Gesamtes Protokol
Einen wunderschönen sonnigen guten Morgen! Die
Sitzung ist eröffnet .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a, 19 b sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
19 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Drucksache 18/7823
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der
GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Pia Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine
Zimmermann , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Gute Ausbildung – Gute Arbeit – Gute
Pflege
Drucksache 18/7414
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-
Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Integrative Pflegeausbildung – Pflegebe-
ruf aufwerten, Fachkenntnisse erhalten
Drucksache 18/7880
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
sehe ich keinen . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu Be-
ginn dem Bundesminister Hermann Gröhe .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieser Le-gislaturperiode unternehmen wir eine Reihe zentralerSchritte, um die Pflege in Deutschland zum Wohle derPflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflegekräf-te in unserem Land zu stärken . Am 1 . Januar des nächstenJahres tritt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in Kraft.Damit erhalten demenziell erkrankte Menschen erstmalsgleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pfle-geversicherung . Dieser Schritt hin zu mehr Leistungs-verbesserung in der Pflege setzt voraus, dass wir nochmehr Menschen dafür gewinnen, diese unverzichtbare,wertvolle Arbeit in der Pflege zu tun. Deswegen habenwir bereits eine Reihe von Schritten unternommen, diedarauf zielen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege nach-haltig zu verbessern .
Dazu gehört, dass die Einführung des neuen Pflege-bedürftigkeitsbegriffs mit der Auflage verbunden ist, indiesem Jahr die Personalschlüssel für die Pflegeeinrich-tungen neu zu verhandeln . Dazu gehört die rechtlicheAbsicherung der Zahlung von Tariflöhnen. Dazu gehörtdie deutliche Entbürokratisierung in der Pflegedokumen-tation, und dazu gehören schließlich 20 000 zusätzlicheBetreuungskräfte, die die Arbeit der Pflegekräfte ergän-
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zen, aber diese – das sage ich sehr deutlich – niemalsersetzen dürfen .Mit dem Pflegeberufereformgesetz, das wir – KolleginSchwesig und ich – heute gemeinsam vorlegen und dasin enger Zusammenarbeit mit Vertretern der Bundeslän-der erarbeitet wurde, gehen wir einen weiteren wichtigenSchritt, um die Attraktivität der Pflegeberufe zu steigernund so dafür Sorge zu tragen, dass wir dem wachsendenBedarf an Pflegekräften auch nachkommen können.Wir greifen wie beim Pflegebedürftigkeitsbegriff, überden wir zehn Jahre diskutiert haben, bevor er umgesetztworden ist, mit der Einführung der sogenannten Genera-listik, der Zusammenführung von Kranken-, Kinderkran-ken- und Altenpflege bei klarer Schwerpunktsetzung ineinem Tätigkeitsfeld, eine Diskussion auf, die ebenfallsüber zehn Jahre andauerte und die keine theoretischeDiskussion war, sondern mit einer Fülle von Modellvor-haben zur Erprobung dieser Ausbildung verbunden war .Ich darf daran erinnern: Im November 2009 hat im schö-nen Berchtesgaden auf Antrag aller Länder die Arbeits-und Sozialministerkonferenz einstimmig beschlossen,sich dem ebenfalls einstimmigen Beschluss der Gesund-heitsministerkonferenz anzuschließen und – ich zitiere –:… alsbald gemeinsam mit den Ländern Vorschlägefür eine Zusammenführung der Pflegeausbildungen… zu entwickeln .„Alsbald“! Mancher tut ja plötzlich so, als würde hier et-was übers Knie gebrochen . Seit zehn Jahren diskutierenwir, erproben wir, gibt es Forderungen aus der Pflegewis-senschaft . Jetzt wollen wir es gemeinsam angehen .Worum geht es? Es geht darum, dass die Ausbildungzukünftig noch stärker den sich wandelnden Anforde-rungen an den Arbeitsplätzen Rechnung trägt . In unse-ren Krankenhäusern gibt es eine zunehmende Zahl andemenziell erkrankten, chronisch kranken und pflege-bedürftigen Patientinnen und Patienten . Das erfordertauch altenpflegerisches Know-how. Und in den Pflege-einrichtungen befinden sich immer mehr mehrfach undchronisch Erkrankte . Vor einigen Wochen haben wir überdas Thema Palliativversorgung in Pflegeeinrichtungendiskutiert und dazu Beschlüsse gefasst . Die Situation inder Altenpflege verlangt mehr und mehr auch kranken-pflegerisches Know-how.Es geht aber auch – das verhehle ich nicht –, auchvor dem Hintergrund des Ringens um mehr Fachkräftein diesem Bereich, darum, die Berufs- und Weiterent-wicklungsperspektiven, die Aufstiegsmöglichkeiten fürdiejenigen, die in der Pflege tätig sind, zu verbessern. Eskann nicht sein, dass man nach dem 10 . Schuljahr eineAusbildung im Pflegebereich machen kann, es dann abernur noch wenige Möglichkeiten der Weiterentwicklunggibt . Auch eine Veränderung an dieser Stelle kann einenBeitrag dazu leisten, mehr Menschen für diese Tätigkeitzu gewinnen .Ich freue mich, dass beispielsweise gestern der Vor-stand der Diakonie, einer der größten Arbeitgeber in die-sem Bereich, ausdrücklich zu unserem Reformvorschlaggesagt hat, sie sei überzeugt,dass wir durch die Reform viele Menschen für dieArbeit in der Pflege gewinnen und dem Fachkräfte-mangel entgegenwirken können .Es herrscht die Überzeugung – das war neulich eine kraft-volle Demonstration im Rahmen des Deutschen Pflegeta-ges –, dass diese Reform diesen Beruf attraktiver macht .Wir wissen: Eine solch deutliche Umstellung ist auchmit Fragen verbunden, denen wir uns jedoch im parla-mentarischen Verfahren, weiß Gott, stellen können . Undich glaube, im Rahmen der Vorlage der Eckpunkte füreine entsprechende Ausbildungs- und Prüfungsverord-nung können wir bereits einiges deutlich machen .Angesichts so mancher Polemik in der letzten Wo-che, die etwa aus dem Bereich der privaten Arbeitgeberauch gegenüber Herrn Laumann und mir geäußert wurde,möchte ich doch einmal aus einer Pressemitteilung desBundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste vom3. Juli 2009 zitieren – sie hatte die Überschrift „Pflege-ausbildung zusammenführen“ –:Die Erfahrungen aus den nunmehr abgeschlossenenPflegeausbildungsmodellen sollten zeitnah in einenReformprozess einmünden . … „Das Modellvorha-ben ‚Pflegeausbildung in Bewegung‘ hat deutlichgezeigt, dass es keine Hindernisse für eine Zusam-menführung der Pflegeausbildungen gibt.“ AusSicht des bpa, der an der Durchführung des Modellsaktiv beteiligt war, hat eine bundesweite Reform derPflegeausbildung höchste Priorität.Das haben 2009 dieselben gesagt, die jetzt sagen: Dasgeht gar nicht! – Das war damals der Blick auf die Mo-delle .
Mir ist Folgendes wichtig – und das machen die Eck-punkte für eine Ausbildungs- und Prüfungsverordnungdeutlich –: Wir werden sicherstellen, dass die praktischeAusbildung dadurch, dass über die Hälfte der 2 500 Pra-xisstunden im Vertiefungseinsatz geleistet werden kön-nen – beispielsweise in der Kinderkrankenpflege, derAltenpflege, der Langzeitpflege –, in genau der gleichenWeise für das zukünftige Tätigkeitsfeld qualifiziert, wiees die bisherigen Ausbildungsgänge getan haben . Nungibt es aber mehr Möglichkeiten aufgrund des gemein-samen Berufsbildes . Wir haben in den Modellprojektengesehen, dass sich wichtige Lerninhalte heute längstüberschneiden – das betrifft zum Beispiel Fragen derAnatomie, der Hygiene, der Wundbehandlung oder ethi-sche und rechtliche Fragen; ich könnte noch viele ande-re nennen –, dass es ein großes Maß an Gemeinsamkeitgibt . Diese Inhalte integriert zu unterrichten und gleich-zeitig einen Vertiefungseinsatz in der Praxis zu ermögli-chen, ist aus meiner Sicht der richtige Weg .Ich weiß aber auch, dass es Diskussionen über die Fra-ge gegeben hat, ob wir damit die Möglichkeit schaffen –gerade auch im Hinblick auf die Altenpflege –, dass auchHauptschülerinnen und Hauptschüler diesen Weg gehenkönnen . Ich sage sehr deutlich: Das geschieht schon heu-te häufig – das unterstreicht übrigens die Möglichkeitender Ausbildung im Pflegebereich – dadurch, dass vieleHauptschülerinnen und Hauptschüler nach der 9 . KlasseBundesminister Hermann Gröhe
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über die Pflegeassistentenausbildung in den Beruf hin-einkommen, Erfahrungen sammeln und Freude an demBeruf haben, berufliche Weiterentwicklungsmöglichkei-ten entdecken und sich dann erfolgreich zur Fachkraftausbilden lassen .Aber wir halten ausdrücklich daran fest, dass auch derAbschluss des 10 . Hauptschuljahres zum Eintritt in dieFachkraftausbildung befähigt . Und mit Verlaub: Bisherwar diese Regelung befristet . Sie wird jetzt entfristet . Wirbehindern nicht Hauptschüler, sondern wir erleichterndauerhaft den Zugang zu dieser Ausbildung .
Aber es sei mir an dieser Stelle auch gestattet, deutlichzu sagen: Den Ausbildungsinhalt – sonst tun wir den jun-gen Leuten auch keinen Gefallen – bestimmen die Anfor-derungen des zukünftigen Arbeitsplatzes . Meine Damen,meine Herren, das, was ganz selbstverständlich für jungeMenschen gilt, die wir dafür ausbilden, dass sie ein Autoreparieren, denen wir sagen: „Eure Ausbildung muss sichan dem orientieren, was ihr morgen in der Werkstatt oderim Produktionsbetrieb können müsst“, muss doch erstrecht gelten, wenn es nicht um das Reparieren von Autos,sondern um das Pflegen von Menschen geht.
Es muss doch klar sein: Die Ausbildungsinhalte werdenbestimmt von dem, was morgen im Ausbildungsberuf er-forderlich ist .Wir werden eine starke Berufsausbildung durch dieMöglichkeit der Akademisierung ergänzen . Ich bin derÜberzeugung: Das Rückgrat der Berufsausbildung bleibteine starke, modernisierte Berufsausbildung .
Das ist gut und entspricht unseren Erfahrungen mit einerAusbildung in Praxis und Theorie . Das wird in anderenLändern anders gehandhabt . Den ständigen Mahnungenaus Europa, man möge doch alles akademisieren, trittman am besten mit einer glaubwürdigen Modernisierungder Berufsausbildung entgegen, meine Damen, meineHerren,
die dann Ergänzungen dadurch erfährt, dass Qualifizie-rungen für Leitungsaufgaben, für Lehraufgaben und fürden Transfer von pflegewissenschaftlichen Erkenntnis-sen in die Praxis in Form einer ergänzenden Akademi-sierung erfolgen .Wir haben eine breit angelegte Diskussion mit vielenVerbänden über Erkenntnisse der Pflegewissenschaft ge-führt . Wir werden uns den Fragen im parlamentarischenVerfahren stellen, etwa den Fragen nach den Ausbil-dungsorten oder den Fragen mancher, die wissen möch-ten, was die Reform für ihre Ausbildung bedeutet . Ichweiß – die Regierungsbefragung am 13 . Januar 2016 hatdeutlich gemacht, dass das für alle Fraktionen gilt –, dasswir dies intensiv diskutieren werden . Ich bin überzeugt,der heute vorgelegte Gesetzentwurf und die Eckpunktefür eine Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, die wirparallel zum Gesetzgebungsverfahren weiterentwickelnkönnen, sind eine gute Grundlage, die anstehende Dis-kussion so zu führen, dass wir am Ende gemeinsam miteiner Modernisierung der Pflegeberufsausbildung diePflege in Deutschland weiter ein gutes Stück stärken.Herzlichen Dank .
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
Pia Zimmermann .
Herzlichen Dank, Herr Präsident . – Meine Damen undHerren! Herr Gröhe, wir stimmen mit Ihnen sowie mitden Sozial- und Wohlfahrtsverbänden und auch mit denGewerkschaften überein, dass die Aufwertung der Pfle-geberufe schon lange überfällig ist .
Und es ist gut, dass auch Sie das endlich erkannt haben .Nicht gut ist allerdings, dass Sie jetzt versuchen, unsweiszumachen, dass Ihr Gesetz zur Reform der Pflegebe-rufe diese Aufwertung wirklich vornimmt . Ihr Vorschlagist schlicht ein Schmalspurgesetz, das den Herausforde-rungen im Bereich der Pflegeberufe überhaupt nicht ge-recht wird .
Bevor man sich entscheidet, einen Beruf zu erlernen,schaut man sich die Arbeitsbedingungen an . Man fragtsich: Wäre das ein Beruf für mich? Werde ich in demBeruf Spaß haben? Werde ich den Beruf lange ausübenkönnen, womöglich bis zum Ende des Berufslebens? Ichfinde, Sie sollten sich einmal die Zeit nehmen, über dieheutigen Arbeitsbedingungen in den Pflegebereichennachzudenken .
Meine Herren Gröhe und Laumann, hätten Sie derartschlechte Arbeitsbedingungen in Ihrem Ministerium wiemanch eine Pflegekraft, so hätten Sie schon lange hinge-schmissen .
Umso mehr gilt mein gesamter Respekt allen Pflegekräf-ten in diesem Land .Meine Damen und Herren, wir meinen, eine gewisseZusammenlegung der Pflegeberufsausbildungen machtdurchaus Sinn und entspricht dem aktuellen Stand derPflegewissenschaften. Deswegen wollen wir eine inte-grierte Ausbildung mit einer zweijährigen gemeinsa-men Grundausbildung und anschließender einjährigerSchwerpunktsetzung in allgemeiner Pflege, Kinderkran-kenpflege und Altenpflege.
Bundesminister Hermann Gröhe
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Dafür braucht es eine qualitativ hochwertige Ausbildung,die zukunftsgerecht ist, sich den aktuellen Herausforde-rungen in der Pflege stellt und die nach dem Berufsab-schluss eine Berufsfähigkeit sicherstellt . Das setzt abergute Arbeitsbedingungen im gesamten Pflegebereich vo-raus .
Der erste und richtige Schritt wäre eine bundesweiteinheitliche Personalbemessung .
Sonst besteht nämlich weiterhin die Gefahr, dass diepraktische Ausbildung infolge von Personalmangel lei-det und Auszubildende, wie heute schon viel zu oft, alsgünstige Arbeitskräfte eingesetzt werden .Bessere Arbeitsbedingungen bedeuten auch gute Löh-ne. Insbesondere in der Altenpflege haben wir da einenriesigen Nachholbedarf . Gerade vor dem Hintergrund Ih-res generalistischen Gedankens ist das von hoher Bedeu-tung; denn sonst wird am Ende die Altenpflege der großeVerlierer Ihrer Reform sein .
Aber auch ein attraktives Arbeitsumfeld mit verlässli-chen Dienstplänen und genügend freien Tagen trägt zurSteigerung der Pflegequalität bei.Ohne einen entsprechenden Paradigmenwechsel tre-ten Sie, Herr Minister Gröhe, in Fragen der Aufwertungder Pflege auf der Stelle. Das ist mit uns nicht zu machen.
Herr Gröhe, es besorgt mich sehr, dass Sie das alles ei-gentlich wissen und trotzdem auf eine Schmalspurausbil-dung und flexibel einsetzbare Pflegekräfte setzen, nichtauf die Spezialisierung .
Qualität und Qualitätssteigerung in der Pflege sieht IhrEntwurf jedenfalls nicht vor .
Das will ich den Menschen in diesem Land ganz klarsagen: Sie ignorieren die eigentlichen Probleme undmachen Politik auf dem Rücken der Beschäftigten, aufdem Rücken der Menschen mit Pflegebedarf sowie ihrerAngehörigen . Wer das nicht glaubt, der sollte sich docheinfach mal die Eckpunkte für eine Ausbildungs- undPrüfungsverordnung anschauen . Die Ausbildungsinhaltewerden dort nahezu überhaupt nicht beschrieben .
Meine Damen und Herren, das macht doch Ihre Situationnoch einmal deutlich: Sie wissen gar nicht ganz genau,wie Sie Ihre vielbeschworene Generalistik ausgestaltenwollen .
Wir Abgeordnete sollen von Ihnen die Katze im Sackkaufen; denn es bleibt unklar, ob durch Ihre Neugestal-tung der Ausbildung tatsächlich eine qualitativ hinrei-chende Berufsfähigkeit hergestellt werden kann .Umso erfreuter war ich natürlich, als ich mir die Emp-fehlungen des Bundesrates angeschaut habe; denn erhat Ihnen sehr gute Hinweise mit auf den Weg gegeben,zum Beispiel, dass Pflegeschulen – anders als es Ihr Ent-wurf vorsieht – nicht zum Abschluss von Ausbildungs-verträgen ermächtigt werden können . Das geht mit derKlarstellung einher, dass Auszubildende während dergesamten Ausbildungszeit Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzessind und keine Schüler; denn Mitbestimmung sichertAusbildungsqualität .
Er fordert Sie auch auf, eine vollumfänglich gerechte,gemeinsame und einheitliche Finanzierung der neuenPflegeausbildung sicherzustellen. Das bedeutet, dass derEigenanteil der Menschen mit Pflegebedarf nicht weiteransteigen darf . Das begrüßen meine Fraktion und ichsehr .
Herr Minister Gröhe, hören Sie auf die Alarmsignaleaus dem Bundesrat, der sie auffordert, das InkrafttretenIhrer Reform um ein Jahr zu verschieben . Somit wäremehr Zeit, um einen Entwurf vorzulegen, der die Auf-wertung der Pflegeberufe ernsthaft zum Ziel hat.Meine Damen und Herren, ich kann nur eindringlichdafür appellieren, den Blindflug in einem so sensiblenPolitikbereich wie dem der Pflege endlich zu stoppen.
Nehmen Sie die Pflegeausbildungsreform ernst und set-zen Sie bei den wirklichen Problemen an . Eine Schmal-spurausbildung jedenfalls ist nicht der Weg, um die Pfle-ge zukunftsfest zu machen .
Darum wird es von der Linken keine Zustimmung zu Ih-rer Generalisierung geben .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Das Wort hat jetzt Frau Parlamentarische Staatssekre-
tärin Elke Ferner .
E
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Nach über zehn Jahren der Diskussionen sowohl in denLändern und mit den Ländern als auch mit den Fachpo-Pia Zimmermann
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litikern und Fachpolitikerinnen auf der Bundesebene,mit Wohlfahrtsverbänden, mit Anbietern in der Pfle-ge – Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen – legen wirheute ein Gesetz zur Reform der Pflegeberufe vor. Dasist alles andere als ein Schmalspurgesetz, Frau KolleginZimmermann .
Wir sind mitten im demografischen Wandel, und wirwissen, dass die Zahl der älteren und pflegebedürftigenMenschen steigt . Wir wissen auch, dass wir mehr Men-schen dafür gewinnen müssen, in den Pflegeberuf einzu-steigen, und zwar in allen Bereichen: in der Krankenpfle-ge, in der Kinderkrankenpflege, insbesondere aber auchin der Altenpflege.Der Pflegeberuf ist ein sogenannter Frauenberuf.81 Prozent der Beschäftigten im Pflegebereich der Kran-kenhäuser sind Frauen. In den Pflegeheimen beträgt derAnteil 85 Prozent, und in den ambulanten Pflegediens-ten 87 Prozent . Wir reden hier also über einen Beruf,der überwiegend von Frauen ausgeübt wird, für den sichFrauen entscheiden und für den wir gute Arbeitsbedin-gungen brauchen .Im Gegensatz zu dem, was Frau Zimmermann ebenan die Wand gemalt hat, sage ich: Das Gesetz macht diePflegeausbildung attraktiv und trägt dazu bei, diese Be-rufe aufzuwerten .
Das ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei .Sie sagen: Wir müssen erst alle Bedingungen so gestal-ten, wie sie eigentlich sein sollten, und wir ändern an denAusbildungsinhalten so lange nichts, bis das Ziel erreichtist . – Das macht überhaupt keinen Sinn .Ich glaube, andersherum wird ein Schuh daraus: Weilwir die Pflegeausbildung verbessern, sie attraktiver ma-chen und Menschen nicht mehr ein Leben lang auf einenBeruf festlegen und die Möglichkeit des Wechsels inner-halb der drei Sparten mit dieser Ausbildung erleichtern,machen wir den Beruf insgesamt attraktiver . Ich bin nichtmehr gezwungen, nach meiner Altenpflegeausbildungmein ganzes Leben lang in der Altenpflege zu arbeiten.Dadurch kann ich mich am Anfang vielleicht leichter da-für entscheiden, gerade in diesen Beruf zu gehen; dennich weiß: Ich kann mit der Ausbildung später auch in derKrankenpflege oder der Kinderkrankenpflege arbeiten.Das ist doch ein Riesenfortschritt .
Die Versorgungsstrukturen ändern sich . Wir werden inder Altenpflege in der Zukunft einen viel größeren Anteilan ambulanter Pflege haben, weil die Menschen dies wol-len. Gleichzeitig haben wir die Situation, dass pflegebe-dürftige Menschen kränker sind . Viele sind multimorbid,wie das in der Fachsprache heißt . Auf der anderen Seitekommen mehr ältere Menschen ins Krankenhaus und ha-ben auch einen altenpflegerischen Unterstützungsbedarf.Genau auf diese Anforderungen reagiert diese Pflegebe-rufeausbildung .
Weiterhin bieten wir eine Ausbildung an, die auchmit Blick auf die Durchlässigkeit attraktiv ist . Ich ken-ne keine andere Ausbildung, an die man auch mit einemHauptschulabschluss am Ende eine Hochschulausbil-dung anschließen kann. Ich finde, das ist, was die Frageder Durchlässigkeit angeht, großartig. Für die Altenpfle-ger hatten wir das schon in Form der Altenpflegehilfeaus-bildung und der Fachkraftausbildung . Das Gute ist, dassdas, was man in der Ausbildung zum Altenpflegehelfergelernt hat, nicht umsonst war und anerkannt wird, wennsich eine weitere Ausbildung anschließt .
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge der Kollegin Zimmermann?
E
Sehr gern .
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen . – Ich wollte
noch einmal klarstellen: Das sind zwei unterschiedliche
Bereiche. Es trägt natürlich zur Attraktivität der Pflege-
berufe bei, wenn man die Arbeitsbedingungen und die
Bezahlung verbessert . Die Ausbildung ist aber eine ande-
re Sache . Wir wollen ja erreichen, dass viele Menschen
diese Ausbildung machen . Sie sprechen von Durchläs-
sigkeit. Meine Frage ist: Wo soll die Qualifizierung denn
stattfinden? Das sagen Sie in Ihrem Entwurf nämlich
nicht .
Die Vermutung ist, dass es eine gemeinsame dreijähri-
ge Ausbildung gibt und dass es den Auszubildenden und
den Menschen im Beruf dann überlassen ist, die Quali-
fizierung selbst vorzunehmen. Ich finde, wir haben es in
den sozialen und den pflegenden Berufen schon zu oft,
dass quasi noch etwas angehangen werden muss . Mei-
ne Frage ist: Meinen Sie tatsächlich, dass die Pflege
zu Beginn des Lebens genau gleichzusetzen ist mit der
Pflege am Ende des Lebens? Ich denke, hier gibt es spe-
zielle Anforderungen, und hier ist jeweils ein spezieller
Arbeitseinsatz gefordert . Dem wird aber die von Ihnen
genannte dreijährige generalistische Berufsausbildung
meines Erachtens nicht gerecht .
E
Wir haben zum 1 . März Eckpunkte für die dazugehö-rige Ausbildungs- und Prüfungsverordnung vorgelegt,Parl. Staatssekretärin Elke Ferner
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die wir intensiv mit den Ländern und mit Fachleutenaus allen Bereichen der Pflege zu erörtern haben. Darinist ganz klar geregelt, dass ein Teil der Ausbildung ge-meinsam erfolgt, in dem alle das Gleiche lernen . Auf deranderen Seite haben wir einen Vertiefungsschwerpunkt,bei dem jeweils Fähigkeiten vertieft werden, die in derKinderkrankenpflege, in der Krankenpflege oder in derAltenpflege gebraucht werden. Der Unterschied zwi-schen der sogenannten generalistischen Ausbildung mitVertiefungsschwerpunkt, die wir jetzt vorschlagen, undder Stufenausbildung, die Sie favorisieren, ist, dass mannach Abschluss einer generalistischen Ausbildung in je-dem Bereich arbeiten kann .
Wir schlagen eine Ausbildung mit Vertiefungsschwer-punkten vor, während Sie eine spezialisierte Ausbildungvorschlagen . Sie schlagen quasi eine Art Grundausbil-dung für alle vor, auf die dann drei Baukästen gesetztwerden; nach Abschluss ist man dann aber auf einenBeruf festgelegt . Das ist der Unterschied . Übrigens wirdes natürlich weiterhin so sein – das ist auch in jedem an-deren Beruf so –, dass ich, wenn ich als OP-Schwesteroder auf der Frühgeborenenstation arbeiten will, einezusätzliche Ausbildung brauche . Das ist schon heute so,und das wird auch in Zukunft so sein . Das hat mit dieserPflegeausbildung überhaupt nichts zu tun.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, der wichtig ist underwähnt werden sollte: Wir werden das Schulgeld, dases in dem einen oder anderen Bundesland noch gibt, ab-schaffen .
Das ist gerade aus Frauensicht besonders wichtig . VieleAusbildungsgänge für soziale Berufe, in denen überwie-gend Frauen sind, sind schulisch . Teilweise muss manSchulgeld zahlen, und in einigen Bereichen – das istin den Bereichen Altenpflege und Kinderkrankenpflegenicht der Fall – erhält man auch keine Ausbildungsvergü-tung . Auch mit der Abschaffung des Schulgeldes machenwir diesen Beruf attraktiver .Vor allen Dingen sorgen wir für eine vernünftige Fi-nanzierung der Pflegeausbildung. Sie wird aus öffentli-chen Kassen und von den Anbietern finanziert. Das istgut so und ein wichtiger Fortschritt .
Wir müssen natürlich sehen, dass es hinsichtlich derBezahlung in den einzelnen Pflegeberufen Unterschiedegibt. Die Altenpflegefachkraft verdient im Schnitt fast20 Prozent weniger als die Pflegefachkraft im Kranken-haus .
Sie von der Opposition sprechen sich gemeinsam mitdem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienstegegen diese Reform der Pflegeausbildung aus
und sagen: Die Altenpflege verliert. – Ich glaube, manmuss aufpassen, mit wem man sich bei dieser Frage ver-bündet, weil es ganz unterschiedliche Interessenlagengibt .
Ich glaube, dass genau andersherum ein Schuh darauswird: Schon seit zwei, drei Jahren fehlen auf dem Ar-beitsmarkt insgesamt Fachkräfte . Das heißt, der gesamteBereich der Pflege konkurriert mit dem Bankenbereich,dem Verwaltungsbereich und anderen Bereichen, in de-nen die Arbeitszeiten deutlich attraktiver sind und es zumTeil – das gilt zumindest für den Bankenbereich – einedeutlich bessere Bezahlung gibt . Genauso wird das be-züglich Altenpflege und Krankenpflege sein. Natürlichwird die Reform dazu führen, dass diejenigen, die imBereich der Altenpflege am schlechtesten bezahlen, alsohäufig die privaten Anbieter, die Gehälter erhöhen müs-sen, damit sie genügend Fachkräfte akquirieren können .
Insofern muss ich sagen: Die Koalitionen, die sich zur-zeit finden, wenn es darum geht, diese Reform der Pfle-geausbildung zu kritisieren, sind zum Teil schon sehrmerkwürdig .
Ich möchte noch einen anderen Aspekt in die Debat-te einbringen . Wir haben heute eine Veranstaltung zummorgigen Equal Pay Day . Ein Grund für die große Lohn-differenz zwischen Männern und Frauen, die dank desMindestlohns jetzt nur noch 21 Prozent und nicht mehr22 Prozent beträgt, ist, dass gleichwertige Arbeit nochlange nicht gleich bezahlt wird .
Das gilt leider immer vor allem für Berufe, die vorwie-gend von Frauen ausgeübt werden . – Sie wissen dochgenauso gut wie ich, dass wir im Pflegeberufereformge-setz nicht die Bezahlung regeln können . Dadurch, dasswir den Beschäftigten mit einer Ausbildung, mit der manmehr anfangen kann als mit der vorherigen, mehr Mög-lichkeiten an die Hand geben, üben wir hinsichtlich derBezahlung aber Druck auf die Arbeitgeberseite aus .
Die Gewerkschaften werden das nutzen und für bessereTarifabschlüsse sorgen .Parl. Staatssekretärin Elke Ferner
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Ich glaube aber, wir müssen generell darüber reden,wie soziale Berufe bewertet werden .
Warum ist das Heben von Steinen mehr wert als das He-ben von Menschen?
Das regeln wir nicht in diesem Gesetz, aber wir werdendas in dem Gesetz regeln, das noch vor uns liegt, in demGesetz für mehr Lohngerechtigkeit .Ich glaube, dass es sehr gut ist, für eine zukunftsfä-hige Altenpflegeausbildung zu sorgen, zumal sich alle16 Bundesländer darauf verständigt haben, die Ausbil-dung der Pflegeberufe zu reformieren. Es gibt natürlichNuancen,
aber nur eine überschaubare Anzahl hat sich gegen diekonkrete Ausgestaltung der Reform der Pflegeausbildungausgesprochen . Insofern glaube ich, dass wir hier durch-aus in die richtige Richtung gehen .Wir werden mit den besseren Möglichkeiten die Situ-ation der Beschäftigten, aber auch die Situation derjeni-gen, die von den Beschäftigten in den Krankenhäusern,in den Pflegeheimen und in der häuslichen Pflege ge-pflegt werden, verbessern; denn wir werden mehr Men-schen für die Pflege gewinnen. Der Pflegeberuf ist einMangelberuf . Wir haben die Finanzierung des drittenAusbildungsjahres über die Bundesagentur in einem derletzten Gesetzgebungsverfahren geregelt, und wir wer-den jetzt zusammen mit dem Gesundheitsministerium,dem Arbeits- und Sozialministerium und dem Bildungs-ministerium eine Initiative starten, um dafür zu werben,in die Pflegeberufe hineinzugehen. Schon heute herrschtein Mangel an Pflegepersonal. Wenn zukünftig mehrMenschen in die Situation kommen, dass sie Unterstüt-zung brauchen, werden wir, wenn wir nicht gegensteu-ern, einen noch größeren Mangel haben . Ich denke hieran die Zeit, wenn meine Generation in das entsprechendeAlter kommt und wir den einen oder anderen Unterstüt-zungsbedarf haben werden .Ich bin davon überzeugt, dass wir hier einen sehr gu-ten Vorschlag gemacht haben . Ich möchte mich an dieserStelle – auch im Namen von Manuela Schwesig – nocheinmal ausdrücklich beim Gesundheitsministerium, beiden Fraktionen und den Ländern sowie bei allen, die mit-geholfen haben, den Entwurf auf den Weg zu bringen, fürdie gute Zusammenarbeit bedanken . Ich freue mich aufdie Debatte, die wir jetzt im parlamentarischen Verfahrenvor uns haben . Ich bin sehr davon überzeugt, dass daseine gute Sache wird . Ich lade die Opposition herzlichein, konstruktiv mitzudiskutieren .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetztdie Kollegin Elisabeth Scharfenberg .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Die Anforderungen an die Pflege haben sich inden letzten Jahren massiv verändert . Heute verlangt dermedizinische und der pflegerische Fortschritt den Pflege-kräften immer mehr Wissen und auch immer mehr Kön-nen ab . Diese Entwicklung erleben wir im Moment nichtnur in der Pflege, sondern auch in ganz vielen anderenBerufen .Wir leben in einer hochspezialisierten Gesellschaft .Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich ständig neueund differenzierte Berufe herausbilden, die dann nochgezielter die Bedarfe decken . Darauf muss auch eine Re-form der Pflegeausbildung reagieren. Es ist gut, dass dieBundesregierung dieses wichtige Thema anpackt .Die Frage, die sich dabei stellt, bezieht sich auf dasWie. Spezialisierungen an allen Orten, und in der Pflegewird jetzt die Spezialisierung abgeschafft . Ganz ehrlich,das verstehe, wer will . Wie passt das in die heutige Zeit,in der der Arbeitsmarkt genau das Gegenteil verlangt?Genau darauf geben Sie keine Antwort .
Es gibt nur unbelegte Behauptungen . Die Generalisierungmache die Pflege attraktiver. Die Generalisierung lassedie Ausbildungszahlen steigen, und die Gehälter in derAltenpflege würden mit den Gehältern in der Kranken-pflege gleichziehen. Ehrlich gesagt: Irgendwie mutiertdie Generalisierung hier zur eierlegenden Wollmilchsau .Sie machen uns weis, dass Sie mit der Generalisierungendlich alle Probleme der Pflege auf einmal lösen. Jetztwird auch noch der Equal Pay Day zurate gezogen . Denbekommen Sie damit auch noch in den Griff .
Ein Reformprojekt mit dieser Dimension sollte sichnicht auf Kaffeesatzleserei verlassen . Etwas anderes ma-chen Sie, ehrlich gesagt, nicht . Mir ist überhaupt nichtklar, Herr Laumann, woher Sie all dieses Wissen, woherSie all diese Behauptungen haben .
Diese Reform passt einfach nicht in unsere Arbeitswelt .
Jeder von uns möchte doch eine gut ausgebildete, eineerfahrene Kinderkrankenschwester am Bett des eigenenKindes oder des Enkels haben, eine Schwester, die einenFieberkrampf sehr schnell exakt diagnostizieren kann .Wir wollen nicht jemanden, der in drei Jahren von allemein bisschen was gelernt und gesehen hat,
Parl. Staatssekretärin Elke Ferner
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also jemanden, der erst durch selbstorganisierte undselbstbezahlte Weiterbildung – wir befürchten, dass es sokommen wird – überhaupt eine Ahnung von der Realitätdes Berufes bekommt .Pflege von der Wiege bis zur Bahre: Ehrlich, dasfunktioniert nicht . Jedes Lebensalter kennt seine eigenenKrankheiten . Daran muss sich auch die Ausbildung aus-richten; das ist doch sinnvoll .
