Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, darf ich Sie bit-ten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Am 9. August 2000 verstarb unsere Kollegin IlseSchumann im Alter von 61 Jahren. Nicht nur die Men-schen in ihrer Heimatgemeinde, sondern alle Menschen,die mit ihr zusammentrafen, schätzten sie wegen ihrer Of-fenheit und Menschlichkeit. Überall, wo sie sich enga-gierte, tat sie dies mit großem Einsatz, der nie ohne einebesondere Herzlichkeit war. Geboren in Augsdorf imMansfelder Land, blieb sie ihrer Heimat immer verbun-den. Sie machte eine Ausbildung zum Chemieingenieurund arbeitete in Bitterfeld und Wolfen. Von 1990 an warsie Bürgermeisterin in Raguhn im Kreis Bitterfeld, bis sie1994 für den Kreis in den Bundestag gewählt wurde. AlsMitglied des Verteidigungsausschusses und seines Unter-ausschusses „Streitkräftefragen in den neuen Bundeslän-dern“ hat sie sich nachhaltig für die Belange der jungenMenschen in Ostdeutschland eingesetzt. Selbst ihr eige-ner zäher Kampf gegen die tückische Krankheit war biszuletzt von Zuversicht geprägt und blieb von vielen un-bemerkt, weil sie von ihrer eigenen Person nicht viel Auf-hebens machte. Wir werden sie in ehrender Erinnerungbehalten.Am 14. August 2000 ist der Alterspräsident des Deut-schen Bundestages Fred Gebhardt nach langer, schwe-rer Krankheit im Alter von 72 Jahren gestorben. FredGebhardt wurde 1928 in Bayreuth geboren. Er studiertepolitische Wissenschaft und Soziologie und war dann inder Arbeits- und Sozialverwaltung tätig. Zwar gehörte erdem Deutschen Bundestag erst seit zwei Jahren an; dochsein politisches Engagement auf kommunaler und Lan-desebene in seiner Wahlheimat Hessen währte bereitsmehrere Jahrzehnte. Auch in der internationalen Zusam-menarbeit war er lange aktiv. Die Kollegen, die ihn in per-sönlichen Gesprächen kennen lernten, schätzten seinesehr liebenswürdige Art. Doch in der politischen Ausei-nandersetzung war er verständlicherweise nicht immerein bequemer Partner. Unbestritten ist jedoch sein beharr-liches Eintreten für soziale Gerechtigkeit. Wir werdenihm ein ehrendes Andenken bewahren.Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen von IhrenPlätzen erhoben. Ich danke Ihnen.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ichzwei neue Mitglieder des Hauses begrüßen. Als Nachfol-gerin für den verstorbenen Kollegen Fred Gebhardt hatdie Abgeordnete Pia Maier am 31. August 2000 die Mit-gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Für denKollegen Rudolf Dreßler, der am 31. August 2000 aufseine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtethat, hat der Abgeordnete Ulrich Kelber am 1. Septem-ber 2000 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag er-worben. Ich heiße Sie beide herzlich willkommen undwünsche gute Zusammenarbeit!
Sodann spreche ich den Kollegen Dr. Norbert Blümund Wolfgang Weiermann, die während der Sommer-pause ihren 65. Geburtstag feierten, sowie den KollegenDr. Peter Danckert, Dr. Manfred Lischewski undRudolf Bindig, die jeweils ihren 60. Geburtstag begin-gen, nachträglich die herzlichsten Glückwünsche desganzen Hauses aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell istvereinbart worden, die auf der Tagesordnung ohne De-batte vorgesehene erste Beratung des Gesetzentwurfes zurÄnderung des Straßenverkehrsgesetzes abzusetzen. SindSie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-stellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus-haltsjahr 2001
– Drucksache 14/4000 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss11059
116. SitzungBerlin, Dienstag, den 12. September 2000Beginn: 11.00 Uhrb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungFinanzplan des Bundes 2000 bis 2004– Drucksache 14/4001 –Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieheutige Aussprache im Anschluss an die Einbringung achtStunden, für Mittwoch sieben Stunden, für Donnerstagacht Stunden und für Freitag fünf Stunden vorgesehen. –Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so be-schlossen.Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der Bun-desminister der Finanzen, Hans Eichel.
sehr verehrten Damen und Herren! Vor einem Jahr habeich Ihnen hier das Zukunftsprogramm 2000, die Einlei-tung einer Finanzpolitik der nachhaltigen Konsolidierungdes Bundeshaushaltes und der öffentlichen Haushalte ins-gesamt und gleichzeitig die Zusage einer ebenso nachhal-tigen Entlastung von Bürgern und Unternehmen bei Steu-ern und Abgaben vorgestellt und im Rahmen diesesProgramms als ersten Haushalt der Konsolidierung denHaushalt 2000.Ich lege Ihnen heute den Entwurf des Haushaltsplanesfür das Jahr 2001 vor. Ich stelle fest: Die Bundesregierunghält genau den Kurs, den sie vor einem Jahr diesem Hauseund dem deutschen Volk versprochen hat.
Das heißt zuerst, die Bundesregierung hält den Konso-lidierungskurs mit einer Finanzpolitik, die aus der Schul-denfalle hinausführt. Die Planung steht unverändert: Wirwollen durch eine ständig fallende Neuverschuldung biszum Jahr 2006 zu einem ausgeglichenen Haushalt kom-men. Dies bedeutet dann, wir werden 2006 erstmals seitJahrzehnten einen Haushalt ohne neue Schulden haben.
Warum dieser Kurs? Während er im vorigen Jahr nochumstritten war, habe ich den Eindruck, dass er inzwischenallgemeine Anerkennung gefunden hat. Wir wollen ausder Schuldenfalle zuerst und vor allem deswegen heraus,weil wir künftigen Generationen nicht die Ausgaben, diewir getätigt haben, als Schulden hinterlassen können.Dies wäre für sie eine nicht erträgliche Belastung.
Soziale Gerechtigkeit hat nicht nur eine Gegenwartsdi-mension, nämlich den Ausgleich zwischen den verschie-denen sozialen Schichten in unserer Gesellschaft mit derZielsetzung, wie es das Grundgesetz formuliert, dass je-der ein Leben in Würde führen kann. Soziale Gerechtig-keit hat auch eine Zukunftsdimension. Wir dürfen unserensozialen Ausgleich heute nicht zulasten künftiger Genera-tionen machen.
Das gilt sowohl für die Finanzpolitik wie auch für dieUmweltpolitik. Es bedeutet, nicht nur möglichst wenigSchulden zu hinterlassen, sondern auch natürliche Le-bensgrundlagen zu bewahren, auf denen ungezählte Ge-nerationen nach uns leben können. Auch muss vor allemin Bildung, in Köpfe, und in die Fertigkeiten der Händeder nächsten Generation investiert werden; denn das istderen und unser künftiger Reichtum: unserer, was dieRente betrifft, und deren, was ihr eigenes Einkommen be-trifft.
Wir halten trotz aller Verlockungen Kurs. Dabei willich mit aller Klarheit sagen: Ich freue mich darüber unddanke sowohl allen Kabinettsmitgliedern wie den Koali-tionsfraktionen dafür. Zu den Kabinettsmitgliedern sageich ausdrücklich: Wenn der Bundeskanzler nicht an derSpitze dieser Bewegung für eine solide Finanzpolitiksteht, dann kann sie kein Finanzminister durchführen. Soeinfach ist das. Vielleicht war das in der Vergangenheit einProblem.
Damit komme ich auf die Versuchungen zu sprechen.Ich danke dem Kabinett, den Koalitionsfraktionen und derinteressierten Öffentlichkeit, die mit großem Nachdruckdie Linie der Bundesregierung unterstützt haben, die inder Tat in dieser Größenordnung nie vermuteten einmali-gen Einnahmen aus der Versteigerung der Lizenzen fürUMTS ausschließlich, und zwar Mark für Mark, zum Ab-bau unserer Schulden einzusetzen. Jede andere Politikwäre nicht verantwortbar.
Wir wollen die dadurch ersparten Zinsen für den Haus-halt und für Zukunftsinvestitionen verfügbar machen. Da-bei ist es zwar ehrenwert, darüber zu streiten, ob man dieeine oder andere Milliarde auch in die Schuldentilgungstecken soll oder nicht. Entscheidend ist aber etwas ganzanderes – dabei sage ich ausdrücklich den Koalitionsfrak-tionen Dank –: dass die konjunkturbedingten Mehr-einnahmen, die wir jetzt bekommen können, nicht zuneuen Ausgaben führen, sondern zur Verringerung derNeuverschuldung eingesetzt werden.
Das wird immer wieder übersehen: 100Milliarden DMsind eine unfassbare Summe. Aber 1,5 Billionen DMSchulden sind noch eine 15-mal unfassbarere Summe.Statt 1,5 Billionen DM 1,4 Billionen DM Schulden zu ha-ben, ist erst ein Fünfzehntel des Weges hin zu einemschuldenfreien Staat, den andere viel früher als wir errei-
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Präsident Wolfgang Thierse11060
chen werden. Deswegen ist es gut, dass wir uns so ent-schieden haben, zumal die Menschen im Lande genaudiesen Kurs wollen.Es ist umgekehrt auch richtig, klarzumachen, dass diein der Tat nicht hinreichenden Investitionen doch daherkommen, dass wir in der Vergangenheit so viele Schuldenaufgehäuft und deswegen so hohe Zinslasten zu tragen ha-ben: 82 Milliarden DM – der zweitgrößte Ausgabenblockim Bundeshaushalt.Nur wenn wir die Schulden wieder reduzieren undwenn wir damit Zinsausgaben freibekommen, dann kön-nen wir diesen Prozess rückabwickeln. Aus ZinsausgabenInvestitionsausgaben zu machen und konjunkturbedingteMehreinnahmen – ich wiederhole das – zur Verringerungder Neuverschuldung einzusetzen, das allein ist die fi-nanzwirtschaftlich seriöse und verantwortliche Position.
Denn in diesem Jahr machen wir – so ist die Planung –noch 50 Milliarden DM neue Schulden. Im nächsten Jahrreduzieren wir die Nettokreditaufnahme auf 46 Milliar-den DM. Es sind aber noch neue Schulden. Wir sind dochnoch gar nicht beim Schuldenabbau. Wir werden mit demSchuldenabbau erst ab 2006, wenn wir das erste Mal ei-nen Haushalt ohne neue Schulden haben, beginnen kön-nen.Ich sage mit Nachdruck: Es muss nicht immer so gutlaufen. Es wird in der nächsten Zeit gut laufen, weil dieKonjunktur in Deutschland und in Europa robust ist. Aberes kann auch einmal statt Mehreinnahmen Mindereinnah-men geben, auch konjunkturbedingt, denen man durcheine Absenkung der Staatsausgaben nicht hinterherlaufendarf. Man würde die Probleme dann ja verschärfen.Das Mindeste ist: Der Staat muss die Kraft haben, dieautomatischen Stabilisatoren wirken zu lassen, das heißt,seine Ausgabenpolitik unabhängig von konjunkturellenSchwankungen zu machen. Deswegen müssen wir dieNeuverschuldung durch konjunkturbedingte Steuermehr-einnahmen reduzieren.Ich weise bei dieser Gelegenheit übrigens auch auf Ri-siken hin. Es sind für die Postunterstützungskassen Pri-vatisierungserlöse im Haushalt dieses Jahres von etwasüber 7 Milliarden DM erforderlich. Bis vor ganz kurzerZeit war ich aber gar nicht sicher, ob wir den Börsengangder Deutschen Post überhaupt machen können.Wer sich – auch das ist eine der Kehrseiten der Me-daille, mit denen sich einige Länderpolitiker, die ebenfallsgerne etwas von den UMTS-Einnahmen abhaben wollten,nicht beschäftigen – einmal den Kurs der Aktie der Deut-schen Telekom anschaut, sieht ganz genau, dass die Pri-vatisierungen nicht so ganz planmäßig laufen. Mit demjetzigen Kurs kann man nicht an die Börse gehen; daswäre eine Verschleuderung von Volksvermögen. Es hießeaußerdem, die große Zahl der Kleinaktionäre noch einmalrichtig zu enttäuschen. Das kann nicht unsere Politik sein.
Also werden wir, was die Mehreinnahmen angeht,auch darauf zu achten haben. Wir müssen es schaffen,dass wir die Privatisierungserlöse aus dem Haushalt über-haupt herausbekommen und stattdessen durch die Absen-kung der Altschulden die Zinsausgaben weiter vermin-dern, sodass wir daraus dann auf Dauer auch diePostunterstützungskassen finanzieren können. Dahinwerden wir noch kommen müssen: das ist noch ein ziem-lich weiter Weg. Dann erst sind wir von den Zufälligkei-ten durch die Schwankungen des Kapitalmarktes – in die-sem Fall der Börse – unabhängig.Dieser Haushalt hält also Kurs. Er ist somit erstens einHaushalt der Konsolidierung – der zweite in Folge. Umdas klarzumachen: Es werden noch viele weitere folgenmüssen, weil es eine Grundlinie der Politik ist, die durch-gehalten werden muss; sonst werden wir das Ziel nie er-reichen.
Die Bundesregierung hält zweitens Kurs, weil sie Aus-gabendisziplin übt, um Spielräume für eine nachhaltigeEntlastung aller Steuer zahlenden Bürger und aller Unter-nehmen zu schaffen. Deswegen ist dieser Haushalt auchein Haushalt, in dem die größte Steuersenkung, die größteNettoentlastung, die es in der Geschichte der Bundesre-publik jemals gegeben hat – das gilt im Moment auch fürdie Situation in der Europäischen Union –, verkraftet wer-den muss: 45Milliarden DM Nettoentlastung im nächstenJahr; das sind 1,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt.Teilt man es auf, macht das für die Privathaushalte unge-fähr 30 Milliarden DM und für die Unternehmen 15 Mil-liarden DM aus. Dieser Weg wird konsequent fortgesetzt.Bei dieser Gelegenheit möchte ich zunächst deutlichmachen – weil auch diese Diskussion bei uns immer wie-der geführt wird – dass das deutsche Steuerrecht nicht daskomplizierteste in der Welt ist. Auch diese Debatte solltenwir nicht weiterführen; sie schadet uns, weil die zugrundeliegende Behauptung nicht wahr ist.
– Weil sie nicht wahr ist. Ich habe gerade den Präsidentender International Fiscal Association zu dieser Angelegen-heit befragt.
– Sie brauchen nur Herrn Faltlhauser zu fragen, der ja da-bei war. – In dieser Organisation sind alle Steuerrechtsex-perten der Welt vereint. Die Antwort auf die Frage, werdas komplizierteste Steuerrecht hat, fällt eindeutig aus:die Vereinigten Staaten. Unseres ist nicht einfach. Das istüberhaupt nicht zu bestreiten und da haben wir noch eineMenge zu tun. Aber auch von internationalen Expertenhabe ich bestätigt bekommen, dass gerade der Übergangvom Vollanrechnungs- auf das Halbeinkünfteverfahren
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Bundesminister Hans Eichel11061
eine dramatische Vereinfachung des deutschen Körper-schaftsteuerrechts darstellt.
– Ich kann ja nichts dafür, meine Damen und Herren,wenn Sie die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen. Ich sageIhnen nur: Mit einer Politik, die die Fakten nicht zurKenntnis nimmt, sind Sie in diesem Sommer schon ein-mal gescheitert. Machen Sie das doch nicht weiter!
Diese Politik der nachhaltigen Steuerentlastung führtauch zu einer Absenkung der Staatsquote.Auch dies ha-ben Sie in diesem Hause immer wieder bestritten. Wir hat-ten die höchste Staatsquote in Deutschland – ich sage aus-drücklich: ich kritisiere das nicht, weil die deutscheEinheit ohne eine höhere Staatsquote gar nicht zu machengewesen wäre – im Jahre 1995 mit 50,9 Prozent. Wir hat-ten 1999 gut 48 Prozent, in diesem Jahr haben wir gut47 Prozent und die Tendenz geht gegen 45 Prozent imJahre 2002. Das heißt, wir ziehen uns ein Stück zurück,um den Bürgern und den Unternehmen mehr eigene Ge-staltungsmöglichkeiten zu lassen. Das ist eine vernünftigePolitik, wenn man sie sozial gerecht ausgestaltet.
Die Steuerentlastung zum 1. Januar 2001, die in diesemHaushalt steckt und sowohl diesen Haushalt als auch dieHaushalte der Länder und Gemeinden sehr strapaziert,führt dazu, dass gegenüber der Situation, die wir im Jahre1998 übernommen haben, als die Bürgerinnen und Bürgerdiese Koalition mehrheitlich gewählt haben, zum Beispieleine ledige Fachverkäuferin mit einem Jahresbruttover-dienst von 40 000 DM im Jahre 2001 um 1 209 DM steu-erlich entlastet wird
oder ein verheirateter Schlosser mit zwei Kindern undmit einem Jahresbruttoverdienst von 60 000 DM um2 930 DM entlastet wird
oder eine ledige leitende Angestellte mit einem Jahres-bruttoverdienst von 120 000 DM um 1 717 DM steuerlichentlastet wird. Das sind die ganz konkreten Entlastungs-wirkungen der Steuersenkungspolitik, die wir eingeleitethaben.
Diese Entlastungspolitik, meine Damen und Herren –ich wiederhole: 45 Milliarden DM Nettoentlastung,1,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt –, ist die richtigeAntwort auf die Herausforderung, die uns zurzeit dasOPEC-Kartell und die Mineralölkonzerne bereiten:eine allgemeine Steuersenkung sowohl für Unternehmenals auch für Bürgerinnen und Bürger.
Vielleicht wird es tatsächlich einen Abfluss an Kauf-kraft – das trifft uns alle, das trifft viele auch hart; darüberwird man im Einzelfall bei der Sozialpolitik reden müs-sen – bei Privathaushalten, bei Unternehmen und beimStaat in Höhe von etwa 20 Milliarden DM aufgrund derhöheren Rohölrechnung in diesem Jahr geben. Ich wie-derhole aber: Wir, das heißt der Staat – also Bund, Länderund Gemeinden –, verzichten gleichzeitig auf 45 Milliar-den DM an Steuereinnahmen, die dadurch bei den Unter-nehmen und bei den Privathaushalten bleiben. Es gibtkein Land in Europa, das diese Ölpreiserhöhung so sehrkompensiert, wie wir das mit dieser Steuerreform ma-chen.
Ich weiß, Sie wollen die ganze Woche nur diese De-batte führen. Sie werden aber den Sachverstand überhauptnicht auf Ihrer Seite haben. Sie können ja reine Lobbypo-litik machen; mit Vernunft hat das, was Sie im Momentbetreiben, aber nichts zu tun.
Es ist ein Glück, dass uns diese Ölpreiserhöhungnicht im Zusammenhang mit der Wirtschaftsstruktur derfrühen 70-er Jahre erwischt hat. Damals hat eine sozial-liberale Bundesregierung die richtigen Konsequenzen ge-zogen und hat – übrigens das erste Mal im großen Stil –eine Politik der Steigerung der Energieeffizienz und derEnergieeinsparung eingeleitet.
Als Konsequenz daraus haben wir heute einen um45 Prozent verminderten Energieeinsatz. Ich will mir abernicht vorstellen, was es für unsere Inflationsrate und fürden Abfluss an Geld tatsächlich bedeutet hätte, wenn wirdiesen Infrastrukturwandel nicht gemacht hätten. Es istdoch eine erstaunliche Leistung, dass wir trotz einer Ver-dreifachung des Rohölpreises – angesichts des schwachenAußenwertes des Euro im Verhältnis zum Dollar sogar ei-ner Vervierfachung – gegenüber dem Importpreis einePreissteigerungsrate haben, die bereits wieder fällt und imAugust bei 1,8 Prozent lag. Darin liegt die enorme Leis-tung dieser Volkswirtschaft.
Es ist übrigens eines der dramatischen Dinge: Ich warbeteiligt an den damaligen Versuchen – das ist übrigensnicht neu –, zu einem Energiekonsens mit einem Ausstiegaus der Kernenergie noch vor der Bundestagswahl zukommen, die der jetzige Bundeskanzler als niedersächsi-scher Ministerpräsident damals favorisiert hat. Wir habenseinerzeit die vorige Bundesregierung gebeten, sie möge
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doch erst einmal auf den Tisch legen, was sie selbst zurEnergieeinsparung und Förderung der Energieeffizienz inihrer Zeit getan hat. Wissen Sie, was die Listen, die wir er-halten haben, enthielten? Auf den Listen standen Pro-gramme der sozialliberalen Koalition und dahinter stand:„ausgelaufen 1983, ausgelaufen 1984, ausgelaufen1985“. Stellen Sie sich einmal vor, wo wir heute stehenwürden, wenn Sie die Politik, die wir eingeleitet haben,fortgeführt hätten!
Die Unternehmensteuerreform verstärkt den Stand-ortvorteil Deutschlands und die Attraktivität Deutsch-lands für internationale Investitionen ganz erheblich. Dasheißt, wir haben eine gute Chance, von den 20 Milliar-den DM, die aus unserer Volkswirtschaft in RichtungOPEC abfließen, einen erheblichen Teil über ausländischeDirektinvestitionen zurückzuholen.
Darum wollen wir kämpfen und auch dafür machen wirdiese Steuerreform.
Sie müssen an dieser Stelle mit Ihren Zwischenrufenganz vorsichtig sein. Zu Ihrer Regierungszeit hat das Ka-pital einen Bogen um Deutschland gemacht und erst seit1999 steigen die ausländischen Direktinvestitionen wie-der, wie es Ihnen Herr Kollege Müller deutlich gemachthat.
Das, was wir mit dieser enormen Steuerentlastung leis-ten, ist allerdings auch das Maximum dessen, was die öf-fentlichen Haushalte leisten können. Es bedeutet, dasswir, auf das Jahr bezogen, eine leichte Erhöhung des De-fizits im Jahre 2001 gegenüber 2000 hinnehmen. Das istnicht schön und das habe ich meinen Kollegen in Brüsselauch nur mit dem Hinweis verständlich machen können,dass wir alle Anstrengungen unternehmen werden, um ausder Wachstumsschwäche – wir sind nämlich seit 1995 aufdem zweitletzten Platz in der Europäischen Union – he-rauszukommen, weil die deutsche Volkswirtschaft als diestärkste in Europa natürlich auch bei den Großen mitvorne stehen muss. Wir werden das nach all den Progno-sen, die wir heute kennen – insbesondere nach der des In-ternationalen Währungsfonds –, auch erreichen. Ich binda eher ein bisschen vorsichtig. Aber wir haben jetzt diereelle Chance, bei den Volkswirtschaften in Europa an dieSpitze zu kommen.
Ich bedanke mich deswegen ausdrücklich bei all denBundesratsmitgliedern – wir werden darüber noch disku-tieren, wenn das Steuersenkungsergänzungsgesetz inden Bundestag eingebracht wird –, die die Ansicht hatten,dass es falsch ist, ein Machtspiel um die Frage zu betrei-ben – ich unterstelle, auch Sie wollten die Steuerreform –,ob wir das termingemäß vor der Sommerpause hinbe-kommen oder ob wir das in den Herbst verschieben. EineVerschiebung der Steuerreform wäre Gift für die Kon-junktur in Deutschland und für unser Ansehen in Europagewesen.
Wir werden das noch abzuarbeiten haben, was uns dieMehrheit des Bundesrates, die diese Steuerreform mitge-tragen hat, zur Auflage gemacht hat. Wir werden es punkt-genau umsetzen. Ich sage ausdrücklich: Die rheinland-pfälzische Landesregierung und Herr Brüderle, die dabeifederführend waren, haben ausdrücklich bestätigt, dasswir mit den Mitteln, die wir in das Steuersenkungsergän-zungsgesetz eingestellt haben, auf Punkt und Komma dasumsetzen, was wir verabredet haben.
