage keine Frage. Wir sind in diesem Hause einig, daß die Spaltung unseres Landes, daß der harte und mannigfache Druck, dem die Bevölkerung Mitteldeutschlands ausgesetzt ist, eine ständige, eine sehr ernste und vielleicht eine noch wachsende Gefahr für den Frieden ist. In der Welt ist diese Überzeugung nicht überall so lebendig. Die deutsche Regierung darf deshalb nichts unterlassen, um der Illusion der Status-quo-Politik zu begegnen, der Illusion, die internationalen Spannungen in diesem Teil der Erde ließen sich lösen, wenn und solange dem deutschen Volk die nationale Einheit vorenthalten wird. Es wäre sicher Wahnsinn, den Status quo mit Gewalt zu ändern, aber es wäre, meinen wir, ebenso gefährlich, unserem Volk auf die Dauer sein Recht auf Einheit vorzuenthalten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

In derselben politischen Problematik wie die erste steht auch unsere zweite Frage: ob die Bundesregierung eine Behandlung von Fragen der europäischen Sicherheit auf der Konferenz für nützlich hält, wenn die Behandlung der Wiedervereinigungsfrage von der Sowjetunion abgelehnt wird. In diesem Zusammenhang würden wir es zunächst begrüßen, wenn die Bundesregierung überhaupt ihre Auffassung über die gegenwärtige Sicherheit für Europa und zumal für unser eigenes Land darlegen würde. Denn diese Sicherheit ist schließlich fundamental für alle politischen Überlegungen.
Unsere konkrete Frage an die Bundesregierung ist auf die europäische Sicherheit abgestellt. Denn natürlich muß man unterscheiden zwischen globaler Abrüstung und Sicherheit und derselben Zielsetzung in europäischer Beschränkung. Kernwaffenverbot, allgemeine konventionelle Abrüstung oder auch die Benutzung des Weltraums für militärische Zwecke — das sind Dinge von globalem Gewicht; sie können nur global geordnet werden.
Immer jedoch stellt sich vom deutschen Standpunkt die Frage, ob bei irgendeiner bestimmten Entwicklung nicht die Wiedervereinigung vielleicht zu kurz kommen könnte. Diese Frage bekommt, so meinen wir, entscheidende Bedeutung, wenn solche Versuche auf den engen europäischen Raum beschränkt werden und wenn man hier nur gegen die militärische Spannung angeht, hingegen die zugrunde liegende politische Spannung umgeht. Ein Beispiel hierfür ist der Rapacki-Plan. Ein anderes Beispiel bietet der Gedanke, gewissermaßen einen zentraleuropäischen Abrüstungspakt auf provisorischer Basis abzuschließen und die Wiedervereinigung für später offenzulassen. Würde in solcher Weise verfahren, so bliebe der Status quo, die politische Position. der Sowjetunion in Mitteldeutschland erhalten. Es ist kein Grund erkennbar, der die Sowjetunion dann stärker als heute veranlassen könnte, den Weg zur friedlichen Wiedervereinigung freizugeben.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

In einer Sache, in der es buchstäblich um unser Schicksal geht, kann man sich nicht auf vage Andeutungen und auf substanzlose freundliche Bemerkungen verlassen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Wir haben schließlich aus den Jahren nach 1945 zu deutlich in Erinnerung, mit welcher Zielstrebigkeit und Rücksichtslosigkeit die Vertreter der Sowjetunion in Mitteldeutschland auf die kommunistische Umwandlung und auf die Schaffung einer kommunistischen Ausgangsposition hingesteuert sind.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Die Blockade Berlins war nicht das einzige, sie war das drastischste Zeichen. Man mag uns Mißtrauen vorwerfen. Aber unser Mißtrauen ist — leider — durch Erfahrung begründet.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Auf der Genfer Gipfelkonferenz 1955 ist der innere Zusammenhang zwischen europäischer Sicherheit und Wiedervereinigung von allen vier Großmächten, auch von der Sowjetunion, anerkannt worden. Wenn wir an diesem Junktim festhalten, dann ist das nicht unfruchtbare Starrheit. Eine Regierung ist immer in der mißlichen Lage, ihre Überlegungen sehr vorsichtig und zurückhaltend formulieren zu müssen, zurückhaltender vielleicht, als ihre Gedanken tatsächlich sind. Aber wir würden es begrüßen — und das ist der weitere Sinn unserer Frage —, wenn sich die Regierung in der Lage sähe, wenigstens über die Tendenz ihrer Überlegungen zu sprechen. Wir erinnern uns des Memorandums der Bundesregierung an die Sowjetunion vom 2. September 1956, das von der innerdeutschen Opposition merkwürdig unbeachtet blieb, und wir wüßten gern, ob die Bundesregierung noch den damaligen Gedankengängen nachgeht oder ob sich inzwischen neue Überlegungen ergeben haben.
Europäische Sicherheit und Wiedervereinigung sind, gerade wenn man sie in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und mit dem Willen zur Verwirklichung sieht, Entwicklungsvorgänge, und das



Dr. Gradl
heißt: Fördernde Verknüpfungen wären möglich, wenn man sich nicht wie die Sowjetunion bisher nur auf das eine konzentrierte, das andere, die Wiedervereinigung, aber ablehnte.
Seit der vorigen außenpolitischen Debatte gibt es eine lebhafte Diskussion über freie Wahlen als Bedingung der Wiedervereinigung. Früher war man darüber im Bundestag einig. Die deutsche Position in früher oder später kommenden konkreten Auseinandersetzungen mit dem Osten über die deutsche Frage würde, so glauben wir, geschwächt, wenn es diese Übereinstimmung nicht mehr geben sollte.
Deshalb hielten wir unsere dritte Frage für notwendig, ob die Bundesregierung an dem Grundsatz festhält, daß für die Wiedervereinigung freie Wahlen in beiden Teilen Deutschlands unerläßlich sind. Von der Aussprache über diese Frage erhoffen wir im Gesamtinteresse eine Klarstellung, daß die Parteien dieses Hauses nach wie vor an dem festhalten, was seit 1950 in vielen Entschließungen des Deutschen Bundestags festgestellt worden ist: daß nämlich die Forderung nach Wiedervereinigung auf der Basis freier Wahlen unabdingbar ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dabei liegt uns an einigen Feststellungen. Die Wiedervereinigung muß zu einem in Freiheit geeinten Deutschland führen, d. h. zu einem Gesamtdeutschland, in dem unser Volk nach seiner Art und seinem freien Willen sein Leben ordnen kann. In einem demokratischen Staatswesen — und das soll doch Gesamtdeutschland sein — gibt es dafür nur den Weg allgemeiner, gleicher, freier und geheimer Wahlen. Deshalb sind sie unverzichtbar.

(Sehr gut! in der Mitte.)

An welcher Stelle im zeitlichen Ablauf eines Wiedervereinigungsprozesses die freien Wahlen zu stehen haben, ist keine gleichgültige Frage. Sie müssen nicht der allererste Akt in dem Vorgang sein.

(Zuruf von der SPD: Aha!)

Die freien Wahlen pflegen an den Anfang des Forderungskatalogs zur Wiedervereinigung gestellt zu werden — so zum Beispiel in den früheren einstimmigen Entschließungen des Bundestags —, um zum Ausdruck zu bringen, daß die eigentliche Gestaltung Gesamtdeutschlands nur auf der Grundlage des eigenen und freien deutschen Willens begonnen werden soll und daß kein Vorstadium, kein vorgeschobenes Provisorium sein darf, das die freie Gestaltung der gesamtdeutschen Staats- und Gesellschaftsordnung verhindern könnte.

(Beifall bei CDU/CSU.)

Die Erfahrungen mit kommunistischen Verwandlungskünsten von echter zur Volksdemokratie geben genügend Anlaß zu äußerster Vorsicht; schließlich ist das Prager Beispiel erst zehn Jahre her.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Daß andererseits, wenn einmal der Weg zur Wiedervereinigung verbindlich freigegeben ist, wirklich freien Wahlen Informationsfreiheit, Pressefreiheit, Parteienfreiheit und dergleichen vorausgehen muß
und daß dafür gewisse Vorausordnungen notwendig sind, versteht sich von selbst. Wir würden es begrüßen, wenn die Bundesregierung in dieser Hinsicht ihre Überlegungen sagte.
Die Forderung nach freien Wahlen bezieht sich auf die Wiedervereinigung an sich, und sie ist für die Wiedervereinigung eine absolute Forderung. Aber seit Jahren ist es auch allgemeine Überzeugung und — entgegen den mannigfachen Mißdeutungen insbesondere gegenüber der CDU — auch die Auffassung unserer Partei, daß die Wiedervereinigung und die in ihr liegende Aufgabe in einem größeren politischen Zusammenhang steht und in ihm und mit ihm bewältigt werden muß. Es ist einfach töricht, uns zu unterstellen, daß wir Zusammenhänge und Abhängigkeiten nicht gesehen haben sollten, die beispielsweise in der engen Verknüplung von Fragen der europäischen Sicherheit und der Wiedervereinigung sowohl auf der Berliner Außenministerkonferenz 1954 wie auf der Genfer Gipfelkonferenz 1955 für jedermann offenbar sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Etwas anderes ist es, daß man über die tatsächlichen Schlüsse, die aus dieser Verknüpfung früher oder später einmal notwendig werden könnten, sehr verschiedener Meinung sein kann. Die Bundesregierung hat sich vielfach über die Zusammenhänge Abrüstung - Sicherheit - Entspannung - Wiedervereinigung geäußert. Trotzdem scheint es uns im Interesse der Klärung auch der innerdeutschen Diskussion angebracht, daß sie die Gelegenheit der heutigen Aussprache benutzt, um ihren Standpunkt darzulegen.
Unsere Frage an die Bundesregierung geht weiter dahin, ob sie einen Anlaß sieht, von der bisher von allen Parteien des Bundestags vertretenen Auffassung abzugehen, daß Verhandlungen mit der sogenannten DDR-Regierung kein geeigneter Weg zur Wiedervereinigung sind. In unserem Lande wird seit einiger Zeit häufiger gefragt, ob nicht vielleicht doch mit Pankow einmal gesprochen werden sollte. Dahinter steckt zuweilen nur redliche Verzweiflung über die Misere der deutschen Teilung. Aber es gibt auch anders begründete Äußerungen. In einem hessischen Parteiblatt der Sozialdemokratie schreibt ein Vorstandsmitglied der SPD Hessen-Süd, daß die Existenz der DDR zur Kenntnis genommen und mit ihr verhandelt werden sollte.

(Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Er schreibt weiter, daß freie Wahlen nur den Abschluß einer Entwicklung bilden werden — ich zitiere —, „für die eine sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik" eine wichtige Voraussetzung sei.

(Erneute lebhafte Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Man sollte glauben, daß solche Gedankengänge der Sozialdemokratie Sorge machen müßten. Aber erstaunlicherweise ist der erwähnte Aufsatz sogar noch ohne jede Einschränkung im Organ der So-



Dr. Gradl
zialdemokratischen Partei Deutschlands, im „Vorwärts", abgedruckt worden.

(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Ist also hier — so fragen wir mit echter Sorge —
ein grundsätzlicher Wandel in der SPD im Gange?

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! — Zuruf von der SPD: Das fragen wir Sie auch!)

Bei der FDP haben wir nicht nur in Erinnerung, daß Kreise dieser Partei im Herbst 1956 noch glaubten, Kontakte mit politischen Zonenfunktionären aufnehmen zu sollen, sondern daß auch aus denselben Reihen erst vor wenigen Wochen in Düsseldorf wieder ähnliche Bemerkungen gefallen sind.
Solche Erscheinungen sind nicht gleichgültig. Bei den mannigfachen Bemerkungen aus verschiedenen Richtungen, daß man der Begegnung mit Pankow nicht ausweichen könne, daß man über den Schatten Pankow springen müsse und dergleichen mehr, wird deutlich, daß die entscheidenden Hindernisse entweder vergessen sind oder mißachtet werden oder daß man glaubt, sie allmählich als langweilig empfinden zu können.

(Abg. Kiesinger: Wunschdenken!)

Deshalb würden wir es begrüßen, wenn die Bundesregierung Mögliches und Unmögliches in bezug auf Pankow zusammenfassend darlegte. Wir hoffen, daß dadurch einem Zerfließen der bisher einheitlichen und festen innerdeutschen Haltung vorgebeugt werden kann. Das Festhalten an der bisherigen Weigerung, die Zonenregierung als legitimierten politischen Sprecher für Mitteldeutschland anzunehmen, scheint uns aus vielen Gründen notwendig. Ganz besonders aber liegt uns in der gegenwärtigen Situation daran, Moskau keinen Grund zu der Spekulation zu lassen, bei genügender Ausdauer könnte es vielleicht doch erreichen, die Viermächteverantwortung auf einem runden Tisch der Deutschen abzuladen und zugleich den Weg zur Wiedervereinigung mittels der Pankower Gesprächsteilnehmer zu blockieren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Von östlicher Seite wird seit einiger Zeit mit großer Eindringlichkeit eine Konföderation zwischen der Bundesrepublik und dem Zonenregime vorgeschlagen. Dazu ist viel Kritisches bereits in der Debatte am 23. Januar gesagt worden. Nun wird neuerdings eine Konföderation auch als Partner eines deutschen Friedensvertrags von der Sowjetunion empfohlen, und in unserem Lande ist einige Verwirrung in die politische Diskussion durch eine ungenügende Unterscheidung zwischen Konföderation und Föderalismus gekommen. Um auch hier eine Klärung der Begriffe und der Situation herbeizuführen, haben wir in unserer vierten Frage die Bundesregierung gebeten, zu dem Vorschlag einer Konföderation zwischen der Bundesrepublik und der sogenannten DDR Stellung zu nehmen.
Das erscheint uns um so notwendiger, weil bei dem Konföderationsvorschlag als erstes naturgemäß der Gedanke naheliegt, darin könnten vielleicht der Anfang und die Keimzelle einer Wiedervereinigung
liegen. Tatsächlich wäre das Gegenteil der Fall. Eine konföderative Verbindung so entgegengesetzter und grundverschiedener Partner wie der Bundesrepublik und des Zonensystems kann zu keinerlei echter Gemeinschaft kommen. Es ist nicht erkennbar, in welcher Hinsicht ein gemeinsamer Wille zustande kommen könnte, es sei denn darin, daß jeder der Partner von dem Willen beseelt ist, sich nicht von dem anderen überfahren zu lassen. Eine solche Konföderation wäre vom ersten Tage an durch ihren inneren Widerspruch gelähmt, und ihr Bruch wäre zwangsläufig.
Der Preis aber, den wir .für den Abschluß einer Konföderation zu zahlen hätten, wäre unwiederbringlich: nämlich die Anerkennung des kommunistischen Separatstaates als zweiter deutscher Staat und die faktische Befreiung der vier Mächte von ihrer Verantwortung für die Wiederherstellung der deutschen Einheit.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Sowjetunion könnte dann unbeschwert von dieser Verantwortung die Rolle der entspannungsfreudigen Großmacht spielen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Siehe Ungarn!)

Die Aufgabe, die sowjetische Position in Mitteldeutschland zu konservieren und den sowjetfreien Teil Deutschlands, die Bundesrepublik, in der inneren Spannung des ungelösten Wiedervereinigungsproblems zu halten, könnte das System Ulbricht fortführen — und dann sogar international abgeschirmt durch die völkerrechtliche Fundamentierung eben der Konföderation.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Frage könnte sich anders darstellen, wenn wir es im Zonengebiet mit einem im echten Sinne demokratisierten System zu tun hätten, wenn dort die demokratischen Grundrechte und Grundfreiheiten eingeräumt würden. Hier liegt doch der eigentliche Kern des Übels, daß nämlich die Deutschen in der Sowjetzone gehindert sind, in freier Entscheidung eine wahrhaft legitimierte und legitime Repräsentanz zu schaffen. Gäbe es sie, dann wäre eine Konföderation möglich. Aber sie wäre auch zugleich überflüssig, denn für die Abwicklung der Teilung Deutschlands — wenn sie einmal freigegeben ist — gibt es genügend andere und bessere Wege. Dann nämlich wäre der Weg auch zu einer staatsrechtlichen Gemeinschaft in mehr oder minder föderativer bundesstaatlicher Weise offen.
Auch in folgendem Zusammenhang würden wir es begrüßen, wenn die Bundesregierung ihre Vorstellungen von der Wiedervereinigung präzisieren würde. Von den Zonenkommunisten wird systematisch behauptet, daß wir in der Bundesrepublik uns unter Wiedervereinigung einen primitiven Anschluß Mitteldeutschlands, eine simple und rücksichtslose Übertragung der westdeutschen Gegebenheiten auf Mitteldeutschland und eine Art innenpolitischen Rachefeldzuges vorstellen. Wir hier — und ich möchte meinen, daß wir in diesem Hause darüber im Grundsatz einig sind — wissen, daß das nicht so sein würde. Aber es erscheint uns an-



Dr. Gradl
gebracht, daß die Bundesregierung in diesem Augenblick auch hierzu das Erforderliche sagt.
Unsere fünfte und letzte Frage bezieht sich auf die Beratung und Abstimmung der politischen Auffassungen der Bundesregierung mit den Partnern in der NATO, insbesondere mit denen, die voraussichtlich an der kommenden Konferenz oder an den kommenden Konferenzen beteiligt sein würden. Wir halten es für unerläßlich, daß eine solche gegenseitige Klärung in und mit der NATO stattfindet. Weder die Sicherheit noch die Wiedervereinigung Deutschlands vermögen wir, so wie die Dinge liegen, allein zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Allein sind wir kein politischer Faktor, der in der weltpolitischen Kalkulation der Sowjetunion besonderes Gewicht hat. Wir brauchen den Rückhalt und wir brauchen die Unterstützung durch die Verbündeten, und wir brauchen sie ganz besonders, wenn sich einmal die atomautarken Großmächte gegenübersitzen, zu denen wir nicht gehören und nicht gehören werden.
Um ihre Unterstützung und Förderung unserer Anliegen zu haben, müssen wir unseren Verbündeten unsere Auffassungen darlegen, müssen wir natürlich auch die ihren erfahren, müssen wir etwaige Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und in geeigneter Weise ihre Initiative zu veranlassen suchen. Dazu gehört in der gegenwärtigen Situation ein besonders enger und stetiger Kontakt. Wir wollen wissen, was die Bundesregierung in dieser Hinsicht getan hat, was sie vorhat und welche Erfahrungen bisher bestehen.
Aber natürlich ist die Frage nicht ausgefüllt mit der Schaffung und Darlegung der Kontaktapparatur innerhalb unseres Bündnissystems. Der Bundesregierung wird von ihren innerdeutschen Kritikern gern vorgeworfen, sie unterlasse es, ihre eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Es erscheint uns notwendig, daß die Bundesregierung hierzu Stellung nimmt. Ich erwähnte schon einmal: eine Regierung ist gegenüber ihren Kritikern immer im Nachteil; im Interesse des politischen Zieles darf sie ihre Karten nicht vorzeitig ausspielen. Das gilt insbesondere, wenn man in der Auseinandersetzung mit sowjetischer Politik steht. Die Sowjets verstehen es meisterhaft, mit wortreichen, von Verständigungsbereitschaft überschäumenden Erklärungen und mit halbausgesprochenen Zusagen einen Nebel von Illusionen zu wecken, hinter dem ihre starre Hartnäckigkeit nicht so grob sichtbar werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Sowjetpolitik erreicht damit, daß die andere Seite immer nach neuen Möglichkeiten sucht, durch Lockerung der eigenen Position zu einer Verständigungsbasis zu kommen. Was dabei herauskommt, nehmen die Sowjets gerne entgegen, aber sie honorieren die Vorleistung nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

In dieser Situation also wäre es falsch, alle Möglichkeiten darzulegen und sie gar in einem vollkommenen Plan darzulegen. Solches Plänemachen,
wie es gegenwärtig in unserem Lande modern zu sein scheint, ist zutiefst problematisch, weil die Gesamtlage unbekannt ist, in der einmal die Wiedervereinigung wirklich zur Entscheidung steht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Gesamtlage: das heißt der Grad der allgemeinen Entspannung, der allgemeinen Abrüstung, des echten Sicherheitsbedürfnisses, die dann bestehen. Dennoch, meinen wir, sollte es möglich sein, daß die Bundesregierung ein Bild entwickelt von den allgemeinen Vorstellungen, die sie sich in dieser Hinsicht macht und die sie den Verbündeten nahezubringen sucht. Denn darüber — das sei am Schluß noch einmal betont — sind wir uns in unseren Reihen, in den Reihen der CDU/CSU im klaren: Die internationale Politik ist in einer wichtigen und zugleich kritischen Phase. Sie steht vor Aufgaben von atemberaubender Größe und in einer Spannung von äußerster Gefahr. Sie müssen im Guten gelöst werden, wenn die Menschheit nicht in unvorstellbares Unglück kommen soll. So ist die Aufmerksamkeit der großen Mächte, der Mächtigen, auf viele Dinge gerichtet und auf Dinge, die wichtiger scheinen als das, was uns Deutsche so besonders bewegt. Da wird viel Zähigkeit, viel Geschmeidigkeit und viel verständiger Wille von deutscher Seite gezeigt werden müssen, nach allen Seiten, auch nach Osten. Wir werden alle Hände voll zu tun haben, um unser Anliegen auf dem Verhandlungstisch der Weltpolitik zu halten und in der Aufgabe der Wiedervereinigung weiterzukommen. Hoffentlich vermag die Debatte heute und morgen dieser Aufgabe zu dienen.

(Anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301800200
Sie haben die Begründung der Großen Anfrage der CDU/CSU gehört.
Zur Begründung der Großen Anfrage der FDP hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Mende.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0301800300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Die außenpolitische Debatte des 23. Januar dieses Jahres hat nicht nur in Deutschland, sondern zumindest in der westlichen Welt einen niederschmetternden Eindruck hinterlassen.

(Lachen und Beifall bei der CDU/CSU.)

Es waren zwar keine Überraschungen zu erwarten, die Fronten lagen im wesentlichen fest, trotzdem hoffte man, daß die die Weltöffentlichkeit so stark erregenden Vorträge des Amerikaners Kennan und der Plan des polnischen Außenministers Rapacki eine wünschenswerte Bewegung endlich auch in die deutsche Außenpolitik bringen würden.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

So beginnt der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete und Parteifreund des Herrn Bundeskanzlers
und spätere Botschafter der Bundesrepublik in



Dr. Mende
London Schlange-Schöningen seinen Artikel in der Zeitung „Die Welt" vom 22. Februar 1958.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und SPD. — Zurufe von der Mitte.)

— Es empfiehlt sich, etwas zu warten und nicht zu früh zu klatschen.

(Erneuter Beifall bei der FDP und der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

Der Botschafter Dr. Schlange-Schöningen, CDU-Bundestagsabgeordneter des 1. Deutschen Bundestages und langjähriges Parteimitglied der CDU folgert schließlich:
Was soll nun eigentlich werden? Niemand kann von, uns verlangen, zehn, zwanzig oder dreißig Jahre zu warten, bis die Russen geneigt sein könnten, mit uns über die Wiedervereinigung zu verhandeln.

(Abg. Kiesinger: Was wollen Sie denn tun, um sie geneigt zu machen?)

„Zu spät" wird es dann wieder einmal von der deutschen Außenpolitik heißen. Sind wir
— so fragt Schlange-Schöningen —
denn wirklich zu nichts anderem fähig, als njet zu sagen?

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Warum ergreifen wir denn nicht jede gebotene Möglichkeit, wie sie uns in den verschiedensten Plänen auch vom Ausland nahegelegt wurden, um einen allerersten Anfang zu machen, aus dieser unfruchtbaren Erstarrung herauszukommen?
Um aus dieser unfruchtbaren Erstarrung herauszukommen, haben die Freien Demokraten auf Drucksache 230 eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, die im einzelnen zu begründen ich die Ehre habe. Wir fragen in dieser Großen Anfrage die Bundesregierung:
Ist die Bundesregierung bereit, sich bei den vier Mächten dafür einzusetzen, daß auf der kommenden Gipfelkonferenz die Grundsätze eines Vertrages für Gesamtdeutschland erörtert werden?
Ich darf Ihnen in Erinnerung rufen, daß wir in der Debatte des 23. Januar bereits ausgeführt und wiederholt erklärt haben, am Anfang der Entwicklung zur deutschen Wiedervereinigung stehe die Klärung des militärischen Status Gesamtdeutschlands und freie Wahlen müßten und würden am Ende eines langwierigen Entwicklungsprozesses stehen, gewissermaßen als Krönung unserer Bemühungen.
Der Vorredner, Kollege Dr. Gradl, hat in der Rede am 23. Januar diese Auffassung bestätigt. Er hat auch bei einem Colloquium in Bonn diese Auffassung wiederholt, die da lautet: Freie gesamtdeutsche Wahlen stehen nicht am Beginn, sondern
am Ende einer Entwicklung; am Beginn steht die Klärung des militärischen Status Gesamtdeutschlands.

(Abg. Kiesinger: Und der Frage der provisorischen, nicht frei gewählten Regierung, nicht wahr?)

Danach ist es ein Gemeinplatz, was ich hier wiederhole: zur deutschen Wiedervereinigung gehört das Ja aller vier Siegermächte, also auch das Ja der Sowjetunion. — Das Ja der Sowjetunion ist aber schwerlich zu erreichen, wenn Sie der Sowjetunion zumuten, daß sie auch noch den mitteldeutschen Raum und das mitteldeutsche Potential zur NATO schlagen lassen soll.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Eine solche Vorstellung schließt das Ja der Sowjetunion aus. Umgekehrt werden die Westmächte nicht ja sagen, wenn sie befürchten müssen, daß im Rahmen einer zeitlich langfristigen Entwicklung dieses wiedervereinigte Deutschland über ein neues Rapallo in den Sog des großen kontinentalen Nachbarn, der Sowjetunion, kommen könnte. Es gilt also eine Lösung zu finden, die verhindert, daß das Potential des 70-Millionen-Volkes der Deutschen und seines Raumes ausschließlich dem einen oder anderen der gegenwärtigen militärischen Bündnisse zufällt.

(Beifall bei der FDP.)

Damit beginnt die Problematik. Die Frage ist hier schon mehrfach gestellt worden: glauben wir denn wirklich nach allen geschichtlichen Erfahrungen, die andere mit uns und die wir mit anderen gemacht haben, daß man dem wiedervereinigten Deutschland militärische Handlungsfreiheit in dem Sinne geben wird, daß es in alleiniger Verantwortung entscheiden kann, wem es sich militärisch anschließen will?
Diese Gedankengänge sind mehrfach durch den stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU, durch den Herrn Bundestagspräsidenten Gerste nmaier, aufgenommen worden, zuletzt in verschiedenen Interviews und in der Broschüre einer Rede aus Stuttgart. Darin sagt der Herr Bundestagspräsident und stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU:
Die Einbeziehung der Bundeswehr in die atomare Rüstung der NATO sollte jetzt weder in positiver noch in negativer Hinsicht entschieden werden. Der Aufbau unserer Streitkräfte muß und wird unabhängig davon selbstverständlich so lange weitergehen, bis wenigstens die ersten Stufen eines auch noch so bescheidenen, aber realen Abrüstungsabkommens wirksam werden.

(Abg. Dr. Krone: Sehr gut!)

Und dann faßt Dr. Gerstenmaier zusammen:
Zusammengefaßt: wir wollen Verhandlungen mit folgendem Katalog: erstens die Methoden und Ziele der kontrollierten Abrüstung, zweitens die Klärung des politischen Status Gesamtdeutschlands und des Sicherheitssystems,



Dr. Mende
drittens Übereinstimmung über die Durchführung freier Wahlen und viertens Verhandlungsfrieden.
Herr Dr. Gerstenmaier schließt:
Es sollte mit größtem Nachdruck die ganz unabweisbare Forderung vertreten werden, daß die Deutschlandfrage in der Gestalt der Frage des Friedensvertrages auf die Tagesordnung dieser Ost-West-Konferenz gesetzt wird.
Wir haben bei der Formulierung unserer Anfrage bewußt den Terminus technicus Friedensvertrag vermieden, um nicht schlafende Hunde zu wecken und Ansprüche möglicherweise aus entferntesten Winkeln dieser Erde zu provozieren. Aber im Inhalt stimmt unsere Formulierung „Grundsätze eines Vertrages für Gesamtdeutschland" mit dem überein, was Herr Bundestagspräsident Dr. Gerstenmaier mit den „Grundsätzen eines Friedensvertrages" in dieser und in anderen Reden gemeint hat.
Ich frage nun die Bundesregierung: Wie steht die Bundesregierung zu dem Gedanken ihres stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU und Bundestagspräsidenten Dr. Gerstenmaier? Gilt die Aussage des Herrn Bundesaußenministers im Auswärtigen Ausschuß, daß solche Pläne schädlich und gefährlich seien, auch hier vor dem Deutschen Bundestag? Es bestehen begründete Vermutungen dafür, daß die Sowjetunion in ihrer Note an die USA vom 7. März 1958 die Gedankengänge des Herrn Bundestagspräsidenten und anderer Politiker aufgenommen hat. In dieser Note wird vorgeschlagen, daß auf der Gipfelkonferenz die Grundsätze eines Friedensvertrages mit Deutschland behandelt werden sollen.
Wie war die Reaktion der Bundesregierung auf die Meldung von der Note der Sowjetunion an die Vereinigten Staaten? Die erste Reaktion war vollkommen negativ. Das Bundespresseamt ließ durch seinen Sprecher erklären, man wisse zwar noch nicht genau, was in der Note stehe, aber in jedem Fall sei es ein reines Propagandamanöver, und man solle keine großen Erwartungen darin setzen.

(Abg. Dr. Bucerius: Das ist doch einfach nicht wahr!)

Auf Fragen von Journalisten ist gesagt worden, man habe Anlaß, zu glauben, daß es der Sowjetunion nur darum gehe, einen Friedensvertrag mit zwei deutschen Staaten abzuschließen. Schließlich verdichtete sich — das läßt sich mit vielen Zeitungsmeldungen noch nachträglich beweisen, Herr Kollege Bucerius — diese negative Einstellung sogar in der Formulierung vieler Schlagzeilen, die am nächsten Tage in der Presse der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wurden.
Man sagte, es sei die Bedingung enthalten, die Sowjetunion wolle einen Friedensvertrag nur mit zwei deutschen Staaten schließen. Das ist allerdings eine für uns alle in diesem Haus völlig indiskutable Lösung, und damit sollte dieser Vorschlag bereits im ersten Stadium vom Tisch verschwinden. Es ist glücklicherweise nicht dazu gekommen, sondern der Herr Bundestagspräsident hat es nach
Rückfrage bei den Fraktionsvorsitzenden und nach Besprechung auch mit seinen Kollegen für zweckmäßig gehalten, diese schon für den letzten Mittwoch angesetzte Debatte mindestens bis auf den heutigen Tag, wenn nicht gar auf die nächste Woche zu verschieben, um Klärung darüber zu erreichen, was die Sowjetunion in ihrem Vorschlag, über einen Friedensvertrag auf der Gipfelkonferenz zu verhandeln, denn wirklich meint.
Wir stellen fest: es handelt sich hier um eine und nicht die erste fahrlässige falsche Unterrichtung der deutschen Öffentlichkeit in dieser für die deutsche Frage so entscheidenden Problematik.

(Beifall bei der FDP.)

Dann kam eine Meldung, auf Grund deren sich die Initiatoren in der CDU/CSU-Fraktion bereit erklärten, ihre Vorstöße wieder einzustellen, da diese Frage ja nicht aktuell sei. Es handelt sich um die Meldung aus Manila, daß man auf der Gipfelkonferenz absolut nicht über die Deutschlandfrage, geschweige denn über einen Friedensvertrag, sprechen wolle, sondern lediglich über das Problem der Abrüstung. Und siehe da, während vorher die Bundesregierung es gewissermaßen als Conditio sine qua non deklariert hatte, daß auf der Gipfelkonferenz die Deutschlandfrage erörtert wird, zeigte sie nun plötzlich eine Schwenkung um 180 Grad.

(Abg. Kiesinger: Stimmt ja gar nicht!)

— Aber in der Abrüstungsfrage steckt ja die deutsche Frage drin, und so unbedingt brauchen wir an dieser Bedingung gar nicht festzuhalten. — Und siehe da, plötzlich stellt sich wieder heraus, die Manila-Meldung sei eine Falschmeldung. Das war zum zweitenmal eine grobe Fahrlässigkeit in der Unterrichtung der deutschen Öffentlichkeit, vielleicht mit tendenziösem Hintergrund.

(Beifall bei der FDP und der SPD. — Zuruf des Abg. Kiesinger. — Weitere Zurufe von der Mitte.)

Denn der Zweck war erreicht, die Vorstöße waren eingestellt. Dabei ist es doch mit den heutigen Mitteln der Technik wahrlich sehr einfach, zurückzufragen, um sich sagen zu lassen, was wirklich gemeint ist. Die Rückfrage war sowohl im ersten Fall der fahrlässigen Falschunterrichtung der deutschen Öffentlichkeit wie im zweiten Fall möglich.
Ich habe mir erlaubt, damals bei der Frage, ob wir die Debatte am vergangenen Mittwoch oder heute führen sollten, Kritik an der Tagungsweise des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages zu üben. Dieser Ausschuß ist im vergangenen ersten Halbjahr des 3. Deutschen Bundestages nur dreimal zusammengetreten!

(Hört! Hört! bei der FDP.)

In einer Zeit, da Noten unter den Staatsmännern gewissermaßen wie Postwurfsendungen gewechselt werden,

(Lachen und Zurufe von der Mitte)

hält es dieses so wichtige Gremium nicht für wichtig zu tagen.

(Zuruf des Abg. Kiesinger und weitere Zurufe von der Mitte.)




Dr. Mende
Ich sehe wahrlich einen Mangel in der Funktionsfähigkeit unseres Parlaments darin, daß dieser Ausschuß, aus welchen Gründen auch immer, im ersten Halbjahr des Deutschen Bundestages nicht öfter zusammenkommen konnte als nur dreimal.
Hier sollte der Präsident, hier sollte einmal der Geschäftsordnungsausschuß des Deutschen Bundestages prüfen, was man, sei es in geschäftsardnangsmäßiger, sei es in personeller Hinsicht, tun muß, um zu erreichen, daß dieser Ausschuß nicht weiter funktionsunfähig gemacht wird.

(Beifall bei der FDP und der SPD. — Lachen in der Mitte.)

Nach seiner Rückkehr vom Urlaub hatte der Herr Bundeskanzler ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Smirnow. Es scheinen sich über die Auslegung des Gesprächs Meinungsverschiedenheiten ergeben zu haben. Auch nach diesem Gespräch hielt der Herr Bundeskanzler an der Version fest, daß die Sowjets eine Bedingung gestellt hättediesen Vertrag nur mit zwei Deutschland oder mit einer Konföderation abzuschließen, wobei das konföderative Organ bis zur Gipfelkonferenz, also in wenigen Wochen, erstellt sein müsse, ein schon rein technisch unmögliches Unterfangen.
Im Auswärtigen Ausschuß, der in seinen Verhandlungen vertraulich ist — aber die Frage, die ich stelle, dürfte nicht vertraulich sein —, hat sich der Herr Kollege Ollenhauer und habe ich mich bemüht, dieses Mißverständnis aufzuklären, und der Herr Bundesaußenminister hat uns zugesagt, daß er, sei es durch Rückfrage bei dem sowjetischen Botschafter in Bonn, sei es durch Rückfrage durch den deutschen Botschafter in Moskau, klären wolle, ob es eine Bedingung sei, daß der deutsche Friedensvertrag nur mit zwei deutschen Teilstaaten geschlossen werde. Denn wir beide fragten: Worauf gründet sich diese Behauptung der Bundesregierung, nachdem die Bedingung weder aus dem Text noch aus sonstigen Vorlagen zu entnehmen ist?
Ich frage daher: Ist die Bundesregierung in der Lage, heute dem Deutschen Bundestag bekanntzugeben, welches Ergebnis diese zugesagte Klärung gehabt hat?
Nach einer dpa-Meldung hat der Herr Bundeskanzler gestern den sowjetischen Botschafter erneut zu einer Unterredung empfangen, und bei dieser Unterredung soll der sowjetische Botschafter dem Herrn Bundeskanzler ein Aide-memoire seiner Regierung überreicht haben.
Der Herr Bundeskanzler hat vor Beginn der Sitzung in einem Brief, den er mir zukommen ließ — wofür ich ihm danke —, Aufklärung über das gestrige Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter gegeben und bestätigt, daß die dpa-Meldung richtig sei. Ein Aide-memoire ist gestern dem Herrn Bundeskanzler überreicht worden.
Ich frage daher: Herr Bundeskanzler, sind Sie nunmehr auf Grund des Textes des Aide-memoire in der Lage, hier vor dem Deutschen Bundestag zu erklären, daß die Sowjets nicht die Bedingung stellen, einen Friedensvertrag für zwei deutsche
Staaten zu schließen, daß sie vielmehr auch in dem Aide-memoire vielleicht zum Ausdruck gebracht haben, daß sie einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland abschließen wollen, daß auch der Vorschlag über eine Konföderation keine Conditio, sondern mehr oder minder einer von vielen Vorschlägen sein soll, daß die Sowjetregierung nicht daran denke, der Bundesregierung irgendwelche Rezepte in der deutschen Frage aufzustellen, und daß möglicherweise auch die Hinzuziehung Bonns und Pankows in einem gewissen Stadium der Verhandlungen nicht mit der Anerkennung gleichzusetzen sei, sondern die Sowjetregierung auch hier gar nicht daran denke, irgendeine Bedingung zur Anerkennung des einen durch den anderen und des anderen durch den einen zu fixieren?
Meine Damen und Herren, wir haben von vornherein die — nachher bestätigte — Vermutung gehabt, daß die Sowjetregierung keine Bedingung stelle, einen Friedensvertrag nur mit zwei deutschen Teilstaaten zu schließen. Auch das Bundespresseamt hätte bei seinem großen Archivmaterial ebenso wie wir leicht die Möglichkeit gehabt, diese Vermutung zu erhärten.
„Die Welt" brachte unter dem 7. Februar 1958 ein Interview mit Chruschtschow, der wohl einer der ersten Interpreten der wahren Absichten der Sowjetregierung sein dürfte.

(Zurufe von der CDU/CSU.) Es heißt hier:

Es ist uns bekannt, daß die Frage des Friedensvertrages das deutsche Volk tief bewegt. Und das ist verständlich. Denn es sind zwölf Jahre seit Beendigung des zweiten Weltkrieges vergangen, und das deutsche Volk hat noch immer keinen Friedensvertrag, der endgültig einen Strich unter diesen Krieg und seine Folgen ziehen würde.
Dann stellt Chruschtschow fest:
Die Frage des Friedensvertrages ist die Frage der Wiederherstellung der vollen Souveränität und Unabhängigkeit Deutschlands, seiner Grenzen, des Abzugs der ausländischen Truppen von seinem Territorium.
Chruschtschow sagt weiter:
Es ist eine Sache, den Kriegszustand mit Deutschland zu beenden, was auch die sowjetische Regierung angesichts der negativen Einstellung der Westmächte zum Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland getan hat, und eine andere Sache ist der Friedensvertrag selbst, der die äußeren Bedingungen festzulegen hat, bei deren Beachtung die innere Entwicklung Deutschlands von jeder äußeren Einmischung geschützt würde.
Schließlich ein Drittes aus diesem Interview Chruschtschows aus der Zeitung „Die Welt" vom 7. Februar dieses Jahres:
Unter Berücksichtigung dessen, daß gegenwärtig in Deutschland zwei souveräne Staaten existieren,



Dr. Mende
— ich wiederhole: „gegenwärtig" in Deutschland zwei souveräne Staaten existieren —
die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland, ist es wichtig,
— so sagt Chruschtschow —
die Ausarbeitung des Entwurfs eines Friedensvertrages nicht hinauszuschieben, damit das deutsche Volk klare Perspektiven für die zukünftige Entwicklung Deutschlands vor sich sieht.
Nun kommt offensichtlich die Beteiligung der beiden deutschen Regierungen, auch der Regierung der sogenannten DDR, an den Modalitäten; denn Chruschtschow sagt:
Es versteht sich, daß an der Ausarbeitung dieses Entwurfs die Deutschen selbst, die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland, teilnehmen müssen. Wiederum schafft nach meiner Meinung die realsten Möglichkeiten für den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland der Vorschlag der Deutschen Demokratischen Republik über die Gründung einer deutschen Konföderation.

(Zurufe von der Mitte: Na also!)

— Hören Sie zu! In diesem Fall könnte der Friedensvertrag also auch hier keine Bedingung bringen:

(Widerspruch in der Mitte.)

In diesem Fall könnte der Friedensvertrag sowohl mit den Organen der Konföderation wie auch mit den Regierungen der Staaten abgeschlossen werden, die zu dieser Konföderation gehören.

(Abg. Kiesinger: Und welche dritte Möglichkeit, welche Alternative sehen Sie!)

Auch Molotow hat auf der Berliner Konferenz, nicht ad personam, sondern offensichtlich als Vertreter der sowjetischen Außenpolitik, unter dem 1. Februar 1954 erklärt:
Selbstverständlich kann der Friedensvertrag nur von einer gesamtdeutschen Regierung unterzeichnet werden, die von einem aus freien Wahlen hervorgegangenen Parlament gebildet wird. Eine unserer Hauptverpflichtungen besteht darin, die Durchführung solcher freien Wahlen zu beschleunigen.
Ich bin mir darüber im klaren, daß Herr Molotow im Anschluß daran „freie Wahlen" etwas anders interpretiert als das, was wir unter freien Wahlen verstehen.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

— Aber hier geht es doch um den Obersatz! Sie sagen: Der Friedensvertrag darf nur mit zwei deutschen Staaten abgeschlossen werden; so denken die Sowjets. — Ich sage, Herr Molotow und Herr Chruschtschow erklären: Selbstverständlich kann der Friedensvertrag nur von einer gesamtdeutschen Regierung unterzeichnet werden. Wer jetzt noch nicht weiß, daß auf keinen Fall eine Bedingung gestellt wurde, wer aus dem Wort „gegenwärtig" nicht schließt, daß das doch ein temporärer Zustand ist, den die Sowjets anerkennen, wenn sie sagen, daß gegenwärtig zwei deutsche Teilstaaten bestehen, daß sie nicht das Definitivum „zwei Deutschland" anerkennen, wer das jetzt noch nicht versteht, ist den Gesetzen der Logik verschlossen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der FDP und SPD. — Abg. Dr. Bucerius meldet sich zu einer Zwischenfrage.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301800400
Den Gefallen kann ich ihnen nicht tun, Herr Kollege Bucerius. Erst wenn nach den Begründungen und Antworten die allgemeine Aussprache eröffnet ist, sind Zwischenfragen zulässig.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0301800500
Offensichtlich hat er das Stichwort schon jetzt bekommen!

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Wir Freien Demokraten glauben vielmehr, daß die Sowjets sich vielleicht — aber das müßte man durch die diplomatischen Vertretungen bis ins einzelne klären — die deutsche Wiedervereinigung in mehreren Phasen vorstellen, daß sie an einen langwierigen Prozeß denken, vielleicht von mehreren Jahren. Die erste Phase, von der wir glauben, daß sie auf der Gipfelkonferenz behandelt werden kann, wäre die Festlegung der Prinzipien eines Vertrages für Gesamtdeutschland oder, wie der Herr Bundestagspräsident sagte, eines Friedensvertrages. Bei diesen Prinzipien wird es sich primär darum handeln, den militärischen und politischen Status Gesamtdeutschlands festzulegen. Das ist die Ausgangsfrage, von der nach unserer Auffassung alles andere abhängt. Vielleicht auch die Frage: Darf dieses Deutschland Atomwaffen produzieren? Ich glaube, nein. Wird es sie haben dürfen? Die Frage muß beantwortet werden! Wird es eine Streitmacht haben dürfen? Ich glaube, ja. Wie stark wird sie sein? Das werden die vier Siegermächte festlegen. Vielleicht wird sogar die heikle Grenzfrage auch schon zu den Prinzipien gehören, die im ersten Stadium wenigstens erörtert werden, nachdem das letzte Stadium ohnehin nur durch eine gesamtdeutsche Repräsentanz entschieden werden kann, da im Potsdamer Abkommen eindeutig festgestellt ist, daß die endgültige Regelung der deutschen Grenzen einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben muß. Weder Bonn noch Pankow — das haben wir schon in der Saarfrage festgestellt — sind berechtigt, auf einen Fußbreit deutschen Bodens definitiv zu verzichten. Das ist eine Frage, die erst in einem Friedensvertrag durch eine gesamtdeutsche Repräsentanz enschieden werden kann.

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Es ist möglich, daß die vier Siegermächte schon zu Verhandlungen über die Prinzipien die Hinzuziehung von Bonn und Pankow wünschen, gewissermaßen in einer beratenden Funktion; so scheint es ja in dem Brief des sowjetischen Regierungschefs Bulganin an den britischen Premierminister MacMillan gefordert zu sein.



Dr. Mende
Ich frage nun: Würde die Bundesregierung eine Behandlung der deutschen Frage daran scheitern lassen, daß möglicherweise in konsultativer Funktion auch die Pankower Vertreter da sein würden? Das ist eine sehr entscheidende Frage! Ich erinnere daran, daß schon einmal Vertreter der Bundesrepublik und Vertreter Pankows in konsultativer Funktion erschienen sind, und zwar bei der Versammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1951, ohne daß daraus eine Anerkennung der DDR hergeleitet werden konnte. Es gibt genügend völkerrechtliche Möglichkeiten auch bei einer konsultativen Teilnahme, zu verhindern, daß Pankow daraus seine völkerrechtliche Anerkennung erschleicht. Denn hier gibt es keine Gegensätze in diesem Hause, in der Frage, daß für uns Pankow kein legitimer deutscher Staat ist und daß die Machthaber Pankows nur auf den Bajonetten der Roten Armee sitzen.

(Beifall bei der FDP.)

Es ist möglich, daß dann nach der ersten Phase die Modalitäten in einer zweiten Phase ausgehandelt werden, und zwar innerhalb der beiden deutschen Teilstaaten, daß also gewisse Fragen beispielsweise des ökonomischen Angleichens, die Frage der sogenannten sozialen Errungenschaften,

(Abg. Kiesinger: Die Eleganz, wie Sie so etwas zu sagen vermögen!)

die Frage der Bodenreform, die Frage des Wahlgesetzes den beiden deutschen Staaten in einer Art Auftragsverhandlung zugewiesen werden. Wir haben bisher hier die Auffassung vertreten: Wir lehnen zweiseitige Gespräche und wir lehnen zweiseitige Verhandlungen mit Pankow ab; sie führen zu nichts. Wer etwas in der deutschen Frage erreichen will, muß mit dem Chef sprechen — der sitzt in Moskau — und nicht mit den Portiers; die sitzen in Pankow.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Das ist auch heute noch unsere Auffassung. Wir wollen mit den vier Siegermächten sprechen. Aber es ist eine andere Frage, ob nicht möglicherweise für die zweite Phase der Modalitäten eine Art Auftragserteilung durch alle Vier kommt.
Die Sowjets haben nun einmal die Zwei-StaatenTheorie jahrelang vertreten. Glauben Sie, daß eine Großmacht vom Range der Sowjetunion es sich leisten kann, so von heute auf morgen von einer jahrelang vertretenen Auffassung herunterzugehen? Auch das ist eine reale Frage.

(Unruhe bei der CDU/CSU.)

Umgekehrt hat der Deutsche Bundestag eine Auffassung fixiert, von der er auch nicht herunter will und herunter darf: Wir sprechen nicht mit denen drüben. Bei einer solchen Auftragsverhandlung über die Modalitäten würde sowohl die Sowjetunion wie auch der Deutsche Bundestag kein Prinzip aufgeben.
Es kommt darauf an, aus der, wie SchlangeSchöningen sagt, erstarrten Situation herauszukommen; und aus der kommen Sie nicht heraus, wenn Sie der einen Seite zubilligen, ihr sowjetisches
Dogma aufzustellen, und Sie hier das NATO-Dogma
aufstellen. Dann gibt es keine Wiedervereinigung.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Wer die Wiedervereinigung will, muß bereit sein, auch die gegenwärtigen Blocksysteme zur Diskussion zu stellen, d. h. er muß bereit sein, ein Développement, eine Entwicklung der gegenwärtigen Vertrags- und Blocksysteme dieser Erde zu akzeptieren. Denn wer heute noch der Auffassung ist, daß die Sowjets mit ihrer Roten Armee aus Mitteldeutschland herausgehen, ohne daß die Westmächte in der Bundesrepublik ebenfalls einen gleichen Raum freigeben, ist — hoffnungslos! — ein Narr.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Die Zeit, da wir glaubten, mit Hilfe atomaren Drucks, durch eine NATO-Klammer die Sowjets aus Mitteldeutschland und aus den osteuropäischen Staaten hinauszudrücken, ist leider seit dem Augenblick vorbei, als die Sowjets in den Besitz der gleichen thermonuklearen Waffen kamen, als die Amerikaner vorher als die einzigen dieser Erde hatten. Das atomare Gleichgewicht hat die Phase des Druckes, die Phase des Roll-back beendet. Die Phase der Verhandlungen hat begonnen, und es gibt kein Zurück mehr auf das Roll-back;

(Beifall bei der FDP und der SPD)

es sei denn, meine Damen und Herren, Sie akzeptieren das, was Ihr Kollege Baron von ManteuffelSzoege hier erklärt hat: Man muß das Böse ausrotten, wenn es sein muß auch durch die Atombombe. Das Dumme ist nur, Herr Kollege von Manteuffel, wir werden mit ausgerottet, ob gut oder böse.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Eine dritte Phase wäre möglich in einer Festlegung der ausgehandelten Modalitäten. Es ist möglich, daß sich bei den Modalitäten Schwierigkeiten ergeben. Dann haben die vier Siegermächte immer noch die Möglichkeit, die Fragen an sich zu ziehen und zu entscheiden. Denn die vier Siegermächte haben ja gewisse Vorbehaltsrechte bezüglich Deutschland und Berlin als Ganzes — so steht es in den beiderseitigen Verträgen —, und die vier Siegermächte haben sich im Potsdamer Abkommen verpflichtet, die staatliche Einheit Deutschlands zu gewährleisten. Das ist für sie eine Rechtspflicht zu handeln; das ist für uns der Rechtsanspruch des deutschen Volkes auf seine staatliche Einheit.
Die vierte Phase ist dann die Schlußphase: die Ratifikation eines solchen Friedensvertrages durch eine gesamtdeutsche Repräsentanz; wobei für uns eine solche Repräsentanz nur eine aus freien Wahlen hervorgegangene deutsche Nationalversammlung oder ein deutscher Reichstag sein kann.
Diese vier Phasen könnten sich über Jahre erstrecken. Schließlich ist auch der österreichische Staatsvertrag nicht von heute auf morgen auf den Tisch zur Unterschrift gekommen, sondern auch er hat einen langwierigen Prozeß nötig gemacht.
Herr Kollege Gradl hat hier gewisse Gespräche angezogen, die Vertreter der Freien Demokratischen Partei im Oktober 1956 in Weimar mit Funktionären



Dr. Mende
der dortigen sogenannten Liberal-Demokratischen Partei geführt haben. Wir sind damals auf der Fahrt zu einer Bundestagssitzung nach Berlin ausnahmsweise über Weimar gefahren, um einmal dort zu prüfen: Wie verhält es sich dort?

(Lachen bei der CDU/CSU.)

— Sie lachen auch diesmal zu früh! —

(Beifall bei der FDP und bei der SPD.)

Wir wollen prüfen: Können wir es nach der Parole „Deutsche an einen Tisch!" erreichen, daß wir sechs Versammlungen in Mitteldeutschland halten können, unter der Voraussetzung, daß wir ebenso sechs Versammlungen in Westdeutschland seitens unserer Partei der dortigen LDP anbieten? Meine Damen und Herren, eines steht auf jeden Fall fest: dieser Wunsch ging und geht nicht weiter als das Angebot des Bundesministers Lemmer, der sagt, er sei bereit, Ulbricht im Ruhrgebiet sprechen zu lassen, wenn er in Ost-Berlin sprechen darf.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Es zeigte sich allerdings, daß die Vertreter der LDP
nicht in der Lage waren, uns diese Chance zu geben,

(Aha-Rufe und Lachen bei der CDU/CSU)

genauso wie Herr Ulbricht wahrscheinlich nicht in der Lage ist, Herrn Lemmer diese Chance zu geben. Aber eines steht fest — und Herr Dr. Gradl, der ja sehr viel von den Verhältnissen Mitteldeutschlands und auch von der Propaganda weiß, was ich sehr anerkenne, wird mir das bestätigen —: die Parole: „Deutsche an einen Tisch!" ist in dem Augenblick den Leuten aus der Hand geschlagen worden, als wir sie stellten und sie nicht in der Lage waren, uns diese Chance zu geben.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Die Parole: „Deutsche an einen Tisch!" ist nicht mehr zu hören. Wie schwach muß das System in Mitteldeutschland sein, wenn es nicht einmal in der Lage ist, sechs Vertreter einer Partei in Mitteldeutschland sprechen zu lassen, selbst auf das Gegenangebot, sechs dortige sogenannte Volkskammerabgeordnete in der Bundesrepublik sprechen zu lassen. Auf wie schwachen Füßen muß ein solches System stehen, das einen Professor Harich zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt!

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

— Diese Möglichkeit, daß wir das sagen können, haben wir aus eigener Anschauung und nicht nur aus der Presse entnommen.

(Beifall bei der FDP und der SPD. — Lachen bei der CDU/CSU.)

Es ist damals sehr bequem gewesen, bei Kempinski am Kurfürstendamm die Füße unter den Tisch zu strecken und uns drei, die wir in Weimar waren, zu kritisieren. Es war wesentlich schwieriger, nach Weimar zu fahren und sich mit drei Vertretern einer Partei, deren Führung leider auch eine halb
kommunistische geworden zu sein scheint, auseinanderzusetzen.

(Beifall bei der FDP und der SPD. — OhRufe und Lachen bei der CDU/CSU.)

Natürlich ist für uns nach wie vor die deutsche Frage nur lösbar in der Entscheidung der vier Siegermächte. Pankow hat für uns keine Legitimation. Aber was noch viel wesentlicher ist — man soll sich bei juristischen Dingen nicht selber blokkieren —: Pankow hat für uns auch keine Position, um mit uns über die deutsche Frage verhandeln zu können. Oder glauben Sie, daß, wenn Pankow entscheidet, die 22 sowjetischen Divisionen sollen abziehen, dann die Pankower auch die Rote Armee dazu veranlassen könnten? — Nein, die deutsche Frage klärt sich nur im Gespräch mit den vier Siegermächten, in diesem Falle im Gespräch mit Moskau und nicht mit Pankow.
Der Bundeskanzler selber hat in der 101. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages am 22. September 1955 erklärt:
Die Sowjetunion ist eine der vier Siegermächte, ohne deren Mitwirkung das vornehmste Anliegen unserer Politik, die Herstellung der Einheit unseres Landes, nicht verwirklicht werden kann.
Das Fehlen von Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten, die sich daraus für uns ergebende Unmöglichkeit, unsere nationalen Anliegen auch selbst in Moskau zu vertreten, ist eine Anomalie. Würde man uns
— so schloß der Bundeskanzler —
auch deshalb nicht mit Recht unklug genannt haben, wenn wir das von der Sowjetregierung gemachte Angebot, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, abgelehnt hätten?
Wir fragen: Ist es auch noch heute die Meinung der Bundesregierung, daß sie alle sich bietenden diplomatischen Möglichkeiten auch gegenüber der Sowjetunion nützt, um in der deutschen Frage voranzukommen? Herr Kollege Gradl hat es eben so dargestellt, Gespräche, Verhandlungen, Zusagen der Sowjetunion seien von vornherein indiskutabel, da man mit dieser Macht ja doch nicht verhandeln könne. Auch hier finden wir wieder das Fuldaer Manifest in seiner absoluten Ablehnung.

(Beifall bei der FDP und SPD. — Gegenrufe von der CDU/CSU.)

— Wenn es wirklich so ist, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion schlechthin aussichtslos sind, daß Verträge mit der Sowjetunion schlechthin nicht abgeschlossen werden können, dann frage ich mich, warum der Bundeskanzler es dann für richtig hielt, damals mit einer solchen Macht die diplomatischen Beziehungen aufzunehmen.

(Beifall bei der FDP und SPD. — Zuruf von der Mitte: Also! — Abg. Majonica: Sie dementieren sich selbst, Herr Dr. Mende!)

Wir sind der Meinung, man muß sich auch im Verhältnis zur Sowjetunion ein gewisses Minimum an



Dr. Mende
Vertrauen erhalten. Wenn man nicht einmal mehr dieses Minimum für möglich hält, dann ist die Konsequenz nur noch, daß wir uns alle auf den dritten atomaren Weltkrieg einrichten.

(Beifall bei der FDP und SPD. — Zuruf von der CDU: Das ist ja Unsinn! — Weitere Gegenrufe von den Regierungsparteien.)

Im übrigen hat Ihnen Schlange-Schöning e n selbst in seinem Artikel — ich bitte, das einmal nachzulesen, da ich nicht allzuviel von Ihren Freunden zitieren will — erklärt, daß Sie nicht so sehr immer nur nachrechnen sollten, was der Sowjetunion an Vertragsbrüchen vorgehalten werden könne; uns Deutschen stünde es gut an, auch einmal zu prüfen, wieviel Vertragsbrüche wir in dieser Generation begangen haben. Dann sei es zweckmäßiger, sagt Schlange-Schöningen, — —

(Lebhafte Zurufe von der Mitte. — Unruhe.)

— Ja. meine Damen und Herren, Sie wollen doch hier nicht alle erklären, — —

(Anhaltende große Unruhe in der Mitte.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301800600
Herr Abgeordneter Dr. Mende, das „wir" ist mißverständlich. Ich nehme an, daß Sie das „wir" auf das Hitlerdeutschland beziehen und nicht auf dieses Haus.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Unruhe.)

— Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Bemerkungen des Präsidenten weder mit Beifall noch mit Mißfallen begleiteten.

(Abg. Wehner: Sagen Sie das der Claque!)


Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0301800700
Meine Damen und Herren, ich nehme an, daß die Kollegen der CDU, die so entsetzt sind, den Artikel Ihres Parteifreundes Schlange-Schöningen, den ich soeben zitierte, gelesen haben. Haben Sie ihn gelesen, dann werden Sie feststellen, was ich gemeint habe: wir Deutsche in dieser Generation, d. h. in den letzten dreißig Jahren. Haben Sie Ohren, zu hören!

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Ich füge noch etwas hinzu! Viele von denen der älteren Generation, die hier sitzen, haben gar keinen Anlaß, so kollektiv unschuldig zu tun.

(Erneuter lebhafter Beifall bei der FDP und SPD. — Abg. Majonica: Herr Dr. Mende, die kollektive Unschuld haben Sie in Hannover demonstriert!)

— Herr Kollege Majonica, ich bin genauso wie Sie in der glücklichen Lage, das sagen zu können; denn wir waren 1933 keine 16 Jahre alt. Ob aber alle Mitglieder Ihrer Fraktion das sagen können, wage ich zu bezweifeln.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und SPD. — Erregte Zurufe von der Mitte. — Zuruf von der SPD: Herr Globke wird unruhig! — Anhaltende große Unruhe.)

— Meine Damen und Herren, ich wehre mich dagegen, — —

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301800800
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich zu beruhigen, und ich bitte, unter allen Umständen unnötige Schärfen in diesem Gespräch zu unterlassen.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0301800900
Herr Präsident, ich glaube, das gilt ebenso für jene Zwischenrufer, die unter dem Stichwort „Rache für Sadowa!" handeln, wie für den Redner.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301801000
Herr Abgeordneter Mende, ich habe nicht Sie allein gemeint, sondern ich habe ganz allgemein gesprochen. Ich bitte aber, den Präsidenten nicht zu kritisieren.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0301801100
Es liegt mir fern, Herr Präsident, das zu tun,
Meine Partei und speziell ich — das wissen die Kollegen aus dein 1. und 2. Bundestag — haben sich bemuht, die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen. Wir dienen diesem Bemühen nicht, wenn wir pharisäisch heute glauben, wir könnten an den Platz der Kollektivschuld die Kollektivunschuld für die letzten 50 Jahre treten lassen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Wer will das denn?)

Im übrigen empfehle ich, Schlange-Schöningen bis zu Ende zu lesen, der sagt, man sollte weniger prüfen, was die Sowjetunion an Verträgen in cien letzten 30 Jahren gebrochen hat, als vielmehr weiche Vertrage sie in diesem Zeitraum gehalten hat.
Wir sind der Meinung, daß die Wiedervereinigung deswegen so schwer ist, weil sie mit der Raumung von Machtpositionen durch alle vier Siegermächte verbunden ist. Man trennt sich ungern von Positionen, die man als Folge eines gewonnenen Krieges in einem Lande eingenommen hat, wenn auch Besatzungsrecht später in Bündnisrecht umgestaltet werden konnte. Aber Sie alle wissen doch, wieviel an Residuen des Besatzungsrechts selbst in den Verträgen von Paris und Warschau noch zu finden ist.
Wir fragen die Bundesregierung: Ist sie gleicher Meinung, daß die Wiedervereinigung eben deswegen so schwer ist, weil sie mit der Aufgabe von Machtpositionen durch alle Vier verbunden ist? Oder ist sie immer noch der Meinung, daß Machtpositionen nur einseitig aufgegeben werden müssen? Bisher haben wir immer in den Äußerungen der CDU, auch jetzt bei Herrn Dr. Gradl, hören können, daß die Sowjets die alleinige Verantwortung und Schuld für die deutsche Teilung tragen. Ich gestehe zu, die Sowjetunion und die Sowjetpolitik, insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren, hat ein gerüttelt Maß an Verantwortung und Schuld für diese makabre Lage, in der sich das deutsche Volk in seiner Zweiteilung befindet. Aber es wäre verkehrt, auch hier nach der berühmten Schwarz-Rot-Malerei nur die einen als die Schuldigen und die andern als die Engel zu bezeichnen.



Dr. Mende
Damit Sie auch hier die entsprechenden Möglichkeiten haben, nachzulesen, und damit keine Mißverständnisse beim Zitieren auftreten können, empfehle ich Ihnen, das Buch von Dr. Richard Thilenius „Die Teilung Deutschlands, eine zeitgeschichtliche Analyse" nachzulesen. Da heißt es beispielsweise als Äußerung des französischen Staatssekretärs Pierre Schneiter in einer Rede in Koblenz am 8. September 1948:
Die rheinischen Gefilde kannten Wohlergehen und Frieden im Rahmen der Freiheiten, die Geschichte und Geographie ihnen zuteil werden ließen. Ihr Unglück, wie auch das unsere, kamen aus dem tyrannischen Zugriff Berlins und von dem Verlust der ererbten Rechte im Schlund der deutschen Einheit!
Der Botschafter in Washington, H e n r i Bonnet — alles Persönlichkeiten, die heute noch im politischen Leben Frankreichs eine maßgebliche Rolle spielen —, erklärte am 30. September 1946: „Frankreichs scharfe Opposition gegen die Bildung einer deutschen Einheit hat ihren Grund in dem tiefen Streben des französischen Volkes nach einem dauernden Frieden."
Noch weiter ging General Koenig am 8. Dezember 1946; er sagte: „Jene Deutschen, die eine verhängnisvolle Einheit des Deutschen Reiches wiederhergestellt sehen wollen, früher oder später, sind Pangermanisten, nicht Demokraten, selbst wenn sie guten Glaubens sind."
„Die französische Regierung", so sagt PaulBoncour am 4. Februar 1947, „ist nicht entschlossen, sich mit dieser deutschen Einheit, in der sie die größte Gefahr für die Sicherheit Frankreichs sieht, abzufinden."

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber, Essen: Das ist doch schon lange her!)

Ähnliche Stimmen können Sie aus der englischen Politik entnehmen. Es sei hier an die Ablehnung der Wiedervereinigung im Jahre 1947 durch den damaligen britischen Außenminister B e v i n erinnert, der nicht bereit war, die Sicherheit Großbritanniens zugunsten der deutschen Wiedervereinigung zu schmälern. Und was der Oxforder Professor Taylor — Frau Kollegin Weber, das ist nicht so alt — 10 Jahre später, im Jahre 1957 zur deutschen, Teilung sagte, ist bekannt: die Zweiteilung und Ohnmacht seien ein Glück für die Welt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da sehen Sie mal, was Adenauer alles erreicht hat!)