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, und ältere Men-schen brauchen etwas ganz anderes als Teenager . DiePflege an der Wiege ist eben etwas anderes als die Pflegean der Bahre . Wo bleibt zum Beispiel in einer genera-lisierten Ausbildung das Spezialwissen im Umgang mitchronisch kranken Kindern und ihren Angehörigen?
Was ist mit der Schmerzerkennung bei Demenzkranken?Wann lernt man etwas über die Kommunikation mit De-menzkranken? Es werden Bildungslücken entstehen, Bil-dungslücken aufgrund einer Einheitspflegeausbildung.
Das sieht übrigens auch Herr Müntefering, der Vorsit-zende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Or-ganisationen, der BAGSO, so . Erst neulich hat er bei ei-ner Veranstaltung gesagt, er könne der Reform überhauptnicht folgen; die Generalistik sei ein Motorwechsel beivoller Fahrt . Da hat er absolut recht .
Es ist sehr schade, dass Sie Herrn Müntefering hier nichtfolgen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Mensch weiß,welche Auswirkungen diese Reform in der Praxis habenwird; es ist nichts belegt . Trotzdem verhalten Sie, HerrMinister Gröhe, und Sie, Herr Laumann, sich so wie indem Märchen Des Kaisers neue Kleider. Ich sehe Siestaunend dastehen, und Sie loben das vermeintlich präch-tige und neue Kleid der Generalisierung . Dabei merkenSie überhaupt nicht, in welchen Lumpen die Altenpflegeund die Kinderkrankenpflege am Ende des Tages daste-hen werden .
Frau Kollegin Scharfenberg, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Frau Kollegin Müller?
Ja .
Frau Kollegin Scharfenberg, ich würde gerne auf dieKinderkrankenpflege zurückkommen und Sie fragen,ob Ihnen bekannt ist, dass nach den neuen Eckpunktenfür die Ausbildungs- und Prüfungsordnung – wenn manden Vertiefungsansatz, den Orientierungsansatz und alleModule, die im Rahmen der Spezialisierung gewähltwerden können, zusammenrechnet – erheblich mehrStunden, nämlich 1 300, für die Vertiefung in der Kin-derkrankenpflege vorgesehen sind, was im Gegensatz zuden 900 Stunden steht, die es bisher gibt . Auf diese Fragehätte ich gerne eine Antwort von Ihnen .
Diese Antwort gebe ich Ihnen gerne . Wir werden Pro-bleme haben, die Praktikantinnen und Praktikanten inqualifizierten Praktikumsstellen unterzubringen.
Es ist schon jetzt klar, dass es auch in Jugendämtern, inKitas und im Rahmen der sozialpädagogischen Famili-enhilfe zu Praktikumseinsätzen kommen wird . Das ist inmeinen Augen keine qualifizierte Kinderkrankenpflege-ausbildung . Ich denke, Sie sollten sich die Petition zurKinderkrankenpflege einmal ansehen.
Es gibt 150 000 Unterzeichner, die sich für den Erhalt derKinderkrankenpflegeausbildung aussprechen. Ich glau-be, damit sollte man sich befassen und in einen Dialogeintreten . Das hat bisher nämlich nicht wirklich stattge-funden .
Ich denke, hier werden die Bemühungen der letztenJahre in die Tonne getreten . In NRW haben wir die Zahlder Altenpflegeschüler um 75 Prozent steigern können,in Bayern in den letzten fünf Jahren um 35 Prozent . Ichglaube, daran müssen wir anknüpfen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ichweiß: Es gibt auch in Ihren Reihen viel Kritik . GebenSie Ihrem Herzen doch einen Ruck, und tragen Sie dazubei, dass wir in eine gut organisierte Diskussion einstei-gen und uns die Fallstricke noch einmal ganz genau an-sehen! Was ich im Moment erlebe, ist kein Miteinanderund keine fachliche Auseinandersetzung, sondern einAusblenden der wirklichen Probleme . Es gibt Bedenkenhinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit, und es wird in dieElisabeth Scharfenberg
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Finanzhoheit der Länder eingegriffen . Das sind doch al-les Dinge, über die man diskutieren muss, bevor man einErdbeben in der Pflegeausbildung auslöst. Ich verstehenicht, warum Sie sich dem verschließen .
Wir haben ein Moratorium angeschoben . Beteiligt ha-ben sich 50 Verbände, nicht nur der bpa – das wäre einbisschen kurz gesprungen –, sondern auch Verbände ausdem Bereich der Kinderkrankenpflege, der Geriatrie usw.usf . Wir haben 2 500 Einzelunterschriften gesammelt . Ichwerde sie Ihnen gleich übergeben, Herr Minister, damitSie sich davon überzeugen können, dass es eine Vielzahlvon Kritikerinnen und Kritikern gibt .
Als Letztes möchte ich gerne sagen: Ich hatte ges-tern ein sehr interessantes Gespräch mit einer Gruppevon Auszubildenden in der Altenpflege, und zwar beider Stiftung SPI hier in Berlin . Es waren Auszubilden-de, die das nebenberuflich machen. Das heißt, in derFrüh um 6 Uhr arbeiten sie in der Frühschicht in einemPflegeheim, und nachmittags lernen sie für die Pflege-ausbildung . Das sind sehr engagierte Leute, die aus demErwerbsleben kommen und sich gezielt für diesen Wegentschieden haben . Diesen Menschen, die im Bereich derAltenpflege so wichtig sind, werden Sie den Weg verbau-en . Herr Laumann, gerade diese Klientel ist für Sie dochimmer so wichtig . Wir können es uns nicht erlauben, die-se Menschen, die so engagiert diesen Beruf erlernen, aufdem Weg dorthin zu verlieren und auszuschließen .Ich bitte wirklich darum, fachlich und sachlich in dieDiskussion einzutreten und weg von den mantraartigenWorthülsen zu kommen .Vielen Dank .
Frau Kollegin Scharfenberg, das Hohe Haus ist vor al-
lem ein Ort des Austausches der Argumente und weniger
ein Ort des Austausches von Papieren . Machen Sie das
doch bitte im Anschluss an die Sitzung .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion .
Vielen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verehrte Damen und Herren! Etwa drei Viertelaller Männer und Frauen in unserem Land bewerten ihreeigene Gesundheit mit gut oder sehr gut . Mehr Präven-tion, medizinischer Fortschritt, eine gute Ernährung undein viel stärkeres Gesundheitsbewusstsein haben bewirkt,dass die Gesundheit der Menschen in unserem Land ver-bessert wurde, und das sieht man . Trotzdem brauchen wirfür die Versorgung in den Krankenhäusern, in den am-bulanten und stationären Pflegeeinrichtungen und in denKinderstationen mehr und vor allen Dingen intensiv undflexibel einsetzbares Fachpersonal. Dem stellen wir unsmit diesem Gesetzentwurf .Wir diskutieren unter fachlichen und auch politischenGesichtspunkten seit Langem darüber – das ist in dieserDebatte mehrfach betont worden –, wie wir diese großeHerausforderung der Zukunft besser meistern und diesenBeruf attraktiver, durchlässiger und in puncto Freizügig-keit auch europagerechter machen können . Sehr vieleDinge haben dabei eine Rolle gespielt .Es hat auch eine Rolle gespielt, dass ungefähr 35 Pro-zent aller Schülerinnen und Schüler im Pflegebereichheute Schulgeld zahlen . Das fällt mit unserer bundes-einheitlichen Regelung weg . Wir richten einen Fondsein, der sich aus mehreren Quellen speist, und setzen einUmlageverfahren in Gang, wodurch wir eine bundeswei-te Klammer schaffen . Trotzdem belassen wir die Umset-zungshoheit bei den Ländern . Deshalb wird es so wichtigsein, dass wir in dem parlamentarischen Beratungspro-zess gemeinsam – auch mit den Ländern – all die Punkteerörtern, die in der Debatte schon als mögliche Katastro-phe kritisiert worden sind; denn es kommt darauf an, einsehr gutes Gesetz auf den Weg zu bringen, das den He-rausforderungen der Zukunft gerecht wird .
Ich weiß, dass es vor allem im Gesundheitsbereichschon fast ein Sport ist, grundsätzliche Bedenken zu ha-ben, wenn etwas verändert werden soll . Das Leben istaber so, und die Zukunft wird uns wahrscheinlich nochviel größere Umstellungen abfordern . Deshalb will ichan dieser Stelle auch noch einmal sagen: Wenn wir anunseren Gewohnheiten, an dem, was wir bisher gemachthaben, festhalten und uns nicht den Zukunftschancen öff-nen, dann wird uns die Lebenswirklichkeit zu Verände-rungen zwingen . Entweder wir gestalten diesen Prozessaktiv mit all unserem Wissen und Können, oder die Wirk-lichkeit wird uns sozusagen überrollen .Das bedeutet im Zweifel, dass der jetzt an vielen Stel-len schon vorhandene Fachkräftemangel dann wirklichzu einer Katastrophe wird . Die jungen Menschen ent-scheiden sich vielleicht nicht mehr für den wichtigenPflegeberuf, der im Wettbewerb zu anderen attraktivenBerufsfeldern steht . Uns geht es also darum, diesen Be-ruf attraktiver zu machen und nicht von vornherein dieVeränderungen mit Vorurteilen zu belegen . Es darf nichtsein, dass viele sagen, darüber erst gar nicht beraten zuwollen .Elisabeth Scharfenberg
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Frau Kollegin Scharfenberg, selbst der BerufsverbandKinderkrankenpflege hat sich für die generalistischeAusbildung ausgesprochen . Er zeigt sich für die Diskus-sion offen .Ich betone an dieser Stelle: Wir bauen hier kein neuesHaus auf der grünen Wiese, um alles ganz anders undganz neu zu machen . Nein, wir erweitern und moderni-sieren . Wir sanieren sozusagen das bestehende Haus mitall unseren Erfahrungen, um quasi größere Möglichkei-ten bei der Gestaltung der Ausbildung zu bekommen, so-dass die jungen Leute in der Zukunft die Pflegeherausfor-derungen in allen drei Einsatzfeldern bewältigen können .
Deshalb sage ich auch: Wir werden dieses Gesetz, fürdas es eine sehr lange Vorbereitungszeit gab, hier im Par-lament sehr gründlich beraten . Und ich hoffe, dass wirdas gemeinsam und ganz unaufgeregt tun können . AllenSkeptikern aber, die meinen, dass sie alle Bedenken die-ser Welt in die Waagschale werfen und so lange die Bera-tungen hinauszögern können, bis die Chance gleich nullist, dass dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiodeverabschiedet wird, sage ich hier ganz deutlich: Wir sindentschlossen, in dieser Legislaturperiode nach langerDiskussion ein gutes Gesetz ins Gesetzblatt zu bekom-men .
Diskutieren Sie an der Stelle nach vorne gerichtet!Es ist schon gesagt worden, dass gerade in dem Be-reich der Pflege wohnortnahes Arbeiten und flexible Ein-satzzeiten wichtig sind . Auch ich kenne solche Beispiele,wo Pflegekräfte die Vormittags- bzw. die Frühschicht unddann die Nachmittagsschicht machen . Dazwischen ver-richten sie ihre Familienarbeit . Andererseits muss manwissen, dass etwa 90 Prozent aller Kinderkrankenpflege-rinnen und -krankenpfleger – meistens sind es Frauen –auf eigenen Wunsch, also freiwillig, teilzeitbeschäftigtsind . Das bringt uns den zusätzlichen Bedarf ins Haus;denn wenn weniger Kräfte Vollzeit arbeiten, brauchenwir mehr Personal, um den Bedarf abzudecken .Was will ich damit sagen? Durch die vorgesehenenRegelungen wird eine Möglichkeit eröffnet, die Heraus-forderungen von Familie und Beruf unter einen Hut zubringen, und zwar in jeder gesellschaftlichen Konstella-tion . Deshalb freue ich mich, dass wir jetzt gemeinsaman die Arbeit gehen, den gesellschaftlichen Ansprüchengerecht werden und in Kombination mit der erwähntenVerordnung ein Gesetz auf den Weg bringen, das denNamen „Reform“ wirklich verdient . Wir sind da ganzzuversichtlich, weil Herr Gesundheitsminister Gröhe andieser Stelle eine wunderbare Vorlage gemacht hat . Da-für danke ich auch seinem Haus .
Danke schön .
Nächster Redner ist der Kollege Harald Weinberg für
die Fraktion Die Linke .
Vielen herzlichen Dank! – Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! ImVergleich zu unserer gestrigen Debatte zum Personalnot-stand in den Krankenhäusern sind wir, glaube ich, beimThema Pflegeausbildung, zumindest was die Diagnoseangeht, beieinander .Wir brauchen Tausende zusätzlicher Pflegekräfte inden Krankenhäusern, Pflegeheimen und ambulanten Pfle-gediensten . Und in Zukunft wird der Bedarf sicher nochsteigen . Jeder und jede von uns will bei Krankheit oderPflegebedürftigkeit gut gepflegt werden. Dafür brauchenwir mehr Pflegekräfte. Wir müssen den Beruf attraktivmachen; denn man kann auf Dauer nur dann personel-le Zuwächse haben, wenn man den Ausbildungswilligenein gutes Angebot macht .
Wir können uns auch nicht allein auf Pflegekräfte ausdem Ausland verlassen; denn diese werden in ihren Hei-matländern gebraucht . Wir müssen selber ausbilden undauch gut ausbilden . Darüber reden wir heute .Es fängt bereits bei den Ausbildungsbedingungen an .Derzeit müssen Auszubildende in einigen Bundesländernfür den Besuch der Pflegeschulen immer noch Schulgeldbezahlen . Wen wundert es eigentlich, wenn junge Men-schen keine Lust haben, von ihren knappen Ausbildungs-vergütungen auch noch einen Teil in die Schulausbildungzu stecken? Das schreckt ab und macht die Ausbildungunattraktiv . Es ist gut, dass damit Schluss gemacht wor-den ist . Damit setzen Sie eine alte Forderung von uns um .Das ist sehr gut, und das erkennen wir an .
Was weniger gut ist: Sie gewähren den Auszubilden-den auch weiterhin keine Mitbestimmungsrechte; dennes bleibt dabei, dass Privatschulen Ausbildungsträgersein können . Das hat Folgen für die Auszubildenden:Kein Betriebsrat oder Personalrat kann sie vertreten . Esgibt keine Jugend- und Auszubildendenvertretungen undkeine Vertrauensleute .
Die Auszubildenden bleiben so Auszubildende zweiterKlasse . Der Bundesrat fordert daher zu Recht, dass dasgeändert wird . Hier sehen wir deutlichen Nachbesse-rungsbedarf .
Was auch nicht geht – das ist bereits angesprochenworden –, ist, dass Sie die Ausbildung letztlich durch diePflegebedürftigen selbst finanzieren. Weil wir in der Pfle-geversicherung das Teilkaskoprinzip haben, werden diePflegesätze durch die Kosten der Ausbildung erhöht. DieMaria Michalk
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Ausbildung von Pflegekräften ist aber eine Aufgabe dergesamten Gesellschaft und nicht die alleinige Aufgabeder derzeit Pflegebedürftigen. Wir wollen nicht die be-rechtigten Interessen der Auszubildenden gegen die derPflegebedürftigen ausspielen. Aber genau das machenSie mit dieser Regelung . Daher fordern wir wie auch dieLänder eine vollständige Finanzierung der Ausbildungs-kosten .
Zum Schluss noch ein Wort zur generellen Ausrich-tung Ihres Gesetzentwurfs . Grundsätzlich ist es richtig,dass die Ausbildungen in der Kranken-, Kinderkranken-und Altenpflege näher zusammenrücken sollen; dennviele Inhalte sind gleich oder ähnlich . Aber es gibt auchInhalte, die sich deutlich voneinander unterscheiden .Wenn Sie nun eine komplett einheitliche Ausbildungregeln wollen, dann schütten Sie unseres Erachtens dasKind mit dem Bade aus .
Es liegt in der Natur der Sache, dass etwa für die Kin-derkrankenpflege wichtige Inhalte schlicht nicht mehrgelehrt würden und dass die Praxisphasen außerhalb vonKinderstationen nicht dafür qualifizieren, in Kinderstati-onen eigenverantwortlich eingesetzt zu werden . Wir wol-len daher eine dreijährige Ausbildung, davon die erstenzwei Jahre gemeinsam und das dritte Jahr als Spezialisie-rungsjahr getrennt voneinander .
Nur so ist eine hohe Qualität der Ausbildung zu bewerk-stelligen, die auch den eigenen Ansprüchen der Pflege-kräfte an sich selbst genügt .Neben der Ausbildungsreform in Richtung einer inte-grierten Ausbildung müssen wir die Ausbildungssituationin den Einrichtungen in den Blick nehmen . Wir braucheneine ausreichende Zahl an qualifizierten Praxisanleiterin-nen und Praxisanleitern . Wir brauchen ausreichend Zeitfür Praxisanleitungen .
Wir brauchen keine Anrechnung der Auszubildenden aufden Personalschlüssel .
Auszubildende dürfen vor allen Dingen nicht als Reservein Nachtschichten oder Sonderschichten eingesetzt wer-den .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun geht es in dieBeratungen und in die Anhörung . Ich sage einmal so:Möge der Struck’sche Geist über uns kommen und dasGesetzesvorhaben in die richtige Richtung bringen .
Vielen Dank .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr . Carola Reimann
für die SPD .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Den Zeitpunkt dieser Bundestagsdebatte zur Reformder Pflegeberufe hätte man nicht besser wählen können;denn gleich im Anschluss werden viele von uns an derKundgebung zum Equal Pay Day am Brandenburger Torteilnehmen .
Am Equal Pay Day wird jedes Jahr darauf aufmerksamgemacht, dass eine Selbstverständlichkeit, nämlich glei-ches Entgelt für gleichwertige Arbeit, in Deutschland lei-der keine Selbstverständlichkeit ist .Diese Lohnungerechtigkeit zulasten der Frauen hatviele Ursachen . Um sie zu bekämpfen, müssen wir gleichmehrere dicke Bretter bohren . Ein dickes Brett haben wirschon durch, nämlich den gesetzlichen Mindestlohn . Einweiteres dickes Brett ist die mangelnde Transparenz unddie Tabuisierung von Gehaltsfragen . Auch hier sind wirmit dem Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit auf einemguten Weg .
Es wird jetzt Zeit, dass wir gegen die traditionellschlechte Bewertung von sozialen Berufen vorgehen;denn es sind vor allem Frauen, die das ausbaden . Des-halb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so wichtig,dass wir mit dieser Reform der Pflegeberufe ein zentra-les Berufsfeld im sozialen Bereich aufwerten . Das giltvor allem für die Altenpflege, die wie Krankenpflege undKinderkrankenpflege im neuen einheitlichen Berufsfeldzusammengefasst wird .Es ist ein offenes Geheimnis, dass Fachkräfte in derAltenpflege im Vergleich zu anderen Berufsgruppendeutlich schlechter verdienen . Noch stärker ist dieser Ef-fekt, wenn man den Vergleich zur Krankenpflege zieht.Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs-forschung hat das kürzlich noch einmal in aller Deutlich-keit aufgezeigt .In meinem Heimatland Niedersachsen liegt das mo-natliche Bruttoentgelt für Fachkräfte in der Altenpflegeum mehr als 800 Euro niedriger als für Fachkräfte in derKrankenpflege. 800 Euro weniger für die gleich wertvol-le Arbeit: Das kann man niemandem erklären .
Deshalb ist es gut, dass wir durch die gemeinsame Aus-bildung auch eine bessere Bezahlung in der Altenpflegeforcieren .
Die Attraktivität eines Berufsfelds hängt nicht alleinvon der Bezahlung ab. Die neue einheitliche Pflegeaus-Harald Weinberg
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bildung wird künftig Fachkräfte in die Lage versetzen,die pflegerische Versorgung über Altersgrenzen hinwegin allen Versorgungsformen in hoher Qualität auszuüben .Diese neuen Kompetenzen ermöglichen zukünftig auchbessere Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten .
Hinzu kommt meines Erachtens die hochschulischeAusbildung als zweiter Zugang zum Beruf . Wir schaffendamit eine zeitgemäße Ausbildung, die auch neue Be-werberinnen- und Bewerbergruppen anspricht . Wer sichfür diesen Bereich entscheidet, der muss auch Aufstiegs-möglichkeiten haben . Soziale Berufe und Karrierechan-cen dürfen kein Widerspruch mehr sein .
Wir wollen aber auch, dass diese Aufstiegschancen füralle gelten. Deshalb wird der Zugang zur neuen Pflege-ausbildung allen geeigneten Bewerberinnen und Bewer-bern mit einem Schulabschluss nach zehn Jahren offen-stehen. Das finde ich wichtig. Dazu gehört auch, dass dasSchulgeld in der Altenpflege endlich der Vergangenheitangehören wird .
Kolleginnen und Kollegen, es geht uns bei dieserReform nicht allein um die Aufwertung, sondern auchdarum, die Qualität der Pflege für die Zukunft sicher-zustellen . Die Lebenserwartung steigt . Chronische Er-krankungen nehmen zu . Die Fälle von Multimorbiditätund die Zahl der demenziell und psychisch erkranktenMenschen steigen ebenfalls . Das heißt, die besonderenBelange älterer Menschen sind zunehmend auch bei derPflege im Krankenhaus zu berücksichtigen. Zugleichsind schon heute in Pflegeeinrichtungen vertiefte medizi-nisch-pflegerische Kenntnisse absolut erforderlich. Nureine breit aufgefächerte Ausbildung, wie wir sie jetzt aufden Weg bringen, qualifiziert zur Pflege von Menschen inallen Lebenssituationen und allen Altersphasen, egal wosie gepflegt werden.
Ja, die neue Pflegeausbildung bringt Veränderungenmit sich. Aber sie ist auch dringend nötig, um den Pfle-geberuf zukunftsfähig zu machen . Solche Veränderungenlösen natürlich auch Fragen und Sorgen aus . Das ken-nen wir von anderen großen Reformvorhaben, und wirnehmen daher diese Anliegen sehr ernst . Leider werdendiese Fragen und berechtigten Anliegen von manchengenutzt, um daraus politisch Kapital zu schlagen .
Auch das ist nicht neu . Wer sich aber auf der Jagd nachder ganz großen Schlagzeile zu völlig überzogenen Äu-ßerungen wie „Super-GAU für die Pflege“ hinreißenlässt, disqualifiziert sich am Ende selbst;
zumal Sie, liebe Frau Scharfenberg, zeitgleich ein Mo-ratorium, also einen Aufschub für den angeblichen Su-per-GAU, fordern . Das ist schon kurios, passt aber in derWidersprüchlichkeit zu den Aussagen Ihrer Parteikolle-gin und Landesministerin Barbara Steffens, die bei dieserReform vor einem Schnellschuss warnt .
Wir reden hier über eine langjährig vorbereitete, inModellprojekten – auch in NRW – erprobte und gerademit den Ländern breit diskutierte Reform . Allein die Dis-kussion läuft schon seit über zehn Jahren .
Frau Steffens warnt also vor einem zehnjährigen Schnell-schuss .
Einige von uns sind alt genug, um die Knoff-Hoff-Showim Fernsehen noch zu kennen . Wenn es die noch gäbe,dann wäre Frau Steffens mit ihrem Wunder der Physikganz sicher dabei .
Ich empfehle ein bisschen mehr Sachlichkeit und Ge-lassenheit . Die letzten offenen Fragen werden wir dannganz konstruktiv im parlamentarischen Verfahren klären,und da gilt natürlich das Struck’sche Gesetz .Danke fürs Zuhören .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Hier war die ganze Zeit über viel von der Steige-rung der Attraktivität der Pflegeberufe die Rede. Ja, dasist tatsächlich ein dringendes und notwendiges Anliegen .Die entscheidende Frage lautet nur: Wie erreichen wireine solche Steigerung? Da kann ich nur auf die Debattevon gestern verweisen . Ein zentraler Punkt, um zu einerwirklichen Steigerung der Attraktivität zu kommen, ist,die Arbeitsbedingungen in der Pflege sowohl im Kran-Dr. Carola Reimann
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kenhaus als auch in der Altenpflege, sowohl ambulantals auch stationär zu verändern . Das ist die eigentlicheAufgabe, die anzugehen ist . Aber diese haben Sie nichtgelöst .
Sie haben das vertagt. Gutachten für den Krankenpflege-bereich? Ende 2017 wird es vorgelegt . Gutachten für dieAltenpflege? 2020 wird es vorgelegt. Vorher wird sichan den eigentlichen Arbeitsbedingungen nichts ändern .Unsere Sorgfaltspflicht als Parlamentarier hätte es abergeboten, schon früher für entsprechende Veränderungenzu sorgen . Das wäre die Aufgabe gewesen, die wir hättenerledigen müssen . Das ist der erste Punkt .
Zweitens . Vorhin wurde das Schulgeld erwähnt . Esgibt etliche Bundesländer, in denen zumindest recht-lich die Grundlage dafür besteht, Schulgeld zu erheben .Einige Länder haben nun beigedreht . Aber die meistenLänder warten darauf, dass eine entsprechende Rege-lung kommt . Es ist ein langjähriges Versagen sowohl desBundes als auch der Länder, dass hier kein Beitrag zueiner vernünftigen Ausbildung geleistet wurde . StellenSie sich mal einen Männerberuf vor, in dem Schulgelderhoben wird,
so schlechte Arbeitsbedingungen herrschen und soschlechte Gehälter gezahlt werden! Das gibt es sonstnirgendwo . Das ist das zweite Versäumnis, das kollektivbegangen wurde .
Drittens . Wenn es um eine Aufwertung der Berufs-bilder geht, dann ist es wichtig, den gesellschaftlichenStellenwert einer Altenpflegekraft, einer Kinderkranken-pflegekraft oder einer Gesundheits- und Krankenpflege-kraft herauszustellen . Das müsste man bei den jeweiligenProfilen gesondert machen.
Natürlich hat die Altenpflege hier ein größeres Problem.Aber genau dieses Problem lösen Sie nicht .Wenn wir uns die Entwicklung der Ausbildungsberu-fe anschauen, dann stellen wir fest: In Nordrhein-West-falen ist durch einen Kraftakt eine Ausbildungsumlagegeschaffen worden und ist es gelungen, die ambulantePflege einzubeziehen.
Dadurch wurde eine Verdopplung der Zahl der Ausbil-dungsplätze, aber auch der Interessenten erreicht . Genau-so müssen wir es angehen .
Bei Ihrer Reform müssen wir aber davon ausgehen, dassdie ambulante Pflege nicht mehr an der Ausbildung teil-nehmen wird, weil sie das gar nicht stemmen kann . Siesetzen voraus, dass die ambulanten Pflegeträger einenwirtschaftlichen Gewinn von 23 Prozent durch den Ein-satz der Pflegeauszubildenden erzielen. Das werden dieTräger nicht schaffen, weil kein Auszubildender alleinearbeiten kann . Deswegen ist ein solcher ökonomischerGewinn nicht vorauszusetzen . Das wird die bisherige po-sitive Entwicklung im ambulanten Bereich stoppen . Siegehen mit Ihrer Reform zumindest ein großes Risiko ein .Da müssen Sie nachbessern .
Zu einem Zeitpunkt, wo wir eine so weitreichendeReform beschließen, liegen uns nur wolkige Eckpunktevor . Schauen wir uns einmal die Handlungskompetenzenan, die im theoretischen Bereich vorausgesetzt werdensollen. Für die Pflegeplanung werden 900 bis 1 000 Stun-den angesetzt . Weitere Stichworte sind „Kommunikationund Beratung“, „eigenes Handeln intra- und interprofes-sionell gestalten“ und „eigenes Handeln reflektieren“.So wolkig haben Sie Ihre Eckpunkte verfasst . Genau aufdiesem Stand sind Sie . Das birgt weitere Risiken . Siewissen noch immer nicht, wie die Ausbildungsinhalte tat-sächlich aussehen sollen . Aber erst an den Inhalten kannman ermessen, Frau Müller, ob es sich zum Beispiel inder Kinderkrankenpflege um eine Ausbildung handelt,die wirklich tragfähig ist und entsprechend qualifiziert.Eine weitere offene Frage ist, wo die eigentliche Aus-bildung auf dem beruflichen Tätigkeitsfeld stattfindet,auf dem man dann eingesetzt ist . Das überlassen Sie denAuszubildenden, den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern . Diese müssen sich dann selber fortbilden . Siehaben kein einziges Konzept dazu vorgelegt . Das sinddie Mängel, die Sie bisher nicht behoben haben . Deshalbthematisieren wir die Risiken und fordern, dass Sie nocheinmal genau und besonnen hinschauen; denn es reichtnicht, entschlossen einen Koalitionsvertrag umzusetzen .
Frau Kollegin .
Es muss vielmehr Besonnenheit hinzukommen und,bitte schön, auch die Abwägung von wirklichen Argu-menten .
Maria Klein-Schmeink
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Frau Kollegin, wir bewundern zwar, wie Sie, ohne
Luft zu holen, fast 60 Sekunden durchgehalten haben,
aber die Zeit war doch dramatisch überzogen .
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Astrid
Timmermann-Fechter, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Menschliche Zuwendung, Fürsorge und Mit-gefühl sind für uns sehr wichtig . Sie geben uns Kraft,sie bauen uns auf . Das gilt für Jung und Alt, das gilt füruns alle . Das gilt insbesondere für jene Menschen, dieerkrankt oder pflegebedürftig sind. Sie sind es, die in be-sonderer Weise auf menschliche Zuwendung, Fürsorgeund Mitgefühl angewiesen sind . Das sind daher wichtigeAspekte einer guten Pflege in Krankenhäusern, auf Kin-derkrankenstationen oder auch in Altenpflegeeinrichtun-gen. Zu einer guten Pflege gehört auch, dass die Betreu-ung und Versorgung durch qualifiziertes Fachpersonalerfolgen .Eine gute medizinische und pflegerische Versorgungist auch heute schon Realität . 24 Stunden am Tag, rundum die Uhr arbeiten gut qualifizierte Pflegekräfte instationären und ambulanten Einrichtungen . Im oftmalsanstrengenden Berufsalltag kümmern sie sich mit vielEngagement und persönlicher Hingabe um Menschen,die auf ihre Hilfe angewiesen sind . Sie leisten dabei einewichtige Arbeit; denn eine gute pflegerische Versorgungist ein wichtiger Aspekt unseres gesellschaftlichen Zu-sammenlebens. Daher gilt den Pflegerinnen und Pflegernin unserem Land ein besonderer Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Aufgabe istes jedoch, eine solche Versorgung auch für die Zukunftsicherzustellen. Die Herausforderungen des demografi-schen Wandels sind uns alle bekannt . Die Menschen inunserem Land werden immer älter . Das ist einerseits er-freulich, andererseits sind damit auch große Herausforde-rungen verbunden. Das gilt insbesondere für die Pflege.Zum einen ändern sich die Anforderungen an die pfle-gerische Versorgung. In Pflegeeinrichtungen muss immermehr medizinische Behandlungspflege erbracht werden.In den medizinischen Versorgungseinrichtungen steigtder Anteil pflegebedürftiger Menschen. Das Berufsum-feld des Pflegepersonals wird dadurch immer komplexer.Zum anderen stehen wir vor der Herausforderung derFachkräftesicherung .Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Reform derPflegeberufe wollen wir diese Herausforderungen an-gehen . Kern der Reform ist die Zusammenführung derbisher getrennten Ausbildungen in der Gesundheits- undKrankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegesowie Altenpflege. Durch die Zusammenführung wer-den wir ein neues, einheitliches Berufsbild in der Pflegeschaffen. Mit der neuen Pflegeausbildung werden über-greifende pflegerische Kompetenzen vermittelt: Kompe-tenzen zur Pflege aller Altersgruppen, Kompetenzen inallen Versorgungsbereichen, in Krankenhäusern, Pflege-einrichtungen sowie in der ambulanten Pflege.Die neue Pflegeausbildung beinhaltet dabei einedreijährige Fachkraftausbildung mit Unterricht an Pfle-geschulen und praktischer Ausbildung . Im Rahmen derpraktischen Ausbildung werden die Auszubildendendurch die Wahl des sogenannten Vertiefungseinsatzeseinen Schwerpunkt setzen können. Pflichteinsätze undweitere Einsätze sorgen zudem für einen praktischen Er-fahrungsschatz in allen Arbeitsfeldern der Pflege.Die Durchlässigkeit zwischen den Pflegebereichenwird erhöht . Die Absolventen können zukünftig leich-ter in andere Pflegebereiche wechseln. Darüber hinauswird die Ausbildung zukünftig für alle Schülerinnen undSchüler kostenfrei sein . Ein Schulgeld, wie es teilweisebislang noch erhoben wird, wird es nicht mehr geben .
Durch diese Maßnahmen werden wir die Attraktivität derPflegeausbildung erhöhen. Wir leisten damit einen wich-tigen Beitrag zur Fachkräftesicherung .Neben Fragen der Ausbildungsstruktur und der Aus-bildungsinhalte nehmen wir die einheitliche Finanzierungin Angriff. Die Ausbildungsfinanzierung wird zukünftigüber Ausbildungsfonds auf Länderebene erfolgen . Anden Ausbildungsfonds wollen wir alle ausbildenden undnichtausbildenden Einrichtungen, die Krankenkassen,die Pflegekassen und die Bundesländer beteiligen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der neue Pflegebe-ruf wird zum größten Ausbildungsberuf in Deutschland .Damit unterstreichen wir die Wichtigkeit der Pflegebe-rufe in einer sich wandelnden Gesellschaft . Wir wollenmit dieser Reform jedoch niemanden überfordern . Über-gangsregelungen sollen den Pflegeschulen ausreichendZeit bieten, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustel-len .Ganz wichtig ist mir auch, dass der Zugang zur Aus-bildung weiterhin mit einer mittleren oder einer sonsti-gen zehnjährigen Schulbildung möglich sein soll . Auchdie Einstiegsmöglichkeit in die Berufsausbildung für Ab-solventen der Hauptschule soll über eine anrechenbareHelferausbildung weiterhin bestehen .Ja, wir wollen die Pflegeausbildung weiterentwickelnund attraktiver machen . Das bedeutet jedoch keine Ab-wertung der Qualifikation der bisher in der Pflege täti-gen Personen. Pflegerinnen und Pfleger mit Abschlüssenin der Altenpflege, der Gesundheits- und Krankenpflegeoder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege werdenweiterhin in den Arbeitsfeldern arbeiten können, für diesie sich qualifiziert haben.