Über die Details der Ausgestaltung kann man reden.Warum denn nicht? Alles kann in einem bestimmten Au-genblick auch nicht vereinbart werden. Aber wir habengenau den Umfang dessen eingebracht – da sind wir ab-solut zuverlässig –, was wir zugesagt haben. Genau damitwird sich als Erstes der Bundesrat beschäftigen. Danachwerden wir uns im Deutschen Bundestag damit ausei-nander setzen.Drittens. Die Bundesregierung hält Kurs: Sie spart, umDeutschland zu erneuern und um in die Zukunft zu inves-tieren, ohne dafür zusätzliche Schulden zu machen. NeueSchulden dürfen wir nicht machen.Beispiel Verkehrsinfrastruktur: Wir haben rund 20Mil-liarden DM für Verkehrsinvestitionen in den Haushalteingestellt. Das ist zwar eine gute Verstetigung; aber es istnicht das, was wir auf Dauer benötigen. Darum wollen wirkeinen Moment herumreden. Das war auch der Grund,warum seinerzeit Verkehrsminister Müntefering, dessenAmt nun Herr Klimmt übernommen hat, und ich die Ein-setzung einer Kommission verabredet hatten, die sich mitder Frage beschäftigen soll: Wie groß ist der Bedarf undwie kann die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur lang-fristig sichergestellt werden? Aus der Antwort der Kom-mission auf diese Frage werden die Konsequenzen zu zie-hen sein.An dieser Stelle ziehen wir auch die Konsequenzen aus– ich sage: in dem Punkt – dem glücklichen Umstand,dass die Versteigerung der UMTS-Lizenzen so viel Gelderbracht hat und dass wir deshalb das Geld, das wir nichtmehr für Zinsen ausgeben müssen, schwerpunktmäßiggerade in die Verkehrsinfrastruktur und in die Schienesowie in Bildung und Forschung und in ein Altbau-sanierungsprogramm, mit dem das Ziel der Verbesserungder Wärmedämmung verfolgt wird, investieren können.Das wird zwischen den Koalitionsfraktionen und derBundesregierung im Einzelnen verabredet und in derHaushaltsbereinigungssitzung in den Haushalt einge-bracht werden.
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Bundesminister Hans Eichel11063
Beispiel Aufbau Ost: Die Ausgaben für den AufbauOst bleiben auf hohem Niveau. Auch hier ist völlig klar,dass die Bundesregierung ihre Konsolidierungspolitikauch betreibt, um auf Dauer – also über das Jahr 2004 hi-naus – Leistungen für den Aufbau Ost erbringen zu kön-nen, weil wir wissen – wir wissen das nicht erst seit derReise des Bundeskanzlers durch die neuen Bundesländer;das war nur die Inaugenscheinnahme; denn das Bundes-kanzleramt wie das Wirtschaftsministerium und das Fi-nanzministerium und alle anderen jeweils betroffenen Mi-nisterien haben immer intensive Gespräche geführt –,dass wir noch eine Menge zu leisten haben, wenn der Auf-holprozess der neuen Länder wirklich gelingen soll undwenn sie an das Niveau der westdeutschen Länder heran-kommen sollen. Das muss unsere gemeinsame Zielset-zung sein.
Wir investieren nachdrücklich in Maßnahmen zurEnergieeinsparung und Förderung der Energieeffizi-enz. Wir haben mit dem 100 000-Dächer-Programm einneues Programm zur Förderung der Photovoltaik aufge-legt, um die Umstellung von der Kleinproduktion zurMassenproduktion voranzutreiben. Das Programm isteine Markteinführungsbeihilfe, um eine Kostendegres-sion zu ermöglichen und um dann in der Zukunft die Ver-breitung der Photovoltaik in unserem Land über denMarkt zu ermöglichen.Den Etat des Programms zur Förderung von Ein-zelmaßnahmen bezüglich erneuerbarer Energien habenwir – das bleibt auch mittelfristig so – um jeweils 180Mil-lionen DM pro Jahr aufgestockt.Ich komme jetzt auf die Förderung der Forschung,der neuen Technologien und der Hochschulen zu spre-chen. Der Anteil des Etats des Bundesministeriums fürBildung und Forschung am Gesamthaushalt wird wiederwachsen. Sie waren im Jahr 1982 in der Situation, einenHaushalt übernehmen zu können, bei dem der Anteil die-ses Minis-teriums 3,74 Prozent vom Bundeshaushalt be-trug, und zwar bereinigt. Sie haben im Jahr 1998 mit3,11 Prozent die niedrigste Rate erreicht. Wir erhöhen die-sen Haushalt systematisch – das ist ein sehr mühseligesGeschäft – auf 3,21 Prozent; damit wächst er, gemessenan allen Anteilen am Bundeshaushalt, am stärksten.
Er wächst allein in diesem Jahr um 780 Millionen DMbzw. um 5,4 Prozent – und das bei einem Haushalt, dersonst nominal konstant bleibt.Nehmen wir die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschul-bau“, für die der Mittelansatz bei Ihnen über lange Zeitimmer 1,8 Milliarden DM betrug. Im Haushalt 2001haben wir die Mittel dafür auf rund 2,2 Milliarden DMerhöht.
Und die zusätzlichen Mittel für Projekte der institutionel-len Förderung von Bildung und Forschung werden von300 Millionen DM im nächsten Jahr auf 1 070 Millionenim Jahr 2004 erhöht. Mit anderen Worten: Wir machenmit dem Schwerpunkt Bildung und Forschung ernst.
Mancher mag sagen, auch das müsste mehr sein. Aber,meine Damen und Herren, es ist die richtige Richtung.Die entscheidende Frage ist: Welches Erbe haben wir an-getreten, um aus diesem Keller wieder herauszukommen?
Schließlich, meine Damen und Herren, modernisierenwir den Staat. Es genügt nicht – ich sage das mit allemNachdruck – zu meinen, man hätte für den SchwerpunktBildung und Forschung genug getan, wenn man denHochschulen mehr Geld gibt. Mit dem öffentlichemDienstrecht des 19. Jahrhunderts werden wir keine kon-kurrenzfähigen Universitäten des 21. Jahrhunderts be-kommen.
Das ist eine schwierige Aufgabe für Frau KolleginBulmahn, aber sie hat sie angepackt. Dies wird zu hefti-gen Kontroversen, aber auch zu notwendigen Entschei-dungen führen.
Die Bundeswehrreform wird im Rahmen unseres ge-meinsam verabredeten finanziellen Tableaus mit einerFülle von innovativen neuen Möglichkeiten, die sich derVerteidigungsminister ausgedacht hat, umgesetzt. Eskann in der Tat nicht so weitergehen, dass wir eine Truppemit zwar vergleichsweise vielen Menschen, aber veralte-ten Geräten haben. Damit kann man bei den neuen Auf-gaben in Zukunft nicht bestehen.
Die Reform der Finanzverwaltung wird jetzt ange-packt. Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts habenwir hinter uns gebracht. Dies war auch ein schmerzhaf-tes Thema. Wieso war das im vereinigten Europa mit Ih-nen – dies sage ich mit Blick auf die große Oppositions-partei, die sich selber als große Europapartei angesehenhat – so schwierig?Viertens. Die Bundesregierung hält Kurs: Sie spart, umDeutschland gerechter und menschlicher zu gestalten,ohne dafür zusätzliche Schulden zu machen.Zur Familienförderung: Es ist schon bedrückend,dass das Bundesverfassungsgericht nach 16 Jahren christ-lich-sozialer, christlich-demokratischer und liberaler Ko-alition dem Gesetzgeber bescheinigt, dass er die Familienverfassungswidrig hoch besteuert.
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Bundesminister Hans Eichel11064
Es kann doch nicht sein, dass heute in Deutschland das Ri-siko der Armut besteht, wenn junge Leute mit vergleichs-weise niedrigem Tarifeinkommen heiraten und Kinder be-kommen. Das ist in einem so reichen Land wie demunserigen ein unerträglicher Zustand.
Wir haben bereits zweimal das Kindergeld erhöht, undzwar für das erste und zweite Kind jeweils um 50 DM.Das heißt, einer Familie mit zwei Kindern stehen nichteinmal zwei Jahre nach Antritt dieser Regierung jährlich1 200 DM mehr zur Verfügung.
Das Thema Erziehungsgeldreform – seien Sie ganzvorsichtig – haben Sie das letzte Mal vor acht Jahren an-gefasst. Da liegt überhaupt ein Problem Ihrer Sozialpoli-tik. Sie haben über fast zehn Jahre in diesem Bereich über-haupt nichts mehr getan. Nach und nach ist die Zahl derBerechtigten immer weiter zusammengeschrumpft. Daswar Sozialabbau, ohne dass man irgendeine gesetzgeberi-sche Maßnahme durchführen musste.
Es gibt strukturell 300 Millionen DM mehr Erzie-hungsgeld. Im nächsten Jahr sind es nur 100 Milli-onen DM, weil an der Stelle zunächst die Tatsache wirkt,dass wir weniger Kinder haben. Ich will sagen, was dasbedeutet: Eine Alleinerziehende mit einem Kind und ei-nem Bruttomonatslohn von 3 500 DM bekommt bis hinzur Höchstgrenze 43 DM im Monat zusätzlich. Eltern miteinem Kind und einem Bruttomonatslohn von 4 500 DMbekommen im Monat 45 DM zusätzlich. Bei Eltern mitzwei Kindern sind es 105 DM mehr. Rechnen Sie das bittezu den von uns vorgenommenen Steuererleichterungenhinzu!Ich komme zum Programm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit, das diese Regierung auf denWeg gebracht hat. Damit wir die 2 Milliarden DM ausge-ben können, sparen wir, um dafür keine Schulden zu ma-chen; denn wir lassen die jungen Leute nicht auf derStraße stehen.
Ich sage mit allem Nachdruck – ich weiß, dass das nochein bisschen streitig ist –: Ich bin darüber froh, dass durchdie Arbeitsmarktentwicklung – auch das hat zumindestetwas mit unserer Politik zu tun – die Bundesanstalt fürArbeit in der Lage ist, dieses Programm in ihrem Haushaltzu finanzieren; denn entscheidend ist, dass es finanziertwird. Wir starten eine neue Lehrstelleninitiative mit jähr-lich 200 Millionen DM.Ich erinnere an unsere BAföG-Reform. Auch diesesThema haben Sie vor zehn Jahren das letzte Mal ange-fasst. 1991 gab es im damals wieder vereinigten Deutsch-land 605 000 BAföG-berechtigte Studentinnen und Stu-denten. 1998 waren es nur noch 340 000. In der Differenzdieser Zahlen drückt sich das ganze Elend der Förderungvon jungen Studentinnen und Studenten aus. Das wardoch keine Zukunftssicherung.
Deutschland hat im internationalen Vergleich mit diegeringste Zahl von Studentinnen und Studenten in einemJahrgang. Das heißt, wir investieren zu wenig in dieKöpfe unserer jungen Leute. Wir müssen Bildungsbarrie-ren, die neu entstanden sind, in der Tat abbauen. Das allesgeht nicht von heute auf morgen; aber es muss gemachtwerden. Wir nehmen dies mit dem Haushalt 2001 in An-griff.
Auch das Thema Wohngeldreform haben Sie dasletzte Mal vor zehn Jahren angefasst. Sie haben damalseine Sonderregelung für die neuen Bundesländer getrof-fen, die am Ende dieses Jahres auslaufen würde. UnsereKonsequenz daraus ist nicht, dass wir sie auslaufen las-sen; vielmehr sagen wir: Das, was für die neuen Länderdamals zu Recht gemacht worden ist, muss für die ganzeRepublik gelten. Das heißt, auch hierfür müssen Bundund Länder zusätzlich 1,4 Milliarden DM in die Handnehmen, um dann zu einer – allerdings bemerkbaren – An-passung der Wohngeldleistungen in den ostdeutschenLändern an die der westdeutschen Länder zu kommen.
Das heißt zum Beispiel – auch das will ich deutlich ma-chen –, dass eine Alleinerziehende mit einem Bruttomo-natslohn von 3 500 DM mit einem Kind 30 DM mehrbekommt. Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern be-kommt zusätzlich 60 DM. Ein Ehepaar mit zwei Kindernbekommt 65 DM mehr und ein Ehepaar mit drei Kindernerhält 95 DM mehr. Addieren Sie das bei all den Rech-nungen, die Sie in diesen Tagen anstellen, bitte einmalzum Kindergeld und zu dem, was wir an steuerlichen Ent-lastungen vorgenommen haben, hinzu, dann kommen Sienämlich zu ganz anderen Ergebnissen!
Die Arbeitsmarktpolitik bleibt auf hohem Niveauverstetigt, obwohl wir – lassen Sie mich das frank und freisagen – darüber reden müssen, was wir machen, wenn– was ich hoffe – die Entwicklung des Arbeitsmarkts sogut weitergeht. In den ostdeutschen Ländern, wo wir dieal-lergrößten Probleme hatten, beginnt diese Entwicklunggerade erst. Man wird – das will ich hier deutlich sagen –zu diskutieren haben, ob wir nicht auch dort zu einer an-tizyklischen Betrachtung kommen müssen, weil wir dann,wenn es wieder schlechter läuft – das kann eines Tagesdurchaus passieren –, etwas drauflegen müssen.
– Ich habe im Moment andere Sorgen, Herr Hoyer, nach-dem wir eine Nettoentlastung von 45 Milliarden DM zu-stande gebracht haben. Nicht an allen Stellen geht es auf
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Bundesminister Hans Eichel11065
einmal. Mit reiner Lobbypolitik werden Sie das Finanz-tableau nicht in Ordnung halten.
Nun nehmen wir die Rentenreform in Angriff. Auchdafür wurde zum einen in diesem Haushalt Vorsorge ge-troffen, zum anderen aber auch schon mit der Steuerre-form, deren Entlastungsschwerpunkt bei den unterenEinkommensschichten liegt. Ich gebe zu, dass das nachdem Vermittlungsverfahren im Bundesrat nicht mehr sodeutlich ist wie in dem Entwurf, den wir eingebracht ha-ben, aber so ist das, wenn man, um durchzukommen,Mehrheiten finden muss, die man selber nicht hat. Das istin Ordnung. Das muss man akzeptieren. Ich lege aberschon Wert auf die Feststellung, dass der Schwerpunkt derEinkommensteuerentlastung bei uns ganz klar bei den un-teren Einkommen lag. Das hat unter anderem etwas damitzu tun, dass man, wenn das gesetzliche umlagefinanzierteRentensystem wegen der enormen demographischen Ver-schiebung in der Zukunft nicht mehr so leistungsfähigsein kann, den Menschen mehr Freiraum für Eigenvor-sorge geben muss. Das heißt zuallererst: Ihre Steu-erbelastung muss herunter. Genau das haben wir gemacht.Um in dieser Debatte für die Öffentlichkeit deutlich zumachen, worum es geht, halte ich noch einmal fest: AmAnfang dieses Jahrhunderts kommen auf 100 Beschäf-tigte etwas über 40 Rentnerinnen und Rentner. In derMitte dieses Jahrhunderts werden auf 100 Beschäftigteetwa 90 Rentnerinnen und Rentner kommen. Wenn mansich allein dies vor Augen führt, wird deutlich, vor wel-cher Aufgabe wir hier stehen.Eine erste Antwort zur Lösung dieser Aufgabe steckt inder Frage: Wie viel Wirtschafts- und Produktivitäts-wachstum schaffen wir? Darin liegt der Schlüssel für eineeinigermaßen vernünftige und für alle, nämlich für dieBeschäftigten wie die Rentner, erträgliche Lösung derAufgabe. Somit komme ich wieder auf eine Politik, dieaus der Schuldenfalle herausführt, zurück: Angesichtsdieser Aufgabe in den nächsten 50 Jahren dieses Jahrhun-derts kann man nicht einen so hohen Schuldenberg in dieerste Hälfte des 21. Jahrhunderts mitnehmen.
Die zweite Antwort darauf, meine Damen und Herren,liegt darin, dass wir, wie es der Bundeskanzler zugesagthat, den Bundeszuschuss ordentlich erhöht haben. Alleinvon 2000 auf 2001 steigt er um 10 Milliarden DM auf137Milliarden DM. Um 10Milliarden! Wer jetzt über dieÖkosteuer redet, sollte wenigstens so ehrlich sein, denMenschen zu sagen, dass wir, wenn wir diese aussetzen,bei der nächsten Stufe in 2001 die Rentenversicherungs-beiträge um 0,3 Prozentpunkte erhöhen.
Verweisen Sie doch nicht nur auf die schöne Seite der Me-daille! Ein Finanztableau hat auch immer eine andereSeite.
Reden wir einmal darüber, was das wirklich bedeutet!Ein Arbeitnehmerhaushalt mit vier Personen und einemEinkommen von 5 000 DM würde bei einer jährlichenFahrleistung von 15 000 Kilometern durch die Ausset-zung der nächsten Stufe der Ökosteuer gerade einmal um7 DM entlastet. Um 7 DM, meine Damen und Herren!
Das setzt immer voraus, dass die Konzerne nicht sofortnachziehen.
– Das ist Ihre Rechnung. Wenn ich mir die Bundesschuldim Bundeshaushalt ansehe, entsteht bei mir immer derEindruck, dass Sie im Rechnen nicht sehr stark waren,sonst hätten wir nie so weit kommen können.
Eine Einsparung von 7 DM würde aber auf der ande-ren Seite bedeuten, dass der Rentenversicherungsbeitragum 2,50 DM erhöht werden müsste. Das macht untermStrich eine monatliche Entlastung von 4,50 DM. Dassollte sich jeder überlegen, der jetzt das Thema Ökosteueranspricht. Mit dem, was die OPEC und die Konzerne jetztmachen, haben der Haushalt dieser Bundesregierung undunsere Gesetzgebung nichts zu tun.
Wir fördern steuerlich die private Zusatzversorgung.Im Haushalt ist der erste Betrag dafür eingestellt. Es müs-sen sich aber alle daran beteiligen, auch die Länder undGemeinden. Verbunden wird dieses mit einer ganz starkenKinderkomponente, die nach acht Jahren nachhaltig auf19,5 Milliarden DM steigt. Ich finde, das ist ein sehr fai-res und vernünftiges Angebot, das der Bundeskanzler undder Arbeitsminister Ihnen in den Gesprächen gemacht ha-ben. Ich würde es für vernünftig halten, wenn jedenfallsdieser Teil – das war immer sozialdemokratische Posi-tion – im Konsens zwischen den Generationen, den ge-sellschaftlichen Gruppen und den Parteien verabschiedetwerden könnte. Denn es gibt für die Rente keine größereSicherheit – und Sicherheit ist das Allerwichtigste –, alsdass darum keine Verteilungskämpfe in der Gesellschaftzwischen verschiedenen Gruppen und politischen Par-teien ausgetragen werden. Ich denke, das sind wir ge-meinsam allen schuldig.
Meine Damen und Herren, der Haushalt, den ich Ihneneben vorgestellt habe, ist ein Haushalt der Zukunftssiche-rung. Wir entlasten unsere Kinder und Enkel, indem wirdie Lasten, die wir selbst verursacht haben, künftig auchselber bezahlen wollen und die Lasten, die es außerdemgibt – das muss dann das Nächste sein –, Schritt umSchritt vermindern. Wir entlasten die Bürger und die Un-ternehmen, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern.Wir investieren in Deutschlands Zukunft, ohne dafür
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Bundesminister Hans Eichel11066
zusätzliche Schulden zu machen. Wir sorgen für Gerech-tigkeit und für mehr Menschlichkeit in unserer Gesell-schaft. Wir lösen den Reformstau auf, der in den letztenfünf bzw. zehn Jahren dieses Land geprägt hat.
Diese Politik ist europäisch abgestimmt. Wir werdenuns im Deutschen Bundestag – ich sage das auch gerich-tet an die Länderparlamente – mit dem, was wir in Europakünftig gemeinsam tun müssen, viel intensiver zubeschäftigen haben als in der Vergangenheit. Sie müssenzum Beispiel bei der Kampagne, die Sie gerade planen,auch einmal überlegen, wie das im europäischen Kon-text aussieht. Ich sage Ihnen ganz ausdrücklich: Alle15 Finanzminister, unabhängig davon, ob der eine oderandere zu Hause so unter Druck geraten ist, dass er einbisschen nachgegeben hat – übrigens auf einem viel höhe-ren Level –, wissen, dass es Unfug ist, auf die Preistrei-berei von OPEC und Konzernen mit der Rücknahme vonSteuern zu antworten, weil diese nur nachrücken würden.
Deswegen ist das ein Verteilungskampf. Im Innerenmüssen wir das sozial vernünftig gestalten, jawohl. Aberdie richtige Antwort ist die, die wir mit einer allgemeinenSenkung der Steuern und Abgaben für alle Bürger diesesLandes und für die Unternehmen dieses Landes gegebenhaben.
Alles andere wäre keine vernünftige Antwort.
Diese Politik ist erfolgreich. Wir haben in diesem Jahrauf jeden Fall ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent.Im vergangenen Jahr lagen wir noch bei 1,6 Prozent. Wirhaben auch für nächstes Jahr ein Wirtschaftswachstumvon – ich bleibe eher auf der vorsichtigen Seite – 2¾ Pro-zent zu erwarten. Die Schätzungen gehen bis 3,6 Prozent.Der Internationale Währungsfonds, immerhin unbestrit-tene Autorität auf diesem Gebiete, rechnet für nächstesJahr mit 3,3 Prozent Wachstum für Deutschland. Ich binda ein bisschen vorsichtiger. Als Finanzminister lasse ichmich lieber angenehm als unangenehm überraschen. Ichfinde, das ist auch eine richtige Maxime für die Finanz-politik.
Wir bauen Beschäftigung auf. Wir haben in diesem undim nächsten Jahr das höchste Beschäftigungswachstumseit der Wiedervereinigung Deutschlands: 170 000 neue,zusätzliche Arbeitsplätze in diesem Jahr, 270 000 – sagtdie Bundesanstalt für Arbeit – im nächsten Jahr. Das heißt,auch für Ihre Propagandaschriften: Der Abbau der Ar-beitslosigkeit erfolgt nicht im Wesentlichen deswegen,weil viel mehr Ältere ausscheiden als Junge einsteigen,sondern zuallererst deswegen, weil wir einen Beschäfti-gungsaufbau haben. Das wollen wir auch.
Wir haben dieses große Wirtschaftswachstum gleich-zeitig, trotz der enormen Ölpreissteigerung, mit einem ho-hen Maß an Preisstabilität erreicht; wir sind in diesemJahr unterhalb des Inflationszieles der EuropäischenZentralbank bei 1,8 Prozent geblieben, weil die Mietenstabil geblieben sind, weil die Nahrungsmittel viel billigergeworden sind, weil wir zum Beispiel im Telekom-munikationsmarkt die Politik der Deregulierung haben– die auch schon Ihre war, das bestreite ich gar nicht –, diewir konsequent fortsetzen.