Der amerikanische Außenminister Dulles sagte auf der Berliner Konferenz zu den sowjetischen Vorschlägen vom 9. Februar 1954 — der sowjetische Außenminister hatte vorgeschlagen, daß Deutschland eine Macht in Mitteleuropa mit einer begrenzten nationalen Streitmacht bleiben solle, wie sie unter dem Versailler Vertrag vorgesehen war —, die Möglichkeit, daß Deutschland dadurch das Zünglein an der Waage im Gleichgewicht der Mächte werden und infolgedessen möglicherweise
eine Seite gegen die andere ausspielen könnte, sei kein für die Vereinigten Staaten akzeptables Konzept.

(Hört! Hört! bei der FDP. — Unruhe bei der CDU/CSU.)

Das ist der gleiche Außenminister Dulles, der heute noch amtierender Außenminister ist.
Der Bundeskanzler selbst hat sich in einem Brief vom 22. November 1955 an den Fraktionsvorsitzenden der Freien Demokraten über die militärische Entscheidungsfreiheit eines wiedervereinigten Deutschland wie folgt geäußert:
Von den Westmächten und den NATO-Mächten eine Änderung der Pariser Verträge zu verlangen, die Deutschland nach seiner Wiedervereinigung volle Freiheit geben möge, wem es sich anschließen will, ist zwecklos und nur dazu geeignet, die ablehnende Haltung Sowjetrußlands zu stärken.
Ich wiederhole die Frage, die ich schon am 23. Januar stellte und auf die ich keine Antwort bekam: Ist auch das heute noch die Meinung des Bundeskanzlers und der Bundesregierung, daß der, der die militärische Handlungsfreiheit Deutschlands fordert, damit praktisch die Wiedervereinigungspolitik blokkiert? Wenn dem aber so ist, dann gibt es gar keine Wahl, als im Sinne unserer Großen Anfrage als erste Phase der deutschen Wiedervereinigung zu klären, wie der militärische Status eines wiedervereinigten Deutschlands beschaffen sein solle, damit das Ja aller vier Siegermächte erreichbar ist, weil dann weder der eine, noch der andere durch dieses deutsche Potential einen solchen Zuwachs bekommt, daß sich die Waage durch diesen Zuwachs nach der einen oder nach der anderen Seite neigt.
Die Freien Demokraten haben Ihnen nicht nur Fragen gestellt, sondern wir haben mit dem Antrag Umdruck 33 auch konstruktive Vorschläge, wie das unsere Sache seit vielen Jahren ist, vorgelegt. Wir haben Ihnen folgenden Antrag vorgelegt:
Die Bundesregierung wird beauftragt, sich bei den vier Mächten, den USA, der UdSSR, dem Vereinigten Königreich und Frankreich dafür einzusetzen, daß eine Viermächte-Arbeitsgruppe (Ständige Konferenz der Stellvertreter der Außenminister oder Botschafterkonferenz) zur Behandlung der Deutschlandfrage gebildet wird mit dem Auftrag, die Grundzüge eines Vertrages für Gesamtdeutschland zu erarbeiten.
Wir lehnen uns hier an das Beispiel des österreichischen Staatsvertrages an, wo ebenfalls eine solche Viermächte-Arbeitsgruppe gebildet wurde, die sich täglich mit der österreichischen Regierung in Verbindung setzen konnte. Auch für uns besteht die Möglichkeit, ohne Teilnahme an einer solchen Viermächte-Arbeitsgruppe durch unsere diplomatischen Beziehungen zu den Vier Mächten unsere Vorstellungen zur Kenntnis aller Vier zu bringen. Ja, selbst Pankow hätte die Möglichkeit, seine Vorstellungen über die Macht vorzubringen, die diplomatische Beziehungen zu Pankow hat, nämlich die Sowjetunion. Wenn Sie wirklich, meine Damen und
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 18. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20, März 1958 837
Dr. Mende
Herren, einen Fortschritt aus der erstarrten Situation wünschen, dann werden Sie nach eingehender Gewissensprüfung diesem unserem Antrag einstimmig ihre Zustimmung geben müssen.
Zur Frage 2! Hier fragen wir die Bundesregierung, ob sie bereit ist, die Vorschläge zu prüfen, die zur Entspannung im mitteldeutschen Raum führen können. Wir fragen wörtlich:
Wird die Bundesregierung im Hinblick auf die in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit erörterten Pläne von atomwaffenfreien, atomwaffenanlagefreien und militärisch entschärften Zonen einen eigenen Vorschlag machen?
Als hier vor Wochen ein Vorschlag bekannt wurde, nämlich der erste sogenannte Rapacki-Plan, der Plan des polnischen Außenministers gleichen Namens, war ebenfalls wie jetzt bei der Sowjetnote an die USA die Reaktion verschieden. Bevor der Vorschlag in der Öffentlichkeit bekannt wurde, wurde er bereits durch das Bundespresseamt verrissen.
Die Bundesregierung hat insbesondere kritisiert, daß dieser Rapacki-Plan keine Kontrollen vorsehe. Das war in der Tat ein Mangel. Auch wir haben in der Debatte des 23. Januar erklärt, man dürfe den Rapacki-Plan nicht isoliert sehen, sondern man müsse ihn kombiniert mit einem System von Kontrollorganen betrachten: Erdinspektion, Luftinspektion, wie sie der amerikanische Präsident Eisenhower auf der Genfer Konferenz 1955 vorgeschlahat, eine Kombination natürlich auch mit einer Reduktion, mit einer Verringerung der in diesem Raum stationierten klassischen Truppen. Denn es wäre unsinnig, es auf der einen Seite bei sechs amerikanischen Divisionen klassischer Bewaffnung zu belassen, wenn auf der anderen Seite 22 Divisionen der Roten Armee stünden. Der RapackiPlan muß auch diese Frage des Gleichgewichts der sogenannten klassischen Bewaffnung in diesem Raum regeln, sonst ist er nicht akzeptabel.
Jetzt erscheint ein zweiter Plan des polnischen Außenministers, und dieser zweite Plan enthält solche Kontrollmöglichkeiten, wenn auch die Aufzählung noch nicht als abschließend angesehen werden kann. Man kann ja nicht jeden Katalog schon mit einem Numerus clausus versehen.
Ich habe im Auftrag der Freien Demokraten im Verteidigungsausschuß in der Sitzung vom 22. Januar 1958 erklärt, nachdem die Bundesregierung sich bei der Ablehnung des Rapacki-Planes erster Ausfertigung auf ein Gutachten des Bundeswehrführungsstabes und des Verteidigungsministeriums stütze, wäre es doch für den Verteidigungsausschuß, also einen Geheimausschuß, von Interesse, dieses Gutachten zur Kenntnis zu nehmen. Ich habe damals den Antrag gestellt, das Verteidigungsministerium möge uns Kenntnis von dem Gutachten zum ersten Rapacki-Plan geben. Für den Fall jedoch, daß das aus Gründen der Geheimhaltung nicht möglich sei, stellte ich hilfsweise den Antrag, der Ausschuß selbst möge beschließen, das Verteidigungsministerium um Erstattung eines solchen eigenen unabhängigen Gutachtens zu ersuchen. Der Kollege Erler hat eine solche Fixierung nicht für nötig gehalten, da, wie er sagte, bei dem guten Verhältnis, das der Verteidigungsausschuß zum Ministerium habe, das Ministerium sich einem solchen Wunsch des Ausschusses selbstverständlich nicht entziehen werde.
Ich hatte Grund, etwas pessimistischer zu sein als der Kollege Erler. Der Auswärtige Ausschuß hat ja in ähnlicher Weise einmal Kenntnis von dem Memorandum des verstorbenen Botschafters Pfleiderer, unseres früheren Bundestagskollegen der Freien Demokratischen Partei, haben wollen. Leider ist der Ausschuß nach wochenlangem Zögern davon unterrichtet worden, daß er — auch ein Geheimausschuß — von dem Inhalt dieses Pfleiderer-Memorandums keine Kenntnis erhalten könne. Bis zum heutigen Tage, also nach zwei Monaten, hat der Verteidigungsausschuß nicht einmal eine Antwort auf die Äußerung seines Wunsches erhalten.

(Zuruf des Abg. Dr. Jaeger.)

Ich muß sagen: Was ist das für eine Art der Korrespondenz, daß der Ausschuß bis heute noch nicht einmal eine Antwort erhalten hat! Ich habe gestern im Ausschuß die Frage noch einmal gestellt. Da hieß es, man werde jetzt eine solche Frage prüfen; offensichlich habe sich die Antwort durch den Urlaub des Herrn Bundeskanzlers, der dazu erst hätte die Genehmigung geben müssen, verzögert. Ich bin der Meinung: vielleicht ist das erste Gutachten jetzt schon überholt, denn inzwischen ist bereits ein zweiter Rapacki-Plan auf dem Tisch des Hauses. Und wir haben noch nicht einmal das Gutachten zum ersten Rapacki-Plan zur Kenntnis genommen!

(Abg. Dr. Kiesing: Das stimmt nicht, Herr Mende, hier ist die Antwort!)

— Ich kann nur feststellen: Der Verteidigungsausschuß hat bis gestern keine Möglichkeit gehabt, das Gutachten des Verteidigungsministeriums zur Kenntnis zu nehmen,

(Beifall bei der FDP und der SPD) und es sind immerhin zwei Monate her.

Wir haben Veranlassung, festzustellen, daß das Gutachten des Bundeswehrführungsstabes über den Rapacki-Plan gar nicht so absolut negativ war, wie wie es hier gelegentlich dargestellt wurde. Vielleicht hätte es, wenn das Gutachten ohne die Zusätze des Bundesverteidigungsministers veröffentlicht worden wäre, gewisse Überraschungen gegeben. Denn nach Ansicht des Bundeswehrführungsstabes wäre der Rapacki-Plan auch vom Standpunkt unserer militärischen Sicherheit und unserer NATO-Verpflichtungen dann annehmbar, wenn er außer einem befriedigenden Kontrollsystem ein Abkommen über die Stärke der konventionellen Streitkräfte in beiden Teilen Deutschlands vorsähe. Gestern noch hat ein Sprecher des Verteidigungsministeriums dementiert. Aber in einem Nachsatz des Dementis war genau das bestätigt, was ich als Positivum dieses Gutachtens eben zitiert habe.



Dr. Mende
Wir fragen daher die Bundesregierung: Warum schweigt der Bundesverteidigungsminister darüber, wie nach Ansicht der militärischen Sachverständigen vom Standpunkt der militärischen Sicherheit der erste und jetzt der zweite Rapacki-Plan gesehen werden muß?
Eine weitere Frage: Warum hat die Bundesregierung keinen Plan ausgearbeitet, in dem das Projekt einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa mit einem befriedigenden Kontrollsystem gekoppelt und durch ein Abkommen über die Stärke der konventionellen Streitkräfte im Raum der atomwaffenfreien Zone ergänzt wird?
Die dritte Frage: Warum führt die Bundesregierung nicht über einen solchen Plan zweiseitige Verhandlungen mit Polen, damit sich auch die polnische Regierung, die ein Interesse an der Verwirklichung des Rapacki-Plans haben muß, aus ureigenstem Anliegen bei der sowjetischen Regierung dafür einsetzt, daß dieser Plan mit einem Abkommen über die Stärke der konventionellen Streitkräfte gekoppelt wird?
Nun hat der Herr Bundesverteidigungsminister in Abwesenheit des Herrn Bundeskanzlers wie auch andere Ihrer Kollegen recht mutige Gedanken geäußert.

(Lachen bei der SPD.)

Beispielsweise hat der Herr Bundeskanzler, wie es hieß, diese Gedanken des Bundesverteidigungsministers Strauß in einem Telefongespräch sogar gutgeheißen.
Welches waren diese Gedanken? Der Herr Bundesverteidigungsminister hat in einem Vortrag vor der CDU/CSU-Fraktion einen Fünf-Punkte-Plan entwickelt, der sich nach unserer bestätigten Vermutung weitgehend auf das Rapacki-Gutachten des Bundeswehrführungsstabes stützt. In den Vorschlägen des Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß heißt es:
1. Die atomwaffenfreie Zone müßte eine erheblich größere Ausdehnung erfahren, etwa auf den Gesamtbereich der sowjetischen Satelliten in Europa, was die Chancen und Risiken etwa gleichmäßig verteilen würde, da die Sowjetunion ein weites Hinterland des gesamten sowjetischen Herrschaftsbereichs darstellt, während die Festlandpositionen des Westens diesseits der atomwaffenfreien Zone nur noch eine relativ schmale Plattform haben.
Ich unterstelle, daß diese Ausweitung des RapackiPlans nicht seine Erschlagung zum Inhalt haben soll. Wir haben es erlebt, daß der damalige britische Premierminister Eden in Genf einen EdenPlan vorlegte, der eine solche militärisch entschärfte Zone beiderseits der Elbe-Werra-Linie vorsah. Nicht ohne Zutun der Bundesregierung ist dann die Achse an die Oder-Neiße-Linie verlagert worden, d. h. man weitete den ersten Genfer Eden-Plan aus, aber nicht, um ihn zu vertreten, sondern um ihn durch die Ausweitung zu erschlagen.

(Abg. Dr. Bucerius: Woher wissen Sie das?)

— Das will ich Ihnen sagen. Das weiß ich aus Äußerungen der britischen Abgeordneten des Unterhauses Robens, Elliot und Richard Crossman in dem deutsch-englischen Gespräch im Frühjahr 1956.

(Abg. Dr. Bucerius: Woher wissen die das?)

— Ich nehme an, daß die britischen Parlamentarier, insbesondere der ehemalige Labour-Minister Robens, über die Vorgänge der Genfer Konferenz, insbesondere aus britischer Sicht, besser informiert sind als Sie, Herr Bucerius, von der deutschen CDU.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)

Damit Sie es noch einmal genau hören, wiederhole ich, was aus den Protokollen des deutsch-englischen Gesprächs in Königswinter im April 1956 hier zitiert wurde. Sie haben es leider provoziert. Robens, heute noch Abgeordneter, Elliot, inzwischen leider verstorben, Richard Crossman, noch erreichbar.

(Lachen in der Mitte)

— als Zeuge noch erreichbar, wir sind ja alle den menschlichen Zeitbegriffen unterworfen — sagten: Ihr habt seinerzeit den Vorschlag unseres Premierministers Eden abgelehnt, jenen Vorschlag einer entspannten Zone; wo bleibt aber euer Vorschlag, ihr habt euch damals hinter die Vereinigten Staaten gesteckt und dafür gesorgt, daß Eden veranlaßt wurde, seinen ersten Vorschlag auf der Genfer Konferenz vom 18. Juli 1955 zurückzuziehen. Und jetzt Richard Crossman, Robens und Elliot: Wenn ihr uns schon hindert — uns Engländer —, uns Gedanken über die deutsche Wiedervereinigung zu machen, dann seid ihr zumindest verpflichtet, eure deutschen Vorstellungen zu entwickeln; wo sind eure deutschen Vorstellungen?

(Beifall bei der FDP und der SPD. — Abg. Dr. Bucerius: Das ist doch geschehen!)

Wenn ich dies längst Bekannte aus dem Archiv wieder hervorhole, so möge sich der Herr Bundeskanzler bei seinem Kollegen Bucerius bedanken, der diese Antwort provoziert hat.

(Beifall bei der FDP.)

Der zweite Gedanke des Verteidigungsministers lautet:
Stufenweise müßte darüber hinaus das konventionelle Potential von Ost und West in der verdünnten Zone auf die Stärke der in Westdeutschland stationierten Truppen ausbalanciert werden, sonst würde in der atomwaffenfreien Zone das konventionelle Übergewicht des Sowjetblocks zu einer gefährlichen Bedrohung des Friedens werden.
— Einverstanden. —
3. Die Ausführung dieser beiden Gedanken müßte mit einer intensiven Kontrolle verbunden sein, die sich in dem bereits geschilderten Sinne auch auf Gebiete außerhalb der verdünnten Zone erstreckt.
4. Ferner wäre es notwendig, ein System auszuarbeiten, das nach menschlichem Ermessen



Dr. Mende
gewährleistet, daß ein Beschuß der Zone mit nuklearen und thermonuklearen Kampfmitteln unterbleibt.
Deklarationen genügten als Garantien hierfür nicht. — Daß die Sowjetunion ein Interesse daran hat, den Beschuß dieses Raumes mit atomaren Waffen möglichst nicht stattfinden zu lassen, ergibt sich schon aus der klimatischen und geographischen Tatsache, daß wir von zwölf Monaten im Jahr in diesem Raum neun Monate bis zehn Monate Westdrift haben, so daß die radioaktiven Wolken vielleicht sogar genau gegen denjenigen gehen würden, der die atomaren Waffen in den deutschen Raum geschossen hat. Das ist ein Argument, das vor der CDU/CSU-Fraktion als Beweis dafür gegeben wurde, daß die Sowjets sogar möglicherweise auf diesen Vorschlag eingehen könnten. Welche Gefahr!

(Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Dr. Bucerius: Was für Unsinn!)

Schließlich:
5. Eine Vereinbarung auf der Basis dieser Vorschläge müßte konkrete Ansätze zu einer Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit enthalten, zumal der militärische Status Gesamtdeutschlands im Rahmen eines solchen Abkommens ja festgelegt wäre und somit dem oft zitierten Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion Rechnung tragen würde.
Wir fragen die Bundesregierung: wie steht sie 1 zu diesen Gedankengängen ihres Verteidigungsministers Strauß? Macht sie sich diese Gedanken zu eigen? Ist das der konkrete Vorschlag der deutschen Bundesregierung als Pendant zum Rapacki-Plan, oder sind nach Ihrer Rückkehr, Herr Bundeskanzler, all die gutgemeinten freien demokratischen Außerungen der CDU-Fraktion wieder eingefroren?

(Beifal bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD.)

Der Herr Bundesverteidigungsminister Strauß hat am 18. März 1958 nach seiner Rückkehr von der Amerikareise vor der Bundespressekonferenz erklärt, daß er auf seiner Amerikareise den Eindruck gewonnen hat, die USA hätten fast übertriebene Hoffnungen in bezug auf das deutsche technische, wirtschaftliche und auch militärische Potential und ein grenzenloses Vertrauen in unsere politische Stabilität und außenpolitische Zuverlässigkeit.
In diesem Zusammenhang habe ich folgende Fragen an den Herrn Verteidigungsminister: 1. Hat der Bundesverteidigungsminister den Eindruck, daß eine aktive Wiedervereinigungspolitik deutscher Politiker bei unseren amerikanischen Verbündeten als ein Zeichen außenpolitischer Unzuverlässigkeit angesehen wird? 2. Sind die amerikanischen Hoffnungen auf das Potential der Bundesrepublik so groß, daß die Amerikaner einer gesamtdeutschen Lösung widersprechen würden, wenn sie eine Ausklammerung des Potentials der Bundesrepublik aus der NATO wie auch das der sogenannten DDR aus dem Warschauer Pakt zur Folge haben würde?
Ich darf hier auf den Vorschlag des sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin vom Dezember 1957 hinweisen, der auch in diesem Hause bisher nicht zu letzten Erörterungen geführt hat. Bulganin schlägt in seiner Dezembernote vor:
Ich halte es für notwendig, Sie aufmerksam zu machen auf die entsprechenden Erklärungen der Sowjetregierung über die Bereitschaft, ihre Truppen in Deutschland zu reduzieren oder aus Deutschland sowie aus den anderen Ländern, wo sie sich gemäß dem Warschauer Vertrag befinden, abzuziehen, wenn vom Territorium der Bundesrepublik und anderer NATO-Teilnehmerländer die Streitkräfte der USA, Großbritanniens und Frankreichs abgezogen werden.
Hier ist von einem Abzug der Amerikaner aus Europa, von einer Räumung ganz Europas und dann auch Afrikas durch die Amerikaner keine Rede. Entspricht es den Tatsachen, Herr Bundeskanzler, daß auch maßgebliche militärische Kreise im Sinne des Bulganin-Vorschlags den Abzug aller ausländischen Truppen aus der Bundesrepublik bei gleichzeitigem Rückzug der sowjetischen Truppen hinter die sowjetischen Grenzen vom Standpunkt der militärischen Sicherheit und der atlantischen Verteidigung aus gesehen für verantwortbar halten, wenn die Bundesregierung zwölf deutsche Divisionen zur Verfügung hat? Die Bundesregierung sollte hier erstens darüber Auskunft geben: Warum macht die Bundesregierung nicht von der Chance Gebrauch, die in einem Rückzug der sowjetischen Truppen auf das Gebiet der UdSSR im Sinne einer politischen Befriedung und Entspannung in Mitteleuropa liegt, nachdem klargestellt zu sein scheint, daß vom Standpunkt der militärischen Sicherheit und der atlantischen Verteidigung beim Vorhandensein von zwölf deutschen Divisionen die Gegenleistung eines Rückzugs der Alliierten aus der Bundesrepublik zu verantworten ist, zumal es bei dem atomaren Gleichgewicht dieser Erde ohnehin unwahrscheinlich ist, daß an der Bundesrepublik allein der Frieden oder der Krieg hängt?
Eine weitere Frage ist: Warum nutzt die Bundesregierung nicht die Tatsache aus, daß die Sowjetunion noch einmal bereit zu sein scheint, sich den Verzicht auf eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr und auf die Stationierung ausländischer Atomstreitkräfte in der Bundesrepublik politisch etwas kosten zu lassen?

(Abg. Kiesinger: Was denn?)

— Das zu prüfen, Herr Kollege Kiesinger, ist Sache der Bundesregierung und nicht der Oppositionsparteien.
Wir stellen schließlich in der Großen Anfrage Drucksache 230 die dritte Frage:
Ist die Bundesregierung bereit, auf den Vorschlag der polnischen Regierung einzugehen, zu einem beiderseitigen Meinungsaustausch über die Möglichkeiten einer atomwaffenfreien Zone zu gelangen?
Auch hierzu hat es bisher noch keine konkrete Antwort gegeben, es sei denn, daß man die Äuße-



Dr. Mende
rung des Bundesvertriebenenministers Professor Oberländer als eine solche Antwort werten kann. Das neue CDU- und frühere BHE-Mitglied Professor Oberländer sagt, die CDU lege keinen Wert auf einen raschen Abschluß eines Friedensvertrages, da er das Problem der Oder-Neiße-Linie aufwerfen würde.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Ich möchte dahin gestellt sein lassen, ob ausgerechnet der amtierende Vertriebenenminister Professor Oberländer die geeignete Persönlichkeit ist, sich zu dieser Frage zu äußern.

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Aber vielleicht kann uns hier der Bundeskanzler als der Chef dieser Regierung eine Antwort auf diese Fragen geben: 1. Ist es wirklich die Auffassung der Bundesregierung, daß man nicht über einen Friedensvertrag sprechen dürfe, weil damit das Thema „Oder-Neiße-Linie" aufgeworfen werde? 2. Glaubt der Bundeskanzler, daß sein Bundesvertriebenenminister politisch und parteipolitisch der Mann ist, der dem Vizepräsidenten Professor Carlo Schmid in dieser Form und in dieser Frage gegenüberstehen kann?

(Beifall bei der FDP und SPD. — Zurufe von der Mitte.)

Wir Freien Demokraten glauben, daß die ausführliche Beantwortung dieser drei der Bundesregierung vielleicht recht unangenehmen Fragen samt ihrer Unterfragen eine Aufklärung über den Weg Deutschlands zur Wiedervereinigung geben könnte, jenen Weg, wie ihn sich die Bundesregierung vorstellt, nachdem die Oppositionsparteien ihre Vorstellung hier ja nicht nur einmal, nicht nur zweimal und nicht nur dreimal entwickelt haben.

(Abg. Rasner: Welche?)

— Sie .müssen die Protokolle nachlesen und nicht nur Ihre Zeitung lesen, sondern auch einmal andere!

(Beifall bei der FDP und SPD. — Zurufe und Lachen in der Mitte. — Abg. Ehren: Vor allen Dingen das, was Sie vor sechs Jahren gesagt haben!)

Wir glauben auf jeden Fall, es ist besser, daß eine Oppositionspartei Große Anfragen stellt; denn sie hat ja nicht die Möglichkeit, in ihrer eigenen Fraktion Fragen durch den Regierungschef beantworten zu lassen. Jedenfalls scheint uns dieses Verfahren besser zu sein, als daß eine Regierungspartei zusammen mit den Beamten des Auswärtigen Amts die Fragen und die Antworten formuliert, die man darauf haben möchte.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der SPD.)

Wir Freien Demokraten stellen uns vor, daß, nachdem in langwierigen, mühseligen, aber zielbewußten Verhandlungen, die sich vielleicht über Jahre erstrecken werden, das Spannungsfeld im Herzen Europas entzerrt ist und nicht mehr große Gefahren magnetisch auf sich zieht, Deutschland wirklich die Rolle zufallen könnte, die ihm durch seine Lage und seine Geschichte zugedacht ist und die es zum
erstenmal nach einer unglückseligen Vergangenheit neu im positiven Sinne erfüllen könnte, nämlich eine Brücke zu bilden zwischen Ost und West, gedeihend auf dem fruchtbaren Austausch des Geistes, der Kulturen und der Wirtschaft.
Wir dürfen nicht vergessen, daß mit uns der ganze Kontinent gespalten ist. Die Polen und die Tschechoslowaken gehören trotz allem, was wir beiderseits einander zugefügt haben, für das wir ein Vielfaches abbüßen mußten, zu Europa wie wir. Sie haben gelitten wie wir, und sie suchen die Rückkehr zur eigenen Tradition und zur Kultur des Abendlandes.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0301801200
ist das auch Ihre Meinung?

(Beifall bei der FDP und der SPD.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301801300
Sie haben die Begründung der Großen Anfrage der Fraktion der FDP gehört.
Zur Beantwortung hat zunächst das Wort der Herr Bundeskanzler.

Dr. Konrad Adenauer (CDU):
Rede ID: ID0301801400
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Es ist im allgemeinen nicht üblich — ich kann wohl sagen: sehr ungewöhnlich —, daß durch Fragen des Mitgliedes eines Parlaments der Chef der Regierung des betreffenden Landes gezwungen wird, Auskunft, und zwar genaue Auskunft, über Gespräche zu geben, die er mit dem Botschafter einer fremden Macht gehabt hat.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Ich bedauere außerordentlich, daß der Herr Abgeordnete Mende mich in diese sehr unangenehme Lage versetzt hat. Ich bedauere das um so mehr, als ich mit ihm noch vor, ich glaube, zwei Tagen eine Aussprache über diese Frage gehabt habe.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Herr Abgeordneter Mende hat behauptet, daß von der Bundesregierung eine absichtliche Irreführung, jedenfalls eine fahrlässige Falschunterrichtung der deutschen Öffentlichkeit vorgenommen worden sei. Er hat weiter gesagt, daß grob fahrlässig falsche Meldungen mit tendenziösem Hintertergrund von der Bundesregierung ausgegangen seien. Er hat endlich nach dem Aide-memoire gefragt, das mir gestern der Botschafter der Sowjetunion, Herr Smirnow, im Namen seiner Regierung überreicht hat.
Was dieses Aide-memoire angeht, so ist zwischen dem Botschafter und mir vereinbart worden, daß bis auf weiteres beide Seiten über dieses Aide-memoire schweigen. Wer von Ihnen weiß, daß diplomatische Verhandlungen nun wirklich nicht gewissermaßen auf offenem Platz geführt werden können, wird das verstehen.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Ich kann Ihnen aber eins sagen: In diesem Aide-
memoire steht nichts drin, was bei der heutigen De-

Bundeskanzler Dr. Adenauer
batte die Position der Bundesregierung stärken oder die Position der Opposition schwächen würde.

(Lachen und vereinzelte Zurufe.)

— Ja, meine Damen und Herren, was daran zu lachen ist, das ist Ihr Geheimnis. Meines ist es nicht. Es bezieht sich gar nicht auf die heutige Verhandlung. Es wird ja wohl auch der Tag kommen, an dem dieses Aide-memoire in beiderseitigem Einvernehmen der Öffentlichkeit übergeben wird. Dann werden Sie sich davon überzeugen können, daß ich mit dieser Erklärung recht gehabt habe. Warten Sie also mit Ihrem Urteil bitte bis dahin ab.
Nun hat aber Herr Abgeordneter Mende geglaubt, die Geschichte mit dem Friedensvertrag, mit dem einen Friedensvertrag oder mit zwei Friedensverträgen hier anschneiden zu sollen. Das ist mir sehr unangenehm, weil ich dadurch gezwungen bin, einen Teil der beiden Gespräche, die ich mit dem Botschafter Smirnow darüber gehabt habe, Ihnen mitzuteilen. Herr Botschafter Smirnow hat mich am Tage nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub, am 6. März, im Auftrag seiner Regierung aufgesucht. Nach dem Verlauf dieses Gesprächs konnte es keinem Zweifel unterliegen. daß er der Auffassung war, auf der Gipfelkonferenz sollten zwei Friedensverträge abgeschlossen werden. Ich habe ihm dann gesagt: Wie denken Sie sich das denn? Das ist doch für uns völlig unmöglich. Er hat darauf zur Antwort gegeben: .Sie haben ja vielleicht noch Zeit, vorher ein konföderatives Organ zu schaffen, und dieses konföderative Organ könnte dann einen Friedensvertrag mit Deutschland unterschreiben.
Kurze Zeit darauf habe ich Herrn Kollegen Ollenhauer zu mir gebeten, und wir haben dort auch über diese Frage gesprochen. Ich habe dann den Herrn Kollegen Mende in Begleitung des Herrn Kollegen Maier vorgestern bei mir gehabt.

(Zurufe: Umgekehrt!)

— Also meinetwegen umgekehrt, das ist mir noch lieber.

(Heiterkeit und Beifall in der Mitte.)

Herr Kollege Mende hat mir dann über, das Gespräch berichtet, das er mit dem sowjetischen Botschafter über die Frage: ein Friedensvertrag oder zwei Friedensverträge? gehabt hat. Ich habe mir seine Ausführungen notiert und habe ihm gesagt: Obgleich das an sich etwas ungewöhnlich ist, nachdem Herr von Brentano Ihnen im Auswärtigen Ausschuß zugesagt hat, die Frage werde geklärt werden, werde ich Herrn Botschafter Smirnow zu mir bitten.
Infolgedessen ist Herr Botschafter Smirnow gestern am späten Nachmittag, gegen Abend, bei mir gewesen. Ich habe ihm gesagt: Sehen Sie, Herr Botschafter, ich habe diese Auffassung über das, was Sie mir gesagt haben; Herr Mende hat etwas ganz anderes gesagt, er hat mir über das Gespräch mit Ihnen erklärt, nach Ihrer Auffassung komme nur e i n Friedensvertrag mit Deutschland in Frage, und die Verhandlungen über diesen Friedensvertrag würden nicht etwa mit der Gipfelkonferenz abgeschlossen sein, sondern sich über lange Zeit hinziehen; dann könne man ja sehen, zu welchen Ergebnissen man komme; was ist nun richtig?
Darauf hat er mir gesagt: Ich habe mit dem Herrn Abgeordneten Mende ja doch nur ganz wenige Worte gesprochen.

(Abg. Dr. Mende: Zweieinhalb Stunden, Herr Bundeskanzler!)

— Dann sagen Sie ihm das! Ich kann nur wiederholen, was er mir gesagt hat.

(Heiterkeit in der Mitte. — Abg. Dr. Mende: Vielleicht ist es wieder ein Mißverständnis?)

— Ich will es Ihnen dann genauer sagen: „Wir haben gemeinsam gegessen und getrunken und dann einige Sätze gesprochen. Dann habe ich mich an meine Arbeit begeben." Das hat er gesagt.

(Heiterkeit in der Mitte.) Aber das sind Nebensächlichkeiten.

Ich will Ihnen nun kurz wiederholen, was er mir gestern gesagt hat. Er hat weder gesagt, das, was er Herrn Mende gesagt habe, sei richtig wiedergegeben, noch hat er gesagt, das, was ich Ihnen gesagt habe, sei richtig wiedergegeben, sondern er hat mir gesagt, er sei hier, um den Auftrag seiner Regierung zu erfüllen, und er müsse also erklären, es komme für die Gipfelkonferenz nur e i n Friedensvertrag in Frage, aber über die Wiedervereinigung Deutschlands dürfe auf dieser Gipfelkonferenz nicht gesprochen werden.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Ich habe ihm dann erwidert: Aber, lieber herr Botschafter, wie stellen Sie sich denn die Sache vor? Es sitzt also auf dieser Gipfelkonferenz Herr Ulbricht da, und ich sitze da! Sie sagen, wir seien zwei souveräne Staaten, und dann sollen wir einen gemeinsamen Friedensvertrag mit Ihnen schließen. Wie stellen Sie sich das technisch überhaupt vor? Darauf hat er mir erwidert: Vielleicht haben Sie vor der Gipfelkonferenz noch genügend Zeit, um eine Konföderation mit der DDR herbeizuführen.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Also dieselbe These, die sich immer in den offiziellen Schriftstücken sowohl Bulganins wie Chruschtschwos findet, die sich auch findet in dem Brief, den Herr Bulganin an Herrn Macmillan gerichtet hat.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Der betreffende Passus darin lautet — ich habe die Übersetzung erst diese Nacht bekommen —:
Unseres Erachtens könnte auf der Konferenz auch das Problem des Abschlusses eines deutschen Friedensvertrages erörtert werden. Die Sowjetregierung schlägt vor, die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Teilnahme an der Erörterung dieser Frage einzuladen. Selbstverständlich kann, wie die Sowjetregierung wiederholt erklärt hat, das Problem des Zusammenschlusses der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zu einem einzigen Staate — das



Bundeskanzler Dr. Adenauer
liegt völlig im Zuständigkeitsbereich dieser beiden deutschen Staaten — nicht Gegenstand einer Erörterung auf der bevorstehenden Gipfelkonferenz sein.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Damit kann ich, glaube ich, diese Frage verlassen und zu den sehr wichtigen Fragen übergehen, die heute und morgen vor uns liegen. Ich möchte weder mich noch meine Kollegen im Kabinett erschöpfen durch die Beantwortung der tausend Fragen, die Herr Mende soeben an uns gestellt hat. Man kann diese Fragen aus dem Protokoll heraussuchen und kann sie ihm schriftlich beantworten. Auf der Tagesordnung stehen ganz bestimmte Fragen. Auf diese Fragen werden die zuständigen Fachminister antworten, und ich behalte mir vor, auch in die Debatte einzugreifen.
Die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, „betreffend die deutsche Frage auf künftigen internationalen Konferenzen", die Große Anfrage der FDP und schließlich auch die Entschließungsanträge der sozialdemokratischen Fraktion, die auch zur Abstimmung kommen werden, gipfeln letzten Endes in der einen Frage: Wollen wir in der NATO bleiben oder nicht? Das ist die Frage, um die es sich handelt. Da wollen wir uns kein X für ein U vormachen, sondern ganz klar und deutlich über diese Frage vor Ihnen und damit vor dem deutschen Volke sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Auf die einzelnen Pläne — Rapacki-Plan usw. — und die Vorschläge über die Tagesordnung einer Gipfelkonferenz heute einzugehen, halte ich nicht für opportun. Der Zeitpunkt dazu wird hoffentlich kommen. Ich halte es deswegen nicht für opportun, weil überhaupt noch keine Klarheit über das besteht, was von irgendeiner Seite beabsichtigt ist. Es liegen zur Zeit sieben Pläne à la Rapacki und 21 Vorschläge zur Tagesordnung einer Gipfelkonferenz vor, und fast jeder Tag bringt in einem diplomatischen Schriftstück wieder etwas Neues und wieder etwas anderes. Ich wiederhole: wenn einigermaßen zu erkennen ist, ob diese Gipfelkonferenz kommt, ob diese ganzen Fragen nun wirklich zur diplomatischen Verhandlung kommen, dann wird Ihnen die Bundesregierung ihre Stellungnahme dazu mitteilen. Wenn wir jetzt anfingen, alles das zu diskutieren, würde, wie ich fürchte, der Wirrwarr — und es ist augenblicklich ein Wirrwarr über diese Fragen in der Welt — nur noch größer werden.
Ich habe den Stenographischen Bericht des Bundestages über die Verhandlungen, die im Dezember 1954 über den Beitritt der Bundesrepublik zum Atlantikvertrag stattgefunden haben, zur Hand genommen. Bei der Lektüre der Ausführungen, die damals gemacht worden sind, kehren einem natürlich die ganzen Tatbestände wieder sehr klar ins Gedächtnis zurück, und man stößt auf eine auffallende Parallele zur gegenwärtigen Lage. Von der damaligen Bundesregierung und der großen Mehrheit des Hauses, die hinter ihr stand, wurde seinerzeit zur Begründung des Eintritts in die NATO auf
die Agressivität der sowjetischen Politik, auf ihr Ziel, Beherrschung der Welt durch den Kommunismus, und auf die dadurch begründete Notwendigkeit, in die politische Gemeinschaft der freien Völker des Westens mit allen Rechten und mit allen Pflichten einzutreten, hingewiesen.
Übrigens hat Herr Mende — es sei in Parenthese bemerkt, er wird es gar nicht beabsichtigt haben — dadurch, daß er all die Äußerungen unserer früheren Gegner angeführt hat, eigentlich eine ausgezeichnete Rechtfertigung dafür gegeben, daß wir uns damals diesen unseren früheren Kriegsgegnern in der NATO angeschlosen haben, damit deren Absichten bezüglich des deutschen Volkes endgültig vom Tische herunterkamen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, dem damaligen Beschluß des Bundestages, in die NATO einzutreten, war das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vorangegangen. Das Scheitern ist wesentlich auf sowjetrussischen Einfluß zurückzuführen.
Als nach dem Scheitern der EVG die Aufnahme Deutschlands in die NATO in Sicht kam — dank der Initiative des damaligen englischen Ministers des Auswärtigen Eden —, hat die Sowjetunion in Noten an Frankreich, an Großbritannien und an die Vereinigten Staaten vom 23. Oktober 1954 plötzlich wieder die Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, aber in der von ihr früher auf der Berliner Konferenz entwickelten Weise, aufgegriffen. Auf der Berliner Konferenz hat sie vorgeschlagen: freie Wahlen in Deutschland nach russischem System und eine Neutralisierung Deutschlands unter ständiger intensiver Kontrolle der Vier Mächte. Sie hat die Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands erst in dem Augenblick, wo es sich darum handelte, ob wir in die NATO eintreten würden, wieder aufgegriffen. Es ist klar: sie wollte damit den Eintritt der Bundesrepublik in die NATO inhibieren, stoppen.
Wir erleben jetzt etwas ganz Ähnliches. Vielleicht kommt eine Gipfelkonferenz, und vielleicht wird auf dieser Gipfelkonferenz auch etwas Gutes für Deutschland herauskommen. Auch hier möchte ich betonen — gegenüber Zweifeln, die laut geworden sind —: die deutsche Bundesregierung wünscht dringendst das Zustandekommen einer Gipfelkonferenz, die wenigstens in einem Punkte eine Erleichterung der entsetzlichen Lage bringt, in der die gesamte Welt sich jetzt befindet.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Diese Gipfelkonferenz wird sich auf alle Fälle auch mit der Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands beschäftigen. Die Ausrüstung der deutschen Wehrmacht schreitet fort. Die NATO selbst steht waffentechnisch und strategisch vor einer Umorganisation. Wiederum also, wie im Jahre 1954, sind entscheidende politische und militärtechnische Veränderungen in Sicht, und wiederum sucht auch jetzt die Sowjetunion durch eine große Anzahl sehr langer Briefe und Noten, die an
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 18. Sitzung. Bonin, Donnerstag, den 20. März 1958 843
Bundeskanzler Dr. Adenauer
alle möglichen Staaten gerichtet sind, Uneinigkeit unter den Völkern des Westens und Zweifel hervorzurufen und so diese Veränderungen zu verhindern.
Ich sagte soeben, die NATO stehe waffentechnisch und damit auch taktisch und strategisch vor einer Umorganisation. Es handelt sich um die Einführung von Raketenwaffen und die Frage der nuklearen Waffen im Bereich der NATO. Diese Anwendung — und ich wünsche, daß sehr viele Deutsche das hören — der waffentechnischen Entwicklung auch in der NATO ist für die militärische und die politische Situation in der gesamten Welt und damit auch für Deutschland entscheidend.

(Beifall in der Mitte.)

Gegen sie richtet sich in erster Linie die Agitation der Sowjetunion. Dabei hat die Sowjetunion selbst die Entwicklung der Waffentechnik mit allen Mitteln betrieben und sie sich in ausgedehntestem Maße zunutze gemacht.

(Sehr gut! in der Mitte.)

In der Bundesrepublik wird in bestimmten Kreisen behauptet, die Aufrüstung der deutschen Bundeswehr mit nuklearen Waffen und Raketenwaffen würde zum Untergang Deutschlands führen, vergrößere die Spannungen in der Welt, verhindere die Wiedervereinigung, führe letzten Endes zum globalen Atomkrieg und damit zu einer fürchterlichen Katastrophe. Die Kreise, die das behaupten, schlagen daher vor, daß sich die Bundesrepublik unter keinen Umständen an dieser Neuorganisation der NATO beteiligen dürfe, daß sie weder nukleare Waffen noch Raketen haben dürfe.
Wir leben in einer grausamen Welt, in einem schrecklichen Zeitalter. Wir leben in einer Zeit, wie es sie, so glaube ich, noch niemals gegeben hat, soweit das geschichtliche Denken reicht. Ich bin aber der Auffassung, daß uns gerade diese Tatsache verpflichtet, diese ganzen Fragen mit aller Ruhe, mit aller Sorgfalt und mit aller Nüchternheit zu überlegen und zu prüfen. Wenn wir das tun, dann kommen wir nach meiner sehr, sehr sorgsam gebildeten Überzeugung zu folgenden Ergebnissen.
Der potentielle Gegner der NATO ist die Sowjetunion, der Ostblock. Die Sowjetunion ist mit nuklearen Waffen und Raketen aufgerüstet. Wenn ein wichtiger Teil der NATO nicht Waffen gleicher Stärke wie der potentielle Gegner besitzt — der Herr Verteidigungsminister wird darüber noch sprechen —, ist sie bedeutungslos und zwecklos geworden.

(Zustimmung in der Mitte.)

Wenn es die strategische Planung der NATO — die wir natürlich nachprüfen müssen und nachprüfen werden — verlangt, daß auch wir, die Bundesrepublik, von dieser Fortentwicklung der Waffentechnik Gebrauch machen, und wenn wir uns dann weigern, das zu tun, scheiden wir damit aus der NATO aus. Um diese Frage — ich habe das schon einmal gesagt und betone es nochmals — dreht sich, wenn man die Dinge substantiell sieht, unsere ganze Diskussion, also um die Frage: Sollen und müssen
wir im Interesse des deutschen Volkes und im Interesse des Friedens in der Welt in der NATO bleiben, auch wenn es sich als nötig erweist, die waffentechnische und strategische Entwicklung der NATO mitzumachen?

(Sehr gut! in der Mitte.)

Ich halte es wirklich für notwendig, Ihnen in all dem Wirrwarr von Briefen, von Vorschlägen, von Plänen, von Artikeln, von Drahtnachrichten usw. die Situation so klar vor Augen zu führen, daß jeder in der Lage ist, sich eine Überzeugung so oder so zu bilden, damit jeder auch im deutschen Volke in der Lage ist, sich eine Überzeugung darüber zu bilden, ob die bisher von uns geführte Politik gut war, ob wir sie fortsetzen müssen oder ob Verhältnisse eingetreten sind, die eine Änderung unseres politischen Verhaltens verlangen, ab wir aus der NATO ausscheiden sollen.
Die deutsche Politik muß meines Erachtens zum Ziel haben: Rettung des Friedens in der Welt,

(lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

Rettung des Friedens in der Welt durch kontrollierte allgemeine Abrüstung,

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! und erneuter Beifall)

und zwar sowohl auf dem Gebiet der nuklearen wie der konventionellen Waffen, dadurch allgemeine Entspannung, Sicherung unserer Freiheit und Wiederherstellung . unserer Einheit.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn wir uns Rechenschaft geben über die Politik Deutschlands, wie sie war und wie sie jetzt gestaltet werden muß, dann müssen wir doch von der Lage in der Welt ausgehen. Ein Land von dem wirtschaftlichen Potential und in der geographischen Lage Deutschlands wird niemals ein isoliertes Dasein führen können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das Geschick Deutschlands ist untrennbar verbunden mit dem Geschick der anderen Völker.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir werden uns mit ganzer Kraft in den Dienst der Verhütung einer Weltkatastrophe stellen müssen; denn wenn eine Weltkatastrophe käme, dann würde Deutschland in sie hineingerissen werden, gleichgültig, ob es bewaffnet ist .oder ob es nicht bewaffnet ist.

(Lebhafte Zustimmung bei der CDU/CSU. — Bewegung bei der SPD.)

Das ergibt sich aus der Natur eines globalen nuklearen Krieges, der weiteste Flächen umfassen würde, und aus der geographischen Lage Deutschlands.

(Zustimmung bei der CDU/CSU. — Abg. Wittrock: Wem erzählen Sie das eigentlich !)

Wenn ein solcher Krieg jemals entbrennen sollte und wenn er allein zwischen den nuklearen Großmächten, den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Sowjetrußland, ausbrechen würde und wenn alle anderen Länder in Europa sich neutral erklä-
844 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode 18. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. März 1958
Bundeskanzler Dr. Adenauer
ren würden, würde trotzdem Westeuropa in den Strudel mit hineingezogen werden, weil die atomaren Explosionen in zu großer Nähe von ihm erfolgen würden und auch weil kein kriegführender Teil der anderen den Besitz so hockentwickelter Länder, wie es die westeuropäischen sind, gestatten würde.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Wir. haben im Interesse unserer Selbsterhaltung die Pflicht, alles zu tun, daß jede Katastrophe vermieden wird. Das können wir nur dann, wenn wir in der NATO bleiben, die NATO stärken, nicht aber durch Verweigerung sich etwa ergebender Verpflichtungen die NATO schwächen, aus ihr ausscheiden. Wir sind ein wichtiger Bestandteil der NATO und wir würden durch vertragswidriges Verhalten die NATO zerstören. Wir haben die Pflicht, alles zu tun, was wir können, um auf diese Weise die Möglichkeit eines Auswegs aus der furchtbaren Situation, in der die Welt sich befindet, mitzuschaffen.

(Zuruf von der SPD: Die allgemeine Aufrüstung!)

Seien Sie sich über eines klar: Die Weltlage ist, seitdem wir im Jahre 1954 .in die NATO eintraten, viel kritischer und gefährlicher geworden.

(Widerspruch und Lachen bei der SPD. — Abg. Erler: Das ist dabei herausgekommen!)

— Ach, meine Damen und Herren, ich wußte ja, wie Sie diesen Satz quittieren würden, aber hören Sie, was ich jetzt weiter sagen werde! Sie ist nicht durch unseren Eintritt in die NATO gefährlicher und kritischer geworden.
Wollen wir die Dinge nun doch einmal real sehen! Glauben Sie und darin sehe ich die Zuspitzung der ganzen Lage —, daß sich Sowjetrußland seit 1954 in did Angelegenheiten des Orients hineingemischt hat, weil wir in die NATO eingetreten sind?

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich glaube, daran sind wir nun wirklich völlig unschuldig. Aber machen Sid sich bitte einmal klar, was diese politische Taktik der Russen für uns bedeutet! Sowjetrußland sucht im vorderen Orient immer mehr Fuß zu fassen und in das Mittelmeer zu kommen; ein von seinem Standpunkt aus, wenn es die Welt beherrschen will, sehr kluger Zug.
Wenn Sowjetrußland über den Orient in das Mittelmeer kommt, dann ist Westeuropa in der Zange: einmal vom Mittelmeer aus und auf der anderen Seite hier vom Osten, von unserer Ostgrenze aus. Dadurch hat sich die Lage in der Welt seit 1954 wirklich kritischer gestaltet, als sie je vorher gewesen ist.
Meine verehrten Damen und Herren! Wenn wir uns nun diejenigen Mächte betrachten, die im Besitz nuklearer Waffen sind — das sind die Vereinigten Staaten, das ist Großbritannien, das. ist Sowjetrußland —, dann, glaube ich, ist das eine ganz klar: weder die Vereinigten Staaten noch Großbritannien verfolgen aggressive Tendenzen..

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Diejenige nukleare Macht — es hat keinen Zweck,
sich darüber zu streiten, wieviel nukleare Waffen
sie hat; sie ist im Besitze eines erheblichen Teils nuklearer Waffen, das steht fest —, die aggressive Tendenzen verfolgt, das ist Sowjetrußland.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU )

Auch daran kann doch kein Zweifel bestehen. Demokratisch regierte Länder, wie die Vereinigten Staaten, wie Großbritannien, können ja überhaupt keinen Aggressionskrieg führen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

es hindern sie die demokratischen Einrichtungen daran.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber ein diktatorisch regierter Staat,

(Abg: Dr. Mende: Suez!)

das wissen wir doch — und Sowjetrußland ist ein diktatorisch regierter Staat —, kann ohne Rücksicht auf irgendwelche demokratische Hemmungen zu einem Angriffskrieg übergehen.

(Abg. Dr. Mende: Die These ist durch den Suez-Fall leider erschüttert, Herr Bundeskanzler!)

— Herr Mende, ich lasse mich durch Sie nicht herausfordern. Wenn Sie die Einzelheiten über den
Suez-Fall wissen wollen, dann lesen Sie doch das
bekannte Buch, das in Paris darüber erschienen ist!
Sie werden einen vergnügten Nachmittag haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Diejenigen, die glaubten, daß mit dem Tode Stalins eine andere, eine nichtaggressive Ara der russischen Politik eintreten werde, sind bitter enttäuscht worden. Auf dem Kongreß der Kommunistischen Parteien der sozialistischen Länder im November 1957 ist in der Schlußdeklaration vom 16. November 1957 — sie ist am 22. November durch TASS veröffentlicht worden — ausdrücklich die Beherrschung der Welt als das Ziel des Kommunismus erklärt worden..

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Diese Erklärung des höchsten Organs der kommunistischen Länder ist bisher von niemandem widerrufen worden.
Wir haben auch in der jüngsten Geschichte Beweise von der Aggressivität der Sowjetunion, wir haben die Unterwerfung der Satellitenstaaten. Diese Aggressivität der Sowjetunion hat sich durch das Selbstbewußtsein, das sie durch den Besitz der nuklearen Waffen bekommen hat, noch gesteigert. Das wird offenbar einmal durch die Politik im Mittleren Osten, dann aber auch durch das Verhalten Sowjetrußlands in den ganzen Bemühungen um eine kontrollierte Abrüstung.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Darauf möchte ich Ihre und der deutschen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit einmal sehr nachdrücklich lenken.
Der Unterausschuß der Abrüstungskommission der UNO hat vom 18. März bis zum 6. September 1957 Sitzungen abgehalten. Der Sowjetunion sind weitestgehende Angebote gemacht worden; sie sind alle veröffentlicht. Sie hat stereotyp nein gesagt. Es haben dann in der UNO Verhandlungen über die Abrüstung stattgefunden, und zwar begannen



Bundeskanzler Dr. Adenauer
sie unmittelbar, nachdem die Londoner Konferenz zu Ende gegangen war, am 17. September 1957. Am 14. November 1957 ist in der Vollversammlung der UNO eine Resolution zur Abrüstung angenommen worden. Bei der Abstimmung über diese Resolution haben sich 15 Staaten der Stimme enthalten. 56 Staaten haben der Resolution zugestimmt. 9 haben mit Nein gestimmt; das waren die Ostblockstaaten unter Führung der Sowjetunion.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Gerade wir in diesem Hause haben schon in früheren Diskussionen immer wieder die UNO als die höchste Autorität bezeichnet, und wir sollten diese Vorgänge in der UNO auch in diesem Falle mit der Aufmerksamkeit betrachten, die ihnen gebührt.
Nach dieser Ablehnung — Ablehnung durch
Sowjetrußland und Annahme durch 56 Mitglieder — wurde in der UNO eine Weiterführung der Verhandlungen durch die Abrüstungskommission der UNO vorgeschlagen. Sofort hat die Sowjetunion durch ihre Vertreter am 10. Oktober und am 4. November 1957 in der UNO erklärt, sie werde sich an den Verhandlungen der Abrüstungskommission und ihres Unterausschusses nicht mehr beteiligen.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Meine Damen und Herren, gibt es einen stärkeren Beweis dafür, von welcher von Selbstüberschätzung getragenen agressiven Gesinnung die Sowjetunion beseelt ist?
Dann ist in der UNO am 19. November 1957 eine Resolution zur Abstimmung gestellt worden, durch die die Abrüstungskommission von 11 auf 25 Mitglieder erweitert werden sollte, und zwar waren da Mitglieder in Aussicht genommen, die der Sowjetunion sympathischer waren. Bei der Abstimmung über diese Resolution über die Erweiterung der Abrüstungskommission, die Sowjetrußland entgegenkommen wollte, haben sich 11 Staaten der Stimme enthalten, 60 Staaten haben mit Ja gestimmt, 9 Staaten mit Nein; das waren dieselben Staaten, die auch damals mit Nein gestimmt hatten: der Ostblock unter Führung der Sowjetunion.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Ich glaube, ein überzeugenderer Beweis für das intransigente Verhalten der Sowjetunion in der uns
und die ganze Welt zutiefst berührenden Frage der
Abrüstung ist überhaupt nicht mehr zu erbringen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Nun behaupten Vertreter der Sowjetunion, sie habe ihren Willen, abzurüsten, dadurch gezeigt, daß sie eine Anzahl von Truppen entlassen habe. Ich kann Ihnen erklären: Sowjetrußland hat in den letzten Jahren nicht nur nuklear hoch aufgerüstet, es hat auch auf dem Gebiete der konventionellen Waffen außerordentlich vieles geschaffen und aufgerüstet, so daß die Entlassung dieser Truppen keine Verminderung der Kampfkraft Sowjetrußlands in irgendeiner Weise bedeutet und nicht als Zeichen des Friedens gewertet werden kann. Ich glaube, gerade die durch das russische Nein zur Zeit sich auf dem toten Punkt befindlichen Abrüstungsverhandlungen, in London sowohl wie in der UNO, die gleichzeitig in stärkster Weise weitergetriebene Bewaffnung der Sowjetunion und die Proklamation der kommunistischen Parteien vom November 1957 zeigen — das muß ich sagen — klar und deutlich, in welcher Gefahr sich die freien Völker der Welt befinden.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Nun wird von den Wortführern der Bewegung gegen eine Bewaffnung unserer Wehrmacht mit nuklearen Waffen — von der ich soeben sprach — behauptet, es gebe nur die Wahl zwischen dem Atomtod und Unterlassung der nuklearen Bewaffnung. Dieser Satz, meine Damen und Herren, ist völlig unrichtig.

(Zustimmung in der Mitte.)

Einmal glaube ich, Ihnen doch wesentliche Argumente dafür beigebracht zu haben,

(Lachen bei der SPD — Zuruf links: „Beigebracht" ist richtig!)

daß die Unterlassung der nuklearen Bewaffnung kein Schutz ist, und zweitens, meine Damen und Herren: wenn wir dieser Parole folgen, dann beschwören wir nach der Überzeugung der Bundesregierung geradezu die Gefahr eines grauenvollen Krieges herauf.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Es gibt nicht nur Atomtod oder Unterlassung der nuklearen Bewaffnung, es gibt ein Drittes, und dieses Dritte ist das Ziel, das wir mit unserer Politik erstreben. Dieses Dritte ist die Verhütung jedes Atomkrieges durch allgemeine und kontrollierte Abrüstung.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Nur diese allgemeine, kontrollierte Abrüstung kann
in Wahrheit die Welt vor den furchtbaren Schrekken eines Atomkrieges bewahren. Ich habe darüber
genug gesprochen, meine Damen und Herren, aber
glauben Sie mir, es ist so: solange in der Welt
Mächte im Besitz dieser nuklearen Waffen sind,
droht immer die Gefahr, daß sie gebraucht werden

(Abg. Wittrock: Also!)

und daß dadurch über die ganze Welt, auch über die Nichtbewaffneten, das Unheil hereinbricht. Daher glaube ich, statt uns auseinanderzusetzen über Dinge, über die man natürlich verschiedener Meinung sein kann, sollten wir uns zusammenfinden in der Parole: Kontrollierte Abrüstung in der gesamten Welt. Das ist unser Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe eingangs gesagt, daß, wenn die Bundesrepublik sich weigern sollte, den zur Zeit noch nicht feststehenden, aber durch die moderne Entwicklung eventuell notwendig werdenden Umorganisationen strategischer und ausrüstungsmäßiger Art der NATO stattzugeben, damit die NATO auseinanderfällt. Dann ist die Lage unendlich viel gefährlicher, als sie zur Zeit ist. Sie ist aus zwei Gründen gefährlicher. Wenn zwei große Mächte Differenzen miteinander haben, wie die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, dann sind Verhandlungen nur mit Erfolg zu führen, wenn die beiden Mächte entsprechend stark sind.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)




Bundeskanzler Dr. Adenauer
Das gilt vor allem für Verhandlungen mit der Sowjetunion. Die Aussichten, in Verhandlungen mit der Sowjetunion zu einem Ergebnis zu kommen, sind um so größer, je stärker derjenige ist, der ihr Verhandlungen vorschlägt.

(Zustimmung in der Mitte.)

Wenn aber die NATO auseinanderfällt, dann stehen sich auf der Welt nur noch gegenüber: auf der einen Seite die Vereinigten Staaten, vielleicht mit England, auf der anderen Seite die Sowjetunion. Dann sind wir, meine Damen und Herren, politisch einflußlos geworden, und dann werden wir ein Objekt — und lediglich ein Objekt — der Politik anderer Länder.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, glauben Sie nicht, daß ich Gefahren an die Wand male, die nicht bestehen! Die Gefahren bestehen.
Ich möchte Ihnen hier eine Meldung von AP vorlesen. Der Mitverfasser des amerikanischen Rockefeller-Berichts über militärische Gesichtspunkte amerikanischer und internationaler Sicherheit, Kissinger, vertragt im „Foreign Affairs" die Ansicht, daß Europas Weigerung, amerikanische Raketen anzunehmen, nur seine Abhängigkeit von Amerika erhöhen würde. Er sagt weiter:
Statt das amerikanische Angebot nur unter dem Gesichtspunkt des ausschließlichen Nutzens für Amerika zu betrachten, sollten Europäer verstehen, daß es das einzige Mittel darstelle, mit dem Europa die Mitbestimmung über seine Zukunft sicherstellen könne. Wenn die USA durch eine europäische Weigerung der Annahme der Raketen allein die Verantwortung für die Verteidigung der freien Welt übernehmen, dann übernehmen sie auch die Verantwortung für die Bestimmung des Casus belli. Die Entscheidung darüber, wie auf eine Aggression in Europa zu reagieren wäre, läge dann nicht mehr in Europa.

(Abg. Schmid [Frankfurt] : Wo denn sonst?!)

Mit der Zeit könnte diese Situation das herbeiführen, was viele Europäer am meisten fürchten.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Meine Damen und Herren, das ist logisch und richtig. Wenn wir bei großen politischen Fragen in Richtung auf eine Entspannung mitsprechen wollen, dann müssen wir auch bereit sein, die entsprechenden Lasten auf uns zu nehmen.

(Beifall in der Mitte.)

Ich habe von der NATO bisher nur im militärischen und militärpolitischen Sinne gesprochen. Aber, da es sich hier um unser Verbleiben in der NATO handelt, bedenken Sie doch bitte auch einmal, was die NATO sonst bedeutet. Die NATO ist doch nicht nur ein militärisches Defensivbündnis, sie ist auch ein Bündnis, das sich in großem Maße mit anderen Fragen beschäftigt. Auf der Pariser Konferenz ist betont worden, daß die Signatarstaaten anstreben, Gegensätze in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern. Ferner ist ausdrücklich erklärt worden, daß der NATO-Vertrag nicht nur den gegenwärtigen Sicherheitsforderungen genügen solle, sondern auch den Weg aus einer verworrenen internationalen Vergangenheit in eine bessere Zukunft zeigen wolle. Die Beschlüsse, die auf der Konferenz in Paris gefaßt worden sind, auf der sämtliche Regierungschefs der NATO-Staaten anwesend waren, zeigen das sehr klar. Es wurde wiederum bekräftigt — und davon müssen Sie und muß die Weltöffentlichkeit Kenntnis nehmen —, daß das Hauptziel der westlichen Bemühungen eine umfassende kontrollierte Abrüstung bleibt.
In Paris haben sich die westlichen Staatsmänner wieder bereit erklärt, jeden denkbaren Vorschlag zu diskutieren und jeden vernünftigen Weg zu einer allgemeinen Abrüstung zu gehen.
Die NATO ist im Laufe der Entwicklung, wenn sie auch bei ihrer Gründung vornehmlich ein militärisches Defensivbündnis war, zu einem allgemeinen, großen politischen Bündnis geworden, das auf die gesamte Weltpolitik bestimmend einwirkt. Daher sollte man sich doch sehr gründlich die Frage überlegen: Soll dieses kleine Deutschland — meine Damen und Herren, lassen wir doch endlich einmal den deutschen Größenwahn beiseite! —

(Beifall in der Mitte — Beifall und Zurufe von der SPD)

sich von diesem großen Bündnis zurückziehen und seinen Einfluß in diesem Bündnis preisgeben?

(Abg. Ehren: Wo Sozialdemokraten dabei sind!)

Wie stark der Einfluß der NATO ist, können Sie auch daraus ersehen, daß bei allen Londoner Abrüstungsverhandlungen eine Konsultation mit allen NATO-Partnern stattgefunden hat, daß alle Vorschläge im Einverständnis aller NATO-Partner gemacht worden sind. Das gleiche gilt für alle Antworten, die jetzt auf die Briefe der sowjetrussischen Staatsmänner gegeben werden. Alle diese Fragen werden unter den NATO-Partnern in Paris in voller gegenseitiger Offenheit diskutiert, und das Ergebnis wird den Regierungen der NATO-Partner zur Genehmigung unterbreitet.
Ich darf vielleicht auch daran erinnern, daß das Schlußkommuniqué der Pariser Konferenz ausdrücklich hervorhebt, daß die NATO-Partner die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit fordern; alle stehen hinter uns.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Sehr gut! — Vereinzelt Lachen bei der SPD.)

— Jeder lacht, wo er es für nötig hält.

(Beifall in der Mitte.)

Lassen Sie mich nun noch ein Wort in eigener Sache sagen. Ich bin wegen der Erklärung, die ich in Paris abgegeben habe, in der deutschen Öffentlichkeit ganz außerordentlich gelobt worden. Ich hatte es nach meiner Meinung schon vorher verdient.

(Heiterkeit. — Beifall in der Mitte.)

Aber ich habe mir nun noch einmal die Erklärung,
die ich damals abgegeben habe, genau durch-



Bundeskanzler Dr. Adenauer
gelesen, ob ich denn wirklich plötzlich aus einem Saulus ein Paulus geworden sei;

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Hört! Hört!)

das ist nämlich gesagt worden. Ich finde dies nicht.
Wenn Sie wollen, bin ich nach wie vor ein Saulus.

(Heiterkeit. Zuruf des Abg. Dr. Schmid [Frankfurt].)

— Was meinen Sie?

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Dann kämen Sie nicht in den Himmel! — Gegenruf des Abg. Kiesinger: Falsche Theologie!)