Das sollen sie auch; denn sie sind gleichwertige undwichtige Pflegefachkräfte in einem dynamischen Tätig-keitsfeld .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können den de-mografischen und den gesellschaftlichen Wandel nichtaufhalten; aber wir können mit der Reform der Pflegebe-
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rufe den Pflegeberuf so gestalten, dass er den verschiede-nen Arten von Wandel noch gerechter wird . Dadurch sollauch in Zukunft eine gute medizinische und pflegerischeVersorgung sichergestellt werden .Ich wünsche mir an dieser Stelle, dass wir im Gesetz-gebungsverfahren eine konstruktive Diskussion mitei-nander führen können; denn unsachliche Schlagwörterwie „Schmalspurgesetz“, „Chaos“, „Kaffeesatzleserei“,„TTIP in der Pflege“ führen doch am Ende nur zur Ver-unsicherung genau bei den Menschen, für die Sie sich sointensiv einsetzen wollen .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr . Karl Lauterbach, SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen! Ich will zunächst einmal auf den Schwerpunktdieses Gesetzentwurfs zu sprechen kommen . Ich möchtein Erinnerung rufen, worum es hier eigentlich geht .Erstens. Wir haben in der Pflege im Großen und Gan-zen drei zentrale Problembereiche . Schon zum gegen-wärtigen Zeitpunkt gelingt es uns nicht mehr, genügendjunge Menschen für Pflegeberufe zu gewinnen. Viele de-rer, die in einem Pflegeberuf arbeiten, verlassen ihn zufrüh . Unser Personalbedarf kann schon jetzt nicht mehrgedeckt werden . Dieses Problem wird sich vergrößern .Zweitens. Es ist bekannt: Es gibt große Qualitätsdefi-zite in der Pflegeausbildung. Das möchte ich hier nichtvertiefen .Drittens . Die Anforderungen werden immer größer .Die Bereiche überschneiden sich immer stärker: In derAltenpflege ist es notwendig, immer mehr medizinischenAnforderungen gerecht zu werden . Die Medizin, die imKrankenhaus praktiziert wird, hat zum Teil geriatrisch-al-tenpflegerische Herausforderungen zu bewältigen, wasfrüher nicht der Fall war .Die mit den drei beschriebenen Punkten verbundenenProbleme wollen wir mit der Verabschiedung dieses Ge-setzentwurfs lösen .Ich will nur der Fairness halber sagen, dass das, waseben vorgetragen wurde – ich weiß gar nicht mehr, vonwem; ich glaube, es war von einer Kollegin von den Grü-nen, Maria Klein-Schmeink –, dass wir nämlich für diePflege bisher zu wenig gemacht haben, ungerecht ist. Wirhaben in dieser Legislaturperiode mehr gemacht, als inacht Jahren zuvor geschehen ist .
Ich bringe dafür vier Beispiele . Wir haben 20 000 zu-sätzliche Betreuungsplätze in der Altenpflege ermöglicht.
Wir haben ein Pflegeförderprogramm im Umfang von660 Millionen Euro aufgelegt. Wir haben einen Pflegezu-schlag im Umfang von 500 Millionen Euro gewährt . Wirhaben die Tarifbindung in die Wirtschaftlichkeitsprüfungder kompletten ambulanten und stationären Altenpflegehineingenommen . Derjenige, der nach Tarif bezahlt wird,kann nicht mehr als unwirtschaftlich qualifiziert werden.All das sind wichtige Maßnahmen .
Das ist auf jeden Fall mehr, als in den acht Jahren zuvorgeschehen ist . Daher ist es einfach unfair, zu sagen, da seizu wenig gemacht worden .Ich verweise als jemand, der das Problem der Pflegegut kennt – ich bin mit vielen Kinderkliniken in engemKontakt; ich kenne die Ausbildungsdefizite genau –, aufden Bereich Kinderkrankenpflege, um zu zeigen, dass diegeplante Ausbildungsreform eine gute ist .
– Nur ganz kurz . Ich bin gleich fertig .
Der Bereich Kinderkrankenpflege wird ja oft kritischbesprochen . Der allergrößte Teil der praktischen Ausbil-dung wird in der jeweiligen Einrichtung selbst durch dendualen Träger der Ausbildung durchgeführt . 300 Ausbil-dungsstunden entfallen auf die stationäre Grundpflege.120 Ausbildungsstunden,
Pflichtstunden, entfallen auf die pädiatrische Versorgung.Wir haben 500 Stunden Vertiefung . Wir haben 400 Stun-den Orientierung . Wir haben dann noch 80 Stunden zurfreien Verfügung . Das sind 1 400 Stunden .Die jetzige Ausbildung in der Kinderkrankenpflege istqualitativ schlechter, weil bestimmte Bereiche komplettfehlen . Die besonderen Bedingungen bei Migrantenkin-dern, die besonderen Anforderungen für die modernepädiatrische Onkologie sind nicht berücksichtigt . Kin-derpsychiatrie ist in den jetzigen Curricula kaum enthal-ten. Also: Wir haben Defizite.Wir haben bisher nur 900 Stunden . Wenn man denVorschlag aufgreift, den die Kolleginnen von der Links-partei hier vorgetragen haben – ein Jahr Vertiefung, näm-lich das letzte Jahr –, dann käme man niemals auf dieAstrid Timmermann-Fechter
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1 400 Stunden; das ist schlicht ausgeschlossen . In derPraxis ist das so .
Hier wurde von irgendjemandem kritisiert, dass wirdiese Inhalte nicht ins Gesetz schreiben, zum Beispielmit Blick auf die besonderen Stoffwechselerkrankungenvon Kindern mit Migrationshintergrund . So etwas ma-chen wir in keinem Gesetz . Wir können in kein Gesetzhineinschreiben, wie beispielsweise die Ausbildung inden Informatikassistenzberufen genau aussehen muss;das bestimmt die entsprechende Fachkommission . Dasmachen hier die Pflegeschulen. Die Fachgesellschaftenarbeiten bereits an dieser Reform . Sie nutzen die Gele-genheit, jetzt die modernen Inhalte zu definieren,
die, ehrlich gesagt, vielleicht nicht jedem im Hause – beiallem Respekt – bekannt sind; das ist zumindest meinEindruck nach den Reden .Somit: Die Ausbildung kann man verbessern, wennman pragmatisch herangeht . Es hat sich nirgendwo er-wiesen, dass das alte Modell – zwei Jahre Grundausbil-dung, dann ein Jahr Vertiefung – funktioniert . Die Ver-tiefung muss viel früher beginnen . Das gleiche Problemhaben wir beim Medizinstudium . Auch da fangen wir mitder Vertiefung viel zu spät an . Dass wir hier jetzt die Ver-tiefung und die Spezialisierung ganz nach vorn nehmen,schon in die Orientierung hinein – man kann schon inder Orientierung, in den ersten 400 Stunden, in die Pä-diatrie gehen, man kann schon in die stationäre oder indie ambulante Altenpflege gehen –, ist genau der richti-ge Schritt, weil man darauf in den drei Jahren aufbauenkann .Ich bin jetzt nur auf die 2 500 Stunden der praktischenAusbildung eingegangen . Die 2 100 Stunden umfassen-de theoretische Ausbildung wird auch überarbeitet . Wirüberarbeiten das Curriculum komplett und schmeißendabei – Herr Kollege Henke wird das wissen – zahlrei-che Dopplungen raus . Wir geben zudem vor – das gabes bisher nicht –, dass Personen unterrichten, die darinausgebildet sind, die das hauptberuflich machen. Bisherist das zum Teil im Nebenberuf gemacht worden . Ganzehrlich – das darf man heute gar nicht mehr laut sagen –,wir haben zum Teil während des Medizinstudiums, ohnevon der Pflege damals viel verstanden zu haben, Pflege-ausbildung gemacht . Das ist nach der neuen Regelungüberhaupt nicht mehr erlaubt .
Somit: Alles kann man verbessern . Aber dann mussman in die Details einsteigen .Letzte Bemerkung. Ich finde es traurig, dass der Pro-test, der am stärksten von den privaten Pflegeverbändenkommt,
im Prinzip von den großen französischen Konzernen, diedie Privatisierung der Altenpflege betreiben, ausgerech-net von der Linken und von den Grünen hier aufgenom-men wird .
Sie suchen sich hier die falschen Verbündeten . Das sinddie härtesten Gegner unserer Reform, weil sie eine besse-re Vergütung der Altenpflege fürchten. Das halte ich fürnicht ehrenhaft .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirbesprechen heute ein Thema, das seit einem Jahrzehntdiskutiert wird und das uns alle – das sieht man an derDebatte – wirklich berührt. Pflege ist das Thema der Ge-sundheitspolitik in der 18 . Legislaturperiode .Durch das Erste Pflegestärkungsgesetz hat diese Gro-ße Koalition die Leistungen für Pflegebedürftige undihre Angehörigen spürbar erweitert. Der neue Pflegebe-dürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahrenwerden dank dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz noch indieser Wahlperiode eingeführt werden . Vor allem Men-schen mit psychischen Erkrankungen oder Demenz wer-den dadurch bessergestellt .Diese Reform der Pflegeversicherung ist die größteseit Einführung dieser Versicherung; sie war notwendigund ist richtig .
Wir als Union – das möchte ich hier noch einmal unter-streichen – sind weder in irgendeiner Hurrastimmungnoch in einem Miesmachmodus . Ich glaube, uns alle eintdoch das Ziel, dass wir Verbesserungen wollen; das istdie Situation . Aber ich glaube auch, wenn ich die Dis-kussion hier verfolge, dass die Situation der Pflege inDeutschland teilweise schlechter geredet wird, als sie ist .Das ist etwas unfair .
Um die Situation in der Pflege zu verbessern, reichtes nicht, wenn wir nur die Situation der Menschen mitpflegerischem Versorgungsbedarf und ihre AngehörigenDr. Karl Lauterbach
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im Blick haben . Nein, wir müssen auch die Situationder in der Pflege tätigen Berufsgruppen verbessern. Wirmüssen Versorgung ganzheitlich betrachten; das ist we-sentlich . Verbesserungen sind nur dann möglich, wennwir das Verhältnis der Betroffenen in diesem Dreiklangaus Pflegebedürftigen, Angehörigen und Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern in den Pflegeberufen optimierenund hier keine Gruppe ausklammern . Deshalb muss inaller Deutlichkeit gesagt werden: ohne Veränderung kei-ne Verbesserung . Wir wollen diese Berufe natürlich auchzukunftsfest machen . Daher steht für mich außer Frage,dass wir die Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte,egal ob in Vollzeit, Teilzeit oder in der Ausbildung, ver-bessern müssen .Ich glaube, es ist wichtig, dass wir über dieser Dis-kussion die Pflegeschulen nicht vergessen. Wir brauchenfür die Schulen eine Bestandssicherung . Da darf es kei-ne Rolle spielen, ob diese Pflegeschulen groß oder kleinsind, ob sie auf dem Land oder in der Stadt liegen . Ich binsehr dankbar, dass wir in diesem Gesetzentwurf auch dieMöglichkeit der Kooperation der Schulen untereinanderverankert haben, weil das für uns wesentlich ist .
Da wir schon beim Thema Schule sind, dann möchteich hier in aller Deutlichkeit unterstreichen: Wenn wiralle immer wieder durch die Lande ziehen und über einduales Ausbildungssystem reden, dann kommt es wirk-lich darauf an, keine weltfremde Diskussion über dieAkademisierung des Berufs zu führen . Wir braucheneine Akademisierung, vollkommen klar . Aber ich glaube,der Vorschlag einer Akademikerquote zwischen 10 und20 Prozent eines Jahrgangs ist maßvoll und auch richtig .Das duale Ausbildungssystem in Theorie und Praxis istunser System für die Stärkung der Pflege. Es ist klar, dassder Zugang zu diesem Beruf selbstverständlich auch überdie Mittelschulen und über die Hauptschulen, somit überalle Schultypen, gelingen muss . Wir brauchen schon jetztjede junge Kraft in diesen Berufen, und wir werden sie inZukunft brauchen .
Da das Schulgeld vorhin schon angesprochen wordenist, spare ich mir diesen Bereich . Die Schulgeldabschaf-fung war überfällig . Deshalb sind wir froh, dass der Ge-setzentwurf das vorsieht . Wesentlich ist allerdings füruns, dass die Inhalte in der Verordnung und auch in denEckpunkten klar sind . Aktuell ist es so, dass die Eck-punkte zwar gut gewählt sind, aber nur Überschriftensind . Der Inhalt, das Fleisch fehlt .
Aber es ist auch klar, dass wir im parlamentarischen Ver-fahren – das ist zugesagt – diese Diskussion führen unddass wir in den Anhörungen und allem, was dazu geplantist – wir haben hier einen klaren Zeitplan –, auch nocheinmal kritisch draufschauen . Dass man diskutiert, machtdoch unsere Demokratie aus .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wirüber Arbeitsbedingungen sprechen, ist es notwendig, dasswir über Regelungen sprechen, wie wir einen Beruf at-traktiv machen, damit es nicht nur bei Worthülsen bleibt .Es ist notwendig, dass man hier auch die Gewerkschaf-ten an die Seite nimmt . Wenn eine Berufsausbildung inder Krankenpflege, der Altenpflege, der Kinderkranken-pflege in einen Beruf münden soll, ist vollkommen klar,dass hier für gleiche Leistung auch gleiche Bezahlungnotwendig ist .
Das ist keine Sonderleistung, sondern das ist in meinenAugen anständig .Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin demBMG und auch dem Herrn Minister sehr dankbar, dasssie hier nicht die Augen zumachen und sagen: Es ist alleseitel Sonnenschein, es ist überhaupt kein Problem; diePflegeszene ist glücklich. – Das ist ja nicht so; das wis-sen wir . Hier gibt es sehr, sehr viele kritische Ansätze .Hier ist Angst im System . Deshalb ist es gut, dass er sichdiesen Fragen stellt . Am 30 . April wird er dazu in Bayernsein, und alle in der Szene betroffenen Entscheider wer-den dabei sein und über dieses Thema offen diskutieren .Da muss ich schon einmal sagen: Das ist ein ganz, ganzstarkes Stück gelebte Demokratie und Mitsprache . Dafürherzlichen Dank an dieser Stelle .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchtezum Schluss kommen . Ich glaube, es ist wichtig, dass wireines nicht vergessen: Man muss die Sorgen und Nöteder Beschäftigten inhaltlich und aufklärend angehen . Ichglaube, der richtige Ansatz ist – Herr Kollege Lauterbachhat hier versucht, das darzustellen –, den fachlichen In-halt festzulegen und das Ganze mit Blick auf die zeit-liche Perspektive auszurichten; denn Volkskrankheitenwie die Demenz werden uns in den nächsten Jahrzehntendauerhaft beschäftigen . Deshalb müssen sie sich in derLehre, in der Ausbildung wiederfinden. Ich glaube, dasist wichtig .Natürlich wissen wir auch, dass die Berufe gewisseSpezialisierungen haben . Ich weiß auch, dass das Klien-tel in der Kinderkrankenpflege bzw. in der Altenpflegejeweils ein anderes ist . In Bayern würde man sagen: Dasist ein ganz anderer Schlag von Mensch . – Und so ist esauch .
Diese Diskussion, meine sehr geehrten Damen und Her-ren, dürfen wir aber nicht spaltend führen . Denn wennwir eine generalistische Ausbildung wollen, dann müs-Erich Irlstorfer
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sen wir versuchen, diese Hürden abzubauen . Aber wirmüssen auch die Kritik in aller Klarheit ernst nehmen
und dürfen die Ohren vor den kritischen Stimmen nichtverschließen . Dann werden wir auch sehen, in welcherGeschwindigkeit wir das Ganze erledigen können . Ichglaube, nach einer zehnjährigen Diskussion wird es nichtdarauf ankommen, ob wir vor der Sommerpause odernach der Sommerpause eine Entscheidung treffen .In diesem Sinne: Gute Beratungen und herzlichenDank .
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
dem Abgeordneten Marcus Weinberg, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich darf da gleich anknüpfen: Ich glaube,diese erste Debatte hat deutlich gemacht, dass wir dreiDinge in den Blick nehmen sollten . Wir sind offen fürdie Diskussion . Das heißt, wir werden die Kritikpunktegerne mit aufnehmen, Frau Kollegin Scharfenberg, wennsie objektiv und sachlich vorgetragen werden und nichtpopulistisch und einfach .
Dafür nehmen wir als Regierungskoalition uns auchZeit; das haben wir schon gesagt . Dieses Thema gibt esja seit 2003 . Deshalb ist es wichtig, dass wir uns auch aufden letzten Metern, die wir gehen wollen, die Zeit neh-men, uns damit auseinanderzusetzen, an welchen Stellenwir noch Veränderungen vornehmen können . Das wirdletztendlich auch darin münden, dass wir Veränderun-gen – davon gehe ich fest aus – mit implementieren .Aber eins muss man auch mal sagen – der Ministerhat das deutlich gemacht –: Die Debatte ist nicht neu,und die Große Koalition hat den Reformentwurf nichtin irgendwelchen komischen Hinterzimmern formuliert .Seit mittlerweile über zehn Jahren wird darüber disku-tiert. Deswegen sollten wir, finde ich, mit Blick auf dieOrdnung der Debatte vier Dinge feststellen .Erstens . Wir sind uns doch einig – das haben die Red-ner aller im Parlament vertretenen Fraktionen gesagt –:Mit Blick auf den Fachkräftemangel, mit Blick auf dendemografischen Wandel und vor allem – das finde ichwichtig – mit Blick auf die Veränderung der Berufsbil-der – sie ist die Folge – brauchen wir eine Reform . Dasist die Ausgangssituation .Zweitens . Ziel muss es doch sein, zwei Dinge zusam-menzubringen: Auf der einen Seite müssen wir die Qua-lität, die Spezialisierung, die wir in den letzten Jahrzehn-ten erreicht haben, bewahren, und auf der anderen Seitemüssen wir gleichzeitig über die Entsäulung eine breitereAusbildung erreichen .Das heißt drittens für uns – das ist ja der Ansatz derReform dieser Ausbildungen –, dass wir die Vielfalt stei-gern . Das wird dann viertens, glaube ich, auch zu einerSteigerung der Attraktivität der einzelnen Berufsfelderführen .
Das muss unser Ansinnen sein, auch mit Blick auf dienächsten Jahrzehnte .Deshalb möchte ich noch einige Bemerkungen zuden – in Anführungszeichen – „Kritikpunkten“ machen .Von vielen Rednern wurde schon gesagt, dass seit 2003über dieses Thema, über die Einführung von entspre-chenden Erprobungsklauseln für eine generalistischeAusbildung in den Gesetzen zur Altenpflege und Kran-kenpflege, diskutiert wird. Dazu gab es Modellprojekte.Wenn man diese Modellprojekte einmal analysiert, dannkann man drei Ergebnisse feststellen .Erstens . Die Ausbildungsinhalte überschneiden sichbis zu 80 oder 90 Prozent .Zweitens – und das halte ich für besonders wichtig –:Die Kompetenzsteigerung – das wurde von den Betrof-fenen und von denjenigen, die sie begleitet haben, arti-kuliert – hat immens zugenommen . Das ist ja auch klar .Wenn ich heute – im Vergleich zur Situation vor 50, 60oder 70 Jahren – in der Altenpflege tätig bin, dann mussich doch auch wissen, was in der Krankenpflege passiert.Und umgekehrt muss ich doch auch in der Krankenpflegewissen, was später möglicherweise beim Übergang – daserleben wir ja mehr und mehr – zur Altenpflege notwen-dig ist . Und ich muss das wissen, um beides zusammen-zubringen . Ich muss also eine generalistische Basis ha-ben, damit ich weiß, was derjenige, der als Nächster diePflege übernimmt, weiß. Das heißt, die Kompetenzstei-gerung ist zentral .Dritter Punkt – auch das wurde bereits angespro-chen –: Für diejenigen, die sich möglicherweise vor 20,30 Jahren entschieden haben, ihr Leben lang – in Anfüh-rungszeichen – nur Altenpflege, nur Krankenpflege odernur Kinderkrankenpflege zu machen, muss ich Perspek-tiven schaffen . Es wurde von Rednern angesprochen:Wenn jemand 20, 30 Jahre in der Altenpflege arbeitet,stellt sich die Frage – denn das ist ein schwieriger Job –:Was kann man perspektivisch bieten? Hier, glaube ich,bieten die Modellprojekte eine erste Analyse, auf der wiraufbauen können . Noch einmal: Es gilt, auch mal zu sa-gen: Das machen wir jetzt einfach! Wir machen es jetztErich Irlstorfer
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mal! Wir wollen nicht noch mal vier oder acht Jahre da-rüber diskutieren .
Insoweit möchte ich den Präsidenten des DeutschenPflegerates, Herrn Westerfellhaus, zitieren, der ganz rich-tig gesagt hat:Wer jetzt die Reform der Pflegeausbildung auf Eislegt, der handelt in hohem Maße fahrlässig . Damitwürde das Aus für eine moderne Form der Pflege-ausbildung riskiert, die wir angesichts der demogra-fischen Entwicklungen mehr denn je benötigen.
Es gibt viele weitere Kronzeugen, die sich ja bereitsseit Monaten an der Debatte beteiligen: Caritas, Diako-nie . Sie sagen immer wieder: Ja, wir unterstützen dengrundsätzlichen Weg dieser Reform . Sie sagen aber auch:Achtet auf die Fußnote, und achtet auf den Teufel, derhäufig im Detail steckt! – Das haben wir uns als GroßeKoalition vorgenommen . Sie haben bei allen Rednerngemerkt, dass sie sagten: Wir werden uns mit den Kri-tikpunkten auseinandersetzen . – Das gilt insbesonderefür die große Anhörung . Danach wird es noch weitereGespräche geben .Aber man muss auch objektiv sein . Wir haben auchhier das Thema Kinderkrankenpflege dreimal diskutiert.Die Vorwürfe treffen in der Form, wie sie formuliert wur-den, nicht zu . Ich will es noch einmal sagen – weil derVorwurf ja kam, die Kinderkrankenpflege wird im Be-reich der Spezialisierung nahezu komplett gestrichen –:Das stimmt einfach nicht . – Es wurde gesagt: Wenn Siemit dem Vertiefungsansatz und dem Ansatz der frei ver-teilbaren Stunden arbeiten, kommen Sie auf eine Gesamt-zahl von 1 400 Stunden – bei insgesamt 2 500 Stunden . –Ich glaube, das ist ein Beweis, dass die Spezialisierungim Kern erhalten bleibt .
Im Übrigen ist es so, dass heute schon zwei Drittel derAusbildung in der Krankenpflege und der Kinderkran-kenpflege identisch sind.Deswegen darf ich zum Schluss Folgendes sagen: Wirfreuen uns und erwarten eine gute und breite Debatte .Noch einmal: Ich glaube, dass das eine oder andere mo-difiziert werden könnte. Das hat der Minister auch zuge-sagt . Ich glaube, dass wir in Absprache mit dem Ministerund der Familienministerin als Große Koalition das Ge-spräch suchen, nicht nur mit der Opposition, solange diekritischen Punkte objektiv vorgetragen werden, sondernauch mit den Verbänden . Dann, glaube ich, wird am Endeeine Reform stehen, für die es sich gelohnt hat zu kämp-fen . Insofern wünsche ich uns eine gute Debatte .Vielen Dank .
Es wäre schön, wenn der Satz „Ich komme zum
Schluss“ regelmäßig vor Ablauf der Redezeit kommt . Er
kommt aber regelmäßig nach Ablauf der Redezeit . Ich
bitte also, das in Zukunft zu berücksichtigen, zumal die
Regierungskoalition eine Menge Zeit hat .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7823, 18/7414 und 18/7880 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Kerstin
Andreae, Kai Gehring, Dr . Thomas Gambke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
Forschung und Entwicklung kleinerer und
Drucksache 18/7872
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Einwände? – Das ist nicht der Fall . Dann ist so beschlos-
sen .
Es wäre nett, wenn die Kolleginnen und Kollegen, die
dieser Debatte nicht folgen wollen, jetzt den Saal verlas-
sen oder sich entspannt hinsetzen und der Rednerin, die
gleich aufgerufen wird, zuhören .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Rednerin ertei-
le ich das Wort der Abgeordneten Kerstin Andreae für
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwar am Mittwoch beim parlamentarischen Abend desVCI . Es ist nicht unbedingt ein Heimspiel für die Grü-nen, bei den Vertretern der chemischen Industrie zu sein .Das ändert sich jetzt ein bisschen . Wir haben dort diesteuerliche Forschungsförderung vorgestellt und natür-lich breite Unterstützung bekommen . Logisch .
– Logisch, ja . Aber ich komme nachher noch einmal zumVCI .
Volker Kauder war auch da, und er hat uns erklärt, wa-rum das alles nicht geht: wegen Mitnahmeeffekten; mankönne alle Ausgaben absetzen . Das sind berechtigte Sor-gen,
Marcus Weinberg
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und natürlich nehmen wir sie ernst . Es geht um das Geldder Steuerzahlerinnen und Steuerzahler . Deswegen legenwir einen Gesetzentwurf vor, der genau eine solche Ab-grenzung vornimmt, damit es eben nicht zu Mitnahmeef-fekten kommt . Ich empfehle Volker Kauder, sich diesenGesetzentwurf einmal gut anzuschauen . Er ist modern, erist innovativ – das ist Mittelstandspolitik .
Wissen Sie, die Innovationszyklen werden immer kür-zer . Das heute verfügbare Wissen verdoppelt sich allesieben Jahre . Im Jahr 2030 wird dies alle 72 Tage der Fallsein . Das heißt, wir brauchen eine Förderung, die denHerausforderungen – dieser Schnelligkeit, dieser Dyna-mik – und der Digitalisierung gerecht wird, eine Förde-rung, die zu dieser neuen Innovationswelt passt .
Was sind jetzt die Vorteile unseres Ansatzes? Wir le-gen nicht fest, welches konkrete Forschungsvorhabengefördert wird, weil wir nicht wissen, welche Vorhabenletztendlich entscheidende Durchbrüche bringen können .Wir fördern Ausgaben, nicht Gewinne – wie Sie mit denPatentboxen . Wer Gewinne macht, der hat es schon ge-schafft .Wir wollen nicht die Projektförderung einschränken,sondern parallel zur Projektförderung einen steuerlichenBonus von 15 Prozent für Forschungs- und Entwick-lungsausgaben einführen . Als Nachweis dafür, dass estatsächlich Forschungs- und Entwicklungsausgaben sind,gibt es ein Zertifikat. Das muss auch nicht die Steuerbe-hörde prüfen; vielmehr gibt es – wie heute schon beimZIM oder bei Forschungsprojekten – Forschungszen-tren, zum Beispiel Jülich, die diese Zertifikate ausstellen.Damit hat man die Abgrenzungsprobleme, die scheinbarVolker Kauders Sorge sind, gelöst . Schauen Sie sich dasan! Hier liegt der richtige Vorschlag .
Jetzt kommt die schlechte Nachricht an den VCI: Wirfokussieren auf den Mittelstand . Das hat gute Gründe:Über 60 Prozent der kontinuierlich forschenden KMUswerden nicht von der öffentlichen Forschungs- und In-novationsförderung erreicht . Die öffentliche Projekt-förderung geht an mehr als der Hälfte der forschendenUnternehmen vorbei, unter anderem, weil die Bürokratiefür die kleinen Unternehmen zu groß ist . Unterhalten Siesich mal mit den Unternehmen!
Sie sind nicht in der Lage, die Projektförderung zu nut-zen, weil ihnen die Manpower fehlt . Ein großes Unter-nehmen hat entsprechende Abteilungen . Ein kleines Un-ternehmen hat vielleicht kreative Ideen, schlaue Ideen,hat Potenzial, das wir heben wollen, aber eben nicht dieMöglichkeit, die Projektförderung zu nutzen . Deswegenfokussieren wir auf die KMU .
Unsere bisherige Forschungsförderung ist konzernlastig,und das können wir uns nicht dauerhaft leisten .Jetzt schauen wir einmal über den nationalen Teller-rand hinaus . In 27 der 34 OECD-Länder gibt es einesteuerliche Förderung von FuE . In allen EU-Ländernaußer Estland und Deutschland gibt es eine steuerlicheForschungsförderung .Was ist jetzt mit Ihnen? Alle drei Parteien sind mitder Forderung nach einer steuerlichen Forschungsförde-rung in den Wahlkampf gegangen . Die SPD hatte ihren„Modernisierungspakt für Deutschland 2025“ . Und wassteht da drin? Die Forderung nach einer steuerlichen For-schungsförderung .
– Der Beifall gilt Ihnen von der SPD . Der Beifall giltauch der CDU . Denn was forderten Sie auf Ihrem Partei-tag im Dezember 2014? Eine steuerliche Forschungsför-derung . Ja, es ist doch einfach mal an der Zeit .
Wenn Deutschland in der Spitzengruppe der führendenIndustrie- und Innovationsnationen bleiben möchte – an-gesichts der Herausforderungen, die vor uns stehen, wäredas klug, auch im Hinblick auf Arbeitsplätze –, dannmuss die Politik mehr tun, um Forschung und Entwick-lung in den Unternehmen zu fördern .Ich bin jetzt gespannt auf die Debatte . Jetzt haben Sieden Gesetzentwurf, und dann werden Sie sagen: Dasklappt nicht, das klappt auch nicht, an der Stelle funk-tioniert es nicht usw . – Wunderbar! Es ist die erste Le-sung . Dann fangen Sie an, bringen Sie Änderungsanträgeein! Wir sind bereit, das alles zu verbessern, damit wirals Deutscher Bundestag in unserem gemeinsamen Inte-resse, die Kreativität kleiner und mittelständischer Un-ternehmen zu fördern und ihr Potenzial zu heben, einesteuerliche Forschungsförderung zusammen auf den Wegbringen können . Ich verspreche Ihnen: Wir werden dannnicht das Copyright auf diesen Gesetzentwurf beanspru-chen . Aber fangen Sie jetzt nicht an, in der Debatte klein-teilig an irgendwelchen Punkten herumzumäkeln, son-dern sagen Sie uns klipp und klar, ob Sie bereit sind, dersteuerlichen Forschungsförderung den Weg zu bereiten .Lassen Sie uns das gemeinsam machen – für den Inno-vationsstandort Deutschland! Es wäre wunderbar, wennwir das hinkriegen .Vielen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Ralph Brinkhaus, CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-legin Andreae, das war eine sehr engagierte Rede, undKerstin Andreae
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es freut mich außerordentlich, dass die Grünen jetzt ihrHerz für den Mittelstand entdeckt haben .
Frau Andreae, ich gebe Ihnen einen Tipp: Wenn Sie Mit-telstandsförderung machen wollen, dann hören Sie auf,höhere Spitzensteuersätze zu fordern . Wenn Sie Mittel-standsförderung machen wollen, dann hören Sie auf, eineVermögensabgabe zu fordern . Wenn Sie Mittelstandsför-derung machen wollen, dann hören Sie auf, die Famili-enunternehmen mit Erbschaftsteuer belasten zu wollen .
Wenn Sie Mittelstandsförderung machen wollen, danndenken Sie darüber nach, dass gerade der Mittelstandunter hohen Energiepreisen, die Sie immer weiter nachoben treiben wollen, leidet . Wenn Sie Mittelstandsför-derung machen wollen, dann gucken Sie sich doch malan, was Ihre Landesumweltminister mit Landesentwick-lungsplänen machen, mit denen sie dem Mittelstand jeg-liche Erweiterungsmöglichkeiten nehmen, wie das beimir in Nordrhein-Westfalen der Fall ist .
– Herr Hofreiter, wenn Sie Innovationsförderung machenwollen, dann denken Sie daran: Wer ist denn die tech-nologiefeindlichste Partei hier in Deutschland? Das sindSie .
Auch wenn die Aufregung bei den Grünen jetzt sehrgroß ist – denn scheinbar ziehen Sie sich den Schuh an,den ich Ihnen gerade hingestellt habe –,
sollten wir nichtsdestotrotz über Forschung und Ent-wicklung reden . Forschung und Entwicklung sind wich-tig . Wir wissen, dass die Zukunftsfähigkeit einer Indus-triegesellschaft von Forschung und Entwicklung abhängt .Wir sind in Deutschland mit unserem Anteil von For-schung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt üb-rigens gar nicht so schlecht . Das gilt insbesondere seit2005 .
Das wird uns auch von unabhängigen und uns nicht na-hestehenden Wissenschaftlern bestätigt . Es ist so, dasswir uns erheblich verbessert haben dank der Politik derGroßen Koalition, angefangen mit Frau Bulmahn,
als sie noch in Amt und Würden war, und jetzt mit FrauWanka . Das heißt, da ist viel, viel geleistet worden .
Jetzt wird gesagt: Wir haben ein Problem bei kleinenund mittelständischen Unternehmen . Da könnte die steu-erliche Forschungsförderung helfen. – Ich finde, das soll-te man nicht ganz von der Hand weisen . Ich glaube, dasmuss man diskutieren . Steuerliche Forschungsförderungkann durchaus ein attraktives Mittel sein, um auch kleineund mittlere Unternehmen in diesem Bereich zu fördern .Aber, Frau Andreae, das ist nicht, wie Sie es dargestellthaben, der große grüne Knopf, auf den Sie drücken, unddann wird in dem Bereich alles gut .
Daher will ich jetzt versuchen, anhand einiger Punkteetwas Wasser in diesen Wein zu gießen . Sie haben die-se Behauptung aufgestellt: Alle machen das, außer Est-land und Deutschland . – Wissen Sie, wer das am meistenmacht? Das unglaublich erfolgreiche volkswirtschaftli-che Konstrukt Frankreich .
Die Franzosen sind ganz groß darin . Ist das für uns einRollenmodell? Ich weiß es nicht . Sie machen nämlichimmer eines: Sie nehmen einen Bereich aus dem For-schungsförderungskonzept heraus und sagen: Das wirdin anderen Ländern gemacht, das wird in Deutschlandnicht gemacht . Vor diesem Hintergrund sagen Sie dann:Das müssen wir in Deutschland auch machen .Lassen Sie uns doch einmal über das sprechen, was inDeutschland gemacht wird . Wir sind zum Beispiel sehrstark darin, Forschungsinfrastruktur zur Verfügung zustellen . Die ganze Welt beneidet uns um unsere Spitzen-forschungsinstitute: Max Planck, Helmholtz-Gemein-schaft, Fraunhofer . Damit können wir glänzen . Wir sinddarin sehr stark geworden, durch die Exzellenzinitiativenan den Universitäten Spitzenforschung nach Deutschlandzurückzuholen . Hier haben wir sehr viel geleistet, meineDamen und Herren .
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage von Herrn Dr . Gambke, Bündnis 90/Die Grü-
nen . Wollen Sie diese zulassen?
Ja, aber immer gern doch .Ralph Brinkhaus
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Bitte schön, Herr Kollege Dr . Gambke .
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie diese Zwischen-
frage zulassen . – Die schwungvolle Art Ihres Beginns
und Ihre Argumentation lassen eher vermuten, dass die
Erregung bei Ihnen liegt und weniger bei uns .