– Da müssen Sie doch gar nicht schimpfen. Wir haben daszusammen beschlossen, das war aber in Ihrer Regie-rungszeit. – Diese Politik erhöht unser Ansehen in derWelt.Das World Economic Forum – das ist der aktuellsteAusweis – setzt im Global Competitiveness Report
Deutschland für das Jahr 1999 im Ranking von Platz 25herauf auf den Platz 15. Das ist eine Veränderung umzehn Plätze nach oben. In Europa gibt es nur noch ein ein-ziges Land, das einen solchen Sprung nach oben machenkonnte, nämlich Ungarn. Alle anderen Länder haben we-niger erreicht.Ganz Europa entwickelt sich nach vorne. Das freutmich ganz außerordentlich. Dabei haben unsere Steuerge-setze – mit Ausnahme der Gesetze zur Haushaltskonsoli-dierung – noch gar nicht gewirkt. Sie können also davonausgehen, dass die Zahlen nächstes Jahr noch ein bisschenbesser aussehen, wenn wir uns vernünftig verhalten.Man spürt es in der ganzen Welt: Deutschland genießtinzwischen ein besseres Ansehen. Deutschland ist nichtmehr – um den Kanzler zu zitieren – der kranke Mann Eu-ropas,
sondern Deutschland ist das Land, das in Europa die Re-formen vorantreibt und das Europas Wirtschaft wieder inSchwung bringt.
Wir sind mit unseren Reformen auf einem richtigenund sehr erfolgreichen Weg. Man kann über alles disku-tieren. Ich lade Sie zu einer sachbezogenen Diskussionüber diese in der Tat sehr erfolgreiche Politik ein.
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Bundesminister Hans Eichel11067
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Dietrich Austermann, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister hatsich bemüht, einen Eindruck von der Wirklichkeit zu ver-mitteln, der nicht den Tatsachen entspricht.
Es begann mit der Beschreibung der Wirkungen der Poli-tik – bei den entsprechenden Haushaltszahlen waren seineAusführungen allerdings relativ bescheiden – und gipfeltein der Feststellung, die er – ich habe genau gezählt – vier-mal gemacht hat: Wir sind mit unserer Politik vorange-kommen, ohne zusätzliche Schulden zu machen. – Dieswar die erste mehrfach wiederholte falsche Behauptung.Der Bundesfinanzminister hat gesagt, der Schnitt seivor einem Jahr gemacht worden und ab dann sei es in dierichtige Richtung gegangen. Was war eigentlich in demJahr davor? Sind Sie nicht schon zwei Jahre an der Re-gierung? Wer hat eigentlich damals die Politik gestaltet?Wenn ich Bilanz ziehe, stelle ich fest: Sie haben völligzu Recht darauf hingewiesen, dass Sie in den ersten bei-den Jahren 100 Milliarden DM – 49 Milliarden DM plus51 Milliarden DM – neue Schulden gemacht haben. Umdiese Schulden zu tilgen, kann man jetzt möglicherweisedie Erlöse aus der UMTS-Auktion einsetzen. Aber dieTatsache bleibt, dass Sie bis jetzt nicht ohne neue Schul-den ausgekommen sind.Wenn Sie immer wieder die Formulierung „raus ausder Schuldenfalle“ gebrauchen, die Ihnen offensichtlichHerr Schmidt-Deguelle aufgeschrieben hat, dann leugnenSie natürlich gegenüber der Öffentlichkeit, dass dieseSchuldenfalle in einem ganz erheblichen Maße von sozi-aldemokratisch regierten Ländern zu verantworten ist, dieimmer mit dabei gewesen sind, wenn es darum ging,draufzusatteln und Forderungen im Interesse der Länderund auch außerhalb der Länderinteressen zu erheben.
Ich will jetzt nicht meine Redezeit darauf verwenden,das geradezurücken, was Sie falsch dargestellt haben. Ichkönnte über das Thema „größte Steuerreform der Ge-schichte“ reden. Sie haben offensichtlich die Steuerre-formen der Jahre 1986, 1988 und 1990 von GerhardStoltenberg vergessen, die immerhin zu einem Beschäfti-gungszuwachs von 2 Millionen geführt haben.
Sie haben gesagt, die Antwort müsse lauten: Wachstumund Beschäftigung ankurbeln. Weshalb sind wir dann inEuropa – nur Italien liegt hinter uns – Vorletzter, was dasWirtschaftswachstum betrifft?Sie haben ferner gesagt, wir hätten nicht genügend imBereich der erneuerbaren Energien getan. Ich kann michnicht daran erinnern, dass auch nur ein einziges Kern-kraftwerk in den 16 Jahren der Regierung Helmut Kohlgebaut wurde. Sie wurden alle vor dieser Zeit gebaut.Ich stelle aber fest, dass im Jahre 1998, in dem Jahralso, in dem Sie die Regierung übernommen haben,Deutschland Weltmeister im Bereich der erneuerbarenEnergien, der Windenergie und der Solarzellenproduk-tion, war, dass dies unter der Verantwortung der damali-gen Umweltministerin der CDU/CSU gestaltet worden istund dass Sie heute bei den Gesetzen, die Sie in diesem Zu-sammenhang vor wenigen Monaten beschlossen haben,mit der EU Probleme haben. Dies betrifft unter anderemdie Fragen, ob es Beihilfen gibt oder nicht und ob das Er-neuerbare-Energien-Gesetz Bestand haben wird odernicht.Sie haben das Thema Staatsbürgerschaftsrecht ange-sprochen. Es ist klar, dass Ihnen das nach Ihrer Abwahl alshessischer Ministerpräsident im Frühjahr 1999 noch inErinnerung ist. Ob deswegen die damalige Position wie-derholt werden muss, ist die Frage.Was das Fördern und Unterstützen der Familien be-trifft: Ich habe gestern in der Zeitung gelesen, dass FrauSimonis, Ihre ehemalige Kollegin als Ministerpräsidentin,gesagt hat, sie lehne die Rentenreform ab, weil sie beson-ders Familien mit Kindern bestrafe. Ich stelle fest, dassdie Ausgaben für das Erziehungsgeld im kommenden Jahrverringert werden. Sie aber sprechen von einer Steige-rung, von Mehrausgaben usw.Sie sind inzwischen – das will ich gar nicht bestreiten –Meister der Etikette geworden.
– Ja, Meister des Etiketts. Etikette ist die Mehrzahl vonEtikett.
Die Flasche aber ist leer. Das, was auf der Flasche steht,ist nicht drinnen. Das gilt in besonderem Maße für dasSparen. Und wenn etwas anderes auf der Flasche steht, alsdrinnen ist, dann ist das ein Etikettenschwindel. Das istdoch ganz klar, Herr Poß.
Herr Eichel, Sie haben sich schließlich auf die Zustim-mung der Menschen im Land berufen, indem Sie gesagthaben: Das verstehen auch die Menschen; sie befürwor-ten den Kurs der Regierung. Sie haben Ihre Rede offen-sichtlich schon vor zwei, drei Monaten geschrieben. Dennwenn Sie sich heute auf der Straße umsehen, werden Siefeststellen: Die Menschen erwarten etwas ganz anderesals diesen Kurs.
Sie haben im Zusammenhang mit dem Rohöl von20 Milliarden DM gesprochen. Meine Rechnung, die, soglaube ich, jeder nachvollziehen kann,
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lautet: Heute kostet der Liter Sprit 60 Pfennig mehr als voreinem Jahr. Bei einem Verbrauch von 60 MilliardenTonnen Sprit kostet das den Autofahrer 36Milliarden DMmehr. Von den 60 Pfennig Mehrkosten haben Sie– gewissermaßen als Trittbrettfahrer der OPEC – dieMehrwertsteuer, also 9,8 Pfennig, und 12 Pfennig, die aufder ersten und zweiten Stufe der Ökosteuer beruhen, zuverantworten. 22 Pfennig von diesen 60 Pfennig Mehrko-sten gehen also auf Ihre Kappe. Dabei habe ich die ande-ren Energieträger noch gar nicht erwähnt.
– Wenn sich der Preis erhöht, dann geht auch der Anteilder Mehrwertsteuer in die Höhe. Das müsste ein Haus-hälter eigentlich wissen.
Nun eine Rechnung bezüglich des Heizöls: Wer heute3 000 Liter Heizöl bunkert, muss dafür doppelt so vielwie vor einem Jahr bezahlen. Er zahlt 1 500 DM mehr.Wenn Sie das, gemessen an der Heizölmenge, die inDeutschland voraussichtlich verbraucht wird, addieren,dann ergibt dies einen zusätzlichen Betrag von 18 Milli-arden DM. In dieser Rechnung sind die Bereiche Stromund Gas noch nicht einmal berücksichtigt.Dies bedeutet doch, dass die Kaufkraft abgeschöpftwird, dass das Realeinkommen der Menschen niedrigerwird. Wenn Sie dem eine Steuerentlastung von in der Tatrund 40 Milliarden DM im nächsten Jahr
gegenüberstellen, die Menschen gleichzeitig aber etwa65 Milliarden DM mehr zahlen müssen, dann ist dochklar, dass trotz dieser großen Steuerreform bei den Bür-gern nichts ankommt und für Investitionen und dafür, dassdie Bevölkerung mehr Geld in der Tasche hat, nichts übrigbleibt. Dies ist eine relativ einfache Rechnung.
Nun gibt es eine Reihe von Menschen, die sich – inEinzelfällen muss man schon sagen: in ihrer Verzweif-lung – dazu entschließen zu demonstrieren.
Dies sind Spediteure, Arbeitnehmer bzw. Menschen, diesagen: Das kann so nicht weitergehen; die Wirtschafts-kraft meines kleinen Unternehmens – ich habe meinePreise vor einem Jahr festgelegt – leidet darunter. Vor die-sem Hintergrund höre ich gestern den Bundeskanzlerziemlich arrogant sagen: Da rufen ja Menschen zur Nöti-gung auf. Das ist empörend, was dort geschieht. Mankann doch keinen Gesetzesbruch zulassen.Diese Äußerungen wundern mich umso mehr, da einTeil der Kabinettsmitglieder, insbesondere die betagteren,aus einer Zeit stammen, als Demonstrieren, gewaltsamesDemonstrieren und Gewalt gegen Sachen noch absolut inMode waren.
Dass die nun heute hergehen und sagen, es sei eine Zu-mutung, wenn Menschen für ihr Recht auf der Straße ein-treten würden, muss zumindest erstaunen.Meine Damen und Herren, wenn man die Basis diesesHaushalts ansehen will, muss man zunächst den Verlauf,den der Haushalt genommen hat, betrachten. Beim Haus-halt für das Jahr 2000 liegt inzwischen kein Stein mehr aufdem anderen. Ich nenne: Dollarkurs, Zwangsarbeiter,EXPO, Postunterstützungskasse, Arbeitslosenhilfe, Steu-ermehreinnahmen, Wohngeld, Privatisierungserlöse undZuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit. Ohne die Pri-vatisierungserlöse aus den UMTS-Lizenzen sähe derHaushalt wesentlich anders aus, als er ursprünglich be-schlossen wurde.Das bedeutet aus der Sicht der Haushälter und aus derSicht der Opposition: Wir brauchen einen Nachtragshaus-halt. Wir brauchen einen Haushalt, bei dem die Realitätmit den Haushaltszahlen in Einklang steht. Ich sage dasauch bezogen auf die 100 Milliarden DM aus den UMTS-Lizenzen. Ich möchte gern wissen, wo die im Momentsind. Sie verweigern dem Parlament die Auskunft da-rüber.
– Ich denke, bezüglich des Sparkurses, den Sie einleiten,wäre das zumindest volkswirtschaftlich dumm, weil Siedas Geld so lange Gewinn bringend anlegen könnten, bisSie die Schulden, die Sie selber in den ersten zwei Jahrengemacht haben, zurückgeführt haben.Das Parlament darüber im Unklaren zu lassen, wie undwo genau die Mittel eingesetzt werden, halte ich für ver-fassungsrechtlich bedenklich.
Das Budgetrecht ist das oberste Recht des Parlaments.
Sie geben den Koalitionsabgeordneten ein wenig Spiel-material an die Hand. Sie sagen: Über die 5,5 Milli-arden DM an Zinserträgen könnt ihr euch unterhalten. Ichfüge hinzu: Vielleicht nicht über den ganzen Betrag, dennHerr Metzger spricht nur von 4 Milliarden DM und zeigtdamit, dass er eine richtige Alternative in der Koalition, inder Opposition innerhalb der Koalition, darstellt. Weitersagen Sie: Über die 100 Milliarden DM entscheide ich.Ich verstehe, dass man, wenn man selbst nicht Abge-ordneter ist, eine gewisse Distanz hat.
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Es kann aber doch nicht so sein, dass das Parlament beiwesentlichen Entscheidungen über den Haushalt ausge-klammert wird.
– Doch, das ist der Bruch der Verfassung.
Herr Finanzminister, ich vergleiche nun die Realitätmit den Zahlen. Ich verstehe, dass es einen irritiert, wennman feststellt – so war es nach den letzten Haushaltsbera-tungen, insbesondere im Haushaltsausschuss –, dass derHaushalt hinterher genauso aussieht wie vorher. Man hatnichts machen können und versteht sich praktisch als„Fielmann-Koalition“, nach dem Motto: keinen Pfennigdazu bezahlt und nichts verändert.
Wir haben ein anderes Verständnis von der Aufgabedes Parlaments. Wir sagen: Wir wollen die Politik der ne-gativen Rekorde beenden. Nie haben die Menschen mehrSteuern in Deutschland gezahlt als in diesem Jahr, nie istmehr an Ausgaben getätigt worden als in diesem Jahr. DieAusgaben – Herr Eichel, Sie haben gesagt: „Wir spa-ren!“ – steigen gegenüber dem Jahr 1998 um 22 Milliar-den DM.Die Sparschweine auf Ihrem Schreibtisch dürften in-zwischen an Magersucht dahingeschieden sein. Sie wer-den sich kaum noch auf den Beinen halten können, weilnicht wirklich gespart wird, jedenfalls nicht beim Kon-sum, sondern nur bei den Investitionen.
Sie haben einen Rekord an Privatisierungserlösen. Das istdas, was Sie früher als Verschleuderung von Tafelsilberbezeichnet haben. Das ist eine gewaltige Bugwelle ausunserer Regierungszeit; das wird jetzt in großem Stil ein-gesetzt. Sie haben einen Rekord bei den Energiepreisen inDeutschland und einen negativen Rekord bei den Investi-tionen erreicht.Die Zahlen, die Sie genannt haben – auch auf die For-schung bezogen –, sind eindeutig falsch, und zwar sowohldie absoluten als auch die relativen Zahlen. Der Bundes-kanzler hat vor der Wahl – Sie, Herr Eichel, waren darannoch nicht beteiligt – versprochen, dass die Investitions-ausgaben für die Forschung verdoppelt würden.
Betrachten wir die heutigen Zahlen – ich nehme dabeiForschung und Technologie zusammen und ziehe denForschungshaushalt und den Haushalt des Wirtschafts-ministers heran –: Ich stelle fest, dass im nächsten Jahretwa 1,5Milliarden DM weniger für Forschung und Tech-nologie ausgegeben werden. Das ist Ihre Steigerung vonZukunftsinvestitionen.Sie setzen das auch bei den Investitionen im Bau- undVerkehrsbereich fort. Die Ausgaben betrugen im Jahr1998 für beide zusammen 54 Milliarden DM, im kom-menden Jahr werden es exakt 10 Milliarden DM wenigersein. Dann reden Sie davon, dass wir eine Steigerung derInvestitionen hätten, die wir ja dringend brauchen, um zuverhindern, dass die Leute morgens mit Wut mit ihremAuto zur Arbeit fahren, weil sie ständig im Stau stehenund wertvolle Zeit verplempern. Wir könnten uns diedringend notwendigen Investitionen im Straßenbau leis-ten. Aber nein, hier geben Sie weniger Geld aus. DasGeld, das Sie den Autofahrern aus der Tasche ziehen,geben Sie anderweitig aus. Investitionen werden nichtgetätigt. Dies gilt in gleicher Weise für die Schiene.Sie reden davon, dass Sie die Einnahmen der Öko-steuer für die Rente verwenden müssten. Ich glaube, es istan der Zeit, der Öffentlichkeit einmal deutlich zu machen,dass in Deutschland – Sie wissen das – das Gesamt-deckungsprinzip gilt. Das heißt, alle Einnahmen kom-men in den großen Topf und aus dem großen Topf wirddann gezahlt. Die Behauptung, es gebe eine Zweckbin-dung in einem bestimmten Bereich, etwa eine so genannteÖkosteuer für Energie oder eine andere Steuer, die in ei-nen anderen Bereich geht, ist eindeutig falsch. Es gibtauch keine Zweckbindung für Tilgungseinnahmen. Dasist eindeutig falsch. Insofern war die Diskussion um dieErlöse durch die UMTS-Lizenzen auch ziemlich albern.
Damit auch Sie das erfahren, will ich Ihnen sagen, wiewir „UMTS“ übersetzen – die Kollegin kennt das schon,aber ich sage es trotzdem –: unerwartete Mehreinnahmentrotz Schröder.
– Ich gebe zu, das war unvollständig. Es müsste heißen:unerwartete Mehreinnahmen trotz Schröder und Eichel.Denn Eichel war 1994 daran beteiligt, die Postreform zuverhindern. Sie haben also hier Windfall Profits in größ-tem Stile.
Wenn im Herbst der Börsengang der Post ansteht, gehtdas in genau die gleiche Richtung. Ich hoffe, Sie stehenein bisschen beschämt an der Seite, wenn nachher die Er-träge einkassiert werden – unerwartete Mehreinnahmentrotz Schröder und Eichel.Sie waren gegen jede Privatisierung. Auch haben Sieim Bundesrat gegen das Haushaltsgrundsätzegesetz ge-stimmt.Ich war beim Thema „Zweckbindung von Einnahmenund Ausgaben“, bei der Ökosteuer. Inzwischen sagt derKollege Loske, ein grüner Abgeordneter und umweltpoli-tischer Sprecher: Sollten sich die Reformvorschläge nicht
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den demographischen Realitäten stellen, sehe er keineZukunft für die Finanzierung durch die Ökosteuer. DasÖkosteueraufkommen zur Senkung der Rentenversiche-rungsbeiträge einzusetzen habe sich als problematisch er-wiesen.In der Tat: Es gibt keinen direkten Zusammenhangzwischen Einnahmen aus einer bestimmten Quelle undAusgaben an einer anderen Stelle. Insofern beschwindelnSie die Menschen, wenn Sie sagen, dass die nächsten Stu-fen – nämlich drei mal sechs, also 18 Pfennig, jeweils zum1. Januar 2001, 2002 und 2003 –, die bereits beschlossensind, notwendig sind. Sie greifen also noch einmal demAutofahrer in einer Milliardengrößenordnung in die Ta-sche.Auch ohne diese Entscheidung kann eine vernünftigeRentenreform gemacht werden. Ich betone dies noch ein-mal, weil wir ganz klar sagen: Diese Ökosteuer muss weg.
Die Einnahmen, die an anderer Stelle in Rekordhöheerzielt werden, dürften ausreichen, um die Ausgaben fürdie falschen Strukturen, die Sie bei der Altersversorgung,bei der Rentensicherung im Bundeshaushalt verankert ha-ben, tätigen zu können.Ich möchte das sagen, weil Sie das Thema Energie inbesonderer Weise beschäftigt. Ich habe davon gespro-chen, dass Deutschland beim Wachstum an vorletzterStelle steht. Dies hat natürlich auch Bedeutung für denKurs des Euro und damit für die Rohölpreise. Das Rohölkommt übrigens wohl nicht aus dem Bereich der OPEC,sondern aus der Nordsee. Das spielt aber keine Rolle. DerPreis ist der Gleiche.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der Fragemachen, die Sie mit Konsolidierungsverpflichtung undAltlasten umschrieben haben.
– Weil von Ihnen versucht wird, in größtem Maße Ver-wirrung zu stiften.
Wir haben 1982 350 Milliarden DM Schulden vonHelmut Schmidt übernommen. Alex Möller, bereits 1971,vor der sozialdemokratischen Haushaltspolitik warnend,zurückgetreten, hat 1981 ein Buch geschrieben: „Schulddurch Schulden“.
Danach wurden in der Tat zusätzliche Schulden gemacht,im Wesentlichen bedingt durch die Wiedervereinigung.Wer dies immer wieder uns anlasten will, der muss zuge-ben, dass er versucht, sich von der Geschichte abzukop-peln, und die Verpflichtung aus der Wiedervereinigungnicht anerkennt.
Ich habe darauf hingewiesen, dass die Ausgaben fürForschung und Entwicklung im Vergleich zum Jahr 1998zurückgehen. Wie damit eine sinnvolle Mittelstands- undTechnologiepolitik betrieben werden soll, bleibt ein Rät-sel.Im Verkehrs- und Bauetat sieht das ganz genauso aus.Am dramatischsten ist die Situation in den neuen Bun-desländern. Hier kürzen Sie – man muss das im Kontextdes Besuchs, der Besichtigung des Bundeskanzlers derneuen Bundesländer in den letzten Wochen sehen – um3 Milliarden DM. Das Institut für WirtschaftsforschungHalle stellte vor zwei Tagen fest, dass die Wirtschaftsent-wicklung in den neuen Bundesländern zum Stillstandgekommen ist. Dies alles muss doch ein Grund sein, zuüberlegen, ob nicht andere Schritte als die von Ihnen imHaushaltsverfahren eingeleiteten vorgenommen werdensollten.Deswegen sagen wir: Wir fordern eine Stärkung der In-vestitionen.
Wir wollen mehr für Straßenbau und Schiene tun.
Wir fordern eine Stärkung der Ausgaben für Forschungund Entwicklung. Auch hier muss man das, was Sie er-klärt haben, geraderücken. Sie haben behauptet, dasBAföG sei nun geändert, alles sei prima. Dabei müssenSie feststellen, dass die große BAföG-Reform offen-sichtlich unter den Tisch gefallen ist.
– Die große BAföG-Reform ist unter den Tisch gefallen.Was jetzt vorgelegt wird, entspricht dem, was die Uniongesagt hat,
was die Union vorgeschlagen hat, und kommt im Übrigeneine Reihe von Jahren später, als es möglich gewesenwäre.
Ich könnte das Gleiche auch auf das Thema Städte-bauförderung beziehen. Ich könnte Ihnen, Herr Minister,jetzt vorhalten, was Sie als Ministerpräsident in Hessenunmittelbar vor der Bundestagswahl gesagt haben.
Dort haben Sie gesagt – 25. September 1998 –: ImStädtebau und Wohnungswesen hat sich der Bund fastvollständig aus der Finanzierung zurückgezogen. Das istkeine Politik, die Zukunft hat.
Das hat ja wohl bedeutet, dass Sie sagen, es müsstemehr Geld bereitgestellt werden.
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Was tun Sie? – Bei der Städtebauförderung im Westen:mickrige Beträge!
– Wir wollen hier ganz eindeutig um eine halbe Milli-arde DM erhöhen.Sie sagen weiter: Wenn ich an die Gemeinschaftsauf-gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“denke, sind wir uns im Bundesrat einig, dass im Ostennicht gekürzt werden darf. Was tun Sie? – 300 MillionenDM weniger bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in den neuenBundesländern.Herr Finanzminister, Sie sagen, in diesem Haushalt – –
– Ich zitiere Sie jetzt. Sie können nachher nicht sagen: Dererzählt etwas, was nicht in Ordnung ist.
– Ja, ist ja gut!Sie sagen: In diesem Haushalt sind die Investitionenso weit heruntergefahren worden, wie das früher nie derFall war. – Sie bezogen das auf das Jahr 1998. In diesemJahr ist das aber der Fall. Die Investitionen gehen deutlichherunter.Deswegen sagen wir: Es muss eine Veränderung derPolitik stattfinden, eine Veränderung der Politik weg vomKonsum hin zu den Investitionen.