Ich habe in Paris ausgeführt, was ich auch hier und was ich immer ausgeführt habe. Ich habe es wörtlich vor mir. Ich will es Ihnen nicht ganz vorlesen. Ich habe ausgeführt, daß die politische Entwicklung der letzten Monate keine Faktoren zeige, die uns zu der Hoffnung berechtigten, daß wir uns bereits auf dem Wege zu einer Entspannung befinden. Ich habe weiter ausgeführt, daß uns gar nichts dazu berechtige, mit unserer Arbeit in der NATO irgendwie nachzulassen, im Gegenteil. Ich habe ferner ausgeführt — und das sage ich auch hier, meine Damen und Herren —, daß wir jederzeit bereit sind, mit Sowjetrußland zu verhandeln.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dazu ist die Bundesregierung nach wie vor bereit. Natürlich gehören zum Verhandeln zwei. Über die Frage, die uns so sehr am Herzen liegt, über die Wiederherstellung der deutschen Einheit, bin ich noch mehr bereit zu verhandeln als über einen Friedensvertrag.
Mir liegt am Herzen — und ich hoffe, auch Ihnen , daß wir endlich dazu kommen, daß die 17 Millionen Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang so leben können, wie sie wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich maße mir kein Urteil über die Regierungsmethoden Sowjetrußlands an; ich maße mir kein Urteil darüber an, was dort geschieht. Aber das eine weiß ich, meine Damen und Herren: daß die Deutschen für eine solche Regierungsmethode keine geeigneten Objekte sind.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Darum glaube ich — ich habe das auch der
sowjetrussischen Regierung mitteilen lassen —, wir sollten diese ganze Frage nicht nur unter nationalen oder nationalistischen Aspekten oder Aspekten des Machtbereichs, sondern unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß dort 17 Millionen Deutsche zu einer Lebens- und Denkungsweise gezwungen werden, die sie nicht wollen.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Wir würden in der Befriedung der Welt, in der Entspannung und in unserem Verhältnis zu Sowjetrußland unendlich viel weiter sein, wenn endlich einmal den Deutschen in der Sowjetzone gestattet würde, frei zu sein und frei zu leben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das ist der Wunsch, den ich habe, völlig frei von
jedem nationalistischen Überschwang. Um die Menschen handelt es sich, und auf die Menschen kommt es an. Wenn ich mit den Leuten spreche, die von dort herüberkommen — wohl jeder von uns spricht mit solchen Leuten , und wenn ich dann höre, unter welchem Druck die Menschen leben, dann glaube ich, auch Sowjetrußland müßte doch einsehen, daß es diese Leute auch nicht mit Zwang zu Kommunisten machen kann. Sie bleiben Deutsche und sie sollen Deutsche bleiben. Es ist ein elementares Menschenrecht, um das es sich hier handelt, daß diese Menschen nach ihrem eigenen Gutdünken frei leben können.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, es gibt noch einen Punkt, der, glaube ich, in der Frage der Wiedervereinigung doch einmal erwähnt werden muß, weil er nach meiner Überzeugung auf sowjetrussischer Seite eine große Rolle spielt. Das ist das Vorkommen von Uranerzen in der Ostzone. Das ist ein Punkt von außerordentlich großer Bedeutung, auch für Sowjetrußland; das gebe ich ohne weiteres zu. Aber ich bin der Auffassung: Da lassen sich doch Kautelen schaffen! Es gibt doch eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß das Uranerzvorkommen nicht der Freiheit unserer Brüder und unserer Schwestern hinter dem Eisernen Vorhang entgegensteht!

(Langanhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301801500
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0301801600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Großen Anfragen, diejenige der CDU/ CSU und diejenige der FDP, werden in einem Augenblick gestellt, in dem die außenpolitische Diskussion tatsächlich erneut in Fluß gekommen zu sein scheint. Die Auseinandersetzungen über die Vorbereitungen und Abhaltung einer sogenannten Gipfelkonferenz sind auf höchster Ebene im Gange. Die Bundesregierung hat es deshalb auch begrüßt, daß sie die Gelegenheit hat, in diesem Zeitpunkt präzise Fragen zu beantworten und damit auch der irrigen Auffassung entgegenzutreten, daß in der Beurteilung der weltpolitischen Lage durch die Bundesregierung ein Wandel eingetreten sei. Darüber hinaus hat aber die Bundesregierung auch keinen Zweifel, daß eine negative Entscheidung ihr den Vorwurf eingetragen hätte, das Parlament sei nicht rechtzeitig in die Diskussion um die Willensbildung einbezogen worden. Die Bundesregierung möchte nicht den Anschein erwecken, als müsse sie einer Auseinandersetzung über die bisherige Außenpolitik etwa aus dem Wege gehen. Es gibt keine einzige Frage, auf die eine exakte und präzise Antwort zu geben sie nicht bereit ist. Trotzdem erscheint es mir sinnvoller, wenn wir den Blick auf die Zukunft richten und uns darüber unterhalten, was geschehen kann und was geschehen muß.
Als erste wurde der Bundesregierung die Frage gestellt, ob nach ihrer Auffassung die Wiedervereinigung Deutschlands auf einer bevorstehenden Gipfelkonferenz behandelt werden müsse, und dar-



Bundesaußenminister Dr. von Brentano
hinaus, ob eine wirkliche Lösung der internationalen Spannungen ohne eine Antwort auf die deutsche Frage denkbar sei. Meine Damen und Herren, nach der Überzeugung der Bundesregierung wäre es tatsächlich eine gefährliche Selbsttäuschung, Wenn wir oder wenn andere Staaten im Osten und im Westen glaubten, die auf der Welt lastende Spannung zwischen der kommunistischen und der freien Welt könne auf der Grundlage der widernatürlichen Teilung Deutschlands beseitigt werden. Wir sind nicht so selbstbezogen, zu glauben, daß die Teilung Deutschlands die alleinige oder die entscheidende Ursache dieser Spannung sei. Wohl kann man annehmen, daß es ohne den tiefen politischen und psychologischen Gegensatz zwischen diesen beiden Teilen der Welt, der Welt des totalitären Kommunismus und der Welt der freiheitlichen Demokratie, nicht zur Spaltung Deutschlands gekommen wäre. Aber heute, wo sie da ist, hat sie sich leider zu einer durchaus selbständigen Quelle und Ursache internationaler Spannungen entwickelt. Es ist von dieser Stelle aus oft genug schon gesagt worden, worin diese Gefahren bestehen. Es genügt, wenn ich an den ständigen Flüchtlingsstrom aus der Zone erinnere, an die künstliche Abschnürung der alten Reichshauptstadt Berlin, an das Gefälle des Wohlstands vom Westen nach dem Osten und an die Willkürmethoden der Zonenregierung, über die wir täglich und stündlich neue Mitteilungen erhalten.
Auf die Frage, ob die Wiedervereinigung Deutschlands oder, richtiger gesagt, ob die Herstellung einer dem Willen des deutschen Volkes entsprechenden freiheitlichen Ordnung in Deutschland auf einer Gipfelkonferenz behandelt werden muß, gibt es darum nach der Überzeugung der Bundesregierung nur eine klare Antwort: ja.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Darum wird sich die Bundesregierung wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft dafür einsetzen, daß dieses Thema zu einem der Themen der Gipfelkonferenz gemacht wird.
Ich sage das nicht ohne eine Einschränkung. Es gibt bis zur Stunde leider kein Anzeichen dafür, daß die Regierung der Sowjetunion ernsthaft bereit wäre, über diese Frage zu verhandeln.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Hört! Hört!)

Dafür gibt es um so mehr Anzeichen dafür — zum
Teil hat sie der Herr Bundeskanzler schon erwähnt —, daß die Sowjetunion entschlossen ist, mit äußerster Härte an ihrer Theorie von der selbständigen Existenz zweier deutscher Staaten festzuhalten.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Hört! Hört!)

In allen ihren mündlichen und schriftlichen Erklärungen haben die Sprecher der Sowjetunion dies in den vergangenen Wochen und Monaten bekräftigt. Ich brauche nur an die Rede zu erinnern, die am 22. Januar der sowjetrussische Parteisekretär Chruschtschow in Minsk gehalten hat. Er hat sich
dort — mir scheint, das ist schon wieder in Vergessenheit geraten dahin geäußert, daß die Deutschlandfrage unter den gegenwärtigen Verhältnissen vor allem die gegenseitigen Beziehungen zwischen den beiden auf dem Boden Deutschlands bestehenden souveränen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung betreffe. Er wiederholte, es sei der Standpunkt der Sowjetregierung, nur das deutsche Volk könne die Deutschlandfrage lösen, wobei er hinzufügte, das bedeute, daß man den Wunsch der Werktätigen der DDR, ihre sozialistischen Errungenschaften nicht beseitigt zu sehen, berücksichtigen müsse.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat Herr Mende nicht gesagt!)

Ich glaube, wir brauchen uns über diese ,,sozialistischen Errungenschaften" nicht zu unterhalten; wir kennen sie. Aber ich habe doch den Eindruck, daß zuweilen auch diese Frage schon wieder etwas verniedlicht wird.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Es wird schon so dargestellt, als gehe es letztlich nur um die Diskussion, was nun im Hinblick auf gewisse Maßnahmen geschehen soll, die dort vollzogen wurden, etwa Bodenreform oder Sozialisierung von Betrieben. Meine Damen und Herren, lassen wir uns nicht in dieser Frage täuschen! Noch vor wenigen Tagen hat der Kontrollkommissar der SED Mattern vor dem Bezirksparteiaktiv der Dresdener SED-Leitung sehr klar gesagt, was die SED unter diesen „Errungenschaften" versteht. Er betonte, die größte Errungenschaft, die verteidigt werden müsse, bedeute die Einheit der Partei, die zweite die Staatsmacht der Arbeiter und der Bauern, und an dritter Stelle stehe der Aufbau des Sozialismus. Diese Errungenschaften seien die Grundlage, die auch im Falle einer Wiedervereinigung Deutschlands niemals verlassen werden dürfe.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Ein gleiches hat er wenige Tage später vor der „Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz" in Leipzig ausgeführt.
Die Sowjetunion hat laut ihre volle Übereinstimmung mit solchen Äußerungen der sogenannten Regierung der DDR bekundet. Zuletzt hat Radio Moskau noch mitgeteilt, es sei unverständlich, warum die Konferenz überhaupt nach Wegen zur Wiedervereinigung Deutschlands suchen solle. Es ist uns auch bekannt, daß auf dem 40. Jahrestag der sowjetrussischen Armee Herr Chruschtschow im Gespräch mit einigen Partnern die Äußerung tat, Deutschland sei früher in eine Reihe von Staaten geteilt gewesen; über die Wiedervereinigung könne man vielleicht in hundert Jahren sprechen.

(Abg. Kiesinger: Hört! Hört!)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist allerdings nicht bereit, sich mit solchen Erklärungen der Sowjetunion abzufinden, und sie hofft, daß das ganze Volk ihr darin folgen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die zweite Frage steht in einem inneren und, wie ich glaube, unlösbaren Zusammenhang mit der er-



Bundesaußenminister Dr. von Brentano
sten. Wenn die Bundesregierung gefragt wird, ob sie eine Behandlung von Fragen der europäischen Sicherheit auf der Konferenz für nützlich halte, solange die Behandlung der Wiedervereinigungsfrage von der Sowjetunion abgelehnt werde, so kann die Bundesregierung darauf nur mit einem klaren Nein antworten. Die Antwort muß „Nein" lauten, weil die Sicherheit des freien Europa unter den gegenwärtigen Bedingungen am wirksamsten durch die bereits bestehenden Sicherheitsvorkehrungen gewährleistet ist. Es muß klar und unmißverständlich ausgesprochen werden: Solange die Teilung Deutschlands besteht, kann die Sicherheit des freien Europa durch Vereinbarungen über militärisch verdünnte oder atomwaffenfreie Zonen, durch teilweise oder vollständige Truppenabzüge, durch Auflösung überseeischer Stützpunkte oder ähnliche Vorschläge nur gefährdet, aber nicht verbessert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das scheint wohl auch der Grund zu sein, warum die sowjetische Außenpolitik mit einer wohlüberlegten Beharrlichkeit immer wieder neue sogenannte Sicherheitsvorschläge unterbreitet und in der durch die verständliche Furcht vor einem atomaren Krieg beunruhigten öffentlichen Meinung des Westens Verwirrung zu stiften versucht.
Das Ziel einer solchen Politik ist in Wahrheit die Aushöhlung und die allmähliche Zerstörung des westlichen Sicherheitssystems, vor allem der Atlantischen Gemeinschaft.
Meine Damen und Herren! Nach der Überzeugung der Bundesregierung ist — der Herr Bundeskanzler ist in seinen einleitenden Worten darauf schon eingegangen — die Nordatlantische Gemeinschaft ein Zweckverband, der gegründet wurde und aufrechterhalten wird, um kin sehr konkretes Ziel zu erreichen: die Verteidigung unseres Lebens und unserer Lebensordnung, nämlich der Freiheit.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Solange die Sowjetunion an ihrer vermeintlichen Mission festhält, den Kommunismus über die Welt auszubreiten — und bis zur Stunde ist eine Änderung in dieser Haltung nicht eingetreten —, gibt es in der Tat kein wirksameres und kein besseres Instrument für unsere Verteidigung als die NATO.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Daraus werden wir in jedem Falle die nötigen Konsequenzen ziehen.
Ich darf wohl daran erinnern, daß diese Verbindung von Sicherheit und Wiedervereinigung, nach der hier gefragt worden ist, einer der Hauptpunkte der Verhandlungen auf der Genfer Gipfelkonferenz von 1955 war. In der damals auch von Herrn Bulganin und auch von Herrn Chruschtschow angenommenen Direktive vom 23. Juli 1955 wiesen die vier Regierungschefs ihre Außenminister an, die Prüfung folgender Fragen vorzunehmen: europäische Sicherheit und Deutschland, Abrüstung, Entwicklung von Kontakten zwischen Ost und West. Haben wir Deutsche denn Anlaß, den Feststellungen des amerikanischen Präsidenten in seiner Note vom 3. März
zu widersprechen, in der er es als unerläßlich bezeichnet hat, bei einer neuen Konferenz an die Ergebnisse der Genfer Konferenz anzuknüpfen? Haben wir Deutsche Anlaß, die übereinstimmende Erklärung des amerikanischen Außenministers Dulles in seiner Pressekonferenz am 4. März zu bezweifeln, der — wie ich glaube, mit Recht — gesagt hat, es wäre sehr wenig sinnvoll, eine neue Gipfelkonferenz damit zu beginnen, daß man die Ergebnisse der ersten Gipfelkonferenz zunächst begräbt? Ich fürchte, meine Damen und Herren, wenn wir uns auf eine solche Taktik einließen, wären wir nach einigen weiteren Gipfelkonferenzen im wahrsten Sinne des Wortes ausverkauft.
Es sind nun in der letzten Zeit eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, die man ja auch behandeln könnte, Vorschläge, von denen man sagte, daß ja auch sie die Sicherheit in Europa bringen oder verstärken könnten. Ich brauche nicht zu sagen — Sie dürfen es versichert sein! —, daß die Bundesregierung Vorschläge dieser Art sorgfältig geprüft hat und auch in Zukunft prüfen wird. Aber es genügt nicht, daß in dem einen oder anderen Vorschlag vielleicht auch ein Körnchen Wahrheit steckt. Bei der Bedeutung dessen, was auf dem Spiel steht, müssen solche Vorschläge bis zur letzten Konsequenz — und daran scheint es mir oft zu fehlen — durchdacht sein.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Es wird sicher nur wenige Vorschläge geben, die nur negativ, oder wenige Vorschläge, die nur positiv zu werten sind. Darum kann man die Entscheidung nur nach einer sehr sorgfältigen Abwägung des Für und Wider treffen.
Nach welchen Maßstäben diese Entscheidung zu treffen ist — ich komme bei der Behandlung des Rapacki-Plans noch einmal kurz darauf zurück —, mag Ihnen folgende Fragestellung zeigen: Sind solche Vorschläge tatsächlich geeignet, die Kriegsgefahr zu vermindern? Sind solche Vorschläge tatsächlich geeignet, einen Zustand der Entspannung herbeizuführen oder auch nur einzuleiten, der diesen Namen verdient, oder dienen sie nicht dem Selbstbetrug? Dienen sie wirklich, wenn auch nur mittelbar, der Sache der deutschen Wiedervereinigung, oder verändern sie — das ist eine ernste Frage — in solchem Maße das gegenwärtige Gleichgewicht der Kräfte und der strategischen Positionen zum weiteren Nachteil des Westens, daß dadurch gewisse möglicherweise entstehende Vorteile aufgewogen, ja, mehr als aufgewogen werden?

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Wenn man diese Maßstäbe zugrunde legt, kommt man zum Ergebnis, daß die Frage der europäischen Sicherheit tatsächlich nicht von der Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit gelöst werden kann.
Auf die dritte von der Fraktion der CDU/CSU gestellte Frage lautet die Antwort: Die Bundesregierung hält ,an dem Grundsatz fest, daß für die Wiedervereinigung freie Wahlen in beiden Teilen Deutschlands unerläßlich sind.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)




Bundesaußenminister Dr. von Brentano
Sie sieht keinen Anlaß, von der bisher von allen Parteien des Deutschen Bundestages vertretenen Auffassung abzugehen, daß Verhandlungen mit der sogenannten Regierung der DDR kein geeigneter Weg zur Wiedervereinigung sind.

(Lebhafte Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Man könnte die Frage stellen, ob es überhaupt nötig ist, nach den zahlreichen Äußerungen, Erklärungen und Resolutionen, die auch in diesem Hause abgegeben und angenommen wurden, noch eine solche Feststellung zu treffen.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Aber gewisse Diskussionen, die in der Öffentlichkeit entstanden sind, scheinen mir das notwendig zu machen. Dazu gehört auch der Angriff gegen die Bundesregierung, der auch heute andeutungsweise wiederholt wurde und der darauf hinausläuft, die These, daß freie Wahlen am Anfang der Wiedervereinigung stehen müßten, habe verheerend gewirkt; diese These sei eine — wurde uns damals sogar unterstellt — bewußte Sabotage an der Verwirklichung des Gedankens der Wiedervereinigung.
Diese Forderung kann in der Tat zweierlei bedeuten, einmal, daß die freien Wahlen am Anfang des eigentlichen Wiedervereinigungsverfahrens stehen sollen. Mit anderen Worten: wenn einmal eine konkrete Einigung mit den vier Mächten darüber erzielt ist, daß die Einheit Deutschlands unter bestimmten Voraussetzungen zu einem bestimmten Datum wiederhergestellt werden soll, so müßte nach dieser Parole nicht etwa mit der Bildung einer provisorischen gesamtdeutschen Regierung, sondern mit freien Wahlen in ganz Deutschland begonnen werden. Aus diesen Wahlen müßte eine Nationalversammlung, aus dieser eine gesamtdeutsche Regierung hervorgehen.
Wenn das gemeint ist, möchte ich allerdings für die Bundesregierung keinen Zweifel daran offenlassen, daß wir auch heute noch unverändert zu dieser These stehen, zu einer These, die ihre Bekräftigung in zahlreichen Entschließungen gefunden hat, die einmütig — allenfalls gegen die Stimmen der Kommunistischen Partei — in diesem Hause angenommen wurden, zu einer These, die auch Herr Kollege Wehner selbst unterstrichen hat, als er sagte:
Die freien Wahlen, die Bildung der Nationalversammlung und der gesamtdeutschen Regierung und dann Friedensverhandlungen und schließlich Verhandlungsfrieden sind eine sozusagen unter allen Umständen einzuhaltende Reihenfolge.

(Hört! Hört! und Beifall in der Mitte.)

Ich kann nicht einsehen, daß diese Überlegungen in den letzten Jahren irgend etwas von ihrem Wahrheitsgehalt verloren hätten. Sie sind heute noch so gültig und so richtig wie je zuvor.
Die Parole „Freie Wahlen zuerst" könnte allerdings auch in einem anderen Sinn verstanden werden, nämlich als Forderung, daß bei den Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Wiedervereinigung zunächst überhaupt über nichts anderes gesprochen werden dürfe als über freie Wahlen. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß das niemals die Auffassung der Bundesregierung war.

(Abg. Wehner: Niemals — sagen Sie!)

Die Vorschläge, die mit Zustimmung der Bundesregierung am 28. Oktober 1955 in Genf von den drei Westmächten vorgelegt worden sind, beweisen, daß das Gegenteil richtig ist. In diesen Vorschlägen heißt es, der Vertrag würde nur in Verbindung mit der Wiedervereinigung in Kraft treten; er würde in Phasen ausgeführt werden. Wir hatten gleiches festgestellt in den beiden Memoranden an die Sowjetregierung vom 2. September 1956 und vom 20. Mai 1957. Ich habe auch in der Regierungserklärung im Dezember 1955 auf eine übereinstimmende Entschließung der Beratenden Versammlung des Europarates verwiesen, in der die Parallelität der Vorgänge ausdrücklich festgestellt worden ist. Ich habe diese Feststellung als richtig aufgenommen und unterstrichen.
Wir Waren uns immer des inneren Zusammenhangs zwischen diesen beiden Problemkreisen durchaus bewußt. Wir waren immer bereit, uns in ein System europäischer Sicherheit einzuordnen, in dem andere unsere Sicherheit und wir gleichzeitig die Sicherheit der andern wirksam zu garantieren vermögen. Aber will denn jemand in diesem Hause ernstlich daraus die Konsequenz ziehen, daß wir darum auch auf freie Wahlen und auf die Entscheidungsfreiheit verzichten sollten? Die Bundesregierung ist nicht bereit, einen solchen Verzicht auszusprechen, noch dazu in einem Augenblick, in dem niemand zu übersehen vermag, was wir für einen solchen Verzicht als Gegenleistung erhalten würden.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Es ist doch die Frage, ob wir überhaupt berechtigt wären, einen solchen Verzicht auszusprechen; denn wir würden damit eine Entscheidung einer gesamtdeutschen Regierung, eines gesamtdeutschen Parlamentes präjudizieren. Auf jeden Fall aber kann ich mir nicht denken,

(Abg. Wehner: Also was dazu für eine Stirn gehört!)

daß in einem freigewählten deutschen Parlament jemand ist, der einer freigewählten Vertretung des ganzen deutschen Volkes das Recht bestreiten wollte, frei zu sein in der Beurteilung von Vorschlägen, die man vielleicht einmal dem deutschen Volke machen wird, frei zu sein in der Entscheidung über die Ausgestaltung der inneren, der politischen, der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung, frei zu sein in der Fortsetzung der europäischen Politik, frei zu sein in ihrem Bekenntnis zur unlösbaren Verbundenheit des deutschen Volkes mit den freien Völkern der Welt.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die nächste Frage ist die nach der Stellung der Bundesregierung zum Vorschlag einer Konföderation zwischen Bundesrepublik und DDR. Ich glaube,



Bundesaußenminister Dr. von Brentano
ich kann diese Frage im Zusammenhang mit dem Teil der letzten Frage behandeln und mich darauf beschränken, zu erklären: Die Bundesregierung bestreitet — ich glaube, wie jede der hier vertretenen politischen Parteien, und ich erinnere hier an die Erklärungen, die Herr Kollege Ollenhauer noch im September 1955 und im Februar 1956 abgegeben hat — die demokratische Legitimation der Regierung von Pankow, und sie weiß, daß die Anerkennung dieser Regierung die Anerkennung der Teilung Deutschlands bedeuten würde. Sie verspricht sich nichts davon, ein Gespräch zu führen mit Männern, denen diese Legitimation fehlt, und sie glaubt auch nicht, daß man ernsthaft über die freiheitliche Ordnung eines Volkes von 68 Millionen sprechen kann mit denen, die 17 Millionen Deutschen die primitivsten Freiheitsrechte verweigern.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Bundesregierung lehnt aber auch den Gedanken einer Konföderation ab. Ein Staatenbund, eine Konföderation ist ein völkerrechtlicher Vertrag unabhängiger Staaten. Man mag zweifeln, ob das deutsche Volk heute da anknüpfen will, wo vor 150 Jahren seine Einigungsbestrebungen begonnen haben. Aber das entscheidende Problem liegt nicht bei der staats- oder völkerrechtlichen Struktur; das entscheidende Problem liegt darin: Die Konföderation, wie man sie uns nunmehr vorschlägt, soll nicht zwei Staaten zueinander führen, die sich zu gleichen politischen und ethischen Grundsätzen des Lebens bekennen; im Gegenteil, in der sowjetisch besetzten Zone soll alles beim alten bleiben. So bedeutet ja der Vorschlag der Konföderation nicht mehr und nicht weniger als den Umweg zum „Gesamtdeutschen Rat". Wir haben bisher der Versuchung widerstanden, uns mit Herrn Ulbricht an einen Tisch zu setzen. Dabei sind wir nicht davon ausgegangen, daß die Eigenschaft eines Menschen, Deutscher zu sein, schon genügt, ein Gespräch zu führen. Ein sinnvolles Gespräch vermag ich nur mit dem zu führen, der gleiche Vorstellungen hat und sich zu gleichen Zielen bekennt. Können wir uns eine Verständigung zwischen dem Staat einer Hilde Benjamin und einem freiheitlichen Rechtsstaat, wie ihn die Bundesrepublik darstellt, ernsthaft denken? Aber ich glaube, daß wir über diese Frage der Konföderation kaum mehr zu sprechen brauchen, denn ich kann mir nicht denken, daß in den Ausführungen auch des Herrn Kollegen Mende, als er von den Auftragsverhandlungen sprach, etwa die Bereitschaft hat erkennbar werden sollen, die Frage einer Konföderation ernsthaft zu diskutieren.
Mit der nächsten Frage erbittet die Fraktion Auskunft darüber, welche Schritte die Regierung unternommen hat, ihre politische Auffassung mit den an der Gipfelkonferenz voraussichtlich beteiligten Bündnispartnern zu beraten. Nun, meine Damen und Herren, hierzu hat der Bundeskanzler sich schon geäußert, und es genügt, wenn ich feststelle, daß wir mit allen unseren Bündnispartnern in einer laufenden unaufhörlichen Konsultation stehen, einer Konsultation, die im NATO-Rat in Paris durchgeführt und durch die ständige Begegnung und Berührung der Botschafter in den Hauptstädten der
beteiligten Nationen ergänzt wird. Ich glaube —und ich kann das mit großer Befriedigung sagen —, die eingehenden Diskussionen im Rahmen der Atlantischen Gemeinschaft haben bisher immer wieder von neuem gezeigt, daß in allen wesentlichen Fragen und gerade auch in den wesentlichen Fragen, die uns als deutsche Menschen unmittelbar berühren, eine volle Übereinstimmung zwischen den Bündnispartnern zu erreichen war.
Welche Vorstellungen wir von den Vorbereitungen und den Möglichkeiten einer solchen Konferenz haben, ist in einem Schreiben enthalten, das der amerikanische Präsident Eisenhower am 12. Januar an die sowjetrussische Regierung gerichtet hat und in dem es heißt, die Vereinigten Staaten seien bereit, im Zusammenhang mit der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands gemeinsam mit anderen Regierungen über spezifische Vereinbarungen bezüglich der Stärke der Streitkräfte und ihre Dislozierung sowie über weitgesteckte vertragliche Vereinbarungen zu verhandeln, und zwar nicht nur für den Fall einer Aggression.
Meine Damen und Herren, hier ist, glaube ich, ein sinnvolles Thema einer Außenministerkonferenz und einer Gipfelkonferenz umrissen, denn hier steckt die Bereitschaft, über alle Fragen zu sprechen, deren Lösung zu einer Entspannung beitragen könnte, auch über die Deutschlandfrage. Allerdings glaube ich, daß diejenigen, die einen Katalog von Themen aufstellen und ihn den anderen unter der Bedingung übermitteln, daß die anderen nicht das Recht haben sollten, eigene Themen vorzuschlagen, nicht eine Gipfelkonferenz fördern, sondern sie in Wahrheit sabotieren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Fraktion der FDP hat einige Fragen vorgelegt. Sie fragt zunächst, ob die Bundesregierung bereit sei, sich bei den Vier Mächten dafür einzusetzen, daß auf der kommenden Gipfelkonferenz die Grundsätze eines Vertrages für Gesamtdeutschland erörtert werden. Ich glaube, ich habe diese Frage schon in meinen einleitenden Worten beantwortet, als ich von dem Wunsche der Bundesregierung, von ihrem unausgesetzten Bemühen sprach, die Wiedervereinigung als solche auf die Tagesordnung der Gipfelkonferenz zu bringen. Nach der Erklärung, die Herr Kollege Mende gegeben hat, war ich mir des Sinnes dieser Frage nicht ganz bewußt geworden. Was war gemeint? Etwa ein Vertrag der Vier Mächte untereinander, der die Wiedervereinigung ermöglichen, der die Grundlage der Wiedervereinigung sein soll, oder ein Vertrag, der für den Fall der deutschen Wiedervereinigung das Sicherheitsproblem behandeln soll? Oder war damit nur der Friedensvertrag gemeint?
Die beiden ersten Probleme können selbstverständlich auf einer Gipfelkonferenz besprochen werden. Sie stehen ja in einem inneren und unlösbaren Zusammenhang mit der Frage der Wiedervereinigung. Aber gegen die isolierte Behandlung des Friedensvertrages hat die Bundesregierung begründete Bedenken, nachdem die Sowjetunion eindeutig erklärt



Bundesaußenminister Dr. von Brentano
hat, daß sie zwar bereit sei, über einen Friedensvertrag, aber nicht über die Konsequenzen des Friedensvertrages, nämlich über die Wiedervereinigung zu sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Der Herr Kollege Mende hat versucht, uns klarzumachen, das sei gar nicht so gemeint; die Sowjetunion meine nicht zwei Friedensverträge, sondern einen Friedensvertrag mit zwei deutschen Staaten, und nach seinem Abschluß könne sich im Laufe der Zeit diese Entwicklung vollziehen. Meine Damen und Herren, was hier vorgetragen wurde, erinnerte ein wenig an das Hexen-Einmaleins: „aus zwei mach eins". Wenn man nämlich von einem Friedensvertrag mit Deutschland spricht, muß man sagen, wer der Partner dieses Friedensvertrages sein soll.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dieser Partner ist bis zur Stunde nicht vorhanden, und die Sowjetunion lehnt es ab, einen legitimierten Partner zu bestellen. Der Herr Bundeskanzler hat an das Gespräch erinnert, das gestern stattgefunden hat, und in dem seitens der Sowjetunion wieder auf die Möglichkeit einer Konförderation, eines Gesamtdeutschen Rates oder ähnlicher Einrichtungen verwiesen worden ist.
Wenn die Sowjetunion nach wie vor sagt, das Problem der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands dürfe nicht auf der Tagesordnung stehen und nicht verhandelt werden, wie soll dann ein Friedensvertrag behandelt werden, der ja diese Wiedervereinigung zum Ziel haben muß?! Dabei stelle ich die Frage, was eigentlich geschehen wird, wenn die beiden deutschen Regierungen zu Vorschlägen oder zu Plänen über einen Friedensvertrag verschiedene Erklärungen abgeben. Ich könnte mir allerdings ohne übertriebene Phantasie denken, daß es in zahlreichen Fällen so sein würde.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Der Herr Kollege Mende hat dann gefragt, ob wir etwa die Gipfelkonferenz scheitern lassen wollten, wenn die Sowjetunion darauf bestehe, die DDR zu konsultieren. Ach, meine Damen und Herren, wir haben gar nichts dagegen, wenn zum Gefolge des Herrn Chruschtschow und des Herrn Bulganin auch ein paar Mitglieder der DDR gehören. Daran wird die Bundesregierung keinen Anstoß nehmen. Wir haben es Gott sei Dank nicht nötig, in solch einem Gefolge zu sitzen, denn wir haben die Gewißheit, daß diejenigen, die unsere Sache in unserer Abwesenheit vertreten, das mit derselben Klarheit und derselben Entschiedenheit tun, wie wir es selbst täten.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich möchte in diesem Zusammenhang die Äußerung des Herrn Kollegen Mende, die Bundesregierung habe die Öffentlichkeit fahrlässig falsch informiert, entschieden zurückweisen. Die Bundesregierung hat das gesagt, was bisher zu lesen war und was auch in der gestrigen Unterredung mit dem sowjetrussischen Botschafter bekräftigt wurde. Die Einstellung der Sowjetunion lautet: Wir sind
bereit, einen Friedensvertrag über Deutschland zu behandeln, ohne daß wir zulassen, daß die Frage der Einheit Deutschlands erörtert wird. — Damit dürfte nach unserer Meinung und der unserer Partner dieser Punkt von der Tagesordnung verschwinden.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Die Bundesregierung ist weiter gefragt worden, ob sie im Hinblick auf die in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit erörterten Pläne über eine von Atomwaffen freie, von Atomwaffenanlagen freie und militärisch entschärfte Zone einen eigenen Vorschlag machen wolle.
Einen eigenen Vorschlag wird die Bundesregierung nicht machen. Sie wird in voller Übereinstimmung mit ihren Verbündeten Vorschläge dieser Art prüfen und gemeinsame Gegenvorschläge entwikkeln.
Herr Kollege Mende hat in diesem Zusammenhang wieder Kritik geübt; ich möchte darauf eingehen. Ich muß, Herr Kollege Mende, hier die Frage stellen, ob Sie nicht in der Lage waren, die Ihnen zur Verfügung stehende Dokumentation zu lesen, oder ob Sie bei diesem Angriff gewußt haben, daß er ungerechtfertigt ist. Sie haben sich auf Herrn Richard Crossmann, auf Herrn Elliot und auf Herrn Robens bezogen. Ihnen, meine Damen und Herren, und auch Ihnen, Herr Kollege Mende, kann ich nur sagen, ich bestreite, daß diese Abgeordneten erklärt haben, die Bundesregierung habe den Eden-Plan vom 18. Juli 1955 abgelehnt oder auch nur Bedenken dagegen geäußert.

(Hört! Hört! und Beifall in der Mitte.)

Das genaue Gegenteil ist richtig. Ich habe an diesen Besprechungen selbst teilgenommen.

(Erneute Hört! Hört!-Rufe von der Mitte.)

Wir haben den Eden-Plan vom 18. Juli 1955, der auch den Gedanken einer verdünnten Zone enthält, unterstützt: Dieser Eden-Plan ist dann in das Gesamtprojekt der westlichen Alliierten hineingekommen, das am 28. Oktober 1955 mit unserer eindeutigen Billigung vorgelegt worden ist.

(Abg. Wehner: Das Hexeneinmaleins des Eden-Plans! Schüttle durcheinander! — Zuruf des Abg. Erler. — Gegenrufe von der Mitte.)

— Herr Kollege Wehner, warten Sie nur, ich komme schon darauf. Sie scheinen die Dokumentation erfreulicherweise besser zu kennen als Herr Kollege Mende.
Der englische Premierminister Eden hat in einer Diskussion am 22. Juli 1955 einen weiteren Plan entwickelt, der zunächst auf der Grundlage der Teilung Deutschlands verwirklicht werden sollte. Wir haben in der Tat gegen diesen Plan Bedenken erhoben. Ich kann nur feststellen, daß es — dies war das Ergebnis der schon damals bestehenden vortrefflichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit — leicht gelungen ist, die englische Regierung davon zu überzeugen, daß dieser Gedanke nicht glücklich ist. Offensichtlich hat deswegen die englische Regierung diesen Plan fallenlassen, der ohnehin von



Bundesaußenminister Dr. von Brentano
Herrn Eden in der Diskussion am 22. Juli nur als ein Versuchsprojekt bezeichnet worden war. Der Plan, den Herr Eden am 18. Juli vorgelegt hat und der Gegenstand der endgültigen Vorschläge wurde, die in den Sicherheitsvertrag aufgenommen worden sind, den die drei westlichen Alliierten den Russen in Genf vorgelegt haben, ist mit der vollen Zustimmung der Bundesregierung in diese Vorschläge aufgenommen worden, und die Bundesregierung steht heute noch zu dieser Zustimmung.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die letzte Frage der FDP, die sich teilweise mit der vorletzten Frage nach dem Rapacki-Plan überschneidet, stellt uns vor ein Problem. Hier müssen wir, glaube ich, eine klare Antwort geben. Der Herr Kollege Mende hat vorhin meinen alten Freund, Herrn Schlange-Schöningen, zitiert. Vielleicht darf ich mir erlauben, ihn einmal selbst zu zitieren. Herr Kollege Mende hat am 10. Mai 1957 hier im Bundestag erklärt:
Wer es wagen würde, die Verbindung der Bundesrepublik zur freien Welt zu durchschneiden, würde die Schlagader durchschneiden und die Bundesrepublik zum sogenannten „volksdemokratischen" Staat ausbluten lassen.

(Zurufe von der Mitte: Hört! Hört! — Abg. Dr. Mende: Wer will denn das?)

— Ich darf fortfahren:
Uns Freien Demokraten ist ein zweigeteiltes Deutschland, in dem wenigstens wir 51 Millionen Bundesrepublikaner frei sind und frei reden können und woraus 17 Millionen in Mitteldeutschland eine Hoffnung schöpfen, immer noch angenehmer als ein einiges Deutschland von 70 Millionen unter dem Sowjetstern, Hammer und Sichel, als Volkdemokratie.

(Lachen und Zurufe von der Mitte. — Abg. Dr. Mende: Sehr richtig! Jedes Wort wird heute bestätigt und wiederholt!)

Jetzt werde ich meinen Freund SchlangeSchöningen zitieren. Ich kann Ihnen nämlich sagen, daß Herr Schlange-Schöningen die Dinge etwas klarer, glaube ich, als Sie durchdacht hat. Er hat in seinem, von Ihnen inkriminierten Artikel gesagt:
Bevor an einen Rückzug fremder Truppen aus Deutschland gedacht werden kann, muß dieses eine sichergestellt sein: unsere amerikanischen Partner müssen in Europa bleiben, aus verschiedenen Gründen; sie müssen bleiben, weil ihre Sicherheit mit der Sicherheit Europas heute untrennbar verbunden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Mende: Einverstanden! Vollkommen richtig, aber sie müssen nicht in der Bundesrepublik bleiben, sie müssen in Europa bleiben! — Lachen in der Mitte. — Abg. Schmücker: Das entscheiden Sie!?)

— Lassen Sie mich ausreden! — Hier kommen wir
zu der Frage, die wir nicht so diskutieren und so
entscheiden können, wie einmal gesagt wurde, nach
dem Spruch: Ich bitt' dich, heil'ger Florian, verschon mein Haus, zünd' andere an!"

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist eine tragische Tatsache, daß unsere Sicherheit heute von der Abschreckungskraft der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten abhängt.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Daß diese Feststellung wohl richtig ist, wird niemand bestreiten. In dem letzten Jahrgang der Zeitschrift für Außenpolitik können Sie lesen:
Man kann getrost davon ausgehen, daß unsere wirkliche Sicherheit gegenüber der Sowjetunion in der Abschreckungskraft der Vereinigten Staaten liegt. Die Aggression kann nur verhindert werden, wenn die Sowjetunion weiß, daß ihr Hinterland Schauplatz der massiven Vergeltung durch die Vereinigten Staaten ist. Das ist schrecklich, aber wahr.
Dieses ernste Zitat stammt aus der Feder unseres verehrten Kollegen Erler.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Nun stelle ich allerdings die Frage, ob denn diejenigen, die heute sagen, man müsse in Deutschland den atomwaffenfreien Raum schaffen, auch auf die Gefahr hin, daß die Amerikaner Deutschland verlassen, sich den Gedanken eigentlich in der letzten Konsequenz überlegt haben.

(Beifall in der Mitte.)

Glaubt irgend jemand ernsthaft, daß wir unseren Verbündeten sagen können: In Deutschland gibt es keine Atomwaffen, ihr habt natürlich hierzubleiben, um uns zu schützen, und ringsherum müssen die Atomwaffen gestapelt werden, damit der Vergeltungsschlag ins Hinterland geführt werden kann; aber wir wollen uns nicht daran beteiligen!? — Meine Damen und Herren, es gibt nur eine ganze Sicherheit oder eine völlige Unsicherheit. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung oder einen Entzug aus dieser gemeinsamen Verantwortung.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Nur dann können wir damit rechnen, daß andere unsere Sicherheit schützen, wenn wir uns politisch und moralisch verpflichtet fühlen, auch zu dem Schutz der Sicherheit anderer beizutragen.

(Lebhafter Beifall bei. den Regierungsparteien.)

Von diesen Erkenntnissen wird sich die Bundesregierung bei ihren weiteren Entscheidungen leiten lassen. Der Herr Bundeskanzler hat unterstrichen, und ich glaube, ich kann es auch für die gesamte Koalition, die hier sitzt, sagen: es ist der Wunsch und das Bemühen der Bundesregierung, alles zu tun, um die Spannung aus der Welt zu schaffen, alles zu tun, daß wirklich einmal von der Abrüstung nicht nur geredet, sondern mit ihr begonnen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber es scheint mir falsch, es scheint mir gefährlich, wenn wir glauben, wir könnten solche Maß-



Bundesaußenminister Dr. von Brentano
nahmen in geographisch kleinen, beschränkten Räumen durchführen. Es geht auch hier nicht um die Einordnung des einen oder anderen kleinen Landes in einen solchen Plan. Es geht tatsächlich darum, ein neues Verhältnis zwischen den Großmächten der Welt herzustellen. Dazu müssen wir beitragen, indem auch wir bereit sind — natürlich —, Verpflichtungen auf uns zu nehmen, aber Verpflichtungen, die auch andere auf sich nehmen. Ich erkenne die Logik des Satzes nicht an, daß eine Atomwaffe, die hier zur Verteidigung steht, gefährlicher sei als eine Atomwaffe, die in Rußland für den Angriff gerichtet wird.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, ich bin mir natürlich klar darüber, daß in einigen der hier besprochenen Fragen erhebliche Meinungsverschiedenheiten — wie so oft — bestehen bleiben. Trotzdem habe ich die Hoffnung, daß wir in einigen wesentlichen Fragen im Grundsätzlichen zu einer Einigung kommen. Ich glaube, sie kann in folgenden Punkten hergestellt werden: in der Ablehnung eines Friedensvertrages, der mit zwei deutschen Staaten geschlossen werden müßte, in der Ablehnung unmittelbarer Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der sogenannten DDR, in der Übereinstimmung, daß freie Wahlen am Beginn der Wiedervereinigung stehen müssen, aber auch in der Übereinstimmung, daß freie Wahlen das Ergebnis einer Einigung unter den vier Mächten über die Wiedervereinigung und die Frage der europäischen Sicherheit sein werden, weiter in der Übereinstimmung, daß eine sogenannte Konföderation zwischen zwei angeblich gleichberechtigten deutschen Staaten nicht der geeignete Weg zur Wiedervereinigung wäre, sondern im Gegenteil dazu beitragen würde, die Teilung Deutschlands auf unbestimmte Zeit zu verhärten. Vielleicht stimmen wir auch darin überein, daß eine wirksame kontrollierte Abrüstung das oberste Ziel internationaler Verhandlungen sein muß, auch darin, daß die europäische Sicherheit und die allgemeine kontrollierte Abrüstung nicht auf der Grundlage der fortbestehenden deutschen Teilung geschaffen werden bzw. durchgeführt werden kann. Einig sind wir uns wohl auch in dem Wunsche, daß die Abrüstungsverhandlungen im Rahmen der für diese Verhandlungen zuständigen Vereinten Nationen geführt werden, was naturgemäß nicht ausschließt, daß Verhandlungen über diesen Gegenstand auch eine bevorstehende Gipfelkonferenz beschäftigen sollten, und grundsätzlich besteht wohl auch Übereinstimmung, daß Teilmaßnahmen, die eine etappenweise Verwirklichung der angedeuteten Ziele zum Gegenstand haben, nicht dazu führen sollten, die machtpolitische Lage der einen oder anderen Seite zu verbessern oder zu verschlechtern.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung glaubt, daß diese Aussprache tatsächlich von hohem Wert wäre, wenn wenigstens über einen Teil dieser Fragen, die ich hier angeschnitten habe, eine grundsätzliche Übereinstimmung erzielt würde, die es der Bundesregierung ermöglichte, die so zum Ausdruck kommende Auffassung als die des ganzen
deutschen Volkes im internationalen Gespräch zu vertreten.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU und der DP. Meine Damen und Herren, eine Bemerkung zum Ablauf der Debatte. Wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Das Haus tritt um 14 Uhr 30 wieder zusammen. Es beendet seine Sitzung heute um 21 Uhr und beginnt morgen vormittag um 9 Uhr wieder. Ich unterbreche bis 14 Uhr 30. (Unterbrechung der Sitzung von 12.55 Uhr bis 14.30 Uhr.)

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301801700

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301801800
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Das Wort zur weiteren Beantwortung der Großen Anfragen hat der Herr Bundesminister für Verteidigung. — Der Herr Bundesminister für Verteidigung will jetzt nicht sprechen. Darf ich davon ausgehen, daß dann die Großen Anfragen seitens der Regierung beantwortet sind?
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Arndt.

(Zuruf des Abg. Dr. Mommer.)

— Sie haben recht, Herr Abgeordneter Mommer. Es war anders vorgesehen. Aber der Präsident zwingt niemanden zu reden. — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Arndt, Sie haben das Wort.

Dr. Adolf Arndt (SPD):
Rede ID: ID0301801900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese außenpolitische Debatte heute ist auf eine eigentümliche Weise eingeleitet worden. Die Bundesregierung hat durch ihre eigene Regierungspartei Fragen an sich selber gerichtet. Ungewöhnlich ist aber nicht nur diese Art des Anlasses für eine Regierungserklärung, sondern bemerkenswert ist auch der Zeitpunkt. Überprüft man die Gepflogenheiten des Herrn Bundeskanzlers, der Bundesregierung und ihrer Regierungspartei in den vergangenen Jahren, so haben sie es sich stets zur Regel gemacht, eine außenpolitische Aussprache im Bundestag und die Stellungnahme des Bundestags während des Schwebens diplomatischer Verhandlungen im Stadium der Vorbereitung einer internationalen Übereinkunft oder einer internationalen Konferenz grundsätzlich zu vermeiden oder, öfters noch, zu verhindern.
Der Bruch mit dieser Übung, die Stunde, die man wählte, offenbaren das, was in den von der Bundesregierung sich selbst gestellten Fragen nicht zu lesen ist, ja, was darin verschwiegen wird. In Wahrheit geht es gar nicht um die Rhetorik dieser Fragen. Ich erinnere daran, daß heute morgen der Herr Abgeordnete Dr. Gradl von der CDU sagte, die Gesamtlage sei ihm unbekannt, sie sei überhaupt unbekannt, und es sei gar nicht möglich, gegenwärtig Pläne zu machen. Und ich erinnere daran, was der Herr Bundeskanzler in seinen Ausführungen dazu vermerkt hat. Er meinte, es bestehe überhaupt noch keine Klarheit über die politische



Dr. Arndt
Lage. Der Herr Bundeskanzler sprach von einem Wirrwarr, und er sagte, daß man über diplomatische Verhandlungen nicht auf offenem Platze reden könne. Gleichzeitig aber fuhr der Herr Bundeskanzler dann fort, es gelte, jetzt etwas einzuleiten, was er als waffentechnische und strategische Umorganisation der NATO, ich will einmal sagen, einkleidete, wobei er selbst hinzufügte, daß das für die politische Situation sehr entscheidend sein werde. Welch ein Widerspruch, welch ein Widerspruch in der ohnehin recht widerspruchsvollen Rede des Herrn Bundeskanzlers!

(Beifall bei der SPD.)

Dieser tollste Widerspruch, daß man eine strategische Entscheidung treffen solle, diese Entscheidung, die man als Umorganisation der NATO bezeichnet hat, bei völliger Unklarheit der politischen Situation, über die die Bundesregierung selber sagt, keine Auskunft geben zu können! Wo ist so etwas je geschehen?
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat zwar gemeint, er sei bereit, jede Frage präzis und genau zu beantworten. Aber auf die Fragen des Herrn Kollegen Dr. Mende — die übrigens nicht 1000, sondern nur vielleicht 12 Fragen waren — hat auch der Herr Bundesminister des Auswärtigen keine Antwort gegeben, sondern er hat sich geflissentlich bemüht, an allen Antworten vorbeizukommen. Er hat einige offene Türen eingerannt durch Zitate des Herrn Kollegen Erler und des Herrn Kollegen Mende, Äußerungen, die ja unter I uns völlig unstreitig sind, die aber offenbar großes Vergnügen bei der Regierungskoalition erregten. Aber zu den Fragen ist nicht Stellung genommen worden. Ich sage also noch einmal: Es geht in Wahrheit gar nicht um die Rhetorik dieser Fragen, die die Bundesregierung an sich selbst gerichtet hat.
Die wirkliche Absicht zielt darauf ab, vor einer möglichen Gipfelkonferenz eine ganz bestimmte Entscheidung vorwegzunehmen, im Widerspruch mit sich selbst diese Entscheidung nach innen hin möglichst nicht in ihrem ganzen Gewicht und Ausmaß erkennen zu lassen, aber die Entschlossenheit zu dieser Entscheidung nach außen hin zu demonstrieren. Der nahezu unwiderrufliche Schritt in eigene atomare Ausrüstung der Bundesrepublik und ihrer Bundeswehr, das ist es, worum es sich hier und heute handelt.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion
bringt deshalb zu dieser Debatte vier Anträge ein, die zu begründen ich die Ehre habe. Der Sinn dieser Anträge ist es, die von der Bundesregierung und ihrer Mehrheit geplante Entscheidung in aller Eindeutigkeit kenntlich zu machen, die Sache bei ihrem Namen zu nennen, die ganze ungeheure Tragweite jener Absicht der Bundesregierung zu einer solchen Entscheidung klar aufzuzeigen, die Absicht der Bundesregierung zu einer solchen Entscheidung frontal anzugreifen

(Beifall bei der SPD)

und unsere Ablehnung unüberhörbar zur Geltung zu bringen.
Als trotz unserer Warnung und gegen unseren Widerspruch im Jahre 1954 ein Teilstück des gespaltenen Deutschland in die Militärorganisation des Nordatlantikpaktes, der NATO, einbezogen wurde, suchte die Bundesregierung damals manche Besorgnis damit zu beschwichtigen, daß sie auf den feierlich erklärten Selbstverzicht hinwies: Die Bundesrepublik wird sich in ihrer besonderen Lage wenigstens nicht an der Herstellung der atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungsmittel, der sogenannten ABC-„Waffen" — Waffen sind es nicht, Massenvernichtungsmittel — beteiligen. Gewiß, ausdrücklich war nur von der Herstellung dieser Massenvernichtungsmittel die Rede. Aber jedermann wußte doch damals schon, daß sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als unsere NATO-Bündnispartner für die Zukunft, also gegenwärtig, als auch die Sowjetunion in jenem Zeitpunkt bereits Atommächte waren, die sich in fieberhaftem Wettrüsten mit Wasserstoffsprengkörpern befanden. Die Bundesregierung hat damals kein Sterbenswort davon verlauten lassen, daß der Eintritt der Bundesrepublik in die NATO über kurz oder lang auch zu einer derartigen Ausrüstung der Bundeswehr führen könne oder solle.
In der Folgezeit jedoch begann die Bundesregierung mit einer Taktik der halben Ankündigungen und der zwielichtigen Widerrufe, wobei man sich dann zuweilen auch zunutze machte, daß ausländische Militärs sich zu diesen Fragen äußerten. Ich will nicht alle Daten herausgreifen, ich will nur einige nennen. Im Mai 1956 gab General Gruenther vor deutschen Pressevertretern zu verstehen, auch die Bundeswehr müßte eine atomare Ausrüstung bekommen. Aber am 12. Oktober 1956 sagte der Herr Bundeskanzler in Berlin: Keine Pläne dieser Art! Aber er fügte dann sogleich, damit das alles im Zwielicht bliebe, hinzu, es werde irgendwann einmal die Zeit kommen, daß alle europäischen Armeen so bewaffnet seien.
Am 25. Januar 1957 sagte dann der Herr Bundeskanzler auf einer Pressekonferenz, kleine atomare Waffen würden im Laufe der Entwicklung, also irgendwann dereinst, zu den konventionellen Waffen aller Armeen gehören. Ich glaube, das war jene Pressekonferenz, auf der das Wort von der „Fortentwicklung der Artillerie" fiel. Daran ist sehr bemerkenswert diese geflissentliche Verwischung eines qualitativen Gegensatzes zwischen konventionellen Waffen und atomaren Vernichtungsmitteln und diese Bemühung, ein Hineingleiten in derartige Maßnahmen als etwas mehr oder minder Selbstverständliches und Unvermeidliches schon psychologisch vorzubereiten.
Trotzdem sagte dann am 5. April 1957 der Herr Bundesminister für Verteidigung in Dortmund, daß so etwas zumindest in diesem Jahr noch nicht in Frage komme. Im selben Monat, am 29. April 1957, sagte der Herr Bundesaußenminister, daß bis zur Stunde nicht die Absicht bestehe, die Bundeswehr auch nur mit taktischen Atomwaffen auszurüsten.
Im Bundestagswahlkampf wurde es dann so hingestellt, daß es sich bei der Frage, ob etwas Derartiges auf uns zukomme, um nichts anderes handele als um ein schlechtes sozialdemokratisches Wahl-



Dr. Arndt
manöver. Ein Bundestagsabgeordneter, der der Unionspartei angehört, hat vor gar nicht langer Zeit an die Wochenschrift „Echo der Zeit" eine Zuschrift gerichtet, die dort am 2. März 1958 veröffentlicht worden ist und die sehr lesenswert erscheint. Der Herr Kollege spricht hierbei in etwas ironischer Weise von sich selbst als einem „er" — der Bundestagsabgeordnete —, und er schreibt wörtlich:
Die Diskussion der atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik, ihrer militärischen und politischen Konsequenzen für Sicherheit, Frieden und Wiedervereinigung ist von seinem Parteichef, Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, als ein schlechtes sozialdemokratisches Wahlmanöver ausdrücklich abgewiesen worden, und zwar mit der entschiedenen Versicherung, dieses ernste Problem werde, wenn überhaupt, erst in zwei bis drei Jahren akut und stände zur Zeit nicht zur Debatte.
Das ist das Selbstzeugnis eines CDU-Bundestagsabgeordneten über den Stand der Dinge zur Zeit der Bundestagswahl, die kaum ein halbes Jahr zurückliegt.
Ich erinnere mich übrigens selber eines Erlebnisses aus den Bundestagswahlen. Es war in den ersten Septembertagen, kurz vor dem Wahltermin. Damals hatte ein Bezirksvorsitzender der CSU, Herr v o n Haniel-Niethammer, jetzt auch Bundestagskollege, die Freundlichkeit, von weither zu einer meiner Versammlungen nach Straubing zu kommen, um mit mir zu diskutieren. Am Ende der Diskussion sagte Herr von Haniel-Niethammer, ja, gewiß, auch er neige der Auffassung zu, daß eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr für die Bundesrepublik bei der Spaltung Deutschlands und aus allen übrigen Gründen nicht gut und nicht ratsam sei; aber die Bundesregierung habe ja versichert, daß diese Frage überhaupt nicht anstehe; sie sei deshalb auch bei der Bundestagswahl gar nicht zu entscheiden und vom Wähler gar nicht zu berücksichtigen. Ich frage mich, ob Herr Kollege von Haniel-Niethammer nunmehr nach knapp sechs Monaten vor seine Wähler hintreten und sagen wird: „Ich habe mich damals geirrt, ich habe einer Zusicherung vertraut, die derselbe Bundeskanzler vor der Wahl gab, während er nach der Wahl etwas anderes sagt, und die Wahlentscheidung ist insoweit unter ganz falschen Voraussetzungen zustande gekommen."

(Beifall bei der SPD. — Lachen bei der CDU/CSU.)

— Ja, sehen Sie, Sie lachen. Was tun Sie denn? Sie lachen Ihre Wähler aus!

(Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Ich halte also fest: Vor der Wahl die Beschwichtigung, das sei überhaupt nicht aktuell, und nach der Wahl zwar anfangs die Beschwichtigung, das sei noch nicht entschieden — und auch heute, darauf werde ich noch kommen, kleidet man es ja in diese rhetorische Formel von der „waffentechnischen und strategischen Umorganisation der NATO" —; aber immer schon während dieser Beschwichtigungen hat man sich Tropfen für Tropfen und Stück für Stück und Schritt für Schritt vorgewagt, um die Bevölkerung einzugewöhnen und zugleich auch die parlamentarische Körperschaft und die anderen Instanzen zu binden. Darin liegt eine beachtliche Spekulation auf den Ermüdungseffekt und die bewußt herbeigeführte Suggestion des Unaufhaltsamen. Einige letzte Beispiele dafür.
Im „Bulletin" vom 13. März 1958 erschien, zwar anonym, aber offiziös, ein Artikel, der da sagte, wir müßten jetzt auch zu den Massenvernichtungsmitteln greifen. „Wir", heißt es immer. Und auf die Frage, wer denn diese „wir" seien, sagte der Herr Bundespressechef von Eckardt: „ ,Wir' —, das sind nicht wir, sondern ,wir', das ist die NATO". Ja, ist denn die NATO irgend etwas Abstraktes irgendwo, und ist die Bundesregierung nicht gleichberechtigtes Mitglied der NATO, daß so etwas von der NATO herausgegeben werden kann, ohne daß es irgendwie die Zustimmung der Bundesregierung gefunden hat? Ich verweise darauf, daß die Empfehlungen des NATO-Rates Einstimmigkeit erfordern. Die konkrete Frage, die ich im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zu stellen habe, ist die: Welche Weisungen hatte und hat der deutsche Vertreter im Ständigen Rat der NATO, und welche Weisung wird der Bundesminister des Auswärtigen von der Regierung für seine Stimmabgabe im Ministerrat zu dieser Frage bekommen?
Diese Taktik des allmählichen Hineingleitens — immer mit der besänftigenden Einschläferung, es sei ja eigentlich gar nichts geschehen, noch nichts unwiderruflich — steigerte sich zuletzt bis zur Erklärung des Bundesverteidigungsministers, bis zum 3. April dieses Jahres — das ist ein paar Tage hin — müsse sich der Bundestag entschieden haben, ob die von den Vereinigten Staaten angebotenen 48 „Matadore" erworben werden sollen. Auch hierbei noch wird die Taktik des unentschiedenen Entscheidens weiter gepflegt und verfeinert. Man bezeichnet die „Matadore" als „unbemannte Flugkörper", obwohl man sehr wohl weiß, daß sie in den Vereinigten Staaten von Amerika durchaus unter die Raketen eingereiht werden. Man spricht von einem besonderen Typ, der bis zu 400 km lenkbar und auch begrenzbar sei; aber man weiß doch, daß diese Geräte bis zu 1000 km maximal Reichweite haben. Man gibt sich den Anschein, als handle es sich um eine moderne Ausgestaltung schwerer Flak; in Wahrheit sind diese Geräte für atomaren Sprengstoff geplant und nur durch diesen wirkungsvoll und auf so große Entfernung treffsicher. Sie sind genau im Sinne der Definition des Brüsseler Abkommens geeignet, mit atomarem Sprengstoff versehen zu werden. Schließlich wird immer im Zuge dieser Taktik gesagt, das sei nur zur Ausbildung. Als ob Ausbildung und Ausrüstung noch unterscheidbar wären!
So vollendet man aus einer Summe von lauter scheinbar nur unbedeutenden Splittern schließlich eine runde, riesige Tatsache und überspielt den niemals rechtzeitig vorher und niemals grundsätzlich gehörten Bundestag und lähmt und fesselt Parlament und Volk mit der glaubenslosen Vorstellung des Unvermeidlichen. Gleichzeitig läßt man jeden Ansatz dazu, auf politische Weise, im Verhand-



Dr. Arndt
lungswege, aus aktiver Entwicklung einer eigenen Initiative dem Absturz in das Chaos eigener, allgemeiner und grenzenloser Atomrüstung zu begegnen, außer acht, läßt außer acht, Wege der Entspannung zu öffnen, und verneint und verneint und verneint, wie das heute auch wieder durch die Erklärungen des Herrn Bundesministers des Auswärtigen geschehen ist.
Dies geschieht insbesondere dadurch, daß die Bundesregierung den Gedanken einer atomrüstungsfreien Zone ohne auch nur den Versuch eines Verhandelns darüber verwirft, obgleich dieser Gedanke auch in Gestalt des sogenannten Rapacki-Plans — aber der Gedanke ist älter, er ist schon von vielen erörtert worden — doch Raum und Möglichkeit für solche Verhandlungen offen läßt, — solche Verhandlungen, die, um etwas Überflüssiges zu sagen, selbstverständlich nur Hand in Hand mit unseren westlichen Verbündeten geführt und selbstverständlich nur in einer Zielsetzung abgeschlossen werden können, die unser eigenes unabweisbares Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt und zugleich einen Schritt auf die Wiedervereinigung in Freiheit zu vorbereitet.
Dieser Taktik der Bundesregierung, durch scheinbar unscheinbare Tatsächelchen in Wahrheit die Atomaufrüstung der Bundeswehr als vollendete Tatsache zu schaffen und so Entscheidungen vorwegzunehmen, ohne erkennen zu lassen, welche außerordentliche Entscheidung sich darin verbirgt, stellen wir unsere Anträge entgegen.
In einem ersten Antrag wird der Bundestag gebeten, zu beschließen, daß die Bundesregierung ersucht wird,
keinerlei Verpflichtungen einzugehen und keinerlei Maßnahmen zu treffen, die die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atom- und Wasserstoffsprengkörpern, die Stationierung von Atomraketen und den Bau von Basen für diese Raketen zum Ziele haben.
In einem zweiten Antrag wird der Bundestag gebeten, festzustellen,
daß die Wiedervereinigung Deutschlands in gesicherter Freiheit Verhandlungen und Maßnahmen voraussetzt, die schrittweise eine Entspannung bewirken. Eine solche Politik
— soll die Feststellung lauten —
dient zugleich der Kriegsverhütung und vermehrt die Aussichten auf die für das deutsche Volk lebensnotwendige Sicherheit. Eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr
— schließt unser Antrag —
ist abzulehnen, weil sie eine politische Lösung der deutschen Frage bis zur Hoffnungslosigkeit erschwert. Sie verschärft die Spannungen und ist der Sicherheit des deutschen Volkes abträglich.
Dieser Antrag, den ich soeben verlesen durfte, deckt auf, daß die Rüstungsfrage, insbesondere die Frage einer eigenen atomaren Aufrüstung der Bundeswehr, unweigerlich und unlösbar mit dem Problem der deutschen Wiedervereinigung verbunden
ist. Wer Wiedervereinigung sagt, der muß selber aktiv und ernstlich für eine Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle durch Initiative zu Verhandlungen etwas tun, und zwar konkret.

(Beifall bei der SPD.)

Wer Wiedervereinigung sagt, der muß sich um eine atomrüstungsfreie Zone, gewiß mit allen zugehörigen Sicherungen, selbst bemühen, ehe es zu spät ist.
Wir haben heute morgen von dieser Stelle aus eine bewegte Klage des Herrn Bundeskanzlers gehört über die Unmenschlichkeit der Lage in der Zone, über das Leiden der deutschen Männer und Frauen in der Zone, denen die Freiheit und die uns angeborene Art zu leben vorenthalten werden. Worte, Worte sind darüber viel gefallen, auch hier im Hause, seit vielen Jahren. Die Worte helfen den Menschen drüben nichts, gar nichts helfen sie ihnen,

(Beifall bei der SPD — Gegenrufe bei der CDU/CSU)

sondern, wenn man sich diese Worte zu Herzen nimmt, dann muß man etwas tun und tun und tun, damit es dazu kommt, daß diesen Menschen geholfen wird.

(Beifall bei der SPD. — Zuruf des Abg. Dr. Bucerius.)

— Herr Kollege Bucerius, ich bin bei der Begründung von Anträgen, und es entspricht nicht der Gepflogenheit des Hauses,

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, Debatte!)

daß man eine Antragsbegründung durch Fragen unterbricht. Ich weiß, wir befinden uns in einer Aussprache.

(Abg. Rasner: Ja!)

Aber das ist insofern, Herr Kollege Rasner, formal, als wegen Ihres wenig guten Widerspruchs im Ältestenrat es meiner Fraktion genommen wurde, ihre seit Tagen, seit Wochen angekündigten Anträge auf die Tagesordnung zu setzen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Nicht vorgelegen!)

Ich nehme für meine Fraktion das Recht in Anspruch, diese Anträge genauso ununterbrochen im Zusammenhang zu begründen, wie wir heute morgen Herrn Kollegen Dr. Gradl von der CDU haben zur Begründung der Großen Anfrage sprechen lassen.
Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Atomgiganten in West und Ost ist auf der ersten Genfer Konferenz, der Gipfelkonferenz, bestätigt worden. Wenn jetzt eine Hoffnung auf eine neue Gipfelkonferenz gesetzt werden soll, so muß ihr Sinn zuerst sein, den Schrecken zu vermindern. Unser Beitrag zu dieser Gipfelkonferenz kann nicht sein, sie durch Demonstration einer Atomausrüstung der Bundeswehr als gescheitert zu behandeln, bevor sie begann, ja, bevor sie überhaupt zustande kam.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer macht denn das?)




Dr. Arndt
Unser Appell an die Weltmächte, endlich dem atomaren Rüstungswettlauf Einhalt zu gebieten, würde doch politisch und moralisch unglaubwürdig, wenn wir im gleichen Atemzug selbst nach atomarer Ausrüstung drängen.

(Zurufe von der SPD: Sehr wahr!)