Ihr Argument zu Frankreich höre ich häufig. Es ist Ih-
nen schon bewusst, dass wir hier einen Gesetzentwurf für
kleine und mittlere Unternehmen vorlegen? Und es ist
Ihnen auch bewusst, dass zum Beispiel die Ausführun-
gen, die Experten zu diesem Thema machen – vor kur-
zem der Wochenbericht des DIW, den Sie oder derjenige,
der Ihnen Ihre Rede aufgeschrieben hat, möglicherweise
im Hinterkopf haben und der sich kritisch mit der Frage
Frankreichs auseinandersetzt –, nicht berücksichtigen,
dass in Frankreich eben alle Unternehmen eine steuer-
liche Forschungsförderung erhalten? Deshalb würde ich
Sie bitten, in Ihren Ausführungen darauf Rücksicht zu
nehmen .
Mit Blick auf kleine und mittlere Unternehmen argu-
mentieren wir, dass die Art der Projektförderung, die wir
haben, eben nicht in dem Maße zur Wirkung kommt, wie
es gedacht ist . Ich würde Sie bitten, sich auf den Gesetz-
entwurf zu konzentrieren . Dann bekommen wir eine gute
Debatte hin .
Vielen Dank .
Lieber Herr Kollege Gambke, ich konzentriere michauf den Gesetzentwurf . Sie haben nämlich das EFI-Gut-achten als Kronzeugen in Ihrem Gesetzentwurf ange-führt . Im EFI-Gutachten steht, dass bei den kleinen undmittelständischen Unternehmen Frankreich sehr weitvorne liegt . Nehmen Sie das zur Kenntnis . Die andereGeschichte – Sie können sich wieder setzen – kommt imLaufe meiner Rede noch vor .Ich war stehen geblieben bei den Exzellenzinitiativen .Ich möchte gerne weitermachen mit einer unglaublichguten Sache, die wir hier in Deutschland eingeführt ha-ben, mit den Spitzenclustern . Es gibt Spitzencluster imBereich der Innovation von intelligenten technischenSystemen bei mir in Ostwestfalen, im Bereich der Kar-bontechnologie in Bayern und ganz viele andere Dinge .Diese Infrastruktur – das ist die Herausforderung – müs-sen wir besser zugänglich machen für die kleinen undmittelständischen Unternehmen . Dass da ein Bedarf be-steht, ist klar . Es gibt schon Projekte, die darauf hinwir-ken . Es ist zielführend, zu fragen: Was habe ich, und wiekann ich aus dem, was ich habe, etwas noch Besseresmachen? Daran sollten wir arbeiten .Im Übrigen: Wir haben auch eine Direktförderung .Schauen Sie sich einfach einmal an, was auch dazu indiesem EFI-Gutachten steht . Die Kommission brauchtfast eine Seite, um die ganzen Direktförderinstrumenteaufzuzeigen: von dem ZIM-Programm des Bundeswirt-schaftsministeriums über die Industrieforschung bishin zur KfW-Förderung . Sie sagen, dass damit zu vielBürokratie verbunden ist: Dann lassen Sie uns darüberreden, wie wir die Bürokratie abbauen, wie wir all diesfür kleine und mittelständische Unternehmen zugänglichmachen .
In meinem Wahlkreis – das ist meine Erfahrung – gibtes Unternehmen mit fünf Mitarbeitern, die an diesen Pro-grammen teilnehmen . Das heißt, es ist nicht so, dass die-se Programme für kleine und mittelständische Unterneh-men prinzipiell nicht geeignet sind . Daran müssen wirmeines Erachtens aber noch mehr arbeiten .
Steuerliche Forschungsförderung bedeutet natürlichauch, dass wir Subventionen geben . Wir müssen immersehr, sehr vorsichtig sein, wenn wir Subventionen aufden Weg bringen . Subventionen erzeugen einen Abhän-gigkeitseffekt . Man gewöhnt sich an sie, man wird vonihnen abhängig . Es gibt Leute, die sagen: Das ist wie eineDroge . – So weit will ich nicht gehen . Aber Subventi-onen verzerren Entscheidungen, und Subventionen ver-zerren den Wettbewerb . Vor allen Dingen haben wir einProblem – darüber müssen wir insgesamt einmal reden –:Welche Subvention wird denn evaluiert? Wo wird denngeguckt, welche Wirkmächtigkeit eine Subvention hat?Auch über diese Geschichte müssen wir reden .Nichtsdestotrotz: Es kann gerechtfertigt sein, an dereinen oder anderen Stelle Subventionen zu geben . Wenndas so ist, dann aber bitte nicht über das steuerliche Sys-tem . Wenn uns etwas Gutes einfällt, sagen wir immer:Der Transmissionsriemen ist das Steuersystem . Jetztstehe ich hier auch als Finanzpolitiker, und als solchersage ich: Die gleichen Leute, die heute die steuerlicheForschungsförderung hochhalten – wie gesagt, ich willdas nicht kritisieren –, sagen an anderer Stelle: Das deut-sche Steuersystem ist zu kompliziert, das müsste mandringend einfacher gestalten . – Das ist ein Wertungs-widerspruch . Wenn ich das deutsche Steuersystem, daseinfach, gerecht und ergiebig sein soll, mit Steuerungs-und Lenkungszwecken belaste, dann wird es irgendwannrichtig kompliziert . Sie können mir jetzt vorhalten, dassdas auch für die Wohnungsbauförderung gilt . Ja, das istrichtig . Das ist auch bedenklich . Und ja, das gilt auch fürdie steuerliche Förderung der Elektromobilität; auch dasist richtig . Ich bin der Meinung: Der Transmissionsrie-men Steuersystem sollte nur sehr, sehr dosiert angewandtwerden .Nächster Punkt. Wir haben natürlich auch eine fis-kalische Komponente . Wir stehen momentan vor ganzschwierigen Haushaltszeiten . Wir haben die Herausfor-derung der Migration . Es geht ferner um äußere Sicher-
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heit und innere Sicherheit . Wir alle wissen sehr genau,dass die Steuereinnahmen nicht auf ewig so bleiben wer-den, wie sie jetzt sind, dass wir mit einer konjunkturellenDelle und einer höheren Arbeitslosigkeit rechnen müs-sen . Wir haben die Schuldenbremse . In dieser Situationneue Maßnahmen und Programme zu fordern, ist meinesErachtens sehr ambitioniert .Sie können jetzt, wenn Sie mir noch zuhören, sagen:Aber das ist doch alles so schrecklich wichtig; wir müs-sen das doch an dieser Stelle machen . – Komischerwei-se – das sage ich auch als Haushaltspolitiker – ist allesimmer schrecklich wichtig . Dementsprechend mussman eine Priorisierung vornehmen, was nicht dagegenspricht, die Forschung bei kleinen und mittelständischenUnternehmen zu fördern . Aber man sollte das intelligentmachen .
Sie haben gesagt: Sie immer mit Ihren Patentboxen . –Patentboxen gibt es in vielen Ländern auf dieser Welt .Sie bedeuten – das sage ich für diejenigen, die mit demsteuerlichen System nicht so vertraut sind –, dass dieErgebnisse von Wissenserwerb, Patente und Lizenzen,privilegiert besteuert werden . Das ist eine Geschichte,die Realität ist . Jetzt wird eines geändert – und zwar auf-grund der internationalen BEPS-Initiative; dabei geht esdarum, Steuervermeidung zu bekämpfen –, indem gesagtwird: Ihr könnt in Irland, in den Niederlanden und in denanderen Ländern, wo das so gemacht wird, Patente undLizenzen nur noch dann privilegiert besteuern, wenn dortauch geforscht wird . – Dies wird in vielen Gutachtennicht berücksichtigt . Man muss sich darüber unterhalten,was passiert, wenn ich weiß, dass ich in Irland auf dieErlöse, die ich aus einem Patent erziele, weniger Steuernzahle als in Deutschland, aber nur, wenn ich auch in Ir-land forsche . Das wird viel verändern, ob uns das gefälltoder nicht . Deswegen würde ich das mit den Patentboxennicht einfach so abtun, Frau Andreae . Wir müssen uns,glaube ich, sehr ernsthaft damit beschäftigen .
Letzter Punkt . Wir haben auch einen ordnungspoliti-schen Rahmen . Der ordnungspolitische Rahmen besagt,dass der Staat dafür verantwortlich ist, Infrastruktur be-reitzustellen, gut ausgebildete Menschen bereitzustel-len, die Rahmenbedingungen durch Rechtssicherheitund ein vernünftiges Steuersystem so zu schaffen, dasswirtschaftliches Handeln möglich ist . Dass man in ei-nen wirtschaftlichen Prozess hineingrätscht und dortdurch direkte Subventionen etwas tut, sollte eigentlichdie Ausnahme sein . Deswegen sollten wir uns an jederStelle sehr genau überlegen – auch aus ordnungspoliti-schem Grund –, wo wir als Staat in Wirtschaftsprozessedirekt intervenieren und wo wir es sein lassen . Wir alsUnion sagen: Es ist immer besser, den Ordnungsrahmenbereitzustellen . Es ist immer besser, dafür zu sorgen, dasswir gute Fachkräfte haben, dass die Abgabenlast nicht zuhoch wird, dass es nicht zu viel Bürokratie gibt und dasses ein Innovationsklima gibt, als direkt in irgendeiner Artund Weise einzusteigen .Das ist das Angebot, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen: Wenn Sie bereit sind, darüber nach-zudenken, wie wir die Steuerlast senken, wie wir dieBürokratie abbauen, wie wir die Zahl von Vorschriftensenken, wie wir mittelständischen Unternehmern helfen,ihrem Geschäft nachzugehen, dann haben wir eine guteDiskussionsgrundlage .In dem Sinne: Herzlichen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Dr . Petra Sitte, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Alle Jah-re wieder!“, möchte man fast ausrufen .
So wie Ostern als Auferstehungsfest über uns kommt,so feiern wir im Bundestag immer mal wieder in einerDebatte die Auferstehung der steuerlichen Forschungs-förderung, und zwar dank diverser Verbände, beispiels-weise des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, dietrotz der bisherigen Absage immer wieder Lobbyarbeitbetreiben, nur eben nicht für den Forschungsmittelstand,sondern vor allem für die großen Unternehmen . Diesmalhaben sich sogar die Bündnisgrünen die Mühe gemacht,einen Gesetzentwurf zu erarbeiten . Ich verstehe es, ehr-lich gesagt, nicht ganz . Denn eigentlich ist aus anderenDebatten längst klar, dass die Unionsfraktion es ebennicht nur wie Sie auf den Mittelstand begrenzen will,sondern dass es eben auch für die großen Unternehmengelten soll .
Dann kann es sein, dass Ihr guter Vorschlag oder Ihr gutgemeinter Vorschlag zu Ostern ein sehr faules Ei wird .
Bevor ich nun zum Gesetzentwurf selber etwas sage,will ich die Grundsatzfrage ansprechen: Erreicht dieseForm der Förderung überhaupt das, was Sie wollen? DerSteuerbonus auf FuE-Kosten soll quasi über einen staat-lichen Zuschuss private Investitionen anregen . Sehen wiruns die Erfahrungen im Ausland an . Das Deutsche In-stitut für Wirtschaftsforschung in Berlin hat verglichen,welche OECD-Länder in welcher Höhe Steuerzuschüssegewähren . Es hat dann auch gezeigt, wie sich nachfol-gend die Investitionen der Unternehmen in Forschungund Entwicklung gestaltet haben .Nun zu den Ergebnissen . Ich betrachte zunächst ein-mal die volkswirtschaftliche Ebene . Da gibt es keineeindeutigen Wirkungen . Ein hoher Steuerbonus bringtnicht automatisch Wachstum privater FuE-Investitionen .Ralph Brinkhaus
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In Ländern wie Österreich, Japan und Südkorea wird einhoher Anteil über Steuern gefördert und bewirkt privateInvestitionen . In Japan jedoch kann derzeit kein spür-bares Wachstum mehr nachgewiesen werden . AndereLänder wickeln ebenfalls einen sehr hohen Anteil ihrerForschungsförderung über Steuern ab . Dort aber stag-niert die FuE-Tätigkeit der Unternehmen auf niedrigemNiveau, oder sie sinkt sogar, beispielsweise in Kanada,Großbritannien oder Frankreich .Schließlich gibt es Länder, die keine steuerliche For-schungsförderung realisieren . Dennoch nehmen sieSpitzenplätze bei der FuE Intensität ein, beispielswei-se die Schweiz oder eben auch Deutschland und langeJahre auch Finnland und Schweden . Das Deutsche In-stitut für Wirtschaftsforschung zeigt nun, dass es ledig-lich ein Land – und damit eine Volkswirtschaft – gibt, indem eine deutliche Steigerung der Steuerzuschüsse eineebenso deutliche Steigerung der privaten Investitionen inInnovationen gebracht hat, nämlich Österreich, also eineinziges Land . Daraus folgt: In allen anderen Ländernlässt sich dieser Zusammenhang direkt nicht nachweisen .
Das sollten wir auf der Rechnung haben, wenn wir überSteuergeschenke in Milliardenhöhe reden .
Nun zu der zweiten Betrachtungsebene – das eben wardie volkswirtschaftliche Ebene; kommen wir jetzt zu denUnternehmen –: Untersucht man einzelne Unternehmennach Effekten von Steuerboni, zeigt sich: Ja, die Unter-nehmen investieren mehr, wenn es einen Steueranreizgibt . Aber sie bieten in etwa nur das auf, was der Staatgegenfinanziert. Das heißt also, wenn sie 1 Euro Steu-ererstattung erwarten können, dann investieren die Un-ternehmen etwa genau diesen 1 Euro in Forschung undEntwicklung . Das ist eine Förderquote von 100 Prozent .Gute Deals für die öffentliche Hand, meine Damen undHerren, müssen aus unserer Sicht anders aussehen .
Frau Kollegin, der Kollege Dr . Gambke, Bündnis 90/
Die Grünen, möchte eine Zwischenfrage stellen . Darf er
das?
Ich will versuchen, sie zu beantworten .
Bitte schön, Herr Dr . Gambke .
Frau Kollegin, es tut mir leid, dass ich noch eine
Zwischenfrage stellen muss . Aber ich muss sie stellen,
weil Sie eben gesagt haben: Es gibt in der Tat Untersu-
chungen, die belegen, dass jeder Forschungs-Euro, der
als Förderung bereitgestellt wird, die eigenen Aufwen-
dungen der Unternehmen reduziert . – Das aber ist leider
wenig untersucht worden . Es gibt eine Untersuchung –
sie wurde am ZEW in Mannheim durchgeführt –, die ge-
nau besagt, dass die kleinen und mittleren Unternehmen,
die gefördert werden, auf jeden Euro Förderung 30 Cent
drauflegen und die großen Unternehmen den 1 Euro, den
sie bekommen, in der Tat als Subvention ihrer eigenen
Forschungstätigkeit nehmen . Insofern: Es gibt diese Un-
tersuchung .
Ich weise noch einmal darauf hin – übrigens auch
mit Blick auf Ihre Bemerkungen zu Kanada und Frank-
reich –: Wir konzentrieren uns hier auf kleine und mittle-
re Unternehmen . Wenn Sie – so wie ich als Mittelstands-
beauftragter – dort unterwegs sind, werden Sie sehen,
dass die Förderung genau da ansetzen muss . Also noch
einmal: Es gibt die Untersuchung, die zeigt, dass die För-
derung gerade von kleinen und mittleren Unternehmen
angenommen wird .
Ja, so ist das mit Studien . Das ist bei den Forschungs-mittelständlern nicht durchgängig so . Dass es bei dengroßen Unternehmen so ist, wissen wir schon seit langerZeit . Aber Sie beziehen sich in Ihrem Gesetzentwurf jaausdrücklich auf kleine Forschungsmittelständler undkleinere Unternehmen .
Wir wissen doch ganz genau: Wenn wir hier im Hauseine solche Debatte führen, werden wir auch darüber re-den müssen, dass das nicht auf Mittelständler beschränktbleibt .
– Ja, Frau Andreae, Sie können ja dieser Meinung sein;auch ich kann dieser Meinung sein . Aber dann kam derRedner der Union daher und sagte: Nein, wir reden auchüber den anderen Teil der Volkswirtschaft .
– Sie hören es doch: „Richtig!“, sagt er .
– Ich lasse mir ja ungern von Ihnen recht geben, aber indiesem Falle ist es dann doch so .
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Also müssen wir tatsächlich über die Frage reden: Wosind diese Mitnahmeeffekte zu konstatieren?Drittens: zum Gesetzentwurf . Dieser Gesetzentwurfverlangt eben auch eine Antwort darauf, wo die steuer-liche Förderung eigentlich herkommen soll . Die Grünenrechnen in ihrem Gesetzentwurf bei kleinen und mittel-ständischen Unternehmen mit unter 250 Mitarbeitern mitSteuerausfällen von 770 Millionen Euro .
Das ist schon mal kein Pappenstiel .
Folgt man aber den Industrieverbänden, dann sollenja, wie gerade schon angesprochen, auch Großunterneh-men einbezogen werden . Das bedeutet nach den Berech-nungen, dass es sich um eine Größenordnung zwischen 4und 6 Milliarden Euro handelt . Das wiederum entsprichtder gesamten Innovationsförderung des Bildungs- undForschungsministeriums . Nun kann man sagen: Wenndas zusätzlich kommt, wäre das ja interessant . – Aberich glaube nicht, dass Herr Schäuble – gerade in dergegenwärtigen Situation – als „Mister Black Zero“ hiertatsächlich 4 bis 6 Milliarden Euro zusätzlich freimacht .
Damit gerät die Innovationsförderung über Projektein Gefahr, weil natürlich im Raum schwebt, dass danneventuell dort abgesenkt wird . Die Linke will das wederriskieren, noch – auch das will ich ganz klar sagen – wol-len wir die Lenkungswirkung, die mit der Projektförde-rung ermöglicht wird, aufgeben .
– Sie haben das bisherige System geschaffen, HerrLengsfeld, und das wollen Sie ja auch lenken;
ob wir da immer einer Meinung sind, ist eine ganz andereFrage .Angesichts dieser Kosten ist also nicht verwunderlich,dass der aktuelle Koalitionsvertrag die steuerliche For-schungsförderung diesmal überhaupt nicht enthält . Sieist zu teuer, und ihre Wirkung ist zu unsicher . Viele For-schungsmittelständler, die bisher Projektmittel bekom-men haben, befürchten zu Recht, dass dieses bewährteInstrument Federn lassen könnte . Der Verband Innovati-ver Unternehmen und die Zuse-Gemeinschaft als Stim-me des Forschungsmittelstandes verweisen ebenfalls aufden Erfolg bestehender Programme .Es heißt doch: Never change a winning team . – Miteinem Systemwechsel in der Förderung, der damit ein-hergehen würde,
oder auch nur mit einer Schwächung der erfolgreichenProjektförderung schießen wir uns doch hier selber insKnie . Die Linke will das auf keinen Fall .
– Nein, man muss proaktiv denken . Das wissen Sie doch,Herr Gehring .
Bei der Projektförderung fließt nicht nur Geld, sondernerfolgt auch eine hilfreiche Beratung; sie hilft bei Vernet-zungen . Daher ist es doch allemal besser, das bestehendeSystem weiterzuentwickeln und zu qualifizieren.Als Argument pro Steuerbonus wird immer wiederangeführt, das sei unkompliziert, das könne man relativschnell leisten . Umgekehrt wird der Vorwurf gemacht,die Projektförderung sei zu kompliziert . Der Steuerbonuswird mit der Steuerabrechnung ausgezahlt . Ich habe eshier schon einmal gesagt: Genau an diesem Punkt wer-den sich die kleinen und mittelständischen Unternehmenmit ihren Finanzämtern streiten, weil sie genau abgren-zen müssen, welche Mittel dafür vorgesehen sind .
Ich teile Ihren Ansatz ausdrücklich nicht, weil er sichnicht umsetzen lässt . Sie werden an dieser Stelle mit demFinanzministerium und mit den Finanzämtern keine Ei-nigkeit herstellen . Die wollen das penibel vorgerechnetund abgegrenzt haben . Wenn dann nach drei Jahren, indenen das Unternehmen den Steuerbonus bekommen hat,der Tiefenprüfer kommt und sagt, dass sich das nicht ge-nau abgrenzen lässt, dann hat es ein Problem, weil es denSteuerbonus zurückzahlen muss . Das funktioniert in derPraxis eben nicht . Damit geht das trotz guter Absicht denBach runter .Mit der steuerlichen Forschungsförderung – ich glau-be, das ist ein ganz wichtiges Argument – fließt das Geldim Übrigen erst im Nachhinein . Das heißt, die Unterneh-men wissen nicht genau, ob sie das Geld wirklich ein-rechnen können . Auch hier bleibt eine erhebliche Unsi-cherheit, und diese Unsicherheit wollen wir nicht .Außerdem müssen die Unternehmen in Vorleistunggehen . Worüber diskutieren wir denn gerade bei kleinenund mittelständischen Unternehmen? Ihre Eigenkapital-decke ist ziemlich dünn . Sie müssen in Vorleistung gehenDr. Petra Sitte
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und mit den Banken verhandeln . Eine Niedrigzinsphaseist nicht besonders günstig, um ein starker Geschäfts-partner für die Banken zu sein . Die Absicherung der Ri-siken können die kleinen Unternehmen meist nicht imgeforderten Maße sicherstellen . Das bedeutet, dass amEnde sowohl die Unternehmen als auch ihre Standortegeschwächt werden, und auch das wollen wir als Linkenicht .
Mittelständler werden im Übrigen nicht durch ei-nen Steuerbonus von 10 Prozent, 15 Prozent oder auch20 Prozent konditioniert . Wir brauchen vor allem Netz-werke mit Universitäten und Forschungseinrichtungen;das ist gerade gesagt worden . Daneben brauchen wir eineFörderung im Umfeld der Markteinführung . Hierfür gibtes viel zu wenige Ansätze . Darauf sollten wir uns stärkerkonzentrieren .Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatfolgendes Fazit gezogen – ich zitiere wörtlich –: „Steu-erliche Forschungsförderung ist ein stumpfes Schwert .“Lassen Sie uns also das bestehende System qualifizieren.Sozioökologische Perspektiven brauchen nämlich ver-lässliche Laufzeiten, eine verlässliche Finanzierung und,wie Herr Brinkhaus gesagt hat, selbstverständlich auchverlässliche Strukturen in den Rahmenbedingungen .Danke .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege Lothar
Binding für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Kerstin Andreae hatgerade gefragt, was wir, die SPD, jetzt machen werden,ob wir uns auf die Seite der CDU/CSU oder auf die Seiteder Linken schlagen .
– Ja, eben, wenn die Rede nicht ambivalent sein kann,dann ist sie multivalent . – Du hast aber auch gesagt: Wirbrauchen eine Förderung, die zur Dynamik der Wissens-mehrung unserer Gesellschaft passt .
Das ist ein guter Anspruch . Jetzt muss man überlegen,ob der gemachte Vorschlag hinreichend dafür ist oder obdamit nicht möglicherweise nur eine bürokratische Stan-dardforschung gefördert wird . Das kann man zumindestnicht ausschließen . Noch wichtiger aber ist – das wurdeschon erwähnt –, dass es sich dabei um eine Ex-post-För-derung handelte .
Eine Innovation, also eine Forschung im Kontext miterhöhten Risiken, die sich auf eine Ex-post-Förderunggründet, verbindet sozusagen Risiko und Kosten mit demMoment der Hoffnung . Das ist aber vielleicht noch etwaszu vage .Auch das, was Ralph Brinkhaus gesagt hat, ist, glaubeich, etwas zu vage .
Er hat gesagt, es werde schon genug Forschung und Ent-wicklung geben, wenn die Vermögen- und die Erbschaft-steuer abgeschafft würden, wenn überhaupt die Steuerngesenkt würden und es einen Bürokratieabbau gäbe . Ichglaube, es wäre ein bisschen schwierig, wenn wir es unsso einfach machen würden .Was den Ländervergleich angeht, hat Petra Sitte, wieich finde, sehr gut abgeleitet, wie gefährlich der ist. Manmuss schon immer die ganze Landschaft begreifen .
Es geht nicht, einen Parameter – Forschung und Ent-wicklung für kleine und mittlere Unternehmen in einembestimmten Land – zu nehmen und daraus Schlussfolge-rungen für das eigene Land zu ziehen . Ein solches Vor-gehen wäre naiv und könnte nicht funktionieren, weil wirdie Wirkung überhaupt nicht kennen .Im Grundsatz finden wir gut, was die Grünen sagen.Die bisherige Innovationsförderung im Bereich FuE er-reicht die KMUs nur unzureichend .
Das finden wir auch. Wir finden auch den technischenAnsatz gut: 15 Prozent aller FuE Ausgaben könntensteuerlich angerechnet werden . Das haben wir auch soin unserem Industrie 4 .0-Papier unter dem Stichwort„Tax Credit“ entwickelt. Weiterhin finden wir gut, denForschungsbonus zu begrenzen auf KMU Unternehmenmit nicht mehr als 249 Mitarbeitern und einem Umsatzvon höchstens 50 Millionen Euro – allerdings unter Aus-schluss der Doppelförderung . Sie sehen also, dass wirIhren Vorschlag a priori nicht schlecht finden. Er brauchtaber sicherlich noch eine Feinjustierung .
Auch Folgendes ist gut: Wenn die Kosten für FuE denEinkommensteueranteil überschreiten, verwandelt sichdie Steuergutschrift in einen echten Zuschuss . Das istschon der Weg, den man gehen muss, um kleinen undmittleren Unternehmen an dieser Stelle zu helfen .Natürlich hat der Vorschlag große Tücken . Er führtnämlich – das wurde schon gesagt – zu Mitnahmeef-fekten, weil er völlig unspezifisch ist. Wenn ich der Ge-schäftsführer eines kleinen oder mittleren Unternehmenswäre, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn ichnicht das, was ich sowieso schon tue, dann einfach alsFuE deklariere, womit es förderungswürdig wäre .Dr. Petra Sitte
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Auch wichtig ist: Speziell in Abgrenzung zur Projekt-förderung ist die Zielgenauigkeit der Regelungen in die-sem Vorschlag mit der einer Gießkanne zu vergleichen .Die Zielgenauigkeit ist der große Vorteil der Projektför-derung .
– Du hast doch schon zwei Zwischenfragen gestellt .Ralph Brinkhaus hat vorhin gesagt, dass es aber auchUnternehmen mit fünf Mitarbeitern gebe, die an der Pro-jektförderung teilnehmen . Ein solches Beispiel mag esgeben . Projektförderung kann aber, ehrlich gesagt, nichtunser systemischer Förderungsansatz für KMUs sein .
Da muss mehr passieren . Jeder, der schon einmal einenForschungsantrag gestellt hat, der ja mitunter in 500 Sei-ten dicken Bänden ausartet, weiß, dass hier eine Ergän-zung vonnöten ist . Wir wissen genau – das kann mannicht leugnen –: Kleine und mittlere Unternehmen schre-cken häufig vor bürokratischen Hindernissen zurück.
Große Unternehmen schultern – das muss man sagen –solche Anträge leicht . Ich habe viel mit SAP zu tun . Diekönnen, weil sie eine Abteilung dafür haben, solche An-träge exzellent stellen . Das sind also zwei Welten, dienicht miteinander zu vergleichen sind . Deshalb sind wirauch nicht a priori gegen einen solchen Gedanken . Wirsind aber noch nicht so weit, ihn in der Weise zu unter-stützen, dass wir Ja zu eurem Antrag sagen .
Wir haben, was die Koalition bzw . die Regierungangeht, auch Selbstkritik vorzutragen: Wir hatten einegute Gelegenheit für ein Gesetz zur Förderung von FuE;darauf haben wir verzichtet . Wir haben auch kein Ven-ture-Capital-Gesetz gemacht . Auch das wäre sehr gutgewesen . Ich habe da schon eine scharfe, aber abstrakteKritik im Kopf:
Fiskalische Ziele dominieren bei uns zu stark bestimmteZukunftsaufgaben .
Man kann durchaus feststellen, dass es in der Koalitiongroße Debatten darüber gibt . Wir sagen: Da kann manzukunftsorientiert sehr viel mehr machen, als wir gegen-wärtig in der Koalition leisten . Natürlich können jetztschon die Kosten für FuE als Betriebsausgaben abgesetztwerden. Aber das ist die unspezifischste Förderung, dieman sich vorstellen kann . Das ist zwar eine Hilfe, aberentbehrt jeder Zielgenauigkeit .Allerdings ist auch schon viel passiert . Ein Blick aufdie Förderlandschaft zeigt: Es gibt eine institutionelleFörderung, die Vorlaufforschung ermöglicht . Es gibt denPakt für Forschung und Innovation; das Stichwort „Ex-zellenzcluster“ ist schon erwähnt worden .
In diesem Zusammenhang sind auch die Hochschu-len und Universitäten, die Fraunhofer-Gesellschaft, dieMax-Planck-Institute, die Helmholtz-Gemeinschaft, dieWissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibnizsowie die DFG zu nennen . Es gibt schon eine sehr aus-gefeilte Landschaft, die Forschung in der von uns ge-wünschten Weise organisiert .Es ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, umauch unseren Koalitionspartner dazu zu bringen, die vonmir erwähnten Defizite gesetzgeberisch zu beheben. Dasist sicherlich eine schöne Aufgabe . Wir diskutieren sol-che Dinge auch sehr gern . Dabei ist unsere Hoffnung im-mer größer als die Befürchtung . Mit diesem ins Positivegewendeten Satz möchte ich das Thema heute beschlie-ßen .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege
Dr . Philipp Murmann, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist klar:Forschung und Entwicklung sind einer der Treiber fürunseren Wohlstand und einer der wesentlichen Treiberfür unsere volkswirtschaftliche Stärke der Zukunft . Ichdenke, zumindest darin sind wir uns alle einig .Leider – das ist in den heutigen Zeiten so – wird dasThema häufig von ganz anderen Debatten überlagert. Damuss ich den Grünen danken: Wir führen im Moment lei-der zu wenig Debatten über Forschung und Entwicklung .Insofern ist es schön, dass Sie das Thema auf die heutigeTagesordnung gesetzt haben .
Ich will ein weiteres Lob hinzufügen .
Sie haben sich mit diesem Antrag viel Mühe gemacht .
Lothar Binding
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Das könnte man als selbstverständlich hinnehmen . Aberneben einigen Schatten, über die ich gleich noch spreche,gibt es in diesem Antrag auch viel Licht .
Insofern ist es schön, dass wir uns heute darüber unter-halten .„Forschung und Entwicklung für Mittelständler“ istein Thema, über das wir lange diskutieren sollten undwozu ich das eine oder andere beitragen möchte . DasEFI-Gutachten, das uns jedes Jahr vorgelegt wird unddas wir immer intensiv diskutieren, zeigt uns auf, wie gutwir in vielen Bereichen sind . In dem Gutachten wird aberauch immer darauf hingewiesen, dass das Instrument dersteuerlichen Forschungsförderung darüber hinausgehenund uns noch besser machen könnte . Insofern lohnt essich, darüber zu diskutieren .Die Forschungsförderung ist ein sehr spezifisches In-strument . In der Zeit der Koalition mit der FDP stand die-ses Instrument sogar im Koalitionsvertrag . Das ist leidernicht zum Tragen gekommen . Einige von uns bedauerndas; ich gehöre dazu . Wir hatten uns damals auf einigeEckpunkte geeinigt, die allerdings deutlich von Ihren ab-weichen .
Wir hatten zwar auch das Modell einer Steuergutschriftgewählt, uns dabei aber auf die Personalkosten imFuE-Bereich konzentriert . 10 Prozent der Personalkos-ten als Bemessungsgrundlage sollten für eine Steuer-gutschrift herangezogen werden . Ich halte das für einensinnvolleren Ansatz, als Geschenke nach dem Gießkan-nenprinzip für alle Kosten zu verteilen, wie Sie das vor-schlagen, ganz abgesehen davon, dass die Bemessungdieser Kosten deutlich schwieriger ist als bei einer weite-ren Differenzierung .Dann geht es um die große Frage der Differenzierungzwischen kleinen und mittleren Unternehmen und großenUnternehmen . Wir haben uns damals für einen bestimm-ten Fördersatz für kleine und einen deutlich geringerenFördersatz für große Unternehmen entschieden . Ich den-ke, es ist durchaus sinnvoll, die mittleren und vielleichtauch die großen Unternehmen in die Betrachtung einzu-beziehen . Die Steuermindereinnahmen waren damals mit1,5 Milliarden Euro berechnet worden . Sie haben jetzteine Summe von 770 Millionen Euro errechnet . Ob dasso stimmt, lasse ich einmal dahingestellt . Aus meinerSicht kann das nicht plausibel sein . Sie beschränken zwardie Anzahl der Unternehmen . Aber dadurch, dass Sie dieSteuergutschrift auf 15 Prozent aller FuE-Ausgaben aus-weiten wollen, müsste die Summe eigentlich größer alsdie damals errechnete sein .In meiner Brust schlagen zwei Herzen . Das eine istdas des Unternehmers, der natürlich – das muss ich hiereinmal sagen – von der steuerlichen Forschungsförde-rung absolut begeistert ist .
Was würde sie zum Beispiel für uns Unternehmer bedeu-ten? Wir würden uns natürlich etwas weniger mit Anträ-gen beschäftigen, auch wenn ich sagen muss: Das, washier aufgezeigt wurde – Anträge mit 500 Seiten –, ist inder Regel bei mittelständischen Unternehmen nicht derFall . Das ist schon relativ schmal aufgezogen . Dennochmuss man sich mit einem solchen Antrag beschäftigenund ihn auch einreichen . Darüber vergeht Zeit, und dasist im Bereich von Forschung und Entwicklung nicht sogut; denn Zeit spielt eine wesentliche Rolle .
Was könnten speziell wir mit dieser Förderung ma-chen? Wenn wir von dem Modell ausgehen, das wir da-mals erarbeitet hatten, könnten wir wahrscheinlich vierzusätzliche Entwickler einstellen . Dann könnten wir ent-weder die Projekte beschleunigen, die schon vorhandensind – das trägt zur Wettbewerbsfähigkeit bei; dann istman ein bisschen früher am Markt und kann früher sei-nen Prototypen erstellen –, oder, was ich noch reizvol-ler finde, das Projekt, das sonst immer hintenrunterfällt,mit bearbeiten . Vielleicht generiert es später auch einenErtrag, an dem wir uns als Unternehmer erfreuen, aberan dem ich mich auch als Finanzpolitiker erfreuen kann,weil der Ertrag dann besteuert wird . Insofern würde ichsagen: Als Unternehmer habe ich viel Sympathie dafür .