– Die Frage will ich Ihnen ganz klar beantworten, lieberHerr Kollege. Wenn Sie in den letzten Wochen vor derSteuerreform, vor der gekauften Steuerreform,
Zeitung gelesen haben, werden Sie fast jeden Tag eineganzseitige Anzeige des Bundesfinanzministers gesehenhaben, die nicht viel Inhalt hatte,
Sie hatte einfach nur das Ziel, die eigene Politik darzu-stellen und für sie zu werben, ohne eine inhaltliche Aus-sage zu treffen.Addieren Sie die Kosten für diese Anzeigen einmal,auf das ganze Jahr bezogen. Sie stellen fest: 160 Milli-onen DM werden in diesem Jahr unter dieser Regierungfür Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben. Da kann man nursagen: Das Geld ist zum Fenster hinausgeworfen.
Das Gleiche gilt für die Verfügungsmittel. Kein Minis-ter unter der alten Regierung hatte so viel Geld zur priva-ten Verfügung wie in dieser Regierung.
Mit „zur Verfügung“ meine ich, wo er selbst entscheidenkann, für wen und was er sie verwendet. Nennen Sie dasSparen?Sie können die anderen Bereiche, angefangen bei derÖffentlichkeitsarbeit, den ganzen Haushalt durchforsten.Dann kommen Milliardenbeträge zusammen, bei denenSie feststellen: Der Konsum wird aufgebläht und die In-vestitionen werden gesenkt.
Meine Damen und Herren, es muss darum gehen, jetztdie Steuern wirkungsvoll zu senken, damit die Bürgeretwas von der Steuerreform haben. Es muss darum gehen,Investitionen zu stärken. Es muss darum gehen, For-schungsausgaben zu steigern. Es muss darum gehen, denStaatskonsum einzudämmen, die Nettokreditaufnahme zuverringern und vor allen Dingen die Abgaben zu senken.Sonst kriegen Sie schon bei der nächsten Wahl eine ziem-lich klare Quittung wie bei den Oberbürgermeisterwahlenin den letzten Wochen in Ihrem Bundesland, Herr Finanz-minister.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Lieber Kollege Austermann, ich glaube, dasswir mit Ihnen in den nächsten Wochen noch manche Dis-kussion über Käuflichkeit der Politik führen werden.
Nehmen Sie es nicht als Polemik, aber nach diesemBeitrag wurde mir und sicherlich auch anderen erst rich-tig deutlich, warum Herr Rühe darauf verzichtet hat, Sieals Schattenfinanzminister für Schleswig-Holstein vorzu-sehen.
Sie haben zuletzt Steuersenkungen gefordert. Warumhaben Sie heute nicht das wiederholt, was Sie öffentlichgefordert haben: Steuersenkungen aus den UMTS-Erlö-sen? Sind Sie da von Herrn Merz zurückgepfiffen wor-den? Denn er hat doch ganz eindeutig gesagt: So, wie HerrEichel es vorgesehen hat, ist es richtig. – Auch diese
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Forderung von Ihnen war nicht sehr glaubwürdig, weilnicht finanzierbar. Herr Austermann, man kann nicht dieRolle des gestrengen Haushälters annehmen, wenn manintellektuell und sachlich so unredlich argumentiert, wieSie das heute Morgen hier gemacht haben.
Inzwischen hat es sich in unserer Republik herumge-sprochen, dass wir, diese Koalition, mit dem Bundes-haushalt 2001 und dem Finanzplan des Bundes bis 2004einen weiteren Meilenstein einer erfolgreichen Finanzpo-litik setzen. Dazu kommt die endgültige Verabschiedungdes Steuersenkungsgesetzes am 14. Juli. Beide Projektezeigen: Die Finanzpolitik der Regierungskoalition istverlässlich und verantwortungsbewusst. Die Finanzpoli-tik der Regierungskoalition ist mutig; denn sie beschränktsich nicht auf kleine Korrekturen am Status quo. Die Fi-nanzpolitik der Regierungskoalition ist gestaltend undvorausschauend. Sie löst die aktuellen Probleme, hat aberauch die Sicherung der Zukunft und die Interessen nach-folgender Generationen im Blick.
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen sieht das in-zwischen ebenso. Damit erkennt sie im Übrigen die über-ragende Leistung insbesondere unseres Bundesfinanz-ministers an, für die wir ihm herzlich danken.
Die Zukunftssicherung ist der entscheidende Punkt.Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen derRegierungskoalition und der Opposition. Wir haben dasgrößte Haushaltssanierungspaket in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland durchgesetzt, das im laufen-den Jahr zu Haushaltsentlastungen von fast 30 Milliar-den DM führt. In den Folgejahren steigen sie bis auf50 Milliarden DM an. Das hat uns bei den Betroffenenviel Ärger eingebracht. Wir mussten im letzten Jahr poli-tisch viel Blutzoll zahlen. Aber wir haben das gemacht,weil wir das für richtig gehalten haben, und es war auchrichtig.
Denn der Bund muss seine finanzielle Handlungsfähig-keit bewahren.Herr Rexrodt, weil Sie dazwischengerufen haben: Siehatten dazu nicht den Mut. Jahr für Jahr mussten Sie so-gar darum bangen, ob es Ihnen überhaupt gelingt, einenverfassungsgemäßen Haushalt aufzustellen. Bei Ihnenwurde nicht gespart, sondern getäuscht und getrickst.
Sie hatten die finanzielle Handlungsfähigkeit des Bun-des im höchsten Maße gefährdet. Wir werden diese finan-zielle Handlungsfähigkeit wiederherstellen und erhalten.Der Unterschied zwischen uns und der CDU/CSU undauch der F.D.P. ist: Wir setzen auf die Solidarität mit un-seren Kindern und Enkeln. Sie setzen des parteitaktischenVorteils wegen auf puren Egoismus. Das ist der Unter-schied zwischen uns.
In diesem Zusammenhang muss auch über die Öko-steuer geredet werden, weil auch das viel mit unserer Zu-kunft zu tun hat. Ist Ihre Ökosteuerkampagne das, was Sieunter Rückkehr zur sachlichen Auseinandersetzung undzur Sachpolitik verstehen? Sachliche Auseinandersetzungsetzt zunächst einmal die Kenntnis von Fakten voraus:Erstens. Die Ökosteuer ist ein unverzichtbarer Faktorbei der Begrenzung und Zurückführung der Sozialabga-ben. Ihr Aufkommen fließt, Herr Austermann, bis auf200 Millionen DM vollständig in die Rentenkasse,
sodass die Bürger die Ökosteuereinnahmen über gerin-gere Rentenbeiträge zurückerhalten. Das ist die Wahrheit.
Zweitens. Die alte Regierung Kohl/Waigel hat die Mi-neralölsteuer in der ersten Hälfte der 90er-Jahre um mehrals 50 Pfennig erhöht: am 1. Januar 1989 um 9 Pfennig,am 1. Januar 1991 um 3 Pfennig, am 1. Juli 1991 um22 Pfennig – auch Frau Merkel wird sich daran noch er-innern, was sie mit zu verantworten hatte –, am 1. Januar1994 um 16 Pfennig. Insgesamt sind das 50 Pfennig imZeitraum von 1989 bis 1994. Dies geschah nicht, FrauMerkel, um die Sozialabgaben zu senken – die bei Ihnengestiegen sind –, sondern nur, um Haushaltslöcher zustopfen. Das war Ihre Politik.
Wenn das von Ihnen verschwiegen wird, dann ist daskeine sachliche Auseinandersetzung, sondern schlicht-weg Verlogenheit. Bei Ihnen ist nicht nur die Mineralöl-steuer gestiegen, sondern auch die Sozialversicherungs-beiträge sind gestiegen.Drittens. Auf die Ökosteuer entfällt nur ein geringerTeil der Benzinpreissteigerungen dieses Jahres. Der Restist auf die Preispolitik der Förderländer und der Mineral-ölkonzerne sowie auf die Wechselkursschwankungenzurückzuführen. Es ist naiv, zu glauben, eine Reduktionder Ökosteuer würde dazu führen, dass der Benzinpreissinkt.Viertens. Die deutschen Benzinpreise liegen im hinte-ren europäischen Mittelfeld.Fünftens. Das von Ihnen geforderte Aussetzen dernächsten Ökosteuerstufe hätte unweigerlich die Konse-quenz, dass der Rentenversicherungsbeitrag – mit allennegativen Auswirkungen auf Arbeitnehmereinkommenund Arbeitsplätze – angehoben werden müsste. Das RWIspricht in diesem Zusammenhang von einem Verlust vonjährlich 100 000 Arbeitsplätzen; das sind 500 000Arbeitsplätze in fünf Jahren.
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Wollen Sie das mit Ihrer unverantwortlichen Kampagnewirklich herbeiführen?
Wer das vermeiden will, müsste das Rentenniveau ab-senken oder die Nettokreditaufnahme des Bundes ent-sprechend anheben. Das sind Ihre Alternativen. Sagen Siedas bei Ihrer Kampagne den Menschen!Sechstens. Die Lenkungswirkung der Ökosteuer liegtweniger in der Höhe als vielmehr in der kalkulierbaren,stetigen und moderaten Anhebung über mehrere Jahrehinweg. Die Vorteile hat der Bundesfinanzminister hiervorhin geschildert.Es gibt niemanden, der diese prinzipielle Vorgehens-weise, die auf höhere Energieeffizienz und sparsamenRessourcenverbrauch abzielt, ernsthaft kritisiert. So hatdie Parteivorsitzende Angela Merkel, als sie noch Bun-desumweltministerin war, eine jährliche Anhebung derMineralölsteuer von 5 Pfennig gefordert. Jetzt vertritt siemit Vehemenz und großen Plakaten das Gegenteil. Dasbefreit Frau Merkel doch nicht von ihren Problemen. So-lange Herr Helmut Kohl inmitten Ihrer Fraktion thront,behält Frau Merkel ihre Probleme. So einfach ist das. Da-von kann sie auch nicht mit so billigen Kampagnen ab-lenken.
Was ist denn aus den Aufklärern Merkel und Merz ge-worden, vom „brutalstmöglichen Aufklärer“ Koch ganzzu schweigen?
Da die Opposition die genannten Fakten bewusst igno-riert, ist ihre Anti-Ökosteuer-Kampagne nichts anderesals Stimmungsmache. Ich glaube auch nicht, dass Sie dieWirkung erzielen werden, die Sie sich erhoffen. Jeden-falls ist dies von verantwortungsbewusster Politik zurZukunftssicherung meilenweit entfernt.
Ihre Kampagne macht wieder einmal deutlich, dass Sienur davon ablenken wollen, dass Sie immer noch ange-schlagen und ohne eine strategische Ausrichtung Ihrer Po-litik sind. Der Vorgang dieser demagogischen Kampagnemacht umgekehrt deutlich, warum man froh darüber seinkann – ich sage das einmal als Sozialdemokrat –, nicht ei-ner Partei anzugehören, die sich solcher Mittel bedient.
Es gibt durchaus geistig-moralische Zusammenhängezwischen dem gesetzeswidrigen – in meinen Augen auchverfassungswidrigen – Finanzgebaren von Kohl, Kantherund anderen und der Art und Weise, in der Sie Politik ma-chen.
Mit Anstand, Ehrlichkeit, christlichen Werten hat das al-les nichts zu tun.
Das werden wir den Leuten auch sagen. Mir kann kei-ner weismachen, dass man Verlogenheit auf Dauer nichtauch als Verlogenheit entlarven kann, jedenfalls werdenwir uns alle Mühe geben. Das werden Sie noch zu spürenbekommen.
– Peinlich ist die Kampagne, die Sie machen. Sie wissenes im Übrigen ja besser. Wer so verantwortungslos agiertwie Sie, der muss sich wirklich härtere Töne gefallen las-sen, als es bisher der Fall war.
Ihre moralische Verantwortung hört nicht bei HerrnKohl, bei Herrn Koch und bei Herrn Kanther auf. Sie allesind persönlich verantwortlich für die Schweinereien, diebei Ihnen passiert sind – damit das einmal ganz klar ist.Das werden wir Ihnen auch nicht durchgehen lassen.
Mit dieser Aufklärung sind wir noch lange nicht am Ende,wenn Sie nicht selbst aufklären – damit auch das deutlichist.Nach den Konsolidierungshaushalten 1999 und 2000hat die Bundesregierung jetzt mit dem Haushaltsentwurf2001 den dritten Konsolidierungshaushalt in Folge vorge-legt. Weitere Konsolidierungshaushalte werden und müs-sen folgen. Sie müssen von Sparsamkeit und Zurückhal-tung geprägt sein.Sie kennen die Ziffern. Die Nettokreditaufnahme wirdauf 46,1 Milliarden DM abgesenkt. Die Fraktionen vonGrünen und SPD haben deutlich gemacht: Nein, wir sindnoch ehrgeiziger, wir wollen gemeinsam auf unter 45Mil-liarden DM Nettokreditaufnahme kommen. – Auch wasdie Haushalte nach 2001 angeht, ist die SPD-Bundestags-fraktion mit Finanzminister Eichel im Bemühen einig, dieNeuverschuldung des Bundes weiter abzubauen.Genauso stetig und verlässlich, wie die Bundesver-schuldung abgebaut wird, senken Bundesregierung undRegierungskoalition die Steuer- und Abgabenbelastungder Bürger, die wie die öffentliche Verschuldung unter derRegierung Kohl/Waigel ein historisches Rekordniveau er-reicht hatte.Im Gegensatz zu Ihnen haben wir gehandelt. Die Bür-ger werden um insgesamt 93,4 Milliarden DM an Steuernentlastet, wobei die Reformen wie auch früher in mehre-ren Stufen und Jahren verwirklicht werden. Die von unsvorgenommenen Steuerentlastungen sind allerdings – beialler Notwendigkeit – nur in einem finanzpolitisch ver-tretbaren Rahmen möglich. Sie wären undenkbar ohneunsere konsequent solide Haushaltspolitik. Diese Lektionwollten Sie nicht lernen und haben Sie bis heute nichtgelernt.
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Man kann Steuerentlastungen nur dann vornehmen,wenn die öffentlichen Haushalte, insbesondere die vonLändern und Gemeinden, das tatsächlich und aus Ver-fassungsgründen zulassen. Wer wie Sie etwas anderesfordert – Steuersenkung auf Pump –, der zielt wissentlichentweder auf Sozialabbau oder auf Steuererhöhungen inder Zukunft. Das ist die Alternative zu unserer Politik.
Wir machen seriöse und verantwortungsbewusste Fi-nanzpolitik. Die steuerpolitischen Vorschläge von CDU/CSU dagegen sind unverantwortlich und nicht finanzier-bar; die der F.D.P. sollte man gar nicht erwähnen, weilsich die F.D.P. auf dem Sektor schon lange aus jeder ernst-haften Diskussion verabschiedet hat.
Sie haben ja jetzt wieder gefordert: Ökosteuer und Kfz-Steuer gänzlich streichen. – Ich habe gestern HerrnWesterwelle im Fernsehen gesehen. Ich habe immer ge-lauscht, wo denn die Finanzierungsvorschläge sind, aberdie hören wir von Ihnen schon seit Jahren nicht mehr.
Sie wissen übrigens ganz genau, meine Damen undHerren von der Opposition, dass die Finanzierbarkeitgegeben sein muss. Deshalb sollten Sie sich nicht wun-dern, dass selbst CDU-geführte Bundesländer und solche,in denen die CDU an der Landesregierung beteiligt ist,Herrn Merz und Frau Merkel im Bundesrat die Gefolg-schaft verweigerten.Mit ihren Käuflichkeitsvorwürfen versucht die Unionkrampfhaft, von ihrer Niederlage beim Thema Steuerre-form abzulenken. Sie bemüht sich, die unsinnige Strate-gie ihres Fraktionsvorsitzenden Merz im Vermittlungs-ausschuss vergessen zu machen. Herr Merz wollte dieSteuerreform, wie er offen gesagt hat, mithilfe des Bun-desrats scheitern lassen. Nachdem dies misslungen war,redet die CDU-Opposition von der „Käuflichkeit der Län-der“. Offensichtlich sind Sie davon ausgegangen, dasssich alle von der CDU regierten oder mitregierten Lan-desregierungen bei der Abstimmung im Bundesrat bedin-gungslos Ihren Parteiinteressen unterwerfen würden,
und haben von diesen Landesregierungen die Miss-achtung der eigenen Landesinteressen erwartet. Jetzt zie-hen Sie mit der Beschimpfung dieser Landesregierungendie finanzpolitischen Zusammenhänge zwischen derHöhe der Steuersenkung und der Finanzausstattung ein-zelner Länder in Zweifel.Wissen Sie eigentlich nicht mehr – Herr Austermannund Herr Rexrodt müssten es wissen; sie sind schon sehrlange im Bundestag –, dass 1988 die Verabschiedung derstoltenbergschen Steuerreform im Bundesrat überMonate als unsicher galt, weil eine Mehrheit von achtLändern der Auffassung war, ihre Landeshaushalte könn-ten die Einnahmeausfälle durch die Steuerreform ohneeine gleichzeitige Verbesserung der Finanzausstattungnicht verkraften? Haben Sie, meine Damen und Herrenvon der Union, völlig vergessen, dass im Jahre 1988 dieZustimmung der Ländermehrheit im Bundesrat zur stol-tenbergschen Steuerreform nur durch die Zusage einesStrukturhilfegesetzes an den niedersächsischen Minister-präsidenten Albrecht zustande gekommen war?
Albrecht, bekanntermaßen CDU – ich sage das für dieNachgeborenen –, verhalf der Steuerreform erst zur Mehr-heit, als ihm bindende Zusagen für Strukturhilfen in Höhevon 25 Milliarden DM über zehn Jahre gegeben wordenwaren. Das geschah unmittelbar vor der Abstimmung imBundesrat über die Steuerreform am 8. Juli 1988.Nein, es war folgerichtig, dass der Bundesrat unseremSteuersenkungsgesetz zugestimmt hat. Er hat das aufWunsch einiger Bundesländer unter der Bedingung getan,dass in einem Steuersenkungsergänzungsgesetz, daswir bald beraten werden, noch zwei Änderungen an demschon verabschiedeten Steuersenkungsgesetz vorgenom-men werden. Das wird geschehen.Aber auch hier ist eine klare Position der Oppositionnicht erkennbar. Noch immer ist unklar, ob die CDU/CSUdem Steuersenkungsergänzungsgesetz zustimmen wirdoder nicht. Warum Sie erwägen, diesem Gesetz, das zweivon Ihnen gewünschte Verbesserungen enthält, nicht zu-zustimmen, ist beim besten Willen nicht zu verstehen.Diese Art von Logik ist nicht mehr nachzuvollziehen,meine Damen und Herren.
Oder wartet Herr Merz wieder einmal auf eine Weisungaus Bayern oder vielleicht sogar von Herrn Koch, wie erund seine Fraktion in dieser Frage zu verfahren haben?Unsere Finanzpolitik ist nicht nur verlässlich und ver-antwortungsbewusst, sondern auch mutig. Sie setzt dasum, was getan werden muss. Bei dem von Ihnen über-nommenen Finanzchaos – ich meine damit nicht Ihre Par-teikassen – können wir Normalität leider nicht in zweioder drei Jahren wieder herstellen. Diese Veränderung dergesellschaftlichen Wirklichkeit wird noch viele Jahre inAnspruch nehmen. Die gesellschaftlichen und finanzpoli-tischen Fehlentwicklungen haben Sie zu verantworten,meine Damen und Herren.
Wir packen – die Beispiele sind genannt – die Moder-nisierung und Umstrukturierung der Bundeswehr und dieAnpassung der bewährten Alterssicherungssysteme an dieuns allen bekannte demographische Entwicklung an. Wirhaben mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 und all un-seren anderen Maßnahmen die überfällige steuerpoliti-sche Trendwende für Millionen von Arbeitnehmern undFamilien mit Kindern angepackt. Wir setzen das alles nunin einem Ausmaß fort, wie es noch nie in der Bundesre-
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publik Deutschland vorgekommen ist. Das Steuersen-kungsgesetz, das wir verabschiedet haben, und das Ände-rungsgesetz umfassen Entlastungen in Höhe von rund63 Milliarden DM. Dabei sind die Auswirkungen so ver-teilt, dass die Steuerausfälle für die Haushalte von Bund,Ländern und Gemeinden vertretbar sind.Wir haben also eine Trendwende für Familien, Arbeit-nehmer und Mittelstand eingeleitet. Die privaten Haus-halte werden um rund 33 Milliarden DM entlastet, derMittelstand um gut 23 Milliarden DM. Endlich haben wires geschafft, den Mittelstand faktisch von der Gewerbe-steuer zu befreien, und sind so einer jahrzehntealten For-derung nachgekommen, meine Damen und Herren.
Das ist Mittelstandspolitik.
Sie haben gefordert und nie konkrete Lösungsansätze vor-gelegt, wir aber haben das Ganze gelöst, weil wir ein Kon-zept hatten. Das ist der Unterschied.
Auch die großen Kapitalgesellschaften können6,8 Milliarden DM auf ihrer Habenseite verbuchen –nachdem ihnen mit dem Steuerentlastungsgesetz unge-rechtfertigte Steuervorteile gestrichen worden sind! Ichsage das hier so deutlich, weil uns ausgerechnet aus denReihen der Union manchmal vorgeworfen wird, wirmachten eine sozial ungerechte Politik zugunsten derGroßkonzerne. Das ist blanker Unsinn. Egal, ob es ausIhren Reihen oder aus unseren Reihen kommt: Das istblanker Unsinn! Richtig ist allerdings, dass wir keine Po-litik gegen die Wirtschaft und gegen die großen Unter-nehmen machen wollen.Die ökonomische Entwicklung in Deutschland ist wie-der dynamischer geworden. Im Ausland wird dazu aufge-fordert, wieder stärker in Deutschland zu investieren. Das,was Herr Eichel vorhin sagte, stimmt doch. Schauen Siesich doch einmal die Quoten bei den Direktinvestitionenan. Das, was wir mit unserer Unternehmensteuerreformwollen, nämlich mehr Investitionen und mehr Be-schäftigung, kann gelingen. Das heißt, auch da sind wirauf dem richtigen Weg.Die übrigen Leistungen, die zugegebenermaßen nochnicht im Bewusstsein aller Bürgerinnen und Bürger– auch nicht im Bewusstsein derjenigen, die uns 1998 ge-wählt haben; da haben wir noch viel Aufklärungsarbeit zuleisten – angekommen sind, hat Herr Eichel hier zusam-menfassend erwähnt. Ich habe die großen Schritte beimKindergeld genannt. Weiter sind das Erziehungsgeld, dasWohngeld, die Leistungen nach dem BAföG, das Niveauder aktiven Arbeitsmarktpolitik, das wir beibehalten wol-len, die Ausgaben für Forschung und Wissenschaft,der Bundesverkehrswegeplan und der Verkehrsinvestiti-onshaushalt, die bei Ihnen hoffnungslos unterfinanziertwaren, zu nennen. Wir nutzen die Zinsausgabenerspar-nisse durch UMTS in der Tat zu Verbesserungen. Das istauch richtig so.Aus all dem, was wir machen, wird deutlich: DieFinanzpolitik von Bundesregierung und Regierungskoali-tion ist auf Nachhaltigkeit und Zukunft ausgerichtet,weil wir wissen, dass der Bund nur durch stetige Konso-lidierungsbemühungen seine finanzielle Handlungsfähig-keit sichern kann. Die vollständige Verwendung derUMTS-Erlöse zur Schuldentilgung und die Verwendungder Zinsausgabenersparnisse für Zukunftsinvestitionenzeigen auch: Sparen ist für uns kein Selbstzweck, ist aberunabdingbar notwendig, um auch morgen und übermor-gen die Dinge tun zu können, die getan werden müssen.Dazu gehört natürlich auch, dass über das Jahr 2004hinaus eine ausreichende Finanzausstattung der ostdeut-schen Länder und Gemeinden gesichert bleibt. Natürlichmuss und wird der bestehende Solidarpakt zugunstenOstdeutschlands fortgesetzt werden.