Eine Aussicht, den atomaren Rüstungswettlauf zum allseitigen Selbstmord hin abzubremsen und noch abzufangen, wird nur bestehen, wenn es gelingt, zunächst den Kreis der atomar Gerüsteten zu begrenzen; denn je mehr Atommächte entstehen und je geringer die weltpolitische Verantwortung einer wachsenden Zahl immer kleinerer Atommächte ist, um so bedenklicher schwindet die letzte Hoffnung der Welt, den Schrecken zu vermindern und unter Kontrolle zu bekommen. Ein umfassendes Abrüstungsabkommen, so ersehnenswert es ist — und es wird keine Meinungsverschiedenheit unter uns entstehen, daß das ein Fernziel ist, das von jedem so nah wie möglich herbeigewünscht werden muß —, als den Anfang der Entspannung zu fordern, bedeutet in dieser Lage, die Entspannung selbst zu verhindern.

(Beifall bei der SPD.)

Es ist sehr preiswert, sich, wie der Herr Bundeskanzler heute morgen, hier hinzustellen und im gleichen Augenblick, in dem er mit einer Hand nach den atomaren Ausrüstungen für die Bundeswehr der kleinen Bundesrepublik Deutschland greift, mit einer großen Geste gleichzeitig an die Giganten zu appellieren, sie sollten die weltumspannende Abrüstung herbeizaubern. Das führt zu gar nichts, und wer die Dinge kennt, der weiß auch, daß das zu nichts führt. Denn Entspannung wird es nur geben, sobald man behutsam und geduldig mit regional begrenzten Beruhigungsversuchen

(Lachen bei der CDU/CSU)

und übersehbaren Risiken beginnt. Hierin gründen Sinn und Notwendigkeit des ernsthaften Versuchs, am Gefahrenherd Mitteleuropa damit anzufangen, und zwar selber damit anzufangen. Ich warne vor dem Scheinargument, unsere Bereitschaft, keinen Schritt in die eigene atomare Ausrüstung zu tun — eine Bereitschaft, um die wir ringen und von der wir auch Sie überzeugen wollen, daß sie die notwendige Bereitschaft ist —, sei eine unentgeltliche und vergebliche Vorleistung an die Sowjetunion. Dieser billige Einwand verkennt doch in erstaunlichem Maße unser eigenes Existenzinteresse daran, um unserer Sicherheit willen den Weg zur deutschen Einheit in Freiheit nicht selber zu verschließen, sondern vorzubereiten und zu ebnen.
Eine atomare Ausrüstung der Bundesrepublik, also in Westdeutschland, beschwört die Gefahr herauf, daß es in Osteuropa und insbesondere in Mitteldeutschland zu einer verstärkten Konzentration sowjetischer Atombewaffnung und zu einem noch härteren Druck der Sowjetunion auf die osteuropäischen Völker und auf die Deutschen in der Zone kommt. Die verhängnisvolle Folge wäre eine gewaltige militärische Aufwertung des zentraleuropäischen Raumes.
Unsere Bereitschaft, keinen Schritt in die eigene Atomausrüstung zu tun, dient unseren Lebensinteressen und ist für uns ein Gewinn.

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

Wer dagegen meint, er müsse sich durch die sowjetische Bedrohung eine atomare Ausrüstung aufzwingen lassen, der findet sich in Wahrheit zur Kapitulation aus Ratlosigkeit bereit.

(Beifall bei der SPD.)

Denn könnten wir der Versuchung, uns in das waghalsige Abenteuer einer eigenen Beteiligung am atomaren Wettrüsten zu stürzen, nicht widerstehen, wer will dann jemals die atomare Sprengladung aus Mitteleuropa wieder wegräumen? Und wie? Und auf welche Weise hier am Eisernen Vorhang die Atomgiganten voneinander lösen? Darüber hat weder der Herr Bundeskanzler noch der Herr Bundesminister des Auswärtigen irgendein Wort gesagt. Wie bekommen wir die atomare Sprengladung vom Eisernen Vorhang wieder weg, wenn sie einmal da ist? Das ist die Frage, wenn Sie die Dinge zu Ende denken.
Heute stehen wir vor der erschütternden Lage, daß wir nach Jahren einer Politik, die sich einmal die Politik der Stärke genannt hat, von der deutschen Wiedervereinigung weiter entfernt sind denn je,

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

weil die Bundesregierung entgegen den Warnungen der Sozialdemokratie annahm, die Frage der Wiederbewaffnung lasse sich von der Frage der Wiedervereinigung abtrennen.
Darum ist es unsere Pflicht, in dieser bitterernsten Stunde uns allen, jedem von uns diese Mahnung vor Augen zu stellen und ans Herz zu legen: Die Entscheidung, ob die Bundeswehr selber atomar ausgerüstet werden sollte, ist nicht nur eine unteilbare und grundsätzliche Entscheidung, ist als Entscheidung Tiber unsere Verfassungswirklichkeit nicht nicht nur von einzigartiger Tragweite, eine Tragweite, wie sie seit 1945 nicht sonst zu sehen gewesen ist — diese Entscheidung würde nahezu mit Gewißheit zugleich eine eigenverantwortliche Entscheidung über die deutsche Wiedervereinigung sein.
Es sollte später niemand sagen, er hätte es sich nicht denken oder dies nicht voraussehen können. Wenn in der Bundestagssitzung am 23. Januar dieses Jahres die fürchterlichen Schatten der Vergangenheit heraufbeschworen wurden, so doch nicht, um an alten Wunden zu rühren, und auch nicht, um Geschehenes ungeschehen zu machen — denn die Stunden sind versäumt, und das Geschehene läßt sich nicht mehr ungeschehen machen —, sondern um es uns zur Warnung dienen zu lassen, daß man wirklich die Möglichkeiten erschöpft und die Probleme in ihrer vollen Tragweite bis zu Ende durchdenkt. Also ich wiederhole noch einmal: Es sollte später niemand sagen, er hätte es sich nicht denken und dies nicht voraussehen können. Deshalb kann keiner von uns daran vorbei, den letzten Ernst zu erkennen und sich in seinem Gewissen



Dr. Arndt
zu prüfen, wovor wir stehen. Die Entscheidung für eine atomare Ausrüstung der Bundesrepublik Deutschland kann mit hoher, mit schrecklicher Wahrscheinlichkeit die eigene Entscheidung gegen die Wiedervereinigung sein.
Unsere Überzeugung ist, daß wir nicht vor der hoffnungslosen Alternative stehen: Sicherheit gegen Wiedervereinigung oder Wiedervereinigung gegen Sicherheit, sondern daß auch der Weg zu einer wirklichen Sicherheit sich durch das ernstliche und konkrete Bemühen öffnen kann, im begrenzten mitteleuropäischen Raum schrittweise die Entspannung auszuhandeln und dadurch zugleich die Wiedervereinigung in Freiheit vorzubereiten.
Aus diesen Gründen stellen wir weiterhin den Antrag, die Bundesregierung zu ersuchen,
mit der Regierung der Volksrepublik Polen und den anderen beteiligten Mächten
— nochmals, um etwas Überflüssiges zu sagen: selbstverständlich in erster Linie mit unseren westlichen Verbündeten —
in Verhandlungen über die Verwirklichung des Planes einer atomwaffenfreie Zone in Europa einzutreten.
Wir Sozialdemokraten haben es schließlich für unsere Pflicht angesehen, auch noch folgenden Antrag einzubringen:
Der Bundestag wolle beschließen: der Bundestag stellt fest,
daß atomare Sprengkörper jeder Art Werkzeuge der blinden Massenvernichtung sind und ihre Anwendung keine Verteidigung, sondern unberechenbare Zerstörung alles menschlichen Lebens bedeutet. Atomare Sprengkörper rotten unterschiedslos und unbegrenzbar Frauen und Kinder, Männer und Greise, jung und alt aus und verwandeln, das Land in eine strahlenverseuchte, unbewohnbare Wüste.
Von der Bundesregierung wird erwartet, daß sie unter Berufung auf ihre feierliche Erklärung vom 3. Oktober 1954 — dem Vertrag über den Beitritt der Bundesrepublik zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag als Anlage I zum Protokoll Nr. III über die Rüstungskontrolle beigefügt —, in der die Bundesrepublik auf die Herstellung atomarer Sprengkörper verzichtet hat, den Staaten, die nicht über Atomwaffen verfügen, vorschlägt, ein Übereinkommen zum Verzicht auf Herstellung und Verwendung von Atomwaffen abzuschließen und dadurch zugleich den Atomweltmächten die moralische Verpflichtung aufzuerlegen, die Verhandlungen über die kontrollierte Begrenzung der Rüstungen so zu fördern, daß auch ein Abkommen über die Ausschaltung der Atomwaffen zustande kommt.
Das Plenum des Bundestages ist kein günstiger Ort, um Fragen miteinander zu besprechen, die das Innerste im Menschen anrühren. Ich beklage es, daß dem offenen Markt dieser Auseinandersetzung bei weitem nicht genug die persönliche Fühlungnahme
zwischen den einzelnen Politikern und Gruppen, nicht einmal die genügende Beratung, der ruhigere Gedankenaustausch in den zuständigen Ausschüssen voranging.
Heute morgen ist schon von dem Herrn Kollegen Dr. Mende mit Recht gerügt worden, daß in den ersten sechs Monaten dieses 3. Bundestages der Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten nur dreimal zusammengetreten ist, und keiner von Ihnen wird sagen können, daß die Fragen, in die wir jetzt hineingehen sollen, auch nur annähernd ernstlich im Ausschuß beraten wurden.
Als sich die Amerikaner entschlossen, die atomare Sprengkraft für Kriegszwecke zu entwickeln, auch an jenem Tage noch, da die „Enola Gay" unter Gebeten, die nunmehr auf uns als Lästerung wirken müssen, startete, um die erste Bombe dieser Art auf Hiroshima abzuwerfen, da wird es so gewesen sein, daß der Mensch das Unfaßliche dieses Unterfangens noch nicht begreifen konnte. Jetzt liegt das Leben der Menschheit in amerikanischer Hand und, unheimlicher noch, seit Jahren auch in sowjetischer Hand.
Ich meine, daß es uns nicht ziemt, zu der damit verknüpften Verantwortung Ratschläge zu erteilen, außer durch den unermüdlichen Appell, auf friedliche Wege zur Kontrolle und zum Ende des Schreckens zu sinnen, außer auch unserem Beitrag, nichts zur Erschwerung eines solchen Weges zu tun.

(Beifall bei der SPD.)

Uns selber aber sind die Augen geöffnet, und wir können nicht mehr sagen, daß wir nicht wissen, was wir tun, wenn wir die Hand danach ausstrecken. Uns sollte auch nicht die leichte Annahme beruhigen, die Anwendung der Massenvernichtungsmittel erschöpfe sich in ihrer Unanwendbarkeit, ihr Dasein würde sich gegenseitig aufheben, als ob sie gerade deshalb nicht da wären. So billig kommen wir nicht davon. Oder weshalb behauptet man sonst die angebliche Unvermeidlichkeit, dem Gleichgewicht des Schreckens auch noch das eigene Pfund hinzuzutun? Und wer bürgt gegen die Katastrophe aus menschlichem Irrtum oder technischem Versagen?
Der Herr Bundeskanzler hat hier heute morgen ausgeführt, Demokratien könnten keine Kriege beginner. Nun, der Herr Bundeskanzler ist doch in einem Alter, in dem er sich, wie alle Alteren unter uns, darauf müßte besinnen können, daß wir gesehen haben, wie im Jahre 1914 auch die Demokratien nicht minder leichtfertig in einen Krieg hineingegangen sind als die autoritär regierten Staaten.

(Abg. Dr. Bucerius: Aber heute nicht mehr, Herr Arndt! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

— Aber heute nicht mehr? Sind denn die Menschen heute auf einmal überall dort in der Welt Engel geworden, wo Demokratien sind?

(Erneute Zurufe von der Mitte.)

— Aber Sie können doch die Katastrophe aus menschlichem Irrtum, menschlicher Leidenschaft



Dr. Arndt
und technischem Versagen nicht ausschließen. Sie können doch auch nicht sagen — womit der Herr Bundeskanzler sich selber widerlegt hat; das war keine Meisterleistung, das war eine Meisterfehlleistung —: Ja, wenn die Katastrophe kommt, dann ist es sowieso ganz gleichgültig, ob wir bewaffnet sind oder nicht!

(Beifall bei der SPD.)

Wozu denn dann?

(Abg. Dr. Bucerius: Um zu verhindern!)

Die Existenz der Massenvernichtungsmittel kann doch ihren angeblichen Zweck als politisches oder militärisches Mittel nur dadurch bekommen, daß dahinter mindestens der Anschein der Drohung, sie doch anzuwenden, wenn nicht sogar die Bereitschaft dazu steht. Entweder verläßt man sich in blindem Verkennen menschlicher Schwäche darauf, daß keine Seite sich vergreifen wird, weil beide Seiten dazu in der Lage sind: ja, was hilft uns denn dann der Besitz des unanwendbaren Schreckens? Oder müßten wir nicht gerade dann und deshalb auf eine Entspannung durch Begrenzungen und Kontrollen der konventionellen Waffen, durch Verdünnung der Truppenstärke und durch alles das, was eben unter dem Namen Rapacki-Plan beschrieben wird, drängen?

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Das wollen wir auch!)

— Sie wollen es auch? Ihre Minister, verehrte Frau Kollegin Weber, haben gerade heute morgen gesagt, sie wollen es nicht, und Sie haben dazu „Sehr wahr!" gerufen!

(Beifall bei der SPD. — Widerspruch in der Mitte.)

Oder aber dieses Verlassen auf die vermeintliche Unanwendbarkeit ist ein Trugschluß. Ja, was dann? Nichts erlaubt uns dann, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, daß es hier um mehr als einen militärischen oder politischen Entschluß geht, daß es sich um unendlich mehr handelt als das, was der Herr Bundeskanzler heute als strategische und militär-technische Umorganisation der NATO umschrieben hat, daß es um ein letztes menschliches und sittliches Bekenntnis geht.
Angesichts dieser Tiefe eines Ja oder Nein ist ein jeder unserem Volke und sich selber Rechenschaft darüber schuldig, wie er dazu steht, daß atomare Sprengkörper keine Waffen sind und auch niemals konventionell werden können, sondern Massenvernichtungsmittel sind, mit denen keine Verteidigung möglich ist, sondern im äußersten Fall nichts als der Entschluß zum Selbstmord, ein Entschluß zur Ausrottung wahllos jeden menschlichen Lebens, auch künftiger Generationen, samt aller Kreatur.
Mit der Anwendung solcher Massenvernichtungsmittel könnte ein Verteidigungskrieg, wie Art. 26 unseres Grundgesetzes allein ihn erlaubt, nicht geführt werden. Ein solcher Krieg würde auch die nach dem Grundgesetz verbindlichen allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht wahren, weil nach Art. 22 der Haager Landkriegsordnung die Kriegführenden
kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes haben. Aber bloß am Rande sei der Zweifel gestattet, ob denn das Planen oder Vorbereiten einer derartigen Kriegsmöglichkeit noch im Rahmen unserer Verteidigung liegen könnte. Nicht dieser Zweifel ist das Maßgebliche, sondern die Einsicht, daß mit solchen Massenvernichtungsmitteln kein debitus modus, keine rechte Art der Kriegführung mehr zu verwirklichen ist, weil eine Kriegführung, die sich völlig menschlicher Kontrolle entzieht, nicht mehr Verteidigung gegen Unrecht, nicht mehr Schutz des Rechts wäre, sondern bloße und einfache Vernichtung allen menschlichen Lebens in einem bestimmten Aktionsbereich.
Es ist nicht gut, diese Wahrheit mit der Entgegnung abzutun, sie wecke die Urangst. Ich glaube, wir sollten den Mut aufbringen, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen und uns bewußt zu werden, wie ursprünglich hier die Frage nach der sittlichen Bestimmung des Menschen gestellt ist. Wir sollten die Kraft haben, nicht in unserem politischen Kalkül davon auszugehen — denn das ist ja im Grunde die Unterstellung —, daß in der deutschen Frage die Sowjetunion verhandlungsunfähig und verhandlungsunwürdig sei.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0301802000
„NATO und Raketen — Raketen und atomare Massenvernichtungsmittel — atomare Massenvernichtungsmittel und NATO", kann man ja wohl kaum in Verhandlungen hineingehen, auch nicht damit, daß man sagt: das muß alles nach Westdeutschland hinein, und es ist überhaupt kein Zeitpunkt und nicht einmal eine Möglichkeit abzusehen, daß die ebenfalls aufs höchste atomar gerüsteten Amerikaner je von der Elbe verschwinden. Ich weiß nicht, wie man dann mit einer Macht verhandeln will, die man übrigens im gleichen Atemzug auch noch als Aggressor bezeichnet.

(Beifall bei der SPD.)

Was dabei herauskommt, ist nichts als die Annullierung Deutschlands, die wir gegenwärtig haben, und eine Fortsetzung einer annullistischen Politik, die den deutschen Staat und das deutsche Volk als eine Einheit überhaupt nicht wieder zusammenkommen läßt.
Ich glaube deshalb, wir sollten die Kraft haben, in unserem politischen Kalkül nicht davon auszugehen — denn das ist die Unterstellung —, daß die Sowjetunion in der deutschen Frage verhandlungsunfähig und verhandlungsunwürdig sei und daß uns deshalb nichts bliebe als die entmutigte Verzweiflung, das Böse mit Atomgewalt auszurotten und uns selber mit.

(Widerspruch bei der CDU/CSU.)




Dr. Arndt
— Herr Manteuffel-Szoege hat es doch gesagt, daß man dazu bereit sein müsse.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Majonica: Sie haben nicht richtig zugehört!)

Ich glaube — und das ist die Überzeugung meiner Fraktion —, wir können und wir sollen die Hand von den Massenvernichtungsmitteln lassen und uns gerufen wissen, uns gemeinsam mit Geduld Gedanken zu machen, obgleich ich sehe, wie hoffnungslos in diesem Hause auch nur die Bemühung ist, in diesen Fragen zu einer Gemeinsamkeit zu kommen. Denn es gibt ja nicht einmal mehr ein Zuhören hei diesen Problemen, die nun wirklich an Herz und Nieren gehen und die Lebensnotwendigkeit des deutschen Volkes von Grund auf bestimmen. Ich glaube, wir können und wir sollen die Hand von den Massenvernichtungsmitteln lassen und uns gerufen wissen, uns gemeinsam Gedanken zu machen und einen Beitrag zu leisten, der durch unsere Bereitschaft, im konkreten Verhandlungswege schrittweise eine Zone der Entspannung in Mitteleuropa zu schaffen, das Zustandekommen einer Gipfelkonferenz und durch sie die erste Verminderung des Schreckens erleichtert. Ich wiederhole noch einmal: die Entscheidung über die atomare Ausrüstung der Bundeswehr kann mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit unsere eigene Entscheidung über die Wiedervereinigung sein. Die Gefahr ist, daß, wer sich für die atomare Ausrüstung entscheidet, eine Entscheidung trifft, durch endlosen Schrecken das schreckliche Ende jeder Hoffnung auf die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit herbeizuführen.

(Anhaltender Beifall bei der SPD.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301802100
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verteidigung.

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301802200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Arndt hat insofern recht, als die von der SPD eingebrachten Entschließungen materiell Anträge sind, wenn sie auch infolge der Bestimmungen der Geschäftsordnung bei den Beratungen im Ältestenrat formell nicht als Anträge behandelt wurden. Ich habe deshalb die Absicht, auf die Anträge der Fraktion der SPD im Zusammenhang mit den heute morgen gestellten Fragen einzugehen. Ich will damit auch zeigen, daß die Regierung die Entschließungen der SPD in der Beantwortung wie materielle Anträge behandelt. Ich darf in diesem Zusammenhang einige allgemeine Gedankengänge zur Darlegung des Standpunktes der Bundesregierung zum Ausdruck bringen.
Sowohl in der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU wie in der Großen Anfrage der Fraktion der FDP wie — mit einer ganz besonderen Zielrichtung — in den Anträgen der SPD ist das Problem der Sicherheit, wenn auch von verschiedenen Standpunkten aus, angesprochen worden.
Kollege Dr. Arndt hat gerügt, daß die Regierungspartei während schwebender diplomatischer Verhandlungen selber die Initiative zu einer außenpolitischen Debatte im Parlament ergriffen hat. Er
hätte die Regierungspartei eigentlich dafür loben müssen, daß sie den Vorschlägen und den kritischen Äußerungen der Sozialdemokratischen Partei nachgekommen ist. Diese kritischen Äußerungen besagten, das Parlament sei während schwebender Verhandlungen, sei es mit den Bundesgenossen, sei es mit anderen Partnern, nicht zu Worte gekommen. Nun, heute kommt es zu Wort.

(Abg. Ehren: Und dann ist es wieder nicht richtig!)

— Ist es wieder nicht richtig?
Angesprochen ist das Problem der Sicherheit im allgemeinen, das Problem der europäischen und der deutschen Sicherheit im besonderen. Ich muß deshalb einige Ausführungen zum Problem der Sicherheit im allgemeinen machen und einige Erläuterungen zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung geben. Es ist auch gut, wenn wir in diesem Zusammenhang einmal zu den Grundlagen der Politik zurückkehren.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß der Zweck eines Staates und damit auch die diesem Staate obliegende Pflicht und Aufgabe darin besteht, für die Bürger dieses Staates, für ihr Leben, für ihre Freiheit und für ihr Eigentum Sicherheit zu verschaffen.

(Beifall in der Mitte.)

Selbstverständlich ist Sicherheit nicht die einzige staatliche Aufgabe, sondern die Garantie einer rechtsstaatlichen Ordnung und die Schaffung der Voraussetzungen für die Wohlfahrt des Bürgers — beides wesentliche Aufgaben der Innenpolitik — runden zusammen die Trias der Aufgaben des Staates ab, wenn man ihre wesentlichsten hier herausstellen will.
Sicherheit ist ein Kernbestandteil der Außenpolitik, wenn sie auch nicht identisch ist mit der Außenpolitik in ihrem vollen Begriffe; aber sie ist ein Kernbestandteil der Außenpolitik, sie ist ihr Rückgrat. Ohne Sicherheit sind außenpolitische Dispositionen, sind außenpolitische Überlegungen und ist eine außenpolitische Aktionsfreiheit nicht mehr gegeben, auch nicht für friedliche Aktionen, gleich welcher Art.
Rechtsstaatliche Ordnung und Wohlfahrt sind wesentliche Aufgaben der Innenpolitik. Es wird niemand bestreiten, daß Fehler der Innenpolitik Schwierigkeiten, Störungen im Zusammenleben der Bürger hervorrufen, daß sie aber das Leben der Nation an sich noch nicht in Frage stellen. Es dürfte aber für uns Deutsche mit den bitteren Erfahrungen unserer Generation — ich meine jetzt nicht im Stil der Weimarer Republik die Kriegsgeneration, sondern die heute Lebenden, die den ersten Weltkrieg zum Teil, die alle den zweiten Weltkrieg miterlebt haben — kein Zweifel bestehen, daß Fehler der Außenpolitik die Existenz eines Volkes überhaupt gefährden. Wir haben es in tragischer Weise in einem Jahrhundert, innerhalb weniger Jahrzehnte, zweimal Fehler der Außenpolitik erlebt, die, wenn ihnen auch verschiedene Motive zugrunde lagen, wenn auch ihre Quellen verschieden waren, im ersten Fall eine



Bundesverteidigungsminister Strauß
Katastrophe unserer Nation hervorgerufen haben, im zweiten Fall uns an den Rand der physischen Vernichtung gebracht haben.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Das zweitemal war es kein Fehler, sondern ein Verbrechen!)

— Es war ein Verbrechen der Außenpoltik im Motiv. In der Handlungsweise, nämlich den zweiten Weltkrieg zu wollen, systematisch vorzubereiten, vom Zaun zu brechen und ihn dann in der bekannten Weise zu führen und zu verlängern, war es, rein der Pragmatik nach gesehen, ein schwerwiegender Fehler. Aber wir wollen uns hier nicht, Herr Kollege Schmid, um Worte streiten.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Es ist schon sehr wichtig!)

— Fehler der Außenpolitik gefährden die Existenz einer Nation. Ich glaube, darüber besteht kein Zweifel.
Es ist deshalb ein legitimes, nicht nur ein legitimes, sondern ein selbstverständliches Anliegen der Bundesregierung, es ist ihre vornehmste Pflicht, daß sie das tut, was in ihren Kräften steht und was im Rahmen der deutschen politischen Möglichkeiten liegt, um für Sicherheit zu sorgen. Sicherheit steht selbstverständlich für uns nicht nur unter der Überschrift „Erhaltung des Bestehenden", also Sicherheit für die 50 Millionen Deutsche, sondern muß selbstverständlich auch darin bestehen, die Sicherheit des Ganzen und im Zusammenhang damit die Einheit des ganzen deutschen Volkes zu sehen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich sage es ohne jede aggressive, offensive Zielrichtung, aber ich möchte trotzdem zum Ausdruck bringen, daß die Sicherheit für das Bestehende die Voraussetzung für die Schaffung und Sicherheit des Ganzen erst sein kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Opposition des 2. Bundestags hat seinerzeit die bekannten Pariser Verträge aus den ja in diesem Hause sehr oft diskutierten Gründen abgelehnt. Die Mehrheit dieses Hauses hat im 2. Bundestag den Verträgen zugestimmt. Sie hat damit zugestimmt, daß die Bundesrepublik die Souveränität übernimmt. Die Bundesregierung von damals und die Mehrheit von damals halten die Entscheidung auch heute noch, auch im Lichte der in der Zwischenzeit eingetretenen Ereignisse, für richtig; denn wäre es nicht möglich gewesen, die Souveränität für die Bundesrepublik zu erringen, wäre der deutschen Politik jede Bewegungsfreiheit überhaupt versagt geblieben, wäre sie nach wie vor ein Objekt im Spiel der Großmächte geworden, statt die bescheidenen Möglichkeiten eines Mithandelnden und Mitverhandelnden ausnutzen zu können.
Selbstverständlich verbindet sich mit jeder Sicherheitspolitik die Frage des Risikos. Es gibt keine Sicherheitspolitik, es gibt aber auch keine Außenpolitik ohne Risiko. Die Frage ist: Wie weit kann man, wie weit darf man, wie weit muß man im Risiko nach dieser oder jener Seite hin gehen, um
damit politische Lösungen zu ermöglichen? Das gilt nach der einen wie nach der anderen Seite. Es ist ebenso unbestreitbar richtig, daß Sicherheit für uns eng verbunden ist mit der Einheit unseres Volkes, daß Sicherheit für uns untrennbar verbunden ist mit der Freiheit Europas und ebenso untrennbar verbunden ist mit dem Frieden der Welt. In einer unfriedlichen Welt gibt es keine Oasen der Seligen. In einer unfriedlichen Welt gibt es auch keine Sondersituation für das deutsche Volk, gibt es auch keine regionale Entspannung.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Weil also Sicherheit für Deutschland, Deutschland in seiner gegenwärtigen legitimen Vertretung, Deutschland in seiner gewünschten Gesamtheit, untrennbar verbunden ist mit der Freiheit Europas und mit dem Frieden auf der Welt, darum muß das Deutschlandthema, wenn nicht formell, dann materiell, immer auf dem Tisch einer Weltkonferenz sein

(Beifall bei den Regierungsparteien)

und wird nicht eher von dort verschwinden können, als bis — sei es auch über eine lange Periode der Geduld, der Verhandlungen, der Bemühungen — diese Probleme wenigstens für geraume Zeit eine befriedigende Lösung gefunden haben.
Kollege Arndt hat ein gefährliches Thema angeschnitten, über das in diesem Hause schon öfter gesprochen worden ist. Es wäre gut, wenn wir, vielleicht im Zungenschlag verschieden, aber in der Grundauffassung einheitlich über das Thema sprechen würden: Wer ist potentiell seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und noch bis zur Gegenwart der Aggressor in dieser Welt, der allein fremde Völkerschaften in Unterdrückung hält und dem deutschen Volk das Recht der Selbstbestimmung vorenthält?

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

Es geht nicht darum, hier eine Siegermacht, eine große Nation, die eine Weltmacht darstellt, vor den Kopf zu stoßen und Verhandlungen durch solche Bezeichnungen zu erschweren oder unmöglich zu machen;

(Abg. Wehner: „Todfeinde"!)

es geht aber um die Feststellung eines ganz klaren Sachverhalts.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Warum gibt es überhaupt ein Sicherheitsproblem heute? Warum gibt es ein Sicherheitsproblem für uns? Warum gibt es ein Sicherheitsproblem für unsere Verbündeten? Warum gibt es ein Sicherheitsproblem für die ganze demokratische Welt? Ich will so weit gehen: Warum gibt es subjektiv auch ein Sicherheitsproblem für die Sowjetunion? Ich sage „subjektiv", denn die sowjetischen Machthaber mit ihrem ausgezeichneten Nachrichtennetz, mit ihren unzähligen Verbindungen, mit ihren zahlreichen Parteiorganisationen in vielen Dutzenden von Ländern auf der Welt wissen selbst sehr genau — wie heute vormittag, ich glaube, vom



Bundesverteidigungsminister Strauß
Herrn Bundeskanzler, festgestellt wurde —, daß es die Struktur der Mitgliedstaaten der NATO, daß es die inneren Verhältnisse in den USA, in Großbritannien und in den anderen Ländern, die im übrigen allein sowieso zu schwach wären, um irgendein Sicherheitsrisiko für die Sowjetunion darzustellen, kurz, daß es die Struktur dieser auf der westlichen Seite vorhandenen Großmächte unmöglich macht, einen Präventivkrieg, einen Offensivkrieg zu unternehmen, und daß die inneren Bindungen in der NATO, aller in ihr zusammengefaßten Nationen, so ausgesprochen defensiver Art sind, daß in diesem Bündnis — und ich muß sagen: Gott sei Dank — niemand einen Angriffsbefehl geben könnte. Ich glaube, darüber gibt es doch nicht den geringsten Zweifel. Ein amerikanischer Präsident, der wie der Blitz aus heiterem Himmel — wozu Diktatoren in der Lage sind — einen Blitzkrieg gegen die Sowjetunion starten würde, würde auf seinen Geisteszustand untersucht werden.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Aber in der Zwischenzeit fallen die Atombomben!)

— Ich weiß, Herr Kollege Schmid. Aber es ist besser, wenn ich Ihnen nicht darauf antworte, wir kommen sonst vom Thema ab.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] Wenn der Herr Minister ein Tänzchen wagen will?! — Heiterkeit.)

— Auch hier wären noch Sicherheitsgarantien dazwischengeschaltet. Aber wir sollten diese Frage mit großem Ernst prüfen. Wir sollten jedes Argument, das von Ihnen oder von unserer Seite her kommt, sorgfältig prüfen. Wir sollten prüfen, ob die Argumentation, die ich hier gebrauche, richtig und stichhaltig ist.
Aber ich stelle nochmals die Frage: Warum gibt es für uns, warum gibt es für unsere Verbündeten, warum gibt es für die ganze demokratische Welt heute ein Sicherheitsproblem? Ich stimme völlig mit den Auffassungen mancher Vorredner verschiedener politischer Farbe überein, wenn ich sage, daß unsere politische Aufgabe nicht in der Weltmachtpolitik liegt und seit vielen Jahrzehnten, seit der Änderung der Größenmaßstäbe auf dieser Welt nicht in ihr hätte liegen dürfen. Aber genauso richtig ist es; daß unsere politische Aufgabe auch nicht in der Neutralisierung liegt,

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

die dazu führt, die kriegsverhindernden Gewalten dieser Welt zu schwächen und damit eine stimulative Wirkung auf solche auszuüben, für die Gewaltanwendung keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe von den Fehlern der deutschen Außenoder, um mich mehr auf mein Gebiet zu beschränken, der deutschen Sicherheitspolitik im Laufe dieses Jahrhunderts gesprochen. Sicherlich sind wir daran gescheitert — einmal aus Blindheit, das zweite Mal aus verbrecherischer Verblendung —, daß wir nicht die Aufgabe der deutschen Politik
gesehen haben, die darauf hätte hinauslaufen sollen, einen Beitrag zur Einordnung Europas in das Staatensystem des 20. Jahrhunderts zu leisten, statt Weltmachtpolitik auf eigene Faust zu betreiben. Die Weltmachtpolitik hat uns zwei Katastrophen gebracht, die Neutralisierung würde uns die dritte Katastrophe bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Im Jahre 1945 — so stellt es Hermann Mau in seiner Geschichte der bewußten zwölf Jahre mit Recht dar —, nach zwölf Jahren NS-Herrschaft, stand das deutsche Volk vor der Frage, ob es überhaupt je wieder einen Staat werde errichten können.

(Abg. Wehner: Mit denselben Leuten!)

— Wir sprechen hier ja nicht von einer Umwälzung, um kein anderes Wort zu gebrauchen; nicht mit denselben Leuten. — Ich habe in diesen Tagen die Protokolle von Teheran, von Jalta und von Potsdam gelesen, um geistiges Rüstzeug — —

(Lachen bei der SPD.)

— Warum Sie lachen, versteht kein vernünftiger Mensch.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Denn man kann doch nicht jeden Tag wie eine Eintagsfliege die Situation nur so sehen, wie sie sich in der Optik der Schlagworte bietet. Man muß als Politiker doch versuchen, in den Zusammenhängen und in den Verbindungen, die auch in die Vergangenheit reichen, Anhaltspunkte für die politischen Fragen der Gegenwart und ihre Lösung zu finden.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Lebhafter Beifall bei der SPD.)

Nach diesen Protokollen von Teheran, von Jalta und — nicht mehr in dieser Ausdrucksform und nicht mehr in dieser profilierten Schärfe — von Potsdam war es durchaus fraglich, ob das deutsche Volk — als Politiker sagt man ja nie „jemals" — in absehbarer Zeit überhaupt noch einmal in die Lage kommen sollte und gekommen wäre, einen deutschen Staat zu bilden; die Frage stand doch im Jahre 1945 offen. Denn es ging ja den Besatzungsmächten damals nicht allein um die Beseitigung des Nationalsozialismus, weil man damals Deutschland und Nationalsozialismus in der Distanz der politischen, geographischen und historischen Betrachtungsweise mehr miteinander identifiziert hat, als es für die europäische Politik und für die gesamte Friedenspolitik einer zukünftigen Weltentwicklung gut gewesen wäre.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Das vermag niemand zu bestreiten. Aber man soll sich hier auch vor billigen deutschen Selbstentschuldigungen hüten, weil uns dafür die moralische Basis und die moralische Berechtigung fehlen. —
Wenn man die Protokolle von Teheran und von Jalta analysiert — ich brauche das Verhältnis Deutschland-Rußland in seinen ganzen historischen Zusammenhängen jetzt nicht bis auf Jahrhunderte



Bundesverteidigungsminister Strauß
zurückzuverfolgen —, so gibt es für die Zeit des bolschewistischen Rußland wohl keinen Zweifel, daß die bolschewistischen Machthaber Deutschland immer als einen Schlüsselpunkt ihrer Strategie angesehen haben. Das gilt sicher für Lenin, das gilt sicher für Stalin, und es scheint — obwohl die Maßstäbe sich zu unseren Ungunsten oder Gunsten, je nachdem, von welchem Standpunkt man ausgeht, verändert haben —, das gilt zu einem erheblichen Teil auch für Chruschtschow. Wenn man das Abkommen zwischen Hitler und Stalin vom 23. August 1939 mit den drei Zusatzprotokollen und die Gespräche, die Molotow im November 1940 in Berlin geführt hat, liest, dann ergibt sich aus diesen Andeutungen, aus diesen Unterlagen die Stoßrichtung der sowjetischen Politik während des zweiten Weltkriegs: nach der Ostsee, nach dem Balkan, nach den Dardanellen und nach den Ölquellen des Mittleren Ostens. Damit sollte die Neutralität noch für möglichst lange Zeit erkauft werden. Rußland wollte nicht in den Krieg gegen Hitler eintreten, jedenfalls nicht, bevor der Krieg zwischen Deutschland und den Westmächten in ein wesentlich fortgeschritteneres Stadium für beide getreten war. Die russische Politik während des Krieges steht, das stellt man bei der nachträglichen Analyse fest, in erstaunlich klarem Gegensatz zu der Politik der Westalliierten. Während es den Westalliierten um den militärischen Sieg über Deutschland und damit um die Hoffnung ging, den Friedensstörer des 20. Jahrhunderts zur Ruhe zu bringen, haben die Sowjets nach ihrem Sieg bei Stalingrad ihre ganzen militärischen Aktionen darauf abgestellt — auch in dem Wechsel der Schwerpunkte an ihren Fronten —, in den Forderungen gegenüber den Westalliierten möglichst viele politische Faustpfänder für die Nachkriegszeit und möglichst günstige strategische Ausgangspositionen für ihre Nachkriegspolitik zu gewinnen.

(Abg. Dr. Bucerius: Ausgezeichnet!)

Daran läßt sich heute, wenn man das mit der nötigen zeitlichen Distanz liest, kaum mehr zweifeln. So ist auch nur zu verstehen, wie in Teheran und wie in Jalta von seiten des gutgläubigen Roosevelt und des etwas argwöhnischen, aber weniger gewichtigen Churchill mit Stalin verhandelt wurde. Nur so ist das Abkommen über die befreiten Völker Europas zu verstehen; nur so sind eine Reihe von Entschlüssen, die in den Jalta-Dokumenten festgelegt sind, überhaupt zu verstehen, ist zu verstehen, warum man in Warschau stehengeblieben ist, während die Polen sich verblutet haben, und warum Stalin den Schwerpunkt der russischen Offensive auf den Balkan gelegt hat, warum man vor Berlin stehengeblieben ist, um zuerst Wien einzunehmen. Es müßte eine Verbindung von Generalstäbler und Historiker sein, der in der Geschichtschreibung einmal diese Motive und diese einzelnen Schwerpunkte der sowjetischen Kriegführung in ihrer unwahrscheinlich gelungenen Verbindung von militärischen Aktionen und politischen Zielen analysiert.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Die Sowjets haben es tatsächlich verstanden, den zweiten Weltkrieg, in den sie, äußerlich gesehen, durch den Angriff Hitlers hineingezogen wurden, zu einem Mittel ihrer Politik zu machen und ihre Kriegführung nicht allein auf den militärischen Endsieg abzustellen, wie es das subjektiv verständliche Interesse der Westmächte war, deren Völker und deren Regierungen doch kein anderes Interesse hatten, als möglichst bald den Krieg zu gewinnen, möglichst lange keinen weiteren Krieg mehr zu erleben, demobilisieren zu können, ihre Söhne nach Hause schicken zu können, Deutschland mit allen, wenn auch mit verschiedenen Vorstellungen der Demokratisierung zur Ruhe bringen zu können, um dann einer normalen demokratischen weiteren Entwicklung der Welt ihren Lauf zu lassen. Die Sowjets dachten offensichtlich ganz anders.
Wenn wir heute die Frage stellen: „sowjetische Vertragstreue", dann ist es natürlich töricht, zu sagen: „Man kann mit den Sowjets keinen Vertrag schließen, weil sie nicht vertragswürdig sind."

(Zuruf von der SPD: Ist aber hier gesagt worden! — Gegenruf von der CDU/CSU: Ist ja nicht wahr!)

Es sind mit den Sowjets viele Verträge geschlossen worden, von denen ein Teil gebrochen, ein Teil gehalten worden ist. Nur würde ich mit den Sowjets keinen Vertrag schließen, in dem die persönliche Existenz oder Leben und Freiheit eines Volkes von einer deklamatorischen Garantie statt von realen garantierenden Tatsachen abhängt.
Wenn man beispielsweise ein Dokument liest — das ist auch ein Vertrag —, das die persönliche Unterschrift Stalins trägt — das ist ja derselbe Stalin, der durch Adenauer nach Meinung einiger Redner dieses Hauses verhindert worden ist, die deutsche Einheit im Jahre 1952 zu vollziehen —,

(große Heiterkeit)

die Erklärung über das befreite Europa nämlich, die die Unterschriften von Stalin, Roosevelt und Churchill trägt, wenn man dort liest, was die Drei vorhatten und was sie gelobt haben — Roosevelt und Churchill sicher ehrlichen Herzens und sicher ehrlicher Absicht —, daß sie gelobt haben, daß sie während der zeitweilig labilen Lage im befreiten Europa die Politik ihrer drei Regierungen zur Unterstützung der von der Herrschaft Nazideutschlands befreiten Völker und der Völker der ehemaligen europäischen Satellitenstaaten der Achse und zur Lösung ihrer drückenden politischen und wirtschaftlichen Probleme durch demokratische Mittel aufeinander abstimmen wollen, wenn man dort liest, daß sie sich zu den Grundsätzen der Atlantik-Charta bekennen, wörtlich ausgedrückt: zu dem Recht aller Völker, diejenige Regierungsform zu wählen, unter der sie leben möchten, bekennen zu der Wiederherstellung der souveränen Rechte und der Selbstregierung für jene Völker, die gewaltsam durch die Aggressorenstaaten ihrer beraubt worden sind — das stimmt, Aggressorenstaaten: wir waren ein Aggressorenstaat —, und wenn es dort weiter heißt, daß sich die Drei verpflichten, Verhältnisse für einen inneren Frieden zu schaffen, Notstandsmaßnahmen durchzu-



Bundesverteidigungsminister Strauß
führen, einstweilige Regierungsbehörden zu bilden — in denen alle demokratischen Elemente der Bevölkerung weitgehend vertreten sind —, die zur bald-möglichen Einsetzung von frei gewählten und dem Willen des Volkes entsprechenden Regierungen verpflichtet sind, und sich weiter verpflichten, dort, wo es notwendig ist, die Abhaltung solcher demokratischen Wahlen zu erleichtern — Unterschrift: Josef Stalin —, und wenn man dem die Praxis in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn von Litauen, Lettland, Estland gar nicht zu reden — gegenüberstellt, dann wird uns doch niemand verargen können, wenn wir die Frage der sowjetischen Vertragstreue mit einigen Bedenken und mit dem Wunsch nach Garantien betrachten.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Die Tinte auf diesem Dokument war ja noch nicht trocken, als der damals noch im Amt befindliche rumänische König innerhalb weniger Tage zwei Ultimaten erhielt, das Ultimatum, seinen Ministerpräsidenten zu entlassen, und das Ultimatum, an seine Stelle den Chef der Kommunistischen Partei in Rumänien als Ministerpräsidenten zu setzen. Was ist denn geworden aus der „Erklärung über das befreite Europa"? Wie kann man annehmen, daß die Sowjets das, was sie den Polen, Ungarn, Rumänen usw. usw. mit dieser Unterschrift — gegeben von Stalin — erklärt, garantiert haben, aber in der Praxis vorenthalten, uns zu gewähren bereit sind?

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Das kann man doch nicht einfach auf Grund der eigenen Wunschträume annehmen, oder man kann es doch nicht annehmen, weil man hier den Wunsch mit einer Möglichkeit und die eigenen Illusionen mit der Wirklichkeit verwechselt!

(Erneute Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Es wäre uns, meine Damen und Herren von der Opposition, doch auch angenehmer, anders zu sprechen. Wir sprechen doch nicht so, weil wir uns nur von der Opposition unterscheiden wollen, was ja auf Gegenseitigkeit beruhen könnte.

(Heiterkeit.)

Wir sprechen so, weil uns unsere Analyse der Vergangenheit und der Gegenwart zu überhaupt keiner anderen Beurteilung in der Verantwortung die Möglichkeit gibt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Es ist auch interessant, daß die Sowjets bis Potsdam von einer Zerstückelung Deutschlands gesprochen haben. Es ist in den Dokumenten schwarz auf weiß erhalten, daß sie nach der widerrechtlich vollzogenen Annexion der Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, ihre Unterstellung unter die polnische Verwaltung, sehr bald das Thema geändert und, nachdem sie den Anteil hatten, den sie zunächst abtrennen wollten, von der Einheit Deutschlands gesprochen haben — allerdings — und das zieht sich durch die Außenministerkonferenzen von Paris, von Moskau, von London und wieder von Paris — alles in der Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik. Sie haben immer die deutsche Einheit versprochen, aber als Voraussetzung dafür verlangt, daß die Sowjetunion ihre Reparationsforderungen erfüllt erhält. Darüber ließe sich reden. Wir haben dort viel angerichtet, und wenn wir uns da mit materiellen Mitteln loskaufen könnten, dann möchte mancher Spießbürger in der Bundesrepublik, der sonst nur kritisiert, in die Tasche greifen, um seine Treue zu Gesamtdeutschland auch materiell zu beweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber sie haben als Voraussetzung nicht nur die Erfüllung ihrer Reparationsforderungen verlangt, die damals unerfüllbar waren, über die man heute sicher im Sinne einer politischen Lösung reden könnte. Ich bin nicht legitimiert, das zu tun, aber als Politiker darf man gelegentlich auch einmal was denken.

(Heiterkeit.)

Ich wollte keine so hohen Ansprüche stellen. Aber sie haben es — und hier liegt des Pudels Kern — in jeder Außenministerkonferenz weiter abhängig gemacht von der Beteiligung der Sowjetunion an der Kontrolle über die Ruhr. Das zieht sich wie ein roter Faden durch. Hier muß man sagen, daß die Moskauer Außenministerkonferenz vom Jahre 1947 nicht gescheitert ist an den staatsrechtlichen Details über die innere Gestaltung Deutschlands, über die Entnazifizierung und Redemokratisierung. Sämtliche Außenministerkonferenzen sind gescheitert an dem Veto der Sowjetunion zur deutschen Einheit, weil sie nicht die Kontrolle über das Ruhrgebiet erhalten hat.

(Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Deshalb bin ich auch sehr skeptisch, Herr Kollege Schmid.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Sie vergessen die Franzosen!)

— Wenn die Sowjets den gleichen guten Willen gezeigt hätten, wie die Franzosen ihn gelernt haben,

(Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU)

und wenn die Sowjets in der gleichen Zeit die Konsequenzen gezogen hätten wie Frankreich, würden Sie aus meinem Mund das Wort „potentieller Aggressor" über sie hier nicht hören.

(Beifall und Bravo-Rufe bei der CDU/CSU.)

Aber daran scheiterte jede Außenministerkonferenz. Ich bin deshalb auch skeptisch — —

(Abg. Mattick: Wo findet denn augenblicklich der Krieg statt? Was ist mit Algerien?— Zuruf von der CDU/CSU: Ach du liebe Zeit!)

— Man kann nicht auf zwei so verschiedenen Ebenen eine politische Diskussion führen. Ich bedauere, daß ich mich habe ablenken lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber deshalb, Herr Kollege S c h m i d, bin ich sehr skeptisch gegen Ihre in guter Absicht und vor allen Dingen mit einer lobenswerten Zielsetzung



Bundesverteidigungsminister Strauß
ausgesprochene Formulierung, die Bundesrepublik strategisch uninteressant zu machen. Man kann weder die Geographie des lieben Gottes ändern, noch kann man ein Land, in dem Ruhrgebiet und ähnliche Zentren liegen, wenn man nicht nachträglich, was Sie bestimmt nicht meinen, den Morgenthauplan vollzieht, strategisch uninteressant machen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.—Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Eine Zwischenfrage!)

— Bitte!

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301802300
Sicher, man kann die Geographie nicht verändern. Aber man kann in eine Landschaft Batteriestellungen bauen und kann es lassen. Je nachdem verändert sich die politische Qualität einer geographischen Situation.

(Beifall bei der SPD. — Lachen in der Mitte und rechts.)


Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301802400
Sie meinen, man kann Batteriestellungen bauen und man kann sie nicht bauen. Ob man sie bauen oder nicht bauen soll, ist keine Frage moralischer Erwägung; das ist in diesem Fall eine Frage des sicherheitsmäßigen Kalküls. Wenn ich damit jemandem den Zutritt versperre, dessen Eintritt bei mir ich für sehr widerwärtig halte, dann baue ich die Batteriestellungen.

(Zustimmung bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Wobei der Konditionalsatz zu beweisen wäre, Herr Minister!)

Ich habe das deshalb in Erinnerung gerufen, weil ich es tatsächlich einmal auch zur Rechtfertigung unseres Standpunktes anführen wollte. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, auch zu verstehen, daß man, gerade wo es um schwerwiegende Entscheidungen geht, nicht einfach aus der Tagespolitik oder aus den Schlagworten heraus urteilt, die man von dieser oder jener Seite hört, sondern versucht, sich ein, und sei es auch nur ein subjektives moralisches Fundament für das zu verschaffen, was man zu tun vorhat oder was man für notwendig hält. Deshalb ist nicht zu bestreiten, daß die Sowjets mit der Proklamation ihres Willens zur deutschen Einheit immer unerfüllbare Bedingungen, wie ihre Teilnahme an der Kontrolle über die Ruhr, verbunden haben. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß sie sofort nach dem Einmarsch und nicht erst nach der Gründung der Bundesrepublik, nicht erst nach unserem Eintritt in die Montanunion oder in die NATO, auf den Spitzen der Bajonette der Besatzungsmächte mit der klassenkämpferischen Umwälzung in ihrer Zone von oben begonnen haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Ob das Bodenreform oder Entnatifizierung oder Sozialisierung oder Kollektivierung war — der Prozeß hat bereits im Jahre 1945 eingesetzt.
Wenn man einmal nachprüft, was wir alles auf Grund des sowjetischen Vetos nicht hätten tun dürfen, dann kommt man zu folgenden heute, nachträglich gesehen, kaum mehr faßbaren Überlegungen. Wir hätten nicht die Verschmelzung der amerikanischen und der britischen Zone vornehmen dürfen; denn das spaltet Deutschland, hieß es. Wir hätten nicht die Währungsreform durchführen dürfen, weil sie eine gesamtdeutsche Währung verhindere. Wir hätten nicht die Bundesrepublik ins Leben rufen dürfen, weil sie gegen ganz Deutschland sei. Wir hätten nicht in den Europarat und nicht in die Montanunion eintreten dürfen! Wir hätten selbstverständlich nicht die Pariser Verträge abschließen dürfen, und wir durften auch nicht in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und nicht in die Europäische Atomgemeinschaft — mindestens an zweien dieser Organisationen waren Sie von der Opposition mitbeteiligt — eintreten. Denn jedesmal hieß es aus Moskau: Wenn ihr das macht, ist es ein Akt zur Verewigung der deutschen Spaltung.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Als die Bundesrepublik gegründet war, änderte sich nicht das Ziel, da änderte sich nur die Taktik. Nachdem man immer scheinbar nur nachgezogen, d. h. die längst vollzogenen Tatsachen nach außen zugegeben hatte, hieß die Taktik dann: Jetzt muß ein gesamtdeutscher Rat, ein Konsultativorgan — neuerdings heißt es Konföderation — eingerichtet werden; jetzt müssen es die Deutschen unter sich ausmachen. Darum wage ich sehr wohl, einmal die Frage auch hier zu stellen — wenn es auch heute beinahe schon in Deutschland und wenn es hier in diesem Hause schon zu erregten Gegenrufen gekommen ist —: Wer verewigt denn die deutsche Spaltung? Wer verhindert denn die deutsche Wiedervereinigung? Doch niemand anders als der, der dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht vorenthält!

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob Herr Kollege Arndt anders denkt, aber ich glaube nicht, daß die Sowjetunion sich durch das, was wir hier sagen, in ihrer Verhandlungsbereitschaft oder in ihrer Konzessionsfreudigkeit beeinflussen läßt, wenn wir Tatsachen feststellen, die für sie gar keine moralische Herabsetzung sind.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Ein moralische Herabsetzung sind sie nur nach dem Sittenkodex der Demokratie, beileibe nicht nach dem Sittenkodex eines diktatorischen oder totalitären Staates.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich habe in diesem Hause schon öfter die Frage gestellt, die von dem uns heute beschäftigenden Problem Wiedervereinigung, Sicherheit und Atomwaffen nicht zu trennen ist: Was will denn eigentlich die Sowjetunion? Ich bin bisher nur in meinen Überlegungen zu drei Auffassungen gekommen. Will sie Sicherheit und wirtschaftliche Wohlfahrt für ihr eigenes Reich, für ihren eigenen Staat, Sicherheit und wirtschaftliche Wohlfahrt und Stabilität ihres Regimes? Um Herrn Arndt eine ganz klare Antwort zu geben: Es wäre töricht und



Bundesverteidigungsminister Strauß
es wäre verbrecherisch, an einer Austreibung des Kommunismus mit Atomwaffen im Stile einer modernen Atomwaffenkreuzzugstheorie zu denken. Ich glaube, niemand von uns denkt daran. Falls das jemals so verstanden worden sein sollte, dann darf ich hier in aller Schärfe und Deutlichkeit feststellen: Der Kommunismus läßt sich nicht mit Atomwaffen bekämpfen! Nur seine weitere Ausdehnung läßt sich durch Abschreckung eines Angriffs, durch das Vorhandensein solcher Waffen verhindern. Der andere Kampf muß auf diplomatischem, politischem, wirtschaftlichem und psychologischem Weg ausgekämpft werden.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Frage war eigentlich: Was will die Sowjetunion? Will sie Stabilität ihres Regimes, will sie wirtschaftliche Wohlfahrt ihrer Bürger und will sie Sicherheit nach außen? Ich glaube, darauf läßt sich eine befriedigende Antwort finden. Wenn das ihr Ausgangspunkt ist — das sollte man feststellen, dafür wären geeignete Wege zu finden —, dann wird — vielleicht nicht schnell, vielleicht aber in einer Periode geduldig ertragener Jahre — eine Lösung möglich sein. Wenn ihre Absicht allerdings ist, über diesen oder jenen Plan, über die Phase der Koexistenz, über die innere Auflösung der NATO oder über die Auflösung der NATO unter dem Terrordruck der Atompanik die Herrschaft über Europa als vorletzte Stufe vor dem Endkampf mit den USA zu erringen, dann tun wir gut daran, das Potential der freien Welt nicht zu schwächen, damit wir diesen Plan durchkreuzen, d. h. dem Mörder in den Arm fallen können.

(Beifall bei den Regierungsparteien.) Soviel zur zweiten Hypothese.

Die dritte Möglichkeit liegt in der Frage: Wissen die Sowjets selbst nicht, was sie wollen, und können wir Einfluß darauf nehmen, daß sie das eine oder andere wollen? Ich glaube, die sowjetische Politik hat bisher nicht bewiesen, daß die Sowjetunion nicht weiß, was sie will. Immerhin — daran kann man einfach nicht vorbeigehen; es hat gar keinen Sinn, in Entrüstung nach dieser oder jener Seite zu sprechen — tritt der expansive Weltkommunismus, der kommunistische Imperialismus immer noch in drei Erscheinungsformen auf. Eine Erscheinungsform ist der sowjetische Staat, der sich der Mittel der Diplomatie, der Außenpolitik, der Kulturpolitik, der Sportförderung, der wirtschaftlichen Beziehungen, des Außenhandels usw. bedient. Eine andere Form ist die Kommunistische Internationale. Was würde man heute sagen, wenn irgendein Staat auf der Welt, sagen wir die USA oder Großbritannien, eine bestimmte ideologisch fundierte Parteiorganisation hätte, eine sozialrevolutionäre oder religiösrevolutionäre Parteiorganisation hätte und in achtzig oder neunzig Ländern der Welt Parteien dieser Art unterhielte, deren Funktionäre regelmäßig in der Zentrale zusammengerufen, dort mit Material, mit Anweisungen, mit moralischer Rückendeckung versehen und dann wieder zurückgeschickt werden, um zu Haus die bestehende Gesellschaftsordnung sobald wie möglich und notfalls auch auf dem Wege der Gewalt umzustürzen?! Das ist doch bis zur Stunde bei der Kommunistischen Internationale noch der Fall!

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Man könnte darüber reden, wie die Situation wäre, wenn Moskau das einstellte, wenn man nicht mehr die Agenten für Afrika, Asien und Südamerika schulte, wie es heute noch geschieht. Tausende von Agenten werden geschult, Hunderte gehen monatlich hinaus. Sie wissen doch selbst, was in Afrika geschieht — nicht ohne Schuld gewisser anderer Mächte —, was in Südamerika, in gewissen asiatischen Bereichen geschieht. Das ist doch Aggression! Niemand behauptet, daß die Sowjetunion so plump ist wie Hitler, ein militärischer Aggressor zu sein.

(Abg. Majonica: Das ist sie auch gewesen!)

— Herr Kollege Majonica, für die Sowjetunion ist die militärische Aktion nur ein Ausschnitt aus der reichhaltigen Palette ihres Instrumentariums.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wenn es ohne Gewalt und ohne Tote abgeht, ist es ihr lieber.
Sie will aber auch das Risiko bemessen halten, und darin liegt unsere Chance, die Chance für unsere Sicherheitspolitik. Darin liegt auch die Chance für eine Lösung auf dem Wege zur Abrüstung, zur Entspannung und all dieser Probleme. Die Sowjetarmee ist sicherlich nur ein Werkzeug der politischen Strategie, sie ist nicht der Sinn und der Inhalt der politischen Strategie.
Deshalb, meine Damen und Herren von der Opposition, bitte ich Sie, zu der Frage — die Sie mir nicht übelnehmen und nicht als eine Suggestivfrage oder meinungsbildende oder beeinflussende Frage auffassen wollen —, ob nach Ihrer Meinung nach wie vor und unverändert eine sowjetische Gefahr besteht und ob es nötig ist, sich gegen sie zu schützen, ganz klar Stellung zu nehmen.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das hat nichts mit einer billigen Identifizierung oder Unterstellung zu tun. Man kann sich — wie in England die Sozialisten gegenüber Hitler es in den dreißiger Jahren getan haben — moralisch und politisch himmelweit von einem System unterscheiden und trotzdem nicht die rechtzeitige Vorsorge treffen, sich vor einem Übergreifen dieses Systems zu schützen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn diese Frage beantwortet wird, sollte man nicht Ausdrücke gebrauchen wie die, daß die sowjetische Armee oder die Gefahr der Sowjetunion von dem Bundeskanzler, der Regierung und den Regierungsparteien als Kinderschreck an die Wand gemalt werde. Die Frage ist nicht die, daß wir die Rote Armee brauchen, um damit unsere Politik zu rechtfertigen. Unsere Politik ist so, weil die sowjetische Strategie sich bisher so verhalten hat.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Ursache und Wirkung!




Bundesverteidigungsminister Strauß
Zu der Frage „verhandeln oder nicht" habe ich mich schon geäußert. Selbstverständlich verhandeln! Ich begehe keine Fahnenflucht und brauche auch nachher kein pater peccavi zu sagen, wenn ich ein Wort aufgreife, das aus Ihren Reihen kommt: Lieber zehn Jahre verhandeln, als einen Tag Atomkrieg führen! Darüber, glaube ich, gibt es gar keine Meinungsverschiedenheit. Aber wenn man mit den Sowjets verhandelt, muß man wissen, mit wem man verhandelt. Und wenn man weiß, mit wem man verhandelt, dann ist es nur eine Feststellung von Tatsachen, wenn ich sage, daß die Sowjetunion seit 1925 58 Verträge, Vereinbarungen und Abkommen politischen Inhalts mit fremden Regierungen geschlossen und davon 47 gebrochen, verletzt oder ohne Verhandlungen einseitig gekündigt hat.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Von 11 Nichtangriffspakten hat sie 10 gebrochen, davon 4 nach 1945, von 18 Bündnissen 15, davon 11 nach 1945. Die Sowjetregierung hat 6 Friedensverträge abgeschlossen, davon mittlerweile 3 gebrochen. Von sämtlichen in Jalta getroffenen Abkommen ist ein einziges eingehalten worden, nämlich die Zusage, in den Krieg gegen Japan einzutreten,

(Lachen in der Mitte)

und das ist geschehen im August 1945, um noch rechtzeitig an der asiatischen Beute beteiligt zu werden.

(Zuruf des Abg. Wehner.)

— Das ist doch nicht zu bestreiten! Deshalb geht es nicht um die Frage „verhandeln oder nicht", sondern um die Frage der Verhandlungsplattform und der Verhandlungsbasis und die Frage der zu fordernden Garantien.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Darüber sollte man, ganz gleich, wie man sich im Tenor verhält, sich eigentlich einig sein und gar keinem Zweifel hingeben.
Die wirkliche Sicherheit — ich muß auch hier dem zustimmen, was Herr Kollege Erler in einer der letzten Debatten gesagt hat — liegt heute nicht mehr im Technischen, sie liegt auch nicht mehr im Militärischen. Es gibt gegen diese Waffen keine Sicherheit im technischen Sinne, wenn sie einmal angewendet werden. Man soll sie auch nicht verniedlichen, sondern ganz offen sagen, was ein weltweiter, globaler, totaler, nuklearer Krieg bedeuten würde. Die Sicherheit liegt heute nicht mehr im Militärischen; sie liegt sicher und sie könnte liegen im Moralischen, wenn die Maßstäbe gemeinsam sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Der Weg dazu liegt in der Politik. Der Beweis dafür liegt in der Bereitschaft zur kontrollierten Abrüstung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich möchte drei Gesichtspunkte nennen, die leicht, isoliert für sich allein gegriffen, wieder in der üblichen Art, einen Satz herauszunehmen, gegen den Urheber verwendet werden können. Weder Abrüstung noch Frieden noch Wiedervereinigung sind
absolute Werte. Abrüstung im Sinne einer einseitigen Abrüstung, daß man selbst keine Waffen hat, können wir jederzeit haben, wenn wir wollen.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Frieden in dem Sinne, daß man sich nicht zu wehren braucht oder sich nicht mehr wehren kann können wir auch jederzeit haben. Aber auch Frieden ist kein absoluter Wert; er kann nur ein relativer Wert sein. Und Wiedervereinigung? Ich gebrauche einen völlig eigenen Gedankengang: Ist es denn wirklich die Wiedervereinigung, die uns in erster Linie drängt, quält, bedrückt und treibt? Es ist doch weniger die Wiedervereinigung im Sinne der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands; es ist doch mehr das Herzensanliegen der Wiederherstellung demokratischer und menschenwürdiger Zustände in diesem Gebiet.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Es gab nach dem ersten Weltkrieg ja auch ein Wiedervereinigungsproblem anderer Art: Zusammenschluß zwischen der Weimarer Republik, zwischen dem Deutschen Reich und Osterreich. Wir wissen, daß das Wiener Parlament, ich sage es jetzt aus dem Gedächtnis, ich glaube, 1919 einstimmig beschlossen hat, den Anschluß an das Deutsche Reich zu vollziehen. Wir wissen ebenso sicher, daß dank der Genialität der deutschen Politik in absehbarer Zeit wohl kein Wiener Parlament noch einmal dasselbe beschließen würde.

(Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

Aber der Zusammenschluß zwischen Deutschland und Österreich war ein Herzensanliegen von Millionen von Menschen, bis er von einem Verbrecher mißbraucht wurde. Angenommen, die Weltmächte, die großen Siegermächte hätten das Programm gehabt — das sie auch hatten —, aber: konsequent durchgesetzt, nach dem Kriege diesem Deutschland die Möglichkeit zu nehmen, eine Kräftekonzentration zu bilden, ein Deutschland, von dem aus wieder ein Krieg gestartet werden kann, und sie hätten uns auferlegt, bis zum Jahre X unter Herstellung völlig freiheitlicher Zustände die drei westlichen Besatzungszonen unter einem Staat zu haben, dazu die heutige sowjetische Besatzungszone, sagen wir, in einem Staatswesen, wie es heute Österreich darstellt, mit den dort bestehenden Verhältnissen, mit der dort bestehenden großen Koalition, mit dem dort herrschenden politischen Proporz und mit dem dort herrschenden System Raab-Schärf oder RaabPittermann — ja, wäre dann die Frage der Wiedervereinigung für uns das Gewissensproblem, das es heute ist? Darum ist „Wiedervereinigung" für sich allein irreführend, es ist die Wiederherstellung demokratischer Zustände und menschenwürdiger Verhältnisse in diesem Gebiet.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Darf ich im zweiten Teil meiner Ausführungen etwas zum Zweck unseres Verteidigungssystems sagen. Kollege Arndt. Kollege Mende haben heute, wenn auch mit ganz drastisch unterschiedlichen Nuancen, bestimmte Auffassungen vertreten. Wenn



Bundesverteidigungsminister Strauß
man diese Debatte heute hört, dann möchte man oft ein beklemmendes Gefühl empfinden, ein beklemmendes Gefühl, als ob die berechtigte Furcht vor der Wirkung der nuklearen und der thermonuklearen Waffen als politischer Explosivstoff für die Sowjetstrategie bereits gewisse Erfolge bei uns errungen hätte — die berechtigte Furcht!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Was ist der Zweck des Bündnissystems, in dem wir uns befinden? Ich habe heute ausgeführt, daß es sowohl der Natur der Regierungen, der Natur der politischen Systeme der Mitgliedstaaten wie auch der Natur des Bündnissystems nach unmöglich ist, mit diesem Bündnis einen aggressiven oder gar einen präventiven militärischen Akt zu unternehmen. Ich glaube auch, daß ich keine besondere Legitimation vom Regierungschef brauche, wenn ich sage,

(Abg. Dr. Mommer: Vorsicht!)

daß die Bundesregierung und — ich glaube, ich brauche auch keine formelle Zustimmung der Mehrheitskoalition in diesem Hause — daß auch die Koalition niemals in ein militärisches Bündnis eintreten würden, dessen Zweck es wäre, politische Ziele mit Gewaltanwendung zu erreichen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir sprechen damit ein klares Nein zur Gewaltanwendung als einem Mittel der Politik.
Der Zweck dieses Bündnisses ist es — solange die Verhältnisse so sind, wie sie sind und wie sie nicht durch Interpretation oder subjektive Analyse geändert werden können —

(Sehr richtig! in der Mitte)

nicht, einen kommenden Krieg zu gewinnen, sondern ist es, den Ausbruch des dritten Weltkrieges unmöglich zu machen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Der Kollege Arndt hat heute auch in die Geschichte zurückgegriffen und hat davon gesprochen, daß ja auch im Jahre 1914 Demokratien in den Krieg hineingeschlittert sind, in Verblendung hineingeschlittert sind. Das ist richtig. Damals gab es in allen Staaten einen hochexplosiven Nationalismus, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, auch in Rußland, auch anderswo. Damals glaubte man, Territorialprobleme geringeren Umfangs mit Blut und Eisen lösen zu müssen. Diese Zeit ist längst vorbei. Der zweite Weltkrieg wäre nicht gekommen, wenn ihn nicht Deutschland eröffnet hätte und wenn man nicht der deutschen Politik unter der Leitung eines verbrecherischen Subjekts die Möglichkeit gegeben hätte, ihn zu eröffnen.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU. — Abg. Mattick: Wo bleibt der Beifall?)