Ich möchte noch kurz auf Ihre Spezifizierung von gro-ßen, mittleren und kleinen Unternehmen eingehen . Zuden kleinen und mittleren Unternehmen zählen Unter-nehmen, die nicht mehr als 249 Mitarbeiter haben . WennSie sich zum Beispiel mit dem VCI genauer beschäftigen,dann werden Sie feststellen, dass es eine ganze Mengemittlerer Unternehmen gibt, die um die 300 Mitarbeiterhaben . Deswegen ist diese Grenze – bis 249 Beschäftigtegeht es gerade noch; bei 300 geht es aber nicht mehr – fürmich nicht sinnvoll . Man muss sich schon ein bisschengenauer damit beschäftigen, was die Spezifizierung vonkleinen, mittleren und großen Unternehmen ist .Die Konzerne sind allerdings ein ganz anderes The-ma – das wissen wir alle –; sie stehen in einem Stand-ortwettbewerb . Bei ihnen geht es, wenn eine neue For-schungsabteilung aufgebaut wird, um die Frage, welcherStandort am besten ist . Dabei spielt auch der Steueras-pekt eine Rolle, wenn auch nicht die alleinige . Insofernmuss man auch das genau im Blick behalten .Ich befasse mich aber auch als Finanzpolitiker mitdem Thema . Einige Punkte sind schon genannt worden .Mitnahmeeffekte sind sicherlich nicht ganz auszuschlie-ßen . Gerade bei kleineren Unternehmen kann es durchaussein, dass dem einen oder anderen Steuerberater dann,wenn eine steuerliche Förderung eingeführt wird, auf-Dr. Philipp Murmann
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fällt: Eigentlich haben wir in unserem Unternehmen dochschon immer Forschung und Entwicklung betrieben, undwir haben dadurch auch eine ganze Menge Kosten . Dasist uns zwar in den letzten Jahren noch nicht aufgefallen;aber jetzt fangen wir damit an . – Solche Mitnahmeeffek-te sind, denke ich, sicherlich nicht ganz auszuschließen .Damit muss man sich beschäftigen .
– Ja, das muss man auch .Kommen wir einmal zu Projektbeispielen . Was habenwir denn heute? Ich glaube, dass die deutsche Projekt-förderung – darauf möchte ich abschließend kurz einge-hen – ein Erfolgsmodell in Deutschland ist, das unserenStandort stark macht .
Beispiele dafür gibt es viele, auch in meinem Wahlkreis .In der schönen Stadt Schwentinental, die Sie bestimmtalle kennen, gibt es ein Unternehmen, das sich auf dasErkennen von Verunreinigungen im Trinkwasser durchMikroplastik spezialisiert hat und eine Förderung be-kommt . In Neumünster gibt es ein kleines Unterneh-men, das faserverstärkte Bauteile herstellt und auch einesolche Förderung erhält . In meinem Wahlkreis werden1,8 Millionen Euro für die Projektförderung von elf Un-ternehmen aufgewandt, und zwar im Wesentlichen durchdas Programm KMU-innovativ . Das zeigt: Unsere För-derung kommt an .Das ZIM-Programm ist schon angesprochen worden .Es ist ein Zugpferd mit einer Superreputation internati-onal .
Ich denke, auch darüber muss man reden .Beim Programm KMU-innovativ ist es etwas anders .Damit werden verschiedene Technologiebereiche geför-dert . Die Frage ist immer, inwieweit man sich politischentscheidet, bestimmte Bereiche wie Biotechnologie,Medizintechnik, IKT, Ressourceneffizienz oder zivileSicherheit zu fördern, oder ob man eine gewisse Förde-rungsfreiheit vorzieht .Wir haben außerdem – auch das möchte ich nocherwähnen – die Arbeitsgemeinschaft industrieller For-schungsvereinigungen . Auch das ist ein Zugpferd, das esin anderen Ländern nicht gibt .
Da gibt es viele Kooperationen zwischen den Unterneh-men auch im Ausland mit Wissenschaftseinrichtungen,Universitäten und mit unseren Forschungseinrichtun-gen, und das alles in einer Art selbstbestimmter Überwa-chung . Die Mitglieder der AiF, selber Unternehmer, be-schäftigen sich mit der Frage, wie man dieses Instrumentsinnvoll entwickeln kann . Es ist wichtig – leider ist keinVertreter des Wirtschaftsministeriums mehr anwesend –,dass wir darauf achten, ausreichende Mittel im Haushaltfür diesen Bereich bereitzustellen; denn die Projekte sindhäufig vielfach überzeichnet.
Vorhin wurde kurz darüber diskutiert, ob wir einWagniskapitalgesetz hinbekommen . Ich befürworte einsolches Gesetz sehr . Aber, lieber Herr Binding, klar istauch: Bevor wir ein Wagniskapitalgesetz verabschieden,müssen wir die Verlustvorträge regeln . Hier gibt es leidernoch zwei Baustellen: Seit vielen Jahren verhandelt dasFinanzministerium mit der Europäischen Kommissionergebnislos . Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sindauch bei der SPD noch nicht alle überzeugt davon, dassdas Instrument des Verlustvortrags eine hohe Wirkungs-kraft entfaltet . – Ich würde mich jedenfalls wahnsinnigfreuen, wenn wir noch in dieser Legislaturperiode ein or-dentliches Wagniskapitalgesetz hinbekämen .Zum Schluss . Deutschland ist ein super Forschungs-und Entwicklungsstandort . Wir alle müssen natürlich da-ran arbeiten, dass es ständig besser wird . Jeder Vorschlagist hier willkommen . Wir sollten weiter darüber reden,wie wir das machen können . In anderthalb Jahren führenwir wieder Koalitionsverhandlungen . Vielleicht könnenwir uns dann einigen .
– Egal, mit wem wir hoffentlich dann die Koalitionsver-handlungen führen . – Schon in den letzten Koalitions-verhandlungen haben wir darüber intensiv diskutiert . Daswurde zum Schluss aber herausgenommen, weil es soviele andere gute Vorschläge gab, die umgesetzt werdenmussten .
Aber jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kol-
lege Murmann .
Das mache ich, Frau Präsidentin .
Ich wünsche uns allen, dass wir gemeinsam an dem
Thema „Forschung und Entwicklung“ arbeiten, dass wir
gemeinsam den Standort voranbringen und dass wir die
steuerliche Forschungsförderung immer im Blick haben .
Ich freue mich auf weitere Diskussionen über dieses The-
ma .
Vielen Dank .
Danke schön . – Jetzt hat der Kollege Kai Gehring,Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .Dr. Philipp Murmann
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als Forschungspolitiker möchte ich den Finanzpolitikernder Koalition noch einmal herleiten, warum wir heuteüberhaupt diese Initiative vorschlagen . Um als Wissen-sökonomie und Volkswirtschaft zukunftsfähig zu bleiben,müssen wir höhere Investitionen in Forschung und Ent-wicklung entfachen, und zwar sowohl mit staatlichen alsauch mit privaten Mitteln . Diese Bundesregierung musssich endlich unser Ziel zu eigen machen, 3,5 Prozent desBruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung zuinvestieren . Dafür ist es höchste Zeit!
Nur so rücken wir international endlich in die Gruppeder Innovationsspitzenreiterländer auf und stärken auchunser wirtschaftliches Fundament . Tragende Stützen die-ses Fundaments sind in unserem Land die kleinen undmittleren Unternehmen, die unsere Wirtschaft vielfältigund krisensicher machen und auch Jobmotoren sind .Dieses Fundament darf nicht instabil werden; denn dieKMU-Forschungstätigkeit lässt leider seit Jahren schlei-chend nach . Da brauchen wir dringend eine Trendwende!
Deswegen fordern wir als Grüne im Bundestag – ge-nauso wie Ihre regierungseigene ExpertenkommissionForschung und Innovation – seit Jahren, eine steuerlicheForschungsförderung für KMUs einzuführen . Früherdachten viele, dass die Union ein Mittelstandsversteherist .
Das war wohl einmal so . Heute legen wir als erste Frak-tion einen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag vor,aus dem hervorgeht, wie das konkret gehen kann .
Sie haben also eine innovative Opposition . Darübermüssten Sie sich als Koalition eigentlich freuen; dennmehrmals haben Union und SPD die steuerliche For-schungsförderung vor Wahlen versprochen, zu Regie-rungszeiten dann aber nicht angepackt . Im SPD-„Regie-rungsprogramm 2013–2017“ heißt es:Neben der Projektförderung wollen wir eine neueForm der steuerlichen Forschungsförderung etablie-ren, die kleinen und mittleren Unternehmen zugu-tekommt .Aha!
Im gemeinsamen Regierungsprogramm von CDU undCSU war noch umfassender formuliert:Den Anteil für Forschung und Entwicklung am BIPwollen wir weiter steigern . Dazu soll . . . eine steu-erliche Forschungsförderung gehören, die unterneh-merische Anstrengungen für neue Ideen und Tech-nologien unterstützt .Aha!
Wenn die einen viel und die anderen noch mehr fordern,sollte im Ergebnis doch mehr als nichts dabei heraus-kommen, liebe Koalition .
Dank Ihnen bleibt Deutschland neben Estland das letz-te EU-Land, das keine steuerliche Forschungsförderunghat . Das benachteiligt im Wettbewerb um die besten Ide-en und behindert Innovation . Dieses Hindernis wollenwir wegräumen!
Die Projektförderung bleibt .
Wenn Sie sagen, sie solle entbürokratisiert werden, dannmachen Sie es doch . Wir sind dabei . Immer wieder habenExperten betont, dass effektive Anreize für Innovationengerade für KMU nicht allein durch die klassischen För-derprogramme gesetzt werden können . Notwendig sindeben auch vernünftige steuerliche Rahmenbedingungen,die Innovationen fördern . Ob es das EFI-Gutachten inSerie war oder auch der Bericht der Fratzscher-Kommis-sion: Alle Ihre Expertinnen und Experten fordern Sie auf,eine gezielte steuerliche Forschungsförderung einzufüh-ren . Das können Sie doch nicht länger ignorieren!
Wir haben uns als Fraktion intensiv mit der Materieauseinandergesetzt, mit Praktikern, Finanz- und Steu-erexperten, mit Wissenschaft und Wirtschaft diskutiert .Wir sind überzeugt: Unser „KMU-Forschungsbonus“schließt eine klaffende Lücke in der deutschen Innovati-onsförderung . Unternehmen mit bis zu 249 Mitarbeiternkönnen ihn in Form einer Steuerermäßigung von 15 Pro-zent aller FuE-Ausgaben in Anspruch nehmen . Wir legenda übrigens die Definition der EU zugrunde. Mit diesemForschungsbonus können KMU noch stärker als bisherzum Katalysator für die sozialökologische Modernisie-rung unserer Wirtschaft werden .Für diese Unternehmen ist eine unbürokratischeFuE-Förderung mit klaren und einfachen Regeln wich-tig . Daher haben wir sorgfältig abgewogen, wie wir dieZielgenauigkeit gewährleisten und Mitnahmeeffekte desInstruments wirksam verhindern können . Wenn Sie vonder Union dies als Hauptargument aufbauen, dann lachenwirklich die Hühner . Schauen Sie sich Ihre Patentboxen-vorschläge an; die bergen sehr große Gestaltungsrisiken .Deshalb läuft Ihr Argument völlig ins Leere .
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Wenn ich mir die verbockte schwarz-gelbe Hotelsteu-er anschaue, dann muss ich sagen: Die ist um ein Vielfa-ches teurer .
– Die gibt es immer noch . Daran muss man die Leutemanchmal erinnern . – Das ist tatsächlich eine verbock-te und verfehlte Subvention . Wir wollen dagegen For-schungsinvestitionen fördern .
Wenn Sie meinen, bessere Vorschläge zu haben, dannlegen Sie diese doch vor . Jeder konstruktive Änderungs-antrag ist besser als das destruktive Zerreden unseresGesetzentwurfs . Wir legen Ihnen eine konkrete Ausge-staltung für dieses wichtige Innovationsinstrument alsZukunftsvorsorge vor – für mehr Ideen und Kreativität,für neue Produkte und Verfahren . Auf diese Weise sorgenwir für wirtschaftliche Erneuerung und Jobs mit Zukunft .
Deshalb folgen Sie doch endlich den Ratschlägen ausPraxis, Wissenschaft und zahlreichen Regierungskom-missionen, und setzen Sie Ihr eigenes Wahlprogrammum! Oder stimmen Sie einfach unserem Gesetzentwurfzu . Die Tüftler und die Daniel Düsentriebs der Republikund in den KMU werden es Ihnen danken .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Gabriele Katzmarek .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Deutschland braucht mehr Investitionenin Forschung und Entwicklung . Es ist klar: Wir habenda Nachholbedarf . Darüber brauchen wir uns in diesemHause nicht mehr zu streiten .Nach der Debatte heute – ich habe sie aufmerksamverfolgt – bin ich recht optimistisch, dass wir ein Stückvorankommen . Bis vor kurzem – das will ich sagen –haben noch die Stimmen in der Union überwogen, diegesagt haben, es gleiche dem Reiten eines toten Pferdes,wenn wir über steuerliche Forschungsförderung redeten .Das klang heute schon etwas anders, und das beruhigtmich .Ich will auch zu den lieben Kolleginnen und Kollegender Grünen etwas sagen . Ich bin der Auffassung, dass IhrAntrag ein bisschen zu kurz greift .
Die Zielrichtung ist doch ganz klar . Wir brauchen mehrInnovationen in Deutschland . Frau Andreae, auch Siehatten das Vergnügen, auf der Veranstaltung des VCIzu sein . Da wurde formuliert, dass es noch ein bisschenmehr geben müsse als die reine steuerliche Forschungs-förderung . Darauf will ich gern noch zu sprechen kom-men .Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, bein-haltet die steuerliche Forschungsförderung kleiner undmittelständischer Unternehmen . Das ist durchaus einrichtiger Ansatz . Ich bin aber in einem Punkt etwas skep-tisch: Die Grenze für den Erhalt der Förderung liegt bei249 Mitarbeitern . Das halte ich für fragwürdig; denn esgibt aus meiner Sicht durchaus mittelständische Unter-nehmen, die über 249 Mitarbeiter haben und die zu un-terstützen wichtig und notwendig wäre .Gleichzeitig bin ich der Auffassung, dass es keine pau-schale Steuerförderung geben kann . Ich will Ihnen auchsagen, warum ich dieser Auffassung bin . Ich will dasan einem Beispiel festmachen . Was würde eine solcheGrenze in der Praxis bedeuten? Ich glaube nicht, dass Sieein solches Ergebnis wollen . Geplant ist nicht, dass alleUnternehmen unabhängig von ihrer Größe eine steuerli-che Forschungsförderung in Anspruch nehmen können .Das hieße, dass ein Unternehmen, das im Bereich Kern-technik oder im Bereich Waffensysteme forscht – diesesBeispiel habe ich mir überlegt; der Gesetzentwurf ist da-rauf anwendbar –, ebenfalls steuerlich gefördert werdenkönnte, während ein Unternehmen, dessen Größe etwasoberhalb der von Ihnen gesetzten Grenze liegt, das aufdem Gebiet Alzheimer forscht und versucht, ein Medika-ment zu entwickeln, um diese Krankheit zu bekämpfen,keine steuerliche Forschungsförderung erhielte .Insofern bin ich der Auffassung: Wir müssen genauüberlegen, wie wir eine angemessene Forschungsförde-rung zustande bringen . Nochmals – Herr Gehring, Siehaben uns richtig zitiert –: Wir halten diese Förderungfür notwendig und wichtig; das ist keine Frage . Letzt-endlich kommt es aber darauf an, dass diese Förderungzielführend und nachhaltig ist .
Wir brauchen eine Förderung, die keine Mitnahmeef-fekte verursacht, die eine nachhaltige Verbesserung derForschungslandschaft zur Folge hat und natürlich auchseriös gegenfinanziert wird.Ich komme zum Schluss . Wir sind dafür . Ja, wir wer-den weiter auf den Finanzminister dahin gehend einwir-ken, dass er sich diesem Thema öffnet . Ich bin der Auf-fassung, da klemmt es . Es klemmt nicht bei einzelnenUnionspolitikern – Herr Riesenhuber, Sie schauen gera-de so –, die sinnigerweise erkannt haben, was zu tun ist,sondern beim Geld und der damit verbundenen ewigenDiskussion darüber . Wir müssen erstens darauf achten,das Richtige zu fördern, zweitens dafür Sorge tragen,dass es keine Mitnahmeeffekte gibt, und drittens – dasfehlt mir in der gesamten Debatte über Forschung undEntwicklung – auch darauf achten, dass andere Themen,die genauso wichtig sind, nicht aus dem Blickfeld ver-schwinden .Kai Gehring
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Das Thema Wagniskapital – es wurde schon kurz an-gesprochen – ist genauso wichtig . Das müssen wir dis-kutieren .
Diskutieren müssen wir aber auch das Thema Fachkräf-temangel . Wenn wir gemeinsam einen Pakt angehen, derdarauf hinwirkt, dass Innovation, Forschung und Ent-wicklung in diesem Lande weiter vorangetrieben wer-den, auch mit dem Bestandteil steuerliche Forschungs-förderung, dann – da bin ich mir sicher – sind wir aufdem richtigen Weg . Diesen Pakt anzugehen, dazu kannich nur alle Fraktionen auffordern; denn es ist dringenderforderlich .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt erhält der Kollege Dr . Philipp
Lengsfeld, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, ich habe zu Ihrem Gesetzentwurf als For-schungspolitiker zwei grundsätzliche Anmerkungen .Aber eine andere Bemerkung vorab . Dieser Gesetz-entwurf zielt – das ist in dieser Debatte an den Stichwor-ten „Forschung“, „Innovation“, „Mittelstand“ ganz deut-lich geworden – vor allem Richtung Union .
Ich nehme dies einmal als Kooperationsangebot, obwohlbis zur nächsten Bundestagswahl und zu den nächstenKoalitionsverhandlungen noch etwas Zeit ist .
Bis dato war diese Art von Anträgen eher eine Mascheder Linkspartei gegenüber der SPD; ich habe es hier oftgenug miterlebt .
Es ist schon ein gutes Gefühl, wenn Sie uns umwerben –das gebe ich zu –, aber es ist auch ein bisschen komisch .Leider, wie ich ausführen werde, ist es auch nicht so ori-ginell, wie Sie tun .Zum Inhalt . Ich bin der festen Überzeugung, dass einesteuerliche Forschungsförderung im Prinzip eine guteSache ist – so wie es in unserem Wahlprogramm steht .Aber man muss auch konstatieren, dass wir in der Ver-gangenheit und in dieser Legislatur eine andere Politikgemacht haben . Wir haben dies anlässlich des diesjäh-rigen EFI-Gutachtens an dieser Stelle schon diskutiert;es ist auch in der Debatte hier gesagt worden . Deutsch-land steht mit dieser Politik der aktuell rein direkten For-schungsförderung international sehr ansehnlich da . Dasist ein Fakt .
Ja, diesen Weg gehen in Europa nur zwei Staaten –auch das haben Sie erwähnt –: Deutschland und Estland .Aber schadet Estland der Verzicht auf steuerliche For-schungsförderung? Nein . Auch die Forschungslandschaftin Estland ist in keinem schlechten Zustand . Im Gegen-teil: Estland, eine ehemalige Sowjetrepublik, hat seitüber einem Jahrzehnt eine der höchsten FuE-Intensitätenaller osteuropäischen Staaten und ist einer der digitalenVorreiter Europas; das kann man hier auch ruhig einmalerwähnen .
Zurück zu unserer Situation . Wir sind eine Nation, diemit ihrem Geld umsichtig umgeht; zumindest steht dieUnion dafür .
Da wir Geld nur einmal ausgeben können, sollte unserjetziges Fördersystem in seinen Stärken geachtet werden .Dass Sie die Steuermindereinnahmen nicht unerwähntlassen, ehrt Sie . Aber Sie drücken sich um die Frage,woher wir die Mittel nehmen . Ein gewisser Umbau dermomentanen direkten Projektförderung – auch das ist er-wähnt worden – wäre sicherlich unumgänglich . Das soll-te gut überlegt sein . – Das ist mein erster Punkt .Trotzdem wiegen die Argumente für eine steuerlicheForschungsförderung als zweite Säule schwer . Steuer-liche Forschungsförderung – Sie von Bündnis 90/DieGrünen wissen vielleicht schon alles, aber Sie könnenmir ruhig zuhören – ist themenoffen, branchenoffen,breitenwirksam und generiert eine starke Hebelwirkung .Ich habe keine Angst davor. Ich finde das richtig: the-menoffen, branchenoffen, breitenwirksam und einestarke Hebelwirkung . – Um die sehr aufmerksamen Be-obachter von LobbyControl zu beruhigen: Ja, diese Ar-gumentation habe ich direkt aus einem Verbandspapiervon BDI/BDA .Diese Argumente klingen nicht nur überzeugend; ichhalte sie auch für vollkommen richtig . BDI/BDA verwei-sen auf Studien – auch das ist hier erwähnt worden –,Gabriele Katzmarek
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die belegen, dass zu jedem Euro Förderung mindestens1 Euro an zusätzlichen FuE-Ausgaben eingesetzt wird .
Das deckt sich übrigens auch mit meinen eigenen Erfah-rungen im Bereich Forschung und Entwicklung, wo bei-leibe nicht alles nur nach reiner Notwendigkeit gemachtwird oder gemacht werden kann . Ich habe deshalb vorMitnahmeeffekten auch nicht so große Sorgen wie an-dere .Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen, Ihr Antrag greift zu kurz – zu kurz! –;
denn Sie bleiben auf halber Strecke stehen . Frau Sittewill ich erwähnen; sie ist, glaube ich, nicht mehr hier .
Wenn sie noch hier wäre, dann könnte sie sich freuen;denn sie hat es schon angekündigt: Wenn wir nach dernächsten Wahl tatsächlich eine steuerliche Forschungs-förderung einführen, warum sollten wir sie auf KMUs,auf kleine und mittlere Unternehmen, beschränken? Wa-rum?
Weil die Forschungsförderung von KMUs der Kompro-miss der Großen Koalition ist? Da sage ich ganz deutlich:Nein .
Wenn dieses Instrument eingeführt wird – ich bin imPrinzip dafür –, dann richtig, dann für alle!Übrigens – das müssen Sie sich dann schon anhö-ren, Frau Andreae –: Eine steuerliche FuE-Förderungausschließlich für KMUs findet sich in keinem anderenLand, übrigens aus guten Gründen . Das können Sie ineinem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste nach-lesen . Vielleicht haben Sie es selber in Auftrag gegeben;wenn nicht, sage ich es Ihnen: WD 4 – 3000 – 059/15 .Darin wurde herausgearbeitet, dass es in keinem einzigenLand eine ausschließliche steuerliche Forschungsförde-rung von KMUs gibt . Das heißt: Was Sie hier vorschla-gen, ist eigentlich wieder eine deutsche Sonderpositionin Europa .
Darüber sollten Sie einmal nachdenken . Sie würde amGrundgedanken vorbeiführen, Standortanreize zu schaf-fen oder Standortnachteile einzudämmen, und könnte imZweifel sogar kontraproduktiv sein . Das muss man sicheinfach einmal überlegen .
Wenn zum Beispiel eine größere Firma ein kleines in-novatives deutsches Unternehmen stützen will – das sollja gelegentlich vorkommen; auch in Sachsen-Anhalt –,dann hätten wir große Probleme, wenn wir diese Unter-scheidung einführen .
Wir brauchen eine steuerliche Forschungsförderung ohnezusätzliche Bürokratie und ohne willkürliche Grenzen .
– Haben Sie einmal in einer großen Firma gearbeitet,Frau Andreae? Ich habe es . Ist es ein schlechterer Ar-beitsplatz als in einem mittelständischen Unternehmen?Ich glaube nicht .
Ich finde, Sie machen es sich sehr leicht, wenn Sie for-dern, dass wir die großen Arbeitgeber in diesem Landeinfach zur Seite lassen . Ich glaube, da machen Sie essich ziemlich leicht .
Aber ich sage Ihnen auch – das ist Ihnen natürlich klar –:Wenn wir es so machen, dann kostet es sehr viel mehrGeld, als Sie prognostiziert haben .
Die zwangsläufige Konsequenz wäre – ich sage es nocheinmal –,
dass es zu Verschiebungen in unserer Förderpolitik käme;das muss uns klar sein . Das wäre zu bedenken .
Lassen Sie uns noch einmal im Detail darauf schauen,weil Sie ja offensichtlich von dieser Unterscheidung„KMU und große Arbeitgeber“ so tief überzeugt sind .Ich sage Ihnen ganz deutlich: Gute und schlechte For-schung hängt ganz sicher nicht von der Unternehmens-Dr. Philipp Lengsfeld
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größe ab . Das haben Sie zwar nicht behauptet; aber dassteckt mit in dieser Logik .
Herr Kollege Lengsfeld, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Andreae?
Ich freue mich .
Bitte schön .
Frau Lemke, Sie können es mir noch mehr versüßen,
indem Sie mir noch eine weitere Frage stellen .
– Dann eben nicht . Dann belasse ich es bei Frau Andreae .
Wissen Sie, Herr Lengsfeld, Sie haben ja recht, dass
die steuerliche Forschungsförderung für alle Unterneh-
men deutlich teurer werden würde, nämlich um ungefähr
4 Milliarden Euro . Wenn wir beobachten, dass unsere
Forschungsförderung konzernlastig ist und dass bei der
Projektförderung – das finden Sie in sämtlichen Studien;
sogar beim DIW – vor allem die großen Unternehmen
zum Zuge kommen, dann stelle ich mir als Wirtschafts-
politikerin die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, ein In-
strument zu konzipieren, das den kleinen und den mittle-
ren Unternehmen zur Verfügung steht . Ich gehe nämlich
sorgsam mit Steuergeldern um . Ich möchte nicht, dass
wir 4 Milliarden Euro für eine steuerliche Forschungsför-
derung in die Hand nehmen und sie allen zugutekommen
lassen . Ich möchte, dass wir uns auf die Unternehmen
konzentrieren, bei denen wirklich Bedarf ist, bei denen
die Mittel wirklich effizient eingesetzt werden. Das sind
die KMUs .
Erzählen Sie mir nicht, dass wir jetzt zwischen einem
guten und einem schlechten Arbeitsplatz unterscheiden .
Das ist ziemlicher Kokolores . Gehen Sie stattdessen ein-
mal auf die Frage ein, warum Sie nicht in der Lage sind,
zu sehen, dass wir eine konzernlastige Forschungsförde-
rung haben und dass wir im Mittelstand viel Potenzial
haben, das wir heben könnten, und dass wir den Gesetz-
entwurf deswegen so konzipiert haben .
Frau Kollegin Andreae, vielen Dank für die Frage . ImPrinzip beantworte ich sie gleich in meinem folgendenRedetext, aber ich sage es auch direkt . Ich habe in einemvon den Großunternehmen gearbeitet, in einem von de-nen, die von Ihnen, ich will nicht sagen: schlechtgeredet,aber irgendwie so ein bisschen separiert betrachtet wur-den . Ist Ihnen eigentlich klar, Frau Kollegin, dass auchin Großunternehmen Substrukturen vorhanden sind, dassbestimmte Produktbereiche sehr klein sind und fast totalautonom gemanagt werden, dass da auch geforscht wird?
Können Sie sich diese Situation vorstellen? Übrigens istdas eine ziemlich reguläre Geschichte nach Übernahmen .Wenn man eine kleine Firma kauft, behält man die Markebei, hat eine große Dachmarke darüber; aber gemanagtwird das Ganze wie ein kleines und mittleres Unterneh-men .Dann erzählen Sie mal den Forschern in diesem Pro-duktbereich, dass sie keine Forschungsförderung krie-gen, während eine ganz ähnlich strukturierte Firma, zuder sie in direkter Konkurrenz stehen, ein echtes KMU,Ihre Spezialförderung genießen darf . Da sage ich: Ich binnicht dafür . Ich bin dafür, dass dieses Instrument, wennwir es einführen, allen zugutekommt . Natürlich könnenwir eine Ausdifferenzierung vornehmen, aber der Grund-satz ist – das sagt übrigens auch die EFI –, dass wir die-se zweite Säule für alle einführen . Die Einführung einersteuerlichen FuE-Förderung hält die EFI für dringend er-forderlich; das ist von Ihnen zitiert worden . Dann kommteine Einschränkung, die ich aber übrigens als rein tak-tisch sehe:
Wenn Budgetrestriktionen im Bundeshaushalt nureine begrenzte steuerliche Förderung ermöglichen,sollte sie zunächst vornehmlich für KMU eingeführtwerden .
Das steht in dem EFI-Gutachten .Ganz ehrlich: Da haben sich die Wissenschaftler ein-fach die reale Situation in dieser Legislaturperiode unddie politische Diskussion angeschaut und gesagt: Wennwir schon nicht durchsetzen können, dass es richtig ge-macht wird, dann wird wenigstens über die KMUs derFuß in die Tür gesetzt . – Ich sage: Nein; wenn, dann soll-ten wir es richtig machen .Zusammengefasst – meine Redezeit ist noch nichtganz abgelaufen, aber fast vorbei –: Wir haben eine star-ke Forschungsförderung – auch ohne die zweite Säuleder steuerlichen Entlastung . Aber wenn wir die zweiteSäule einführen – darüber können wir reden; ich bin da-für –, dann sollten wir es richtig machen und sie für alleUnternehmen, die Innovationen in diesem Land leisten,Dr. Philipp Lengsfeld
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die Arbeitsplätze schaffen und uns voranbringen, einfüh-ren .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank .
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Daniela De
Ridder, SPD-Fraktion .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Rängen und viel-leicht auch an den Bildschirmen! Ich freue mich sehr,dass ich nach Philipp Lengsfeld reden kann .
Denn angesichts der Wahlergebnisse vom letzten Wo-chenende habe ich mir vorgenommen, alle Anträge, zudenen ich hier reden kann, wohlwollend zu prüfen, soauch den heutigen . Ich weiß nicht, ob in der kommen-den Legislaturperiode die demokratische Kultur noch diegleiche sein wird . Deshalb möchte ich mir die Freiheitherausnehmen, das in der Tat sehr positiv anzugehen .
Deshalb, liebe Frau Andreae, lieber Herr Gehring: IhrGesetzentwurf findet mein großes Interesse – so viel darfich an dieser Stelle schon einmal sagen . Sie können michdurchaus für die KMUs erwärmen . Ich war zwar etwasüberrascht, dass Sie – aber ich lerne gerne täglich dazu –auch schon so lange ein Herz für die KMUs haben . Ichhabe Ihrem Gesetzesvorhaben auch entnommen, dass Siesich auf das EFI-Gutachten stützen . – So weit, so gut .Sie haben völlig recht: Es geht darum, das Innovati-onspotenzial unserer KMUs und ihre Forschungs- undEntwicklungsvorhaben zu stärken und zu stützen . Wennman sich anschaut, was Sie gesetzlich verändern wollen,dann stellt man fest, dass es einige blinde Flecken gibt .Ich will nicht alle erwähnen; denn meine Redezeit istkurz . Lassen Sie mich mich deshalb auf einige wenigePunkte konzentrieren .Das aktuelle EFI-Gutachten besagt mit Blick auf For-schungs- und Entwicklungsvorhaben, dass der Fachkräf-temangel das Haupthemmnis für Innovationsentwicklungbei den KMUs ist . Sie werden das gleiche EFI-Gutachtengelesen haben wie ich,
deshalb werden Sie auch die gleichen Zahlen gelesen ha-ben. Wenn Sie einmal genau hinschauen, dann finden Sieim EFI-Gutachten den Hinweis, dass in 2006 16 Prozentder befragten Unternehmen angaben, dass vor allem derFachkräftemangel ein riesiges Problem darstellt .
Deshalb müssen wir uns auch fragen, liebe FrauAndreae, ob Sie für das, was Sie jetzt vorhaben, das rich-tige Instrument verwenden,
ob es zur richtigen Zeit kommt, ob es auf den richtigenGrundlagen basiert und ob Sie von der richtigen Analyseausgehen .
Wenn Sie sich die weitere Tendenz anschauen, wer-den Sie sehen, dass in 2014 der Wert noch deutlich höherausfiel: 33 Prozent der Unternehmen haben gesagt, amdringlichsten bräuchten sie Fachkräfte . Wie gesagt, wennSie ein Herz für die KMUs haben, dann werden Sie fest-stellen, dass es darum geht, Fachkräfte zu sichern .
Richtig . Sie müssen auch die Personalstrukturen berück-sichtigen und mitdenken . Insofern bleibt Ihr Gesetz-entwurf unterkomplex, wenn es darum geht, KMUs zustärken . Wenn diese Regelungen dann auch noch Geset-zeskraft bekommen sollen, ist es umso wichtiger, dass sienicht unterkomplex bleiben .Also schauen Sie sich noch einmal genau an, ob Siemit den richtigen Instrumenten arbeiten, und lassen Sieuns darüber im Dialog bleiben . Ich glaube, das ist einganz gewichtiger Punkt .Etwas aber – das hat mich an dieser Stelle wirklichgeärgert – blenden Sie völlig aus: Sie reden die ganzeZeit – lassen Sie mich das als Forschungspolitikerinsagen – von der Grundlagenforschung . Sie haben unsvorhin aufgefordert, wir sollten einmal mit den KMUsreden . Das tun wir laufend . Ich möchte Sie bitten – nut-zen Sie dazu ruhig einmal die Osterpause –: Reden Sieeinmal mit den Fachhochschulen; denn die finden bei Ih-nen keinerlei Erwähnung, als ob sie keine forschendenInstitutionen seien .
Wenn es darum geht – Frau Andreae, schauen Sie sicheinmal genau an, mit wem die KMUs kooperieren –,wirklich Innovationspotenzial zu befördern, so würde ichDr. Philipp Lengsfeld
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mich riesig freuen, wenn Sie das in den Blick nehmen . Esgeht nicht nur darum, hier einen Diskurs zu führen, wasSie finanzpolitisch tun wollen. Sie müssen auch von dentatsächlichen Problemen ausgehen . Da bleiben Sie hinterden Möglichkeiten zurück, die wir entwickeln wollen .