Trotz aller unbestreitbaren Fortschritte muss der AufbauOst auch über das Jahr 2004 hinaus vom Bund und denwestdeutschen Ländern solidarisch durch den bundes-staatlichen Finanzausgleich und den Solidarpakt un-terstützt werden. Das heißt, die Forderungen aus Bayern,Baden-Württemberg und Hessen zielen auf Aufkündi-gung dieser Solidarität. Das machen wir als Sozialdemo-kraten nicht mit.
Ich will das den ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgernganz deutlich sagen: Die Bürger in den neuen Ländernkönnen sich darauf verlassen, dass Bundesregierung undKoalition ihre Verantwortung wahrnehmen.Ich fasse zusammen: Die Haushaltskonsolidierungwird fortgesetzt und zeitigt bereits erste Früchte. DieVersäumnisse der Kohl-Ära werden Stück für Stück ab-gearbeitet, um Deutschland zukunftsfähig zu machen.Steuer- und Abgabensenkungen werden auch weiterhinein Kernpfeiler unserer Politik sein. Dies sind Maßnah-men, die insgesamt mithelfen, das auszufüllen, was wir ei-nerseits Modernisierung und andererseits Erhaltung undAusbau der sozialen Gerechtigkeit nennen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Rexrodt. Der Kollege Günter
Rexrodt tut sich und uns das Vergnügen an, an seinem Ge-
burtstag in die Debatte einzugreifen. Herzlichen Glück-
wunsch, lieber Kollege!
Danke, Herr Präsident.– Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
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lege Poß, es ist an sich nicht meine Art, zu Beginn einerRede jemanden persönlich anzusprechen. Aber ich mussIhnen als finanzpolitischem Sprecher der größten Regie-rungsfraktion sagen: Ich finde es nicht in Ordnung, dassSie im ersten Teil Ihrer Rede den Kollegen Austermann,dessen Aussagen Sie inhaltlich gut finden können odernicht, persönlich diffamiert haben
und des Weiteren einen Bogen von der Spendenaffäre derUnion zur persönlichen Verantwortung der hier anwesen-den Mitglieder der Oppositionsfraktion geschlagen ha-ben. Das ist unmöglich, Herr Kollege Poß.
Das ist eines finanzpolitischen Sprechers der SPD-Frak-tion eigentlich unwürdig.
Ich wollte an sich eine sachliche Rede halten, die ichjetzt mit dem Zugeständnis beginne, dass ich die Richtig-keit des haushaltspolitischen Kurses von Herrn Eichelhinsichtlich der Rückführung der Schulden nicht in Ab-rede stelle.
Die Staatsschulden sind zu hoch. Einnahmen und Aus-gaben müssen wieder miteinander in Einklang gebrachtwerden, das heißt, die Nettoneuverschuldung mussschrittweise gesenkt und schließlich auf Null gebrachtwerden. Das ist gar keine Frage. So weit, so gut.
Unredlich ist allerdings, dass Sie mit dieser Politik zweiBotschaften verbinden – auch Sie, Herr Poß, haben daseben in aller Deutlichkeit getan –, nämlich erstens eineperfide und zweitens eine schlicht falsche Botschaft. Per-fide und aus der Luft gegriffen sind die Aussagen, in den90er-Jahren sei man mit den Finanzen geradezu leichtfer-tig umgegangen, es sei gewissermaßen ein Wesenszug deralten Koalition gewesen, Schulden zu machen undGefälligkeiten zu verteilen, und es habe zu unseremHandwerkszeug gehört, die Zukunftschancen der jungenGeneration zu verspielen.
Jeder, der sich ein Stück Fairness bewahrt hat – auch beimHerrn Bundesfinanzminister war das heute nach langerZeit erkennbar –, wird wissen, dass der Zuwachs der Bun-desschulden in der Zeit von 1990 bis 1998 in etwa demBetrag entsprach, der in dieser Zeit in die neuen Ländergeflossen ist.
Dazu gab es im Übrigen nie eine Alternative, und zwarweder zu der Notwendigkeit des Transfers noch zu derFinanzierung des Transfers.
Von Ihnen wird in diesem Zusammenhang immer wie-der die Behauptung aufgetischt, die Deutschen wären zuhöheren Steuern und Abgaben bereit gewesen, wenn mansolche nur angemahnt hätte. Ich habe diese angeblicheWillfährigkeit der Deutschen, Steuern zu zahlen, nie fest-gestellt. Die anhaltende Diskussion über die Ökosteuerund den Solidarzuschlag ist Beweis dessen, dass niemandhöhere Steuern zahlen wollte.
Es ist unverantwortlich, so zu tun, als ob eine anderepolitische Konstellation den Zuwachs der Bundesschuldin den 90er-Jahren hätte vermeiden können. In sozialde-mokratisch regierten Ländern konnte jedenfalls davonkeine Rede sein, im Gegenteil:
Trotz der Tatsache, dass sich die Bundesländer unterpro-portional an der Finanzierung des Aufbau Ost beteiligt ha-ben, ist die Verschuldung in Hessen während Ihrer Amts-zeit von acht Jahren, Herr Eichel, um sage und schreibe59 Prozent gestiegen.
Angesichts einer solchen Entwicklung kann niemand sa-gen, dass sich Herr Eichel als Ministerpräsident mit Ruhmbekleckert habe.
Zur zweiten Botschaft: Sie versuchen, den Eindruck zuerwecken, als habe der Konsolidierungskurs hinsichtlichdes Bundeshaushalts erst mit Ihrer Regierung begonnen.
Tatsache ist, dass der sprunghafte Anstieg der Nettoneu-verschuldung schon 1994 gebremst worden ist. Vermeid-bar war der Anstieg nicht. Auch Sie haben erst im Jahre2006 eine realistische Chance, die Nettoneuverschuldungauf Null zu bringen. Das wäre dann 16 Jahre nach derWiedervereinigung. Die Haushalte für 2000 und 2001 undauch die Haushalte für die folgenden Jahre werden durcheine günstige Konjunktur entlastet, und zwar durch14 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen aufgrundverstärkter wirtschaftlicher Aktivitäten und der Tatsache,dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Diese Entwicklungist erfreulich. Ich wünsche uns und unserem Land, dasssie sich gleichermaßen verstetigt und verstärkt.
Es gehört zum Repertoire regierungsamtlicher Verlaut-barungen, eine gute Konjunktur auf eigenes Handelnzurückzuführen
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und eine schlechte Konjunktur auf weltwirtschaftlicheZusammenhänge zurückzuführen. Ich mache gar keinenHehl daraus, dass auch mir eine solche Argumentations-weise aus vergangenen Jahren nicht fremd ist. Das mussman ganz fair sagen. So wie Sie als Oppositionspartei dieRegierung immer zurechtgerückt haben, müssen Sie sichheute sagen lassen: Die gute Konjunktur des Jahres 2000ist keinesfalls das Ergebnis einer guten Politik des Jahres1999. Es war eine Katastrophenpolitik und hat die Inves-toren verschreckt, meine Damen und Herren.
Die gute Konjunktur ist Bestandteil einer stabilen Ent-wicklung in Amerika, in Asien und auch in anderen euro-päischen Staaten. Ich bin wiederum fair und sage, dass Sieim letzten halben Jahr im Inneren des Landes durch eineSteuerreform Rückenwind erhalten haben, die in derWirtschaft zumindest in der Zielrichtung begrüßt wird.
Die Konjunktur wird durch exorbitant steigende Ex-porte zusätzlich beflügelt. Das ist völlig in Ordnung. Er-innern Sie sich, meine Damen und Herren, dass es erstdrei oder vier Jahre zurückliegt, dass Sie die Stabilisie-rung der Wirtschaftsentwicklung 1997/98 höhnisch damitabtaten, das sei nur der Export. Wir alle wissen, dass dieneueren Exporterfolge nicht nur auf einer Wertschätzungder deutschen Produkte und Dienstleistungen zurückzu-führen ist. Die deutsche Wirtschaft hat zwar technolo-gisch und betriebswirtschaftlich enorm zugelegt. Die Ex-porterfolge haben aber zum großen Teil ihre Ursache ineiner Schwäche des Euro. Diese Schwäche kann nur über-wunden werden, indem man einen entschiedenen Re-formkurs in ganz Europa einschlägt und nicht dadurch,dass der Bundeskanzler törichte Bemerkungen über denKurs des Euro macht.
Meine Partei hat diesen Reformkurs in ihrem Pro-gramm und in der praktischen Umsetzung immer verfolgt.Wer etwas anderes sagt, ist unredlich. Geradezu komischist es, wie die Grünen, einst Fundamentalopposition, instaatstragenden Auftritten liberale Positionen zu überneh-men versuchen. Wir haben in allen wichtigen Bereichen,ob es Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Deregulierungs-politik, Sozialpolitik oder Gesundheitspolitik ist, in den90er-Jahren die richtigen inhaltlichen Weichenstellungenvorgenommen. Wir haben nicht alles durchsetzen können.Vieles wurde von Ihnen blockiert. Vieles war auch im In-neren schwierig. Aber es waren die Liberalen – das sageich mit Stolz und ohne jede Anmaßung, meine Damen undHerren –, die in den 90er-Jahren die richtigen Weichen-stellungen vorgeschlagen haben und dafür eingetretensind, dass diese Politik in Deutschland umgesetzt werdenkann. Nichts anderes ist der Fall gewesen.
Meine Damen und Herren, ein entschiedener Reform-kurs ist vor allem bei der Liberalisierung des Arbeits-marktes notwendig, damit Europa als reformfähige Re-gion anerkannt wird. Das hat Rückwirkungen auf denEuro. Von einer Liberalisierung des Arbeitsrechtes ist inIhrer Politik nichts zu sehen. Herr Riester verschlimm-bessert die in diesen Tagen bestehende Regelung und ver-schreckt gleichermaßen die Arbeitgeber und die Arbeit-nehmer.
Solange wir mit dem Arbeitsrecht nicht klarkommen,wird Europa nicht als Wachstumsregion, als attraktive Re-gion wahrgenommen. Das hat in Wirklichkeit Auswir-kungen auf den Euro. Mit einem verkrusteten Arbeitsrechthaben wir in einer Industriegesellschaft vielleicht unterKnirschen noch leben können. In einer Dienstleistungs-gesellschaft können wir das nicht.
Die Haushalte der vergangenen und kommenden Jahrewerden in ganz erheblichem Umfang durch Privatisie-rungserlöse entlastet. Zu unserer Zeit hieß das: „Die Bun-desregierung verscherbelt das Tafelsilber.“
Mit dem Regierungswechsel sind diese Stimmen auf Ih-rer Seite verstummt.Tatsache ist, Herr Wagner: Der rot-grünen Koalitionfließen dreistellige Milliardenbeträge aus Reformen, ausPrivatisierungen, zu, die Sie über weite Strecken leiden-schaftlich bekämpft haben.
Was für Widerstände hat es gegen die Liberalisierung aufden Strommärkten gegeben! Welche Zeit und welcheMühe hat es gekostet, bis Sozialdemokraten bereit waren,die Telekommunikation zu privatisieren! Wir haben durchIhre Politik sechs Jahre verloren.
1999 kamen 5,5 Milliarden DM aus der Privatisierungvon Bundesunternehmen. 2000 werden es 3,5 Milliar-den DM und 2001 8,8 Milliarden DM sein. Aber das sindim Vergleich zu den 100Milliarden DM, die Ihnen aus derVersteigerung der UMTS-Lizenzen zufließen, kleine Be-träge. Diese Versteigerung ist nur möglich geworden, weiles vorher die Privatisierung der Telekommunikation gab.
Die haben wir – gegen Ihre Widerstände – durchgeführt.Die Menschen draußen müssen das wissen.Herr Eichel, es ist richtig, dass Einmaleinnahmen, wiedie aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, zum Ab-bau der Bundesschuld verwandt werden; insofern hat derBundesfinanzminister die Unterstützung meiner Fraktion.Aber es gibt frei werdende Zinsersparnisse. Spätestens beidenen setzt die hinlänglich bekannte Verteilungsdiskus-sion ein.
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Dr. Günter Rexrodt11078
Man kann in diesem Zusammenhang sicherlich überden einen oder anderen Akzent in der Bildungs- oder Ver-kehrspolitik sprechen. Ich vertrete die Auffassung, dassdieses Geld am besten angelegt ist, wenn es zum größerenTeil in eine glaubwürdige Steuerentlastung des Mittel-stands fließt. Die Steuerreform ist an dieser wichtigenFlanke – ich werde das noch ansprechen – zu halbherzig.Zur Privatisierungspolitik noch zwei Bemerkungen:Erstens. Eine der großen ausstehenden Reformen istdie Bahnreform.Dazu höre ich von der Bundesregierungund von der Bahn selbst, Netz und Betrieb müssten unbe-dingt zusammenbleiben.
Die Argumente dafür werden entweder nicht vorgetragenoder sie sind über alle Maßen dürftig. Ich bin fest davonüberzeugt, dass nur Wettbewerb die Misere beim Schie-nenverkehr aufheben kann und dass Deutschland ein mo-dernes Schienentransportsystem erhalten kann.
Die Trennung von Fahrweg und Betrieb ist dafür Voraus-setzung, im Interesse der Kunden und der Steuerzahler.Mit der Bahn können Sie an der Börse nur etwas werden,wenn Sie diese Trennung vorgenommen haben.
Oder liefern Sie die Argumente, warum Sie das nicht tun?– Nichts ist zu hören!Meine zweite Bemerkung betrifft die Kreditanstaltfür Wiederaufbau, die eine große Förderbank, und dieDeutsche Ausgleichsbank, die andere Förderbank. DerBund hat Kasse gemacht, indem er die Anteile des Bun-des an der Deutschen Ausgleichsbank an die KfW ver-kauft hat. Das Für und Wider einer solchen Zusammenle-gung ist lange erörtert worden. Ich will das hier nichtwiederholen. Aber mir liegt aus mittelstandspolitischerÜberzeugung – es geht um ein großes Anliegen auf die-sem Gebiet – an einer Feststellung sehr viel: Beide Ban-ken haben ihre Kernkompetenzen. Es wäre töricht undgegen den Mittelstand gerichtet, wenn man diese Kern-kompetenzen auflöste. Machen Sie aus der DeutschenAusgleichsbank eine Gründungs- und Mittelstandsbank!Verschaffen Sie ihr die notwendigen Freiheiten in der Ge-schäftspolitik, auch in der Personalpolitik und der Refi-nanzierung. Lassen Sie die KfW das machen, was sie gutkann, das sind – das ist international anerkannt – die Ent-wicklungshilfe und die großen, weltweiten Finanzierun-gen! Sie haben Kasse gemacht. Machen Sie das Richtigemit dem Geld!
Um die Einnahmeseite des Haushalts abzuschließen,möchte ich noch einige, ganz wenige Bemerkungen zurSteuerreform machen. Zunächst ist es gut, dass es eineReform gibt, die eine Steuersenkung über den gesamtenTarif vorsieht. Das ist im Übrigen im Ursprung von einersozialdemokratischen Grundhaltung und von sozialdemo-kratischem Gedankengut weit entfernt. Herr Poß, Sieselbst haben das eben zugegeben.Was zählt, ist das Ergebnis. Ich gebe zu: Sie habenbeim Ergebnis Punkte gemacht. Über den Poker, den Siemit den Ländern betrieben haben, habe ich meine eigeneMeinung. Dies, meine Damen und Herren, darf aber nichtdazu benutzt werden, den Mittelstand, der im Tarif oh-nehin weniger entlastet wird als angebracht und not-wendig, bei der Besteuerung der Veräußerungsgewinneim Nachhinein über den Tisch zu ziehen.
Unternehmer, die ihre Betriebe in den Jahren 1999 oder2000 veräußern, gehen leer aus. Danach gelten Ein-schränkungen; das bestätigt den Vorbehalt mittelständi-scher Unternehmen gegen diese Reform. Der Spitzen-steuersatz geht spürbar erst 2005 herunter. Das ist Gift fürInvestitionen und Arbeitsplätze in diesem wichtigen Be-reich unserer Wirtschaft.
Nicht nur der Mittelstand, sondern vor allem die klei-nen Leute leiden derzeit unter den enormen Belastungendes steigenden Ölpreises. Mit dem, was von Ihnen alsÖkosteuer bezeichnet wird, setzen Sie immer wieder nocheins drauf. Sie haben das von Anfang an gewollt. Sie ha-ben das ja gesagt. Insbesondere die Grünen haben ja voneinem Benzinpreis von 5 DM gesprochen. Die OPEC isteine Einrichtung, die Ihre Politik macht. Sie wollten denhohen Benzinpreis. Nun sagt Herr Eichel: Wir brauchenüber die Abschaffung oder die Senkung der Ökosteuernicht zu sprechen, wir machen ja eine fundamentale Steu-erentlastung. Herr Eichel, machen wir denn eine Steuer-entlastung, um Deutschland wieder für Investoren attrak-tiv zu machen? Machen wir eine Steuerentlastung, damitArbeitsplätze geschaffen werden? Oder machen wir sie,damit die Bürger das Geld, das sie auf der einen Seite be-kommen, auf der anderen Seite an der Tankstelle wiederabgeben müssen? Das kann es doch wohl nicht sein.
– Wenn Sie schreien, erinnern Sie mich nur daran, dassdas Geld nicht nur an der Tankstelle, sondern auch beimHeizölhändler abgeführt werden muss. Anders ist diesesnicht zu beschreiben.Meine Damen und Herren, Sie wollen den Leuten ansPortemonnaie.
Sie werden Ihr Waterloo erleben. Ich sage das mit großerLässigkeit. Wenn Sie im Januar noch einmal 7 Pfennigdraufpacken, wird Ihnen das übel bekommen.
Das geschieht Ihnen zu Recht, denn diese Politik, die aufeine Verteuerung der Energie hinausläuft, wirkt sichschädlich auf die Arbeitsplatzentwicklung in unseremLand aus.
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Nun zur Ausgabenseite: Es wird gespart, sagt der Fi-nanzminister. Konsolidieren und gestalten heißt das dannamtlich. Das haben im Übrigen alle Finanzminister ge-sagt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich Folgendes:Während die Ausgaben des Bundes unter Theo Waigelschon in der Zeit von 1995 bis 1998 um rund 30 Milliar-den DM gesenkt wurden, bleibt das Ausgabevolumen inden Jahren 2000 und 2001 quasi konstant, in den Jahren2002 bis 2004 wird das Ausgabevolumen wieder kräftigansteigen. Das sind Ihre eigenen Zahlen und Prognosen,Herr Eichel, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln.Schlagen Sie Ihr Buch auf. Da steht das so drin. Der ei-gentliche Kraftakt in Bezug auf die Ausgaben wurde näm-lich in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre – das lag näheran der Wiedervereinigung – vollzogen.Die Konsolidierung der Haushalte in den nächsten Jah-ren, über die wir uns alle freuen, erfolgt also nicht primärauf der Ausgabenseite, sondern vor allem durch einegünstige Entwicklung der Steuereinnahmen. Real zahltendie Bürger und Unternehmen im Jahre 1999 376 Milliar-den DM an den Bund, im Jahre 2004 werden es 474 Mil-liarden DM sein. Das ist eine Steigerung um 16 Prozent.22 Milliarden DM davon entfallen allein auf die unseligeÖkosteuer, auf die Benzin- und die Stromsteuer.
Die Zuschüsse zur Rentenversicherung erreichen einhistorisches Hoch, ohne dass es zu einer durchgreifendenSenkung der Rentenbeiträge kommt.
Sie bleiben stabil. Sie gehen damit zwar ständig hausie-ren, aber Sie können sie gerade einmal stabil halten, ob-wohl sie immer stärker steuerfinanziert werden.
Verheerend ist die Verschiebung bei konsumtiven undinvestiven Ausgaben. Wurden 1998 noch 12,5 Prozent desHaushalts für Inves-titionen ausgegeben, werden es 2001nur 11,4 Prozent und 2004 nur 10,3 Prozent sein. Das istein historisches Tief. Die Konsumausgaben steigen per-manent. Wir sind mit dieser Verschiebung, der Steigerungder Konsumausgaben und der Senkung der In-vestitionsausgaben, wieder so richtig in sozialdemokrati-scher Tradition.
Darüber können Sie nicht hinwegtäuschen.Leidtragender dieser verfehlten Politik auf der Ausga-benseite ist der Verkehrs- und Bauminister, dem allein in2001 4,9 Milliarden DM weniger zur Verfügung stehen.Die Investitionen werden um 1,7 Milliarden DM gekürzt.Das setzt sich fort im Bildungsbereich. Die Parteien, diedie Bundesregierung tragen, hatten im Wahlkampf 1998großspurig angekündigt, die Investitionen im Bildungs-bereich zu verdoppeln. Lesen Sie das nach. Tatsache ist,dass die Ausgaben für Bildung im Jahre 2001 unter denendes Jahres 1998 liegen.
Das ist ein Faktum. Schauen Sie nach! Das ist großspu-rige Ankündigung, das ist ein Asset, ein besonderer WertIhrer Politik.
In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall.Ein Drama besonderer Art – damit möchte ich meineAusführungen zu den Einzelhaushalten abschließen; siewerden ja Gegenstand der Debatte in den nächsten Tagenund Wochen sein – ist die Wirtschaftsförderung. DerRückgang der Etatansätze von 16,8 Milliarden DM in1998 auf 10,8 in 2001 hat sicherlich etwas mit der Redu-zierung der Kohlesubvention zu tun. Da haben Sie auchunsere Unterstützung. Herr Minister Müller ist nicht mehrda. Wenn er seine globale Minderausgabe auf die Kohle-förderung umlegt, hat er unsere Unterstützung. Das istokay.Was aber bei diesem geplünderten Haushalt ins Augefällt, sind die schrumpfenden Ansätze für die Mittel-standsförderung, die zwischen 1998 und 2001 um sageund schreibe 40 Prozent gekürzt worden sind – das allesin einer Zeit, in der die notwendige Entlastung bei den Er-tragsteuern ausblieb und bei der Ökosteuer, wie wir allewissen, kräftig draufgesattelt wurde. Und dann schmälernSie auch noch den Mittelstandsförderungsrahmen derKfW dadurch, dass der Bund abkassiert und die Refinan-zierung der KfW 250 Millionen DM kostet.Dies alles muss erwähnt werden, wenn Sie sich hierhinstellen und plakativ sagen: Wir haben jetzt alles ge-macht und ihr wart damals so schlimm. Was haben Siedenn in Reihe gebracht, Herr Poß? Bei der Ausgaben-entwicklung haben Sie gar nichts in Reihe gebracht undwenn Sie gekürzt haben, haben Sie oft an der falschenStelle gekürzt,
weil Sie sich nämlich an Leistungsgesetze nicht heran-trauen. Das ist die alte Tradition.Ich will jetzt gar nicht vom Verteidigungsbereich spre-chen. Ich will nur eines sagen: Ich verkenne nicht, dass imHaushalt an der einen oder anderen Stelle richtig gekürztund richtig umgeschichtet worden ist. Der Finanzministerbefindet sich da in der Kontinuität seiner Vorgänger. Dassdie Haushalte 2001 und fortfolgende allerdings ein fi-nanzpolitischer Knüller seien, kann niemand ernsthaftbehaupten.