— Ich glaube, die Dinge sind zu ernst, als daß man darüber lachen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich gehöre zwar nicht zum Klub der unschuldigen HJ-Leute, aber man kann diese nicht für schuldig
erklären, ganz bestimmt nicht. Meine Generation — das darf ich mit dem Kollegen Mende sagen — ist damals nur sehr passiv und beobachtend beteiligt gewesen. Aber es geht heute nicht um Schuld oder Unschuld, die man von damals heute noch nachträglich verteilen soll, sondern es gilt, aus diesen Dingen zu lernen.

(Beifall in der Mitte.)

Und den Elementen im westlichen Ausland, die die Gefahr Hitler immer unterschätzt haben, eine Vorbereitung der Abwehr gegen ihn verhindert oder verzögert haben, ist das Lachen vergangen, als seine Panzer vor den Toren von Paris und am Kanal standen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Da konnte keiner mehr etwas dagegen unternehmen.
Ich weiß, wie gefährlich der Irrealis in der Politik, der Rückblick auf die Historie ist. Ich bin heute noch fest davon überzeugt: hätte Hitler im Jahre 1939 gewußt, daß der Überfall auf Polen den Krieg und die Vernichtung Deutschlands bedeuten würde, er hätte ihn nicht angefangen, obwohl er ein Verbrecher war. Sogar das muß und kann noch in das Kalkül eingestellt werden. Die Ungewißheit darüber, ob ihm die freie Welt energisch entgegentreten wird, hat ihn zu dem Abenteuer verführt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, sage ich: das hat mit der subjektiven Frage der Moral und der Schuld bei ihm gar nichts zu tun. Denn man kann auch nicht einem Hausbesitzer die Schuld an einem Mord geben, wenn er seine Tür nicht verriegelt, aber man kann ihm sehr wohl Fahrlässigkeit und Saumseligkeit vorwerfen, wenn es sich um ein gefährdetes Viertel handelt.
Die Frage, vor der wir heute stehen, wie man einen dritten Weltkrieg verhindern kann, wo sich immerhin Waffen von einem kontinentalen Zerstörungsausmaß in den Händen auch skrupelloser Machthaber befinden, kann man nur damit beantworten, daß der Krieg verhindert werden kann, wenn der Angreifer weiß, daß der Angriff auf irgendein Mitglied des Bündnisses — ein großes oder ein kleines, ein schwaches oder ein starkes Mitglied — den Rückschlag sämtlicher Kräfte des gesamten Bündnisses auslösen würde.

(Sehr wahr! in der Mitte.)

Meine Damen und Herren, auch wenn man es uns oft nicht gern glaubt, sage ich: was wäre uns lieber, als anders zu sprechen! Aber die Wasserstoffbombe und überhaupt die nuklearen Waffen befinden sich in den Händen der Sowjets. Die Rakete von über 1000 km Schußweite ist in Einführung bei der Truppe, die Mittelstreckenrakete wird es in kurzer Zeit sein. Die interkontinentale Rakete mit einem sich ständig vervollständigenden Arsenal von Wasserstoffköpfen wird ebenfalls in wenigen Jahren in den Händen der Sowjets sein. Die haben das doch nicht getan, weil wir in die NATO eingetreten sind, — um heute dieselbe Frage noch einmal in anderem Zusammenhang zu stellen. Wir müssen den Sinn dieses Bündnisses, der darin liegt, den dritten Welt-



Bundesverteidigungsminister Strauß
krieg zu verhindern, durch unseren aktiven Beitrag erfüllen helfen.
Kollege Erler hat in zwei Verlautbarungen — die eine war, glaube ich, in der Neuen Rhein-Zeitung und die andere war eine Wiedergabe seiner Äußerungen in der Neuen Welt — zum Ausdruck gebracht, daß die Aufgabe der Bundeswehr darin bestehe, ein Gegengewicht zur Ulbrichtschen Volksarmee zu schaffen, und daß das unsere militärische Zielsetzung, sei es im Bündnis, sei es außerhalb des Bündnisses, sei. Sicherlich befinden sich in der Sowjetzone mehr Bewaffnete als in der Bundesrepublik, und sicherlich befanden sich schon viele Jahre, bevor bei uns mit der Verteidigung begonnen wurde, militärische Einheiten in der Sowjetzone. Aber ich möchte auch hier versuchen, ein sehr realistisches Bild zu bieten: Wir trauen diesen Einheiten nicht sehr viel Kampfkraft zu, weil ihnen, wie es sich am 17. Juni 1953 gezeigt hat, die innerliche, moralische Berechtigung für eine militärische Verwendung fehlt, so daß sie keine zuverlässigen Einheiten wären, sicherlich dann nicht, wenn der erste Rückschlag gekommen wäre. Unsere Aufgabe ist nicht, Herrn Ulbricht ein Pari zu bieten. Unsere Aufgabe ist es, die kriegsverhindernde Barriere, die kriegsabschreckende Wirkung der Gesamtbündnisstaaten um unseren Anteil zu erhöhen und um dieses Maß auch die Aussicht zu erhöhen, den dritten Weltkrieg nicht erleben zu müssen.

(Beifall in der Mitte.)

Ich weiß, wie schwer es erstens ist, die Strategie der indirekten Verteidigung selber konsequent zu durchdenken — es ist ungeheuer schwer —, und zweitens, diese Strategie verständlich zu machen. In beidem sind Sie uns in der Opposition hinsichtlich der vulgären Wirkungskraft der Argumente ohne Zweifel voraus.
Die Strategie der indirekten Verteidigung beruht darauf, daß man das, was man früher aufgeboten hat, um einen Krieg zu gewinnen, heute aufbieten muß, um ihn zu verhindern. Im ersten und im zweiten Weltkrieg fielen die militärischen Entscheidungen immer so, daß wir die Blitzsieger in der ersten Phase waren, daß es in der zweiten Phase ein Hin und Her gab und daß wir in der dritten Phase regelmäßig die „zweiten Sieger" waren.
Die technische Entwicklung, die Zerstörungskraft der Waffen, die Schnelligkeit, mit der sie getragen werden, bieten heute einem Angreifer, der ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung seines Landes und die politische Struktur seiner Nation losschlagen kann, ungeheure Vorteile, Deshalb muß, solange die Sowjetunion nach der Analyse der Lage, nach der Prüfung der politischen Situation fähig ist, einen solchen Angriff zu unternehmen, und solange sie nach der Mentalität ihrer Machthaber auch keine Garantie dagegen bietet, die kriegsverhindernde Wirkung des Bündnisses aufrechterhalten werden. Anders läßt sich eine deutsche Sicherheitspolitik nicht machen.
Wir wissen doch aus der Vergangenheit, daß der frühere deutsche Generalstab das Rundumdenken hatte. Da hat man die Fälle Anton bis Zeppelin — Blau, Gelb, Weiß, Grün usw. — gehabt, und da hatte
man eine Lösung für Westen und Osten — und nun kam der Norden noch hinzu — in Generalstabsstudien niedergelegt. Die Zeit der Auseinandersetzung der europäischen nationalstaatlichen Demokratien oder auch nichtnationalstaatlichen Demokratien ist historisch vorbei. Es gibt heute für die militärische Vorbereitung zur Verhinderung eines Krieges nur mehr einen einzigen Fall; das ist der Fall Rot und sonst kein Fall mehr auf der ganzen Welt.

(Beifall in der Mitte.)

Der Kollege Arndt hat heute zum Ausdruck gebracht, man müsse eine Zone der Entspannung schaffen, um von da aus das Problem der Abrüstung anzugreifen. Er hat sich zu einem gefährlichen Wort verstiegen — ich glaube, ich habe es richtig niedergeschrieben —, als er sagte, daß der Versuch, zu einem umfassenden Abrüstungsabkommen zu gelangen, identisch damit ist, die Abrüstung unmöglich zu machen.

(Abg. Wehner: Da haben Sie aber schlecht mitgeschrieben!)

— Wer ein umfassendes Abrüstungsabkommen verlangt, verhindert damit einen wirksamen Schritt zur Abrüstung. Ich zitiere es jetzt einmal sinngemäß; ich bin jederzeit bereit, mich belehren zu lassen. Aber der Sinn war der: Ihr verlangt zuviel in der Regierung, und darum kann auch nicht der Anfang gemacht werden. Das war doch der Sinn dieser Ausführungen.
Nun, es ist gar kein Zweifel, daß es nicht möglich sein wird, in einem Übergang von 24 Uhr bis 0 Uhr eine umfassende Abrüstung zu erlangen. Es ist ganz klar, daß sowohl die Verhandlungen über die Abrüstung lange Zeit erfordern — das hat die Vergangenheit ja bewiesen; das Ergebnis war gleich Null —, aber daß auch die Durchführung einer solchen Abrüstung mit all den Institutionen, die eingesetzt werden müssen, lange Zeit dauern würde. Die Frage ist nicht die, ob man einem ersten Schritt zustimmt oder nicht, sondern die Frage ist die, ob man einem ersten Schritt nur dann zustimmt, wenn der zweite und der dritte Schritt nach aller politischen Wahrscheinlichkeit damit verbunden sind. Das ist die entscheidende Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe in einer Fraktionssitzung meiner Partei persönliche Überlegungen, die im Zusammenhang mit dem Rapacki-Plan entstanden sind und auf die Herr Kollege Mende heute Bezug genommen hat, erwähnt. Sie sind in die Öffentlichkeit gedrungen. Ich habe keine Bedenken getragen, sie auch in einem Artikel als Überlegungen über die Punkte, über die man sprechen müßte, darzulegen. Alle Überlegungen führen dazu, daß eine geographische Teillösung für die Abrüstung eine geographische Entwaffnung ist; denn die modernsten konventionellen Waffen ergeben im Verhältnis zu den Atomwaffen mindestens dieselbe Proportion wie eine Armbrust im Verhältnis zu einem Maschinengewehr. Wahrscheinlich stimmt dieser Vergleich noch nicht einmal in den Dimensionen. Eine geographische Entwaffnung, mit der nicht der vertragsmäßige Zwang verbunden ist, die Stufe 2 und die Stufe 3 einzuführen, ist nichts anderes — es tut mir leid, das sagen zu müs-



Bundesverteidigungsminister Strauß
sen — als eine entscheidende militärische Schwächung der NATO in Europa, eine Verstärkung der kriegsanziehenden Wirkung und eine Ausschaltung Deutschlands aus den politischen Ereignissen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Vorsitz: Vizepräsident Dr. Jaeger.)

Nun, Herr Kollege Mende, muß ich auf einige Fragen von Ihnen eingehen, soweit ich es kann. Aber die Opposition hat in ihrer Gesamtheit wirklich keinen einheitlichen Zungenschlag. Als Herr von Eckardt einmal sagte, der Bundeskanzler lehne den Rapacki-Plan ab, er habe sich ein Gutachten militärischer Sachverständiger eingeholt, da hieß es: Aha, die Generäle machen wieder Politik, und die Bundesregierung und ihre Abgeordneten sind nichts anderes als nur die Willensvollstrecker der Generalstabsoffiziere. Auf der anderen Seite der Opposition des Hauses tönt es umgekehrt: Die Generäle sind ja für den Rapacki-Plan, aber die Politiker ziehen nicht mit; man solle den Generälen doch dann folgen, wenn sie positiv dazu ständen. Könnten Sie sich vielleicht unter sich einmal einigen, wofür wir sein sollen? Das wäre eine geschlossene Antwort.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD: Sehr billig!)

— Diesen Ausdruck muß ich ablehnen. Sie haben den Vorwurf erhoben, der Bundeskanzler habe sein Urteil getreu dem Vorschlag der Generäle gebildet. Herr Kollege Mende hat gesagt, er habe brauchbare Anhaltspunkte dafür, daß die Politiker den RapackiPlan ablehnten und die Generäle und Generalstabsoffiziere des Bundeswehrführungsstabs ihn partiell weitgehend empfohlen hätten. Das ist doch nur eine Feststellung von Tatsachen und nichts anderes.
Ich habe das Original sogar bei mir. Die Zusätze, Herr Kollege Mende, die ich gemacht habe — ich bin bereit, sie Ihnen im Original zu zeigen —

(Abg. Schmidt [Hamburg]: Das dürfen Sie nicht! Der Kanzler hat das untersagt!)

— doch, darf ich schon; wir sind ja in einer CDU-Regierung —;

(Beifall bei der CDU/CSU)

erstrecken sich auf zwei Punkte. Ich habe als Zusatz 1, Herr Kollege Mende, den Bundeswehrführungsstab darauf aufmerksam gemacht, daß es angesichts des Vorhandenseins von Mehrzweckewaffen — Sie wissen, was damit gemeint ist — in den Händen der Amerikaner und Briten und ganz sicher auch drüben, Artillerie und Raketen, und angesichts des geringen Gewichts von taktischen Atomsprengkörpern auch unter der strengsten Kontrolle möglich ist, auf dem Luft- oder Landweg überraschend Atomsprengkörper in diese Zone zu bringen; man möchte das mit aufnehmen. Die zweite Bemerkung hieß: Dieses Gutachten nimmt nicht Stellung zur politischen Seite des RapackiPlans, weder zur Frage der Auswirkung gegenüber dem Osten, noch zur Frage der Auswirkung gegenüber dem Westen. Ich habe das ausdrücklich eingefügt — und so ist es dem Herrn Bundeskanzler
übergeben worden —, um festzulegen, daß der Bundeswehrführungsstab ausschließlich die militärischen Argumente pro und kontra liefert, die der Politiker braucht und die der Staatsmann braucht, um seinen Entschluß fassen zu können, nicht mehr und nicht weniger. So viel zur Beherrschung der Politik durch die Generäle oder zu den militaristischen Politikern!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301802500
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt (Hamburg)?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301802600
Bitte sehr!

Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0301802700
Herr Bundesminister, würden Sie, um die Zitate aus diesem Gutachten zum Rapacki-Plan in bezug auf ihre Glaubwürdigkeit

(Zurufe von der Mitte)

— Sie wissen ja noch gar nicht, was ich sagen will!
— noch stärker zu fundieren, bereit sein, das Gutachten vollständig, mit Ihren Randbemerkungen, dem zuständigen Ausschuß dieses Hauses zur Verfügung zu stellen?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301802800
Selbstverständlich nein.

(Heiterkeit und Beifall in der Mitte.)

Ich begründe das Nein auch. Das Nein ist nicht einmal materieller Art, das Nein ist formeller Art. Wenn der Regierungschef vom Verteidigungsminister oder von einem Ressortminister ein Gutachten für seine Zwecke, für seine politischen Überlegungen anfordert, ist der Inhalt dieses Gutachtens nicht in der Verfügungsgewalt und der Verfügungsberechtigung des einzelnen Ressortministers.

(Sehr richtig! in der Mitte. — Zuruf von der SPD: Fragen Sie den Chef!)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301802900
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mende?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301803000
Gern!

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0301803100
Herr Kollege Strauß, soll das soeben Gesagte bestätigen, daß in dem Gutachten des Bundeswehrführungsstabes nicht nur negative, sondern also auch positive Elemente aus dem Rapacki-Plan festgestellt sind?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301803200
Ihre eigenen Kenntnisse und Erkenntnisse als Militärexperte einer beträchtlichen Partei

(Heiterkeit in der Mitte)

machen es Ihnen doch selbstverständlich, Herr Kollege Mende, daß es bei diesem Plan nicht nur Nachteile gibt, sondern daß es natürlich auch Vorteile gibt, daß aber entscheidend ist, welche Argumente schwerer wiegen.

(Abg. Dr. Mende: Eine Zusatzfrage!)




Bundesverteidigungsminister Strauß
Wenn die Sowjetarmee im Gefolge des RapackiPlans die Sowjetzone und Polen verlassen würde, wäre manche militärische Sorge akuter Art behoben.

(Abg. Erler: Hört! Hört!)

Aber es gibt gegenteilige Folgen, über die man jetzt hier nicht im einzelnen diskutieren kann. Ich bin im Ausschuß gern dazu bereit. Auch der Herr Bundeskanzler ist damit einverstanden — wie er in seiner Antwort dem Kollegen Jaeger als dem Vorsitzenden des Ausschusses schon mitgeteilt hat —, daß der Standpunkt des Bundeswehrführungsstabes mit den Pro- und Kontraargumenten im Ausschuß behandelt wird.

(Abg. Wienand: Aber nur mündlich!)


Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0301803300
Wenn dem so ist, Herr Bundesverteidigungsminister, wie erklären Sie sich dann, daß dieses Antwortschreiben, wonach man uns das Gutachten wohl mündlich erstatten, es uns aber nicht schriftlich geben werde, erst zwei Monate später nach unserer Anfrage hier und ausgerechnet heute in der Debatte uns auf den Tisch gelegt wurde?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301803400
Ich habe vom Kollegen Merten in Vertretung des Kollegen Jaeger seinerzeit ein Schreiben bekommen. Ich habe einige Tage darauf dem Kollegen Merten geantwortet, ich sei über dieses Gutachten nicht verfügungsberechtigt, es sei für den Herrn Bundeskanzler erstattet worden, und der Herr Bundeskanzler könne allein darüber verfügen. Das ist ein formell und materiell absolut richtiger Standpunkt. Wann dann der Verteidigungsausschuß an das Bundeskanzleramt geschrieben hat, weiß ich nicht. Aber auf das Schreiben vor zwei Monaten hat der Ausschuß innerhalb kürzester Frist eine Antwort bekommen.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301803500
Herr Bundesminister, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erler?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301803600
Wenn ich dann später weiterreden darf, ja.

(Heiterkeit.)


Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301803700
Meine Frage ist sehr kurz, Herr Minister. Darf ich Ihre soeben gemachten Ausführungen so verstehen, daß Sie nun Ihren ganzen Einfluß bei dem verfügungsberechtigten Herrn Bundeskanzler dahin aufbieten werden, daß der Herr Bundeskanzler nun von sich aus doch noch die Zustimmung dazu gibt, dem Ausschuß das Gutachten vorzulegen?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301803800
Das sind Modalfragen, Herr Kollege Erler. Ich werde aber dafür sorgen, daß Sie im Ausschuß sämtliche Gesichtspunkte dieses Gutachtens ohne Ausnahme
zur Kenntnis bekommen, die positiven und die negativen.

(Abg. Erler: Was ist denn dann für ein Unterschied?)

— Ja, Sie sind an der falschen Adresse. Es ist aber auch tatsächlich falsch. Der Regierungschef muß ein Gutachten von Ressortministern für seine politischen Überlegungen, für seine politische Entschlußfassung anfordern können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn er dann schriftlich erklärt, wie es in dem Brief an den Kollegen Jaeger geschehen ist, den ich heute morgen oder gestern gesehen habe, daß er einverstanden ist, daß der Verteidigungsminister und seine Mitarbeiter das Gutachten in — ich weiß die genaue Formulierung nicht mehr — all seinen Teilen dem Verteidigungsausschuß zur Kenntnis geben und zur Diskussion unterbreiten, dann ist doch, glaube ich, Ihrem sachlichen Anliegen Rechnung getragen.
Die erste Frage, die ich gestellt habe, war die: Gibt es eine Gefahr? Darauf sollte jede demokratische Partei nicht nur im Ausland, auch in Deutschland eine ganz klare Antwort im Sinne des uneingeschränkten Ja geben, was leider auszusprechen ist.
Wenn diese Frage eins bejaht werden muß. muß man auch eine Frage zwei stellen. Die Frage zwei, an die Adresse der Opposition gerichtet, heißt: Halten Sie eine Verteidigung des Friedens und der Freiheit mit allen Mitteln einschließlich auch der atomaren Waffen für notwendig? Die Frage muß gestellt werden.

(Zurufe von der SPD: Nein!)

— Die Frage muß gestellt werden; davon befreit uns niemand.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Frage ist keine Suggestivfrage. Sie erfordert leider eine der dramatischsten Überlegungen sämtlicher Verantwortlicher in dieser Welt und gerade derer, auf die wir uns verlassen müssen,

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! — Auch der Sozialdemokraten!)

Meine Damen und Herren, wenn Sie an der Regierung sind, bleibt Ihnen eine Antwort auf diese Frage zumindest vor sich selber nicht erspart. Geben Sie sie ruhig in der Öffentlichkeit, mit Ja oder mit Nein.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die nächste Frage in diesem Zusammenhang ist: Erkennen Sie für diesen Zweck die Verteidigung von Frieden und Freiheit im Sinne einer Verhinderung des dritten Weltkrieges, erkennen Sie bis zu einer allgemeinen, kontrollierten Abrüstung die Berechtigung von Atomwaffen, um den Angreifer, bevor er seinen Entschluß faßt, an der Auslösung des Entschlusses zu hindern, an oder nicht?

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)




Bundesverteidigungsminister Strauß
Wenn nämlich diese Frage von Ihnen mit Nein beantwortet würde — ich sage nur, wenn —, müßten Sie zu all den Konsequenzen, die in dem Buch von Stephen King-Hall über gewaltlosen Widerstand gegenüber einer einmarschierten und im Besitz der Gewalt befindlichen Besatzungsarmee dargelegt sind, bereit sein. Der einzelne — ich kann und will auch nicht theologische Argumente anführen — mag für sich den Rigorismus aufbringen, zu sagen: Ich nehme das auf mich. Die Staatsführung kann das nie.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich weiß, meine Damen und Herren, daß Ihnen die Antwort darauf als eine einheitliche Meinung Ihrer politischen Gruppe nicht leicht fällt. Auch bei uns gibt es Stimmen, wenn auch wahrscheinlich weniger, die nicht einer einheitlichen Linie das Wort sprechen. Aber bei Ihnen gibt es ohne jeden Zweifel eine ganze Reihe von Mitarbeitern, die keine Kommunisten sind, in keiner Weise etwas mit dem Bolschewismus zu tun haben, aber vor dieser Konsequenz die Waffen strecken und bereit wären, lieber die Folgen eines solchen Regimes auf sich zu nehmen, als der' Widerstand mit allen Mitteln, schon zu dem Zwecke, daß er nicht geleistet zu werden braucht, anzukündigen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Aber was der subjektive Standpunkt des einzelnen sein mag, das kann niemals die verantwortliche politische Generallinie sein. Denn wir sind verantwortlich für fünfzig und indirekt für siebzig Millionen Deutsche, dieses Schicksal von ihnen — dieses oder jenes — fernzuhalten.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die nächste Frage, die zu stellen ist. Diese Fragen stehen in einem inneren Zusammenhang, und wenn sie heute, in dieser Debatte, nicht ausdiskutiert werden können, werden sie uns weiter und weiter . beschäftigen. Herr Kollege Arndt, ich kann Sie beruhigen: so pressiert es nicht, wie Sie es heute dargestellt haben. So schnell schießen nicht einmal die Preußen, geschweige denn die Bayern, wie Sie den „Fahrplan" der Atombewaffnung heute dargestellt haben. Darum geht es nicht. Ich werde Ihnen darum Rede und Antwort stehen, weil ich der Meinung bin, daß dieses Parlament den Anspruch darauf hat, zu hören, was vor sich geht.

(Zurufe von der SPD: Zu hören? Oder zu beschließen?)

— Zu hören, was — —

(erneute Zurufe von der SPD) Ich kann es nicht jeden Tag fragen.


(Abg. Mattick: Zu hören, was Sie beschlossen haben!)

— Ich habe für mich selbst gar nicht beschlossen, Herr Kollege Mommer. Das ist einer Ihrer nicht seltenen zahlreichen Irrtümer.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

Wenn man diese Frage stellt, kommt man zu der nächsten Frage: Sind Sie der Auffassung, daß man Frieden und Freiheit, wenn sie bedroht sind, auch nur mit konventionellen Waffen verteidigen sollte, und halten Sie das für möglich, das heißt, würden Sie den Streitkräften des Westens zumuten, einem erpresserischen politisch-militärischen ultimativen Druck einer Atomwaffen besitzenden Macht aus ethischen oder politischen Erwägungen nur den Widerstand mit konventionellen Waffen anzukündigen? Ich glaube, Sie brauchen gar keine Antwort zu geben. Wir haben uns dieses Problem — auch was den inneren Zusammenhalt der Bundeswehr und ihre Stellung innerhalb der Verbündeten betrifft — sehr wohl überlegt, und ich weiß sehr genau: Man kann keiner Truppe zumuten, mit Waffen, die um eine tausendfache Dimension schwächer sind als die des Angreifers, Widerstand zu leisten und ihre soldatische Pflicht zu erfüllen.
Ich weiß, daß Sie sagen: „Das haben die Amerikaner, und die sollen sie auch in Gottes Namen behalten. Dafür sollen allerdings die Amerikaner auch mit ihrer Sicherheitsgarantie und mit ihrer Verteidigungsbereitschaft uns zur Verfügung stehen." Man kann amerikanische Politik nur dann beeinflussen, wenn man sie mit den Amerikanern macht und wenn man nicht Politik gegen die Amerikaner macht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Kollege Ollenhauer, Sie wollen nicht Politik gegen die Amerikaner machen. Aber Sie geben sich mit Ihren politischen Freunden der Meinung hin, man könnte unsere Bundesgenossen zu dem politischen Weg, dem gefährlichen politischen Kurs bekehren, den Sie im Ollenhauer-Plan, oder wie er sonst noch genannt werden mag, für richtig halten und empfunden haben. Sie wissen sehr genau, warum Sie selber in den USA die Frage der Atomwaffen, die Frage der Entwaffnung der Amerikaner von Atomwaffen nicht so stark angeschnitten haben. War auch nicht Ihre Aufgabe!

(Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

Aber Sie wissen auch ganz genau, welch saures Gesicht Sie bekommen hätten in dem Augenblick, in dem Sie das als zukünftiges Programm einer Regierung Ollenhauer angekündigt hätten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Und Sie wissen auch ganz genau, warum der Berliner Bürgermeister Brandt — ein Mann, dem jedermann die politische und menschliche Achtung geben muß als einer sehr wirksamen Persönlichkeit, der einen beträchtlichen Popularitätserfolg in den USA errungen hat, wovon ich mich selber überzeugen konnte, ohne neidisch zu werden — auf die Frage sagte: „Der Sprecher des freien Berlin wäre schlecht beraten, wenn er einer Schwächung der Position des Westens in Europa das Wort reden würde".

(Lebhafter Beifall und Bravo-Rufe bei den Regierungsparteien.)

Er hat noch vieles andere gesagt; ich kann es nicht im einzelnen verlesen.



Bundesverteidigungsminister Strauß

(Abg. Wehner: Den zweiten Teil sagen Sie uns auch noch, Herr Strauß!)

— Ich habe ihn ja da:
Ich bin für die Bereitschaft, die uns umgebende Wirklichkeit immer wieder vorurteilslos zu überprüfen.

(Abg. Wehner: Gut!) Ich gehöre hier zu seiner Partei.

Ich bin für eine bewegliche, möglichst unorthodoxe Politik, jedoch nicht im Sinne von Wunschvorstellungen oder Kapitulationsstimmungen gegenüber dem Kommunismus,

(lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien)

sondern im Sinne der Sicherung des Friedens und einer Festigung des Lagers der Freiheit.
Diese Erklärung unterschreibe ich, und diese Erklärung unterschreibt jeder, der die Lage nüchtern sieht und den Mut und die Courage hat, daraus vor der Öffentlichkeit die Konsequenzen zu ziehen, die so heißen, wie wir es hier darstellen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Mattick: Stimmt es, daß Herr Brandt gesagt hat, er wäre für Atomwaffen?)

— Ich glaube, man kann in der SPD so viel Mut oder Bewegungsfreiheit auch vom Bürgermeister des freien Berlin nicht verlangen, daß er diese Konsequenzen daraus zieht.

(Zurufe von der SPD.)

Im übrigen ist das nicht Sache des Berliner Bürgermeisters. Der Berliner Senat hat mit den Stimmen der SPD mit Recht beschlossen, daß diese Frage nicht vor das Forum eines Landesparlaments, sondern vor das Bundesparlament gehört.

(Abg. Wehner: Darum misten Sie uns hier an!)

— Ich miste Sie nicht an. Das ist ein absolut richtiger, in der Konsequenz klarer Entschluß. Herr Kollege Wehner, warum fühlen Sie sich denn immer angegriffen, wenn ich sage, daß es nicht Sache des Bürgermeisters Brandt in den USA war, zu der Frage Stellung zu nehmen? Die Amerikaner haben ihm die Frage auch nicht gestellt. Und sie haben sie mit Recht nicht gestellt, weil man diese Frage dem Bürgermeister des freien Berlin nicht stellt. Es gibt verschiedene Fragen, die man nicht stellt, Herr Kollege Wehner

(Lachen in der Mitte und rechts — Zuruf des Abg. Wehner)

— ich bitte um einen Augenblick Geduld —, z. B. die Frage: Was soll im Falle eines sowjetischen Angriffs auf Berlin geschehen?

(Zurufe von der CDU/CSU: Heinemann!)

— Ich bin kein Panzerfahrer nach Berlin. — Mir ist die Frage einmal in einer Diskussion vor mehreren tausend Studenten gestellt worden. Was soll man darauf antworten? Ich habe darauf erwidert: Jede Antwort, die im Sinne eines Entweder-Oder
ergeht, ist falsch. Gebe ich die Antwort, Berlin wird um jeden Preis bis zur letzten Konsequenz mit Einsatz aller thermonuklearen Waffen verteidigt, dann kann das heißen, daß das Objekt, das man verteidigen will, nach der Verteidigung nicht mehr existiert. Sagt man aber: „Wir können unter diesen Umständen Berlin leider entweder nicht oder nur schwach verteidigen", dann kommt mit Recht der Protest von Berlin: „Also sind wir verloren, wenn die Sowjets ernsthaft zugreifen." Was bleibt dann übrig? Die Frage läßt sich nicht militärisch beantworten im Sinne einer direkten Strategie; die läßt sich nur im Sinne der indirekten Verteidigung beantworten. Die Sowjets müssen wissen: Wenn sie Berlin angreifen, ist damit für sie das Risiko des dritten Weltkriegs mit selbstmörderischen Folgen verbunden.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das ist die einzige Antwort. Wenn Sie den Rahmen nehmen, wie ich ihn aus einer Motivierung, aus der Verantwortung heraus dargestellt habe, aus einer natürlich der Unzulänglichkeit des Menschlichen unterliegenden Analyse der Gegenwart, aber mit viel mehr Wahrscheinlichkeit für Realistik, als sie auf Ihrer Seite ist, dann muß ich fragen: Was ist denn die Aufgabe der Bundeswehr? Es ist nicht ihre Aufgabe, den Kräften des Herrn Ulbricht pari zu bieten. Aufgabe der Bundeswehr ist es, zur Verstärkung der kriegsverhindernden Wirkung der freien Welt beizutragen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Herr Kollege Arndt hat gesagt, eine Entscheidung für die Ausstattung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen sei mit hoher Wahrscheinlichkeit identisch mit einer Entscheidung gegen die Wiedervereinigung. Ja, Herr Kollege Arndt, das hören wir doch von Ihnen und Ihren Freunden seit fünf oder sechs Jahren, seit der Montanunion, EVG, Pariser Verträgen, NATO, Wehrpflicht usw. Niemand kann sagen, wie weit uns diese Verträge und die Vertragserfüllung der Wiedervereinigung — denken Sie an meine vorhergehende Definition — nähergebracht haben. Aber eines können wir mit Sicherheit sagen, daß dadurch die Wiedervereinigung unter Hammer und Sichel unmöglich geworden ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Wehner: Es fing mit der Urabstimmung der Berliner Sozialdemokraten an!)

— Niemand bestreitet, Kollege Wehner, das geschichtliche Verdienst des Dr. Schumacher und das geschichtliche Verdienst, das die Sozialdemokraten in Berlin durch jene Urabstimmung haben. Ich habe mich bemüht, einiges darüber nachzulesen. Jene Abstimmung hatte zur Folge, daß die deutsche Sozialdemokratie in Berlin und die deutsche Sozialdemokratie in den drei Westzonen eine Fusion im Sinne einer einheitlichen Arbeiterbewegung mit der KPD nicht eingegangen ist. Ich bitte Sie, mir diese Kenntnis als selbstverständlich zu unterstellen. Es ist nicht meine Absicht, die Verdienste gegenseitig abzuwägen, sondern es geht darum, über die Richtigkeit oder Nichtrichtigkeit einer Poli-
Deutscher Bundestag 3. Wahlperiode — 18. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. März 1958 875
Bundesverteidigungsminister Strauß
tik bei einer schweren Entscheidung zu argumentieren. Das nehmen Sie für sich in Anspruch, und ich muß das als Verteidigungsminister auch aus meinem Gewissen heraus für mich in Anspruch nehmen. Ich bin nicht so einfach und primitiv, wie Sie manchmal glauben.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der SPD: Qui s'excuse s'accuse! — Lebhafte Gegenrufe von der Mitte.)

— Si tacuisses, philosophus mansisses!

(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wenn ich frage, was denn die Aufgabe der Bundeswehr ist, dann kann ich nur antworten, daß die Bundeswehr sich nicht aus dem Zusammenhang des Bündnissystems herauslösen läßt, wenn die Aufgabe der Verhinderung des dritten Weltkriegs, des Stopps des Weltkommunismus in seinem Vormarsch und der Schaffung einer Verhandlungsbasis erfüllt werden soll, einer Verhandlungsbasis nicht für Deutschland — die gibt es ja nicht allein —, sondern für die ganze freie Welt, für die Großen in dieser Welt, die auf unserer Seite stehen. Dann gibt es keine andere Aufgabe, als das Bündnissystem funktionsfähig zu machen, es durch unseren Beitrag stärker zu machen, statt es zu schwächen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. Abg. Altmaier: Glauben Sie, daß die Lage immer ernster wird?)

Ich könnte Ihnen, wie ich es im Verteidigungsausschuß gern tue, einmal ein detailliertes Bild nicht der politischen, aber der militärischen Entwicklung auf der anderen Seite geben. Danach besteht kein Zweifel, daß sich die Sowjetunion die Mittel für eine offensive Strategie verschaffen will, daß sie sich durch den Bau ihrer Fernluftwaffe, durch den Bau ihrer interkontinentalen Rakete und ihre propagandistische Ausnutzung, durch den Bau ihrer U-Boot-Waffe und die Einrichtung ihrer LT-Boote eine Bewaffnung schaffen will, um damit nach Ausschaltung des amerikanischen Bündnissystems den Endkampf mit den USA zu wagen.
Sie haben mich durch diese Frage auf das Thema gebracht. Es ist nicht eine Frage von heute oder vom nächsten Jahr, aber wir kennen das Tempo. Wir wissen ziemlich genau Bescheid über den Zuwachs in diesen Waffen. Ich kann nicht weitergehen, als das zu sagen; aber was ich sage, ist nicht meine private oder meine persönliche Argumentation, das ist sehr, sorgsam erarbeitet worden.
Wenn ich das aber sage, dann wissen wir genau, warum wir am amerikanischen Stützpunktsystem festhalten. Denn das heißt: Wenn die thermonukleare Abschreckungswaffe allein in den USA konzentriert ist, dann wäre es einem unmoralischen und skrupellosen Angreifer, der über thermonukleare interkontinentale Waffen verfügt, mit seinem ersten Schlag möglich, den Gegenschlag auszuschalten. Mit dem Augenblick, in dem er das weiß, ist die Gefahr, daß er das tut, sehr groß.

(Sehr richtig! bei den Regierungsparteien.)

Ist aber die Zahl der Stellen, von denen aus der Gegenschlag kommt — insbesondere der mobilen und der unter Wasser befindlichen Stellen; Herr Kollege Mende, Sie wissen, was ich meine —, so groß, daß dieser Angreifer das Ziel nicht erreichen kann, daß er weiß, er kommt nicht weiter, weder mit psychologischer Zersetzung noch mit einer wirtschaftlichen Offensive noch mit militärischer Drohung oder mit einem militärischen Präventivschlag, dann wird er auch die Konsequenzen daraus ziehen, kühl und eiskalt, wie sie die Sowjets immer gezogen haben, wenn es irgendwo nicht weitergegangen ist.
Aber wir haben uns das sehr genau überlegt, und wir wissen, warum wir zu diesem System stehen: weil wir einfach nicht anders können, ohne unser Volk in ein tödliches Risiko entweder des Krieges oder des Untergangs hineinzuführen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Hier wird auch häufig mit einer falschen Alternative gearbeitet, mit der falschen Alternative, wir hätten uns zwischen Atomtod oder Nachgiebigkeit, Entspannung oder vielleicht sogar unter Umständen Unterwerfung zu entscheiden. Sie machen eine Aktion gegen den Atomtod — ja, glauben Sie, daß wir eine dafür machen?

(Heiterkeit bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der SPD: Ja!)

Denn damit, daß man die Existenzberechtigung einer Waffe in den eigenen Händen bestreitet, den Händen derer, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind, schafft man sie in den Wänden eines potentiellen Aggressors doch noch nicht aus der Welt!

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Es ist nicht einzusehen, warum die Waffen in den Händen der Sowjetrussen harmloser und weniger gefährlich sein sollen als in unseren eigenen Händen, die wir nur um unser nacktes Leben und um die Behauptung unserer Freiheit ringen.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Damit Sie aber, meine Damen und Herren von der SPD, sehen, daß das nicht die Überlegungen eines militärisch orientierten Bundeskanzlers oder seines Verteidigungsministers oder einer uninformierten Regierungskoalition gegenüber einer -was die Atomwaffen betrifft — wohlinformierten Opposition sind, zitiere ich Ihnen jetzt einmal einige Sätze aus einer Rede. Es heißt hierin:
Vor 14 Tagen äußerte der neue sowjetische Verteidigungsminister offiziell, daß die Sowjetregierung heute über alle Typen von Raketen verfüge, die Wasserstoffsprengladungen zu jedem beliebigen Punkt der Erde mit sich führen können,
— die Rede ist vom 1. März dieses Jahres, also kein Ladenhüter —
und das Gewicht darauf gelegt wird, die russischen Waffen und Wirkungsmittel weiter zu entwickeln, um
— wie er sagte —



Bundesverteidigungsminister Strauß
Versuche, den Vormarsch des Kommunismus aufzuhalten, niederschlagen zu können.
Wissen Sie, wer so gesprochen hat? Der sozialdemokratische Verteidigungsminister Norwegens! Und wenn er diese Betrachtung über die Weltlage, die Gefährdung der freien Welt, seines Landes und seines Bündnisses anstellt, dann haben, wenn Sie objektiv sind, die Christlichen Demokraten bei uns mindestens dasselbe Recht, so zu denken wie er.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der SPD.)

Er also sagte:
Wenn ein Angreifer
— ich darf darauf zu sprechen kommen, gerade weil der Zwischenruf gefallen ist —
sich nicht darüber vergewissert hat, daß der Zusammenhalt in der NATO in Ordnung ist, ist Gefahr im Anzug. Wenn wir nicht auf die Solidarität der NATO vertrauen würden, wäre unsere Außen- und Verteidigungspolitik sinnlos.
Er sagte weiter:
Der zweite grundlegende Faktor der Verteidigung ist, daß sie an jedem Tag am Platz und bereit sein muß wie ein Feuerlöschwesen. Das bedeutet wiederum, daß alle Modernisierung, wie rasch auch immer die militärtechnische Entwicklung verlaufen mag, so geschehen muß, daß sie nicht auf Kosten der heute errungenen Bereitschaft geht.
Noch weiter sagte er:
Auch wenn wir gefühlsmäßig dagegen reklamieren, ist die Atom- und Raketenwaffe zu etwas Bleibendem geworden und wird in den militärischen Einheiten der Welt weiter entwickelt.
Dann kommt er zu der hochinteressanten Frage — ich wäre froh, wenn Sie eine Antwort von Ihrem Standpunkt aus gäben — der Atomwaffen auf norwegischem Boden. Er sagt:
Die Regierung hat den Standpunkt eingenommen, daß die Stationierung von Atomwaffen auf norwegischem Boden in Übereinstimmung mit der Stützpunktpolitik Norwegens so lange nicht aktuell ist, solange die amerikanische Gesetzgebung es mit sich bringt, daß diese in Friedenszeiten nur unter voller Kontrolle amerikanischer Streitkräfte geschehen kann.
Das heißt, die Norweger wären bereit — wenn ich das interpretieren darf —, nukleare Sprengköpfe für ihre Mehrzweckwaffen — und nur darüber wäre zu sprechen — zu nehmen, wenn damit nicht der Aufenthalt amerikanischer Soldaten auf ihrem Boden und der Verbleib amerikanischer Basen verbunden wären. Darf ich Sie fragen: Sind Sie der Meinung, daß wir nukleare Sprengköpfe in deutsche Hand bekommen sollten? Doch sicherlich nicht.
Im übrigen handelt es sich ja nicht um ein nationales Verfügungsrecht; das ist eine Irreführung der Öffentlichkeit. Wenn heute die Streitkräfte der
Alliierten der NATO mit taktischen Atomsprengköpfen für ihre Mehrzweckwaffen ausgestattet werden, heißt das erstens, daß für diese Waffen auch normale Sprengköpfe vorhanden sind, zweitens, daß die Sprengköpfe im amerikanischen Eigentum, unter amerikanischem Verschluß bleiben, daß sie der nationalen Verfügungsgewalt — was wir selbst wünschen — entzogen sind und daß ihr Einsatz nur dann ernsthaft angedroht und in Betracht kommen kann, wenn die Gesamt-NATO von der Zentrale aus auf Grund einer erfolgten Aggression das für notwendig hält. Und jetzt denken Sie an die indirekte Verteidigung: Damit die Aggression nicht erfolgt, soll der Aggressor wissen, daß die Zentrale diesen Beschluß fassen würde und auch ausführen lassen könnte, weil die Waffen vorhanden sind. Das ist der einzige Grund, warum wir sie haben wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dann sagt der norwegische Verteidigungsminister — warum werfen Sie u n s das vor? —:
Unsere Verteidigung wird heute allmählich mit Waffen ausgerüstet, die Atomsprengladungen benutzen können. Rein technisch würde, wie mitgeteilt worden ist, es keiner langen Zeit bedürfen, eine Umstellung auf den Einbau von Atomladungen vorzunehmen.
Das hat, wenn mir nicht ein falsches Dokument geliefert worden ist, der norwegische Verteidigungsminister Niels Handal am 11. März 1958 vor der Handelskammervereinigung in Bergen ausgeführt. Warum nehmen Sie es uns übel, wenn wir die Dinge genau so ernst nehmen wie die norwegischen Sozialdemokraten? Was tun wir denn? Wir wollen doch keine Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen, damit die deutsche Nationalarmee in die großdeutsche Zukunft marschieren kann, oder ähnliches. Wir wollen nicht mehr und -nicht weniger, als notwendig ist, um eine einheitliche Verteidigung zu haben und eine Garantie für eine wirksame Verteidigung im Bereich ganz Europas geben zu können.
Wir wollen keine Atomwaffen in deutschen Händen, wir wollen keine Atomwaffen in deutscher Verfügungsgewalt. Wir wollen sie auch nicht für die Bundeswehr, sondern für die der NATO unterstellten Einheiten aller europäischen Bundesgenossen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Wenn die Amerikaner heute im Zuge eines disengagements abzögen, wären sie nach ihrer Gesetzgebung, die sie verflucht ernstnehmen, verpflichtet, diese Sprengköpfe wieder mit sich wegzunehmen; darüber besteht nicht der geringste Zweifel.
Ich habe als Verteidigungsminister nicht die Entscheidung zu treffen, ob die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgerüstet wird oder nicht. Ich habe nur das zu tun, was mir als Direktive des Regierungschefs, als Beschluß des Kabinetts und im Vollzug einer gemeinsamen, von der Regierung angenommenen NATO-Beschlußfassung auferlegt ist. Ich will das einmal ganz klarstellen. Das ist weder meine persönliche Überlegung noch meine private Neigung noch irgend etwas anderes. Ich habe genau das getan und bin dafür eingetreten, wozu ich er-



Bundesverteidigungsminister Strauß
mächtigt war und wozu ich mir in langer mühsamer Überlegung auch die moralische Argumentation erarbeitet habe.

(Zurufe von der SPD: Fünf-Sterne-General — Gegenrufe von der CDU/CSU: Dummes Geschwätz! — Schämt euch!)

Herr Kollege Arndt hat sich darüber beschwert, daß der Bundestag sich nie damit befaßt habe. -Die Regierungsmehrheit hat im 2. Bundestag in der Sitzung am 10. Mai 1957 den Antrag der SPD, der lautet:
Die Bundesregierung wird ersucht, 1. die Ausrüstung mit atomaren Waffen zu unterlassen ...,
nicht deshalb abgelehnt, um nunmehr die Bundeswehr damit auszurüsten, sondern um die Möglichkeit dieser Ausrüstung einschließlich der Ausbildung, der technischen Ausstattung und des langwierigen Vorbereitungsprogramms

(Abg. Wehner: „Einzuleiten"!)

in legaler Weise einleiten zu können, — jawohl! Damit tun wir nicht mehr und nicht weniger, als sämtliche Verbündete der NATO ebenfalls tun. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger. Wir erinnern Sie aber an die Worte Ihres norwegischen Gesinnungsfreundes. Jedermann muß sich in diesem Bündnis auf die Solidarität der Gesamtorganisation verlassen können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn wir uns nicht auf die Solidarität der Großmächte in der NATO verlassen können, dann ist für uns jede politische Bewegungsmöglichkeit verloren. Und umgekehrt: wir werden diese Solidarität der Großmächte nicht erhalten, wenn wir nicht das tun, was im Vollzug dieser Solidarität auch auf unsere Schultern kommt, auch wenn es unpopulär ist und auch wenn solches Tun draußen für manche parteipolitischen Manöver benutzt werden kann.
Die weitere und vorletzte Frage: Sind Sie sich auch darüber im klaren, daß der Wille zu einer konventionellen und modernen Bewaffnung eine Voraussetzung dafür ist, daß manche Versuche und manche Tendenzen zur Entspannung leichter zum Tragen kommen können als in einem Zustand, wo das Bündnis noch nicht funktionsfähig wäre? Auch darüber sollte man ernsthaft diskutieren, wenn man diese Dinge ernst nimmt und sie nicht von der optischen Seite her sieht, was ich niemandem in diesem Hause unterstellen möchte.
Die letzte Frage in dem Zusammenhang heißt — ich habe sie schon gestellt —: Muten Sie dem deutschen Soldaten zu, einem Angreifer tausendfach schwächer gegenüberzustehen? Muten Sie ihm auch zu, in der Luftverteidigung auf die Abwehrmittel zu verzichten, die heute notwendig sind, um Bomber, die im Überschallbereich mit Wasserstoffbomben fliegen, weit jenseits der Landesgrenzen abschießen zu können? Sie wissen ganz genau, daß die Nike-Ajax, die wir jetzt bestellt haben, nur einen konventionellen Sprengkopf hat, daß die NikeHercules und die Nike-Zeus einen nuklearen Sprengkopf haben. Würden Sie einer deutschen
Bundeswehr auch diese rein defensive Waffe verweigern und damit Deutschland jedes aktiven Schutzes gegen einen Luftangriff berauben? Das sind doch die konkreten Fragen, die gestellt werden müssen.
Sie münden wieder in die Gretchen-Frage, auf die wir vielerlei Antwort erhalten: Wie stehen Sie eigentlich praktisch zur Landesverteidigung? Warum haben Sie den Sozialdemokraten verboten, in der Organisation „Volk und Verteidigung" aktiv mitzuarbeiten und damit eine Synthese zu finden zwischen Volk und Militär, eine Synthese zwischen Arbeiter und Offizier? Die Bewegung ist in Norwegen hochgekommen, und jeder Vernünftige bei uns muß ihre Ziele begrüßen. Warum haben Sie in der Frage „Wie stehen Sie zur Landesverteidigung?", in der Frage der Wehrpflicht Ihre Tradition gebrochen? Warum sind Sie von Ihrer Tradition abgewichen? Herr Ollenhauer, ich erinnere Sie an die Rede, die Sie in München auf dem Parteitag 1956 gehalten haben — Sie werden sich ihrer wahrscheinlich entsinnen —, in der Sie gesagt haben: Wir sind der Überzeugung, daß die Sieger in der Bundestagsentscheidung über die Wehrpflicht die Besiegten der Wahlentscheidung sein müssen; denn die Mehrheit des Volkes steht auf unserer Seite im Kampf gegen die allgemeine Wehrpflicht. — Sie haben sich getäuscht: Unser Volk will Sicherheit, wenn es vor die Entscheidung gestellt wird, und nicht Bequemlichkeit.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301803900
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301804000
Bitte sehr!

Reinhold Kreitmeyer (FDP):
Rede ID: ID0301804100
Herr Bundesminister, bezogen sich Ihre Ausführungen über die Abwehrmöglichkeiten der neuen Nike-Raketen, die Sie schilderten, auch auf die interkontinentale Rakete?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301804200
Einwandfrei ja! Ich bin gern bereit, dem Verteidigungsausschuß darüber technische Einzelheiten zu sagen. Sie werden verstehen, daß ich diese technischen Einzelheiten nicht hier sagen kann.
Ich habe, als ich hier das letzte Mal gesprochen habe, davor gewarnt, das Geschäft der sowjetischen Propaganda, gleichgültig, aus welchen Motiven heraus, durch Steigerung der Atompanik und durch Ausnutzung des menschlichen Urgefühls der Angst zu betreiben. Sie wissen, was ich damit meine.
Sie haben vielleicht in diesen Tagen in der „Frankfurter Allgemeinen" den Artikel gelesen: „Crossman gegen Hysterie". Der linksgerichtete „Daily Mirror", der täglich von 15 Millionen gelesen wird, hat am Dienstag seine ganze Titelseite dem Labour-Abgeordneten Crossman zur Verfügung gestellt für einen Angriff gegen die H-Bomben-Hysterie und gegen die bauernfängerischen Feldzüge und zweckbestimmten Umfragen. Crossman, der ein regelmäßiger Mitarbeiter des Blattes ist, erklärt, daß die



Bundesverteidigungsminister Strauß
Jugend Großbritanniens wesentlich weniger hysterisch wegen der Wasserstoffbombe ist als die Erwachsenen. Wenn es der der CSU angehörende Verteidigungsminister sagt, dann fällt man über ihn her, wie es Herr Dehler und Herr Heinemann unter Ihrem Beifall getan haben. Wenn es der englische Genosse Crossman sagt, dann muß man es wohl eher anerkennen, als wenn es aus meinem Munde kommt.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301804300
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301804400
Bitte sehr!

Wolfgang Döring (FDP):
Rede ID: ID0301804500
Ich darf fragen, ob es sich um denselben britischen Labour-Abgeordneten Crossman handelt, der heute von Ihnen, als er in einem anderen Zusammenhang genannt wurde, als reichlich unglaubwürdig belächelt wurde?

(Heiterkeit bei der SPD.)


Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301804600
Es ist ein großer Unterschied, wenn jemand — —

(Lachen bei der SPD und bei der FDP.)

— Herr Kollege Döring, es ist ein großer Unterschied, ob jemand seine Meinung über ein Problem wiedergibt

(erneutes Lachen bei der SPD und rechts) oder ob er Informationen wiedergibt.


(Anhaltendes Lachen bei der SPD. — Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Aber Sie hätten das vielleicht besser nicht erwähnt. Denn es ist nicht gut — ich möchte es gern auch dem Kollegen Mende bei anderer Gelegenheit sagen —, wenn da dauernd alle möglichen Abgeordneten zitiert werden, die „zuverlässige Informationen" haben, um nachzuweisen, daß die Bundesregierung etwas vorenthalten hat.

(Abg. Wehner: Die darf nur ein Minister zitieren?!)

Es entspricht sicher auch nicht Ihrem Wunsch, Herr Kollege Ollenhauer und Herr Kollege Mende, was die „New York Herald Tribune" vom letzten Sonntag in großer Aufmachung bringt: „SU-Botschafter Smirnow versorgt deutsche Oppositionsmitglieder mit Brennstoff gegen Adenauer".

(Heiterkeit in der Mitte.)

Dann folgen eine Reihe von Ausführungen, und dann kommt — —

(Abg. Wehner: Wollen Sie vielleicht das Aide-memoire jetzt hier vorlesen? Hören Sie damit auf, wenn Sie das nicht vorlesen wollen! — Widerspruch und Zurufe von der CDU/CSU. — Glocke des Präsidenten.)

— Das hat damit nichts zu tun.

(Abg. Wehner: Das gehört zusammen!) Ich habe gesagt: es ist nicht gut, wenn Botschafter der Sowjetunion oder wenn Abgeordnete anderer Länder als Kronzeugen gegen den eigenen Regierungschef ins Treffen geführt werden.


(Beifall bei den Regierungsparteien. — Glocke des Präsidenten.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301804700
Herr Bundesminister, gestatten Sie dem Abgeordneten Erler eine Zwischenfrage?

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301804800
Herr Minister, sind Sie vielleicht bereit, diesen unbefriedigenden Zustand mit darauf zurückzuführen, daß das Haus und seine Ausschüsse in bedauerlicher Weise von der Regierung mit Informationen unterversorgt sind und daher das Mißtrauen gegen diese Regierung kommt?

(Beifall bei der SPD. — Oho-Rufe und weitere Gegenrufe von der CDU/CSU.)


Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301804900
Herr Kollege Erler, ich bleibe bei der mir gestellten Aufgabe. Und bei der bin ich Ihnen noch keine Antwort schuldig geblieben. Ob Sie mit der Antwort zufrieden waren, ist bei Ihrem kritischen Sinn eine andere Frage. Aber sicherlich — ich darf nach der ironischen Vorbemerkung eine sehr ernste Bemerkung machen — wäre das System der gegenseitigen Information, der gemeinsamen Diskussion und damit auch des jenseits der Unterschiede liegenden Vertrauens besser, wenn wir dieselben politischen Ausgangsgrundlagen in der Beurteilung der Weltlage, unserer Sicherheit und unserer Möglichkeiten hätten, — die Ausgangsgrundlagen!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich denke, Ausgangsgrundlagen sind nicht eine Frage des Parteistandpunktes, sie sind eine Frage des gesunden Menschenverstandes, der geschichtlichen Erfahrung und der politischen Vernunft.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

Meine Damen und Herren, daß ich mit der Bemerkung nicht ganz unrecht habe, ergibt sich — das darf ich Ihnen doch nicht vorenthalten — aus folgendem. Ich hoffe, ich zitiere richtig. Ich habe zu meiner großen Freude und Überraschung im „Ostspiegel" — SPD-Pressedienst — vom 28. Februar dieses Jahres einen Satz gefunden, der eine ideale Brücke für eine gemeinsame Erstellung der Grundlagen und damit auch eine ideale Brücke für eine gemeinsame Überlegung sein könnte; ob wir dann zu gemeinsamen Schlußfolgerungen kommen, ist eine andere Frage. Dort heißt es:
Der Kreml ist in seiner Grundkonzeption der Deutschlandpolitik heute noch nicht über Stalin hinaus, und diese Konzeption heißt minimal: das, was man von Deutschland in der Hand hat, so lange und so fest zu halten wie irgend möglich. Von Dingen, die von sowjetischer Sicht aus eine Vorleistung auf eine spätere Endregelung des Deutschlandproblems sind, hält man weniger als überhaupt nichts.



Bundesverteidigungsminister Strauß
Das ist doch genau der Ausgangspunkt, den wir genommen haben. Wenn Sie sich auf diesen Ausgangspunkt stellten, dann ließe sich über manche Schlußfolgerung im außenpolitischen Bereiche vielleicht leichter diskutieren, als es bisher geschehen ist.
Aber wir haben heute auch wieder aus den Ausführungen des Abgeordneten Arndt gehört, die Sowjetunion habe keine aggressive Haltung. Das ist eine tragische Verkennung des Weltkommunismus.

(Beifall in der Mitte. — Zurufe von der SPD.)

— Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, wieso ich Ihnen Unrecht tue. Sie haben sich hier dagegen verwahrt, daß der Regierungschef oder der Außenminister die Sowjetunion einen Aggressor genannt hat.

(Zuruf des Abg. Dr. Arndt.)

— Sie haben sich dagegen verwahrt! Und was ist der Unterschied zwischen Aggressor und aggressiver Haltung? Die aggressive Haltung ist doch die Voraussetzung dafür, daß ein potentieller Aggressor zum wirklichen Aggressor wird.

(Abg. Wehner: Sagen wir „Todfeinde"!)

— Ich rede nicht von Todfeinden in der Politik. Das ist so eine Sache, Kollege Wehner.

(Abg. Wehner: Auslöschen! — Weiterer Zuruf von der SPD: Ausradieren!)

– Das Wort ist von mir erstens nicht gebraucht worden, zweitens stelle ich nochmals fest, nur weil Sie mich dazu zwingen: sonst hätte ich kein Vertrauen zu dem Bündnis, sonst wäre die Bündnispolitik falsch. Wenn wir der Sowjetunion eine aggressive Haltung als möglich unterstellen und wenn wir uns auf die NATO verlassen, dann müssen wir uns darauf verlassen, daß die NATO im Falle eines Angriffs diesen für den Angreifer zum Selbstmord macht, und deshalb uns darauf verlassen, daß er nicht kommt. Das wird man doch auch hier noch sagen dürfen.

(Beifall in der Mitte.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wissen genauso gut wie wir, wenn auch die Motive völlig verschieden sind, daß die Sowjets seit Beginn des letzten Jahres ganz im Gegensatz zu der Haltung, die Stalin im Jahre 1946 eingenommen hat, mit der menschlichen Urangst, mit dem Urgefühl der Menschheit, der Angst um das menschliche vegetative Dasein, ein schamloses politisches Geschäft betreiben.

(Beifall in der Mitte.)

Das ist eine Aktion der systematischen Schwächung und Entnervung, Hier, Herr Kollege Arndt, kann ich Ihnen und den den Anträgen Ihrer Partei zugrunde liegenden Gedanken nicht recht geben. Unmoralisch ist nicht die Atombombe, unmoralisch ist das Gewehr in der Hand eines Mörders; unmoralisch ist nicht eine wirksame, abschreckende Verteidigungswaffe, unmoralisch ist ein totalitärer Staat, der Gewaltanwendung für ein erlaubtes Prinzip hält, wenn er es risikolos anwenden kann.
Hüten Sie sich auch davor, die konventionellen Waffenmittel zu verniedlichen. Wer Köln, wer Hamburg und wer Dresden im letzten Krieg gesehen hat, der kann ermessen, wie es aussehen wird, wenn die Dimensionen vervielfacht sein werden. Aber in der politischen Entscheidung geht es darum, die Anwendung von Gewalt gegen uns, gleichgültig ob durch konventionelle oder nukleare Waffen, unmöglich zu machen. Diesem Ziel dient die ganze Politik der Bundesregierung, die sie als Voraussetzung dafür ansieht, zu einer kontrollierten weltweiten, echten und nicht zu einer Pseudo-Abrüstung zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe von der Aktion gegen den Atomtod gesprochen. Am 18. April 1957 hat das Politbüro des Zentralkomitees der SED an die ADN folgende Argumentationsanweisung gegeben:
Das Thema „Atomwaffen" darf nicht zum Erliegen kommen. Für die Agitation auf der deutschen Ebene ist der Akzent nicht auf ein allgemeines Verbot der Atomwaffen oder auf die Einstellung der Versuche, sondern in erster Linie auf die atomare Rüstung der Bundeswehr und die Produktion von Atomwaffen in Westdeutschland zu legen. Stellungnahmen, die sich auf die Forderung nach einem allgemeinen Verbot der Atomwaffen beschränken, sind fehl am Platze.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Ich habe noch mehr Material dieser Art; ich kann es heute bei diesen grundsätzlichen Ausführungen nicht mehr verwenden.
Die einheitliche Einstellung der Regierungsmehrheit, für die noch andere Redner sprechen werden, und der Bundesregierung ist, daß wir zu einem umfassenden allgemeinen, unter Kontrolle stehenden weltweiten Abrüstungsabkommen als der einzig möglichen Sicherheitsorganisation kommen müssen. Wir wissen aber genauso. daß eine solche Abrüstung eine Weltorganisation, eine Weltautorität mit einer Weltinspektion voraussetzt. Wenn man das System des Kommunismus nicht mit anderen verwechselt, wenn man es nicht unterschätzt oder falsch einschätzt, dann weiß man, daß der Weltkommunismus und die Unterstellung unter Weltinspektion und Weltkontrolle nicht leicht miteinander zu vereinen sind.
Die Frage ist die, ob die Sowjetunion bereit ist, ihre aggressive Politik aufzugeben und sich im Interesse des Überlebens ihrer Nation und aller Nationen der Welt dieser Kontrolle zu unterwerfen.
Ich erkläre nochmals: Wir wollen keine Ausstattung einer deutschen Armee mit taktischen Atomwaffen, wir wollen keine Produktion dieser Atomwaffen, wir sind gegenüber jedem Verbot von Atomwaffen auf der Basis der Kontrolle und der Gleichgewichtigkeit der konventionellen Kräfte aufgeschlossen. Unsere Verbündeten haben freie Hand, auch im Namen Deutschlands diese Erklärungen abzugeben. Wir sind aber nicht gewillt, das Potential der Verteidigung durch unser Nein so zu schwächen,



Bundesverteidigungsminister Strauß
daß daraus der Angreifer die Hoffnung schöpfen könnte, eines Tages Europa ohne das Risiko eines dritten Weltkrieges in seine Hand zu bekommen.

(Beifall in der Mitte.)

Wir sind in einer Situation, in der es keinen Sinn hat, nicht klare Entschlüsse zu fassen, in der es keinen Sinn hat, mit sich nicht über die Grundlagen, Möglichkeiten und Ziele unserer Politik ins reine zu kommen.
Wir wissen, daß die deutsche Politik und damit auch die deutsche Sicherheit von der Funktionsfähigkeit des Bündnisses abhängt. Wir halten eine Schwächung des Bündnisses oder eine Auflösung des Bündnisses für eine Todsünde wider die elementaren Lebensinteressen der deutschen Politik.
Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, bitten wir Sie auch, daß Sie draußen in der Öffentlichkeit und hier im Bundestag ein klares Ja zur aktiven Landesverteidigung sagen,

(Beifall in der Mitte)

ein ganz klares, unbestreitbares Ja,

(Abg. Wehner: Ein Nein zu den Atomsprengkörpern!)

ein ganz klares Ja zur Landesverteidigung,

(Abg. Wehner: Ein Nein zu den Atomsprengkörpern!)

einer Verteidigung, die heute nur mehr den Sinn haben kann, einen dritten Weltkrieg zu verhindern. Das ist die sittliche Aufgabe, und das ist der sittliche Auftrag unserer Politik.