Jetzt können Sie kommen und sagen: Sie haben diePositionspapiere der SPD gelesen . Sie haben die seitensder Union gelesen . Sie wollen sich das noch einmal ge-nau ansehen . – Aber angesichts der Tatsache, dass Sie770 Millionen Euro per annum ausgeben wollen, ist esdurchaus keine Kleinigkeit, zu fragen, ob das zur rich-tigen Zeit kommt . Lassen Sie uns lieber noch einmal inden Diskurs eintreten . Ich will nicht sagen „Zurück aufLos!“, aber ich will Ihnen sagen: First steps first. Daswill ich Ihnen mit auf den Weg geben . Wie gesagt – wirreden noch darüber –: Machen Sie bitte Ihre Hausaufga-ben richtig! Schauen Sie sich die Analyse ganz genau an!Dann wird das vielleicht auch etwas .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
der Kollege Professor Dr . Heinz Riesenhuber das Wort .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Ich bedan-ke mich erst einmal bei den Grünen für diese muntereDebatte . Es gab vielfältige Anregungen, facettenreicheProblembetrachtungen, wichtige Eckpunkte .
Wir befinden uns hier in einem ziemlich langfristigenProzess . Auch Sie haben dieses Thema nicht erst heuteentdeckt; denn Sie haben schon 2009 einen Antrag zudem Thema gestellt, zu dem wir heute Ihren Gesetzent-wurf beraten .Frau Sitte hat darüber gesprochen, dass der BDI eineerfolgreiche Lobbyarbeit betrieben hat . Der historischenWahrheit zuliebe muss ich Ihnen sagen: Ich habe in den90er-Jahren eine mühsame Lobbyarbeit beim BDI ge-macht, bis er zur Einsicht, zur Vernunft gekommen istund dieses zukunftsweisende Konzept in seinen Bestandgenommen hat .
Wie ist die Lage? Wir haben eine vorzügliche, aus-differenzierte Forschungspolitik, wahrscheinlich eine derreifsten auf der ganzen Welt: Grundlagenforschung mitsicherem Rahmen, Max-Planck-Institute, Universitäten,Leibnitz und Helmholtz, stetige Wachstumsraten, ver-lässliche Planbarkeit . Wir haben eine Forschung zur Pro-blemlösung in der Praxis, in der Wirtschaft, in Umwelt,in Technik, eine Hightech-Strategie . Wir haben eine gro-ße Vielfalt von Forschungsinstitutionen und die industri-elle Gemeinschaftsforschung . Das hat Philipp Murmannangesprochen . Wir haben die Fraunhofer Gesellschaft .Wir haben also eine vorzügliche Forschungslandschaft .Für die Forschungsförderung gibt der Bund im Jahr15 Milliarden Euro aus . Wir haben diesen Betrag in denvergangenen Jahren gewaltig gesteigert, insgesamt um65 Prozent, beim Mittelstand um 80 Prozent . – Okay .
Jetzt reden wir über 5 Prozent dieser Summe – nurum die Proportionen zu zeigen – für die steuerliche For-schungsförderung . Dabei geht es nicht um einen Para-digmenwechsel, sondern um die Frage, ob etwas in einerGesamtstrategie einer reifen Industrienation zusätzlichsinnvoll sein kann .
Dazu haben wir einige Argumente von der Exper-tenkommission für Forschung und Innovation, künftigsage ich nur: EFI . Sie sagt: Wir haben eine Abnahme derInnovationsdynamik unseres Mittelstands . Und sie sagtweiter: Die Innovationsausgaben des Mittelstandes lagenvor 20 Jahren bei 2,7 Prozent, jetzt sind es 1,6 Prozentvom Umsatz .
Das ist schlecht . So etwas wirkt sich nicht über Nachtaus . Ich bin glücklich, dass sich die mittelständischenUnternehmen nach wie vor an den Weltmärkten primaschlagen . Fast die Hälfte der Hidden Champions auf denWeltmärkten sind deutsche Mittelständler .
Das heißt, wir sind stark . Aber wir müssen schauen, wiewir so stark bleiben .
Es ist zu Recht gesagt worden, dass unsere schönenInstrumente, vom ZIM bis zur direkten Projektförderungüber verschiedene Programme, auch des BMBF, für vie-le Mittelständler nicht so recht zugänglich sind . Da istdie steuerliche Forschungsförderung eine mögliche Ant-wort –
aber nicht als Alternative . Die Projektförderung soll aufjeden Fall weitergeführt werden, auch die Programme,die wir jetzt in unterschiedlichen Kontexten haben, vonder Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereini-gungen mit ihrer IGF über das ZIM bis hin zu den Ein-zelprojekten . Aber jetzt haben wir die Chance auf etwasZusätzliches .Dr. Daniela De Ridder
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 162 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . März 2016 15993
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Bei der Frage, wie das auszugestalten ist, könnenwir uns über einige Punkte streiten und einigen . PhilippMurmann sagt zu Recht, dass wir schon vor sechs Jahrendie Position ausformuliert haben, dass die Personalkos-ten bei der steuerlichen Forschungsförderung als Bemes-sungsgrundlage dienen sollten . Wir haben eine Reihe vongemeinsamen Punkten, auch was die Verlustzeiten beijungen Unternehmen angeht . Wir können uns bei allenPunkten einigen .Frau Katzmarek sagt zu Recht: Es hängt hier natür-lich auch am Geld . – Beim Geld sieht die Sache so aus,Freunde: Natürlich haben wir zurzeit, in diesem Jahr, dasGeld nicht . Da glaube ich den Finanzpolitikern mit ihrerordnungspolitischen Leidenschaft in großer Demut .
Aber die Frage, wie wir die nächste Strategie anlegen, istschon interessant .
Es ist eine wichtige Frage, ob alle demokratischen Partei-en die steuerliche Forschungsförderung in ihre Wahlpro-gramme aufnehmen .
Wer dann mit uns koaliert, weiß ich noch nicht, aber zueiner Einigung in der Sache zu kommen, wird dann er-heblich erleichtert .
Das heißt, wenn wir hier Geld bereitstellen wollen, dannmüssen wir das zu Beginn der Legislaturperiode gemein-sam festlegen .Wie sieht es da aus? Die EFI empfiehlt, bis 2020 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung undEntwicklung zu investieren . Frau Wanka sagt: Der Anteilmuss stetig weiter wachsen .
Herr Vizekanzler Gabriel sagt: Es sollen 4,5 Prozent desBIP im Jahr 2025 sein, wie bei Südkorea . Das sind schonanspruchsvolle Zahlen . Und manche sagen: Oh Gott, dasfassen wir gar nicht an .Jetzt machen wir uns einmal klar: 2007 waren wir bei2,45 Prozent; jetzt, nach acht Jahren, sind wir fast bei 3Prozent des BIP .
Wir haben also den Anteil der Forschungsausgaben amBruttosozialprodukt seit 2007 um gut 0,5 Prozentpunk-te gesteigert . Dabei hat allein der Bund seine jährlichenForschungsausgaben um 6 Milliarden Euro gegenüber2007 gesteigert . Weiter dieses Tempo zu halten, wird fürdie Zukunft Deutschlands wichtig sein . Das, worüber wirjetzt sprechen, entspricht einem Anteil von 10 Prozent der jährlich 6 Milliarden Euro . Freunde, killen wir nichtdie Sache von vornherein mit Trivialargumenten, son-dern schauen wir, wie die ganze Geschichte in eine Ge-samtstrategie eingepasst werden kann! Ich wiederhole:Es geht hier nicht darum, jetzt einen Paradigmenwechseldurchzuziehen .Die anderen Länder interessieren mich insofern, alsdort die Modelle zur Ausgestaltung der steuerlichen For-schungsförderung durchaus optimiert worden sind . Alles,was andere erfunden haben, brauchen wir uns nicht selbstauszudenken . Auch in der Forschung ist es wichtig, soviel zu kopieren, wie man kann . Nur dann bekommt manden Kopf frei für die Innovationen .Was insgesamt bleibt, ist eine Gesamtstrategie, bei derwir ein zusätzliches Element hinzugewinnen . Da vertraueich auf die Weisheit der Finanzpolitiker . Da vertraue ichauf die Klugheit der Haushaltspolitiker .
Wir denken nicht nur daran, wo man überall sparenkann – Sparen kann teuer sein –,
sondern wir denken darüber nach, wie wir eine Zukunftfür Deutschland aufbauen,
und arbeiten alle mit fröhlicher Zuversicht daran . Wirfreuen uns, wenn die Mittelständler glücklich sind; denndann arbeiten sie gut . Und wenn sie gut arbeiten, dannzahlen sie Steuern . Und wenn sie Steuern zahlen, dannfreuen sich die Finanzpolitiker . So sind alle glücklich,wenn wir die richtigen Instrumente ansetzen .
In diesem fröhlichen Geist voll Tatkraft und Unterneh-mensgeist, der diesem Parlament sprichwörtlich zu eigenist, wollen wir jetzt einmal schauen, dass wir diese Sacheso gestalten, dass sie der Zukunft unseres Landes dien-lich ist, und dass die, die die Arbeit zu machen haben,Freude daran haben, denn davon leben wir alle .
Vielen Dank . – Der letzte Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war schoneine sehr interessante Debatte mit einigen Nuancen undguten Argumenten . Das haben die Grünen mit dem Ge-setzentwurf schon einmal erreicht .Dr. Heinz Riesenhuber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 162 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 18 . März 201615994
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Lassen Sie mich zum Abschluss einige grundsätzlicheÜberlegungen aus meiner Sicht hinzufügen . Die Debattehat es gezeigt: Wir sind uns alle einig, dass Forschungund Entwicklung von zentraler Bedeutung für die Ge-sellschaft insgesamt und für die Wirtschaft im Beson-deren sind . Dem tragen wir engagiert Rechnung . DieseKoalition steigert die Ausgaben für Bildung und Wissen-schaft massiv . Wir machen das in guter Kontinuität . Rot-Grün unter Gerhard Schröder hat damit begonnen, einenSchwerpunkt auf Bildung, Wissenschaft und Forschungzu legen, und die folgenden Koalitionen haben dies fort-geführt und noch gesteigert . Heute geben wir allein fürForschung und Entwicklung fast 15 Milliarden Euro ausdem Bundeshaushalt aus .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darin sinddie Ausgaben für Bildung, etwa für den Hochschulpaktoder für das BAföG, noch gar nicht eingerechnet . Nochnie wurde so viel für die Forschung getan wie von dieserKoalition .
Immer wieder wird über die Gründe dafür diskutiert,dass Deutschland wirtschaftlich so stark ist, und darü-ber, wie es sich seit den 90er Jahren von dem – wie esdamals hieß – kranken Mann Europas zur Zugmaschineentwickelt hat . Ich bin der festen Überzeugung: Ohne diemassive Unterstützung von Wissenschaft und Forschungund ohne die verlässlichen Steigerungen dieser Unter-stützung in jedem Jahr stünde Deutschland heute nicht sostark da . Für meinen Geschmack wird in der Öffentlich-keit und auch im politischen Raum ein bisschen zu wenigüber diesen Zusammenhang gesprochen .Wir ruhen uns keineswegs darauf aus . Die Entwick-lung geht weiter . Auch die internationale Konkurrenzweiß um die Bedeutung von Wissenschaft und For-schung, und natürlich schauen wir auch und gerade da-rauf, was die kleinen und mittleren Unternehmen tun .Es gibt in der Tat Meldungen, die Sorge machen . LautZEW Studie nimmt der Anteil der kleinen und mittlerenUnternehmen an den privaten Ausgaben für Forschungund Entwicklung ab, und das Gutachten der Experten-kommission Forschung und Innovation, EFI, das hiermehrfach angesprochen wurde, stuft die FuE Ausgabender deutschen KMUs als im internationalen Vergleich zugering ein . Das ist nicht gut, denn die Unternehmen dür-fen nicht abgehängt werden .
Der Vorschlag vom Bündnis 90/Die Grünen zur Ein-richtung einer steuerlichen Forschungsförderung fürKMUs ist darum durchaus diskutabel .
Als Mitglied des Haushaltsausschusses schaue ich aberganz besonders darauf, dass die Steuermittel auch opti-mal eingesetzt werden,
schließlich geht es hier prognostiziert um 770 MillionenEuro, aus denen schnell 1 Milliarde Euro werden können .Lieber Kollege Riesenhuber, das ist nicht wirklich we-nig . Bevor wir diese Mittel verplanen, sollten wir nocheinmal genauer auf das schauen, was wir schon machenund im Bundeshaushalt verankert haben: Im Haushaltdes Bundesministeriums für Bildung und Forschung ste-hen für die Förderung von KMUs Mittel in Höhe vonmehr als 200 Millionen Euro zur Verfügung, und wirwollen die Hilfen weiter verbessern und die Mittel aufüber 300 Millionen Euro jährlich aufstocken .
Das Wirtschaftsministerium hat ebenfalls verschiede-ne Förderprogramme, das ist angesprochen worden . Her-vorzuheben ist das ZIM, Zentrales InnovationsprogrammMittelstand, mit über 500 Millionen Euro im Jahr .
Wenn wir alle Programme zusammenrechnen, kom-men wir auf rund 1 Milliarde Euro an jährlicher gezielterFörderung von Forschung und Entwicklung der kleinenund mittleren Unternehmen . Das ist nicht wenig, meinesehr verehrten Damen und Herren .
Nun hält aber – das müssen wir ernst nehmen – dieerwähnte Expertenkommission Forschung und Innovati-on fest, dass in Deutschland diese direkte Forschungs-förderung der KMUs vergleichsweise hoch ist, dass aberdie indirekte Förderung, also die steuerliche Förderung,fehle . Allerdings ist die Wissenschaft hier durchaus ge-spalten .Es ist angesprochen worden: In einer Studie des Deut-schen Instituts für Wirtschaftsforschung, DIW, wurdefestgestellt, dass die steuerliche Förderung nicht die ge-wünschten Effekte hat .
Ich zitiere aus der Studie:Die hier vorgestellten Ergebnisse lassen daran zwei-feln, dass … gestiegene Förderquoten, die oft miteiner Ausweitung der breiten steuerliche Förderungeinhergingen, einen wirkungsvollen Beitrag zur Er-höhung der FuE in den Unternehmen geleistet ha-ben .Swen Schulz
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Dann heißt es weiter:Vorschläge, … über steuerliche Anreize zu fördern,sollten deshalb sehr kritisch geprüft … werden .
Zusammenfassend möchte ich darum festhalten: Ers-tens . Forschung und Entwicklung sind wichtig . Das wis-sen wir, und darum fördern wir sie wie noch nie zuvor .Zweitens . Die kleinen und mittleren Unternehmen genie-ßen dabei unsere besondere Unterstützung . Drittens . Esdarf aber gerne auch mehr sein . Viertens . Ob die steuerli-che Forschungsförderung dabei der Königsweg ist, daranbestehen erhebliche Zweifel . Fünftens . Ich freue michauf die weitere Diskussion .Danke schön .
Vielen Dank . – Die Aussprache ist damit beendet .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/7872 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es dazu wei-
tere Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall . Dann
ist so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuer-
lichen Förderung des Mietwohnungsneubaus
Drucksache 18/7736
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . – Ich bitte
Sie, die Plätze einzunehmen .
Dann eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär Dr . Michael Meister für
die Bundesregierung .
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf einesGesetzes zur steuerlichen Förderung des Mietwohnungs-neubaus vor . Wir hatten gestern früh in der Kernzeitde-batte eine ausführliche Diskussion über die Situation aufdem Wohnungsmarkt in Deutschland . Heute widmen wiruns einem Baustein dieser Thematik, nämlich dem Pro-blem der Verknappung in gewissen Ballungsräumen, undder Frage: Wie können wir durch Anregung von Neu-bauaktivitäten die Verknappung in Ballungsräumen be-heben? Es geht nur um einen Baustein und nicht darum,eine generelle Antwort auf alle Probleme zu finden, diewir im Bereich des Wohnungsbaus und der Wohnungs-politik insgesamt haben . Nach intensiven Vorgesprächenzwischen Bund und Ländern ist es uns gemeinsam gelun-gen, einen gut vorbereiteten Gesetzentwurf vorzulegen,um uns in einer gemeinsamen Anstrengung von Bundund Ländern der vor uns liegenden Aufgabe zu stellen .Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland einesehr disparate Situation, was die Wohnungsmärkte be-trifft . In einigen Bereichen gibt es Leerstand, in anderenBereichen herrscht ein starker Druck auf die Wohnungs-märkte, vor allem angesichts der geringen Verfügbarkeitund der extrem hohen Preise, wodurch Zugangsbeschrän-kungen für die Menschen gegeben sind . Wir wollen mitdem vorliegenden Gesetzentwurf dafür sorgen, dass einbreiteres Angebot entsteht . Mit einem solchen Angebotwollen wir die von mir angesprochenen Probleme einStück weit lösen .Die Bundesregierung hat allerdings nicht nur diesenAnsatz gewählt . Ich möchte ausdrücklich darauf hin-weisen, dass wir uns in den Haushaltsberatungen dafürentschieden haben, im Jahr 2016, aber auch für die dreiFolgejahre, die Mittel, die wir für den Bereich sozialerWohnungsbau zur Verfügung stellen, von einer halbenMilliarde Euro auf 1 Milliarde Euro pro Jahr aufzusto-cken . Damit wollen wir einen Impuls geben, um den so-zialen Wohnungsbau anzuschieben . Wir hoffen, dass dieLänder diese Mittel auch nutzen, um im Bereich sozi-aler Wohnungsbau neue Angebote für die Menschen zuschaffen .
– Ja, Sie müssen gar nicht unruhig werden . Ich gehe da-von aus, dass auch Bündnis 90/Die Grünen Redezeit zudiesem Tagesordnungspunkt haben wird .
Dann können Sie sich gerne hier äußern .Mit der steuerlichen Förderung wollen wir für einenImpuls auf den Märkten sorgen . Zu beachten ist: DieBaugenehmigung muss in der Zeit von 2016 bis 2018gestellt worden sein . Die Abschreibung selbst kann bismaximal zum Jahr 2022 in Anspruch genommen wer-den . Wir werden diese Sonderabschreibung für jedeseinzelne Objekt auf drei Jahre festlegen, in den erstenbeiden Jahren jeweils 10 Prozent Sonderabschreibungund im dritten Jahr 9 Prozent Sonderabschreibung, wasin der Summe über diese drei Jahre in Verbindung mitder linearen Abschreibung, die man zusätzlich bekommt,ein Abschreibungsvolumen von 35 Prozent ausmacht .Wir gehen davon aus, dass das tatsächlich einen AnreizSwen Schulz
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für private Investoren setzt, sich stärker im Bereich desMietwohnungsbaus zu engagieren .
Wir machen ausdrücklich keine Bindungen bei derFrage: Wie sieht das Nutzungsverhalten aus? Die einzi-ge Vorgabe, die wir machen, ist, dass Wohnungen gebautwerden und dass diese Wohnungen tatsächlich über einenZeitraum von zehn Jahren als Mietwohnungen genutztwerden . Aber wir machen keine Vorgabe bei der Frage:Wer zieht dort ein? Wer ist der Mieter? Ich glaube, dassdas ein richtiger Ansatz ist .Wir haben versucht, die entsprechenden Gebiete –ich habe vorhin die Knappheit von Wohnungen in denBallungsräumen angesprochen – objektiv bundesweit zudefinieren, indem wir gesagt haben: Dort, wo die Mieten-stufen IV bis VI gelten, dort, wo die Kappungsgrenze giltoder wo die Mietpreisbremse gilt, können solche Investi-tionen mit Inanspruchnahme dieser Sonderabschreibunggetätigt werden. Ich glaube, dass das eine Definition ist,die einigermaßen zielgenau die Problemgebiete in die-sem Sinne erfasst .Wir müssen bei der Definition sehr aufpassen, dasswir eine beihilferechtlich einwandfreie Lösung bezogenauf das Europarecht bekommen. Mit der Definition, dieich eben genannt habe, gehen wir davon aus, dass wirbeihilferechtlich in keinen Konflikt kommen. Wir wer-den das selbstverständlich mit der Kommission noch ent-sprechend abklären . Es ist allerdings davor zu warnen, inirgendeiner Form Entscheidungsmöglichkeiten zu geben,die von objektiven abstrakten Kriterien abweichen, weilwir dann ganz schnell in einer beihilferechtlichen Debat-te sein könnten .Wir haben versucht, bei den Kriterien, die genanntwerden, darauf zu achten, dass sie möglichst bürokratie-arm sind, weil wir keinen Beitrag dazu leisten wollten –hier haben wir Erfahrungswerte aus der Vergangenheit –,dass Investoren mit einem hohen Maß an Bürokratie be-legt werden und dadurch von diesen Investitionen abge-halten werden .
Deshalb haben wir gesagt: Geprüft wird die Frist –die Baugenehmigung hatte ich schon angesprochen – fürdie Inanspruchnahme der Sonderabschreibung . Es mussNeubau sein . Das heißt, wir werden keine Sanierung oderähnliche Dinge fördern, sondern tatsächlich Neubau . Esmuss im Fördergebiet, wie ich es mit den drei Parameternskizziert habe, liegen; das kann man sehr schnell prüfen .Es muss diese zehnjährige Bindung der Nutzung für Ver-mietung gelten .Wir haben dann eine intensive Diskussion mit denLändern geführt über die Frage: Was darf denn ein Qua-dratmeter neue Wohnung kosten, und inwieweit fördernwir das Ganze? Wir sind an dieser Stelle der Auffassung,dass wir einen Beitrag leisten wollen, dass für die nor-malen Menschen ein Zugang zu Wohnungen geschaffenwird .
Deshalb werden wir eine Grenze bei 3 000 Euro pro Qua-dratmeter Wohnfläche ziehen, bezogen auf die Herstel-lungskosten des Neubaus . Da sind die Grundstückskos-ten nicht mit enthalten . Das heißt, es geht an dieser Stelleum die reinen Baukosten . Wenn man oberhalb diesesBetrages ist, dann werden wir nicht fördern . Es werdenmaximal 2 000 Euro pro Quadratmeter als Bemessungs-grundlage für die Abschreibung gewählt . Ich glaube, dasist eine Größenordnung, durch die ein entsprechenderImpuls zu schnellen Entscheidungen auf dem Markt ge-geben wird .Ich bitte Sie darum, dass wir das Ganze zügig beraten,sodass der schnelle Impuls, der schnelle Anreiz an priva-te Investoren gesetzt wird . In diesem Sinne lade ich Sieein, etwas für die Menschen in den Ballungsräumen inDeutschland zu tun .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt
die Kollegin Caren Lay .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Durch den vorgelegten Gesetzentwurf sollen In-vestoren durch Steuerabschreibungen dazu animiert wer-den, mehr zu bauen . Dafür sollen in den nächsten vierJahren über 2 Milliarden Euro lockergemacht werden .Gegen bezahlbaren Wohnraum, den wir Linke fordernund der ja jetzt Gott sei Dank in aller Munde ist, habenwir natürlich nichts einzuwenden . Aber der vorgelegteGesetzentwurf hat einfach eine ganze Reihe von Haken .Darauf möchte ich jetzt eingehen .Zum einen – das ist bisher gar nicht wirklich ange-sprochen worden – geht es nicht nur darum, bezahlbareMietwohnungen zu bauen; sonst würde nicht auch dieMöglichkeit eröffnet, Eigentumswohnungen zu fördern .Die geförderten Wohnungen müssen zum Beispiel gera-de einmal zehn Jahre als Mietwohnungen zur Verfügungstehen . Danach können sie auch als Eigentumswohnun-gen weiter genutzt werden . Ich will dazu sagen: Wennman sich eine Eigentumswohnung bauen will – schönund gut . Aber müssen wir das Ganze mit Steuergeldernsubventionieren? Ich meine, nein . Dieses Geld kannwirklich sinnvoller eingesetzt werden .
Es kann doch nicht sein, dass der Staat ein Drittel die-ser Kosten – sage und schreibe ein Drittel – subventio-niert. Ich finde, ehrlich gesagt, die Behauptung, hier wür-de in keiner Weise Luxusbau gefördert, ziemlich dreist .Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
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Der Gesetzentwurf gibt das doch gar nicht her . Sie habendie Obergrenze von 3 000 Euro pro Quadratmeter – ohneGrundstückskosten – gerade selber genannt .
Aber nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lagendie durchschnittlichen Kosten bei 1 500 Euro pro Qua-dratmeter . Ich weiß zwar, dass im Gesetzgebungsver-fahren, ich glaube, Hamburg interveniert und gesagt hat:Wir haben hier hohe Kosten . – Aber fast überall sonstfördert man damit Wohnungsbau im hochpreisigen Seg-ment . Das darf doch wirklich nicht wahr sein .So hat beispielsweise Berlins Finanzsenator, HerrKollatz-Ahnen, Mitglied der SPD, berechnet, dass mandamit in Berlin eine Kaltmiete von 17 bis 20 Euro proQuadratmeter subventionieren würde . Er sagte dazu: Dasschafft Anreize für das falsche Segment, nicht für preis-werten Wohnungsbau . – Da hat er völlig recht . Dem habeich überhaupt nichts hinzuzufügen .Das Schärfste ist aber, dass diese Maßnahmen nichteinmal an eine Mietenbegrenzung gebunden sind . Abernur so wäre garantiert, dass die Wohnungen dann auchgünstig vermietet werden und bei Menschen mit mitt-lerem und wenig Einkommen ankommen . Ohne Miet-obergrenze ist das ein reines Subventionsinstrument fürMenschen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld . Dasbrauchen wir gerade nicht .
Versuchen Sie also bitte nicht, uns weiszumachen, dassSteuerabschreibungsmodelle für Reiche ohne Mietober-grenzen auch nur irgendetwas mit einer sozialen Woh-nungspolitik zu tun haben . Das ist doch wirklich lächer-lich .
Das alles folgt ja der sogenannten Sickertheorie, nachder neu entstehende, teure Wohnungen irgendwann auchMenschen mit wenig Einkommen zur Verfügung stehen;denn irgendwann ziehen die Mieter aus den teuren Woh-nungen aus, und dann können die anderen nachziehen .Aber wissen Sie: Das ist reine Theorie . Außerdem: Wa-rum so kompliziert? Viel einfacher wäre es doch, direktin sozialen Wohnungsbau für Geringverdiener zu inves-tieren . Da weiß man nämlich, wo das Geld ankommt .
Es geht übrigens nicht nur darum, dass zu weniggebaut wird und ob zu wenig gebaut wird, sondern dieFrage ist auch: Für wen wird gebaut? Wir können ersteinmal feststellen, dass die Baubranche boomt . Es gabim letzten Jahr so viele Baugenehmigungen wie seit ganzvielen Jahren nicht mehr . Man kann davon ausgehen,dass aufgrund der Nullzinspolitik weiterhin Kapital aufden Immobilienmarkt drängt . Ich sehe überhaupt nicht,dass wir dafür auch noch steuerliche Anreize brauchen .Diesen Prozess gibt es sowieso .Gebaut wird aber leider häufig im hochpreisigen Seg-ment, im Luxussegment . Wenn wir gezielt fördern undwissen wollen, wo das Steuergeld ankommt, dann brau-chen wir Neubau im sozialen Wohnungsbau . Das ist dasGebot der Stunde .
Wenn wir dem Bauherrn und übrigens auch der Bau-wirtschaft Geld schenken, dann sind erst einmal Steuer-gelder weg, ohne dass auch nur eine einzige bezahlbareWohnung garantiert entsteht . Brandenburgs Finanzmi-nister Görke zum Beispiel befürchtet, dass dadurch alleinBrandenburg Einnahmen im mittleren zweistelligen Mil-lionenbereich verloren gehen . Das Geld sitzt bei Ihnenan dieser Stelle also wirklich locker . Es fehlt aber geradein den Bundesländern, in denen es sehr, sehr dringendgebraucht wird .Sinnvoller wäre eine zielgenaue Förderung des sozi-alen Wohnungsbaus, statt Gelder mit der Gießkanne zuverteilen . Da ziehen Sie sich nämlich aus der Verant-wortung . Die 500 Millionen Euro, die Sie auf massivenDruck der Opposition und angesichts der Flüchtlingssi-tuation zusätzlich bewilligt haben, werden bei Weitemnicht ausreichen; das wissen wir alle miteinander .Das ist auch der Grund, warum BauministerinHendricks gestern in der Debatte und auch in der Presseimmer wieder gefordert hat: Wir brauchen mehr Geld,das zielgerichtet für den sozialen Wohnungsbau ein-gesetzt wird. – Das finden auch wir. Wir sagen: Wenn5 Milliarden Euro zielgerichtet für sozialen, gemeinnüt-zigen Wohnungsbau eingesetzt werden, müssen jährlichmindestens 250 000 neue Sozialwohnungen entstehen .Dafür braucht es keine Milliardengeschenke an die Bau-und Immobilienbranche . Dieses Geld ist an anderer Stel-le wirklich besser und zielgenauer eingesetzt .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die Bundesregierung erhält jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold das
Wort .
Fl
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Frau Lay, wenn man ein anstän-diges Gebäude bauen will, dann braucht man mehrereBausteine, und die Wohnungspolitik der Bundesregie-rung besteht aus mehreren Bausteinen .Wir haben als Erstes die Städtebauförderung auf dashöchste Niveau in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland angehoben .Als Zweites haben wir die größte Anpassung im Be-reich des Wohngeldes vorgenommen . Dadurch holen wirZehntausende von Menschen, die hart arbeiten, aus derSozialhilfe heraus . Weil sie sich mit ihrer Hände Arbeitkeine Wohnung mehr leisten konnten, bekommen sie nunCaren Lay
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einen Zuschuss, sodass sie nicht länger auf Sozialhilfeangewiesen sind und sich wieder eine Wohnung leistenkönnen .
Als Drittes haben wir die Mietpreisbremse eingeführt .Als Viertes haben wir dazu beigetragen, dass endlichdas Geschäftsmodell beerdigt wird, wonach den Mie-terinnen und Mietern die Maklergebühren übergewälztwerden .
Als Fünftes haben wir die soziale Wohnraumförde-rung von 500 Millionen Euro auf 1 Milliarde Euro proJahr verdoppelt, um gezielt sozialen Wohnraum durchdie Länder schaffen zu lassen .Das alles sind Bausteine einer vernünftigen Woh-nungspolitik, die für bezahlbaren Wohnraum für alle sor-gen soll, und hier sind wir richtig gut .
Jetzt kommt ein weiterer Baustein hinzu, weil in denangespannten Wohnungsmärkten Geld da ist und in denStädten Gott sei Dank auch gebaut wird .Gestern kam die Botschaft, dass es in den letzten Jah-ren nie so viele Baugenehmigungen gab wie im letztenJahr, nämlich über 300 000 . Das ist zwar gut, aber dieaktuellen Prognosen besagen, dass wir fast 400 000 Neu-bauwohnungen pro Jahr brauchen, um die bisher ange-spannten Wohnungsmärkte nach zehn Jahren einigerma-ßen auszugleichen . Das erreichen wir nicht allein durchden sozialen Wohnungsbau .In den Großstädten und in den mittleren Städten gibtes Investorenmodelle, durch die ein großer Reibach ge-macht wird, aber nur Eigentumswohnungen im Luxus-segment geschaffen werden . Wir brauchen aber auch imMietwohnungsbereich einen deutlichen Anstieg . Deswe-gen setzt der Baustein der steuerlichen Förderung genauda an .Dabei wird, Frau Lay, nicht nach dem Gießkan-nenprinzip vorgegangen . Die Gießkanne kam in den90er-Jahren zum Einsatz, als eine steuerliche Förderungüber die gesamte Bundesrepublik verteilt wurde . Vie-le haben damals ihr Geld im Osten verbrannt, weil siegedacht haben: Hauptsache, man kann Steuern sparen . –Sie haben in eine Wohnung investiert, die sie sich nichteinmal angeschaut haben und für die es überhaupt keinenBedarf gab . Genau das machen wir diesmal nicht .Wir haben in unserem Entwurf für eine Einengunggesorgt . Wir, die SPD, haben übrigens schon in den Koa-litionsverhandlungen gefordert, dass als Pedant zur Miet-preisbremse eine steuerliche Förderkulisse für Investorenin angespannten Wohnungsmärkten aufgebaut wird, undes ist gut, dass wir uns an dieser Stelle jetzt auch durch-setzen .Ich bedanke mich bei Ministerin Barbara Hendricksdafür, dass sie das mit Nachdruck gemacht hat; dennauch dieser Baustein ist wichtig . Wir brauchen einen zu-sätzlichen Mietwohnungsbau. Dieser findet nur auf an-gespannten Wohnungsmärkten statt, und nur dort kommtauch die steuerliche Förderung zum Einsatz .
Natürlich kann man darüber diskutieren, ob man einezusätzliche Bindung einführt . Früher gab es den § 7 k imEinkommensteuergesetz, und es spricht auch nichts da-gegen, solche Überlegungen im parlamentarischen Ver-fahren anzustellen .
Gewiss kann man auch weitere Aspekte diskutieren:Vorgestern kam zum Beispiel eine interessante Studie he-raus, die besagt: Wir haben eine Menge Potenzial in denStädten, und zwar in der Höhe . – Es geht hier um eineintelligente Nachverdichtung; auch das ist Neubau . Wirmüssen darauf achten, dass das Steuerförderungsgesetzdazu führt, dass wir also auch andere Ziele einhalten . DieStädte können eben auch in die Höhe und nicht nur in dieBreite – Stichwort 30-Hektar-Ziel – wachsen . Auch fürdiesen Neubau – es geht um die Nachverdichtung – kanndie steuerliche Förderung eingesetzt werden .Wir fördern hier bis zu 2 000 Euro pro Quadratme-ter . Wenn man sich die Baukostenentwicklung anschaut,dann sieht man, dass das heute leider nicht mehr so vielist . Auch das haben wir uns in der Baukostensenkungs-kommission sehr genau angeschaut .Deswegen ist das Ganze ein zielgenaues Instrumentund ein weiterer Baustein dafür, für bezahlbaren Wohn-raum in angespannten Wohnungsmärkten zu sorgen .
Mit der heutigen Beratung knüpfen wir an die Debattevon gestern an .Im Bündnis für bezahlbares Bauen und Wohnen habendie Wohnungswirtschaft, die Bauwirtschaft, die Gewerk-schaften, die Mietervereine und wir deutlich gemacht,dass auch der Baustein der steuerlichen Förderung von-nöten ist . Und wir beginnen heute mit der Umsetzung .Schneller kann man doch Ergebnisse eines Bündnissesnicht in die Tat umsetzen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt die Kollegin Lisa Paus .
Herr Staatssekretär Pronold, mit Verlaub, ich kann IhreAussagen nicht teilen . – Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Es gibt Hunderttausende Wohnungsuchendein Berlin, in Hamburg, in München, in allen Großstäd-Parl. Staatssekretär Florian Pronold
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ten dieser Republik, die auf bezahlbare Wohnungen war-ten . Die schlechte Nachricht dieses Tages ist aber: DieseMenschen werden weiter warten müssen, meine Damenund Herren . Dabei hatte Frau Hendricks alle Chancen,das Spiel am Wohnungsmarkt in einer heißen Phase zudrehen . Doch leider haben Sie von der Sozialdemokratiediesen Elfmeter glatt verschossen .