Im Gegenteil: Auf der Ausgabenseite macht Herr Eichelalles andere als eine gute Figur. Die Ausgaben steigen. SeineChance liegt auf der Einnahmeseite, auf der es kräftige
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Zuflüsse gibt, im Grunde ein Windfall Profit aus Refor-men, die wir angeleiert und die Sie bekämpft haben.
Eine langfristige Strategie – weil Sie von „Blick“ spre-chen – zur Rückführung der Ausgaben gibt es in diesemBundeshaushalt und diesem Finanzplanungszeitraumnicht.
Herr Kol-
lege Rexrodt, ich habe Ihnen einen Geburtstags-Zeitbo-
nus gegeben, aber jetzt bitte ich Sie, zum Schluss zu kom-
men.
Dafür bedanke ich
mich, Herr Präsident.
Ich möchte nur noch den Damen und Herren von der
Opposition mitgeben:
Sie haben Glück gehabt, Herr Eichel hat – wir alle wissen
das – Glück gehabt, und zwar bei den Steuern und durch
Reformen, die wir angeleiert haben. Gemessen werden
muss er daran, ob er in der Lage und willens ist, die Aus-
gaben des Bundeshaushalts zu beschränken. Da hat er
seine Schularbeiten nicht gemacht und daran werden wir
ihn messen.
Schönen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Oswald Metzger vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn dieseWoche die größte Oppositionsfraktion eine Kampagneunter dem Motto „Ökosteuer k.o.“ startet, dann muss ichsagen: Dem Kollegen Austermann und zum Teil auch demKollegen Rexrodt gehen die Argumente aus. Die Argu-mente der Opposition gehen angesichts der soliden Fi-nanzpolitik k.o.
Das ist die Wahrheit.
Herr Kollege Rexrodt, ich fange mit Ihnen an. Mitvollen Hosen ist gut stinken. Wer als Partei 30 Jahre in derRegierung war – der Finanzminister hat daran erinnert, inden 70er-Jahren mit den Sozialdemokraten und in den90er-Jahren mit der CDU; beides waren Phasen, in denendie Verschuldung in diesem Land in Bezug auf die wirt-schaftliche Leistungskraft am stärksten explodierte –, hatkeinen Grund, von solider Finanzpolitik und auch davonzu reden, dass die Finanzpolitik nur durch die Wieder-vereinigung bestimmt wurde.Dieses Land hat auf Kosten zukünftiger Generationengelebt. Diesen Schuh müssen sich alle Parteien anziehen.Deshalb ist es richtig, wenn jetzt eine Idee aus der ökolo-gischen Bewegung – nämlich die Idee der Nachhaltig-keit, die besagt, dass man auf diesem Planeten so lebt,dass unsere Kinder und Enkel Luft zum Atmen haben –auf die Finanzpolitik des Staates und auf die Reform derSysteme der sozialen Sicherung übertragen wird. Dazugehören Schlagworte wie Generationengerechtigkeit,Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik, Abbau der Staats-schulden, ausgeglichene Haushalte und Gestaltungsspiel-räume für die Jungen in diesem Land, die in der Zukunftdie Generation bilden, die gestaltet.
Dieses Grundprinzip aus der Ökologie möchte ich jetztherunterbrechen auf Argumente, die Sie, Kollege Rexrodtund Kollege Austermann, in die Debatte eingeführthaben. Sie sagen, es seien Windfall Profits, wenn jetzt100Milliarden DM aus der Frequenz-Versteigerung ein-genommen werden, weil die Sozialdemokratie diePrivatisierung der Telekom und der Post schließlichbekämpft habe. Das stimmt.
Aber Sie vergessen, dass diese Privatisierung den öf-fentlichen Haushalten auch Lasten zuschiebt, die wir alledie nächsten 45 Jahre tragen müssen.
– Kollegin Wegner, das ist richtig. – Wir müssen 820 Mil-liarden DM Lasten aufgrund der Pensionen an frühereMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Postunternehmenzahlen. Wenn Sie diese Lasten versicherungsmathema-tisch korrekt auf Barwert abzinsen, dann errechnet sicheine Last von 200 Milliarden DM. Wenn Sie ehrlich sind,müssen Sie zugeben, dass diese Last spürbar ist.
– Die Lasten verteilen sich. Aber die Barwertmethodezeigt uns, dass diese Lasten in Zukunft bestehen und dassnormale Steuermittel fällig sind, wenn das Eigentum desBundes durch Privatisierungen für Pensionszahlungen so-zusagen verbraucht ist.Allein zwischen 2000 und 2004 steigen die Ausgabenfür die Postunterstützungskassen um etwa 2,5 Milliar-den DM auf rund 11 Milliarden DM. Angesichts dieserZahlen wäre ich an Ihrer Stelle mit der Aussage höllischvorsichtig: Ihr habt die Privatisierung bekämpft und jetztmacht Ihr Windfall Profits. – Wir sorgen für das einzigRichtige, nämlich dass diese Sondereinnahmen in die Til-gung fließen und somit nicht vervespert werden, damitwir künftig Mittel haben, um diese Last abzufedern. Sosehen die Fakten aus.
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Kollege Austermann, Sie erklären zum wiederholtenMale – durch Wiederholung wird es aber nicht wahr –,dass die Ausgaben des Bundes zwischen 1998 und 2002in Wirklichkeit massiv gestiegen seien. Was Sie unter-schlagen, ist, dass Sie mit Ihrer Finanzpolitik Schatten-haushalte wie zum Beispiel für Postunterstützungskassenunterhalten haben. Ich war bei den entsprechenden Ver-handlungen dabei. Die Postunterstützungskassen mit ei-nem Volumen von rund 10 Milliarden DM waren bis zuunserem ersten Etat außerhalb des Bundeshaushaltes an-gesiedelt, was bereinigt werden musste. Sie unterschlagenferner Kosten für Kindererziehungszeiten in Höhe vonüber 23 Milliarden DM, die es zu Ihrer Zeit noch nicht inForm eines Bundeszuschusses an die Rentenkasse gab.Das sind Ausgaben, die wir etatisieren mussten.Was Sie auch vergessen, ist, dass wir die Einnahmenaus der von Ihnen kritisierten Ökosteuer als Bundeszu-schuss an die Rentenversicherung verwenden. Dasführt dazu, dass die Beiträge anstatt bei annähernd 21 Pro-zent heute bei 19,3 Prozent liegen. Das ist die Wahrheit;sie tut weh. Man muss sie zur Kenntnis nehmen und kannnicht einfach nur grölen.
Genauso ist es, wenn die Ausgaben nach verschiede-nen Fachbereichen bereinigt werden. Das möchte ichheute nicht tun, weil es mir mehr um die Generalliniegeht.Nur wir in der Koalition haben eine Spardebatte ge-führt. Die Opposition war ja abgetaucht, weil KochsSchatten verhinderte, dass sich die zwischen Merz,Merkel und Austermann bestehenden unterschiedlichenMeinungen über die Verwendung der UMTS-Erlöse öf-fentlich niederschlagen konnten. Eine entsprechende Dis-kussion gab es nur zwischen den Haushaltspolitikern derKoalition bzw. zwischen ihren beiden Fraktionen. WirHaushaltspolitiker haben natürlich die Aufgabe, daraufhinzuweisen, dass es, wenn man konsolidiert, nötig ist, zubestimmten Forderungen Nein zu sagen. Wir sagen abernicht nur Nein; wir wollen nicht nur sparen, sondern auchSpielräume mobilisieren, damit investiert werden kann.Ihre Hauptangriffsfläche, Kollege Austermann, und diedes Kollegen Rexrodt war festzustellen, dass die Investi-tionen im Vergleich zu den Ausgaben des Bundes relativgesehen sinken.
Dazu kann ich Folgendes festhalten: Nachdem wir wis-sen, wie hoch die UMTS-Erlöse sein werden, werden wiranlässlich der Haushaltsberatungen im zuständigen Aus-schuss in den nächsten Monaten und spätestens in derBereinigungssitzung dafür Sorge tragen, dass die Investi-tionsausgaben im Vergleich zum Regierungsentwurf umannähernd 4 Milliarden DM erhöht werden. Sie werdendann feststellen: Die Investitionen werden höher liegenals im laufenden Jahr. Wir werden den Haushalt in seinenEckpunkten, also beim Ausgabevolumen, so wie im Ent-wurf der Regierung vorgesehen, bestehen lassen. Wirwerden die Ausgaben nicht steigern. Dadurch verbessertsich also relativ gesehen die Situation bei den Investitio-nen.
Wir werden nur in den Bereichen Investitionen etatisie-ren, die im nächsten Jahr nach Menschenmöglichkeitauch tatsächlich abfließen. Es kommt also nicht zuScheinbuchungen, sondern zu Investitionen in die Zu-kunftsbereiche unserer Volkswirtschaft.Die ganze Welt regt sich doch zurzeit über höhereEnergiekosten auf. Natürlich muss angesichts des beste-henden Massenverkehrs das öffentliche Verkehrssystemin Deutschland attraktiver bzw. pünktlicher werden. Dassder Schwerpunkt der Koalition auf der Bahn liegt, ist ab-solut in Ordnung. Angesichts dessen, dass in den letztenJahren die Zahl der Langsamfahrstrecken von 200 auf1 000 explodiert ist und sich Fahrgäste aufregen, dass dieFahrpläne nicht eingehalten werden, ist es nötig, dieseDefizite der Bahn zu beseitigen. Dafür werden wir die ent-sprechenden Mittel zur Verfügung stellen.
Sie sagten, dass, wenn man seine Heizkostenrechnunganschaut, vor allem im Altbaubestand dieser Republik dieWärmedämmung extrem zu wünschen übrig lässt. – Dasist richtig; das merken ja auch wir. – Unter der RegierungKohl – das war 1990 – hatten Sie sich verpflichtet, bis2005 eine Minderung des CO2-Ausstoßes um 25 Pro-zent zu erreichen. Kanzler Schröder hat sich verpflichtet,an diesem Ziel festzuhalten. Angesichts all dieser Punktemüssen wir für die Menschen, die mit Altbauten zu tun ha-ben, das heißt für Vermieter, Hauseigentümer und Mieter,etwas tun, indem der Staat in diesem Bereich den Klima-schutz ernst nimmt und über entsprechende Anreize, überdie Staatsbank KfW, Einsparmaßnahmen im Energie-bereich finanziert.
Das ist absolut richtig, ist eine Zukunftsinvestition undverhindert, dass die Menschen, vor allem sozial schwä-chere Schichten, durch hohe Energiepreise stranguliertwerden. Das ist ein Angebot an die Bevölkerung. Auchdas sollte man zur Kenntnis nehmen.Im Bildungs- und Forschungsbereich ist es ähnlich.Natürlich werden wir die aus Zinsersparnissen entstehen-den Spielräume nutzen, indem wir in diesem Bereich dieMittel erhöhen. Zu Ihrem platten Zahlenvergleich, HerrKollege Rexrodt, den Sie in Bezug auf die Jahre 1998 und2001 angestellt haben: Sie sollten sich den Aufwuchs imBildungs- und Forschungsbereich auch in Relation zu denanderen Ressorts ansehen.
– Seien Sie ganz friedlich. Wir erhöhen die Mittel für denHochschulbereich im nächsten Jahr um 200 bzw. 300Mil-lionen DM. Dies ist ein schlechtes Beispiel, das Sie hier
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angeführt haben, denn in diesem Bereich wird wirklich er-höht. Auch beim BAföG wird erhöht. Der Finanzministerhat die entsprechenden Zahlen genannt. Ich wäre sehrvorsichtig. Denn wenn wir in medias res gehen, werdenSie sofort merken, dass es zu vielen plausibel klingendenEinwänden von Ihnen Gegenargumente gibt, angesichtsder Sie nicht so gut aussehen wie in einer oberflächlichgeführten, polemischen Debatte.Die Grundauseinandersetzung in der Finanzpolitikin unserer Gesellschaft muss man auf ein ordnungspoli-tisches Fundament stellen; das wissen Sie. Wenn wir wol-len, dass die – dies sage ich bewusst – durch die poli-tischen Parteien dieser Republik seit Jahrzehnten verur-sachte Verschuldung auf Bundes-, Landes- und selbst aufkommunaler Ebene ein Ende hat, muss man ein Konzeptverfolgen, das lautet: Rückführung der Verschuldungüber die Ausgabenseite; das tun wir. Man muss zudemSteuern senken; das tun wir. Zu Ihrem Leidwesen habenwir vor der Sommerpause eine der größten Steuerrefor-men der Geschichte beschlossen und auch durchgesetzt,die auch den Mittelstand entlastet, Kollege Rexrodt.
Sie unterschlagen das komplett. Lassen Sie das die Steu-erberater durchrechnen. Die entscheidende Entlastung istder faktische Verzicht auf die Gewerbeertragsteuer. Daswerden die Unternehmen im nächsten Jahr merken.
Es ist zwar richtig, dass der Grenzsteuersatz erst imJahre 2005 auf 42 Prozent sinkt. Das stimmt, aber die Ge-werbeertragsteuerverrechnung greift schon im nächstenJahr, und das ist faktisch die Entlastung der mittelstän-dischen Unternehmen. Das können Sie nachrechnen.Wir haben Steuerentlastungen durchgesetzt. Das ist einTeil der Konsolidierungsrendite, wir führen die Schuldendes Staates stetig und verlässlich zurück und lassen dieBevölkerung an der Konsolidierung partizipieren, indemwir die Steuern senken.Wir setzen darüber hinaus eine neue Konzeption imBereich der Systeme der sozialen Sicherung um. Die Ren-tenreform, über die derzeit debattiert wird, hat dochüber alle parteipolitischen Auseinandersetzungen hinwegeinen entscheidenden konsensualen Ansatz: Wir müssenuns ein Stück weit von der reinen Umlagefinanzierungverabschieden, weil wir sonst der Alterspyramide unsererGesellschaft nicht vernünftig begegnen können und dieKinder und Enkel zu den Verlierern des Umlagesystemsmachen, die, wenn sie selbst ins Alter gekommen sind,von geringen Rentenansprüchen leben müssen, währendsie in ihrer aktiven Zeit hohe Steuern und Abgaben für diealte Generation bezahlen mussten. Deshalb ist der Ein-stieg in die private Vorsorge absolut richtig.Wenn wir diese Reform in den nächsten Monatendurchsetzen, und zwar möglichst im Konsens mit der ge-samten Gesellschaft – das wurde heute schon angespro-chen –, dann ist ein weiterer ordnungspolitisch wichtigerSchritt auf dem Weg zur nachhaltigen Konsolidierung derStaatsfinanzen und zur Reform der Systeme der sozialenSicherung getan worden. Das nennt man Generationen-gerechtigkeit.Betrachten wir nun den Bereich der ökologischen Mo-dernisierung der Volkswirtschaft, von dem schon dieRede war. Dazu gehört als Mosaiksteinchen die Effizi-enzsteigerung im Energiesektor, und das weiß jeder vonuns. Ich komme jetzt zu der vordergründigen Attacke derOpposition, die von der Gesellschaft als Resonanzkörperverstärkt wird. Wenn ich in den Zeitungen lese, was man-che Journalisten darüber schreiben, dann muss ich denKopf schütteln und zweifle, ob diese Journalisten über-haupt noch wissen, was in diesem Land gespielt wird.Die Koalition hat zwölf Pfennig Ökosteuer und daraufzwei Pfennig Mehrwertsteuer erhoben. Dieses Geld flossbis auf 200 Millionen DM, die für die Förderung regene-rativer Energien ausgegeben wurden, komplett in die Sen-kung des Rentenversicherungsbeitrags. Das heißt nichtsanderes, als dass der Durchschnittsarbeitnehmer mit ei-nem Vollarbeitsplatz in der gewerblichen Wirtschaft inDeutschland, der brutto rund 5 000 DM monatlich ver-dient, seit dem Ende Ihrer Regierungszeit einen halbenProzentpunkt weniger Rentenversicherungsbeitrag be-zahlt und damit 25 DM mehr netto im Monat hat. Das istdie Gegenrechnung.Wenn Sie, die Union oder die F.D.P., den Menschenverkaufen wollen, wir sollten die Ökosteuer aussetzen,dann müssen Sie ihnen auch sagen, dass sie dann 25 DMnetto im Monat weniger in der Tasche haben werden, weilder Rentenversicherungsbeitrag auf 20,3 Prozent respek-tive eher auf 21 Prozent steigen wird.
– Kollege Hinsken, diese einfache Wahrheit stimmt. Sieals Selbstständiger sollten wissen, dass gerade der perso-nalintensive Mittelstand von der Senkung der Arbeitskos-ten profitiert hat, weil der Arbeitgeber pro Arbeitnehmerebenfalls einen halben Prozentpunkt weniger zahlenmusste.
– Die Sozialversicherungsbeiträge sinken und sie werdenweiter sinken.
Wenn Sie dem Finanzminister heute aufmerksam zu-gehört haben, wird Ihnen klar geworden sein, dass wir,wenn es die Konjunktursituation zulässt – aus heutigerSicht lässt sie es zu und meine Fraktion hat dazu gesterneinen Beschluss gefasst –, im Jahre 2002 bei der Arbeits-losenversicherung die Chance haben werden, den Bei-tragssatz zu senken und das in der Koalitionsvereinbarungangestrebte Ziel, in dieser Legislaturperiode mit den So-zialversicherungsbeiträgen unter 40 Prozent zu kommen,erreichen. Sie werden sich noch wundern.
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Oswald Metzger11083
Wir verfolgen das Ziel der Senkung von Steuern und Ab-gaben. Das ist ordnungspolitisch vernünftig.Ich habe versucht, die Zusammenhänge bei der Ökolo-gisierung der Volkswirtschaft von einer anderen Seite herzu erläutern.Was mich aber am meisten ärgert, ist Folgendes: Die Uni-onsfraktion hat ein Rentenkonzept – Ihre Experten auf derFachebene sind Horst Seehofer von der CSU- undAndreas Storm von der CDU-Fraktion, also Kollegen, dieich schätze –,
bei dem die Einnahmen aus der Ökosteuer quasi ver-einnahmt werden. Wenn Sie diese unterschlagen würden,müssten Sie sofort eine Mehrwertsteuererhöhung um 1bis 1,5 Prozentpunkte in die Debatte bringen. Dannsind Sie bei dem, was in Ihrer Koalitionszeit, näm-lich 1998, beschlossen wurde: Mehrwertsteuererhöhungam 1. April 1998 um 1 Prozent, damit damals der Ren-tenversicherungsbeitrag nicht auf 21 Prozent anstieg.Da frage ich jetzt Sie hier und auch die Öffentlichkeit:Ist es Ihnen lieber, eine Mehrwertsteuer, eine Verbrauch-steuer, als Umfinanzierungsinstrument zu bezahlen odereine Steuer, auf die ich über den Verbrauch – beim Autoüber den Gasfuß, bei meiner Wohnung über entsprechen-des Heizen – Einfluss nehmen kann?
Diese Alternative haben Sie. Oder wollen Sie diese un-glaubwürdige Strategie mitmachen, dass man die Öko-steuer zum Sündenfall der gesamten Gesellschaft erklärt?Wenn Sie sich die solide Grundstruktur unserer Politiknoch einmal ansehen – Senkung der Steuern und Abgabenals Konsolidierungsrendite aus Rückführung der Staats-verschuldung, also überwiegend auf der Ausgabenseite,und Reform der Systeme der sozialen Sicherung sowieSenkung bei der Arbeitslosenversicherung, wenn dieKonjunktur es zulässt –, stellen Sie fest: Dies ist einestringente Strategie, von der Sie immer geredet haben, dieSie aber während Ihrer letzten vier Regierungsjahre über-haupt nicht praktizieren konnten. Dies ist für mich derPunkt, an dem Sie unredlich werden.Es wird plötzlich behauptet, diese Koalition, dieser Fi-nanzminister würde Privatisierungserlöse für den lau-fenden Haushalt verwenden.
Wir haben in diesem Jahr praktisch keine Privatisierungs-erlöse mehr in den öffentlichen Haushalt eingestellt. Imnächsten Jahr, im Jahre 2001, haben wir 8 Milliarden DMin den öffentlichen Haushalt eingestellt. Wenn Sie lesen,was in der letzten Woche in der SPD-Fraktion und bei unsGrünen beschlossen wurde, werden Sie feststellen: Steu-erbedingte Mehreinnahmen werden auch dazu herange-zogen, die Privatisierungseinnahmen durch reguläre Ein-nahmen zu ersetzen. Privatisierungserlöse – das isterklärtes Ziel dieser Koalition – werden künftig in die Til-gung fließen.Im Herbst werden wir ein Haushaltsgesetz mit einerRegelung bekommen, in der genau diese Ermächtigungfür den Finanzminister enthalten ist. Dies ist die gleicheErmächtigungsnorm, die jetzt auch für die UMTS-Zins-erlöse gilt, die dazu führt, dass wir keinen Nachtrags-haushalt brauchen. Es ist absurd: Ein Nachtragshaushaltwäre ja nur für Sie, die Union, ein willkommener Anlass,um Ihre Ausgabenprogramme auszubreiten und das Geldnicht für die Schuldentilgung, sondern als Volksbe-glückungsinstrument zu verwenden. Dies kann man einerunredlichen und unseriösen Opposition ja durchgehenlassen, aber einer soliden, seriösen Regierungskoalitionmitnichten.
Wenn ich über das, was wir heute gehört haben, Bilanzziehe – morgen wird die Auseinandersetzung hoffentlichqualitativ ein bisschen ansprechender, weniger polemischund weniger aus der unteren Schublade geführt –,
stelle ich fest: Wir werden den Bundeshaushalt von denEckpunkten her so halten, wie ihn die Bundesregierungeingebracht hat. Aber, Kollege Austermann, der Haus-haltsausschuss wird diesen Etat natürlich verändern, weildas Budgetrecht das vornehmste Recht des Parlaments ist.Wir werden die Investitionen um die Spielräume erhöhen,die Zinsersparnisse auf der Aufgabenseite möglich ma-chen. Wir werden gleichzeitig die Nettoneuverschuldungauf unter 45 Milliarden DM reduzieren. Dies ist erklärtesZiel beider Bundestagsfraktionen der Regierungskoali-tion. Mit diesem Kurs können wir die öffentliche Ausei-nandersetzung in den nächsten Wochen gut überstehenund auch vor Bürgerinnen und Bürgern in aufgeheizterAtmosphäre bestehen, wenn Ölpreise, Heizölpreise, Ben-zinpreise steigen. Dies sind Segmente, in denen diese Ko-alitionen für die von ihr verantwortete Erhöhung eine Ent-lastung für die Bevölkerung nachweisen kann.
Hier werden wir bestehen. Es wird Ihnen nicht gelingen,die Performance dieser Regierung mit einer Debatte, dieheute in der „Süddeutschen Zeitung“ in einem Leitkom-mentar als „Krampfdebatte“ bezeichnet wurde, zu unter-laufen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen.Sie werden sehen: Ihre Fraktion, Kollege Merz, diefrüher einen intellektuell redlichen Fraktionsvorsitzendenhatte, der von diesem Pult aus erklärt hat, dass Energie einknappes Gut sei, das deshalb teurer werden müsse, undArbeit ein Überflussgut, das deshalb billiger werdenmüsse, wird mit dieser populistischen Kampagne auflau-fen.Vielen Dank.