(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Beifall bei der DP.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301805000
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301805100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben vorhin das Schlußwort des Herrn Bundeskanzlers gehört. Er beschwor das Haus, einen Beitrag zur Rettung des Friedens in der Welt zu leisten, und zwar durch Entspannung und Abrüstung.
Und dann haben wir soeben das Schlußwort des Bundesverteidigungsministers gehört. Er hat den schauerlichen Widerspruch sichtbar gemacht, in dem sich die Debatte dieses Tages hier bewegt: daß auf der einen Seite gesprochen wird von Entspannung und Abrüstung und auf der anderen Seite gehandelt wird im Sinne des Hineinziehens der Bundesrepublik Deutschland in das Atomwettrüsten.

(Beifall bei der SPD und FDP. — Abg. Kiesinger: Da hat Strauß sachlicher argumentiert!)

Wir haben vom Herrn Bundeskanzler vernommen, daß man diesen Schritt, den auch er für unabweisbar hielt, tun müsse, weil die strategische Planung der Atlantikpaktorganisation ihn verlange.
Wir sind also wieder so weit, daß die Strategie die Politik diktiert!

(Zuruf von der Mitte: Bei den Sozialisten Westeuropas auch!)

— Das ist schlimm genug, wenn es auch dort geschieht. Wir werden das auch aussprechen, wie wir es immer getan haben, jedem gegenüber.

(Abg. Kiesinger: Sie haben gewaltiges Selbstvertrauen, Herr Erler! — Abg. Rasner: Sie wissen es ganz allein?!)

— Nein! Gott sei Dank sind wir in dieser Sache nicht allein; denn die Sozialisten in Westeuropa haben im Unterschied zu Ihnen mit ganz wenigen Ausnahmen sich zu der Vorstellung bekannt, daß es aus der schauerlichen Situation des Atomwettrüstens einen Ausweg in Richtung auf eine Politik des Auseinanderrückens der beiden hochgerüsteten Mächteblöcke dort geben muß, wo es am gefährlichsten ist: hier im Herzen Europas. Diese Politik der Sozialisten lehnen Sie ab, und wir bejahen sie. Das ist der Unterschied.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Bucerius: Ist das auch die Meinung des Herrn Spaak?)

— Führen Sie doch hier nicht Paul Henri Spaak vor, der in dieser Sache in der Sozialistischen Internationale weiß Gott ein Einzelgänger ist!

(Widerspruch in der Mitte. — Abg. Dr. Brucerius: Aber was für einer!)

— Eine kraftvolle, einzelgängerische Persönlichkeit, gebe ich zu. Aber beschäftigen Sie sich vielleicht einmal mit dem, was in bezug auf die politischen Möglichkeiten der Herr Bundestagspräsident Ihnen einmal ins Stammbuch geschrieben hat. Davon machen Sie auch keinen Gebrauch.
Meine Damen und Herren, nehmen Sie mir es nicht übel: Als ich vorhin nachdenklich auf meinem Platz saß und spürte: Hier wird also heute in diesem Hause um die Atombewaffnung der Bundeswehr gerungen, da trat in meine Erinnerung eine für unser Volk einstmals schreckliche Lage, als ein Mann, den wir alle als Verderber der Nation kennen, vor eine große Kundgebung in der damaligen Reichshauptstadt trat und sagte: Wollt ihr den totalen Krieg?

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! — Pfui! — Lebhafte Gegenrufe von der SPD. — Die Abgeordneten der CDU/CSU verlassen mit wenigen Ausnahmen den Sitzungssaal. — Fortgesetzter lebhafter Beifall bei der SPD. — Zurufe.)

— Meine Damen und Herren, es sind hier allerhand geschichtliche Exkurse gemacht worden. Da wird man doch noch daran erinnern können, daß es in unserem Volk einmal Kreuzwege gegeben hat, die in dieser Lage uns zur Gewissenserforschung zwingen sollten.

(Beifall bei der SPD und FDP.)




Erler
Aber so sieht die Demokratie einer CDU-Mehrheit in diesem Staate aus, daß man sich weigert, zuzuhören. Da ziehen sie hinaus! Das sollte das Volk eigentlich sehen und nicht nur hören, was heute hier geschieht!

(Lebhafter Beifall bei der SPD und FDP.)

Ich bestreite dem Herrn Verteidigungsminister und dem Herrn Bundeskanzler nicht, daß sie sich auch in ihrem Gewissen prüfen, daß sie sich mit den Problemen herumschlagen und herumquälen. Dann müssen sie das aber auch der anderen Seite zubilligen und nicht ihre Ohren verschließen, wenn einmal ein anderes Argument an ihre Ohren getragen wird.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Rasner: Aber doch nicht durch frechen Unsinn! Das ist doch nur frecher Unsinn!)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301805200
Herr Abgeordneter Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Gerstenmaier?

(Zurufe von der SPD.)


Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301805300
Zunächst möchte ich mich mit Herrn Rasner beschäftigen und sagen, daß sein Benehmen in diesem Hause ihm keinen Anlaß gibt, anderen Abgeordneten frechen Unsinn vorzuwerfen.

(Beifall bei der SPD.)

Nun stehe ich zu Ihrer Frage zur Verfügung.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301805400
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe, damit Herr Abgeordneter Dr. Gerstenmaier seine Frage an den Herrn Abgeordneten Erler stellen kann.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0301805500
Herr Abgeordneter Erler, meinen Sie nicht, daß das, was Sie dem Herrn Bundeskanzler und seinen Mitarbeitern soeben konzediert haben, in einem flagranten Widerspruch steht zu der Anspielung, die, wenn ich Sie recht verstanden habe, auf Goebbels geht und die doch in diesem Hause nicht angemessen ist? Darf ich Ihnen empfehlen, sie zurückzunehmen?

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301805600
Herr Abgeordneter Gerstenmaier, ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe hier auf niemanden angespielt, sondern in mir kam eine Erinnerung hoch, die ich aus meinem Leben einfach nicht löschen kann, das ist alles. Machen Sie damit, was Sie wollen.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Mommer: Bei Ihrer Stärkepolitik wird uns übel!)

Nun einige Sätze zu einigen Punkten, die der Herr Bundesverteidigungsminister in seiner Rede angeschnitten hat. Da muß ich doch auch ein paar Fragen stellen. Hat eigentlich die bisherige Politik in den letzten Jahren uns der Wiedervereinigung unseres Landes auch nur einen einzigen Zentimeter näher gebracht?

(Abg. Wienand: Und der Sicherheit!)


Oder ist es nicht so, daß die sowjetischen Bedingungen für die Wiedervereinigung unseres Landes im Vollzug dieser Politik von Jahr zu Jahr härter geworden sind? Mit Anklagen überwinden wir die Spaltung nicht, sondern nur durch eine politische Initiative,

(Abg. Kiesinger: Auch nicht mit Anklagen gegen uns!)

und an dieser fehlt es.
Der Herr Bundeskanzler hat die Frage so zu stellen versucht, als gehe es darum, ob wir in der NATO bleiben wollten oder nicht. Meine Damen und Herren, der Zerfall der NATO steht nicht zur Debatte, sondern es steht zur Debatte, ob wir bereit sind, mit unseren Verbündeten in der NATO über eine gemeinsame bessere Politik hier auf dem europäischen Kontinent zu reden.

(Beifall bei der SPD.) Das steht zur Debatte!

Aber es steht auch eine ganz aktuelle Frage zur Debatte, und ich bin dem Herrn Verteidigungsminister eigentlich sehr dankbar, daß er sich da unmißverständlich ausgedrückt und diese Frage mit Ja beantwortet hat, die Frage nämlich, ob auch die Bundesrepublik Deutschland in das atomare Wettrüsten hineingezogen werden soll oder nicht. Diese Frage ist von heute ab von dieser Regierung und der sie tragenden Partei mit Ja beantwortet.

(Zuruf von der SPD: Leider, leider!)

Das las man früher einmal anders. Da glaubte man durchaus, die Mitgliedschaft in der NATO sei damit vereinbar, daß die eigenen militärischen Kräfte nicht mit Atomwaffen ausgerüstet würden, so wie — übrigens aus den verschiedensten und nicht nur den hier vom Herrn Minister verlesenen Gründen — Norwegen und Dänemark auch als treue Mitglieder der NATO zu dem Beschluß gekommen sind, davon abzusehen, ihre Truppen mit Atomwaffen ausrüsten zu lassen.

(Zurufe von der SPD: Sehr richtig! — Das hat er unterschlagen!)

Früher war der Bundeskanzler einmal sehr stolz auf die entgegengesetzte Haltung. Er hat uns hier einmal vorgetragen, am 7. Oktober 1954:

(Abg. Wienand: Lang ist's her!)

Frieden, meine Damen und Herren, muß er-, arbeitet werden, Frieden muß mit Konsequenz und mit Zähigkeit und mit ruhiger Überlegung herbeigeführt werden, und der Frieden muß auch verteidigt werden nicht mit den Waffen des Krieges, sondern mit den Waffen der Gesinnung und den Waffen des Beispiels.
Nun, ein solches Beispiel hat die Bundesrepublik in London gegeben, als sie erklärt hat, daß sie
— hören Sie gut zu! — auf den Gebrauch



ij Erler
— hat der Bundeskanzler damals gesagt —
dieser fürchterlichen Waffen der Massenvernichtung, die allein doch schließlich auch Sowjetrußland schrecken könnten, verzichte und sich einer besonders strengen Kontrolle, daß dieser Verzicht innegehalten wird, zu unterwerfen bereit sei.
Er fuhr damals fort:
Sagen Sie nicht: „Das hast du leicht sagen! Ihr habt ja gar nicht die Möglichkeit, weder finanzieller noch physikalischer Art!"
Um chemische Waffen herzustellen, braucht man keine solch besonderen Möglichkeiten, um biologische Waffen herzustellen, braucht man sie ebenfalls nicht; und wie es einmal mit der Entwicklung der Atomwaffen werden wird, das wissen wir jetzt auch noch nicht. Aber, meine Damen und Herren, die Bundesrepublik
— so sagte der Kanzler —
ist hier beispielhaft vorangegangen, und ich glaube, das ist ein überzeugender Beweis für das, was wir wollen: Frieden in Europa und in der Welt.
Soweit damals der Bundeskanzler. Er hat dem Hohen Hause und damit auch der Öffentlichkeit in seiner Rede hier gesagt, daß es sich — entgegen dem Wortlaut des Textes, der uns hier vorlag — nicht nur um einen Verzicht auf die Herstellung handele, sondern — nach seiner Rede damals — sogar auf den Gebrauch. So wurde es
dem Volke erzählt.
Davon ist heute nichts mehr übrig, ganz im Gegenteil. Genauso wie wir heute Schritt für Schritt an die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen gewöhnt werden, Stück für Stück, über den Matador und die Ausbildung zu weitertragenden Geräten, über Mehrzweckwaffen dann auch zur Ausstattung der Mehrzweckwaffen mit der entsprechenden Munition, so droht auch die Gefahr, daß es künftig auch noch zur Produktion von Waffen oder Teilen dieser Waffen auf unserem Gebiete kommt. Dazu werden ja noch ein paar Fragen an den Herrn Minister zu stellen sein.
Meine Damen und Herren, das ist heute die letzte Debatte, vor oder vielleicht in Wahrheit sogar schon die erste nach der Entscheidung der Bundesregierung über die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Der Verteidigungsminister verlangt, daß über die Annahme des amerikanischen Angebots auf Lieferung der Matadore bis zum 3. April entschieden wird. Welche Pression auf dieses Haus, diese Entscheidung in so kurzer Zeit fällen sollen, nachdem der Minister inzwischen bekanntgegeben hat, daß schon im September 1957 der Bundeskanzler, das Kabinett und der Verteidigungsminister der Anschaffung zugestimmt hätten!

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Es hätte Zeit genug gegeben, diese Frage inzwischen im Ausschuß des Parlaments und auch im Plenum zur Erörterung zu bringen.

(Abg. Wienand: Und die erwarten Vertrauen!)

Aber das wäre zu schnell nach der Bundestagswahl gewesen. Da dachte man noch daran, daß man damals dem Volke versichert hatte, die Entscheidung über die Atomwaffen sei überhaupt nicht aktuell, und unmittelbar nach der Wahl ist sie in diesem Kabinett gefallen.

(Hört! Hört! bei der SPD. — Zuruf von der SPD: So wird das Volk belogen!)

So rasch welken Wahlversprechen, die man dem Volke macht.
Meine Damen und Herren, man soll uns doch nicht erzählen, der Matador sei jetzt nur erworben worden, damit man ihn auseinandernehmen könne, um daran zu lernen, wie er wieder zusammengebaut werde.

(Lachen bei der SPD.)

Man soll uns auch nicht erzählen, daß man zunächst einen etwas älteren Typ erwerbe. Wer den alten nimmt, der will auch den neuen haben und verwenden. Hand aufs Herz, Herr Minister: Ein solches Geschoß mit einer Reichweite von 1000 km ist bei der Streuung, die ihm innewohnt, nur mit atomarem Sprengkopf verwendbar;

(Sehr richtig! bei der SPD)

denn Sie schicken nicht ein so kostbares Geschoß auf eine Reise von 1000 km, um nachher Löcher in eine Wiese zu bohren. Das ist doch einfach ausgeschlossen.

(Sehr gut! bei der SPD.)

In der Presse ist behauptet worden, das Volk habe nun Klarheit darüber, daß an die Anschaffung von Mittelstreckenraketen nicht gedacht sei. Nun, leider ist das falsch. Der Matador mag technisch keine Rakete sein, weil er einen eigenen, anderen Flugantrieb hat. Er wird drüben als ein Geschoß, ein missile, bezeichnet, worunter die Amerikaner die Raketenwaffen zusammenfassen. Was 1000 km weit fliegt, das ist nicht etwas, was der unmittelbar örtlichen Verteidigung der Truppen zu dienen bestimmt ist; das wirkt eben weit hinein in das Hinterland auf der anderen Seite.
Die Regierung ist selber schuld — ich habe vorhin in einer Zwischenfrage darauf aufmerksam gemacht —, daß ihr in diesen Dingen eine Welle von Mißtrauen entgegenschlägt. Da gibt es ihre einander widersprechenden Erklärungen, den hinhaltenden Widerstand, den sie geleistet hat, bis sie sich überhaupt zu irgendwelchen Informationen bequemte. Wer heute noch behauptet, der Matador sei keine Atomwaffe und kein Mittelstreckengeschoß — obwohl er im Ernstfall beides ist —, ja, dem wird man auch zutrauen, „Flugabwehrraketen" zu sagen und Atom-Mittelstreckenraketen damit zu ermöglichen.

(Zustimmung bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP. — Abg. Wehner: Leider wahr!)

Der Herr Verteidigungsminister hat uns gefragt, was wir denn sagen würden zur Anschaffung von Flugabwehrraketen mit Atomkopf. Herr Minister, Sie kennen die militärische Lage der Bundes-



Erler
republik. Sie wissen genau, daß angesichts der Nähe der Demarkationslinie das, was uns bedroht, tieffliegende Fliegerverbände wären, die sich gar nicht erst der weit im Hinterland wirkenden Erfassung durch den Radargürtel stellen, sondern die Radarbeobachtung unterfliegen; wenn Sie auf die mit Atombomben schießen wollen, dann richten Sie mit der eigenen Verteidigung mehr Schaden am Boden an, als das feindliche Flugzeug anrichtet, oder mindestens den gleichen.

(Abg. Wienand: Sehr richtig! Das ist die Antwort auf diese Frage!)

Auch daran muß man einmal denken, wenn hier versucht wird, uns in die atomare Bewaffnung hineinzuschrecken unter der Vorgabe, es handle sich in diesem Punkt vielleicht um eine Sicherung der Heimat.
Der Bundeskanzler ist ja noch weiter gegangen. Er hat Auszüge aus einem Aufsatz zitiert, den der Amerikaner Kissinger in der letzten Nummer von „Foreign Affairs" geschrieben hat, und hat sich ausdrücklich zu diesen Auffassungen bekannt. Was Kissinger dort aber gefordert hat, das ist nicht die Annahme von sogenannten taktischen Atomwaffen durch die Europäer, sondern das ist die Annahme von Atomraketen durch die Europäer. Davon ist bei Kissinger die Rede. Wenn der Bundeskanzler sich dazu bekennt, dann müssen wir also wissen, was unser harrt.
Meine Damen und Herren! In Fort Knox hat der Herr Verteidigungsminister gesagt, die Bundesrepublik würde niemals ein atomwaffenfreies Deutschland als politische Lösung akzeptieren; eine geographisch begrenzte Abrüstung sei sinnlos. — Hier haben wir's wieder: das schreckliche „Alles oder nichts!". Natürlich schützt eine geographisch begrenzte Abrüstung nicht dagegen, daß ein Konflikt der anderen dann doch Auswirkungen auf dieses Gebiet hat. Aber sie erhöht die Chance, daß durch eine Politik der Entspannung und des Ausräumens von Zündstoff im Herzen Europas der Konflikt gar nicht erst wahrscheinlich wird. Das ist die Aufgabe. Das sieht man nicht. Man denkt in rein militärischen Kategorien, und selbst die Politiker sind ja weitgehend von ihnen befallen.
Es wurde hier kritisiert, wir hätten in einer früheren Debatte dem Herrn Bundeskanzler vorgeworfen, daß er zu sehr dem Gutachten der Generale gefolgt sei, und jetzt habe die FDP den umgekehrten Einwand. — Meine Damen und Herren, das war anders! Es war damals der Bundespressechef von Eckardt, der vor der Öffentlichkeit zur Stützung der Haltung des Bundeskanzlers sich auf dieses Gutachten der Generalität berufen hat.

(Sehr wahr! bei der SPD.)

Der war's. Und Herr Ollenhauer und ich haben hier damals am 23. Januar diese Frage zur Sprache gebracht und haben auch vom Herrn Bundeskanzler eine Antwort bekommen, die ganz eindeutig dahin ging, daß er seine politische Entscheidung selber gefällt habe und sich nicht verstecken wolle hinter der Autorität der Generale. Sehen Sie, das war es
ja! Wir wollten lediglich davor warnen, daß man sich bei so weittragenden politischen Entscheidungen hinter angebliche militärische Ratschläge versteckt.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301805700
Herr Abgeordneter Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301805800
Bitte!

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301805900
Kollege Erler, sind Sie sich — ich treffe diese Feststellung nur der Klärung halber — darüber im klaren und sind Sie bereit, zuzugeben, daß wir nicht gegen eine geographisch begrenzte Teilentwaffnung an sich sind, sondern gegen sie sind, wenn sie eine in sich abgeschlossene Aktion darstellt, daß die Dinge aber ganz anders aussehen, wenn die gesamte Prozedur der Abrüstung vereinbart, aber dann in Phasen so durchgeführt wird, daß die erste Phase eine geographische Teilentwaffnung ist, und billigen Sie unser Motiv, daß wir fürchten, bei einer geographischen Teilentwaffnung die Aussichten auf eine wirkliche Abrüstung am Boden zu zerstören?

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301806000
Herr Kollege Strauß, die Sorge, die Sie haben, mag verständlich sein; aber die Vorstellung, daß man gleich von Anfang an das ganze Paket aller Abrüstungsvereinbarungen treffen könne und dann nur noch die Durchführung Schritt für Schritt zu machen brauche, halte ich beim gegenwärtigen Stande der politischen Machtverhältnisse in der Welt nicht für durchsetzbar.
Ich glaube vielmehr, daß es darauf ankommen wird, auch in dieser Frage vom Alles oder Nichts wegzukommen, Schritt für Schritt vorzugehen, aber bei jedem Schritt zu versuchen — nachdem man über den Schritt verhandelt hat, bevor er unternommen wird, bevor man in die Verwirklichung eintritt —, das verbesserte Klima zum Aushandeln des nächsten Schrittes auszunutzen. Das wird der Weg sein.

(Zustimmung bei der SPD und FDP.)

Ich sehe kaum, wie man anders weiterkommen könnte.
So bekommt doch auch das, was die polnische Regierung in ihren Vorschlägen auf den Tisch gelegt hat, ein ganz anderes Gesicht, wenn man einmal versucht, das in bezug auf die Tragfähigkeit der verschiedenen Schritte zu prüfen, die doch durchaus ergänzungsfähig sind. Es hat niemand von uns verlangt, den Vorschlag so zu fressen, wie er gemacht worden ist, sondern selbstverständlich ist er nichts anderes als eine Grundlage für Verhandlungen. Jedem von uns steht es frei, eigene von ihm für notwendig gehaltene Ergänzungsvorschläge zu machen. Ich kann nur nicht verstehen, daß man Prüfung sagt und Verwerfen meint.

(Beifall bei der SPD.)

In diesen Schritten steckte doch genau jener Punkt, den Sie vorhin selbst angesprochen haben



Erler
und von dem Sie meinten, er würde ein ganz anderes Licht auf die Probleme der Abrüstung und der Wiedervereinigung werfen: wenn es nämlich gelänge, mit der Schaffung der atomwaffenfreie Zone den Abzug sowjetischer Truppen aus dem Gebiet dieser Zone zu verbinden. Aber glauben Sie denn ernsthaft, daß man erreichen kann, daß nur die sowjetischen Truppen abziehen? Meinen Sie denn nicht, daß man auch bereit sein muß, auf ein Minimum an westlicher Gegenleistung in der Berichtigung des eigenen Verteidigungsdispositivs einzugehen? Ich bin nämlich der Meinung, daß es keine Schwächung, sondern eine unerhörte Stärkung des Westens wäre, wenn die sowjetischen Truppen nicht mehr auf dem Gebiet Mitteldeutschlands stünden, nicht mehr in Polen stünden, nicht mehr z. B. in Ungarn stünden. Das würde doch die Landkarte politisch und militärisch in einem so erstaunlichen Ausmaß verändern, daß ich überhaupt nicht verstehen kann, warum wir aus übertriebener Angst die doch bereits lancierte Idee des Zusammenhangs der atomwaffenfreien Zone mit dem Truppenabzug nicht aufgreifen und die Sowjetunion davor stellen.

(Beifall bei der SPD und FDP.)

Vorhin hat uns Minister Strauß geschildert, was alles von 1944/45 ab in den osteuropäischen Staaten geschehen ist. Das ist alles unter dem Druck der Anwesenheit sowjetischer Truppen geschehen! Daraus ergibt sich die Aufgabe, wenn wir wirklich erreichen wollen, daß die Völker auch dort wieder freier atmen können, jene Formen ihrer staatlichen Existenz sich geben, die ihnen angemessen sind. Wir wollen uns da nicht hineinmischen, weder mit Rat noch mit Tat. Das ist ihre Sache. Aber wenn man das wirklich erreichen will, muß man doch etwas tun, um das Haupthindernis gegen diese Entwicklung, nämlich die sowjetischen Truppen, wieder in die Heimat zu bringen. Das ist die Aufgabe.

(Beifall bei der SPD und FDP.)

Das wird aber — darüber sind wir uns doch wohl klar — in der Welt so, wie sie ist, nicht mehr erreicht werden können mit militärischem Druck, mit Überlegenheit, von der man träumt, mit Pression. Beide Seiten sind so stark, daß sie sich gegenseitig ein paarmal umbringen können. Da kann keine die andere mehr erpressen, sondern eine solche Lösung kann nur erreicht werden, wenn man auf beiden Seiten genügende politische Interessen mobilisiert, um sie für alle andern annehmbar zu machen, für die Weltmächte und für die Völker, die dort leben. Das ist das wirkliche System, und da hätten Verhandlungen über diesen Punkt, wie wir sie fordern, durchaus eine geeignete Basis sein können, um zu ergründen, welche politischen Interessen auf dem Spiel stehen und unter Umständen geltend gemacht werden können.
Der Herr Bundesaußenminister hat uns hier ganz unbekümmert versichert, wenn man eine solche Lösung auch nur von ferne ins Auge fasse, bedeute das eben den Abzug der amerikanischen Truppen vom europäischen Kontinent. Meine Damen und Herren, ich habe schon einmal davor gewarnt, daß wir uns durch unsere Argumentationen amerikanische Vetos gewissermaßen geradezu bestellen.

(Zustimmung bei der SPD.)

Die Sache liegt nämlich anders. Schließlich ist Herr Gaitskell kein Phantast. Sie bringen uns Spaak an. Beschäftigen Sie sich doch auch einmal ernsthaft mit Gaitskell. Der frühere englische Schatzkanzler und künftige britische Premier ist auch eine ganz beachtliche Persönlichkeit im internationalen Sozialismus.

(Beifall bei der SPD.)

Aber ich möchte noch weitergehen. Der Satz, den Herr von Brentano gebrauchte, wir benähmen uns nach dem Spruch: „O heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd' andre an", dürfte doch hier keine Anwendung finden; den brauchen wir uns nicht vorhalten zu lassen. Denn in Amerika selbst, im Schoße eines Parlamentsausschusses, sind nämlich diese Dinge diskutiert worden.

(Sehr wahr! bei der SPD.)

Der Abrüstungsausschuß des amerikanischen Senats hat einen Bericht vorgelegt, in dem er Punkt für Punkt genau dieses Ziel als geradezu anzustrebend fordert: das Auseinanderrücken der Weltmächte, das Entstehen eines Raumes im Herzen Europas, in dem für denkbare örtliche Konflikte unter den Teilnehmern jeder für ein gewisses Maß an Sicherheit selber sorgen müsse, in dem darüber hinaus die Sicherheit aber auch durch Vereinbarungen über die Kräfteverteilung in ihm gewährleistet würde, und das Ganze eingefaßt in die Vereinbarungen über die Stärke der konventionellen Truppen der Weltmächte. Und dann hat der Bericht gesagt: Solange sich ein solches System noch nicht über einen Zeitraum von vielen Jahren allgemein friedensstabilisierend erwiesen habe, müßten die amerikanischen Truppen selbstverständlich nach Räumung des in Aussicht genommenen mitteleuropäischen Raumes auf dem europäischen Kontinent verbleiben. Das haben amerikanische Senatoren beschlossen; dann sollen wir es ihnen doch nicht geradezu wieder ausreden, nachdem sie schon so weit sind.

(Lebhafte Zustimmung bei der SPD.—Abg. Dr. Mommer: Das wird Herr Kiesinger trotzdem gleich tun!)

Die Lösung all dieser Fragen ist natürlich nur denkbar, wenn Sie die Zustimmung unserer Verbündeten und die Zustimmung der anderen Seite, der Sowjetunion, dazu bekommen. Früher war es die Eigenart des Herrn Bundeskanzlers, Zensuren über die mehr oder minder schädliche Wirkung bestimmter Bundestagsreden für die Interessen des deutschen Volkes zu erteilen.

(Abg. Dr. Mommer: Das macht er jetzt in seiner Fraktion!)

Was der Herr Bundeskanzler uns heute hier vorgeführt hat, das mag im ganzen, in einer Fülle von Fragen für die Wählerschaft in der Bundesrepublik Deutschland hier oder dort ganz attraktiv gewesen sein. Aber daß es ein konstruktiver Beitrag gewesen ist, um mit einer Weltmacht ein Gesprächsklima



Erler
dafür zu schaffen, daß sie unsere Landsleute herausgibt, wage ich zu bezweifeln.

(Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

Gerade demjenigen, der weiß — und das wissen wir doch alle —, daß das Regime in der Sowjetzone sich auf die Anwesenheit der sowjetischen Armee stützt, kann doch erst recht kein Zweifel daran bleiben, daß es eine der Hauptaufgaben einer Wiedervereinigungspolitik, einer Politik der Schaffung von staatsbürgerlicher Freiheit für unsere Landsleute in der Zone sein muß, die Voraussetzungen für den Abzug dieser Armee zu schaffen. Dieser würde Veränderungen in Richtung auf Wiedervereinigung in Freiheit bedeuten. Den Status quo können wir nicht durch Warten und Rüsten überwinden, sondern nur dadurch, daß wir Bewegung in die Politik bringen. Dazu gehört es, daß man weltpolitische Ansätze ausnutzt und nicht erstickt; sonst passiert uns, daß in zehn Jahren — wir sind dann alle ein bißchen älter geworden — ein paar Jüngere unter uns noch in diesem Hause sitzen und eine nächtliche Gespensterdebatte über die Chancen führen, die man im Jahre 1958 ausgelassen hat.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

Dann kann es uns auch wieder so ergehen, daß man sagt: Ja, mit dem Herrn Malenkow, der ein ganz umgänglicher Mann war, konnte man reden. Aber solange er an der Macht war, hat leider niemand mit ihm geredet.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Das Parlament der Bundesrepublik Deutschland steht mit seinen Sorgen gegenüber dem Atomwettrüsten nicht allein. Dieses Wettrüsten ängstigt die ganze Menschheit, weil auch diejenigen — das gebe ich dem Minister zu —, die sich dazu entschlossen haben, sich an ihm zu beteiligen, dennoch darum wissen, welche Konsequenzen der Ausbruch eines Konflikts beim Vorhandensein der Massenvernichtungsmittel zeitigt. Das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens, bei dem jede der beiden Großmächte die andere zerdrücken kann und keine imstande ist, auf den ersten Schlag so viel Unheil bei der anderen anzurichten, daß nicht noch zurückgeschlagen werden kann, wird doch nicht durch das Hinzufügen von ein paar Atomwaffen für die Bundeswehr der Bundesrepublik Deutschland verändert.

(Abg. Kiesinger: Doch!)

Heute schon besteht die verfügbare Zerstörungskraft in den Händen der Weltmächte aus einer Menge von Atomsprengstoff, die, auf den Kopf der Erdbevölkerung in Sprengkraft umgerechnet, eine Tonne Trinitrotoluol ausmacht. Stellen Sie sich das einmal vor! Was gibt es da eigentlich noch hinzuzufügen? Damit ist das erreicht, was Weinstein, der noch vor einigen Monaten für die Atombewaffnung eingetreten ist, in seinem gestrigen Kommentar im Frankfurter Rundfunk als atomare Sättigung bezeichnet hat, als einen Punkt, über den hinauszugehen von beiden Seiten einfach nicht mehr lohnt.

(Abg. Dr. Mommer: Aber Herr Strauß muß noch gesättigt werden!)

Das britische Weißbuch hat in ehrlicher Weise die Planung dargelegt. Wir wissen es seit Jahren, daß es so ist. Ich bin völlig korrekt vom Herrn Außenminister zitiert worden. Ich bestreite gar nicht, daß die Lage so ist. Die Diskussion zwischen uns geht nur darum: Wie kommen wir aus dieser Lage heraus — durch Verschärfung des Wettrüstens oder durch die Mittel der Politik in Richtung auf die Beendigung des Wettrüstens? Das ist die entscheidende Frage.

(Beifall bei der SPD.)

In dem Weißbuch heißt es unter Punkt 12:
Die Verteidigung des Westens stützt sich dagegen in erster Linie auf die abschreckende Wirkung seines riesigen Vorrats an Kernwaffen und seine Fähigkeit, sie wirksam einzusetzen. Die demokratischen westlichen Länder werden niemals einen Krieg gegen Rußland beginnen.
Diejenigen, die hier vorhin gesagt haben, daß es überhaupt nur einen denkbaren Aggressor gibt, sollten die Ehrlichkeit der Briten bewundern, die hier hineingeschrieben haben „gegen Rußland", weil sie sich nicht selber dementieren wollten nach dem, was am Suezkanal einmal geschehen ist. — Aber weiter im Weißbuch:
Es muß jedoch ganz klar gesagt werden, daß sie selbst dann, wenn Rußland einen größeren Angriff nur mit konventionellen Streitkräften gegen sie richtete, mit strategischen Kernwaffen
— das sind angeblich gar nicht die, die Herr Strauß haben will —
zurückschlagen müssen. Tatsächlich gründet sich die Strategie der NATO auf die offene Anerkennung der Tatsache, daß ein großangelegter sowjetischer Angriff ohne eine massive nukleare Bombardierung der russischen Machtzentren nicht zurückgeschlagen werden kann. In diesem Fall hätten die Streitkräfte der Verbündeten in Europa die Aufgabe, die Front so lange zu halten, bis sich die Auswirkungen der nuklearen Gegenoffensive bemerkbar machen.
Das ist eine grausame, aber zutreffende Darstellung. Sie zeigt, wie notwendig es ist, aus dieser Lage einen politischen Ausweg zu finden, weil es keinen militärischen mehr gibt.
Herr Minister, hier ist davon gesprochen worden, daß man den Angriff „ohne massive nukleare Bombardierung der russischen Machtzentren", also ohne strategische Bombardierung nicht zurückschlagen kann. Damit ist doch klar, daß es sich dabei um eine Aufgabe handelt, die nach Ihren eigenen Grundsätzen gar nicht von der Stelle aus erfüllt werden kann, von der Sie gesagt haben, es sei der vorderste Schützengraben, nämlich von der Bundesrepublik Deutschland aus. Denn derartige Vergeltungsmöglichkeiten hier aufbauen, heißt geradezu eine Prämie darauf aussetzen, sie für den Fall des Konflikts am ersten zu zerstören, weil man sie am ehesten im Griff hat. Das liegt auch nicht im Interesse der Alliierten, glaube ich mit guten Gründen sagen zu können.




Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301806100
Herr Abgeordneter Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301806200
Bitte!

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301806300
Wie erklären Sie sich, daß die Urheber dieses Weißbuchs im NATO-Rat Schlüsse daraus ziehen, die denen, die Sie gezogen haben, entgegengesetzt sind?

(Zuruf von der FDP: Denen geht es schon wie Ihnen, Herr Strauß! — Heiterkeit bei der FDP und der SPD.)


Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301806400
Das haben sie offenbar gar nicht getan. Denn nach allem, was bisher von der Regierung mitgeteilt worden ist — aber vielleicht wäre es für das Haus wichtig, in diesem Punkt einmal Aufklärung zu bekommen —, soll der NATO-Rat die Stationierung von Mittelstrecken- und Fernraketen — und um diese handelt es sich — auf dem Boden der Bundesrepublik gar nicht empfohlen haben.

(Bundesminister Strauß: Sie wechseln das Thema; darum geht es nicht!)

— Nein, ich habe genau das Thema behandelt. Hier ist die Rede davon, daß es sich um die Notwendigkeit eines strategischen Gegenschlages mit massiver nuklearer Bombardierung der russischen Machtzentren handelt. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen; auf den komme ich noch. — Herr Minister, ich lese Ihnen Ihre Frage an den Augen ab; ich beantworte sie gleich!
Die Hoffnung, daß man durch die Ausstattung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen die abschreckende Wirkung der anderen erhöhe, ist gegenstandslos. Wenn die abschreckende Wirkung der großen Kernwaffen auf beiden Seiten nicht ausreicht, nützen die taktischen Atomwaffen der Bundesrepublik Deutschland auch nichts mehr. Das ist das Entscheidende.

(Beifall bei der SPD und der FDP. — Abg. Kiesinger: Das ist ein Denkfehler!)

— Bitte, Herr Minister!

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0301806500
Darf ich daraus schließen, daß Sie der Meinung sind, auch ein örtlicher Konflikt müßte in jedem Fall nur auf dem Wege über einen globalen, totalen, nuklearen Weltkrieg ausgetragen werden?

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301806600
Dieser Meinung bin ich keineswegs. Ich will Ihnen nur sagen, daß es darüber im englichen Unterhaus eine große Debatte gegeben hat, und diese Debatte führte von seiten der englischen Regierung, deren Ansichten Sie ja kennen, zu zwei Feststellungen: 1. Einen lokalisierbaren Konflikt in Europa gibt es bei der Bedeutung dieses Landes
überhaupt nicht. Das war die erste Feststellung der britischen Regierung.

(Bundesminister Strauß: Warum wollen Sie dann eine Entspannung, wenn es keinen Konflikt gibt?)

Die zweite Feststellung der britischen Regierung, die in den Debatten eine große Rolle spielt, war die, daß man, wenn man taktische Atomwaffen einsetzt, damit den Weg zum allgemeinen Atomkrieg beschritten hat, von dem es bei uns hier kein Zurück mehr gibt. Die Planung der Verwendung von Atomwaffen auf dem Kontinent schließt jegliche Idee auch nur an Lokalisierung eines Konflikts aus.

(Beifall bei der SPD.)

In England hat es eine heftige Debatte gegeben, weil man dort begreiflicherweise bei diesen Perspektiven etwas erschrocken ist und sagt: Die Haltung der englischen Regierung läuft also darauf hinaus, bei jedem Angriff in Europa zur Vergeltung die Wasserstoffbombe einzusetzen. Damit taucht für England die schauerliche Perspektive des Selbstmordes auf.
Ich habe Ihnen soeben klargelegt, daß die Verwendung taktischer Atomwaffen bei uns zu genau dem gleichen Ergebnis führt. Es ist vielleicht gut, in Erinnerung zu rufen, was es eigentlich mit diesen taktischen Atomwaffen, die man hier für gemütliche Dinge anzusehen scheint, auf sich hat. Jede sogenannt taktische Atomwaffe hat die Wirkung ungefähr — manche ein bißchen kleiner, andere ein bißchen größer — der Bombe von Hiroshima. Die Wirkung rechnet sich auch heute noch nach Tausenden von Tonnen Trinitrotoluol. Was gelungen ist, ist, die Waffe im Umfang kleiner zu machen; aber die Zerstörungskraft ist die gleiche geblieben, und das ist das, worauf es ankommt.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Konsequenz: Eine Verteidigung mit dem Einsatz dieser Waffen ist in dem dichtbesiedelten deutschen Land überhaupt nicht möglich.

(Zustimmung bei der SPD.)

Mit diesen Waffen können Sie unser Land nicht verteidigen, sondern nur seine Bevölkerung ausrotten, und mit der Ausrottung der Bevölkerung verliert die Verteidigung ihren Sinn.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und der FDP.)

Man sagt uns, es sei nötig, die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen auszustatten, um damit die Überlegenheit der Sowjettruppen an Zahl und Ausstattung mit konventionellen Waffen auszugleichen. An diesen Ausgleich glaube ich nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß nicht der Gegenzug wäre, selbstverständlich die sowjetischen Truppen in genau dem gleichen Ausmaß mit Atomwaffen auszurüsten, womit dann die Überlegenheit wiederhergestellt wäre. Und so geht die Schraube weiter.
Nun zu dem Argument, das der Herr Bundesverteidigungsminister hier gewissermaßen vom Standpunkt der Psychologie des kämpfenden Sol-



Erler
daten her gebraucht hat, man dürfe nicht minderen Rechtes sein. Meine Damen und Herren, muß man wirklich die gleichen Waffen haben, wenn die Waffen gar nicht schützen? Schutz ist der Sinn der Verteidigung und nicht Zerstörung des Lebens der Nation.

(Beifall bei der SPD und der FDP. — Bundesminister Strauß: Wollen Sie kämpfen und den Krieg verhindern?)

— Wenn die Einplanung bestimmter Waffen den Selbstmord einschließt, dann ist man nicht verpflichtet, aus Gleichberechtigung den Selbstmord mitzumachen.

(Beifall bei der SPD und der FDP.)

Da höre man auch mit dem Gerede von den Vorleistungen auf. Die Ablehnung des Selbstmordes ist keine Vorleistung.

(Beifall bei der SPD.) Daß es besser ist — —


(Bundesminister Strauß: Wollen Sie kämpfen oder den Krieg verhindern?)

— Ich bin der Meinung, daß es Aufgabe ist, den Krieg zu verhindern. Durch die Art, unter dem Schlagwort des Kämpfenwollens das atomare Wettrüsten erst einmal auf die Spitze zu treiben, führen Sie genau das herbei, was es zu vermeiden gilt, nämlich die Schlußexplosion.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

Eine sinnvolle Verteidigung muß die Chance des Überlebens der Nation in sich bergen.

(Abg. Dr. Menzel: Sehr gut!)

Wenn das mit rein militärischen Mitteln im Zeitalter des Atomwettrüstens heute nicht erreichbar ist, dann ist es unsere Aufgabe, den anderen ins Gewissen zu reden, damit überhaupt wieder Sicherheit für die Völker möglich wird, nachdem sie in dieser Weise zerstört worden ist.

(Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

Ich will hier nicht die vom Minister behandelten ethischen Einwände erörtern. Auch der gerechte Krieg, Herr Minister, der Verteidigungskrieg, wird gemessen an den Mitteln, die man in ihm anwendet. Das sollte Ihnen bekannt sein. Ein Ausrottungsmittel ist keine Waffe. Aber das ist ein weites Feld; darauf will ich mich jetzt gar nicht begeben.
Nur ein Satz verdient in diesem Zusammenhang noch eine Berichtigung. Der Terror, von dem hier gesprochen worden ist, ist die Wirkung der Atomwaffen, ist die Drohung der Vernichtung und nicht die Aufklärung über die Folgen des selbstmörderischen Wettrüstens auf allen Seiten.

(Beifall bei der SPD.)

Ich sagte Ihnen schon: auf diesem Wege gibt es keine Sicherheit. Sie reden davon, aber Sie schaffen sie nicht. Im Gegenteil! Punkt 33 des englischen Weißbuches sagt: Entsprechend der vor einem Jahr bekanntgegebenen Feststellung, daß ein Versuch, das Land als Ganzes gegen Atomangriffe zu verteidigen, nicht durchführbar ist, hat das Jägerkommando jetzt die begrenztere Aufgabe, die Bomberstützpunkte zu schützen.

(Abg. Dr. Mommer: Hört! Hört!)

Welch eine Perversion der Verteidigung! Früher waren die Armeen dazu da, die Völker zu schützen, jetzt werden die Völker geopfert, um die Vergeltungswaffen instand halten zu können.

(Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

Bei dieser Lage müssen wir alle Anstrengungen auf die Abrüstung konzentrieren, um des Überlebens der Menschheit willen. Das zwingt die Weltmächte an den Tisch, und da müssen die anderen Völker ihren Beitrag leisten durch Drängen und Fordern auf kontrollierte Abrüstung, und sie dürfen dieses Drängen nicht dadurch gefährden, daß sie zunächst einmal nach Atomwaffen für sich selber rufen, weil man dann in diesem Kampf unglaubwürdig wird.

(Sehr wahr! bei der SPD.)

Was die Völker quält, ist die Gefahr des Selbstmordes. Was andere Völker leider viel weniger quält als uns, das ist die Spaltung unseres Landes, — obwohl es natürlich wahr ist, was wir alle immer wieder sagen und sagen müssen: daß es in Europa und in der Welt keine dauernde Befriedung geben kann, solange Deutschland gespalten ist. Aber gerade weil wir wissen, daß eine dauerhafte Lösung ohne die Wiedervereinigung Deutschlands gar nicht möglich ist, müssen wir unseren Beitrag dazu leisten, zu dieser dauerhaften Lösung hinzukommen.
Der Bundeskanzler hat früher gesagt, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nur durch Fortschritte auf dem Gebiet der Abrüstung und durch eine Politik der Entspannung erlangt werden könne. Wenn das richtig ist — und ich unterstreiche das —, dann muß man im Interesse auch der deutschen Einheit für die Abrüstung arbeiten und darf nicht das Atomwettrüsten fördern.
Bisher ist es bei den Abrüstungsverhandlungen unter den Großen zugegangen wie in einem Karussell. Sprechen wir das doch einmal offen aus. In einem jahrelangen Ringen haben beide Seiten sich nicht gerade mit Ruhm bedeckt, weil jeder zunächst einmal den anderen abrüsten, aber seine eigene Überlegenheit behalten wollte. Früher verlangte die Sowjetunion ein Atomwaffenverbot ohne Gegenleistung. Jetzt bieten die USA die Kontrolle der interkontinentalen Raketen an, möglichst ohne Verbindung mit anderen Fragen. So ähnlich geht es seit Jahren.
Meine Damen und Herren, man muß frei werden von den Propagandavorschlägen von beiden Seiten, die noch dazu zu solchen Paketen verschnürt worden sind, daß jeder glaubte, sein Paket mit den größtmöglichen Vorteilen für sich nach Hause tragen zu können. So kommen wir nicht weiter. Man muß diese Pakete einmal aufbrechen und sich die einzelnen Teile ansehen und dann Schritt für Schritt versuchen, den Fortgang zu weiterreichenden Abrüstungsvereinbarungen zu ebnen, wozu auch regionale Abmachungen in Europa gehören können.



Erler
Die Völker sind der Reden und der Winkelzüge der Großmächte müde, und zwar beider.

(Beifall bei der SPD und FDP.)

Wir haben die Verpflichtung, das beiden zu sagen, nicht nur der einen Seite.
Die Gefahr ist riesengroß. Da erwarten die Völker Taten und kontrollierbare Vereinbarungen und keine Propagandagefechte in Ausschüssen und Konferenzen. Der Wille dazu ist zweifelhaft, solange das Abrüstungsgespräch, selbst wenn es stattfindet und nicht gerade durch die Halsstarrigkeit der einen Seite, z. B. der Sowjetunion, monatelang unterbrochen war, auf beiden Seiten von atomaren Versuchsexplosionen begleitet wird. Das ist die schlechteste Begleitmusik zu Abrüstungsdiskussionen. Dabei hätte jede Seite — ich betone: jede! — ein Beispiel geben können, wenn sie den guten Willen dazu gehabt hätte.
Deshalb sollen wir uns ernsthaft darum bemühen, und zwar, wie die vorliegenden Anträge aufzeigen, zusammen mit all den Völkern, die heute noch nicht am Atomwettrüsten beteiligt sind, weil man diese am leichtesten zusammenbringt, den Druck der Weltmeinung in dieser Frage auf die Großmächte auszuüben.

(Beifall bei der SPD und FDP.)

Der Stopp der Versuchsexplosionen könnte ein solcher Schritt sein. Denn schon im Frieden sind sie eine Gefahr für Gesundheit und Leben der Mitbürger, auch in fremden Staaten, die gar nicht beteiligt sind. Ein solcher Stopp würde auch der nuklearen Erpressung von beiden Seiten Grenzen setzen und ein besseres Klima schaffen. Die Kontrolle der Einhaltung einer solchen Vereinbarung ist möglich.
Ich bin wirklich erschüttert gewesen über die Art, wie die öffentliche Meinung durch einige Wissende in diesen Fragen irregeführt worden ist. Erst hat man den Völkern erzählt und auch uns zu erzählen versucht, unterirdische Explosionen ließen sich nicht kontrollieren, sie seien angeblich nur in einer Entfernung bis 250 Meilen feststellbar. Jetzt weiß man, daß es in Wahrheit über 2000 Meilen sind, daß also verhältnismäßig wenige Kontrollpunkte in den Gebieten der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu einer lückenlosen Kontrolle der Einhaltung des Verbots von Versuchsexplosionen ausreichen würden.

(Abg. Dr. Mommer: Auch das amerikanische Volk wird belogen!)

Hüten wir uns vor den allzu regsamen Interessen derer, die an einer solchen Sache arbeiten, die ihren Stolz darin setzen, zu Ergebnissen zu kommen. Es ist verständlich: wer an einer solchen Waffenentwicklung beteiligt ist, wird blind und will nicht in seiner Arbeit gestört werden. Aber hier muß die Politik den Vorrang haben und das entscheidende Wort sprechen.
Die erste Aufgabe wäre es doch wohl in dieser Lage, zunächst das Atomwettrüsten zu bremsen, und zwar dadurch, daß nicht noch weitere hineingerissen
werden. Da haben Sie wieder einen Schritt, nämlich nach oder zusammen mit der Einstellung der Veruchsexplosionen keine weiteren Atommächte entstehen zu lassen. Mein Freund Arndt sagte es schon: Solange es nur ein paar Atommächte gibt, ist noch Hoffnung auf ein Abkommen; wenn die Atomwaffen erst allgemein verteilt sind, ist der Weg ins Verhängnis beschritten.
Der Bundeskanzler hat diese Erkenntnis auch einmal gehabt. Im April 1957 — es ist noch gar nicht lange her — hat er ausgeführt, daß die Chancen auf eine Abrüstung der Atomwaffen schwinden müßten, wenn die atomare Rüstung um sich greife; diesem Punkte stimme er zu. Heute haben wir vom Herrn Bundeskanzler gehört: solange bestimmte Mächte nukleare Waffen hätten, drohe die Gefahr, daß sie auch gebraucht würden.
Natürlich droht diese Gefahr, und sie ist um so größer, je mehr Mächte die nuklearen Waffen haben.

(Beifall bei der SPD.)

So sollten wir uns also bemühen, einen Druck auf die Weltmeinung auszuüben; und sie ist wichtig nach allen Seiten, weil sich heute beide Seiten in einem weltweiten Ringen um Sympathien für ihre eigene gesellschaftliche Ordnung befinden. Da ist auch die Sowjetunion empfindlich. Da kann man die Macht der Völker nach allen Seiten einsetzen. Da müßten wir den Großmächten zeigen — sie müßten es spüren —, daß sie in Gefahr stehen, die politische Führungsrolle — wenn Sie so wollen, auch die geistige Führungsrolle jeweils in ihrem Bereiche — zu verlieren, wenn sie die Meinung der Mehrheit der Erdbevölkerung in dieser Frage mißachten und in den Wind schlagen.
In diesem Sinne sollte man an die Dinge herangehen und die Vorschläge der polnischen Regierung wenigstens als Verhandlungsgrundlage aufgreifen. Mittel- und Osteuropa außerhalb der Sowjetunion frei von Atomwaffen mit einer wirksamen, bereits zugestandenen Kontrolle und dann in Verbindung mit dem doch auch schon in den Erklärungen angedeuteten Truppenabzug, das ist doch schon etwas, was die Lösung sehr wesentlicher Probleme für uns are fördern könnte!
Statt solche Vorschläge abzuwerten, sollte man sie lieber ergänzen, Vorschläge machen, darüber verhandeln und die eigene Initiative Polens auch als solche werten, statt durch stures Nein den Sowjetblock immer wieder zusammenzupressen und nicht anzuerkennen, daß es dort eigenständige Regungen gibt, die man fördern und nicht ersticken sollte.

(Beifall bei der SPD.)

Aber man hat ja hierzulande Angst vor Vorschlägen, welche die fortschreitende Integration des westdeutschen Potentials in die westliche Verteidigungsgemeinschaft stören könnten. Wir sollen so unlösbar in das atlantische Gewebe hineinverflochten werden, daß, auch wenn die Einheit das einmal erforderlich machen sollte, gar keine Lösung mehr möglich ist und wir uns dann vor der Barriere



Erler
der militärischen Tatsachen befinden, die inzwischen geschaffen sind.

(Abg. Wehner: Das ist leider wahr!)

Schon die Planung der Verwendung der Atomwaffen für den Fall eines Konflikts auf deutschem Boden hat eine grausige geistige Folge. Mit diesen Waffen kann man bekanntlich gar nicht auf bestimmte einzelne militärische Objekte zielen, sondern damit kann man nur Flächenzerstörungen anrichten, Bevölkerungsteile ausrotten. Was heißt das für den Fall eines Konflikts auf deutschem Boden? Die Verwendung dieser Waffen würde sich nicht etwa gegen Truppen richten, die unter Umständen unsere Freiheit bedrohen könnten über Waffen dafür läßt sich reden, Herr Minister —, sondern die Verwendung der Atomwaffen würde praktisch die eigenen Landsleute jenseits der Demarkationslinie zu einem auszurottenden feindlichen Volk stempeln; das ist das Schreckliche.

(Beifall bei der SPD und FDP.)

Warum haben wir es mit der Atomrüstung so eilig? Man behauptet immer, man habe es nicht eilig. Aber bis zum 3. April soll entschieden sein. Und dann hat man es angeblich nicht eilig! Kein Gefolgsstaat der Sowjetunion verfügt selbst über Atomwaffen. Die Abschreckungspotentiale befinden sich wechselseitig im Besitz der Großmächte. Dazu werden wir überhaupt nicht gebraucht. Praktisch heißt das Greifen nach den Atomwaffen doch, daß man wieder einmal zu den Insignien der Weltmächte greift.

(Abg. Schmidt [Hamburg] : Darum geht es ja auch!)

Daran haben wir, wie der Verteidigungsminister in richtiger Erkenntnis gesagt hat, uns schon zweimal die Finger verbrannt. Dann sollte man in diesem Falle doch die richtigen und nicht die falschen Konsequenzen ziehen.
In Fort Knox hat der Minister — wenn ich richtig gelesen habe ausgeführt, Mittelstreckenraketen mit fahrbaren Rampen seien in Mitteleuropa zur Verteidigung notwendig. Was heißt hier Mittelstrecken? Was heißt hier Mitteleuropa? Welches Land kann damit gemeint sein, wo man sie bräuchte? Ich entdecke nur die Bundesrepublik Deutschland; denn das andere, was zur NATO gehört, ist Westeuropa. Und welche Raketen sind gemeint? Von fahrbaren Rampen ist die Rede. Dann doch wohl nur der Matador, der angeblich gar keine Rakete ist. So muß man das doch lesen, was der Minister in Fort Knox gesagt hat.
Aber noch gefährlicher sind, wenn sie zutreffen, jene Begründungen, die uns gegeben worden sind: daß man damit Erfahrungen sammeln wolle, nicht nur für die Ausbildung der Truppe, sondern um den Anschluß an die technische Entwicklung zu finden. Das leitet also über auf das Gebiet der Produktion. Meine Damen und Herren, seien wir uns darüber ganz klar: Trotz aller Beteuerungen, die jetzt gelegentlich aus westlichen Ländern in dieser Frage zu uns hin gesprochen werden, würde die Aufnahme der Produktion solcher Waffen in West und Ost Mißtrauen gegen deutsche Absichten wecken, im Westen zusätzlich noch Zweifel an unserer Vertragstreue. Was soll das heißen: Anschluß an die Entwicklung? Ich las in der Zeitung, man wolle beantragen, die Produktionsbeschränkungen für Fernraketen nach Anlage II zu Protokoll III der Pariser Verträge mit Zweidrittelmehrheit aufheben zu lassen. Es ist darin vorgesehen, daß man das kann.
Aber wenn man am Matador arbeitet, der nach der Definition des Vertrages, wie Kollege Arndt zutreffend ausgeführt hat, eindeutig zu den Waffen gehört, für die Atomspengköpfe bestimmt sind, dann folgt ja wohl bald eine Änderung des Vortrages, wonach sich die Bundesrepublik bisher verpflichtet hatte, Atomwaffen in ihrem Gebiet nicht herzustellen.

(Abg. Dr. Mommer: Der nächste Schritt!)

Die Produktion des Matador fällt unter das Verbot. Auf diesem Gebiet hat man es mit der Revision der Verträge eilig. Wenn es aber für die deutsche Einheit nötig ist, dann wird keine Initiative zur Vertragsrevision ergriffen, sondern jeder verdammt, der sie fordert.

(Beifall bei der SPD und FDP.)

Oder will man gar die für uns geltenden Produktionsbeschränkungen einfach umgehen, indem man sagt — was ja eine Roßtäuschermethode wäre In den Verträgen ist ja nur von der Produktion in Deutschland geredet; man kann ja deutsche Wissenschaftler und deutsches Geld auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland arbeiten lassen. Soll eine solche angebliche Gemeinschaftsarbeit den Sinn des Vertrages aushöhlen? Herr Minister, Dementis beruhigen uns hier nicht. Nur noch Texte können helfen. Was steht in den deutsch-französischen Vereinbarungen, welche die beiden Minister nach ihrem Besuch in Colomb-Béchar getroffen haben?

(Sehr wahr! bei der SPD. — Lebhafte Zurufe von der SPD: Zuhören!)

— Ich warte, bis der Herr Verteidigungsminister zuhört, weil ich dann meine Frage wiederholen kann.

(Zuruf von der SPD: Er ist sehr dickfällig! — Weitere Zurufe von der SPD.)

— Dann werde ich so lange warten, bis der Herr Minister zuhört.

(Abg. Rasner: Herr Erler hat das Recht verwirkt durch seine unqualifizierte Äußerung! — Abg. Wehner: Wer entscheidet das, Herr Rasner? — Abg. Rasner: Das ist meine Meinung, Herr Wehner! Meine Meinung kann ich haben! — Weitere Zurufe und Gegenrufe.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301806700
Ich bitte um Ruhe. Es steht eindeutig fest, daß der Herr Minister jetzt zuhört.

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301806800
Herr Minister, ich habe die Frage der Fortgeltung der Produktionsbeschränkungen auf dem Gebiete der Herstellung von Atomwaffen



Erler
angesprochen und gefragt, ob es vielleicht so sei, daß man sage, diese Beschränkung gelte nur für das Gebiet der Bundesrepublik, deutsches Geld und deutsche Forscher könnten in Gemeinschaftsarbeit mit anderen Staaten das eventuell woanders tun. Sie haben eine Reihe von Dementis in dieser Sache abgegeben. Dementis beruhigen mich nicht, nur noch Texte. Wir wollen wissen — das kann man ja im Verteidigungsausschuß behandeln —: Was steht in den deutsch-französischen Vereinbarungen drin, welche Sie nach Ihrem Besuch in Colomb-Béchar mit dem französischen Verteidigungsminister auf dem Gebiet der Gemeinschaftsproduktion für Rüstungszwecke getroffen haben, und was steht in dem Dreier-Abkommen Deutschland-FrankreichItalien drin? Ich kann mir durchaus denken, daß man dort nicht schon konkret die Herstellung von Atomwaffen aufgenommen hat. Vielleicht ist es so — aber darüber sollten Sie Klarheit schaffen —, daß man sich damit begnügt hat, die Arbeiten auf dem Gebiete der Atomwaffen von der deutsch-französisch-italienischen Gemeinschaftsarbeit nicht auszuschließen. Schon das wäre die Bereitschaft zur Verletzung der Vertragspflichten!
Nach dieser Frage nun wieder zu den politischen Problemen zurück. Man kann nicht von Entspannung und Abrüstung reden, aber das Gegenteil tun, Matadore kaufen, sich mit ihnen so beschäftigen, daß man den Anschluß an die Entwicklung findet, also die Produktion von Atomwaffen notfalls in Gemeinschaftsarbeit vorbereiten, die Atombewaffnung der Bundeswehr im NATO-Rat billigen. Anscheinend ist das schon geschehen, obwohl man uns früher zugesichert hatte, daß derartige Entscheidungen im NATO-Rat nur nach Anhörung der Parlamentsausschüsse gefällt würden und nicht vorher.

(Zuruf von der SPD: Was wär's ein Wunder!)

All das ist das Gegenteil von Entspannung.
Ich halte es auch für falsch, der anderen Seite damit zu drohen, daß man sagt: Wenn du nicht bis zu einem bestimmten Termin umfassende Abrüstungsabkommen getroffen und die deutsche Frage gelöst hast, dann werden wir auf jeden Fall zur Atombewaffnung schreiten, aber gleichzeitig ab heute schon mit der Durchführung dieser Drohung beginnen. Diese Politik ist doch bisher schon fehlgeschlagen. Das hat man erzählt bei der EVG, das hat man erzählt beim Eintritt in die NATO, das hat man erzählt bei der beginnenden Aufstellung der Bundeswehr. Inzwischen ist die sowjetische Position härter und nicht weicher geworden. Jetzt setzen Sie noch Atomwaffen drauf! Sie werden dasselbe Fiasko mit dieser Art Politik erleben.

(Beifall bei der SPD und FDP.)

Was soll denn dann noch kommen, wenn auch das nicht sticht, damit es für die Sowjetunion ungemütlich genug wird, damit sie endlich in die deutsche Einheit einwilligt?!

(Zuruf von der FDP.)

— Ja, das scheint bei manchen der Hintergrund zu
sein. Mit Erpressungen jedenfalls ist die deutsche
Frage bei den Machtverhältnissen in dieser Welt nicht zu lösen.
Der Herr Bundeskanzler hat vorhin eine Parallele gezogen zu der Debatte am 15. Dezember 1954 hier in diesem Hause. An diese Debatte habe ich auch gedacht. Damals hat der Abgeordnete Kiesinger hier ausgeführt:
„Politik der Stärke": nun ja, man wirft sie uns vor. Das ist ein Schlagwort, das in manchen Zirkeln nicht schlecht wirkt. Aber es ist doch einfach die Wahrheit! Haben wir nicht in den letzten Jahren gelernt, daß es einzig die Stärke ist, die den Sowjetrussen imponiert und die sie dazu bringt, Zugeständnisse zu machen?!
Welche Zugeständnisse in der deutschen Frage sind denn auf Grund dieser Politik gemacht worden?

(Beifall bei der SPD. — Abg. Kiesinger: Darf ich eine Frage stellen? Herr Abgeordneter Erler, gestatten sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kiesinger? Herr Kollege Erler, glauben Sie nicht, daß die Politik der Stärke, von der Sie eben sprechen — ich mag auch lieber den Ausdruck „die Politik des Gleichgewichts" – , seitdem die Truman-Doktrin in die Welt gesetzt wurde, allerlei Zugeständnisse von den Sowjets erreicht hat? Herr Kiesinger, hier war eindeutig von der Wiedervereinigung Deutschlands die Rede, zu deren Behuf Sie die Politik der Stärke treiben wollten; und da sind wir ja nun alle Zeugen, wohin sie uns geführt hat. Das Problem ist nämlich nicht, daß der Westen insgesamt, solange sich die Sowjetunion nicht auch ihrerseits — das muß doch beiderseits geschehen — zu einem gemeinsamen Eingehen auf Abrüstungsbemühungen entschließt, ein gewisses Gleichgewicht aufrechterhält. Das Problem für die deutsche Frage ist, ob die Art der Mitwirkung der Bundesrepublik in einer bestimmten Verteidigungsorganisation die Bemühungen um die Einheit Deutschands fördert oder hindert. Das ist das wirkliche Problem. Der Herr Bundeskanzler hat vorhin erfreulicherweise einen Satz korrigiert, den er früher einmal in diesem Hause ausgesprochen hat. Heute früh hat er gesagt, wenn es einen Konflikt gebe, dann würden wir auf jeden Fall hineingerissen, ob wir nun bewaffnet seien oder nicht. Das ist eine erfreuliche Korrektur jener Sätze, die der Herr Bundeskanzler am 25. Februar 1955 dem deutschen Volke zugemutet hat. Damals hat er gesagt: Erler Deswegen will ich ganz einfach dem deutschen Volke folgendes sagen: Solange wir nicht zur NATO gehören, sind wir im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrußland und den Vereinigten Staaten das europäische Schlachtfeld, und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr. Aber heute hat der Bundeskanzler das widerrufen; das nehmen wir dankbar zur Kenntnis. (Beifall bei der SPD. — Abg. Wienand: Gewichtige Kanzlerworte! — Weiterer Zuruf von der SPD: Er widerruft gleich noch mal!)

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301806900

(Abg. Erler: Jawohl!) — Herr Abgeordneter Kiesinger!

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301807000

(Lachen und Zurufe von der SPD.)

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301807100

(Beifall bei der SPD und der FDP.)


(Beifall bei der SPD und der FDP.)




Der Kanzler sprach von den Gesetzmäßigkeiten der Waffentechnik. Ich darf seine Rede dahin resümieren: Wir lassen uns nicht beirren; wir werden ohne Rücksicht auf irgendwelche Einwände anderer Seiten das tun, was uns die Geschichte angesichts der Fortentwicklung der Waffentechnik jetzt nun einmal auferlegt.
Meine Damen und Herren, bisher hat man jede Möglichkeit, zu bestimmten Zeiten die deutsche Frage zu erörtern, in den Wind geschlagen. Genau das geschieht jetzt, in dieser Stunde, wieder.

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

Damit sind wir wieder in einer jener Situationen, wo man einer bestimmten Art der Bewaffnung den Vorrang vor den politischen Lösungen gibt, die sich anbahnen.

(Beifall bei der SPD und der FDP. — Abg. Wehner: Leider wahr! Eine gefährliche Weichenstellung!)

Dabei wußte und weiß es der Bundeskanzler besser. Er hatte recht mit seiner Erklärung, daß die Wiedervereinigung erst möglich ist, wenn es Fortschritte auf dem Gebiete der Entspannung und der Abrüstung gibt. Deshalb ist es auch falsch, daß man etwa ein Ultimatum stellt: Abrüstung wird nur erlaubt, wenn die Wiedervereinigung von Anfang an schon zugestanden ist. Durch ein solches Ultimatum verhindert man nämlich beides, die Abrüstung und die Wiedervereinigung.

(Abg. Dr. Mommer: Sehr wahr!)