Dabei ist Schäuble angesichts der Flüchtlingszahlen – daswurde schon angesprochen – bereit, auf circa 2,15 Milli-arden Euro Steuereinnahmen zu verzichten . Es liegt alsonicht am Geld, dass es nichts wird mit dem bezahlbarenWohnraum .Wenn wir es aber dennoch nicht schaffen, den laufen-den Bauboom in nachhaltige Bahnen, was tatsächlichbezahlbaren Wohnraum angeht, zu lenken, dann liegtdas eben schlicht daran, dass Sie sich des falschen Werk-zeugs bedienen .
Die Sonder-AfA, die Sie uns hier heute vorgelegt ha-ben, erreicht weder Genossenschaften – die ja sowiesobereits steuerbefreit sind – noch die öffentlichen Woh-nungsunternehmen, obwohl gerade die öffentlichenWohnungsunternehmen dringend Förderung bräuchten,weil sie zum Teil mit hohen Verlusten zu kämpfen haben .Ja, wir brauchen Neubau . Ja, wir brauchen auch pri-vate Investitionen . Ihre Sonder-AfA ohne Mietobergren-ze ist aber nichts anderes als ein Steuersparmodell fürMillionäre . Und es ist ein Geschenk in Milliardenhöhean die besonders ertragsstarken – also noch nicht einmalan alle – privaten Wohnungsunternehmen, die das Geldnatürlich gerne mitnehmen werden, deswegen aber keineeinzige zusätzliche, geschweige denn soziale Wohnungbauen werden . Sie machen aus Betongold Betonplatin,meine Damen und Herren .
Glauben Sie wirklich, wegen des verschwindend ge-ringen Zinsvorteils der Steuerabschreibungen werdenzusätzliche Wohnungen gebaut? Ich bin überzeugt, eswerden durch diese Sonderabschreibung keine Wohnun-gen, die nicht schon vorher geplant waren, neu entste-hen . Diese Sonder-AfA wird eben nur Mitnahmeeffekteerzeugen .
Sie wird auch nicht zur Kostendämpfung im Baubereichbeitragen, sondern leider eher zum Gegenteil führen .In Ihrem Gesetzentwurf heißt es im Wortlaut:Ziel der Förderung ist es, Investoren zum Bau vonWohnungen im unteren und mittleren Mietpreisseg-ment zu bewegen . Wohnungen mit hohem Standard
bedürfen keiner staatlichen För-
derung und werden somit vollständig von der För-derung ausgeschlossen .Den Ansatz sehe ich wohl . Es wäre schön, wenn es sowäre . Aber welche Baukosten setzen Sie denn als Grenzefür diesen Wohnungsbau im angeblich unteren und mitt-leren Segment? Davon war inzwischen viel die Rede . Siesetzen die Fördergrenze bei 3 000 Euro pro Quadratmeterfest . Das ist kein günstiger Wohnungsbau .
Schauen wir uns einmal gängige Vergleichszahlen an:In Berlin zum Beispiel wird neuer Wohnraum heute imSchnitt für 1 700 Euro errichtet . Berlin ist da keine Aus-nahme . In Konstanz erhielt die Städtische Wohnungs-baugesellschaft den Deutschen Bauherrenpreis 2016 füreine Wohnanlage, wo der Quadratmeter gut 1 800 Eurogekostet hat . Und auch das Soziale Großstadt-Dorf inBochum wurde unter anderem vom Deutschen Städtetagprämiiert, weil dort integratives Mehrgenerationenwoh-nen sogar für nur 1 400 Euro realisiert werden konnte .Sie aber bleiben bei Wohnungserrichtungskosten vonbis zu 3 000 Euro . Dazu kommen dann noch die Grund-stückskosten . Das wird von Ihnen gefördert . Ich frage Sieallen Ernstes: Glauben Sie wirklich, dass auch nur eineWohnung anschließend für 6,50 Euro oder 7,50 Euro proQuadratmeter vermietet wird, meine Damen und Herren?
Ihre Baukostengrenze ist eben deutlich zu hoch . Dabeiverzichten Sie auch noch vollständig auf eine energeti-sche Staffelung, die allein höhere Grenzwerte hätte recht-fertigen können .Ich kann nur hoffen, dass der Bundesrat diese falschjustierte Messlatte nach unten korrigieren wird . Der Fi-nanzausschuss hat dazu schon entsprechende Beschlüssegefasst . Der Bundesrat muss da noch nachziehen . Dasallein wird aber trotzdem nicht reichen, um aus diesemschlechten Gesetz ein gutes zu machen . Denn selbstwenn die Kosten pro Quadratmeter nicht 3 000 Euro,sondern nur 1 500 Euro betragen, bedeuten niedrigeBaukosten nicht automatisch niedrige Mieten . Da alleNeubauten nicht der Mietpreisbremse unterliegen, kön-nen diese Wohnungen sofort zu jedem erzielbaren Preisvermietet werden . Das bedeutet: Familien, Flüchtlingeund Studierende werden deshalb wieder das Nachsehenhaben . Ohne Sozialbindung und ohne Mietobergrenzenwerden gerade auf den angespannten Wohnungsmärktenkeine bezahlbaren Mietwohnungen entstehen .
Deswegen ist unser Gegenvorschlag zu Ihrem Steuer-sparmodell für Millionäre eine neue Wohnungsgemein-nützigkeit, ein altes Prinzip der sozialen Marktwirtschaft .Wir wollen Steuererleichterungen im Tausch gegen sozi-alen Wohnraum, öffentliches Geld für tatsächlich dauer-haft öffentliche Güter . Wir würden damit dafür sorgen,dass wieder günstige Wohnungen errichtet werden, undverhindern, dass Millionen Menschen nach der Arbeitnoch zum Amt müssen und zum Bittsteller werden, weilihr Einkommen nicht für die Miete reicht .Wir haben in Deutschland seit der Abschaffung derGemeinnützigkeit 2 Millionen Sozialwohnungen ver-loren . Die Abschaffung der früher einmal vorhandenenGemeinnützigkeit war ein Fehler, der uns Milliarden ge-Lisa Paus
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kostet hat . Es wird Zeit, diesen Fehler auszumerzen unddie Entscheidung wieder rückgängig zu machen, damitdie Abwärtsspirale beim sozialen Wohnungsbau endlichgestoppt wird .
Vielen Dank . – Der Kollege Olav Gutting, CDU/
CSU-Fraktion, ist der nächste Redner .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wir wollen Mietwohnungsneubau in Gebieten mit ange-spannter Wohnungslage gerade im unteren und mittlerenPreissegment ankurbeln .
Wir erleben, dass gerade in Großstädten und in Uni-versitätsstädten in den letzten Jahren sowohl die Woh-nungsnachfrage als auch die Mieten und die Kaufpreisegestiegen sind . Das macht es für immer mehr Haushalteschwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden. DerZuzug von Flüchtlingen in hoher Zahl und deren Inte-gration in den Wohnungsmarkt sind eine zusätzliche He-rausforderung . Deswegen müssen wir jetzt handeln .Es ist richtig: Die Anzahl der neugebauten Wohnun-gen steigt bereits seit 2009 deutlich . Aber gerade auf-grund der Zuwanderung rechnen wir mit einem zusätz-lichen jährlichen Bedarf von mindestens 350 000 neuenWohnungen . Wir haben das Ziel, den Bau dieser Woh-nungen unter anderem – nicht allein, aber auch – mit pri-vaten Investoren zu erreichen . Deswegen wollen wir denBau von preiswerten Mietwohnungen in Gebieten mitangespannter Wohnungslage anregen . Das soll durch dieEinführung einer befristeten – das ist wichtig –, degres-siv ausgestalteten Sonderabschreibung erreicht werden .Diese zusätzliche Sonderabschreibung von 10 Prozentim ersten, 10 Prozent im zweiten und 9 Prozent im drittenJahr – in Verbindung mit der linearen Abschreibung alsoinsgesamt 35 Prozent in drei Jahren im Vergleich zu sonst6 Prozent – wird am Markt Wirkung zeigen .Wir müssen aus beihilferechtlichen Gründen – das hatder Herr Staatssekretär vorhin schon ausgeführt – da-rauf achten, dass wir das Ganze räumlich begrenzen . Esgeht um Gebiete mit Wohnraummangel . Deswegen kön-nen wir auch nicht mit der Gießkanne arbeiten, sondernmüssen gezielt fördern . Wir haben uns darauf geeinigt,dass die Gebiete, in denen gefördert wird, drei Kriterienentsprechen müssen: Es müssen Gebiete mit den Mieten-stufen IV bis VI, mit Mietpreisbremse sowie mit abge-senkter Kappungsgrenze sein .Da hier ja immer wieder über die 3 000 Euro gespro-chen wird: Die 3 000 Euro je Quadratmeter sind die Ober-grenze für die Anschaffungs- oder Herstellungskosten;die Förderobergrenze aber sind 2 000 Euro . Das mussman klarstellen . Das heißt, Beträge über 2 000 Euro jeQuadratmeter werden nicht gefördert . Deswegen bestehtdoch für die Investoren der Anreiz, beim Bauen unter2 000 Euro je Quadratmeter zu bleiben .
Und wenn dann unter 2 000 Euro je Quadratmeter ge-baut wird, wird sich das auf die Mietpreise entsprechendauswirken .Wir haben auch eine zeitliche Begrenzung vorgese-hen: Die Förderung ist auf Baumaßnahmen begrenzt,die in den Jahren 2016 bis 2018 begonnen werden . Dasheißt, es muss jetzt gebaut werden, nicht irgendwann inder Zukunft .Für uns in der Union hat Wohn- und Lebensqualitätder Menschen in Deutschland einen hohen Stellenwert .Mehr Wohnraum und bezahlbare Mieten sind ein wich-tiges Ziel unserer Politik . Allerdings ist es allein mitsteuerlicher Förderung nicht getan . Das ist – der Staats-sekretär hat es vorhin gesagt – ein Baustein von vielen .Wenn man sich die Ursachen anschaut, warum dieserWohnungsmangel herrscht, dann stellt man fest – auchdas gehört zur Wahrheit –: Es ist oft nicht genug Baulandvorhanden, und in der Politik erhöhen wir seit Jahren dieBaukosten und machen Vermietung unattraktiver .Im Übrigen ist hierfür die grün geführte Landesregie-rung in meinem Heimatbundesland Baden-Württembergein gutes Beispiel:
Man nimmt erst einmal eine Grunderwerbsteuererhö-hung um über 40 Prozent vor . Dann schreibt man in derLandesbauordnung fest, dass die Vermieter, also die In-vestoren, wettergeschützte Luxus-Fahrradabstellplätzeerrichten müssen . Wenn sie keinen Garten haben, müssensie Fassaden- oder Dachbegrünung vornehmen . In Stu-dentenwohnheimen müssen Abstellflächen für Gehhilfengeschaffen werden – ich weiß nicht, ob die Studenten mitRollatoren an die Uni gehen . All das ist jedenfalls wider-sinnig und erhöht die Baukosten .
Wir haben die Bestimmungen der Energieeinsparver-ordnung verschärft . Das wird zu einer weiteren Erhöhungder Baukosten führen . Wir haben Mietpreisbremse, Ma-klerkostenverteilung, Begrenzung der Umlage von Mo-dernisierungskosten . Auch all das schreckt Vermieter ab .
Das heißt, man tut alles, um Bauen teurer zu machen unddas Vermieten zu erschweren, und anschließend heultman dann Krokodilstränen . Das passt irgendwie nichtLisa Paus
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zusammen . Ich glaube, da sollte man manches noch ein-mal überdenken .Klar ist aber auch: Dieses Gesetz muss jetzt kommen .Denn wenn es nicht kommt, richten wir Schaden an . Esgibt schon jetzt einen Attentismus am Markt . Das heißt,die Investoren warten auf dieses Gesetz und halten sichbei Neubauten zurück . Deswegen muss das Gesetz jetztkommen .
Wir werden sicherlich im Laufe der weiteren Beratungenzu diesem Gesetzentwurf noch die eine oder andere De-tailfrage genauer besprechen .Wir wollen vor allem, dass auch kinderreiche Fami-lien insbesondere in Ballungszentren die Chance haben,bezahlbaren Wohnraum zu bekommen . Das heißt, wirwollen eine stärkere Familienkomponente .
Wir werden auch erörtern, inwiefern wir das in die-sem Entwurf nicht berücksichtigte Ziel, selbstgenutztesWohneigentum zu fördern, verstärken können . Dazumüssen wir uns mit der Frage befassen, ob die bisherigeEigenheimrente nicht noch stärker pointiert werden kann .Ich freue mich jedenfalls auf die weiteren Beratungenund wünsche an dieser Stelle den Kolleginnen und Kol-legen schon einmal schöne Osterfeiertage .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin für die SPD-Frakti-
on ist die Kollegin Cansel Kiziltepe .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Der vorliegendeGesetzentwurf der Bundesregierung geht auf eine Initia-tive unserer Bauministerin Barbara Hendricks und dasvon ihr gegründete Bündnis für bezahlbares Wohnen undBauen zurück . Wir als Koalitionsfraktionen haben dasThema „bezahlbares Wohnen“ bereits 2013 als wichtigerkannt und in unserem Koalitionsvertrag festgeschrie-ben .Die Förderung des Mietwohnungsneubaus – das wur-de heute schon mehrfach gesagt – ist, liebe Kolleginnenund Kollegen, ein Instrument bzw . ein Baustein untervielen, um der Wohnungsknappheit zu begegnen . Ange-sichts der aktuellen Herausforderungen, vor denen wirstehen, zeigt sich, wie dringend der Handlungsbedarf ist .Denn wir wollen nicht, dass Menschen aus ihren Kiezenwegziehen müssen, weil sie ihre Miete nicht mehr bezah-len können . Wir wollen auch nicht, dass die hohe Zahlder Geflüchteten in Zelten, Zeltstädten oder Turnhallen,wie es in meinem Wahlkreis der Fall ist, untergebrachtwerden . Nein, wir wollen, dass auch diese Menschen inWohnungen untergebracht werden können .
– Dafür werden wir im parlamentarischen Beratungsver-fahren noch sorgen, Frau Lay .
Daher ist es gut, dass das Problem des guten und bezahl-baren Wohnens auch angepackt worden ist . Es ist nochwichtiger, dass wir dranbleiben und es weiterhin verfol-gen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesre-gierung hat bereits viel für die Schaffung bezahlbarenWohnraums getan . Auch das wurde heute schon gesagt;aber Wiederholungen schaden ja nicht .
Als Erstes ist hier zu nennen, dass die Mittel für dieStädtebauförderung im Rahmen des Programms „SozialeStadt“ mehr als vervierfacht wurden und dass die Mittelfür die soziale Wohnraumförderung erhöht wurden . Vor-gesehen ist für die Jahre 2016 bis 2019 ein Betrag von4 Milliarden Euro zusätzlich .Ein weiterer Punkt, der mir auch sehr wichtig ist, istder Umgang mit den Bundesliegenschaften . Der Bundhat sich ja bereit erklärt, Immobilien und Liegenschaftenschnell und vergünstigt an die Kommunen weiterzuge-ben . Eine entsprechende Verbilligungsrichtlinie hat derHaushaltsausschuss beschlossen .
– Wir kämpfen ja tagtäglich dafür .Kurz gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Ko-alition tut bereits viel, um den Mangel an bezahlbaremWohnraum zu bekämpfen . Heute sprechen wir über einender Bausteine, über eines der Instrumente, die dazu die-nen, den Mietwohnungsneubau noch mehr zu verstärkenund zu beschleunigen . Das soll eben durch die Sonder-abschreibung geschehen, der aber auch enge Grenzen zusetzen sind . Dafür werde ich mich und wird sich meineFraktion auch einsetzen .Steuerliche Förderung ist natürlich kein Allheilmit-tel . Herr Brinkhaus hat eben gesagt, dass es sich hier umSubventionen handelt . Diese sind mit Vorsicht zu genie-ßen . Ich werde Herrn Brinkhaus in dieser Frage beimWort nehmen und ihn im parlamentarischen Beratungs-verfahren immer wieder darauf ansprechen . Es ist alsonicht das allerbeste Mittel, aber es ist ein Mittel, um fürmehr Wohnungsbau zu sorgen . Die Städte tun zwar schonviel, und es gibt auch entsprechende Förderprogramme;aber wir können die Privaten nicht außen vor lassen . Wirwollen eine zielgenaue Förderung in den Gebieten, woder Wohnungsmarkt angespannt ist, wo es keinen be-Olav Gutting
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zahlbaren Wohnraum in ausreichendem Maße gibt, unddamit verhindern, dass Geringverdiener in die Außenbe-zirke ziehen müssen . Wir sind von daher als Gesetzgebergefordert, in den Gebieten, wo Marktversagen herrscht,entgegenzusteuern . Genau hier kommt die Sonderab-schreibung zum Zuge .Um Missbrauch und Mitnahmeeffekte der steuerli-chen Förderung zu verhindern, sind zielgenaue Maßnah-men von großer Bedeutung . Dazu ist im Gesetzentwurfeiniges vorgesehen . Dazu ist zu zählen, dass die Förde-rung nicht unbegrenzt gewährt wird, sondern auf dreiJahre beschränkt ist .
Dazu zählt aber auch, dass für die Vermietung der ge-förderten Wohnungen eine Rahmenfrist von zehn Jah-ren gilt . Ich hätte mir hier einen längeren Zeitraum ge-wünscht . Dazu zählt des Weiteren, dass der Förderungenge Grenzen gesetzt sind; darüber werden wir im wei-teren parlamentarischen Beratungsverfahren diskutieren .Außerdem ist eine Begrenzung der Bemessungsgrund-lage vorgesehen . Man möchte die maximale Förderhö-he auf 3 000 Euro und die Bemessungsgrundlage auf2 000 Euro pro Quadratmeter beschränken, um das ziel-genauer zu handhaben .Hier zu erwähnen ist noch der Beschluss des Bundes-rates, der heute Vormittag getagt hat . Der Bundesrat hatnämlich mit großer Mehrheit beschlossen, die maximaleFördergrenze auf 2 600 Euro und die Bemessungsgrund-lage auf 1 800 Euro abzusenken . Die Bemessungsgrund-lage auf 1 800 Euro zu senken, war eine Forderung vonBerlin . Man musste sich auf eine Förderhöchstgrenzeeinigen, weil die Baukosten – es wurden hier ja Zahlenvom Statistischen Bundesamt genannt – noch immer un-terschiedlich sind . Es ist also noch einiges zu diskutieren,aber auch herauszuholen, wie ich meine . Der Bundesrathat außerdem beschlossen, dass ein Prüfauftrag an denGesetzgeber gerichtet wird, um Mietpreisobergrenzeneinziehen zu können .
Das ist für mich und meine Fraktion wichtig . Auch darü-ber werden wir diskutieren .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor He-rausforderungen, die wir angehen müssen . Alles Weiterewird sich im Laufe des Verfahrens zeigen . Ich bin mirsicher, dass wir gute Lösungen finden werden und einenweiteren Schritt hin zu mehr bezahlbarem Wohnraum ge-hen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt erhält jetzt der Kollege Philipp Graf von
und zu Lerchenfeld, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Hohes Haus! Ich habe beim Ver-folgen der bisherigen Debatte den Eindruck gewonnen,liebe Kollegin Paus, dass sich Ihr Blick etwas verengt .Die Gesamtmaßnahmen und Bausteine sind von den bei-den Parlamentarischen Staatssekretären und auch vonIhnen, liebe Kollegin Kiziltepe, wunderbar dargestelltworden . Aber Sie blicken – genauso wie das Kaninchenauf die Schlange – nur auf einen einzigen Baustein .
Sie sehen auf dieses Gesetz, aber Sie sollten doch die Ge-samtmaßnahmen sehen . Sie sollten Ihr Herz gerade zuOstern ein bisschen erweitern .
– Lieber Kollege Kühn, ich würde Ihnen empfehlen, einbisschen zuzuhören . Sie scheinen nicht multitaskingfä-hig zu sein; denn Sie reden und hören nicht zu .
Das ist bei solchen Debatten nicht angenehm, kann ichnur sagen .
Sie sollten die Augen nicht vor der Realität verschließen .
Der Kollege Gutting hat ganz klar dargestellt, dass wirin den letzten Jahren einen enormen Anstieg der Baukos-ten hatten, und zwar infolge ganz bestimmter gesetzlicherVoraussetzungen . Wenn Sie heute in der Innenstadt bauenwollen, dann ist das wirklich sehr teuer . Natürlich hängtmit den Baukosten die Frage zusammen, wie die Renditefür den Einzelnen ist . Wenn die Rendite gering ist, wirdweniger gebaut . Gott sei Dank hat sich das inzwischengeändert, aber das ist wohl auf die günstige Zinssitua-tion im Moment zurückzuführen . Mit dem Gesetz, daswir heute verabschieden, wird insofern noch einmal einSchub für die Schaffung von Wohnraum kommen .Cansel Kiziltepe
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Herr Kollege Lerchenfeld, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Paus?
Mit großem Vergnügen .
Bitte schön .
Geschätzter Kollege Lerchenfeld, ich hatte die er-
freuliche Gelegenheit, an dem Kongress der Bundesre-
gierung zu bezahlbarem Wohnraum teilzunehmen . Ich
war zusammen mit anderen Kollegen auf dem Podium .
Vor allen Dingen waren die namhaften Verbände der
Bauwirtschaft dort vertreten . Es wurden unter anderem
Entwürfe von Schweden vorgestellt, die es geschafft hat-
ten, die Baukosten um 25 Prozent zu senken . Die Kol-
legen von der Bauwirtschaft neben mir haben allesamt
bestätigt, dass auch sie in der Lage sind, heute für unter
1 700 Euro zu bauen, und dass sie die 2 000 Euro nicht
brauchen . Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen?
Ich nehme Ihre Diskussionsbeiträge immer gerne zurKenntnis . Aber dennoch muss ich Ihnen sagen: Sie müs-sen auch Besonderheiten berücksichtigen . Was ist denn,wenn in die Baukosten zum Beispiel die Kosten einerTiefgarage eingerechnet werden, die Sie bauen müssen,weil eine entsprechende Stellplatzverordnung von derStadt erlassen worden ist?
Was ist mit dem Fahrradstellplatz? Was ist mit diesenganzen zusätzlichen gesetzlich vorgeschriebenen Din-gen, die von städtischer Seite, von Länderseite oder vomBund gefordert werden und dazu führen, dass sich Bau-kosten erhöhen?Sehen Sie sich das einmal in der Innenstadt an . WennSie eine Baulücke schließen wollen, dann müssen Siezum Teil die Fundamente der Nachbargrundstücke absi-chern . Das führt zu deutlich höheren Baukosten geradein den Ballungsgebieten, wo wir eigentlich bezahlbarenWohnraum schaffen wollen .
Insofern ist es sicherlich sehr gut, dass wir hier mit die-sem Gesetz etwas vorlegen, was die Baukosten für denInvestor zumindest über steuerliche Abschreibungsmög-lichkeiten etwas verringert .
Ich bin überzeugt davon, dass der steuerliche Vorteilauch den Mietwohnungsbau von privaten Investoren ver-stärken wird . Es ist ja schon gesagt worden, wie vieleWohnungen fehlen . Seit 2009 fehlen uns in Deutschlandtatsächlich 800 000 Wohnungen . Jedes Jahr werden zwi-schen 100 000 und 150 000 Wohnungen zu wenig gebaut .Dadurch steigt natürlich das Mietpreisniveau die ganzeZeit an .Wir brauchen sozialverträgliche Mieten, aber wirbrauchen natürlich auch Investoren, die bereit sind, indiese Wohnungen zu investieren . Die Frage der Bau-kostenhöhe ist natürlich schon eine Diskussion wert .Ich bedauere sehr, dass die Länder bei ihren Forderun-gen nicht unbedingt immer berücksichtigt haben, dass essehr unterschiedliche Situationen gibt . Kollege Guttinghat darauf hingewiesen, und auch ich habe schon einigeBeispiele dazu genannt .Außerdem muss man sich natürlich überlegen: Wennich eine besonders große Wohnung baue, reduzieren sichim Verhältnis die Baukosten . Wenn ich 200-Quadratme-ter-Wohnungen baue, dann ist das sicherlich pro Qua-dratmeter billiger, als wenn ich eine Wohnung mit 40oder 50 Quadratmetern baue . So wäre zu überlegen, obman allein an der Höhe der Baukosten festhält oder nichtdazu übergehen sollte, eventuell bestimmte Leistungs-merkmale hervorzuheben .Grundstückspreise spielen auch eine große Rolle; abernatürlich können wir keine Abschreibungen auf Grund-stücke zulassen . Dennoch ist auch das eine Frage, die beider Beurteilung der Rendite von Mietwohnungsbau be-rücksichtigt werden muss .In den Ballungsräumen ist der Herstellungsaufwandnaturgemäß oft höher, weil die Umstände dort ganz an-ders als auf dem flachen Land sind. So führt die Nutzungvon Baulücken, wie ich bereits gesagt habe, dazu, dasssich die Baukosten erhöhen; das Gleiche gilt für entspre-chende Forderungen staatlicherseits .Was sicherlich diskutabel wäre, ist die Förderung desBaus von Eigenheimen . Denn auch wenn man Eigen-heime baut, entlastet man letztlich den Wohnungsmarkt .Mehr Eigenheime können dazu führen, dass Mietwoh-nungen frei werden, sodass Mietpreise entsprechend an-gepasst werden . Wir sollten uns also darüber Gedankenmachen, wie wir das Wohnen im Eigenheim unterstützenkönnen; so kann auch von Eigenheimbesitzern Vermö-gen geschaffen werden .
Es gibt sicherlich viele Ansätze, die steuerliche Förde-rung für Wohnraum insgesamt zu verbessern . Es wird si-cherlich darauf ankommen, wie wir mit den Forderungender Länder umgehen . Ich hoffe, dass wir diesen Gesetz-entwurf, den wir heute vorlegen, in einer vernünftigenForm verabschieden und er im Bundesrat
die Zustimmung erhält . Ich wünsche uns dazu gute Be-ratungen .
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Ich wünsche Ihnen allen ein wunderschönes Osterfestund mir selber, dass im Anschluss daran am 5 . April Bay-ern München in der Champions League gewinnt .
Das werden wahrscheinlich einige mit Ihnen wün-
schen . – Wir sind damit am Ende der Aussprache ange-
langt .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/7736 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es von Ihrer
Seite aus dazu andere Vorschläge? – Ich sehe, das ist
nicht der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus
Zdebel, Andrej Hunko, Karin Binder, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Risiko-Reaktoren abschalten – Atomausstieg
in Europa beschleunigen
Drucksache 18/7875
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Hubertus Zdebel, Die Linke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Indiesen Tagen gedenken überall auf der Welt Menschender Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl,die für Hunderttausende Menschen Leid, Tod und Ver-treibung zur Folge hatten und immer noch haben . BeideKatastrophen müssen für uns alle eine Mahnung sein, da-für einzutreten, dass sich so etwas nirgends auf der Weltwiederholt . Die Atomenergie ist in allen Anwendungenderart zerstörerisch und letztlich nicht zu beherrschen,dass wir sie aus dieser Welt verbannen müssen –
sowohl in Form von Atomwaffen als auch als Stromer-zeugungsenergie in Atomkraftwerken .Die Vorstände der Atomkonzerne sollten sich an-gesichts von Fukushima hinter die Ohren schreiben:Wirtschaftliche Interessen und wirtschaftliches Handelnmüssen dort Grenzen haben, wo sie die ökologischenund sozialen Grundlagen der Menschen zu vernichtendrohen .
Die Konzerne und ihre Vorstände haben die Risiken derAtomenergie immer gekannt . Sie haben von den bisheri-gen Bundesregierungen enorme finanzielle und steuerli-che Vorteile eingeräumt bekommen . Höchste Zeit, dasssie zu ihren finanziellen Pflichten stehen und für die Kos-ten des Atomausstiegs tatsächlich aufkommen!
Fünf Jahre nach Fukushima ist der Atomausstieg inDeutschland nach wie vor nicht vollendet . In Europawachsen die atomaren Risiken durch immer ältere Re-aktoren . Störfallserien, Tausende Risse in Reaktoren wiein denen in Doel und Tihange – eine Sache, die uns imUmweltausschuss immerhin schon die ganzen letztenMonate begleitet hat und auch weiter begleiten wird –,unverantwortliche Laufzeitverlängerungen und immerwieder der Verdacht, dass Aufsichtsbehörden zu sehr diewirtschaftlichen Interessen statt den Schutz der Bevölke-rung im Blick haben – siehe aktuell Belgien .Nicht nur in den Grenzregionen zu Frankreich undBelgien sorgen sich die Menschen, dass Fukushima sichin Tihange oder Fessenheim wiederholen könnte . DieseÄngste sind weder irrational noch übertrieben . Wir allehaben ja erfahren, dass Atomenergie von einem Momentzum anderen außer Kontrolle geraten kann . Niemandkann das Risiko ausschließen .
Die radioaktive Wolke aus Tschernobyl machte nicht ander ukrainischen Grenze halt, sondern verstrahlte nochin Tausenden Kilometern Entfernung Nahrungsmittel .Kinder durften nicht auf Spielplätze, und Menschenin Westeuropa sorgten sich über Strahlenkrebs . Allein10 Millionen Menschen könnten von einer Katastrophein Tihange – einige zehn Kilometer von Aachen ent-fernt – betroffen sein .In Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländernan den Grenzen zu Belgien und Frankreich reagiert in-zwischen auch die Politik grenzüberschreitend . Bür-germeister und Bundestagsabgeordnete aller Parteien,Kommunalparlamente und Kreisräte und viele Antiatom-gruppen stehen in Tihange oder Fessenheim auf und for-dern die Stilllegung der maroden Atommeiler – bevor eszu spät ist . Mit Unterschriftenaktionen ebenso wie aufjuristischem Weg versuchen sie, die belgische und diefranzösische Regierung zur Besinnung zu rufen . Undsie appellieren an uns im Deutschen Bundestag, aktiv zusein . Ich möchte Sie, die Abgeordneten des DeutschenBundestages, daher auffordern: Lassen Sie uns gemein-sam die Atomgefahren in Europa beseitigen!
Tun wir alles Mögliche, um den Atomausstieg in Deutsch-land und in Europa so schnell wie möglich zu erreichen!Philipp Graf Lerchenfeld
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In Deutschland wird Strom im Überfluss produziert,sogar immer mehr mit erneuerbaren Energien . Deshalbkönnen wir ohne Schwierigkeiten den Atomausstieg be-schleunigen .
Dazu gehört auch: Die Bundesregierung muss den Ap-pellen an benachbarte Regierungen, die es in der Tatgegeben hat, Taten folgen lassen und Atomausstieg undEnergiewende endlich auf die Tagesordnung der EU set-zen .
Dazu könnte der Beitritt Deutschlands zur „Allianz derRegionen für einen europaweiten Atomausstieg“ ein Bei-trag sein, wie es unser Antrag fordert . Sie wissen: DasGroßherzogtum Luxemburg hat sich dem Appell schonangeschlossen; etliche Länder in Deutschland ebenfalls .Warum sollte der Bund nicht auch einen solchen Schrittmachen, wenn es Luxemburg schon vorgemacht hat?
Außerdem sagen wir Linken: Der Euratom-Vertragmuss endlich aufgelöst werden; denn Euratom verfes-tigt die Förderung der Atomenergie und dient einzig derAtomlobby, ihre Interessen durchzusetzen . Vielleichtnoch einen Satz dazu: Wir erleben gerade bei Doel undTihange, welche Schwierigkeiten es zum Beispiel macht,überhaupt an Informationen zu kommen . Und zu ent-sprechenden Kontrollen trägt Euratom überhaupt nichtsbei . Was soll also ein solcher Vertrag? Er muss dringendaufgelöst und ersetzt werden durch einen Vertrag überdie Einrichtung einer alternativen europäischen Gemein-schaft zur Förderung von erneuerbaren Energien undEnergieeinsparung . Das wäre in unseren Augen der rich-tige Weg .
Dazu gehört aber auch, dass wir endlich die deutscheBeihilfe zu einem nächsten Super-GAU im Ausland be-enden . Die Uranfabriken in Gronau und Lingen versor-gen brandgefährliche Atommeiler nicht nur in Belgienund Frankreich mit Brennstoff . Das muss aufhören, ambesten sofort .
Nur wenn wir AKWs abschalten, können wir einnächstes Fukushima oder Tschernobyl verhindern .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege
Steffen Kanitz, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Ich bedanke mich ganz herzlich bei den Linken für die-sen Antrag, weil er mir die Gelegenheit gibt, Herr Kolle-ge Zdebel, ein paar Sachverhalte klarzustellen und auchUnklarheiten zu beseitigen .Zunächst zum Titel Ihres Antrags: „Risiko-Reaktorenabschalten – Atomausstieg in Europa beschleunigen“ .Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-ken, da war der Wunsch Vater des Gedankens . Wir müs-sen zur Kenntnis nehmen – wir haben das auch in demFachgespräch im Umweltausschuss in dieser Woche sofestgestellt –, dass in Europa vier Kernkraftwerke aktuellim Bau und weitere 30 in Planung sind . Insofern könnenwir davon ausgehen, dass der deutsche Weg im Momentnach wie vor ein Sonderweg ist . Ich hoffe, dass er gelingtund werde mich sehr dafür einsetzen . Meine Fraktion tutdas auch . Aber der wichtigste Indikator dafür, ob Europamitmacht, wird sein, ob die Energiewende gelingt odernicht, und nicht, ob wir die Europäer dazu zwingen, un-serem Weg zu folgen .Zu der Forderung in Ihrem Antrag, aus dem Eura-tom-Vertrag auszusteigen, ihn zu kündigen . Um das fürunsere Fraktion klarzustellen: Das kommt für uns nichtinfrage .
Der Euratom-Vertrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,ist Teil der Römischen Verträge von 1957 zur Gründungder Europäischen Gemeinschaften . Eine einseitige Auf-kündigung des Euratom-Vertrages – das impliziert IhrAntrag – käme einem Austritt aus der Europäischen Uni-on gleich .
Andere europäische Länder zu bewegen, aus der Kern-energie auszusteigen, ohne selbst EU-Mitglied zu sein,diese Forderung erscheint mir nicht wirklich schlüssig .Wir sind uns ja völlig einig, dass wir Europa dazu brin-gen wollen, andere Sicherheitsstandards zu akzeptieren .Wir würden uns ins eigene Fleisch schneiden, wenn wiruns aus dem Euratom-Vertrag verabschieden würden,weil wir damit nicht mehr die Möglichkeit hätten, aufeuropäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass höhere Si-cherheitsstandards angewendet werden .Ihre öffentlichen Äußerungen zu Vorfällen in den eu-ropäischen Kernkraftwerken halte ich, ehrlich gesagt,für ziemlich unverantwortlich . Würde man allein Ihrenheutigen Ausführungen oder auch denen aus den letztenWochen und Monaten folgen, dann stünde der sogenann-te Super-GAU, wie Sie es beschreiben, in mehreren deut-schen Nachbarstaaten kurz bevor .