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Oswald Metzger11084
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Die Regierung hat ihren Haushaltsent-wurf für das Jahr 2001 in erster Linie mit dem Konsoli-dierungskurs begründet. Nun muss man ja konstatieren,dass die Politik des Schuldenabbaus zum Teil Resonanzin der Bevölkerung findet. Auch die PDS hat entgegenallen Vorurteilen nichts gegen eine sparsame Haushalts-politik und gegen den Abbau von Staatsschulden einzu-wenden.Ich kann Ihnen versichern: Eine Vielzahl demokrati-scher Sozialistinnen und Sozialisten agiert in kommunal-politischer und landespolitischer Verantwortung genauso.Wir unterscheiden uns jedoch in einem Punkt wesentlich.Für uns mutiert die sparsame Haushaltspolitik nicht zumalleinigen Selbstzweck von Politik.
Es kann nicht darum gehen, den Schuldenabbau umjeden Preis zu erreichen. Sicher kann man nur das ausge-ben, was man hat, und nicht zweifach oder dreifach, pri-vat und als Staat. Wenn man aber an der falschen Stellespart, muss man es später doppelt, dreifach, vierfachdraufzahlen. Auf diesem Weg befinden Sie sich.
In der Politik sollte es doch darum gehen, zu diskutie-ren, wie man tatsächlich effektiv wirtschaften kann, woman einsparen kann, aber auch darüber zu diskutieren, wodie drängendsten Probleme unseres Gemeinwesens liegenund wie wir unsere Steuergroschen dort tatsächlich Markfür Mark sinnvoll einsetzen.Herr Eichels Vergleich mit dem schuldenfreien Erbehinkt sehr. Ich möchte kein hoch verschuldetes Haus er-ben. Ich möchte aber auch kein Haus erben, welches ma-rode ist. Gleichzeitig wünsche ich keine Situation, in dermeine Mithausbewohner vielleicht eine so schlechte Aus-bildung mit auf den Weg bekommen haben, dass sie nichteinmal mehr in der Lage sind, das Haus richtig instand zuhalten.
Wenn wir uns diesen Aufgaben und Problemen heutenicht stellen, beschneiden wir die Zukunftschancen unse-rer Kinder und Enkel genauso.
Ist nicht hier ein grundsätzliches Umdenken erforderlich?Stimmt die enge haushaltspolitische Sicht denn noch, dassdie Ausgaben für Kinderbetreuung, Jugend, Sport, Bil-dung einfach als konsumtive Ausgaben diskreditiert wer-den?
Oder sind nicht genau diese Ausgaben höchst profitableAnlagen in unsere gemeinsame Zukunft?Wenn Sie in Ihrem Haushaltsentwurf vorschlagen, zumBeispiel die Bundeszuschüsse für die Bundesanstalt fürArbeit zu streichen, so ist das nichts anderes als der Ein-stieg in den Abschied von einer aktiven Arbeitsmarkt-politik.
Politikerinnen und Politiker, die sich in ihrem Handelnnur noch von den so genannten objektiven Haushalts-zwängen leiten lassen, machen sich tendenziell überflüs-sig, weil sie überhaupt keinen Gestaltungsanspruch mehrhaben.
Herr Eichel, aber auch Herr Metzger hat noch einmalbetont, dass diese straffe Haushaltsdisziplin alternativlosvon einer nachhaltigen Entlastung aller Steuerzahler undUnternehmen begleitet werden muss. Schaut man sichaber die Inhalte dieser beiden Stränge genauer an, so wirdoffensichtlich, wie sozial ungerecht Sie agieren. DieHaushaltssanierung lief – Stichwort: Haushaltssanie-rungsgesetz – eindeutig auf Kosten von Rentnerinnen undRentnern, auf Kosten zukünftiger Rentenansprüche vonArbeitslosen, auf Kosten von sozial schwachen Men-schen.Diese Menschen sind zusätzlich betroffen von denEinsparungen, die an die anderen Ebenen der öffentlichenHand, an die Länder, an die Kommunen, weiter gereichtwerden. Die Schließung von Bibliotheken stört einen Mil-lionär überhaupt nicht, sehr wohl aber einen Studenten,weil er sich nicht einfach jedes Buch von dem nicht vor-handenen BAföG kaufen kann.
Das heißt, hier haben wir bereits eine doppelte Belas-tung. Sie haben eine Steuerbelastung eingeführt, die Öko-steuer. Sie haben uns erst verkündet, es gebe als Aus-gleich die Senkung der Rentenbeiträge. Nun frage ichSie: Wo haben Rentner und Rentnerinnen den Ausgleichfür die Ökosteuer? Weder durch die Senkung der Renten-beiträge noch – wie Herr Eichel ja heute verkündet hat –durch die Senkung im Einkommensteuerbereich. Hierfunktioniert Ihre Argumentation doch nicht!Sie können reden, wie Sie wollen: Die Ökosteuerbelas-tung wird ohne jeglichen Ausgleich sozial völlig unge-recht an Millionen von Menschen in diesem Land weitergereicht,
die keine Möglichkeiten haben, bei ihrem Energie-verbrauch zu sparen oder sich vielleicht ein sparsameresAuto zu kaufen.
Wir waren deshalb von Anfang an für eine Verteuerungdes Umweltverbrauchs, aber auf eine andere Art undWeise. Das wissen Sie. Wir können nicht einfach den Um-
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weltverbrauch verteuern, ohne Alternativen anzubieten.Dazu müssen wir jetzt handeln.Herr Eichel hatte übrigens vorhin nicht Recht, als ersagte, die Regierung habe mit der Erhöhung der Rohöl-preise nichts zu tun. Wenn ich nicht ganz falsch liege, ha-ben Sie immerhin mächtig viel mit den Mehreinnahmenbei der Mehrwertsteuer zu tun. Denn wenn der Preissteigt, steigen die Einnahmen bei der Mehrwertsteuer.Natürlich erhöht sich auch auf diesem Wege Ihr Steuer-aufkommen.
Sie haben keine Alternativen angeboten. Sie habendas nicht verwirklicht, was Sie noch in der letzten Legis-laturperiode gefordert haben: die Umwandlung der Kilo-meterpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige Ent-fernungspauschale. Machen Sie das jetzt endlich underhöhen Sie sie von 70 Pfennig auf 1 DM, sodass tatsäch-lich Alternativen geboten werden, aber auch Autofahrerund Autofahrerinnen eine unmittelbare Hilfe erhalten.
Ihre Arbeitsplätze hängen oftmals von diesem Verkehrs-mittel ab, da andererseits auch Strecken der Bahn ge-schlossen werden und die Bahn oft unpünktlich und sehrteuer ist.Betrachten wir dann noch Ihre scheinbar unabweisbarePolitik der Steuersenkungen. Herr Eichel hat vorhin dieFachverkäuferin locker mit 40 000 DM Bruttojahresver-dienst angesetzt. Das stimmt nicht ganz; der Durchschnittbei den Fachverkäufern ist 35 000 DM pro Jahr. Ein alleinstehender Arbeitnehmer mit einem Jahresbruttolohn von20 000 DM wird im nächsten Jahr um immerhin 99 DMentlastet. 100 DM haben oder nicht haben – das sindschon fast 200 DM.
Der allein stehende Arbeitnehmer ohne Kinder mit ei-nem Jahresbruttoeinkommen von 140 000 DM wird um2 187 DM entlastet. Das ist doch schon ein beträchtlicherUnterschied.Zusammenfassend kann man feststellen, dass Arbeit-nehmer im nächsten Jahr 10 Milliarden DM Lohnsteuerweniger abführen müssen. Das entspricht einer Steuerent-lastung von 3 Prozent – gut. Bei Kapitalgesellschaften be-trägt die steuerliche Entlastung allerdings 40 Prozent. DieÜberschrift „Über Großverdiener ergießt sich EichelsFüllhorn“ stammt nicht von mir, sondern aus der – wieman sagt – bürgerlichen Presse. Sie haben mit IhremSteuergesetz einen massiven Rückzug insbesondere derGroßverdiener und Großunternehmen aus der Finanzie-rung des Gemeinwesens verankert. Dies geht wiederumzulasten von sozial Schwächeren, die auf das öffentlicheSchulsystem angewiesen sind. Dies geht aber auch zulas-ten von kleinen und mittelständischen Unternehmen, diesich nicht mit sehr viel Geld die Absolventen derHochschulen einkaufen können oder sie vorfinanziert aufprivate Unis schicken können. Das ist eine sozial zutiefstungerechte Politik.Sie können keine solide, zukunftsorientierte Haus-haltspolitik machen, wenn Sie nicht sinnvoll sparen. Ersteinmal müsste man gegen Verschwendungen ordentlichvorgehen. Wir müssten zum Beispiel darauf hinwirken,dass die Zahl der Betriebsprüfer massiv erhöht wird, dassFinanzämter ordentlich ausgestattet werden und nichtwie in Berlin-Charlottenburg bei der Zusammenlegungzweier Finanzämter das zweite Faxgerät gestrichen wird,sodass sie fast nicht mehr arbeitsfähig sind, dass das, wasdie Landesrechnungshöfe und der Bundesrechnungshofanmahnen, tatsächlich verwirklicht wird. Wir müssen unshier auch über eine sozial gerechte Einnahmengestaltungunterhalten.Ein letztes Wort, da ich die einzige Frau bin, die in derersten Runde spricht, und Frauen meistens mit Kindernverbunden werden:
Herr Eichel hat ja Recht, dass die schwarz-gelbe Koalitionsehr wenig für Kinder getan hat. Aber das, was wir jetztverwirklicht haben, war zum großen Teil nicht freiwillig,sondern Auflage des Bundesverfassungsgerichtes. So,wie es umgesetzt wurde, ist es wieder sozial ungerecht,weil die Großverdiener eine Steuerersparnis von 423 DMpro Monat haben und die normale Arbeitnehmerin ein er-höhtes Kindergeld von jetzt 270 DM bekommt. Das istnicht das, was wir von der PDS uns vorstellen. UnsereVorschläge hören Sie in der nächsten Rede.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Georg Wagner von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Frau KolleginDr. Höll, vielleicht können Sie sich in Mecklenburg-Vor-pommern, wo Sie an der Regierung beteiligt sind, darumkümmern, dass dort mehr Finanzbeamte eingestellt wer-den; denn es ist Sache der Länder, dafür zu sorgen, dassdie Steuereinnahmen fließen. Der Kollege Urbaniak wirdnachher noch darauf hinweisen, wo in den Ländern durchSteuerersparnisse und durch Steuerhinterziehungsmög-lichkeiten Standortvorteile gegenüber anderen Ländernerzielt werden sollen. Ich meine, dies sollte man auf dieEbene schieben, wo es hingehört.Wenn ich die Debatte jetzt etwas Revue passierenlasse, dann stelle ich fest, dass bis jetzt von der Opposi-tion nichts Neues gekommen ist. Es ist immer das Alte,was man schon kennt und längst weiß.
Man kann sich gar nicht mehr überraschen lassen, etwawenn der Kollege Austermann einen Nachtragshaushaltfordert. Das fordert er schon seit Monaten. Auch weiß erseit Monaten, dass das unsinnig ist; denn die Ausgaben fürdie Zwangsarbeiterregelung stehen als Leertitel im Haus-halt. Das kann man also ausfüllen. Auch die Einnahmensind geregelt.
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Dr. Barbara Höll11086
Dann kommt ein Punkt, Herr Kollege Austermann, zudem ich Ihnen sagen muss: Das verstehe ich nicht ganz.Sie fordern offen – Herr Merz hat das wieder eingesam-melt –, dass wir von dem Ertrag aus dem Verkauf derHandylizenzen, die wir erzielt haben, 80 Milliarden DMfür die Schuldentilgung und 20 Milliarden DM für ir-gendwelche Investitionsmaßnahmen vorsehen sollten.
Das ist ein Aufruf zum Gesetzesbruch; denn im Gesetzsteht, dass alle Einnahmen des Bundes, die über diesenWeg hereinkommen, zur Schuldentilgung verwendet wer-den müssen. Das gilt gemäß Koalitionsbeschluss auch fürdie Steuermehreinnahmen, Herr Kollege Austermann.
Wenn Sie die Koalition zum Gesetzesbruch aufrufen,dann sage ich Ihnen: Wir werden kein Gesetz brechen. Siehaben auf dem Gebiet des Gesetzesbrechens mehr Erfah-rung als wir. Wir werden Ihnen da nicht folgen.
Herr Merz hat sich heute Morgen im Frühstücksfern-sehen über die Ökosteuer ausgelassen. Nun hat hierbeiHerr Merz einschlägige Erfahrungen.
– Herr Kollege Hinsken, Sie sind immer ein lebhafterZwischenrufer. Ich empfehle Ihnen, vor Zwischenrufen,und zwar im Psalm 141 Vers 3. einmal zu lesen. Wissen Siewarum? Sie können es dort nachlesen. Es heißt dort:„Herr, stell eine Wache vor meinen Mund, eine Wehr vordas Tor meiner Lippen!“ Ich empfehle Ihnen wirklich, denPsalm 141 Vers 3 einmal einzuhalten. Dann werden IhreZwischenrufe qualifizierter sein, als sie es bisher gewesensind.
Der Kollege Friedrich Merz hat heute Morgen gesagt,dass die Ökosteuereinnahmen nur zum geringsten Teilin die Sozialversicherung gehen würden. Das ist schlicht-weg falsch. Er ist jetzt nicht da. Aber ich bedaure außer-ordentlich, dass Herr Merz schon wieder einmal bei einerHaushaltsberatung auf seine Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter oder auf die Einflüsterungen des Herrn Austermannhereingefallen ist.
Wenn man sich die Zahlen zur Ökosteuer genau ansieht,bemerkt man, dass im Jahre 2000 mit 17,4Milliarden DMgerechnet wird. Für die Sozialversicherung werden16,8 Milliarden DM ausgegeben. Für das Jahr 2001 gibtes die Prognose, dass 22,2MilliardenDM hereinkommen.Ausgegeben werden 22,4 Milliarden DM. Das alles sindEinnahmen aus der Ökosteuer, die in die Sozialversiche-rung fließen.
Wenn man sagt, man müsse jetzt mit der Ökosteuerheruntergehen, dann erscheint mir das makaber! Sie for-dern beständig, die Subventionen – Herr Rexrodt, dasgeht auch an Sie – für den Steinkohlenbergbau herunter-zufahren, egal ob Arbeitsplätze vernichtet werden odernicht. Subventionsabbau muss sein. Im Zusammenhangmit der Ökosteuer und den Ölpreisgestaltungen fordernSie jetzt Subventionen für die Erdöl produzierenden Län-der und für die multinationalen Konzerne. Das ist dochfalsch. Eine solche Politik machen wir nicht mit.
– Herr Rexrodt, warten Sie einmal; ich komme auf Sienoch gerne zurück.Frau Merkel, die sich ja gestern auch nicht schämte,hinsichtlich der Ökosteuer so zu argumentieren, hat nochals Ministerin am 28. Oktober 1997 gesagt – man hörebitte zu –:Bundesumweltministerin Angela Merkel hälteine jährliche Anhebung der Mineralölsteuer vonetwa fünf Pfennig für angemessen. Auf dem umwelt-politischen Forum der Thüringer CDU „Bewahrungder Schöpfung – Chancen und Grenzen der ökologi-schen Steuerreform“ trat die Ministerin gesternAbend für eine Besteuerung des Energieverbrauches„mit Augenmaß“ und damit eine Entlastung des Fak-tors Arbeit ein.
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Hans Georg Wagner11087
Das ist genau richtig. Ich habe ja überhaupt nichts dage-gen. Nur, Frau Merkel muss dann bitte bei ihrer eigenenPolitik das machen, was sie dort gesagt hat.
Das, was 1997 richtig war, kann doch nicht im Jahre 2000plötzlich falsch und dann noch Grund und Anlass sein,eine Kampagne gegen die Koalition zu machen.
Herr Kol-
lege Wagner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Hinsken?
Herr Präsident, ich bin
natürlich einverstanden. Herrn Hinsken, bitte.
Das Wort
erteilt der Präsident und nicht der Redner.
Herr Hinsken, bitte schön.
Herr Kollege Wagner,
Sie haben vorhin aus der Bibel zitiert und einige Äuße-
rungen von sich gegeben, die ich nicht teilen kann. Des-
halb frage ich Sie, ob Sie wissen, dass in Matthäus 12,36
steht: Über jedes unnütz und falsch gesprochene Wort auf
dieser Welt hast du Zeugnis abzulegen am Jüngsten Tag.
Das stimmt. Deshalbgilt ja auch für Sie das achte Gebot, in dem es heißt, dusollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.Sie haben Recht, Herr Kollege. Das gilt auch für Sie.Ich sage noch einmal zu dieser Diskussion über dieÖkosteuer: Herr Martin Hübner – das ist der Wirt-schaftsfachmann der Bayerischen Hypo-Vereinsbank;Herr Hinsken, vielleicht kennen Sie ihn persönlich, ichkenne ihn nicht – sprach sich für die Beibehaltung derÖkosteuer im ZDF am vergangenen Freitag aus und sagte:Wer jetzt die Ökosteuer aussetzen will, subventioniert diemultinationalen Konzerne. Recht hat der Mann. Erkommt aus Bayern. Es gibt also auch in Bayern noch ver-nünftige Stimmen, wie man an diesem Herrn Hübnersieht.Wenn eben Herr Rexrodt oder die Frau KolleginDr. Höll im Zusammenhang mit dem Heizöl die armeOma genannt haben, die jetzt mehr Heizölkosten hat,dann muss man darauf hinweisen: Das Heizöl ist bei derÖkosteuer völlig ausgenommen, es wird nicht mit derÖkosteuer belastet. Also hier sind es allein Ihre Freunde,die multinationalen Ölkonzerne, und ist es nicht die Öko-steuer. Da muss man der Bevölkerung auch wieder sagen:Das ist etwas anderes.Ich führe die Diskussion in Bezug auf die Zinserspar-nisse einmal auf die Frage zurück, was wir machen wol-len. In der Tat, Herr Kollege Rexrodt, in einem Punkt gebeich Ihnen völlig Recht: Auch mich bedrückt es, dass es dieBahn entgegen dem erklärten Willen des gesamten Bun-destages – wenn ich mich recht erinnere, beim Eisen-bahnneuordnungsgesetz – trotz Privatisierung nicht ge-schafft hat, mit anderen Anbietern auf der Schiene inWettbewerb zu treten. Vielmehr hat die Verknüpfung desSchienennetzes mit der Bahn auch einen Nachteil. Darü-ber muss man reden. Ich bin der Meinung, dass die Ta-rifgestaltung der Deutschen Bahn im Vergleich zu den an-deren Anbietern – ich sage einmal ganz vorsichtig – zuwünschen übrig lässt.
Man kann nicht durch künstliche Erhöhung der Tarife aufdem Schienennetz potenzielle Mitanbieter davon abhal-ten, einen Wettbewerb herzustellen. Das kann nicht sein.Deshalb bin ich der Meinung, dass wir dies machen soll-ten.
Es ist erfreulich – der Minister hat es gesagt –, dass wirdie Arbeitslosigkeit in diesem Jahr um 250 000 abbauenwerden, und zwar auch durch die Schaffung von 170 000neuen Arbeitsplätzen.Frau Kollegin Dr. Höll, die beste Sozialpolitik, die wirmachen, ist doch der Abbau der Arbeitslosigkeit. Nur da-durch werden die Chancen des Staates erweitert. Wennwir die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr – der Ministerhat es gesagt, um 270 000 – weiter abbauen, dann ist dasgenau der richtige Weg, den wir gehen müssen. Es ist diebeste Sozialpolitik, die Menschen in Arbeit bringen, wiewir das mit den Jugendlichen mithilfe des JUMP-Pro-gramms gemacht haben. Das ist die richtige Politik.
Mir fällt gerade noch zur Ökosteuer ein, wo das Okto-berfest ja, Kollege Hinsken, heute Abend feierlich hier inBerlin voreröffnet und dann diese Woche in Müncheneröffnet wird: Wenn die Bierpreise auf dem Oktoberfeststeigen – sie steigen ja, das wissen Sie –, habe ich nochnicht die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten,Ihres Oberbefehlshabers, gehört, der gesagt hat: Manmuss die Biersteuer abschaffen. Er nimmt die Erhöhunghin.
– Der Vergleich ist nicht zynisch,
sondern er entspricht absolut der Wahrheit.
Meine Damen und Herren, wenn von der Oppositiongesagt worden ist, die Ausgaben für Bildung, Forschungund neue Technologien würden gekürzt, dann bitte ichherzlich darum, einmal in den Haushaltsplan hineinzu-gucken. Ich kann natürlich auch eine Rede zum Haushalthalten, ohne in den Plan hineinzugucken; aber dann mussich damit rechnen, dass man mir nachweist, dass ich
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Hans Georg Wagner11088
falsch liege. Was die Bildungsausgaben angeht, liegenSie absolut falsch; denn wir haben im Jahre 2000 einenAnteil am Gesamthaushalt von 3,05 Prozent, in 2001 von3,21 Prozent, in 2002 von 3,24 Prozent und im Jahre 2004von 3,28 Prozent. Jetzt vergleichen wir einmal diese Zah-len mit dem, was Sie vorgesehen hatten, als Sie an der Re-gierung waren: In der mittelfristigen Finanzplanung sa-hen Sie einen Anteil im Jahre 2000 von 3,10 Prozent vor,im Jahre 2001 von 3,03 Prozent, also von 0,18 Prozentweniger, als es die rot-grüne Koalition vorsieht, und imJahre 2002 – Herr Kollege Rexrodt, Sie hatten in der da-maligen Bundesregierung mitgestimmt – von 2,97 Pro-zent, also fast 0,3 Prozent weniger als bei der jetzigen Ko-alition. Jetzt davon zu reden, wir würden die Ausgabensenken, ist entweder völlig falsch oder Sie haben in derMengenlehre nicht aufgepasst bzw. das Einmaleins nichtbegriffen. Wir machen jedenfalls mehr, meine Damen undHerren, als von Ihnen bisher vorgesehen war.
Dann wurde hier gesagt, man müsse die Mittel für dieStädtebauförderung und für die Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ er-höhen. Dazu sage ich Folgendes: Wir stabilisieren imOsten die Gemeinschaftsaufgabe zur wirtschaftlichenStrukturveränderung. Aber reden Sie doch bitte einmalmit den Ihnen verbliebenen Finanzministern – zugegebe-nermaßen sind es nur noch wenige, aber immerhin stellenSie noch welche – ganz offen und ehrlich darüber, wie sieüber die Gemeinschaftsaufgabe denken. Sie werden Ihnendann sagen: Lasst um Gottes Willen die Finger von derErhöhung der Gemeinschaftsaufgabe, wir bringen ja garnicht die Komplementärmittel auf.
Aufgrund der Steuerreform, die jetzt verabschiedet wor-den ist, sind auch die Haushalte der Länder eingeengt, so-dass die Komplementärmittel von ihnen nur sehr schweraufzubringen sind.
– Gut, die Bayern können vielleicht mithalten; sie habenja jahrelang von den anderen so viel Geld abgesaugt, wiees nur möglich war. Aber alle anderen Bundesländer kön-nen diese Mittel nicht aufbringen, meine Damen undHerren.Das gilt auch für die Gemeinden. Wir haben 520 Mil-lionen DM Städtebauförderungsmittel für die östlichenLänder im Haushalt. Das bleibt stabil wie in all den Jah-ren. Ihre Koalition hat die Förderungsmittel für die west-lichen Länder seit 1990 von 1 Milliarde DM auf 80 Mil-lionen DM abgesenkt. Hier wollen wir im Zuge derVerhandlungen etwas tun.Auch bei der Energieeinsparung, die Kollege Metzgerschon genannt hat, wollen wir etwas tun; denn in derjetzigen Situation darf man nicht darüber nachdenken, dieÖkosteuer oder irgendwelche anderen steuerlichen Re-geln zu verändern. Vielmehr muss man jetzt die Energie-einsparung stärker fördern, um dadurch zu Minderaus-gaben zu kommen.