Wer den Weg zur Einheit wirklich gehen will, der muß die Abrüstung fördern, weil das der Punkt ist, an dem man auch die Interessen aller anderen in Bewegung setzen kann. Gleichzeitig muß man mit den Bundesgenossen darüber sprechen, daß es dauerhafte Lösungen nur geben kann; wenn Deutschland wiedervereinigt wird, und daß daher die deutsche Frage im Laufe der Verhandlungen in vernünftiger Weise und nicht erpresserisch mit der Sicherheit für Europa verbunden werden muß. Gerade da taucht der Gedanke des Truppenabzugs aus Mitteleuropa auf. Er bringt doch die deutsche Frage ins Gespräch und damit der Lösung näher. Das ist genau ein solcher Vorschlag, wie ihn früher einmal der Bundeskanzler im Auge gehabt haben mag, als er am 23. Februar 1954 in Berlin sagte — ich zitiere Bundeskanzler Dr. Adenauer —:
Die Probleme der Weltpolitik greifen heute
alle ineinander. Das gilt auch für die Deutschlandfrage. Wenn der direkte Versuch zur Wiedervereinigung heute gescheitert ist, so heißt dies durchaus nicht, daß alles verloren ist. Eine Einigung über asiatische Probleme, ein erster Versuch zur Weltabrüstung, ein Atomabkommen — dies alles wären bedeutende Fortschritte zur Beendigung des Kalten Krieges. Überall, wo etwas zur Entspannung des Weltkonflikts geschieht, da geschieht auch etwas für Deutschland.
Ja, warum dann nicht die Entspannungsvorschläge ausnutzen, sage ich, die auf dem Tisch liegen?

(Abg. Wehner: Ja. aber das war noch zu der Zeit, als Herr Friedlaender die Interviews machte! — Heiterkeit bei der SPD.)

Es geht sogar weiter:
Im Rahmen einer allgemeinen Weltregelung wäre das Deutschlandproblem verhältnismäßig leicht zu lösen. Aber schon
— und prophetisch werden die polnischen Vorschläge vorweggenommen, damals schon! —
mit jeder Teilregelung wird es leichter lösbar.
Nur — wenn die Teilregelung angeboten wird, dann akzeptiert man sie leider nicht!
Deshalb
— so sagt der Herr Bundeskanzler —
sollten wir uns alle freuen, daß Versuche zur
Entspannung nach Berlin jetzt in Gang kommen.
Soweit damals der Herr Bundeskanzler. Meine Damen und Herren, vielleicht erinnert er sich einmal dieser Worte und überlegt sich, ob es nicht an der Zeit wäre,

(Abg. Wehner: Zu Herrn Friedlaender zurückzukehren!)

zu diesen Maximen des Jahres 1954 zurückzukehren.
Der Herr Verteidigungsminister schnitt hier das allgemeine Sicherheitsproblem in der Welt an. Sicher beherrscht Mißtrauen die Welt — und zwar auf Gegenseitigkeit — und hat das Wettrüsten seine Wurzel in diesem Mißtrauen. Aufgabe einer sinnvollen Verteidigung kann es doch wohl nur sein, einen Schutz gegen einen möglichen Angriff so zu gestalten, daß man damit nicht selber das zerstört, was geschützt werden soll. Ist es nun zu dieser Aufgabe unbedingt hinzugehörig, daß wir, in ein altes deutsches Erbübel verfallend, uns von vornherein wieder einen möglichen Erbfeind an die Wand malen? Eine Weile war es Frankreich, dann war es das perfide Albion, und heute muß es also, coûte que coûte, die Sowjetunion sein. Man kann durchaus illusionslos und nüchtern die Weltkarte betrachten und sich seine Gedanken machen. Aber wir werden bestimmt dem Frieden in der Welt nicht dienen, wenn wir vorher versuchen, die Völker ideologisch möglichst aufeinander loszulassen. Das ist kein Beitrag zum Frieden.

(Beifall bei der SPD und der FDP.)

In den vergangenen Zeiten hatte auch hier der Bundeskanzler andere Meinungen als jetzt der Verteidigungsminister. Das Bulletin der Bundesregie-



Erler
rung gab im Jahre 1952 eine Rede des Kanzlers vom 18. Oktober wieder. Da sagt er:
Ich war und bin auch immer der Auffassung gewesen, daß die Sowjetunion zum heißen Krieg nicht schreiten wird wegen der damit schon jetzt für sie verbundenen großen Gefahr.

(Abg. Mommer: Schon 1952!)

Damit ist eine Teilantwort gegeben auf die Frage, die der Verteidigungsminister an die Opposition glaubte richten zu müssen.

(Abg. Wehner: „Die Situation ist da!")

Meine Damen und Herren! Die Politik, wie sie uns der Minister dargestellt hat, leidet an einer falschen Grundvorstellung: daß man den Gegensatz zwischen unseren Lebensformen und denen, die es in der Sowjetunion gibt, im wesentlichen als ein militärisches Problem betrachtet und nicht begreift — das klang immer nur ganz am Rande hier an —, daß in Wahrheit viel wichtiger als die militärischen Fragen die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fragen, die Stabilität unserer Ordnung im Innern, die Gesundheit unserer Wirtschaft sind. Um es brutal zu sagen: den Kommunismus in Italien können Sie nicht mit Atomwaffen bekämpfen, und 5 Millionen Arbeitslose in den Vereinigten Staaten sind für die Sowjets eine wirksamere Waffe, als wir auf der anderen Seite mit der Atombewaffnung der Bundeswehr ausgleichen könnten.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP.)

Wenn wir so die militärischen Fragen auf das richtige Maß zurückgeführt haben, dann kommen wir auch zu der Größenordnung, die wir unseren eigenen Verteidigungsanstrengungen überhaupt nur geben können. Herr Bundesminister, ich maße mir nicht an, Sandkastenspiele zu machen und militärische Aufgaben zu stellen für einen Fall, der hoffentlich nie eintritt. Aber eines möchte ich ehrlich sagen: Die Kräfte, mit denen wir uns vergleichen dürfen und müssen, können nicht die Kräfte der Sowjetunion selbst sein; denn das ist ein Rückfall in den Größenwahn.

(Lebhafter Beifall bei der SPD.)

Was Sie da an Gedanken aus unseren Reihen aufgeschnappt haben — wozu wir uns auf unserem Parteitag noch ausführlicher äußern werden —, läuft doch nur auf eine Umschreibung dessen hinaus, woran man die Verteidigungskraft und -anstrengungen der Deutschen in der Bundesrepublik messen kann, damit das, was sie auf sich laden, nicht ihr soziales Fundament zerstört und durch Überziehen der finanziellen Möglichkeiten uns mit Sicherheit in die Inflation hineinjagt, wie es doch jetzt der Weg der Regierung ist.

(Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Wehner: Leider wahr!)

Wir haben, glaube ich, alle ein Interesse daran, daß die deutsche Frage bei den Verhandlungen der Weltmächte auf der Gipfelkonferenz behandelt wird, auch wenn man das nicht so tun darf, daß man gewissermaßen die Konferenz verbietet, wenn sie sich nicht mit uns beschäftigt. Denn wir halten es nicht aus, wenn wir den Finger in die Interessen der Großmächte auf dem Gebiet der Abrüstung hineinklemmen. Dann geht man erst recht über unsere Köpfe hinweg. Wer abrät, den kann man übergehen, auf dessen Ratschläge braucht man nicht zu hören. Wer zu einem Unternehmen geraten, hat, der hat auch die Möglichkeit, Einfluß auf den Gang dieses Unternehmens auszuüben. So sollte man sich also der Konferenz gegenüber einstellen, ihr nicht möglichst viele Knüppel zwischen die Beine werfen, aber für eine vernünftige und anständige Vorbereitung sorgen.
Meine Damen und Herren, da ist nun von der anderen Seite das Stichwort Friedensvertrag gefallen. Das wäre ein Aufhänger gewesen, um überhaupt das deutsche Problem auf der Tagesordnung zu haben. Offenbar zieht die Regierung vor, die Konferenz platzen zu lassen, wenn die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung steht, oder die deutsche Frage überhaupt nicht behandeln zu lassen, weil ihr das Stichwort Friedensvertrag nicht gefällt. Bei diesem Stichwort hätte man aber doch den Status des wiedervereinten Deutschlands zur Erörterung stellen müssen, weil das gar nicht anders geht, und damit eine für die Wiedervereinigung lebenswichtige Vorfrage klären können.
Niemand in diesem Haus glaubt doch heute noch, daß die Sowjetunion den Griff auf die Sowjetzone lockert, wenn sie nicht weiß, wohin die Zone damit entlassen wird,

(Sehr richtig! bei der SPD.)

wenn sie nicht weiß, wie der Status des wiedervereinten Deutschlands in großen Zügen sein wird.
Die Regierung hat uns damit vertröstet, daß sie sagt: Wir wollen die deutsche Frage zwar auf der Tagesordnung haben, aber nicht unter diesem Stichwort. Dann frage ich die Regierung: Worüber soll dann eigentlich nach ihrer Vorstellung auf der Konferenz geredet werden? Daß dort gleich die Wiedervereinigung nach den bisherigen Bedingungen — Freie Wahlen und NATO-Mitgliedschaft für das wiedervereinigte Deutschland erlaubt — herauskommt, ist ausgeschlossen. Worüber soll dann gesprochen werden?

(Abg. Wehner: Über die NATO — Heiterkeit bei der SPD.)

An diesem Punkt ist doch bisher auch — ich sage nicht „nur" — jeder Fortschritt in der deutschen Frage gescheitert. Die Regierung muß uns einmal darüber Auskunft geben — nachdem sie mit Fragen an die Opposition großzügig verfahren ist —, wie sie auf die Konferenz einwirken wird, welche Gedanken sie dort durch unsere Bundesgenossen vortragen lassen wird, damit die deutsche Frage mit Aussicht auf Erfolg behandelt werden kann und nicht nur eine Barriere ist, die andere Ergebnisse auch noch verhindert.

(Abg. Wehner: Sie veröffentlicht Übersetzungen aus dem NATO-Apparat! —)

Das Thema allein genügt doch nicht. Man muß dann
schon Vorschläge für den Inhalt der Behandlung



Erler
dieser Frage auf der Konferenz machen, nachdem uns Herr Gradl zu einer ähnlichen Frage versichert hat, daß andere auf diesem Gebiet sicher nicht mehr tun werden als wir selber. Aber von der Regierung haben wir da nichts vernommen, nur den Wunsch, über die deutsche Frage solle geredet werden. Aber wie, darüber scheinen andere sich den Kopf zerbrechen zu sollen, statt daß wir einen Beitrag leisten. Wer Entspannung will, der soll auch der mit vielen skeptischen Vorzeichen zu versehenden Begegnung der Großmächte durch sein eigenes Verhalten den Weg zu Erfolgen ebnen helfen. Da müssen wir Ratschläge geben. Aber wir sollten es nicht bei Worten bewenden lassen, sondern unsere praktische Politik muß den Worten entsprechen. Wer Entspannung will, der kann nicht gleichzeitig weitere Staaten ins Atomwettrüsten hineinreißen. Deshalb für uns und erst recht in dieser Lage, in der wir jetzt leben: Hände weg von den Atomwaffen! Sie schaffen keine Sicherheit, sondern nur neue Gefahren und vertiefen den Graben durch unser Land.

(Abg. Wehner: Sehr wahr! — Anhaltender Beifall bei der SPD. — Unter Zurufen der SPD kommen die CDU-Abgeordneten wieder in den Saal. — Glocke des Präsidenten.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0301807200
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

(Zurufe von der SPD: Aha! — Glocke des Präsidenten.)

Ich bitte um Ruhe!

(Abg. Welke: Weil der Führer spricht!)


Dr. Konrad Adenauer (CDU):
Rede ID: ID0301807300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Erler hat eingangs seiner Rede gesagt, ich hätte früher immer gern Zensuren über Reden erteilt. Nun, wenn ich das getan habe, will ich es auch heute tun.

(Zuruf von der SPD: Das war zu erwarten!)

Er hat das muß ich ihm wirklich zugeben —
alles, was ich einmal geredet habe, sehr fleißig durchgesehen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Schmid.)

Ob er immer richtig zitiert hat, das ist ja nun eine andere Frage.

(Abg. Dr. Mommer: Das können Sie nachprüfen!)

Ich werde auf einige Punkte eingehen, nur auf wenige, well ich annehme, daß auch noch andere Redner heute zu Wort kommen wollen.

(Abg. Schmidt [Hamburg]: Das ist einfach unwahr! — Abg. Erler: Ob wir bewaffnet sind oder nicht, haben Sie gesagt! — Glocke des Präsidenten.)

— Was habe ich gesagt?

(Abg. Erler: Ob wir bewaffnet sind oder nicht, das sei gleichgültig; wir würden Schlachtfeld! — Zurufe bei der SPD: Das haben Sie gesagt! — Genau das!)

— Also lesen Sie bitte das Stenogramm durch, dann werden Sie — —

(Abg. Dr. Mommer: Wir werden das Band hören! — Zuruf von der SPD: Das wissen wir doch! — Unruhe. — Glocke des Präsidenten.)

— Herr Präsident, ich bitte, mir Ruhe zu verschaffen!
Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, daß wir uns gegenseitig anhören sollten.

(Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zurufe. — Glocke des Präsidenten.)

— Haben Sie eigentlich das Wort oder habe ich das Wort.? Sie reden fortgesetzt. Sie können ja nachher reden. Aber wir wollen uns doch gegenseitig anhören.

(Erneute lebhafte Rufe von der SPD. — Glocke des Präsidenten.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301807400
Zwischenrufe sind ein parlamentarischer Brauch. Aber kleine Reden sind keine Zwischenrufe.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)


Dr. Konrad Adenauer (CDU):
Rede ID: ID0301807500
Ich wiederhole: Lesen Sie das bitte durch!

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301807600
Herr Bundeskanzler, hier wünscht Herr Zoglmann eine Frage zu stellen.

Dr. Konrad Adenauer (CDU):
Rede ID: ID0301807700
Ich bedauere sehr; ich will möglichst kurz sprechen, damit noch andere Redner nach mir sprechen können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie haben, Herr Kollege Erler, weiter gesagt, wir müßten uns dafür einsetzen,

(Abg. Erler: Herr Bausch will wieder ein Ermächtigungsgesetz machen!)

daß auf die beiden Großmächte der Druck der Weltmeinung zur Abrüstung ausgeübt werde.

(Unruhe.)

Ich halte mich doch für verpflichtet, im Interesse zweier nuklearer Mächte, nämlich im Interesse der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, darauf hinzuweisen, daß sie sich sowohl bei der Londoner Abrüstungskonferenz wie bei den UNO-Beschlüssen der Abrüstung unterworfen haben.
Ich teile, Herr Erler, Ihre Auffassung, daß man bei Verhandlungen keine Ultimaten stellen dürfe.



Bundeskanzler Dr. Adenauer
Ich teile auch vollkommen Ihre Auffassung, daß man versuchen müsse, möglichst hier zu fühlen und möglichst da zu tasten. Aber erlauben Sie mir doch die Frage, ob die heutige Art der Verhandlung der Abrüstung, der Entspannung sehr förderlich ist und ob den Mächten, die durch ihren Beschluß in der UNO-Versammlung sich bereit erklärt haben abzurüsten, nicht bitterlich Unrecht dadurch geschieht, daß man sie so behandelt wie Sie sie, Herr Kollege Erler, in ihrer Rede behandelt haben. Das bitte ich doch einmal zu überlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei der SPD. — Große Unruhe. — Abg. Wehner: Sie klatschen in jedem Fall! Weiterer Zuruf von der SPD: Tiefer geht es nimmer!)

Meine Damen und Herren, nun noch zum Schluß etwas! Sie haben, Herr Kollege Erler, im ersten Teil ihrer Ausführungen gesagt, daß wir dem Volk nicht die Wahrheit sagten und daß unsere Politik deswegen unglaubwürdig sei. Sie haben speziell mich angeführt und von einem Zitat von mir in der Bundestagssitzung vom 7. Oktober 1954 gesprochen. Nun, dieser Bundestagsverhandlung vom 7. Oktober ging die Bundestagsverhandlung vom 5. Oktober voran. In dieser Bundestagsverhandlung vom 5. Oktober, in der ich über die Konferenz der neun Mächte in London berichtet habe, habe ich ausdrücklich folgendes gesagt: „In diesem Zusammenhang haben die Bundesrepublik, Belgien und Holland freiwillig auf die Herstellung ven Waffen für die Atomkriegführung sowie für den bakteriologischen und chemischen Krieg verzichtet!" Ich wiederhole: 'auf die Herstellung. Sie haben insofern recht, als merkwürdigerweise — ich werde den Herrn Bundestagspräsidenten bitten, das aufzuklären — in dem Protokoll über die Sitzung vom 7. Oktober, in dem das Thema noch einmal zur Sprache kommt, plötzlich statt „Herstellung" — „Gebrauch" steht.

(Zurufe von der SPD.)

Dann heißt es aber in den folgenden Ausführungen: Achten Sie das nicht gering und glauben Sie nicht, daß ein solcher Verzicht uns leicht gefallen wäre, — „weil wir nicht die nötigen Kosten dazu aufbringen könnten!" Und da habe ich ungefähr dasselbe zitiert wie am 5. Oktober, so daß ganz augenscheinlich dieses Wort „Gebrauch" hier eine nicht richtige Wiedergabe ist.

(Lebhafte Zurufe bei der SPD. — Abg. Dr. Mommer: Jetzt sind es die Stenographen! — Abg. Wehner: und der Korrektor!)

— Nein, meine Damen und Herren, ich lasse mir nicht gerne nachsagen, daß ich das deutsche Volk irreführe, und ich nehme an, Sie werden dafür Verständnis haben.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Endlich habe ich in einer weiteren Bundestagssitzung am 15. Dezember 1954, ebenfalls gesagt: „Aus freiem Entschluß haben wir darauf verzichtet, gewisse massenvernichtende Waffen herzustellen."
Ich werde also den Herrn Bundestagspräsidenten bitten, festzustellen, wie das Wort „Gebrauch" da hereingekommen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Lebhafte Zurufe von der SPD. — Abg. Dr. Mommer: Jetzt sind es die Stenographen!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301807800
Das Wort hat der Herr Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten.

Dr. Heinrich von Brentano (CDU):
Rede ID: ID0301807900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte dem Herrn Kollegen Erler nur in einem Wort, mit einer Berichtigung antworten und möchte dann eine Frage stellen.
Der Herr Kollege Erler hat auf den Bericht des Abrüstungsausschusses des amerikanischen Senats vom 9. September 1957 verwiesen und gesagt, in diesem Bericht stehe doch, daß man sich Gedanken darüber mache, ob die amerikanischen Truppen aus Deutschland abziehen könnten, und dann sei es doch nicht an uns, die Amerikaner davor zu warnen. — Herr Kollege Erler, darf ich darauf hinweisen, daß dieser Bericht von der Wiedervereinigung Deutschlands ausgeht. Die Pläne, die Sie vorgetragen und befürwortet haben, gehen nicht von der Wiedervereinigung Deutschlands aus, und deswegen stellt sich die Frage allerdings völlig verschieden. Was im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands geschehen kann und geschehen muß, dafür haben wir ja auch die Vorschläge, die etwa auf der Genfer Konferenz gemacht worden sind, und darüber habe ich die Antwortnote von Präsident Eisenhower zitiert.

(Abg. Erler: Darf ich eine Frage stellen?) — Gern!


Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0301808000
Herr Bundesaußenminister, Sie wären also damit einverstanden, daß für den Fall der Wiedervereinigung das wiedervereinigte Deutschland frei von Atomwaffen ist — die Nachbarstaaten auch — und daß amerikanische Truppen dann nur außerhalb Deutschlands stationiert sind und die sowjetischen Truppen in der Sowjetunion?

(Zurufe von der CDU/CSU.)


Dr. Heinrich von Brentano (CDU):
Rede ID: ID0301808100
Meine Damen und Herren, das ist eine der typischen Fragestellungen, mit denen Sie heute die Öffentlichkeit verwirren. Sie setzen eine Summe von Hypothesen und erwarten dann eine klare Antwort, ohne daß Sie schildern können, wie es mit diesen Hypothesen aussieht.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Wenn Sie Ihre Frage einmal erläutern und mir konkret sagen, welche Sicherheitsgarantien Deutschland gegeben sein sollen, dann können wir weitersprechen. Aber darüber haben Sie geschwiegen, offenbar weil Sie nicht in der Lage sind, etwas zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)




Bundesaußenminister Dr. von Brentano
Herr Kollege Erler hat zu Eingang seiner Rede einen peinlichen Vergleich gezogen.

(Zuruf von der SPD: Aber zutreffenden!)

Er hat erklärt, daß er sich durch die Erklärungen der
Bundesregierung an die Verkündung des totalen
Krieges durch Herrn Goebbels erinnert gefühlt habe.

(Lebhafte Pfui-Rufe von der CDU/CSU. — Abg. Rasner: Das sind Parlamentarier!)

Herr Kollege Erler hat hinzugefügt — und deswegen verstehe ich diese Äußerung nicht, die ich ihm auch nicht zugetraut hätte —, er wolle ja nicht bestreiten, daß die Mitglieder der Bundesregierung und der Mehrheit diese Fragen und Probleme auch vor ihrem Gewissen geprüft und entschieden hätten. Herr Kollege Erler, sehen Sie nicht, daß der Vergleich dann nicht mehr zulässig ist, — daß Sie einen Menschen, der den totalen Krieg wollte, nicht vergleichen können mit denen, die ihn verhindern wollen?

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Erler: Hier geht es nicht um diejenigen, die den totalen Krieg wollten, sondern um die, die Beifall klatschen! — Beifall bei der SPD. — Pfui-Rufe von der Mitte.)

Ich muß allerdings den Herrn Kollegen Erler noch etwas fragen. Ich habe heute morgen vorgelesen, Herr Kollege Erler, was Sie geschrieben haben. Ich darf es, um das Gedächtnis zu schärfen, wiederholen:
Gegen eine bewußt gewollte und mit allen militärischen Mitteln geführte sowjetische Aggression ist die Bundesrepublik hier am Ort militärisch nicht zu verteidigen.
Nun kommt es:
Diese Aggression kann nur verhindert werden, wenn die Sowjetunion weiß, daß ihr Hinterland Schauplatz der massiven Vergeltung durch die Vereinigten Staaten von Amerika ist.

(Hört! Hört! in der Mitte.) Das ist schrecklich aber wahr.

Was wollen Sie, Herr Kollege Erler? Sie wollen, daß andere Länder in anderen Ländern zu unserem Schutz den totalen Krieg führen.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD und der FDP.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301808200
Das Wort hat der Abgeordnete Maier (Stuttgart).

Dr. Reinhold Maier (FDP):
Rede ID: ID0301808300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Abgeordneten! Ich mache in der Beurteilung einen Unterschied zwischen der Vormittagssitzung und der Nachmittagssitzung. Ich bin nicht bekannt als besonders bundestagsfromm, aber wer durch die Vorgänge in der Nachmittagssitzung nun etwa mit besonderen Sympathien für die Art und Weise, wie hier teilweise gesprochen wurde, erfüllt sein sollte, der ist, glaube ich, mit einer Lampe zu suchen. Ich kann nur sagen: mir war, als ich den Herrn Bundesverteidigungsminister hörte, eigentlich so wie nach dem volkstümlichen Wort zumute: Mir ist von allem so dumm, als ginge mir ein Mühlrad im Kopfe herum.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP. — Lachen in der Mitte. — Abg. Kiesinger: Das liegt aber an Ihnen! — Weitere Zurufe von der Mitte. — Abg. Schoettle: Bei Ihnen geht's ohne Mühlrad!)

Ich bin nicht zart besaitet.

(Anhaltendes Lachen und Zurufe von der Mitte.)

Ich habe den Kriegsausbruch von 1914 mitgemacht.

(Zurufe von der Mitte: Andere Leute auch!)

Ich habe eine Revolution mitgemacht; ich habe eine Machtergreifung mitgemacht, und ich habe den Zusammenbruch von 1945 mitgemacht.

(Anhaltende Zurufe von der Mitte: Andere auch!)

Ich war Soldat im ersten Weltkrieg vom ersten bis zum letzten Tag. Ich habe alle Dienstgrade durchschritten.

(Lachen in der Mitte.)

Ich war bei der schweren Artillerie,

(erneutes Gelächter)

und ich hatte es mit dem 21-cm-Mörser zu tun.

(Anhaltendes Lachen bei den Regierungsparteien.)

Aber dem Herrn Bundesverteidigungsminister würde ich kein Feldgeschütz anvertrauen;

(Beifall bei der SPD)

denn wer so spricht wie der Herr Bundesverteididungsminister, der schießt auch.

(Beifall bei der FDP und bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Das war sogar nicht mehr die Rede eines Staatsmannes, sondern das war eine Rede von Krieg und war Kriegsgeschrei.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

Es geht nämlich hier heute, auch nach der Anfrage der CDU, in erster Linie um das Verhalten der Bundesregierung bei der Gipfelkonferenz. Es geht in erster Linie um die Diplomatie, und es geht nicht um Kriegführung. Heute haben wir hier nicht den Verteidigungsminister einer eben in der Aufrüstung begriffenen Bundesrepublik gehört, sondern wir haben den Reichskriegsminister gehört.

(Beifall bei der FDP und bei der SPD. — Lebhafte Pfui-Rufe von der CDU/CSU.)

Und es ist die Rede gewesen von Größenwahn: das war nicht mehr die Sprache eines friedlichen Staatswesens, sondern das war die Sprache eines hochgerüsteten Militärstaates.

(Erneuter Beifall bei der FDP und bei der SPD. — Unruhe in der Mitte. — Abg. Wehner: Leider wahr!)

Das war die Sprache aus dem Munde einer politischen Richtung, welche im Jahr 1949 dem deut-



Dr. Maier (Stuttgart)

schen Vaterland gegenüber noch so pflichtvergessen war, daß sie den Eintritt in die Bundesrepublik abgelehnt hat.

(Zustimmung bei der FDP. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Die CSU hat den Eintritt in die Bundesrepublik abgelehnt.

(Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Mommer: Sehr wahr!)

Ich wende mich aber hiermit — nach dieser Einleitung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriggelassen hat —

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

dem eigentlichen Thema dieser Sitzung zu. Ich möchte es auch deshalb tun, um den Herrn Bundeskanzler von der Rolle des Mauerblümchens zu erlösen, in die er durch die Rede des Herrn Bundesverteidigungsministers gekommen ist.

(Beifall und Heiterkeit bei der FDP und bei der SPD. — Lachen in der Mitte.)

Der heutige Vormittag liegt in seinem ruhigen Ablauf vor unserer Seele sozusagen wie eine stille, fromme Sage.

(Zurufe von der Mitte.)

Trotzdem hat sich dabei verschiedenes Wichtiges ereignet. Nochmals ein Wort zu der Kontroverse zwischen dem Herrn Bundeskanzler und unserem Fraktionsvorsitzenden, Dr. Erich Mende! Es war die Frage: was hat der russische Botschafter gesagt? Hat er gesagt: ein Friedensvertrag mit ganz Deutschland?, oder: zwei Friedensverträge mit den beiden Deutschland? Der Herr Bundeskanzler hat schließlich bekanntgegeben, daß gestern abend die letzte Äußerung des Botschafters lautete: ein Friedensvertrag. Das Aide-memoire ist ja in der Zwischenzeit veröffentlicht worden; auch aus ihm ergibt sich, daß ein Friedensvertrag gemeint war.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber was für einer!)

Der Herr Bundeskanzler befindet sich in dieser Frage in einem Zweifrontenkrieg. An der einen Front erfolgte die Zunichtemachung des Planes des Herrn Abgeordneten Dr. Gerstenmaier, über den Tagesordnungspunkt „Friedensvertrag" die Deutschlandfrage auf die Gipfelkonferenz zu bringen. Der Abgeordnete Dr. Gerstenmaier hat für diesen Plan in der Abwesenheit des Herrn Bundeskanzlers sehr stark geworben, nicht nur hier in Bonn bei den Journalisten, auch in Stuttgart, auch in Hamburg. Und die Version, welche der Herr Bundeskanzler aus dem Gespräch mit dem russischen Botschafter heraushörte, daß nämlich zwei Friedensverträge geschlossen werden sollten, hat dem GerstenmaierPlan das Lebenslicht ausgeblasen. Hierzu war diese Version geeignet.
Offenkundig war dieser Plan eine Gefährdung der Bundespolitik, und sie war die gefährlichere Frontseite. Sie wurde nicht im Parlament gebrochen, sondern in sicher nicht leichtem Ringen hinter den Türen des Fraktionszimmers der CDU/CSU und in Gesprächen zwischen dem Parteivorsitzenden der
CDU und seinem Stellvertreter. Die Front Dr. Mende/Dr. Adenauer war eine durchaus nebensächliche Front. In sie hat der Herr Bundeskanzler heute vormittag seine geballte Kraft hineingelegt. Die Stoßrichtung in der Sache ging in ganz anderer Richtung. Je nach dem Ausfall der endgültigen Formulierung des Botschafters — ein Friedensvertrag oder zwei Friedensverträge — war nicht Dr. Mende desavouiert oder kompromittiert, sondern damit wurde entschieden, ob Herr Dr. Adenauer oder Herr Dr. Gerstenmaier mit der Beurteilung dieser Projekte recht hatte.
Dann möchte ich dem Herrn Bundeskanzler noch eines sagen. Es ist die Frage aufgetaucht, ob ich vorgestern abend beim Herrn Bundeskanzler in Begleitung von Herrn Dr. Mende oder ich in seiner Begleitung dort erschienen bin.

(Heiterkeit.)

Wir haben keine solche Protokolleinrichtungen.

(Heiterkeit. — Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

Wir sind miteinander erschienen, und der Herr Bundeskanzler hat uns miteinander ein großes Staatsgeheimnis anvertraut mit dem Ersuchen um ganz unbedingte Geheimhaltung.

(Lachen bei der FDP und SPD.)

Er hat uns die Geschichte von dem Uran mitgeteilt. E: hat gesagt, daß die Russen wegen des Urans die Sowjetzone nicht verlassen wollen.

(Lachen bei der SPD.)

Und nun kommt der Herr Bundeskanzler und plaudert heute vormittag vor dem ganzen Bundestag und der ganzen Weltöffentlichkeit dieses Geheimnis aus.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD.)

Wie gesagt, die militärischen Experten meiner Partei werden morgen dem Herrn Bundesverteidigungsminister noch verschiedene Mitteilungen zu machen und eine Reihe von Fragen an ihn zu stellen haben und werden seine Auffassung einer gründlichen Nachprüfung unterziehen. Meine Aufgabe ist es, dem Herrn Bundeskanzler zu antworten und damit die Dinge wieder auf das eigentliche Thema zurückzuführen, dessentwegen diese ganze Sitzung stattfindet.
Es gibt ein Datum in der Weltgeschichte, nämlich die Iden des März, das ist die Monatsmitte des März. Diese ist der klassische Zeitpunkt für Mord und Totschlag im inneren Bezirk der Machthaber selbst.

(Heiterkeit.)

Die Iden sind vorbei, und es hat keine Toten und Verwundeten gegeben. Nur Versammlungstüren knallten zu. Wenn nicht alles trügt, naht der Frühling mit Brausen.

(Heiterkeit.)

Er hat in die schon verglimmende Asche politischer Unternehmungs- und Kampfeslust im Quartier der Regierungspartei gewaltig hineingeblasen und dort ein Feuerlein angezündet.



Dr. Maier (Stuttgart)

Nicht aus Schadenfreude registrieren wir das; es gibt uns die Hoffnung, daß aus diesem 3. Bundestag doch noch etwas wird,

(Heiterkeit)

daß er nicht Wahlmaschine, Abstimmungsmaschine, Zählmaschine bleibt, daß er nicht eine Institution ist, in der 51 % die anderen 49 % niederstimmen, die anderen mundtot machen.

(Abg. Dr. Krone: Das ist nur Neid!)

Die ihm zugedachte unrühmliche Funktion hat dieser Bundestag überwunden, und die Freie Demokratische Partei wird den ihr zukommenden Beitrag zur Erhaltung dieses heilsamen Feuers leisten; sie wird nicht Feuer löschen, sondern Feuer zünden.

(Beifall bei der FDP. — Lachen in der Mitte.)

Der Deutsche Bundestag ist kein Reservat, das dem Kommando der Regierungspartei unterstellt ist, wie sich das einige so vorgestellt haben, er ist eine Stätte freier demokratischer Auseinandersetzung; sonst ist er keinen Schuß Pulver wert, vor allem nicht die 20 Millionen DM, die er dem deutschen Volke jährlich kostet.

(Beifall bei der FDP und der SPD. — Abg. Kiesinger: Nicht so militaristisch!)

Eine traurige, widernatürliche Position wäre dem 3. Deutschen Bundestag beschieden gewesen, wenn die gar nicht mehr verdeckten Absichten, die offenkundigen Absichten der Akteure hinter der Szene gelungen wären. Doch dieser Anschlag ist gescheitert. Die Natur und Eigenkraft des Parlaments hat sich deutlich zum Wort gemeldet, und sie ist nicht mehr zum Schweigen zu bringen.
Und das alles hat mit einem katastrophalen psychologischen Fehlgriff der Herr Bundeskanzler persönlich fertiggebracht. Wir brauchen nicht in die sozusagen prähistorische Zeit des Jahres 1952 zurückzugreifen — auch das ist sehr lohnend —; bleiben wir bei der allergegenwärtigsten Gegenwart! Sie ist in voller Beweiskraft da: in nicht ganz vier Wochen, nämlich in seinem Entspannungsversprechen von Paris am 18. Dezember 1957, auf das der Herr Bundeskanzler in einem gewissen Schuldbewußtsein heute früh selbst zurückgekommen ist,

(Lachen in der Mitte)

und in seiner Kehrtwendung in der verhängnisvollen Rundfunkansprache vorn 15. Januar 1958, hat sich der Herr Bundeskanzler weit über das noch erträgliche Maß hinaus vorgewagt.
Dieser abrupte Stellungswechsel wurde einfach abgelehnt. In Paris hat der Bundeskanzler unter dem Eindruck hoch angestiegener Weltgefahren, ja, unter dem Eindruck von richtig oder falsch eingeschätzten westlichen Unterlegenheitsbefürchtungen zwar von weiterer Rüstung gesprochen, jedoch mit klaren, unmißverständlichen Worten hat er im alten Jahr energische Schritte zur Entspannung zugesagt. Der Herr Bundeskanzler hatte vor der Weltöffentlichkeit sogar die Unterschiebung eines Meinungsgegensatzes zu dem amerikanischen Außenminister in Kauf genommen. Er hat die Schleusen der Hoffnung auf Abbau der Spannungen geöffnet, und er wollte sie auch öffnen. Die eindrucksvollen Ergebnisse der Meinungsumfrage gegen die atomare Ausstattung der Bundeswehr und gegen clie atomaren Anlagen in der Bundesrepublik standen ihm vor Augen; das sind einige der wenigen Realitäten, welche der Herr Bundeskanzler sieht, der ja immer in erster Linie Parteimann und in zweiter Linie Staatsmann ist.

(Beifall bei der FDP. — Lachen in der Mitte.)

Solche Realitäten sieht der Herr Bundeskanzler. Und das ist ja im Interesse der CDU gelegen, daß er sie sieht. Er gab Ballast ab, um kurze Zeit danach wieder das alte Lied zu beginnen. Vielleicht hat er seine verhätschelten Wirtschaftswunderphilister in ihrer Gedächtnis- und Beharrungskraft ganz richtig eingeschätzt. Die ernsten Menschen und die politischen Kreise in allen Lagern haben den Schock des Spätherbstes und Frühwinters 1957 noch nicht vergessen. Hier lag eine Selbstüberschätzung vor, und das hat die Menschen irritiert. Einen Widerspruch dieses Grades kann sich selbst der Regierungschef der Bundesrepublik nicht gestatten. Die eigenen Leute haben nicht mehr mitgemacht.
Die eigenen Leute traten nicht zum Gegenangriff an, als ihrem Herrn im Parlament bös zugesetzt wurde. Nicht ein Wort sachlicher Widerlegung fanden in ihren kurzen Auftritten die berufenen Regierungs- und Fraktionsvertreter. Sie konnten nur noch Verunglimpfungen stammeln. Nur eine treue Seele fand sich zur Verteidigung des Chefs. Das war ein Mann vom Lande, weit ab von Bonn. Er mutete in diesem allgemeinen Kneifen an wie die sympathische Figur des tapferen Schneiderleins in der bekannten volkstümlichen Geschichte.

(Abg. Hilbert: Wir wollten doch von der Gipfelkonferenz sprechen!)

Dazu kommt man am besten über solche einfacheren Dinge.
In diesen Monaten hat die öffentliche Meinung ein deutliches Wort mitgesprochen. Sie hat die Politik dorthin zurückgebracht, wohin sie gehört, nämlich primär in das Parlament. Hoffentlich tröstet sich der Herr Bundeskanzler nicht mit dem Sprichwort: Wenn die Katze fort ist, tanzen die Mäuse. Hoffentlich tröstet er sich nicht über die eigentliche Situation hinweg. Der Fall ist ernster, mit Nein allein nicht zu meistern, auch nicht mit nochmals höher und höher getriebener Politik der Stärke. Die alten Rezepte, zu oft gebraucht und zu oft mißbraucht, sie versagen. Ein halbes Dutzend neuer Pläne wurden aus dem engsten Kreis seiner Mitarbeiter — sie sitzen alle hier — zur Diskussion gestellt. Alle diese Männer, sämtlich von Rang und Ansehen und keine Hinterbänkler, konnten sich dem Meinungsdruck in ihrer Umgebung nicht entziehen. Sie wurden von der allgemeinen Unruhe erfaßt. Die Erkenntnis griff auch bei ihnen um sich, daß es so nicht weitergehen könne.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Ist das eine politische Rede?)

Einer nach dem anderen legte seine eigenen Ideen öffentlich dar.
Es kann gelingen, daß alle diese ehrenwerten Männer wieder zurückgepfiffen werden. Der Tat-



Dr. Maier (Stuttgart)

bestand, welcher sie zur Aktivität führte, bleibt. Zu tief ist der Bevölkerung der Schreck vor neuem Krieg in die Glieder gefahren, der Schreck vor Atomkrieg und Atomtod. Allgemein besteht das Gefühl: Vor dem Weitertreibenlassen der Entwicklung zum schlimmen Ende gilt es, alles zu versuchen, was eine Entspannung der Weltlage herbeiführen kann.

(Zuruf der Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen].)

— Sehr verehrte gnädige Frau Kollegin Dr. Weber, bitte, veranlassen Sie einen Ihrer männlichen Nachbarn, die Zwischenrufe zu machen. Ich möchte erstens ein Geburtstagskind nicht rauh angreifen, und zweitens: ich habe selbst auch graue Haare, aber ich huldige dem Grundsatz: Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und es ehren. Wenn Sie also Zwischenrufe machen wollen, fordern Sie einen Ihrer männlichen Nachbarn auf, damit ich dann entsprechend mit ihm umgehen kann.

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Die Forderung, die Dinge nicht weiter treiben zu lassen, ist von der FDP in der Debatte vom 23. Januar eindringlich erhoben worden. Auch heute erheben wir diese Forderung kategorisch. Dabei plädieren wir gewiß nicht auf eine Entspannung um jeden Preis. Wir wünschen nicht die Kapitulation vor einem mächtigen Gegner, dessen Gefährlichkeit uns wohlbekannt ist. Wir wünschen aber die Ingangsetzung aller diplomatischen Mittel, Konzessionsbereitschaft im Tausch gegen echte reale Gegenleistungen, Prüfung aller, auch der geringsten Möglichkeiten, und wir wünschen die Anwendung eines beweglichen Verfahrens. Mit Sturheit und Starrheit wie bisher kommen wir per Saldo nicht weiter.
Wir verlangen, daß der Bevölkerung endlich einmal die volle Wahrheit gesagt wird,

(Beifall bei der FDP und SPD — Oh-Rufe von der Mitte)

nicht mit allgemeinen Redensarten, sondern durch konkrete Erörterung des Standes der Weltpolitik und der für jeden einzelnen sich ergebenden praktischen Konsequenzen. Mit dem Menschentyp, den die Regierungspartei heranzüchtet, bezwingen wir die Lage nicht mehr.

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Die Angst wird kultiviert und das Schielen auf die unbegrenzte Fortdauer des materiellen Standards. Nie werde ich vergessen einen Gang durch die Straßen der Stadt Frankfurt am Main im Höhepunkt der erregenden Vorgänge in Ungarn im November 1956. Von vorausgegangenen Kommunalwahlen prangten noch die Plakate mit folgendem Inhalt: Die CDU verbürgt Wohlstand und Ruhe! Mit diesem Wort hat sie sich dekuvriert, die ihr eigene Methode des Stimmenfangs nun offengelegt.
Aus Gründen ihres inneren Bestands bedarf die Regierungspartei dieses verweichlichten Seelenzustands ihrer Anhänger. Zur Sicherung des äußeren Bestands braucht die Bundesrepublik das genaue Gegenteil. Keine Angsthasen, die im Ernstfall
davonlaufen, kein kopflos hin- und herrennendes Hühnervolk,

(Heiterkeit)

sondern Männer und Frauen, die im Falle der Not hinstehen, zugreifen, Pflichten übernehmen und sie auch erfüllen.
Die erstere, wenig erfreuliche Kategorie sprechen Sie mit ihrer Propaganda an. In seinem Streben nach persönlichem Wohlbefinden und vorgetäuschter Sicherheit lullen Sie diesen Menschenschlag ein und bestärken ihn in seinem gedankenlosen Dahinleben.

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Die 10 oder 15 °/o, die Sie aus diesem zweifelhaften Bereich ziehen, verschaffen Ihnen die politische Übermacht. Wenn es zur Erprobung kommt, wird diese Schicht zerstieben wie Spreu im Winde.

(Zuruf von der Mitte: Ihre!)

Über diesen trügerischen Flugsand hat die Regierungspartei die staatliche Allmacht nun an sich genommen. Damit will die Bundesrepublik Weltpolitik machen. Der notorisch eingetretene Mißerfolg nimmt nicht wunder.

(Abg. Majonica: Sie haben das Ergebnis vom 15. September noch nicht verwunden, Herr Maier!)

Erfolg und Mißerfolg ist je und je nichts, gar nichts anderes, ob die Wiedervereinigung gelingt oder nicht gelingt. Was sich heute abspielt, ist das Gegenteil von Fortschritt. Das ist schwerster Rückschlag. Dieser führt haarscharf in die gefährliche Nähe eines Punktes Null der totalen diplomatischen Niederlage, noch schlimmer, des vielleicht innerlich schon vorgenommenen Verzichts.
Es ist für eine Oppositionspartei nicht einfach, zu der außenpolitischen Debatte einen Beitrag zu leisten. Wir wollen nichts anderes, als die deutsche Außenpolitik voranbringen, allerdings eine andere als die bisherige. Wir sind auch bereit, die Regierung überall dort zu unterstützen, wo ihr Ziel und ihre Methode der Billigung wert ist. Voraussetzung ist aber, daß die Regierung die Einsicht zur Umkehr zeigt.
Aber um mitwirken zu können, muß man das wirkliche Ziel und die Methode überhaupt kennen. Selbstverständlich kann und darf sich die Außenpolitik nicht auf dem offenen Markt abspielen. Die Regierung kann und darf selbst der eigenen Regierungspartei nicht das Letzte anvertrauen. Wir brauchen hier auch gar nicht zu warnen. Auch das tut der Regierungschef ganz von selbst, von sich aus nicht. Weit eher erhält einer der anerkannten Hofjournalisten eine Information als der Normalparlamentarier, auch der Normalparlamentarier der CDU. Dieser Generalmangel an amtlicher Unterrichtung führt zur Überschwemmung der Bundesrepublik und des Bundeshauses mit Nachrichten aus privaten und anderen Informationsdiensten, aus vielen sonstigen Quellen. Die Nachrichtenbörse gelangt zur Vollreife.



Dr. Maier (Stuttgart)

Was aber dem Parlament als Ganzem in dieser Hinsicht an Unzureichendem geboten wird, übersteigt jede Vorstellungskraft und Darstellungsmöglichkeit. Das Parlament, also der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit, hat einen parlamentarischen Ausschuß, den Auswärtigen Ausschuß, eingerichtet. Schon mehrere Redner sind heute auf die Tatsache zu sprechen gekommen, daß er seit dem Bestehen des Bundestages nun zusammen drei Sitzungen hat abhalten können.

(Abg. Kiesinger: Vier!)

— Die erste Sitzung möchte ich doch nicht als volle werten, Herr Abgeordneter Kiesinger.

(Abg. Majonica: Waren Sie nicht da, oder warum?)

Es ist eine jämmerliche Behandlung, die einer Parlamentsinstitution zuteil wird — gerade der Parlamentsinstitution, der Sie selbst vorstehen, Herr Abgeordneter Kiesinger —, und zwar in einem kritischen Augenblick der Weltgeschichte. Deutlicher kann man die Mißachtung des Parlaments durch eine immerhin demokratische Regierung nicht treiben.

(Zurufe von der CDU/CSU: „Immerhin"!)

Die Verhandlungen sind vertraulich. Die Vertraulichkeit wird aber nicht durchbrochen, wenn aus der letzten Sitzung folgender Bericht über einen äußeren Vorgang hier mitgeteilt wird. Als der Bundesaußenminister nach dreistündiger Anwesenheit mit mühevoller Arbeit und profunden Ausführungen die von Neuigkeiten und Neuigkeiten überangefüllten Abgeordneten verließ, setzte der Ausschußvorsitzende die Mitglieder des Ausschusses von einer besonderen, ihnen soeben zuteil gewordenen „Gnade" in Kenntnis: der Bundesaußenminister sei dankenswerter Weise ganze drei Stunden geblieben; er habe ursprünglich nur anderthalb Stunden bleiben wollen.

(Heiterkeit bei der FDP und der SPD.)

In einem Abschnitt von über fünfzig Tagen kann der Außenminister genau drei Stunden Zeit für den wichtigsten Parlamentsausschuß erübrigen. Da ist es doch besser, man löst den Auswärtigen Ausschuß auf

(Abg. Majonica: Ich meine, Sie wollen zur Gipfelkonferenz!)

und macht aus ihm einen CDU-Arbeitskreis,

(Zuruf von der CDU/CSU: Den haben wir schon!)

der dann aber auch nichts erfährt.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD.)

Diese despektierliche Meinung über die Informationspflicht hat der Außenminister nicht gestohlen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD.)

Der Bundeskanzler hat einem anderen Bundesorgan,
dem Bundesrat, gegenüber eine grundgesetzlich statuierte Pflicht zur Unterrichtung, und der Bundesrat hat ein grundgesetzliches Recht auf Unterrichtung. Ich hatte Gelegenheit, den Herrn Bundeskanzler in der Erfüllung dieser ihm gesetzlich obliegenden Aufgabe zu beobachten. Die Ministerpräsidenten so ziemlich aller Bundesländer ohne Rücksicht auf ihre Parteizugehörigkeit fanden sich jeweils in der einheitlichen Beurteilung zusammen: man hatte ungefähr die Hälfte dessen gehört, was man vorher in der Zeitung gelesen hatte.

(Erneute Heiterkeit bei der SPD und der FDP.)

Allerdings, ein stereotyper Zusatz hat nicht ein einziges Mal gefehlt: „Die Lage ist ernst; ist ernster als je." Mit dieser Floskel ist die Bundesaußenpolitik von Stein zu Stein gesprungen. Jetzt ist die Lage objektiv todernst und lebensgefährlich. Die Bundespolitik hat uns an eine Steilwand heraufgeführt, und wir hängen in dieser Wand drin. Der Weiterweg ist versperrt,

(Abg. Hilbert: Wir sind aber noch angeseilt!)

und selbst der Rückweg ist verschlossen.
Meine sehr verehrten Abgeordneten, die Weltenuhr ist weit fortgeschritten.

(Abg. Majonica: Nur Sie haben es nicht gemerkt!)

Der russische Koloß ist in voller Aktion. — Ja nun, Herr Abgeordneter Majonica, Sie haben vielleicht das Fortschreiten der Weltenuhr durch Ihre Spezialkenntnisse in Formosa besonders erweitert.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD.)

Ich warne Neugierige, Herr Abgeordneter Majonica.

(Abg. Majonica; Wir sind gar nicht so neugierig, Herr Maier!)

Der russische Koloß ist in voller Aktion. Die westliche Welt ringt mit Schwierigkeiten. Die NATO ist da, und wir stehen hinter dieser NATO. Von ihrer Effektivität hängt viel ab. Niemand in der FDP denkt daran, dieses Band etwa zu zerschneiden oder zerschneiden zu lassen.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Die Verbündeten sind graduell verschieden leistungswillig. Nicht alle sind leistungsstark. Einige sind gehandicapt, von eigenen Sorgen übermannt. Der Hauptpartner über dem Atlantik drüben scheint in den Bannkreis konjunktureller Sorgen geraten zu sein. Wir haben aber das feste Vertrauen, daß er sie meistert. Seine Handlungsfähigkeit ist keineswegs in Mitleidenschaft gezogen. Die Überrundung in den technischen Gebieten höchsten Ranges dürfte temporär und einzuholen sein. Mit Sorgen blickt man auf Nordafrika und den Nahen Osten, auf viele Vorgänge in Asien, ferner auf die 3000 Inseln zwischen Pazifischem und Indischem Ozean. Das alles sind Sorgen, in welche andere unmittelbar noch enger und näher verwickelt sind als wir. Aber sie treffen uns alle miteinander in unserem innersten Kern. Wir stehen im nicht mehr zu steigernden



Dr. Maier (Stuttgart)

Höhepunkt der Krise der Wiedervereinigung. Die nicht wieder gutzumachende Verewigung der Spaltung Deutschlands steht vor der Tür. Ob sie sich vollzieht, ob sie endgültige Gestalt annimmt, darüber wird die Weltpolitik der allernächsten Zeit entscheiden.
Was tun die deutschen Politiker in diesem Augenblick? Das Bild, das der Deutsche Bundestag heute geboten hat, macht eigentlich weitere Ausführungen unnötig. Wir veruneinigen uns immer mehr. Täglich liest der deutsche Bundesbürger: Die eine Partei sagt dies, die andere Partei sagt das Gegenteil. Täglich liest das die übrige Welt. Glaubt irgendwer, daß dieser chronische Hader und Zwist, der Streit aus Prinzip, sinnvoll oder nützlich ist? Seit Jahr und Tag ist er ein Schaden. Jetzt aber ist er zur Lebensgefahr geworden. Die FDP weiß sehr wohl, daß sie in die Wüste spricht, und Ihre Reaktion auf diese Gedanken ist ja ein Beweis dafür, daß sie tauben Ohren predigt. Wahrscheinlich liegt in der Person des Bundeskanzlers ein psychisches Unvermögen, die ganze Nation zusammenzufassen. Er sieht nur die Möglichkeit, durch den einseitigen Einsatz der Kräfte seiner eigenen Partei zum Ziele zu kommen.

(Anhaltende Gegenrufe von der Mitte.)

Er hat je und je alles unterlassen, die gesamte politische Kraft der Bundesrepublik zu mobilisieren, den geeinten Gesamtwillen aller in die Waagschale zu werfen. Er hat diesen Weg nie beschritten.

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Bis zum heutigen Tag tut er alles, um ihn zu verhindern.

(Erregter Widerspruch in der Mitte.)

Wir können und wollen niemand zwingen. Wir sagen jedoch voraus, daß dieses einsichtslose Verhalten zum schlimmen Ende führen muß.
In der Regierungserklärung ist die Notwendigkeit einer gemeinsamen Außenpolitik verkündet worden. Wo ist diese gemeinsame Außenpolitik geblieben?

(Lebhafte Zurufe von der Mitte: Wir fragen Sie!)

– Sie haben alles verhindert, was dazu führen könnte.

(Beifall bei der FDP und SPD.)

Ein bedeutsames Kapitel der Außenpolitik der Bundesrepublik ist abgeschlossen. Es führte mit Hilfe des Westens zu ihrer wirtschaftlichen und staatlichen Stabilisierung, und wir stehen jetzt am Anfang ihrer militärischen Aufrüstung. Alle diese Schritte haben wir unter dem Widerspruch des Ostens durchgesetzt. Jetzt aber stoßen wir den Kopf an die Wand und an die Decke.

(Erneute Zurufe von der Mitte.)

Wir kommen nicht mehr weiter allein mit dem Westen, allein gegen den Osten. Unser Hauptverbündeter über dem Ozean zweifelt selbst, ob der Wettlauf weiter sinnvoll ist, ob für ihn und
seine Verbündeten nicht doch ein Generalausgleich sich nahelegt. Das heißt nicht, daß der Westen sich wehrlos machen soll. Der Westen muß diesen Ausgleich erstreben und erreichen, solange er sehr stark ist und stark bleibt.

(„Bravo!" und Lachen in der Mitte.)

— Ihr Johlen kann mir nicht imponieren, meine sehr verehrten Herren Kollegen. Ich möchte Ihnen sagen, daß es sich hier um Gedanken handelt, die auch Ihre ernste Würdigung durchaus verdienen.

(Beifall bei der FDP.)

Dieses neue Kapitel — und da kommen wir auf den Grund der Dinge — ist für die Bundesrepublik unendlich schwieriger als das vorangegangene. Das weiß ja die Bundesregierung selbst am besten. Nach vorwärts stürmen ist leichter als nur auf der Stelle treten. Aber für den ganzen Westen ist bei aller Aufrechterhaltung der sachlichen Positionen der Zeitpunkt für die Änderung der inneren Methode gekommen. Offensichtlich ist der Westen in diese neue Periode schon eingetreten. Nur haben manche
von Ihnen das noch nicht gemerkt. Dieses neue Kapitel gibt uns Anlaß, trotz aller negativen Aspekte die Staatsnotwendigkeit einer gemeinschaftlichen Außenpolitik als unverzichtbares Postulat dieser hochkritischen Zeit in den Vordergrund zu stellen. Der Präsident des Deutschen Bundestages hat unmittelbar nach seiner Wahl bei der Eröffnung des 3. Bundestages in Berlin ebenfalls eine gemeinschaftliche Außenpolitik befürwortet, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung: Gemeinschaftliche Außenpolitik, jawohl, die Außenpolitik müsse aber vor allem richtig sein. Man wundert sich bei dem Präsidenten des vornehmsten demokratischen Bundesorgans über einen solchen Vorbehalt. Gemeinsame Außenpolitik ist eine unter Mitwirkung aller erarbeitete Außenpolitik, eine nach gründlicher, vom Willen zu schließlicher Einigung aller getragener Auseinandersetzung gefundene Außenpolitik. Eine solche Außenpolitik ist ihrer Natur nach stärker, sie ist richtiger, weil die Gesamtheit aller hinter ihr steht, weil die Gesamtheit sie mitträgt. Sie mag nur zu 80 % dem qualitativ denkbar besten Ergebnis entsprechen, sie verfügt wegen ihres demokratischen Unterbaus über die stärkere Lebenskraft, sie ist jeder anderen überlegen, vollends einer einseitig oktroyierten Außenpolitik, wie sie bekanntlich gescheitert ist.
Wie gesagt, trotz aller enttäuschenden, ja verletzenden Zurückweisung ist die FDP bereit, sich mit allen im Deutschen Bundestag und in den Landesparlamenten vertretenen Parteien über einen neuen gemeinsamen Weg in der Deutschlandpolitik zu einigen. Trotz des betrüblichen Zustandes der inneren Verhältnisse der Bundesrepublik hat die FDP eine gemeinsame Deutschlandpolitik zum Leitgedanken als Oppositionspartei gemacht, und wir haben genaue Vorstellungen über den sachlichen Inhalt dieser Politik und über das Verfahren. Es bleibt uns vorläufig nichts anderes übrig, als uns erneut in das parlamentarische Kampfgetümmel zu begeben. Wir haben in Klarheit die Dinge unter uns beraten, und wir haben heute von der Bundes-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 18. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 20. März 1958 901
Dr. Maier (Stuttgart)

regierung und der Regierungspartei eine ganze Menge vernommen. Eine Vorfrage drängt sich auf: Ist das die offizielle Politik, wie sie durch die Bundesregierung über die Bundesdiplomatie vertreten wird? Bis vor wenigen Tagen drangen harte Meinungsverschiedenheiten im Regierungslager nach außen. Selbst die interne Sitzungsdisziplin war in Frage gestellt. Sind die heutigen Darlegungen der Bundesregierung und der Regierungspartei nur das Instrument zur Herbeiführung des inneren Parteifriedens, oder sind sie eine verbindliche Aussage zu der äußeren Bundespolitik? Die allerschlechteste Außenpolitik ist diejenige, welche den innerpolitischen Zwecken dient und vor allem von parteipolitischen Motiven bestimmt ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Wir sind ja heute Zeuge einer der Öffentlichkeit vorgeführten einstudierten außenpolitischen Großrevue.

(Abg. Kiesinger: Am besten studiert haben Sie!)

Das ist verdächtig. In die Arena steigen und werden noch steigen diejenigen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen den Punkt mitlesen!)

welche in den vergangenen Wochen nebenhinaus gegangen sind, Pardon — hinausgedacht haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was haben Sie mit Ihren Düsseldorfern gemacht?)

Sie rufen zur Mutter CDU nicht: Ave Caesar! Morituri te salutant! Wir grüßen dich, die wir zum Sterben bestimmt sind.

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Nein, wir grüßen dich, weil wir den Tod durch Parteihand nicht sterben wollen; wir haben uns lobenswert unterworfen. Keine Gladiatoren werden wir erblicken, sondern diejenigen, die vorher revoziert und depreziert haben.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301808400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage, die der Abgeordnete Bucerius stellen möchte?

Dr. Reinhold Maier (FDP):
Rede ID: ID0301808500
Bitte!

Dr. Gerd Bucerius (CDU):
Rede ID: ID0301808600
Herr Maier, an Ihrer Rede hätte uns ein Punkt heute besonders interessiert.

Dr. Reinhold Maier (FDP):
Rede ID: ID0301808700
Erstens bin ich Abgeordneter — nicht wahr? —, und zweitens bin ich Doktor.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oho! — Abg. Kiesinger: Und Alt-Ministerpräsident von Württemberg!)

— Herr Abgeordneter, Sie wären es ganz gern geworden. Aber Sie sind nicht mein Nachfolger geworden, weil man Sie im Lande nicht mehr so gut kennt, und weil Sie über den Status eines Landes
hinausgewachsen sind. Ich weiß allerdings nicht, zu welch hoher Größe.

(Heiterkeit.)

Sie scheinen auch nicht vollkommen arriviert zu sein.

Dr. Gerd Bucerius (CDU):
Rede ID: ID0301808800
Herr Abgeordneter, Sie erhalten erstens das Recht, mich mit Herr Bucerius anzureden. Zweitens — —

Dr. Reinhold Maier (FDP):
Rede ID: ID0301808900
Ich habe aber keinen so schönen Namen wie Sie. Deshalb!

(Große Heiterkeit. — Beifall bei der FDP und bei der SPD.)

Das sind aber keine Minderwertigkeitsgefühle.

Dr. Gerd Bucerius (CDU):
Rede ID: ID0301809000
Dafür ist Ihr Vorname um so schöner!

(Erneute große Heiterkeit.)

— Darf ich jetzt zu meiner Frage kommen? — Wir haben Ihrer Rede mit Spannung entgegengesehen, um auf eine bestimmte Frage eine Antwort zu erhalten: Billigen Sie die Konföderationsidee von Herrn Döring?

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)


Dr. Reinhold Maier (FDP):
Rede ID: ID0301809100
Herr Abgeordneter Bucerius, ich werde auf die Dinge näher und genauer eingehen, als Ihnen lieb ist.

(Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Bucerius: Das ist unmöglich!)

Wir sind der Ansicht — wenn wir auf die Plänemacher in der CDU sehen, die ja auch eine gewisse Rüge von oben erfahren haben —, daß an sich Pläne nötig sind. Wir glauben aber nicht, daß irgendein Plan an dem Tag X praktisch angewendet wird. Das ist alles vorausgeleistete, wichtige und wertvolle Gedankenarbeit für eventuelle, subeventuelle Fälle. Wir glauben aber an die Richtigkeit und Wichtigkeit einiger prinzipieller Erkenntnisse, die sich seit 1945 denkenden Politikern auferlegen. Hierzu gehört — damit beginne ich mit der Beantwortung ihrer Frage, Herr Abgeordneter Bucerius — die prinzipielle Erkenntnis, daß der Westen und der Osten einer Lösung der deutschen Frage nur unter der Bedingung zustimmen, daß sich die militärische Lage beider Seiten weder verbessert noch verschlechtert. Der eine oder andere Teil wird sich ferner jeder Lösung mit aller Energie widersetzen, welche es in die Hand einer parlamentarischen Mehrheit von Gesamtdeutschland gibt, eine Option zugunsten des Westens allein oder zugunsten des Ostens allein vorzunehmen. Damit ergeben sich weitere Schlußfolgerungen zum militärischen, zum politischen, vielleicht auch zum sozialen Status des zukünftigen Gesamtdeutschland.
Neuerdings schiebt — Herr Abgeordnete Dr. Bucerius, ich komme jetzt zu Ihnen — die Sowjetunion die Wiedervereinigung den unmittelbaren Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und



Dr. Maier (Stuttgart)

der Sowjetzone zu. Ich halte dieses Verfahren für nicht sehr fair. Die Sowjetunion weiß, wir wissen es, die ganze Welt weiß es, daß Bonn und Pankow nicht über hochpolitische Dinge verhandeln können, die gar nicht in ihre Hand gegeben sind, die vielmehr eifrig und nachdrücklich verteidigte Rechte der Großmächte sind. Die Sowjetunion ermuntert Bonn und Pankow zur Vornahme eines untauglichen Versuchs am untauglichen Objekt mit untauglichen Mitteln. Verwunderlich ist aber, daß die Bundesregierung diese Schwächen der Sowjetunion und ihres Vorschlags nicht bloßlegt. Warum weist die Bundesregierung in Moskau nicht auf die Unausführbarkeit dieser Zumutung hin, auf das Fehlen der Ernsthaftigkeit? Wenn jemand auf einem Waldweg marschiert

(Abg. Majonica: Auf einem Holzweg, Herr Maier!)

und es liegt ein Baumstamm quer, so sucht er, wenn er nämlich ein Ziel im Auge hat und wirklich ernstlich verfolgt, das Hindernis zu beseitigen. Die Bundesregierung tut das Gegenteil. Sie kehrt still und schlicht vor diesem kleinen Hindernis um.

(Zurufe von der CDU/CSU: Kleines Hindernis?!)

Warum protestiert die Bundesregierung nicht am
laufenden Band gegen die Verhinderung des persönlichen Verkehrs von Deutschen mit Deutschen?

(Abg. Hilbert: Herr Döring verlangt Konföderation!)

Warum greift die Sowjetunion nicht ein? Amtlich sollen Deutsche miteinander sprechen dürfen, ja: sprechen müssen — privat sollen sie das aber nicht tun.
Es wird deshalb die FDP-Erklärung in der Bundestagssitzung vom 23. Januar wiederholt, daß so, wie die Dinge liegen, solche Verhandlungen als Basis für eine Wiedervereinigung ungeeignet sind. Das gilt auch für das nicht überschaubare Projekt einer Konföderation. Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetzone werden vielleicht fällig, wenn die Großmächte die Kardinalfrage gelöst und entschieden haben. Vorher aber nicht. Von dem Bundestag bekannter, bekannt vorlauter Seite ist von einem Aufweichen unseres klar formulierten Standpunktes gesprochen worden. Die Frage war allerdings in unserem Kreis Gegenstand ernsthafter Beratung. In unserer politischen Gemeinschaft darf man nämlich selbständige Gedanken äußern, nicht nur so lange, als der Chef an der Riviera ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD.)

Dieses Thema enthält die bitterste Konsequenz unserer nationalen Situation, daß Westdeutschland und Mitteldeutschland sich so auseinandergelebt haben und so auseinanderkonstruiert worden sind, daß Deutsche selbst mit Deutschen über Deutschland sich nicht zu vereinbaren vermögen. Nicht wir weichen auf. Wir bleiben beim Deutschen Reich. Andere liebäugeln mit der Aufgabe des Deutschen
Reichs unserer Väter und weichen aus auf ein neues Reich im Westen ohne Mitteldeutschland und ohne Berlin.

(Beifall bei der FDP und der SPD. — Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU: Wer?)

— Ich kann Ihnen einen ganzen Literaturnachweis geben! — Was schreiben willfährige Kreaturen schon alles zusammen, daß die Wissenschaft entschieden habe, das Reich von 1871 sei schon geschichtlich aufgelöst! Meine sehr verehrten Abgeordneten, dieser Sorte von reichsflüchtigen Reichsverderbern mitsamt ihrer zahlreichen Prominenz sagen wir den Kampf an, und wir hoffen, daß eine eindrucksvolle Mehrheit des Bundestags sich hinter uns stellt.

(Lebhafter Beifall bei der FDP. — Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301809200
Das Wort hat der Abgeordnete Kiesinger.