Ich kann nur an Sie appellieren: Lassen Sie uns das The-ma ernsthaft und sorgfältig diskutieren, aber bitte keinePanikmache auf Grundlage falscher Behauptungen be-treiben .Hubertus Zdebel
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Um Ihre irreführende Argumentation zu entlarven,möchte ich beispielhaft auf die Ereignisse, Herr Kolle-ge Krischer, im Kernkraftwerk Fessenheim vom 9 . Ap-ril 2014 eingehen, die Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Linken, ja als einen wahnsinnigen Skandalbeschreiben . Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass es sichum einen vertuschten Störfall in einem Schrottreaktorhandelt, bei dem die französische Atomaufsichtsbehördebeide Augen zugedrückt habe . Ich stelle zu Beginn ein-mal fest: Es gab weder einen vertuschten Störfall, nochgab es einen schweren Störfall .Das Kernkraftwerk Fessenheim – jetzt etwas zurTechnik – umfasst neben dem Reaktorgebäude auchein separates Schaltanlagengebäude. Dort befinden sichsämtliche Schalt- und Regelanlagen zum Betrieb desReaktors . Das ist an sich nichts Neues, sondern üblicherStandard bei unseren Kernkraftwerken und auch denenin Europa . Zu diesem Schaltanlagengebäude gehört auchdas Reaktorschnellabschaltsystem, mit dem im Anforde-rungsfall – und nur im Anforderungsfall – der Reaktorheruntergefahren werden kann . Dieses Reaktorschnell-abschaltsystem gehört zu den sogenannten Sicherheits-systemen und ist genau aus diesem Grund redundant,also doppelt, ausgelegt .Neben diesen Sicherheitssystemen gibt es weitere be-triebliche Systeme, mit denen wir Reaktoren steuern undherunterfahren . Dazu – das ist eben keine Neuigkeit – ge-hört gerade und insbesondere die Borsäure .
– In jedem deutschen Druckwasserreaktor wird Borsäureeingesetzt,
ganz einfach deswegen, Frau Kollegin Kotting-Uhl, umdie Überschussaktivität, die anfällt, wenn sie neue Brenn-elemente einsetzen, abzufangen . Das ist bei Siedewasser-reaktoren anders . Diese werden über die Brennstäbe ge-steuert, die Druckwasserreaktoren nicht . Ich möchte fürSie noch einmal festhalten: In jedem Druckwasserreaktorbefindet sich Borsäure. Mindestens einmal jährlich wirdjeder deutsche Druckwasserreaktor zu Revisionszwe-cken unter Zugabe von Bor abgeschaltet
– selbstverständlich – und nicht über die Abschaltung derBrennelemente . Die Verwendung von Bor ist eben nichtungewöhnlich, sondern ein ganz normaler betrieblicherVorgang, nicht nur in deutschen Druckwasserreaktoren .
Was ist nun im April 2014 in Fessenheim passiert?Ein Kühlwassertank ist übergelaufen . Das Wasser hateinen Schaltschrank erreicht und hat ein Reaktorschnell-abschaltsystem außer Betrieb gesetzt . Das zweite Re-aktorschnellabschaltsystem war zu jedem Zeitpunkteinsatzbereit . Da aber kein Anforderungsfall für die Be-triebsmannschaft vorlag, weil der Betrieb des Reaktorsja völlig normal weiterlief, bestand überhaupt gar keineNotwendigkeit, auf die Schnellabschaltung zurückzu-greifen . Vielmehr hat man nach dem Betriebshandbuchgehandelt, das besagt, bei einem Störfall der Klasse 1binnen acht Stunden die Druckwasserreaktoren durchdie Zugabe von Bor herunterzufahren . Die französischeAtomaufsichtsbehörde wurde noch am selben Tag infor-miert und machte sich am nächsten Tag ein Bild von derLage vor Ort . Sämtliche Untersuchungsergebnisse wur-den unmittelbar veröffentlicht .Und nun zum Vorwurf der Opposition – wir hatten dasja auch im Umweltausschuss in dieser Woche –, dass dieZugabe von Bor nicht veröffentlicht wurde . Ich richtemich insbesondere an Sie, Frau Kotting-Uhl, und an dieKolleginnen und Kollegen von den Grünen: Sie scheinendie Anfragen der Kolleginnen und Kollegen Ihrer eige-nen Partei in den Landtagen nicht zu kennen . Schon imDezember 2014 hat die grüne Landtagsfraktion in Ba-den-Württemberg den grünen Umweltminister Unter-steller ebenfalls zu diesem Vorfall befragt . Ergebnis derAnfrage war, dass alle relevanten Informationen zu demEreignis in Fessenheim veröffentlicht wurden – inklusiveder Verwendung von Bor . Ich stelle Ihnen die Antwortauf die Anfrage gerne zur Verfügung, damit Sie das über-prüfen können .Ich bitte insofern alle, die hier sitzen, bei diesem sehrernsthaften Thema sachlich und faktenbezogen zu disku-tieren, keine Hysterie zu schüren und keine Unsicherheitzu produzieren .Dieser Seitenschwenk sei mir erlaubt: Wenn kurz vorder Landtagswahl in Baden-Württemberg ein solcherangeblicher Störfall öffentlich wird, verbunden mit derangeblichen Neuigkeit, dass Borsäure verwendet wurde,um den Reaktor abzuschalten,
dann liegt zumindest der Verdacht nahe, dass hier auchein bisschen Wahlkampfhilfe geleistet wurde .
Die Fakten besagen, dass es sich um eine umgehendöffentlich kommunizierte Störung der Stufe 1 nach derinsgesamt siebenstufigen Internationalen Bewertungs-skala für nukleare und radiologische Ereignisse handelt .Die Definition dieser Stufe lautet: Abweichung vomnormalen Betrieb der Anlage . Nichtbehebung der Prob-lemquelle könnte allenfalls zu einem höherstufigen Fol-geereignis führen . – Es handelt sich bei dem Unfall inFessenheim folglich nicht um eine Beinahe-Katastrophe,so wie das hier gerne dargestellt wird, sondern lediglichum ein nicht zu unterschätzendes meldepflichtiges Ereig-nis der zweitniedrigsten Kategorie .Angesichts dieser Einordnung der Vorfälle liegt natür-lich der Verdacht nahe – das habe ich gerade gesagt –,dass es sich hier um eine Hilfe für die Grünen im Land-Steffen Kanitz
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tagswahlkampf in Baden-Württemberg handelte, was ichnicht so richtig hilfreich finde.
Jetzt – exemplarisch – zu den einzelnen Forderungenin Ihrem Antrag: Sie fordern, das französische Atom-kraftwerk Cattenom stillzulegen . Dazu durften wir ja vonIhrem ideologischen Vordenker, Oskar Lafontaine, indieser Woche den geistreichen Vorschlag vernehmen, mitdeutschen Steuergeldern einen Fonds einzurichten, umdas französische Atomkraftwerk abzuschalten .Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,die Bankenrettung kritisieren, aber die Betreiber vonausländischen Kernkraftwerken für die Stilllegung vonKernkraftwerken großzügig bezahlen wollen – ich würdesagen: Das nennt man Doppelmoral .
Dann kommen wir noch ganz kurz zu Ihrer Forderungnach öffentlicher Verfügbarkeit sämtlicher sicherheitsre-levanter Unterlagen der Atomkraftwerke . Um das einmalzu sagen: Ich halte diese Forderung für mehr als leicht-sinnig . Ich habe schon einmal diesen Vergleich gewählt:Einem Panzerknacker geben Sie als Bankdirektor dochauch nicht die Baupläne Ihres Tresors! – Ich glaube, IhrProblem als staatsgläubige Partei ist, dass Sie kein Ver-trauen in die deutschen Behörden haben . Wir schon, dasist der Unterschied .
Nun eine kurze abschließende Klarstellung zum The-ma Urenco und Gronau – dieses Thema bringen Sie jaimmer wieder –: Erstens . Beide Unternehmen habeneine gültige Betriebsgenehmigung . Zweitens . Wir stei-gen zwar aus der Kernenergie als Stromerzeugungs-quelle aus, das heißt aber nicht, dass wir ebenso aus derForschung aussteigen oder es Unternehmen verbieten,Brennelemente zu produzieren . Sie wissen, dass eineStilllegung beider Unternehmen nicht zur Folge hätte,dass andere Kernkraftwerke abgeschaltet würden, weildie Kernkraftwerke redundant mit Brennelementen ver-sorgt werden .Abschließend möchte ich noch einmal meine Enttäu-schung über Ihren Antrag zum Ausdruck bringen . Ichmuss ganz ehrlich sagen: Nach zwei Jahren Kommissi-onsarbeit hätte ich erwartet, dass wir ernsthaft und fak-tenbasiert diskutieren können . Ihr Antrag ist kein Beitragdazu; insofern müssen wir ihn leider ablehnen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die
nächste Rednerin ist Sylvia Kotting-Uhl von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Kanitz, jetzt muss ich leider einen Teilmeiner sowieso viel zu kurzen Redezeit darauf verwen-den, auf Ihren Beitrag zu antworten .Zum einen kann ich mir nicht vorstellen, dass irgend-jemand außer Ihnen im Umweltausschuss von den Ex-perten gehört hätte, dass der sogenannte deutsche Son-derweg durch die Planungen und Bauvorhaben usw . inder EU konterkariert würde . Das Gegenteil war der Fall:Ein Experte hat ganz deutlich gesagt, dass es zwei Re-aktoren gibt, die schon ewig lang im Bau sind, die vielzu teuer werden, und dass sich der Neubau von Atom-kraftwerken ansonsten sowieso ökonomisch nicht mehrdarstellen lässt . Er hat gesagt, dass im Moment gar nichtsabsehbar ist, dass alle Planungen schon ewig auf Haldeliegen und niemand weiß, ob sie je umgesetzt werden .Genau das Gegenteil war also der Fall, Herr Kanitz!
Zu Ihren Ausführungen zu Fessenheim: Ich habe esnicht Störfall genannt; das ist auch gar nicht das Entschei-dende . Wir wissen von Fessenheim genug . Wir brauchennicht noch etwas, was auf ein weiteres Defizit des Baushinweist . In Fessenheim vereinigen sich alle No-Gos, diebei Atomkraftwerken überhaupt vorkommen können:keine Erdbebensicherheit, keine ausreichende Sicher-heit vor Überschwemmung, fehlende Redundanzen . Daslangjährige hochrangige Mitglied der Gesellschaft fürAnlagen- und Reaktorsicherheit, erstes Beratergremiumder Bundesregierung im Zusammenhang mit Sicher-heitsfragen von Atomanlagen, hat in seinem Gutachtenzu Fessenheim ein vernichtendes Urteil gefällt . SeinFazit war, dass es sofort vom Netz genommen werdenmüsste. Welche Defizite wollen wir noch? Das, was jetztneu hinzugekommen ist, ist keine weitere Bescheinigungder Defizite von Fessenheim, sondern der Ausweis einerungeheuren Schlamperei . Das muss man sich einmalvorstellen: Ein mit Schmutz und Ruß verstopftes Rohrführt in der Folge dazu, dass die Sicherheitsvorrichtun-gen ausfallen . Das ist eine Schlamperei, die einfach nichtvorkommen darf .
Die Atomaufsicht hat den Vorfall heruntergespielt . Soist es .
Sie ist damit so umgegangen, als sei nichts weiter los ge-wesen, als sei alles gut . Es hieß: Am Ende hat es funk-tioniert, wir haben das Ding abgeschaltet bekommen .Kein Grund zu Aufregung . – Es ist jedoch nicht Aufgabeeiner Atomaufsicht, Vorfälle in einem Atomkraftwerk he-runterzuspielen . Die Aufgabe einer Atomaufsicht ist derSteffen Kanitz
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Schutz der Bevölkerung und nicht der Schutz der Betrei-ber .
Wir haben an unseren Grenzen – daran geht doch garnichts vorbei – eine Ansammlung von Risiken . Wir habenden Atomausstieg beschlossen als eine richtige, notwen-dige Konsequenz aus Fukushima . An unseren Grenzensammelt sich mit Temelin, mit Doel, mit Tihange, mitFessenheim, mit Cattenom, mit Beznau in der Schweizalles an Risiken, was vorstellbar ist . Hubertus Zdebel hateiniges aufgezählt . Ich habe leider nicht genug Redezeit,darauf näher einzugehen .Natürlich schaffen wir Sicherheit nur mit einem Atom-ausstieg . Aber wir können doch auch vorher schon etwastun . Man kann das Risiko wenigstens verringern, wennman es schon nicht beseitigen kann . Hier gibt es einiges,was zu tun wäre . Sogar schon vorhandene Rechtsgrund-lagen bergen ungenutztes Potenzial . Ja, natürlich könnteman endlich einmal das Espoo-Übereinkommen ernstnehmen und anwenden, um zum Beispiel bei geplantenLaufzeitverlängerungen grenzüberschreitende Beratun-gen einzufordern .
Natürlich könnte man in den bilateralen Atomkom-missionen systematisch Unterlagen und relevante Gut-achten austauschen, anstatt nur zu reden . Welches Landkäme auf die Idee, die nationale Atomaufsicht mündlichauszuüben? Wenn es aber um grenznahe Atomkraftwerkegeht, dann sind Gespräche das Maß der Dinge . Das kanndoch alles nicht wahr sein .Dann der Euratom-Vertrag . Der Euratom-Vertrag istzuständig dafür, dass von einem GAU potenziell betrof-fene Nachbarländer bei der Sicherheit der Atomkraft-werke nichts mitzureden haben . Die Standardantwortder Bundesregierung auf meine Anfragen lautet: JedesLand entscheidet souverän über seinen Energiemix, undjedes Land übt souverän seine Atomaufsicht aus . – Dasist zurückzuführen auf Euratom . Ja, das stimmt . Aber an-gesichts der Alterung der Reaktoren in Europa und derGefahren an unseren Grenzen ist das eine allzu bequemeAntwort . Die Bundesregierung muss initiativ werden beider Reform von Euratom .
Mindestens dieser Uraltvertrag muss wenigstens andieser Stelle schleunigst reformiert werden, damit wireine Möglichkeit bekommen, bei den Sicherheitsstan-dards mitzureden, wenn es uns betrifft . Ein Störfall in alldiesen Reaktoren, die ich vorhin aufgezählt habe, würdemit hoher Wahrscheinlichkeit und in den meisten Fällensogar mit höchster Wahrscheinlichkeit die deutsche Be-völkerung stärker als die eigene Bevölkerung betreffen .Da kann man doch nicht einfach zuschauen und daraufverweisen, dass man nicht zuständig ist . Zuständig fürden Schutz der deutschen Bevölkerung sind wir, ist derDeutsche Bundestag und ist die deutsche Bundesregie-rung .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Hiltrud
Lotze für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 26 . April1986, Tschernobyl, und der 11 . März 2011, Fukushima,haben sich in das Bewusstsein stark eingegraben . Nochheute kämpfen wir mit den Folgen .In Fukushima kämpft seitdem ein technisch hochent-wickeltes Land – wenn man den Bildern folgen kann –etwas hilflos gegen die Folgen des Unfalls. Tschernobylist und bleibt eine Todeszone . Von dort kommen nochheute, 30 Jahre nach dem Unfall, Kinder nach Deutsch-land, auch in meine Region, nach Lüneburg, wo Ehren-amtliche aus Hilfsvereinen es ihnen ermöglichen, sichein paar Wochen lang gesundheitlich zu stabilisieren undihr Immunsystem wieder aufzubauen, damit sie dann fürzwei Jahre in ihrer Heimat wieder ein halbwegs norma-les Leben führen können . Die Auswirkungen der beidenAtomkatastrophen sind also noch gegenwärtig und sindauch lange noch nicht überwunden .Vor diesem Hintergrund erleben wir in dieser Woche,wie die Energiekonzerne in Karlsruhe gegen den Aus-stieg aus der Hochrisikotechnologie Atomkraft klagen .Sie klagen auf Milliarden Euro Entschädigung für ent-gangene Gewinne, und man könnte den Eindruck ge-winnen, dass bei Konzernen und Aktionären das Rechtauf Gewinn weit höher eingestuft wird als das Recht derMenschen auf Unversehrtheit, auf Gesundheit und aufihr Leben .Die Geschichte des deutschen Atomausstiegs mussich in diesem Kreise nicht wiederholen – wir alle ken-nen sie –: 2002 der rot-grüne Ausstiegsbeschluss, dannder schwarz-gelbe Rückfall in die Laufzeitverlängerung,nach Fukushima dann der endgültige Ausstieg . Währendwir in Deutschland in einigen Jahren, 2022, Gott seiDank endlich Schluss machen und das letzte Atomkraft-werk abschalten, setzen andere Länder weiter auf Atom-kraft . Grenznah liegen alte, marode und störanfällige Re-aktoren: Fessenheim, Tihange, Beznau in der Schweiz .Wenn dort ein Unfall passieren würde, dann würde dasnicht nur die Menschen vor Ort betreffen, sondern ebenauch uns in Deutschland . Nicht umsonst hält das LandNordrhein-Westfalen 10 Millionen Jodtabletten vor – füreinen Fall, der hoffentlich nie eintreten wird .Es ist also wirklich höchste Zeit, mit dem europawei-ten Ausstieg zu beginnen und bei unseren Nachbarn fürden Ausstieg zu werben . Damit komme ich zu Ihrem An-trag, Herr Zdebel. Sie fordern unter anderem die Auflö-sung bzw . einseitige Kündigung des Euratom-Vertrags .Sylvia Kotting-Uhl
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Ich will deutlich sagen: Im Ziel, das auch da oben auf derAnzeigetafel steht – „Atomausstieg in Europa“ –, sindwir uns einig . Wir streiten oder diskutieren über den Wegdahin . Wir von der SPD wollen den Euroatom-Vertragreformieren . Wir wollen ihn nicht einseitig kündigen,sondern wir wollen Einfluss behalten auf die Diskussi-onen in Europa und auf das, was bei unseren Nachbarnpassiert . Wir wollen vor allen Dingen Informationen da-rüber haben .
Da gibt es natürlich Dinge, die verbessert werdenmüssen . Wir wollen und brauchen höhere Sicherheits-standards . Wir müssen den gegenseitigen Informations-austausch verbessern . Wir wollen, dass eine grenzüber-schreitende Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführtwird, wenn zum Beispiel tatsächlich die Laufzeit einesälteren Kraftwerks verlängert wird . All das sind Dinge,die wir gerne in einen reformierten Euratom-Vertragschreiben würden . Wir sind der Überzeugung, dass esrichtig ist, den Vertrag nicht zu kündigen, sondern unserZiel auf dem Weg der Veränderung des Vertrages zu er-reichen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben vielleichtin dieser Woche einen Artikel von Wolfgang Janisch inder Süddeutschen gelesen . Ich zitiere daraus:Die Entscheidung für oder gegen die friedliche Nut-zung der Kernenergie ist allein dem Gesetzgeberüberlassen . Ob das „Restrisiko“ noch hinnehmbarist, das von den Atommeilern ausgeht, darüber ent-scheiden weder Aufsichtsbehörden noch Energie-kommissionen, weder Wissenschaftler noch Fach-beamte .Darüber entscheiden allein die gewählten Abgeord-neten, die damit die Verantwortung dafür überneh-men, ob sie ihren Bürgern das „Restrisiko“ zumutenwollen …Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war noch nichtdabei; aber der Bundestag hat diese Verantwortung über-nommen und den Ausstieg beschlossen . Wir sind davonüberzeugt, dass es heute der richtige Schritt ist, unsereKolleginnen und Kollegen in den anderen europäischenParlamenten in Gesprächen und Verhandlungen davon zuüberzeugen, dass der vermeintliche Vorteil preiswertenund sauberen Stroms
– vermeintlich! – es nicht wert ist, das vorhandene Rest-risiko einzugehen, und es richtig ist, ebenfalls Verant-wortung für die eigene Bevölkerung und für alle in Euro-pa zu übernehmen und auszusteigen .In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam an die-sem Thema weiterarbeiten!Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Florian Oßner
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Linksfraktion, so kurz vor Ostern habenSie uns doch noch ein richtig faules Ei – so möchte ichdas bezeichnen – ins Osternest gelegt . Nicht, dass wiretwas anderes erwartet hätten, jedoch hätte ich mir zurAbwechslung ein nicht derart vergiftetes Ostergeschenkvon Ihnen gewünscht . Es freut mich zwar – das gebeich gern zu –, dass wir von Ihnen auch einmal einzelnekonkrete Vorschläge zur Lösung von Problemen hören,doch, ehrlich konstatiert, praxistauglich ist dieser Antragkeineswegs .
Vielmehr zeigen Sie uns mit Ihren elf Forderungen,dass Sie international keine Verantwortung übernehmenund schlimmstenfalls dazu beitragen, ganze Bevölke-rungsgruppen in Panik zu versetzen . Das gleicht fastschon einem gesamteuropäischen Rundumschlag . Dieeinseitige Aufkündigung von europäischen Verträgenträgt, wie meine Vorredner es schon gesagt haben, si-cherlich nicht zur Vertrauensbildung in Europa bei . Dasverstehe ich nicht unter verantwortungsvoller Politik fürunser Land und für ganz Europa .
Wir haben uns in Deutschland nach den katastropha-len Ereignissen in Fukushima 2011 darauf verständigt,Schritt für Schritt bis 2022 aus der friedlichen Nutzungder Kernenergie auszusteigen . Wir sind gerade dabei, ineinem gewaltigen Kraftakt unsere komplette Energiever-sorgung umzustellen . Wir investieren Milliarden Euroin den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie in dieErtüchtigung der Stromnetze . In Forschung und Ent-wicklung wird mit Hochdruck nach neuen Technologienzur Energieerzeugung, zur effizienten Nutzung und Spei-cherung gesucht . Beispiele sind Wasserstofftechnik oderHolzvergasertechnik sowie Biogasanlagen .
Das heißt aber nicht, dass wir anderen Staaten vor-schreiben können, wie sie ihr Energiesystem gestaltensollen; denn jeder Mitgliedstaat der EU hat gemäß Ver-trag über die Arbeitsweise der Europäischen Union dasRecht, die Struktur seiner Energieversorgung selbst zubestimmen . Wir würden uns ja auch nicht derart von an-deren reinregieren lassen . Zudem: Was würde Ihre For-derung für die Praxis bedeuten? Falls keine vernünftigenErsatzkraftwerke vorhanden sind, würden die Energie-preise zwangsläufig signifikant steigen. Liebe Linke, die-Hiltrud Lotze
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se unnötige Preistreiberei ist dann tatsächlich Sozialpoli-tik à la Linke . Das macht wirklich keinen Sinn .
Andererseits bedeutet das Ende der Kernenergienut-zung nicht, dass Deutschland die Sicherheit kerntech-nischer Anlagen in Europa und speziell in seinen Nach-barstaaten ignoriert . Wir wissen sehr wohl um unsereVerantwortung als größte Volkswirtschaft in Europa . Ge-rade die Sorgen und Ängste der Menschen in den Grenz-regionen zu Belgien und Frankreich nehmen wir dahersehr ernst .In meinem Wahlkreis in der Region Landshut undKelheim bin ich direkt vom Atomausstieg und den mög-lichen Risiken durch grenznahe Kernkraftwerke betrof-fen . 2022 geht mit Isar 2 das letzte Kernkraftwerk vomNetz . Die Kernkraftwerke Isar 1 und Isar 2 haben in denletzten Jahrzehnten einen maßgeblichen Beitrag zur Ver-sorgungssicherheit in ganz Süddeutschland geleistet . Ge-rade in Ostbayern schauen wir mit Argusaugen auf dieReaktoren im tschechischen Temelin . Sicherheitsaspektehaben daher auch für mich persönlich allerhöchste Prio-rität .Um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten,können wir jedoch nicht mit dem diplomatischen Vor-schlaghammer zu Werke gehen und gleich den Eura-tom-Vertrag auflösen oder einseitig aufkündigen, wieSie, liebe Linke, es in Ihrem Antrag fordern .Ich darf Sie daran erinnern, dass dieses Vertragswerk,wie der Herr Kollege Kanitz schon gesagt hat, 1957 eineder Grundlagen der Europäischen Union bildete . Wennwir tatsächlich Ihrer Forderung nachkommen würden,wäre die EU in ihrer jetzigen Form Geschichte, und derVertrauensverlust unserer europäischen Partner wäre im-mens .
Die Zusammenarbeit über den Euratom-Vertrag ermög-licht es auch, dass Deutschland auf hohe Sicherheits-standards bei Kernkraftwerken in den Mitgliedstaatenhinwirken kann . Mit einer einseitigen Aufkündigungwürden wir uns dieser Option berauben .
Liebe Linkspartei, durch Ihre Forderung würden vie-le langjährige, enge Partnerschaften auf internationalerEbene zerstört werden . Dies kann nicht in unserem In-teresse sein .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Bulling-Schröter zu?
Ja, sehr gerne . Selbstverständlich .
Bitte .
Danke schön, Kollege Oßner . – Sie haben darüber ge-
sprochen, dass für Deutschland ein Austritt aus Euratom
aus bestimmten rechtlichen Gründen und Abhängigkei-
ten gar nicht möglich ist . In Österreich gab es ein Volks-
begehren über die Frage: Soll Österreich aus Euratom
aussteigen? Die Abstimmung fand eine Woche vor den
Ereignissen in Fukushima statt . Hätte die Abstimmung
nach den Ereignissen in Fukushima stattgefunden, dann
hätte es dafür eine klare Mehrheit gegeben .
Glauben Sie, dass die Ministerien in Österreich und
in Deutschland den Sachverhalt juristisch so unterschied-
lich einschätzen? Gibt es in den beiden Ministerien so
unterschiedliche Einschätzungen in Bezug auf das Völ-
kerrecht und auf europäisches Recht?
Sehr geehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für IhreFrage . – Selbstverständlich schätzen wir die Einstufun-gen unserer Nachbarländer . Aber eines muss man dochfesthalten: Nationale Alleingänge in der Energiepolitik,bei der es um gesamteuropäische Ziele geht, würden unsdefinitiv keinen Schritt vorwärtsbringen.Natürlich wäre es möglich, Verträge zu kündigen .
Aber ich empfände es als nicht hilfreich, wenn der Deut-sche Bundestag einseitig Verträge aufkündigen würde .Dies ist in bilateralen Gesprächen auf vernünftige Artund Weise zu regeln .
Das Bundesumweltministerium verfährt hier genauso – die Kollegin hat es eben angesprochen –, wie mandas bei Problemen in einer Staatenfamilie macht: Mansucht das direkte Gespräch . So stehen Bundesumweltmi-nisterin Barbara Hendricks und ihre Mitarbeiter im engenAustausch mit dem für Reaktorsicherheit zuständigenbelgischen Innenminister, der belgischen Atomaufsichts-behörde und dem Umweltministerium in Brüssel .Florian Oßner
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Die Ministerin hat gegenüber der belgischen Regie-rung sehr deutlich die Sorgen der Bundesregierung undder Bevölkerung wegen der Probleme an den Kraftwer-ken zum Ausdruck gebracht . Diese Gespräche und dasvorgesehene Abkommen zwischen Belgien und Deutsch-land zur Zusammenarbeit in Fragen der nuklearen Si-cherheit unterstützen wir ausdrücklich . Herzliches Dan-keschön dafür an das gesamte Ministerium!
Im Fall des tschechischen KernkraftwerkkomplexesTemelin sind die Bayerische Staatsregierung und dieBundesregierung ebenfalls den Weg der bilateralen Ge-spräche gegangen, um so zum Ausdruck zu bringen, dassbei den Blöcken 1 und 2 des Kernkraftwerkes westeuro-päische Sicherheitsstandards eingehalten werden sollten .Jedoch sollten wir nicht den Fehler begehen, als ständi-ge Besserwisser in Europa zu gelten . Dies wäre für einegemeinsame Linie völlig kontraproduktiv und sicherlichnicht förderlich – das habe ich eben schon gesagt – fürunsere gemeinsame Zukunft in der Energiepolitik .
Liebe Linke, Ihre elf Forderungen stellen einen buntenund unstrukturierten Forderungskatalog dar, in dem Siewieder Ihre atompolitischen Maximalforderungen auflis-ten . Die einzelnen Maßnahmen haben inhaltlich wenigmiteinander zu tun . Sie verdeutlichen nur wieder, dassdie Linke nicht in der Lage ist, europäisch und internati-onal Verantwortung zu übernehmen .
– Herr Krischer, ich habe Sie überhaupt nicht angespro-chen, aber es ist erstaunlich, dass sich auch die Grünensofort angesprochen fühlen, wenn es um das Nichtwahr-nehmen von Verantwortung für Europa geht .
Es wäre ein schönes Ostergeschenk gewesen, wennSie einen konstruktiven Beitrag zur Lösung der Schwie-rigkeiten und Probleme gerade bei diesem heiklen undkomplexen Thema leisten würden . Ihre Mitarbeit in derEndlagerkommission ist schon ein richtiger Ansatz . Da-ran sollten Sie sich auch in Zukunft orientieren . Ich bittesehr darum .Diesen Antrag können wir nur ablehnen; denn er miss-achtet politische Realitäten völlig und trägt nicht zur Lö-sung bei: Die Schwierigkeiten, die uns die Linke hiermitmachen würde, wären im europapolitischen Gesamtkon-text nicht zu ermessen . Aus all den genannten Gründenlehnen wir den Antrag der Linken ab .Ein herzliches Vergelts Gott fürs Zuhören und natür-lich auch von meiner Seite frohe Ostern .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Klaus Mindrup
für die SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen nach Har-risburg 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011,dass es keine friedliche und sichere Nutzung der Atom-energie gibt .
Etwas, das den Menschen gegenüber anderen Wesen aus-zeichnet, ist, dass er eigentlich lernfähig sein sollte .
Wir müssen weiterhin festhalten – ich bin ein großerAnhänger der sozialen Marktwirtschaft –, dass es kei-ne kostengünstige oder billige Atomenergie gibt . EineTechnik, die weltweit nicht versicherbar ist, das ist keinevolkswirtschaftlich oder wirtschaftlich sinnvolle Tech-nik .
Das Atomkraftwerk Fessenheim ist 1970 in Bau ge-gangen . Ich wäre sehr vorsichtig, an dieser Stelle Aus-sagen über die Sicherheit eines solchen Kraftwerks zutreffen. Die Elektrotechnik von 1970 finden Sie ansons-ten überwiegend im Museum . Das Fachgespräch, daswir hatten – offenbar waren wir nicht alle beim selbenFachgespräch –, hat deutlich gemacht, dass die Risikenmit dem Alter der Reaktoren exponentiell steigen . Ich binNaturwissenschaftler; ich weiß, worüber ich hier rede .Ich möchte an dieser Stelle noch einmal daran erin-nern, dass es in Deutschland Pläne gab, die Atomener-gie so stark auszubauen, wie es in Frankreich der Fallwar . Wenn wir in Deutschland nicht eine so starke An-ti-AKW-Bewegung gehabt hätten, dann hätten wir heuteso viele Reaktoren wie in Frankreich, und wir wären inviel größeren Schwierigkeiten . Daher ist es noch einmalZeit, Danke an die Mitstreiterinnen und Mitstreiter in derAnti-AKW-Bewegung zu sagen .
Wenn wir nicht Anfang der 70er-Jahre diesen Fehlerdes Einstiegs gemacht hätten und den Weg von Däne-mark gegangen wären, würden wir heute noch besserdastehen .Florian Oßner
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Ich möchte mich an dieser Stelle ganz ausdrücklichbei Frau Dr . Hendricks dafür bedanken – sie ist heuteleider nicht da –, dass sie jetzt in den kritischen Dialogmit den Nachbarstaaten gegangen ist . Sie darf aber dabeinicht allein gelassen werden . Sie muss unterstützt wer-den . Insofern ist es auch gut, dass wir hier debattieren .
– Auch .Ergänzen möchte ich drei Punkte, die aus meiner Sichtfür die Zukunft wichtig sind .Wir müssen in Deutschland – wenn wir nicht ange-fangen hätten, national Vorreiter zu sein, dann stündenwir in der Welt in vielen Punkten nicht so gut da, auchbeim Klimaschutz nicht – den Weg der Energiewendekonsequent und glaubwürdig weitergehen . Wir müssendie Bürgerenergieprojekte weiter fördern . Wir müssenauch den Ausbau der kostengünstigen Windkraft an Landfördern . Da gibt es ja den wunderbaren Wismarer Appell,der von den Bundesländern und auch von den Gewerk-schaften und von der Industrie breit getragen wird . Dasist ein ganz wichtiges Signal . Wir müssen die Energie-wende auch ganzheitlich angehen, das heißt, wir müs-sen zukünftig stärker den Transportbereich und auch denWärmebereich mit angehen und dort die Erneuerbarenfördern . Das ist das Erste .Das Zweite ist: Hier ist ja schon viel über Europa ge-sprochen worden . Wir brauchen auch ein Zeichen derSolidarität mit Europa . Der DGB hat schon vor langerZeit einen Marshallplan für Europa zur Stärkung der Re-alwirtschaft vorgeschlagen . Dieser müsste den Schwer-punkt auf erneuerbare Energien und Energieeffizienzsetzen . Dann bekommen wir auch weitere Unterstützungfür unseren Weg .
CSU])Der letzte Punkt ist: Sicherheit muss Chefsachesein . Das heißt, es ist nicht nur ein Thema für FrauDr . Hendricks, unsere Umweltministerin, sondern nachAuffassung der SPD auch ein Thema für die Kanzlerin .Es muss auch in Europa auf die Agenda kommen . DennAtomenergie ist eine Hochrisikotechnologie . Sie muss soschnell wie möglich abgebaut werden .Ich möchte mich für die Aufmerksamkeit bedankenund wünsche Ihnen allen frohe Ostern . Ich hoffe, wir se-hen uns anschließend gesund in diesem Haus wieder .Danke schön .
Vielen Dank . Herr Mindrup, Sie haben uns eine Minu-
te und 15 Sekunden geschenkt .
Das ist ungewöhnlich . Sie haben trotzdem Wichtiges ge-
sagt .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7875 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 13 . April 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen allen
ein schönes Wochenende und vor allen Dingen eine er-
holsame Osterpause . Ich hoffe, Sie können diese Zeit ein
wenig zur Erholung nutzen . Danach geht es dann weiter .