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301809300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Reinhold Maier, Altministerpräsident und Landesvater Baden-Württembergs — da er ja Wert auf den Titel gelegt hat —, hat gesagt, es handele sich heute um eine einstudierte Großrevue. Wir alle haben sein Manuskript in Händen gehabt, während er redete. Niemand hat diese Revue sorgfältiger einstudiert als Herr Kollege Maier.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Maier [Stuttgart] : Das ist die Voraussetzung des Erfolgs!)

— Herr Kollege Maier, Sie sagen soeben, daß sei die Voraussetzung des Erfolgs. Sie haben heute abend wieder den Versuch gemacht, zu beweisen, auf wen es eigentlich ankommt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Das ist Ihnen im Wahlkampf mißlungen, und ich
glaube, es ist Ihnen heute abend auch mißlungen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Zoglmann meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Ich hatte nicht gedacht, daß es schon so früh anfängt. Aber bitte!

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301809400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Kiesinger: Bitte sehr!

Siegfried Zoglmann (CSU):
Rede ID: ID0301809500
Herr Abgeordneter Kiesinger, halten Sie das Aufleuchten der Lampen jetzt für den Beginn der Revue oder nicht?

(Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Majonica: Das war unter dem Niveau eines Gebietsführers!)


Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301809600
Verehrter Herr Kollege, Sie haben vielleicht nicht bemerkt, daß keine Fernsehübertragung stattfindet.

(Abg. Erler: Wochenschau!)





Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301809700
Herr Kollege Maier, immer, wenn Sie in diesem Hause reden, höre ich mit einer gewissen Rührung zu; denn wenn Sie Ihre mit Zitaten reich gespickten Reden vortragen, steigt die ganze Zauberwelt meines Volksschullesebuchs vor mir empor.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Sie haben gesagt, die Weltenuhr sei vorgerückt. Herr Dr. Maier, das glaube ich auch, aber ich glaube, Sie sind ihr nicht gefolgt.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Heute sind in diesem Hause von den verschiedensten Seiten Sorgen lautgeworden, und ich habe auch meinen politischen Gegnern, als sie diese Sorgen äußerten, mit Sorgfalt zugehört. Täten wir dies nicht in dieser schweren, grauenhaft schweren Zeit — der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen —, wir würden wahrhaftig unsere Aufgabe als Politiker, bei der Opposition oder im Regierungslager, verfehlen.
Als ich das letztemal in diesem Hause sprach, habe ich meine Rede mit den Worten begonnen: „Es gibt Menschen, die bei Betrachtung der Weltlage glauben, sich in einem Teufelskreis zu bewegen, in dem es keine andere Alternative gibt, als entweder eines Tages den Atomtod zu erleiden oder unter kommunistische Herrschaft zu geraten. Wer so denkt, ist nicht mehr fähig, politisch zu handeln."

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Inzwischen hat uns eine skurrile Laune der Geschichte ein radikales Beispiel dieses Denkens geliefert. Es ist der Engländer King-Hall mit seinem Buch „Die Verteidigung im nuklearen Zeitalter".

(Abg. Erler: Ist der eigentlich im Bundestag, daß Sie gegen ihn polemisieren?)

— Nein, Herr Kollege Erler, er ist nicht im Bundestag, aber ich habe die Angst, daß es in diesem Hause heimliche Gefolgsleute King-Halls gibt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Darum spreche ich von ihm. Dieser Mann hat unter dem Beifall berühmter Landsleute die EVO gegründet. Ich weiß nicht, was das heißt. Ich würde es den „Europäischen Verzweiflungsorden" nennen nach so vielen anderen Organisationen mit europäischem Vorzeichen.

(Abg. Wehner: Das morbide Gegenstück zum Deutschen Ritterorden! Der ist ganz etwas anderes!)

Dieser europäische Verzweiflungsorden soll die Europäer dazu veranlassen, einseitig auf Atomwaffen zu verzichten, und er soll die Amerikaner dazu veranlassen, Europa zu verlassen. Das haben wir schon oft so oder ähnlich gehört. Nur denkt Mr. King-Hall seinen Vorschlag konsequent zu Ende. Er weiß, daß im Falle eines einseitigen Verzichts auf Atomwaffen und im Falle, daß die Amerikaner Europa verlassen, Europa von den Sowjetrussen besetzt werden würde. Und nun unterbreitet er seine merkwürdigen Vorschläge, wie man einer solchen Besatzungsmacht mit gewaltlosem Widerstand begegnen könne. Es ist wirklich notwendig, in dieser Zeit zu zeigen, wie ein Mann von offenbar normalem Verstand — sonst würde er sich nicht unter seinen Mitbürgern bewegen — zu argumentieren wagt. Er sagt, man müsse die Besatzungsmacht von der Überlegenheit der Demokratie überzeugen, man müsse Kontakt mit den Mitgliedern der Besatzungsmacht halten, um sie in Gesprächen davon zu überzeugen, wieviel besser die Demokratie sei. Er sagt, daß Conférenciers und Rundfunksprecher ihre Arbeit fortsetzen müßten und jede Gelegenheit ergreifen sollten, durch Lächerlichmachung, durch Andeutungen, ja, durch den Tonfall alles zu veralbern, was mit der Praxis des Feindes zu tun hat. Er glaubt, er könne darauf hinweisen, daß das besetzte Land eine großartige Verwaltung habe, und man müsse dann die Besatzungsmacht fragen: Wir haben eine großartige Verwaltung; wenn ihr etwas Besseres wollt, was wollt ihr denn dafür setzen? Er glaubt, wenn die Berliner diese seine Vorschläge hörten, dann würden sie wohl die Köpfe schütteln vor Entsetzen. Ich glaube, er hat recht.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Er meint nur, bei einer neuen Besetzung — einer nicht in einem Krieg erfolgenden Besetzung — würde alles viel glimpflicher abgehen. Meine Damen und Herren, wenn Mr. King-Hall und seine Gesinnungsfreunde des europäischen Verzweiflungsordens einfach ein paar Dummköpfe und schrullige Narren wären, könnten wir über sie zur Tagesordnung übergehen. Leider ist uns das nicht erlaubt, denn es handelt sich meist um europäische Intellektuelle, deren geistige und moralische Widerstandskraft

(Abg. Wehner: Ist er nicht bei der moralischen Aufrüstung?)

unter der uns unablässig bedrängenden Weltsituation, der Sowjetpropaganda und der Sowjetpolitik zerbricht.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Wehner: Ist er nicht „durchgecatixt" ?)

Solche Leute gibt es auch in Deutschland. Manche sagen es ganz offen, wir sollten die Methode des gewaltlosen Widerstandes nach der Art des großen Inders Gandhi ergreifen; das sei das einzige, was uns retten könne. Sie sehen nicht, daß die Lage Indiens gegenüber einem Kulturstaat wie Großbritannien völlig unvergleichbar ist mit der Lage Westeuropas gegenüber der Sowjetunion.
Wenn die Leute ihre Meinung offen sagen, dann weiß man, woran man ist. Aber auch bei denjenigen, die ihre Resignation nicht so konsequent zu Ende denken wie Mr. King-Hall, spielt diese europäische Krankheit unserer Epoche, dieser Fatalismus, eine verhängnisvolle Rolle. Nun: an keinem von uns geht die schreckliche Zeit, von der der Bundeskanzler sprach, spurlos vorbei. Es mag Menschen geben, die sich dem ungeheuren seelischen Druck, der nagenden beständigen Sorge, durch einen Rückzug in die private Idylle entziehen.

(Abg. Wehner: Rosen züchten, wenn andere geschlagen werden!)




Kiesinger
Herr Dr. Reinhold Maier, Sie sprachen von den Wirtschaftsphilistern. Ich hoffe, daß viele Leute Sie heute abend hörten, die im September des vergangenen Jahres die CDU gewählt haben, — nicht, weil sie Behagen und Wohlleben wollten, sondern weil es ihnen um die Freiheit unseres Volkes ging.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der FDP: „Wohlstand für alle"!)

— Ja sicher; wollen Sie etwa nicht Wohlstand für alle? Wir wollen es.

(Abg. Wehner: Keine Atomexperimente! — Zurufe von der FDP und Auseinandersetzungen mit Abgeordneten der CDU/ CSU. — Unruhe rechts. — Glocke des Präsidenten.)

Meine Damen und Herren, wir haben uns die Entscheidungen, die heute abend zur Debatte stehen, in der Fraktion der Christlich-Demokratischen Union schwer gemacht. Wir haben viele, viele Stunden um diese Fragen gerungen. Allein um das Problem der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr ist es mehrere Dutzend Stunden gegangen, in denen wir das Für und Wider gegeneinander abgewogen haben, auch die Gedankengänge, die von oppositioneller Seite heute vorgetragen wurden. Hier wird immer wieder der Eindruck zu erwecken versucht —in der Andeutung des Herrn Kollegen Erler, in der Anspielung des Herrn Reinhold Maier gegen den Minister Strauß —, als ob es sich bei der ChristlichDemokratischen Union um eine Partei handele, die nichts Eiligeres zu tun habe, als für einen kommenden Krieg zu rüsten. Das ist eine ungeheure Verleumdung, die wir zurückweisen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Mommer: Das hat doch noch nie jemand gesagt!)

— Aber es ist angedeutet worden. — Herr Maier hat gesagt, ein Mann, der so rede, wie der Verteidigungsminister heute geredet habe, der schieße auch.

(Abg. Wehner: Er hat leider recht! — Weitere Zurufe von der SPD.)

Wenn er nicht gehört hat, daß hier ein Mann der jungen Generation sprach, der den letzten Weltkrieg am eigenen Leibe erlebt hat, daß hier ein Mann sprach, der weiß, worum es in unserer Zeit geht — wenn er nicht vernommen hat, daß hier ein Mann bei allen nüchternen Tatsachen für nichts anderes eintrat als für die Verteidigung des Friedens, dann ist er entweder dumm oder böswillig.

(Stürmischer Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei der FDP. — Zuruf von der SPD: Ein Lied! — Weitere Zurufe von der SPD.)

Meine Damen und Herren, heute sind uns drei Fragen gestellt. Die erste Frage lautet: Wie ist es möglich, im Zeitalter der atomaren Bewaffnung den Frieden zu bewahren? Die zweite Frage lautet: Wie ist es möglich, im Zeitalter der atomaren Bewaffnung unsere Freiheit zu schützen? Die dritte Frage heißt: Wie erlangen wir unter diesen Umständen die Wiederherstellung der Einheit des deutschen Volkes?
Für jede dieser Fragen muß eine sorgfältige Antwort gesucht werden. Die Frage der Wiedervereinigung kann nur im Zusammenhang mit den beiden anderen Fragen beantwortet werden. Genau das ist es, was immer wieder vermieden wird. Genau da ist die große Lücke in der Argumentation unserer Opposition, die wir meinen. Herr Kollege Arndt hat heute mittag natürlich mit Recht gesagt: Wer „Wiedervereinigung" sagt, muß tatsächlich etwas tun. Aber wer „Wiedervereinigung" sagt, darf gleichzeitig die Freiheit nicht vergessen. Er muß das Nötige zum Schutz der Freiheit tun.

(Beifall in der Mitte.)

Ein alter Vorwurf, den Sie gegen uns richten, ist, wir hätten gesagt, daß das atlantische Bündnis, in das wir eingetreten sind, zur Wiedervereinigung bestimmt sei.

(Abg. Wehner: Genau das!)

— Nicht genau das, Herr Wehner. Wir sind in das atlantische Bündnis eingetreten, weil wir wußten, daß ohne die Sicherung der Freiheit der Bundesrepublik die Ausgangsbasis für die Wiedervereinigung in Freiheit zerstört werden würde.

(Beifall in der Mitte.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301809800
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301809900
Bitte!

Karl Wienand (SPD):
Rede ID: ID0301810000
Herr Kollege Kiesinger, Sie haben vorhin mit Empörung zum Ausdruck gebracht

(Zuruf von der Mitte: Sie wollen doch eine Frage stellen!)

— ich komme zu der Frage —, daß Sie eine Unterstellung vom Kollegen Maier

(Zuruf von der Mitte: Er ist Abgeordneter!)

— ist das nicht unser Kollege? —, vom Abgeordneten Dr. Maier vorhin vernommen hätten, der Herr Minister Strauß wolle schießen. Sie haben dann mit Empörung gesagt, daß Sie das als eine Verleumdung betrachten. Und jetzt komme ich zu meiner Frage: Sind Sie mit mir einig, daß ich, wenn Sie zum mindesten jetzt die Unterstellung uns gegenüber bringen, wir setzten die Freiheit aufs Spiel, dann auch das als Verleumdung zurückweisen darf?

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301810100
Herr Kollege, nicht das mindeste in meinen Worten deutete darauf hin, daß ich unterstellen wollte, daß etwa die Sozialdemokraten die Freiheit unseres Landes wissentlich und willentlich aufs Spiel setzen würden. Heute nachmittag hat jemand — es war wohl mein Kollege Strauß — auf einen Zwischenruf von Herrn Wehner gesagt: Jawohl, wir anerkennen das große Verdienst der Sozialdemokratie — ich erinnere an die Urabstimmung damals —, wir anerkennen das Verdienst Kurt Schumachers daran, daß die deutsche Arbeiterschaft oder jedenfalls der Teil der



Kiesinger
deutschen Arbeiterschaft, der sich zur Sozialdemokratie bekennt — zu uns bekennen sich genauso viele Arbeiter oder noch mehr —, bei der Freiheit geblieben ist.
Die Frage ist eine andere. Ich hoffe doch sehr —
so habe ich auch Ihre Argumente verstanden mit Ausnahme dieser einzigen bedauerlichen Andeutung von Herrn Erler, von der er leider Gottes nicht deutlich genug abgerückt ist —, ich hoffe doch sehr, Sie wollen auch uns nicht willentliche Verletzung der Interessen unseres Volkes vorwerfen! Ihre Argumente gehen doch vielmehr dahin, daß unsere Politik nicht die richtige Politik sei. Nun, das ist demokratische Kritik; das müssen wir uns gefallen lassen, das müssen auch Sie sich gefallen lassen.

(Abg. Jacobi: Aber es gibt einen Spruch, der lautet: Sie wissen nicht, was sie tun!)

— Lieber Herr Kollege Jacobi, das ist ein sehr billiges Argument. Ich könnte es Ihnen zurückgeben; aber ich bin gerade dabei, zu versuchen, Ihnen klarzumachen, was wir uns unter unserer Politik denken.
Herr Kollege Arndt sagte heute, man höre einander schon nicht mehr zu. Bitte, hören Sie zu, was ich nun dazu sagen will.

(Zurufe von der SPD.)

Es gibt immer wieder die Verdächtigung aus Ihren Reihen, daß unsere Politik, insbesondere in der Frage der Wiedervereinigung, keine ehrliche Politik sei. Von diesem Tenor waren die Ausführungen der Herren Kollegen Dehler und Heinemann in der Nacht zum 23. Januar getragen.

(Zuruf von der SPD: Waren sogar bewiesen!)

— Was sogar bewiesen sei, Sie hören es. Herr Heinemann sagte damals, die Sowjetunion habe in ihrer Note vom März 1952 angeboten — nun wörtlich —: „Wiederherstellung der deutschen Einheit, Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, freie wirtschaftliche Entwicklung, nationale Streitkräfte für ein wiedervereinigtes Deutschland, Aufnahme in die Vereinten Nationen, gesamtdeutsche Regierung, hervorgehend aus freien Wahlen, alles das unter der Bedingung, daß Deutschland sich nicht an Militärbündnissen beteilige".
Herr Dr. Heinemann, ich wage es, den Beweis anzutreten, daß diese Behauptung objektiv unwahr ist. Obwohl Sie, Herr Dr. Heinemann, sich über die Zwielichtigkeit der sowjetrussischen Ausdrucksweise nicht im unklaren sein können, obwohl Sie wissen, was dort Ausdrücke wie „Redefreiheit", „Pressefreiheit", „Demokratie" usw. bedeuten, haben Sie auch im schriftlichen Protokoll des Bundestages nicht eines dieser Worte in Anführungsstriche gesetzt.

(Abg. Wehner: Beckmesser!)

— „Beckmesser", Herr Wehner? Sie nennen es „Beckmesserei", obwohl wir wissen, daß der sowjetrussische Ausdruck „friedliebender, demokratischer Staat" noch nie auf einen anderen Staat angewendet worden ist als auf die Sowjetunion selbst, ihre Satelliten und Mitläufer?

(Beifall in der Mitte.)

Ich will Ihnen beweisen, Herr Kollege Wehner, was es mit dieser Beckmesserei auf sich hat.
Herr Heinemann, Sie haben an jenem Abend nicht gesagt, was Sie hätten sagen sollen

(Lachen bei der SPD — Zurufe von der SPD: Haben Sie es denn gesagt? — Sie haben doch auch geschwiegen!)

— drum sage ich es jetzt —,

(Zuruf von der SPD: Da haben Sie lange Zeit dazu gebraucht!)

daß die Sowjetunion während des Notenwechsels des Jahres 1952 die Anerkennung der Oder-NeißeGrenze verlangte. Das war auch in dem Bündel von Angeboten der Sowjetunion enthalten. Warum haben Sie es verschwiegen? Sie haben verschwiegen, daß die Sowjetunion die Wiedervereinigung Deutschlands mit der „beckmesserischen" Einschränkung, Herr Wehner, anbot, daß das wiedervereinigte Deutschland ein „demokratischer, friedliebender Staat" sein müsse, also einer jener Staaten, die unter sowjetrussischer Herrschaft stehen. Sie haben verschwiegen, daß die Sowjetunion in ihrer Note vom 23. August 1952 diese Wiedervereinigung verstanden wissen wollte als „eine Vorbereitung für die endgültige Umgestaltung des politischen Lebens in Deutschland".

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Sie haben nicht gesagt, daß die Sowjetunion in diesem Zusammenhang für kommunistische Organisationen volle Bewegungsfreiheit bei den Wahlen forderte, aber andererseits verlangte, daß Organisationen verboten werden sollten, die, wie sie sich ausdrückte, der Demokratie und der Sache der Erhaltung des Friedens feindlich seien. Ist das nicht auch ein uns wohlbekannter Sprachgebrauch der Sowjetrussen? Diese „Leute, die dem Frieden und der Sache der Demokratie feindlich sind" — mein Freund Tillmanns hat es schon einmal im Zusammenhang mit der Note von 1952 gesagt —, sind wir alle in diesem Hause. Was bedeutet also die Forderung der Sowjetunion in diesem Zusammenhang? Warum gehen Sie über diese Ausdrucksweise hinweg? Warum greifen Sie nur das heraus, von dem Sie glauben, daß es Ihrem Wunschdenken günstig sei?
Herr Heinemann, Sie haben auch kein Wort zu den sowjetrussischen Vorstellungen über die Reihenfolge der von den Sowjetrussen vorgeschlagenen Verhandlungen gesagt. Diese Reihenfolge, die außerordentlich bedeutungsvoll, die geradezu das entscheidende Element der Verhandlungen ist, kommt am klarsten in der sowjetrussischen Note vom 23. August 1952 zum Ausdruck. Dort heißt es:
Die Sowjetregierung schlägt vor, eine Konferenz von Vertretern der vier Mächte mit folgender Tagesordnung einzuberufen: erstens, Vorbereitung eines Friedensvertrages mit



Kiesinger
Deutschland; zweitens, Schaffung einer gesamtdeutschen Regierung; drittens,
— erst drittens! —
Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen und Bildung einer Kommission zur Prüfung der Frage, ob in Deutschland die Voraussetzungen für die Durchführung derartiger Wahlen gegeben sind.
Was bedeutet das denn? Das bedeutet, daß die Sowjetunion durch die Noten vom Jahr 1952 tatsächlich keine freien Wahlen angeboten hat. Sie schob die Vorbereitung eines Friedensvertrags und. die Schaffung einer sogenannten gesamtdeutschen Regierung an die Spitze, um sich dadurch jede Möglichkeit für die weitere Behandlung freizuhalten, um vor allen Dingen entweder wahrhaft freie Wahlen verhindern zu können oder solche Wahlen durchzusetzen, die ihrer eigenen Vorstellung von freien Wahlen entsprachen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist wirklich nicht schwer, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn man sich darauf eingelassen hätte. Nach den Besprechungen über den sogenannten Friedensvertrag und der Einsetzung einer sogenannten gesamtdeutschen Regierung unter Beteiligung Pankows hätte die Sowjetunion jede Möglichkeit gehabt, die Verhandlungen nach ihrem Willen zu leiten und sie auf alle Fälle endlos zu verzögern Wie sie sich die Prozedur vorstellte, ergibt sich daraus, welche Organisationen begünstigt, welche Organisationen verboten sein sollten. Glaubt jemand im Ernst, die Sowjetunion hätte damals wirklich freie Wahlen gewollt und zugestanden, freie Wahlen, die die Beendigung des kommunistischen Systems in der Zone und gewaltige Erschütterungen im ganzen Satellitenraum nach sich gezogen hätten?

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Abg. Mattick: Warum haben Sie es nicht probiert?)

— Darauf komme ich zurück. Was die Sowjetunion beständig wollte, war die Isolierung Deutschlands von der freien Welt.
Herr Dehler hat in der Debatte vom 23. Januar dem Herrn Bundeskanzler mit besonderer Schärfe den Vorwurf des schlechten Willens in der Frage der Wiedervereinigung gemacht. Er meinte:
Man will nichts aus den letzten vierzig Jahren lernen; nicht die einfachsten Tatsachen nimmt man zur Kenntnis: daß innere Vorgänge einer Diktatur niemals die Haltung einer Diktatur nach außen ändern.
Das meinte er, weil er sagte, der Bundeskanzler warte darauf, daß in der Sowjetunion innere Vorgänge eines Tages auch eine Änderung ihrer Außenpolitik herbeizögen.
In derselben Rede, zehn Minuten später, hat Herr Thomas Dehler gesagt:
Wir wisen jetzt, daß damals, im März 1952,
Stalin innenpolitisch in einer verzweifelten
Lage war. Wir wissen heute, wie dieser so allmächtig erscheinende sowjetrussische Diktator in Wirklichkeit ein vereinsamter Mensch war. Er hat uns in dieser schwierigen inneren Lage, um seine Schwierigkeiten nach außen abzulenken, diesen Vorschlag gemacht.'
Herr Thomas Dehler, wir haben so oft die betrübliche Feststellung machen können, daß Ihre Reden von heute denen von gestern und die von gestern denen von vorgestern widersprachen, wie etwa, als Sie — ich glaube, es war 1956 — ausdrücklich entgegen dem Bundeskanzler erklärten, die Bundeswehr müsse mit atomaren Waffen Ausgerüstet werden,

(Hört! Hört! bei den Regierungsparteien)

weil, wie Sie meinten, sich die Kriegsgefahr überall da vergrößere, wo atomare Waffen fehlen.

(Hört! Hört! bei den Regierungsparteien.)

Heute hören wir das Gegenteil. Nun, zwischen zwei Reden kann allerlei passieren,

(Abg. Mattick: Na eben, das haben wir bei Ihnen auch schon gemerkt!)

aber sich in derselben Rede zu widerlegen, das beweist einen ungewöhnlich hohen Grad liberaler Disputierlust.

(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

Aber zurück zu Herrn Heinemann, dessen Rede mehr systematische Konsequenz, aber nach meiner bescheidenen Meinung nicht viel weniger Irrtum enthielt. Herr Heinemann, es ist Ihr gutes demokratisches Recht, die von der Bundesregierung und von uns im Jahre 1952 und danach verfolgte Politik zu tadeln. Zum Beispiel die Parole: Zuerst freie Wahlen!" Sie haben diese Parole eine „ungewöhnlich verheerende" Parole genannt, die in tückischer Weise Wahres und Falsches miteinander vermengte. Nicht wahr, das sollte doch den Eindruck erwecken, als ob wir uns, als ob insbesondere der Bundeskanzler — den Sie ja in diesem Zusammenhang anklagten — sich einer solchen Tücke schuldig machten? Aber, Herr Heinemann, Sie haben wieder verschwiegen, daß diese Parole „Zuerst freie Wahlen!" die gemeinsame Parole aller demokratischen Parteien in diesem Bundestag war.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Der Bundestag hat am 3. April 1952 als Antwort auf die Sowjetnote vom 10. März mit allen Stimmen gegen die der Kommunisten eine Entschließung angenommen, die folgenden Passus enthielt, den ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten vielleicht vorlesen darf:
Der Bundestag ersucht die Bundesregierung, erneut bei den Besatzungsmächten darauf hinzuwirken, daß freie Wahlen für eine gesamtdeutsche Nationalversammlung unter Zugrundelegung der vom Bundestag am 6. Februar 1952 gebilligten Wahlordnung und unter internationaler Garantie durchgeführt werden und daß für die auf Grund dieser Wahlen zu bildenden staatlichen Organe innen- und außenpolitische Entscheidungsfreiheit sichergestellt wird.



Kiesinger
Darum ging es ja, um diese Frage der außenpolitischen Entscheidungsfreiheit. Und Herr Kollege Wehner hat in jener Sitzung die schlagende Formulierung gefunden — Herr von Brentano hat es schon erwähnt —, als er sagte:
Freie Wahlen, Bildung der Nationalversammlung und der gesamtdeutschen Regierung, dann Friedensverhandlungen und schließlich Verhandlungsfriede sind eine sozusagen unter allen Umständen einzuhaltende Reihenfolge.
Wenn w i r uns also damals geirrt haben sollten — ich glaube es nicht —, dann haben sich alle Parteien dieses Hauses geirrt mit Ausnahme der Kommunisten — und die wußten, was sie wollten.

(Heiterkeit und Beifall in der Mitte.)

Paul Sethe, der eine politische Geschichte dieser Jahre zuschreiben versuchte, meint, die Opposition habe sich leider erst sehr spät von dieser gemeinsamen Politik abgewandt. Darf ich Sie daran erinnern, wie lange wir diese gemeinsame Politik noch miteinander trieben? Ich erinnere Sie z. B. an die gemeinsame Entschließung des Bundestags vom 25. Februar 1954 nach der Berliner Konferenz, in der es wieder heißt:
Der Deutsche Bundestag bedauert auf das tiefste, daß die Berliner Konferenz keine Lösung der Deutschland-Frage gebracht hat. Aus den Stellungnahmen des sowjetischen Außenministers geht eindeutig hervor, daß die Sowjetunion heute nicht willens ist, die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit zuzulassen.

(Hört! Hört! bei den Regierungsparteien.) Ein gemeinsamer Beschluß des Bundestages!

Ich rufe weiter in Ihre Erinnerung die — bei einer Enthaltung — einstimmig 'angenommene Entschließung des Deutschen Bundestages noch am 26. Februar 1955, in der es heißt:
Der Deutsche Bundestag fordert daher Verhandlungen der vier Mächte mit dem Ziele:
a) Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments in allen Zonen auf der Grundlage eines demokratischen, allgemeinen, freien und gleichen Wahlrechts;
b) Schaffung einer gesamtdeutschen Verfassung und Bildung einer gesamtdeutschen Regierung durch das gesamtdeutsche Parlament;
c) Durchführung der Wiedervereinigung auf der Grundlage einer solchen Verfassung;
d) alles dies unter internationalem Schutz. Und:
Der Deutsche Bundestag fordert, es möge so bald wie möglich ein Friedensvertrag mit Deutschland geschlossen werden, der in gleicher Weise für die beteiligten Mächte wie für die in ihren Entschlüssen freie gesamtdeutsche Regierung annehmbar wäre.
Herr Heinemann, da ist sie immer wieder, diese
Parole „Freie Wahlen zuerst" und „Entscheidungsfreiheit für die gesamtdeutsche Regierung", und 480 Tückebolde haben sie angenommen; ein weißer Rabe hat dagegen gestimmt. Nein, Herr Heinemann, so dürfen wir doch nicht miteinander reden. Sie können uns doch nicht tadeln, weil wir damals gemeinsam diese Politik gemacht haben. Es läßt sich darüber streiten, ob die Parole „Freie Wahlen zuerst" richtig war oder nicht — ich glaube, sie war mindestens in der damaligen Zeit richtig. Aber dann muß man wenigstens alles sagen. Denn wenn man eines verschweigt, sagt man in allem die Unwahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Nehmen wir einmal an, wir hätten damals alle zusammen tatsächlich unrecht gehabt. Sie haben dann immer noch nicht — ich spreche jetzt gar nicht von der verlangten Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und anderen schweren Bedingungen der Sowjetunion — auf die eine Forderung hingewiesen, die zu erfüllen bis zu dieser Stunde keine Partei dieses Hauses bereit war. Es handelt sich um die Forderung der Bildung einer sogenannten gesamtdeutschen provisorischen Regierung unter Beteiligung der kommunistischen Vertreter Pankows vor der Abhaltung freier Wahlen. Wären Sie, Herr Heinemann, damals bereit gewesen, sich dieser Forderung der Sowjetunion zu beugen? Sind Sie es heute? Damals waren es die Parteien dieses Hauses nicht. Wir fragen in dieser Sitzung des Deutschen Bundestages, ob die Parteien dieses Hauses auch heute noch dieser Forderung der Sowjetunion auf Einsetzung einer gesamtdeutschen Regierung vor der Abhaltung freier Wahlen widerstreben.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der CDU/CSU: Er soll antworten! — Abg. Wehner: Wir haben nicht die Methoden, die Sie haben!)

Herr Sethe, den ich als einen der Geschichtsschreiber dieser Jahre erwähnte, kritisiert uns wie Herr Heinemann, daß wir gemeinsam zwischen 1952 und 1955 am Vorrang der freien Wahlen festgehalten haben. Aber Herr Sethe gibt redlicherweise zu, daß auch die damals Verhandlungsbereiten
— wie er wörtlich sagt —
sich darüber klar waren, daß im Endergebnis keine freien Wahlen
— wie er meint —
im vollen Sinne des Wortes abgehalten worden wären. Mit Hilfe einer Einheitsliste, die nicht zu vermeiden gewesen wäre,
— meint er —
wäre es den Bolschewiken — das sind seine Worte —
wohl gelungen, noch 50 bis 100 Kommunisten in, eine gesamtdeutsche Nationalversammlung hineinzubringen.
Er meint, man hätte sich damit abfinden sollen. Nun, das ist ein Argument, das ist ein redliches Argument. Der Mann sieht,. daß es damals in Wahrheit nicht um freie Wahlen ging. Ich bin der Überzeugung, die Sowjetrussen hätten sich sogar darauf




Kiesinger
nicht eingelassen, es sei denn, sie hätten diese starke kommunistische, von ihr unterstützte Minorität mit Hilfe ihrer ständigen Interventionen als Trojanisches Pferd zur Zerstörung der deutschen Freiheit benutzt.
Man muß auch — worauf Wilhelm Comides aufmerksam gemacht hat — die Sowjetnote vom 10. März 1952 im Zusammenhang mit den gleichzeitig, am 19. März 1952, den Vereinten, Nationen vorgeschlagenen Abrüstungsprogrammen sehen. Das hätte dann wie folgt ausgesehen: Liquidierung allermilitärischen Stützpunkte, Abzug aller westlichen Truppen, Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, Trennung Deutschlands vom Westen, proportionale Herabsetzung der Streitkräfte um ein Drittel — also Aufrechterhaltung der bedrohlichen konventionellen Übermacht der Sowjetunion in Europa — und Verbot aller Atomwaffen. Dieses Programm, meine Damen und Herren, hätte, wenn es erfüllt worden wäre, eine überwältigende politische und militärische Vormacht der Sowjetunion geschaffen. Eine Vorherrschaft der Sowjetunion in Europa wäre die Folge gewesen. Ein isoliertes Deutschland hätte ihr gegenübergestanden, und dieses Deutschland wäre von jener kommunistischen Minderheit — jenen fünfzig bis hundert kommunistischen Abgeordneten, die Herr Sethe in Kauf nehmen wollte — unterwühlt worden, weil diese Minderheit dreist und gewalttätig unter dem Schutz der Sowjetunion aufgetreten wäre. Wir hätten dann etwas anderes erlebt als jene kleinen Kommunisten, die einmal in
diesem Hause an der äußersten Linken saßen.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Schreckensgemälde!)

Ich glaube, damit kann man dieses Kapitel abschließen. Sie können uns sagen — das haben Sie, Herr Wehner, gelegentlich getan —: „Gut; ich bin selber skeptisch, ich glaube selber nicht daran, daß große Ergebnisse herauskommen. Aber dann laßt uns doch einmal testen, ausprobieren!"

(Abg. Wehner: Und es ist unfair von Ihnen, es jetzt so darzustellen, als seien wir der, der dies angeregt hätte! Das wissen Sie ganz genau zu unterscheiden!)

— Also entschuldigen Sie, Herr Wehner — was soll ich gesagt haben, was Sie angeregt hätten?

(Abg. Wehner: Wenn unsere Zitate nicht ausreichen, dann flüchten Sie in andere Zitate, um ein Bild von uns zu machen, das nicht stimmt! — Lachen bei der CDU/CSU.)

— Herr Kollege Wehner, wenn Sie damit sagen wollen — und dies wäre eine erfreuliche Feststellung daß Sie die politische Auffassung des Herrn Gustav Heinemann nicht teilen, dann würden wir das begrüßen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren! Als dann im Zusammenhang mit der Genfer Konferenz die neue Formel kam, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nur durch Verhandlungen der beiden angeblich souveränen deutschen Staaten erfolgen könne, da war das in der Substanz nichts wirklich Neues. Ich habe Ihnen dargelegt, daß in all diesen Jahren die Sowjetunion uns immer den Köder, den Anschein der freien Wahlen vorgehalten hat. In all den Jahren hat sie sich aber die Möglichkeit gewahrt, durch ein notwendiges Zusammenwirken der beiden sogenannten deutschen Staaten, nämlich in dem Prozeß der Einsetzung der. gesamtdeutschen provisorischen Regierung, genau dasselbe zu erreichen, was sie nachher mit der plumperen Formel des Herrn Chruschtschow — Verhandlungen der beiden deutschen Staaten — erreichen wollte. Dies ist eine neue Formel; es ist aber in Wahrheit keine neue Politik.
Der Herr Dehler — und damit schließe ich dieses Kapitel ab — hat in jener verhängnisvollen
— wie mit Recht gesagt worden ist: gespenstischen
— Nacht dem Herrn Bundeskanzler den Willen zur deutschen Einheit abgesprochen. Meine Damen und Herren, das ist ein ungeheuerlicher Vorwurf. Um ihn aber zu kennzeichnen, verweise ich darauf, daß derselbe Thomas Dehler am 7. Oktober 1954, lange nach den Noten des Jahres 1952, ein halbes Jahr nach der Berliner Konferenz, hier im Bundestag von dieser Tribüne aus folgendes Zeugnis abgelegt hat:
Ich habe immerhin vier Jahre mit dem Bundeskanzler im Kabinett gesessen. Ich habe von ihm
nie ein Wort, nie eine Silbe gehört, aus der
man hätte folgern können, daß er nicht genau
so wie wir in der Wiedervereinigung das
wesentliche, das aktuelle Ziel sieht, daß er
nicht alle Möglichkeiten wahrnimmt, dieses
Ziel zu erreichen.

(Hört! Hört! bei den Regierungsparteien. — Abg. Schröter [Berlin] : Er hat doch gesagt, er war der gläubige Thomas! Damals aber, in der Nacht, da haben Sie geschwiegen!)

— Meine Damen und Herren, es ist einmal aus einem ungläubigen Thomas ein gläubiger Thomas geworden; hier offenbar aus einem gläubigen ein ungläubiger.

(Heiterkeit.)

Ich hoffe, daß er wirklich glaubt, was er sagte, und
daß ihm nicht blindes Ressentiment damals bei der
Rede in der Nacht im Januar das Wort geführt hat.
Der Herr Bundeskanzler ist in jener Nacht aufgefordert worden, zurückzutreten, weil seine Politik gescheitert sei.

(Lachen bei den Regierungsparteien.)

Heute abend fiel das Wort, der Herr Bundeskanzler sei immer zuerst Parteimann und immer in zweiter Linie Staatsmann. Nun, Herr Dr. Maier, in der Welt kennt man diesen Mann als einen der bedeutenden Staatsmänner unserer Epoche.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Andere, die ihn kritisieren, kennt man kaum als Parteimänner.


(Beifall und Heiterkeit bei den Regierungsparteien. — Abg. Corterier: Vielleicht werden Sie jetzt Minister, Herr Kiesinger! — Weitere Zurufe von der SPD.)




Kiesinger
— Meine Damen und Herren, soeben ist mir zugerufen worden: „Jetzt werden Sie vielleicht Minister!"

(Heiterkeit.)

Ich muß diesen Zuruf doch aufnehmen. Meine Herren Kollegen, ich habe zum Bundeskanzler durchaus kein sentimentales Verhältnis; es stünde ihm auch schlecht an.

(Erneute Heiterkeit.)

Er fordert dazu nicht heraus, und Sie alle wissen, daß ich versuche, meine eigene Meinung und meinen eigenen Standpunkt gegenüber dem Herrn Bundeskanzler durchzusetzen. Das hat er auch in den vergangenen Tagen deutlich zu spüren bekommen.

(Anhaltende Zurufe von der SPD und Heiterkeit.)

Daß ich heute abend, Herr Kollege Dr. Maier, nicht im Büßerhemd dastehe, hat seinen Grund nicht nur' darin, daß es in der Garderobe des Bundestages noch keine Büßerhemden gibt, sondern deswegen, weil wir' keine Büßer sind.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir alle kennen den Herrn Bundeskanzler. Wir alle wissen, daß er einen kraftvollen Willen hat, und — in Parenthese gesagt — wo wären wir, wenn er diesen eigensinnigen Willen in den vergangenen Jahren nicht gehabt hätte?

(Stürmischer Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Nicht mehr Beckmesser, sondern Sänger! — Lachen bei der SPD.)

— Ja, ich will ein bißchen singen, Herr Wehner.

(Heiterkeit.)

Gestern abend, als ich den Herrn Bundeskanzler verließ, nachdem wir mehrere Stunden lang miteinander diskutiert hatten, nicht wahr, Herr Krone und Herr Gerstenmaier,

(Abg. Wehner: Diskutiert?)

— oh ja, hart diskutiert, Herr Wehner —, da sagte ich am Schluß dem Herrn Bundeskanzler: Herr Bundeskanzler, wissen Sie, was für eine nette Geschichte über Sie im Umlauf ist? Er wußte es nicht. Ich sagte ihm: Es geht die Geschichte um, ein Fraktionskollege habe ihm einmal, als er auch hart mit ihm diskutierte, am Schluß gesagt: Herr Bundeskanzler, Sie wollen, daß wir zu allem, was Sie machen, Ja und Amen sagen. Der Bundeskanzler habe erwidert: Oh nein, mir genügt Ihr Ja.

(Große Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Nun, selbst dieses Ja — meine Damen und Herren, Sie dürfen es mir glauben — ist in den vergangenen Jahren nicht immer sofort gefallen und nicht immer leicht gefallen und manchmal — auch Sie wissen es — wurde es ein Nein. Es ist doch merkwürdig: wenn einmal einer beileibe nicht aus der Fraktion der CDU wegläuft, sondern nur aus ihrem Fraktionszimmer, dann füllt das die Schlagzeilen unserer deutschen Tageszeitungen; offenbar,
weil man sich von der Struktur der CDU eine falsche Vorstellung macht.

(Lachen bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Aber eines fand ich ein bißchen töricht heute, nämlich den Hinweis darauf, wir wären so unparlamentarisch, daß wir eine Anfrage, die wir an die Regierung richten, vorher mit dieser Regierung besprechen. Wissen Sie, so weit treiben wir das theoretisch-parlamentarische Spiel wahrhaftig nicht, daß wir sagen, nur weil wir CDU-Leute in den Bänken des Parlaments sitzen und Ihr CDU-Leute da oben sitzt, sprechen wir nicht mehr miteinander.

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Ich möchte wissen, was die SPD-Fraktion täte, wenn sie eine SPD-Regierung hier oben sitzen hätte; dann ginge es noch strammer zu.

(Große Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

Aber es geht um die künftige Außenpolitik des Landes. Wir haben danach gefragt, Sie haben danach gefragt. Wir stehen vor der Gipfelkonferenz. Alle Welt schaut auf diese Konferenz und hofft, daß sie der Menschheit wenigstens die Lösung einiger der schweren Probleme unserer Zeit bringt. Auch wir wünschen, daß diese Gipfelkonferenz durchgeführt wird, auch wir wünschen, daß sie zu einem Erfolg kommt. Aber dieser Erfolg ist nicht so billig zu erlangen, wie es manche Schlagworte, die auch heute wieder in diesem Hause gefallen sind, wahrhaben wollen. Obwohl es klar zutage- liegt, ist offenbar diese tragischklare. Lage unserer Bundesrepublik für manche Intellektuelle zu klar, und da müssen sie Gedankenschwierigkeiten hineintragen. Obwohl klar zutage liegt, wie die harten Tatsachen stehen, geht das Wunschträumen, das Rechnen ohne den, Wirt, das Projektemachen ohne reale Basis in unserem Lande weiter. Kaum ist eine neue Parole aus Moskau da, so findet sie schon ihren neuen deutschen Parteigänger: in Düsseldorf auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen FDP, und in der Märzausgabe des „Sozialdemokrat". Der Herr Bundesminister hat bereits erwähnt, was dort geschrieben wurde. Aber es ist so beängstigend, daß ich es noch einmal vollständig zitieren muß. Das Mitglied des Bezirksvorstandes Hessen-Süd der SPD, Walter Müller, schrieb da, und es wurde im „Vorwärts" — wie gesagt — nachgedruckt:
Mit der DDR ist über die Schaffung gesamtdeutscher Einrichtungen zu verhandeln, die alle Schwierigkeiten für einen umfassenden wirtschaftlichen und kulturellen Austausch sowie für den freien Austausch von Personen und Sachen prüfen. Aber auch dann werden die freien Wahlen zu einem gesamtdeutschen Parlament nur den Abschluß einer Entwicklung bilden, für die eine sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik die Zwischenstufe eines föderativen Staatenbundes und die allgemeine militärische Entspannung wichtigste Voraussetzungen bilden.

(Abg. Rasner: Was heißt das? — Abg. Wehner: Das werden Sie morgen hören! Hoffentlich können Sie die Nacht schlafen!)




Kiesinger
— Herr Wehner, hoffentlich werden wir es morgen hören, und zwar auch aus Ihrem Munde.

(Abg. Wehner: Jawohl! Beunruhigen Sie sich nicht! Zerbrechen Sie sich nicht unsere Köpfe!)

— Ich beunruhige mich, Herr Wehner; denn Sie haben in „Geist und Tat" vor kurzem folgende Sätze geschrieben: Deutschland müsse im Zeichen des demokratischen Sozialismus vereinigt werden. Nun, wenn Sie damit meinen, des sozialdemokratischen Sozialismus, dann glaube ich zwar nicht, daß das geschehen wird. Aber ich würde geben diese Formulierung nichts einwenden. Nun kommt aber ein Satz, der ist verhängnisvoll. Herr Wehner spricht von Scharfmachern auf beiden Seiten der Demarkationslinie, und er sagt: „Die politischen Sachwalter des Großbesitzes haben die Spaltung Deutschlands zur Wiederherstellung ihrer Macht und ihrer Vorrechte ausgenützt."

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der SPD: Völlig riditig! — Reine Wahrheit! — Gegenrufe von der CDU/CSU: Unerhört! — Abg. Majonica: Reiner Klassenkampf!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301810200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301810300
Bitte!

(Anhaltende Unruhe.)



Wolfgang Döring (FDP):
Rede ID: ID0301810400
Herr Kollege Kiesinger, Sie sprachen gerade von furchterregenden Äußerungen auf dem FDP-Parteitag in Düsseldorf. Auch Herr Bucerius hat das bereits getan. Darf ich einmal fragen, woher Sie Ihre Informationen beziehen? Ha- ben Sie unsere Reden, die schriftlich vorlagen, gelesen, oder lesen Sie nur den „Rheinischen Merkur" und die „Neue Zürcher Zeitung"?

(Beifall bei der FDP.)


Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301810500
Herr Kollege Döring, als alter parlamentarischer Hase pflege ich die Berichte der deutschen Presseagenturen zu lesen. In diesen Berichten stand deutlich, was gesagt worden ist, und aus den besorgten Äußerungen Ihres Parteichefs, Herrn Dr. Reinhold Maier, konnte man ja auch sehen, um was es da ging.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber, Herr Döring, ich lasse mit mir reden. Wenn Sie sich morgen hierherstellen und sagen: Das war alles gar nicht so gemeint, wir denken nicht daran, eine Konföderation anzunehmen, wie sie die Sowjetrussen vorschlagen, dann werden wir den verlorenen Sohn gern in unsere Mitte aufnehmen:

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Döring.)

Herr Mende hat heute früh über den Friedensvertrag gesprochen. Herr Dr. Reinhold Maier tat es auch. Herr Dr. Reinhold Maier griff in den „Faust" in Zusammenhang mit diesem Redetag und sagte: „Mir wird von alle dem so dumm, als ging' mir ein
Mühlrad im Kopf herum." Nun, ich muß gestehen, ich verstehe nicht, was eigentlich die Freie Demokratische Partei mit dieser Rabulistik in diesem Zusammenhang will.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Was haben denn die Sowjets angeboten? Als ob es darauf ankäme, daß sie sagten: ein Friedensvertrag mit den beiden deutschen Staaten, oder daß sie sagten, was sie in der Tat gesagt haben: ein Friedensvertrag mit einem Deutschland, das nach dem Muster des sowjetrussischen Konföderationsvorschlags oder über Verhandlungen der sogenannten beiden deutschen Staaten zusammengekommen ist.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Das ist das, was die Sowjetrussen vorgeschlagen haben. Dazu, meine Damen und Herren, wäre es nicht notwendig gewesen, Herrn Smirnow, der sich wahrscheinlich in dieser Rolle gar nicht wohl fühlt, durch geschäftiges Hin und Her als einen Schiedsrichter in innerdeutschen Fragen auszuspielen.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301810600
Herr Abgeordneter gestatten Sie eine Frage?

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301810700
Bitte schön!

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0301810800
Herr Dr. Kiesinger, würden Sie so freundlich sein, den einen Satz, den Sie bei meinem von Ihnen zitierten Artikel aus dem Zusammenhang herausgerissen haben, durch alle die Sätze zu ergänzen, die zu diesem Absatz gehören und die da zeigen, wie es zu diesem Elend der Teilung Deutschlands und seiner Zementierung kam und was ein Sozialdemokrat dazu zu sagen hat? Ich möchte Sie darum bitten. Sonst möchte ich mir erlauben, Ihnen diesen Text zu geben, der mir gerade zugänglich gemacht worden ist. Hier ist der Absatz.

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301810900
Herr Kollege Wehner, ich habe Ihren ganzen Aufsatz gelesen.

(Abg. Wehner: Nur einen Absatz wünsche ich, die Zusammenfassung! — Widerspruch bei der CDU/CSU. — Große Unruhe.)

— Herr Kollege Wehner, ich will Ihnen einmal etwas sagen.

(Zurufe von der SPD: Vorlesen!)

Ich habe nip einen Augenblick die Ernsthaftigkeit Ihrer Sorgen um die deutsche Einheit bestritten. Gerade ich habe es nicht getan. Was ich aber mit Sorgen sah, war, daß Sie seit längerer Zeit in Ihren Äußerungen — ich kann es nicht anders nennen —klassenkämpferische Töne anschlugen, die aus dem Innenpolitischen — und das ist das Schaurige — ins Außenpolitische überspielten.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Wenn Sie uns wirklich vorwerfen — diesen Satz, den Sie da geschrieben haben, können Sie in wel-



Kiesinger
chen Zusammenhang auch immer stellen — daß
der deutsche Großbesitz, oder wie es nun hieß,
sich eigennützig die deutsche Spaltung zunutze gemacht und daraus seine Vorteile gezogen hätte --

(Abg. Wehner: Soll ich es selbst vorlesen?)

— Bitte, wenn Sie es wollen, ich lese es vor — mit der Erlaubnis des Herrn Präsidenten —, damit Herr Wehner nicht den Eindruck bekommt, ich wolle seine Äußerung verfälschen:
Es wird Zeit, daß sich die breiten Bevölkerungsschichten, deren Leben von der internationalen Verständigung abhängt, vernehmlicher zu Wort melden.
Ich hoffe nicht Straßenaktionen!
Den Großmachtträumen der Machthaber des Dritten Reichs ist die Einheit zum Opfer gefallen.
Wiederum der fatale Vergleich!

(Zuruf von der SPD: Das steht nicht drin!)

— Das steht drin, ich lese vor!
Die politischen Sachwalter des Großbesitzes haben die Spaltung Deutschlands zur Wiederherstellung ihrer Macht und ihrer Vorrechte ausgenützt.
Nun fahren Sie fort:
Die Führung der Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Einheitspartei hat durch die Knebelung der Bevölkerung Mitteldeutschlands verhindert, daß die arbeitenden Menschen aller Zonen einheitlich ihre Kraft auf den Aufbau eines geeinten Deutschlands konzentrieren konnten, das, wie Kurt Schumacher es in seinem Vermächtnis ausdrückte, die Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit ausschließt. Die offizielle Politik beider Seiten hat in eine Sackgasse geführt. Deutschland wird im Zustand der Teilung ein Herd fortwährender Konflikte sein, oder es wird im Zeichen des demokratischen Sozialismus vereinigt werden.

(Beifall bei der SPD.)

— Ja, meine Damen und Herren, wollen Sie wirklich insgesamt diesen Vorwurf gegen einen riesigen Teil der Bevölkerung Westdeutschlands unterstützen, daß dieser Teil der Bevölkerung Westdeutschlands es sei, oder daß gar wir die politischen Sachwalter des Großbesitzes seien, die die Spaltung Deutschlands zur Wiederherstellung ihrer Macht und ihrer Vorrechte ausgenützt hätten? Nein, aus dieser Verantwortung, Herr Wehner, kann ich Sie nicht entlassen. So spricht man nicht in einer solchen Frage und in einer solchen geschichtlichen Stunde, wo es wirklich auf die Einheit Deutschlands ankommt.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301811000
Gestatten Sie eine weitere Frage?

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301811100
Bitte!

Willy Könen (SPD):
Rede ID: ID0301811200
Herr Kollege Kiesinger, ist Ihnen bekannt, daß der frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, unser Kollege Arnold, anläßlich des Jugenddelegiertentreffens in Essen mit anderen Worten genau das gleiche gesagt hat,

(Zuruf von der CDU/CSU: So dumm ist er nicht!)

nämlich daß er mit Bedauern sehe, daß bestimmte Kräfte unter dem Schlagwort des Antibolschewismus die Restauration betrieben?

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301811300
Ich weiß nicht, was Kollege Arnold gesagt hat. Er ist ja hier im Hause und wird in einer persönlichen Erklärung dazu Stellung nehmen können. Ich halte ihn für viel zu klug und viel zu gerecht, als daß er diese Äußerungen in klassenkämpferischem Sinne gemeint haben könnte.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Herr Kollege Mende hat heute früh alle möglichen geschichtlichen Ausflüge unternommen. Aber eines von dem, was er gesagt hat, möchte ich doch nicht übergehen. Er sprach davon, wie vergangene deutsche Generationen vertragsbrüchig geworden seien, wie sie sich schuldig gemacht und das Vertrauen der Welt verloren hätten. Nun gut, Herr Kollege Mende! Wir haben neue Verträge, wir haben Verträge, die allein uns die Sicherheit gageben haben, daß wir heute hier diskutieren können und daß Sie heute früh von diesem Pult haben sprechen können. Sorgen wir, daß diese Verträge nicht wieder gebrochen werden und daß wir das Vertrauen der Welt nicht erneut verlieren!

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) — Bitte, Herr Bucher!


Dr. Ewald Bucher (FDP):
Rede ID: ID0301811400
Herr Kollege Kiesinger, nachdem Sie uns soeben im Punkt Vertragstreue so besonders warm angesprochen haben: Ist Ihnen entgangen, wie Herr Dr. Maier in seiner Rede ausdrücklich betont hat, daß wir zum NATO-Vertrag stehen?

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0301811500
Das ist mir nicht entgangen, Herr Kollege Bucher. Es geht nicht darum, daß ich der Freien Demokratischen Partei als Ganzem den Vorwurf mache, sie stehe nicht zur NATO. Im Gegenteil, ich habe mit Vergnügen jüngst in Ihrer Korrespondenz gelesen, daß Sie Herrn Ollenhauer bescheinigt haben, er begreife immer noch nicht, um was es eigentlich bei der ganzen Diskussion gehe. Angeblich hat Herr Ollenhauer wieder einmal erklärt, die Bundesrepublik müsse aus der NATO austreten. Ich kann nur nach Zeitungsmeldungen berichten, genau wie die „Freie Demokratische Korrespondenz", und da haben Sie geschrieben, Herr Kollege Ollenhauer merke immer noch nicht, urn was es gehe, nämlich daß Sie zur Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO stünden und daß es eine Torheit sei, die NATO zu



Kiesinger
verlassen. Ich habe mich gefreut, nach langer Zeit wieder einmal eine mit der FDP gemeinsame Überzeugung vorzufinden.

(Heiterkeit in der Mitte.)

Es geht aber nicht nur um Vertragsbruch, sondern es geht auch darum, daß wir durch unsere Äußerungen und durch unser Verhalten kein Mißtrauen bei unseren Verbündeten säen sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das bedeutet natürlich nicht, daß wir uns nicht freimütig über unsere Sorgen äußern sollten. Aber Herr Mende hat heute früh so allerlei gesagt, was durchaus nicht notwendig gewesen wäre. Seien wir doch froh, daß jene Zeit vorüber ist, da einer unserer heutigen Verbündeten das Ruhrgebiet und das linke Rheinufer abgetreten haben wollte! Und wem ist es zuletzt zu verdanken, daß aus jenem unbarmherzigen und harten Sieger heute ein treuer Freund geworden ist? Nicht der Politik des Kritisierens am westlichen Bündnis, sondern unserem geduldigen, zähen, unverdrossenen Ringen um Vertrauen in der westlichen Welt!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Es liegt mir nicht, Elogen zu machen. Ich würde auch nicht wie Herr Dehler den Bundeskanzler darauf ansprechen, daß er der einzige Staatsmann in diesem Hause sei. Aber eines sei mir doch zu sagen erlaubt: Es ist eine furchtbare Täuschung, wenn Sie glauben, daß das Maß an Kredit, Goodwill und
Vertrauen, das dieses Land heute genießt, durch uns und für uns eingeheimst und in die Scheunen gebracht worden sei. Das ist doch ganz wesentlich in unsere Scheunen eingebracht worden durch diesen Mann da!

(Langanhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Lebhafte Zurufe von der SPD.)

— Diese Tatsachen müssen auch Sie anerkennen. Ich weiß auch, daß es die Nüchternen unter Ihnen tun, sosehr sie den Kanzler kritisieren.

(Zurufe von der SPD.)

Ich gehe darüber hinaus: Wenn heute eine Persönlichkeit in diesem Hause auch drüben jenseits unserer provisorischen östlichen Grenzen Ansehen genießt — ich meine in Moskau , dann sind es nicht die Projektemacher, die Schwachmutigen, die Phantasten, sondern dieser Staatsmann unseres Landes.

(Erneuter starker Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD: Sieg Heil! — Weitere Zurufe von der SPD.)

Denn auch die Leute in Moskau vermögen genauso zu unterscheiden, wo politische Kraft und Bedeutung liegt und wo nicht. Vielleicht erleben wir noch den Tag, an dem in diesem Respekt und in der Anerkennung des Realismus dieses Politikers auch Verhandlungen mit den Leuten in Moskau geführt werden

(Zurufe von der SPD)

— nicht von Ihnen, sondern von ihm — und zu einem guten Ende gebracht werden.

(Anhaltende Zurufe von der SPD.)

Ich komme zum Schluß. Herr Kollege Erler, ich will nur noch Ihnen ein paar Worte sagen. Wie immer haben Sie ihre Gedanken in bestechender Form dargelegt, und man merkt Ihnen auch an, daß es Ihnen um die Sache geht. Ich glaube Ihnen das, nicht nur jetzt, sondern auch aus vielen privaten Gesprächen. Gerade darum aber hätten Sie die verhängnisvolle Einleitung nicht machen dürfen.

(Lachen bei der SPD.)

Sie haben Herrn Gaitskell erwähnt. Ich war jetzt in London — Herr Mommer war auch dabei , und Herr Gaitskell hat dort die Idee seines Disengagement-Planes dargelegt. Wissen Sie, worauf er die Hoffnung stützt, daß unter Umständen die Sowjetunion einlenken könnte? Sie wissen es, er hat es gesagt. Er stützt die Hoffnung, daß die Sowjetunion einlenken würde und bereit wäre, ihre Truppen aus den östlichen Räumen zurückzuziehen, darauf, daß sie fürchte, sonst werde die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik durchgeführt.

(Zuruf von der SPD: Sie wird ja durchgeführt!)

Das ist ein grundsätzlich verschiedener Ausgangspunkt der Betrachtung. Solange die Sowjetunion die Isolierung Deutschlands und die Verhinderung des Zusammenwachsens Westeuropas durch bloße Propaganda erreicht, wird sie keinen Schritt tun, der sie etwas kostet.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Erler: Das haben Sie bei der EVG auch schon gesagt, und das werden Sie morgen bei irgendwelchen Heldenwaffen auch wieder sagen!)

— Herr Kollege Erler, so einfach ist es nicht! Die Sowjetunion hat ja in allen diesen Fällen, z. B. bei der EVG, ihre politischen und diplomatischen Mannöver gemacht. Leider Gottes hat sie ihr Ziel, nämlich das Scheitern der EVG, erreicht, ohne daß sie einen Preis dafür zahlen mußte.
Ich habe dann Herrn Gaitskell in London gefragt und er hat gesagt: Erstens, er werde seinen Plan aufgeben, wenn er bedeute, daß die Amerikaner Europa verließen — das ist eine sehr realistische Einsicht, ich teile sie, und ich habe sie mit Freude gehört —. Zweitens sagte Herr Gaitskell, diese Verhandlungen, die auch die Wiedervereinigung Deutschlands einschließen sollten, würden wahrscheinlich viele Jahre, möglicherweise zehn Jahre, dauern.
Ich habe dann Herrn Gaitskell zwei Fragen gestellt. Erstens: Was würden Sie in der Zwischenzeit uns raten? Zweitens: Welche Etappen der Verhandlungen stellen Sie sich vor? Herr Gaitskell ist zum allgemeinen Erstaunen beiden Fragen ausgewichen.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Er hat sie nicht beantwortet. Er konnte sie nicht
beantworten. Denn hier ist der springende Punkt.



Kiesinger
Hier verläßt den Plänemacher einfach die Phantasie. Hier ist der Sprung ins Ungewisse, der Sprung ins Nichts, der uns hier vorgeschlagen wird.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

Natürlich wird nun auf der Gipfelkonferenz allerlei verhandelt werden, und es wird auf der Gipfelkonferenz, so hoffen wir alle, das Problem der Abrüstung, der allgemeinen kontrollierten Abrüstung angepackt werden. Sie haben dem Verteidigungsminister Ihre Argumente entgegengesetzt. Ich weiß, Herr Erler, daß auch Sie die einschlägige Literatur kennen, in der die Ausstattung der Europäer mit taktischen atomaren Waffen gerade damit verteidigt wird, daß durch diese Ausstattung das fürchterliche Entweder-Oder einer westlichen Kapitulation oder eines vollen atomaren Gegenschlages vermieden werden solle. Man kann natürlich darüber streiten, ob diese Theorie richtig ist oder nicht. Wer von uns maßt sich in diesem atomaren Zeitalter an, die Dinge richtig zu sehen? Das ist ja das Schlimme.

(Zurufe von der SPD.)

— Nein, auch wir maßen uns das nicht an. Wir haben nur als Politiker unsere Entscheidungen zu treffen. Aber niemand kann sich anmaßen, im atomaren Zeitalter die Dinge hundertprozentig richtig zu sehen. Weil wir uns dieser möglichen Fehlsamkeit bewußt sind, deswegen haben wir all diese Dinge so gründlich bedacht. Und deswegen ist es I auch nicht wahr, was Sie, Herr Erler, gesagt haben: daß wir versuchen wollten, unsere deutsche Bundeswehr so unlöslich in die nordatlantische Gemeinschaft einzuweben, daß eine Herauslösung nachher nicht mehr möglich sei. Erstens wollen wir das nicht, und zweitens ist das auch gar nicht
möglich.

Das heißt: der Zustand kann in jedem Augenblick geändert werden. Wann soll er geändert werden? Nun, wir hoffen auf die große Abrüstung. Ich weiß, was Sie mir entgegenhalten könnten. Sie könnten mir die Frage entgegenhalten: Woran scheitert diese große Abrüstung? Sie scheitert nicht so sehr am bösen Willen der einen oder anderen Seite wie daran, daß die Kontrolle der großen Abrüstung sehr problematisch ist. Ich bin kein Militär, ich kann es nicht genügend beurteilen. Die Argumente in dieser Richtung haben mich beeindruckt. Aber eines würde ich sagen: ich würde für diese allgemeine Abrüstung eintreten, selbst wenn sich herausstellen sollte, daß die Kontrollmaßnahmen notwendigerweise ungenügend bleiben müssen. Hier bei der allgemeinen Abrüstung würde ich den Anfang setzen.
Ich halte nicht viel von Hausmittelchen, von Flickwerk. Der Rapacki-Plan ist ein solches Hausmittelchen, ein solches Flickwerk. Ich glaube nicht, daß man mit solchen Plänen, wenn man einen regionalen Teil herausnimmt, wirklich zur Entspannung kommt. Was ist denn Entspannung? Entspannung ist Gleichgewicht. Herr Erler, das wissen Sie auch. Schaffen Sie dadurch, daß Sie eine solche
Zone ausnehmen, das Gleichgewicht? Sicherlich nicht. Hier liegt in der Tat eine Vorleistung vor.
Was immer geschehen mag, wir werden alle Verhandelnden auf der Gipfelkonferenz ermutigen, jeden vernünftigen Schritt auf dem Gebiet der Abrüstung zu tun. Wo immer ein Schritt wirkliche Entspannung bringt und nicht eine Verschiebung des Kräftegleichgewichts zugunsten des Ostens, soll und muß er getan werden. Er muß getan werden; denn sonst laufen wir Gefahr, eines Tages den allgemeinen Krieg zu erleben. Den allgemeinen Krieg nicht deswegen — da folge ich Ihnen nicht, Herr Erler —, weil hüben und drüben die taktischen Atomwaffen, die Zerstörungsmittel angehäuft werden — darin liegt sogar ein makabrer Trost der Menschheit —, sondern weil dann eine Seite nicht mehr darauf spekulieren kann, daß sie mit einem Gewaltakt, den sie gestützt auf ihre atomare Übermacht unternimmt, ungestraft davonkommt, weil sich der Westen davor scheut, das einzige Mittel einzusetzen, das ihm dann zur Verfügung stünde, nämlich den vollen nuklearen Gegenschlag. Wenn wir diese Situation vermeiden — und die Ausrüstung der europäischen NATO-Truppen und auch der Bundeswehr dient allein, wie der Verteidigungsminister gesagt hat, diesem Zweck der Verhinderung eines Krieges, des Krieges, der realiter noch drohen kann, dann dienen wir dem Frieden, Herr Kollege Erler, und wir dienen auch der Wiedervereinigung. Denn diese Wiedervereinigung wird nicht zustande kommen, wenn wir unsere Freiheit nicht bewahren.
Wir sind keine Dogmatiker und sind keine halsstarrigen Verfechter des kalten Krieges, aber wir wissen, wann eine Stunde für Entscheidungen reif ist und wann nicht.

(Lebhafte Zurufe von der SPD.)

Herr Kollege Maier, Sie haben von „Reichsverderbern" gesprochen. Nun, ich hoffe, Sie haben nicht uns damit gemeint. Wenn dieses Land heute in der Welt wieder Respekt und Freundschaft genießt, wenn es nicht „verdorben" ist, dann sind vor allem wir es und der Bundeskanzler, die sich dieses Verdienst zuschreiben können.

(Lebhafter Beifall in der Mitte. — Lachen und Oho-Rufe von der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0301811600
Meine Damen und Herren! Vereinbarungsgemäß wird die Aussprache unterbrochen. Ich teile mit, wer auf der Rednerliste für morgen steht: zunächst der Abgeordnete Schneider (Bremerhaven), dann die Abgeordneten Wehner, Friedensburg, Mattick, Dr. Jaeger, von Merkatz. Weitere Namen stehen noch nicht auf der Liste.
Wir vertagen die Sitzung auf morgen, Freitag den 21. März 1958, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.