Ich will jetzt nicht mehr viel zum Nachtragshaushaltsagen, weil vorhin bereits deutlich gemacht worden ist,dass er nicht notwendig ist. Wir gehen jetzt in die Be-ratung des neuen Haushalts für 2001. Über einen Nach-tragshaushalt für 2000 nachzudenken ist eigentlich über-flüssig, weil alle gesetzlichen Voraussetzungen bereitsgeschaffen sind. Die Beratung eines Nachtragshaushaltswäre für Sie allenfalls mit der Hoffnung verbunden, wahr-genommen zu werden, nachdem das eine oder andere beiIhnen in den letzten Monaten falsch gelaufen ist.
Herr Kol-
lege Wagner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Koppelin?
Beim Kollegen
Koppelin mache ich das immer gern.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Vielen Dank, Herr Kollege
Wagner, Sie haben die Ökosteuer angesprochen. Wir ha-
ben ja vorhin einige Zitate zum Thema Ökosteuer gehört.
Was sagen Sie denn zu folgendem Zitat des früheren nie-
dersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder?
In einem Interview mit „dpa“ sagte er 1997 zur Öko-
steuer:
Die erhoffte Lenkungswirkung zum Wohl der Um-
welt wird nur gering sein. Für die Bürger in Flächen-
staaten wie Bayern ist ein höherer Benzinpreis aber
eine empfindliche Mehrausgabe. Die SPD muss dann
in Kauf nehmen, dass die Leute die Schnauze voll
von uns haben.
Ich kann gar nicht be-streiten, dass die Äußerungen von Herrn Schröder immerbedenkenswert sind. Alles, was er sagt, muss aufmerksamverfolgt werden. Das ist auch in diesem Fall ganz selbst-verständlich.
Im Gegensatz dazu haben Sie ja Pech: Man kann IhreWorte nicht nachvollziehen. Sie müssen ja immer über-legen, was gerade gesagt worden ist.Meine Damen und Herren, noch ein paar Sätze zumBAföG.Was wir hier tun, wird von Ihnen gar nicht genug
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Hans Georg Wagner11089
gewürdigt. Ich kann ja verstehen, dass Sie als Oppositiondas nicht wollen. Sie haben es in den 16 Jahren, in denenSie an der Regierung waren, geschafft, die ehemals vonder sozialliberalen Koalition – auch mithilfe der F.D.P.,Herr Kollege Rexrodt – erreichte hohe Quote von Studie-renden, die aus einkommensschwächeren Familien ka-men – was dazu führte, dass nicht nur Professorenkinder,sondern auch Arbeiterkinder die Chance hatten, Professo-ren zu werden und nicht mehr Arbeiter bleiben mussten –,drastisch zu senken. Jetzt sind wir auf dem Weg, das wie-der zugunsten der einkommensschwachen Familien um-zudrehen. Die Kinder der einkommensschwachen Fami-lien sind ja nicht dümmer als die Kinder der Familien, dieGeld haben. Deshalb muss das geändert werden und dasmachen wir. Wenn Sie wollen, können Sie da beim Haus-halt 2001 auch mitmachen.
Vorhin ist die Quote angesprochen worden, die Art. 115des Grundgesetzes uns vorgibt, nämlich die Forderung,dass die Nettokreditaufnahme die Investitionen nichtüberschreiten darf. Das Wort Nettokreditaufnahme istheute zu Recht schon als Ausweitung der Schulden be-zeichnet worden. Wir reden darüber, als sei dies ein schö-ner Ausdruck, der eigentlich nichts sagt, aber jedeAusweitung der Nettokreditaufnahme bedeutet mehrSchulden. Deshalb, Herr Kollege Austermann, steigen dieSchulden ja auch an. Wir senken nur die Nettokreditauf-nahme auf Null im Jahre 2006 ab. Sie haben sie immer nuransteigen lassen. Deshalb ist da ein Unterschied zwischenIhnen und uns.Unterstellt, die Nettokreditaufnahme bliebe bei46,1 Milliarden DM – Herr Kollege Metzger hat gesagt,die Koalition wolle unter 45 Milliarden DM gehen –, be-trüge der prozentuale Unterschied zwischen den Investi-tionen und der Nettokreditaufnahme 25 Prozent. Dasheißt, die Investitionen wären um 25 Prozent höher als dieNettokreditaufnahme. Im Jahre 2002 wären es – bei Kon-tinuität in der mittelfristigen Finanzplanung – 23 Prozent,im Jahre 2003 wären es bei ständiger Rückführung derNettokreditaufnahme, also neuer Schulden, 42 Prozentund im Jahr 2004 bei einer geplanten Nettokreditauf-nahme von noch 20 Milliarden DM sogar 62 Prozent.Ich erinnere an einen Haushalt der Vorgängerregie-rung, nämlich den Haushalt 1996, der schlichtweg verfas-sungswidrig war. Sie haben es damals geschafft, dass dieNettokreditaufnahme deutlich höher war als die In-vestitionsausgaben. Wir haben das massiv umgedreht. Ichfinde, das ist eine erfolgreiche Bilanz in der Steuerpolitik,eine Politik, die auf Solidität aufgebaut ist und in die Zu-kunft hineinreicht.
Der Minister hat Recht gehabt: Die Schulden in Höhevon 1,4 Billionen DM, also 1 400 Milliarden DM, dienach der Tilgung mithilfe der UMTS-Erlöse übrig blei-ben, sind doch Ihre Schulden. Da können Sie reden, wasSie wollen. Sie haben mit den Schulden die Kinder undEnkelkinder belastet, die diese Schulden abbauen müs-sen. Wir versuchen, den Kindern und Enkelkindern zuhelfen, indem wir die Schulden schrittweise abbauen.Herr Kollege Austermann, Sie sollten doch nicht so tun,als wäre das alles nichts. Sie nehmen die Schulden, die SieDeutschland eingebrockt haben, einfach nicht zur Kennt-nis. Sie müssen sich daran gewöhnen: Sie waren dieSchuldenmacher der Nation und Sie bleiben es auch.
Herr Kollege Rexrodt – er ist im Augenblick nicht da,aber Herr Kollege Gerhardt hat ihn ja ersetzt –, ich habees schon gesagt: Wir werden das diskutieren.
– Bei der F.D.P. ist ein ständiger Wechsel, zumindest inder Diskussion.
Ich mache es dem Kollegen Rexrodt nicht zum Vorwurf,dass er nicht da ist.Kreditanstalt für Wiederaufbau und Deutsche Aus-gleichsbank sind Themenbereiche, über die man redenmuss. Ich finde, die Lösung, die die Bundesregierung ein-vernehmlich gefunden hat, ist in Ordnung. Deshalb sollteman in diesem Sinne fortfahren.Der Haushalt des Jahres 2001 ist eine konsequenteFortsetzung der finanziellen Solidität und Haushaltskon-solidierung dieser Koalition. Die jetzige Politik – daskönnen Sie sehen, wie Sie wollen – hebt sich wohltuendvon dem ab, was früher war. Deshalb bin ich auch sicher,dass die Bevölkerung das wahrnimmt. Auf die aktuellenUmfrageergebnisse gebe ich überhaupt nichts, denn daskann sich morgen wieder ändern. Ich weiß aber eines ganzgenau: Solidität und Normalität im Haushaltsgebarenwerden von der Bevölkerung anerkannt.
– Bei 1 400 Milliarden DM Schulden müssten Sie, HerrKollege, eigentlich republikflüchtig werden, sich einenWohnwagen kaufen und außerhalb des Landes gehen, an-statt hier immer noch die Regierung zu stellen.
Dass wir auf dem besten Wege sind, belegt nicht nurunser Optimismus und das, was die Regierung sagt. DasWeltwirtschaftsforum in Genf, WEF, hat vor kurzem eineStudie veröffentlicht, nämlich die internationale Wettbe-werbsstudie 2000. Diese ist am 7. September in der „Süd-deutschen Zeitung“ veröffentlicht worden. Nach dieserStudie belegt der Wirtschaftsstandort Deutschland hin-sichtlich seiner Attraktivität Platz drei, hinter Finnlandund den USA.Damit konnte sich der „Standort D“– so wird Deutschland in der Studie genannt –innerhalb eines Jahres um drei Plätze verbessern.Innerhalb eines Jahres! Vor einem Jahr waren nicht mehrSie, sondern wir an der Regierung.
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Hans Georg Wagner11090
Wir freuen uns über diese Feststellung der Studie.Deutschland belegt bezüglich des Internets Platz fünf. Wirsind überall an der Spitze oder zumindest auf dem Wegzur Spitze. Eichel hat also Recht gehabt, als er sagte: Wirsind auf dem Weg zur Spitze.Spitze sind wir beispielsweise schon in diesem Jahr bei
– nein! – im Bereich der Biotechnologie. Ihr Zwischenrufmacht deutlich, dass Sie davon offenbar keine Ahnung ha-ben. Deutschland ist in Europa der neue Spitzenreiter imBereich der Biotechnologie, heißt es im Zweiten Biotech-nologiereport, den die Stuttgarter UnternehmensberatungErnst & Young vorgestellt hat. Das heißt also im Klartext:Wir sind auf dem richtigen Wege – dort wollen wir auchhin –, ein modernes Deutschland mit soliden Finanzen zuschaffen und dafür zu sorgen, dass Deutschland auch eineZukunft in Europa hat.Ich möchte auf die Erdölkonzerne zurückkommen. Siesollten nicht jeder veröffentlichten populistischen Forde-rung nachgehen. Wir sehen die Probleme des Kfz-Gewer-bes. Auch in unseren Wahlkreisen fahren die Leute Auto.
Sie gehen nicht nur zu Fuß oder fahren nur Fahrrad. Trotz-dem dürfen wir nicht einknicken, wenn die Konzerneplötzlich beginnen, Preise zu erheben, die durch nichtsgerechtfertigt sind. Höhere Preise können bestenfallsdurch die Feststellung gerechtfertigt werden, dass dieErdölressourcen endlich sind und dass mit diesen Res-sourcen nicht so umgegangen werden kann wie bisher.Wir sollten darauf vertrauen, dass die Bundesregierungihre Politik fortsetzt. Auch diesmal kämpft Rot-Grün –leider Gottes – alleine für die Millionen und gegen dieMillionäre. Sie machen es genau umgekehrt.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Rauen
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dasswir hier in aller Ruhe und ohne große Aufgeregtheitenüber den Haushalt 2001 diskutieren, wenn ich von demAusfall von Herrn Poß einmal absehe. Dazu hat der Kol-lege Rexrodt bereits das Nötige gesagt.Herr Finanzminister Eichel, Sie haben in einer zen-tralen Aussage Ihrer Rede festgestellt, dass wir aus derSchuldenfalle raus müssten. Da haben Sie die Union vollund ganz auf Ihrer Seite, auch aus guter Tradition: Siewissen selbst – Finanzpolitik steht in der Kontinuität derRegierungen –, dass es auch der damaligen CDU/CSU-F.D.P.-Regierung von 1983 bis 1990 gelungen ist, die Net-toneuverschuldung in Höhe von etwa 50 Milliarden DM1983 auf fast 14 Milliarden DM 1989 zurückzuführen.Ohne deutsche Einheit hätten wir es damals auch ge-schafft, die Nettoneuverschuldung auf Null zurückzu-führen. Das gehört einfach zur historischen Wahrheit. Wirsollten auch nicht verschweigen, dass ein Teil unsererSchulden mit dem Sonderfall der Geschichte zu tun hat,nämlich dass wir wieder ein Land sind und in einem Landleben können. Das muss man sehr deutlich sagen.Sie haben uns auch auf Ihrer Seite, wenn Sie – zuRecht – fordern: Die Sondereinnahmen aus der Versteige-rung der UMTS-Lizenzen sollen zur Schuldentilgungverwandt werden. Sie haben uns auch auf Ihrer Seite,wenn die durch die Schuldentilgung gesparten Zinsaus-gaben für Investitionen genutzt werden. Auch KollegeAustermann hat nichts anderes gesagt. Diese finanzpoli-tische Ausrichtung findet unsere ausdrückliche Zustim-mung.Sie haben von konjunkturbedingten Mehreinnahmengesprochen. Ich fürchte, wir müssen allmählich von in-flationsbedingten Mehreinnahmen sprechen, Herr Fi-nanzminister. Sie wissen selbst so gut wie ich und alleanderen hier: Die Steuerschätzer gingen noch im Maidieses Jahres, also vor gerade einmal vier Monaten, da-von aus, dass die Inflationsrate bei 0,7 Prozent liegenwürde. 0,7 Prozent, so die Schätzung vor vier Monaten!Die Inflationsrate wird wahrscheinlich am Ende die-ses Jahres über 1 Prozent höher sein. Bereits die Höheder Isteinnahmen bis zum 30. Juni 2000 macht deutlich,dass rund 9 Milliarden DM von den zu erwartendenrund 18 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen amEnde dieses Jahres inflationsbedingte Steuermehreinnah-men sind; denn eine um 1 Prozent höhere Inflationsratebringt den Gebietskörperschaften etwa 9 bis 10 Milliar-den DM an Steuermehreinnahmen ein. Wenn ich dieseBasis sehe, dann wissen Sie sehr genau, dass die Steuer-schätzung vom Mai Makulatur ist. Auf der Basis des Jah-res 2000, die sich ja fortsetzt, werden wir – unterstellt, dierealen Wachstumsgrößen bleiben so wie bei der Steuer-schätzung angenommen – im Jahr 2003/04 30 bis 40Mil-liarden DM mehr Steuereinnahmen gegenüber den An-nahmen vom Mai dieses Jahres haben.Ich will auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen,der mir viel mehr Sorgen bereitet. Es handelt sich um dieBemerkung unseres Kanzlers vor kurzem in New York,dass er die Schwäche des Euro sehr gelassen sehe. Micherschreckt das. Gut, jeder Mensch wird durch seinen Um-gang geprägt. Wenn er das aus der Sicht der exportieren-den Wirtschaft sieht – als ehemaliges Mitglied im Auf-sichtsrat von VW– dann mag er Recht haben. Das ist abernur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dasswir natürlich Inflation importieren.Wenn wir heute über die Ökosteuer reden, die uns be-schwert, dann ist es ja wahr: Der Ökosteueranteil, die sie-ben Pfennig inklusive Mehrwertsteuer, ist der eine Ge-sichtspunkt. Wir haben aber zwei weitere Elemente:Das ist zum einen die Erhöhung der Rohölpreise, rund7 Pfennig pro Liter bei einem Anstieg von 25 auf32 Dollar pro Barrel, und das andere Argument beziehtsich auf die Schwäche unserer Währung: Bei einer
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Hans Georg Wagner11091
Entwicklung des Wertes des Dollars von 1,85 auf2,22 DM von heute zahlen wir 7 Pfennig mehr, weil Öl inDollar fakturiert wird.Jetzt möchte ich von den makroökonomischen Zahlenwegkommen und betrachte den Zusammenhang einmalmikroökonomisch. Dann bin ich bei der Argumentationdes Herrn Wagner. Er redet von den kleinen Leuten. Dasmache ich auch. Wer in diesen Monaten seinen Heizöltankfüllt und 4 000 Liter tankt, bezahlt 50 Pfennig pro Litermehr als vor einem Jahr. Damit sind 2 000 DM weg, HerrFinanzminister. Die Beträge, die Sie aufgrund der Entlas-tung durch die Steuerreform genannt haben, hat man alsobereits im August oder September 2000 ausgegeben. DerBetreffende hat davon nichts. Wenn er auch noch ein Autobenötigt, um zur Arbeit zu fahren, und eine Strecke von20 Kilometern zurücklegen muss, dann fährt er 800 Kilo-meter im Monat. Bei einem Verbrauch von 10 Litern pro100 Kilometer benötigt er 80 Liter. Für einen Liter Ben-zin bezahlt er 60 Pfennig mehr als im letzten Jahr. Er zahltalso rund 50 DM im Monat mehr als vor einem Jahr. Auchder Kollege Metzger, der jetzt nicht anwesend ist, kannihm nicht erzählen, dass er bei der Rentenversicherungeine Erleichterung von 20 DM hat. Er hat einfach eineMehrbelastung!
– Rechnen Sie bitte nach! Herr Metzger hat eben das Bei-spiel gebracht, dass man bei einem Bruttogehalt von5 000 DM 1 Prozent Erleichterung bei den Rentenver-sicherungsbeiträgen hat. Das ist nicht ganz richtig. Essind nur 0,8 Prozent, 0,4 Prozent beim Arbeitnehmer. Dassind bei 5 000 DM genau 20 DM. Demjenigen, der dieMehrkosten hat, weil er mit dem Auto zur Arbeit fährt,können Sie nicht erzählen, dass er eine tolle Entlastunghat. Im Kern hat er nur Mehrbelastungen.
Es wird wirklich Zeit, dass wir mit den Märchen auf-hören. Ich habe mich über den Kollegen Klimmt, den ichpersönlich sehr mag, weil wir seit vielen Jahren durch denFußball verbunden sind, maßlos geärgert, als er am Sonn-tag bei „Christiansen“ wieder verkauft hat, dass die Öko-steuererhöhung zu einer Beitragssenkung führen wird.
Wir haben fünf Erhöhungen von je 6 Pfennig plus Mehr-wertsteuer, das sind jeweils 7 Pfennig. Im Jahre 2003 wer-den Sie aus diesen Mineralölsteuererhöhungen 37 Milli-arden DM einschließlich Mehrwertsteuer einnehmen. Wirhaben bei den 630-DM-Jobs eine Umwälzung von derSteuer zu den Rentenversicherungsbeiträgen. Zum ande-ren haben wir eine Anpassung der Renten an die Inflati-onsrate, nicht an die Nettolohnentwicklung. Das sind rund9Milliarden DM. Hier werden also insgesamt fast 48Mil-liarden DM bewegt, das heißt, den Leuten aus der Taschegezogen, umstrukturiert oder ihnen nicht gegeben. Aus-weislich der Zahlen Ihres Kollegen Riester – ich empfehleIhnen, sie sich anzuschauen – wird der Rentenversiche-rungsbeitrag im Jahr 2003, am Ende der dritten Stufe, umlediglich 1,2 Prozentpunkte niedriger liegen als im Jahr1998. 1,2 Prozentpunkte entsprechen 19 Milliarden DM.Das heißt, Sie bewegen das Zweieinhalbfache dessen,was Sie an Rentenversicherungsbeiträgen senken.
Es ist einfach notwendig, dass man dies wirklich dar-legt, denn ich habe schon die Befürchtung, dass wir unsmit der importierten Inflation eine ganze Menge Pro-bleme einhandeln, die wir noch nicht gelöst haben. HerrFinanzminister, Sie werden sich damit beschäftigen müs-sen, dass wir darüber reden, wie diese inflationsbedingtenMehreinnahmen bei den Steuern den Menschen vielschneller zurückgegeben werden müssen, als es bei derganzen jetzigen Steuerreform geplant ist.Es ist gerade einmal neun Wochen her, dass Sie macht-politisch einen Erfolg hatten. Über die Methode, wie dasim Bundesrat gelaufen ist, wie mit einem Verfassungs-organ umgegangen worden ist, will ich jetzt gar nicht re-den. Ich fürchte nur, die Freude von Ihnen und vom Bun-deskanzler über diesen machtpolitischen Erfolg wirdrelativ schnell verfliegen. Manche Wirtschaftsverbände,die die Verabschiedung noch erleichtert begrüßt hatten,weil sie meinten, der Spatz in der Hand sei ihnen lieber alsdie Taube auf dem Dach, merken allmählich, dass dasGanze wirklich nur ein Spatz ist und dass sie die Taubenoch bis 2005 im Käfig betrachten müssen; denn in Wahr-heit entlasten Sie erst dann die Arbeitnehmer und die Un-ternehmer.Das, was wir immer gesagt haben, beginnt allmählichzur allgemeinen Einsicht zu werden: Die Steuerentlas-tung durch das Steuerreformgesetz ist sozial und wirt-schaftspolitisch unausgewogen: Sie bevorzugt die großenKapitalgesellschaften zulasten des Mittelstandes und derArbeitnehmer; die einseitige Bevorzugung des thesaurier-ten Gewinns ist wirtschaftspolitisch verfehlt und führt zuneuen steuerrechtlichen Verwerfungen. Sie ist nicht nach-haltig, weil durch das Vorziehen der oberen Proportional-zone bereits ein immer größerer Teil von Durchschnitts-verdienern den Spitzensteuersatz zahlen muss. Sie kommtzu spät, weil der größte Teil der Tarifsenkungen für dieEinkommensteuerzahler erst am Sankt-Nimmerleins-Tagim Jahr 2005 kommt, und zwar bei all den anderen Belas-tungen, die die Menschen, wie eben geschildert, ganz ele-mentar und ganz zeitnah belasten.
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, bei demich Gefahren für unsere Konjunktur und für unsereUnternehmenskultur sehe. Kernstück der von Ihnendurchgepeitschten Reform ist eine Neuregelung derUnternehmensbesteuerung, von der alle Sachkenner sa-gen – ich wiederhole mich –, dass sie eine Reformzugunsten der Kapitalgesellschaften ist. Für die Kapital-gesellschaften sinkt die Belastung des einbehaltenen Ge-winns um 13 Prozentpunkte, Herr Poß. Für die Personen-gesellschaften sinkt die Grenzbelastung um lediglich dreiProzentpunkte. Selbst wenn man die Gewerbeertrag-steueranrechnung einkalkuliert, bleibt auf lange Sicht einegroße Spreizung zwischen der Durchschnittsbesteuerung
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der Kapitalgesellschaften und der Personengesellschaf-ten.
– Herr Eichel, Sie haben doch gewusst, warum Siezunächst das Optionsmodell wollten: Sie wollten die Per-sonengesellschaften mit den Kapitalgesellschaften inetwa gleichstellen. Weil das Ganze ohnehin eine Krückewar, haben Sie den Plan fallen lassen, aber mit dem Er-gebnis, dass die Personengesellschaften bis 2004 zu-nächst enorm mehr belastet werden. Das ist im Vermitt-lungsausschuss unbestritten so gesagt worden.
Ich komme zu einem anderen Punkt. Ein weiterer Ge-burtsfehler der Reform ist die Privilegierung des einbe-haltenen Gewinns. Dafür gibt es keine sachliche, sondernnur eine politisch-ideologische Rechtfertigung, und zwarden auf Lafontaine zurückgehenden, aber vom Bundes-kanzler und von Ihnen ausdrücklich übernommenenWunsch, nur die Unternehmen, nicht aber die Unterneh-mer zu entlasten.Daraus ergeben sich einige Verwerfungen, über die wirsprechen müssen. In der Folge dieser Umstellung ist zumBeispiel die Mindestbeteiligung, die früher einmal bei25 Prozent lag, auf 1 Prozent reduziert worden. Ich sageIhnen voraus: Das ist ein Anschlag auf Neugründungenvon Firmen, ein Anschlag auf die Notwendigkeit, dasssich viele neue Firmen mithilfe anderer entsprechendstrukturieren.
– Moment mal: Es hat sich eine Kultur herausgebildet,die ganz gut angelaufen ist, nämlich die Kultur derBusiness Angels. Es handelt sich um Persönlichkeiten, diemit ihrer Erfahrung jungen Unternehmern nicht nur mate-riell, sondern auch ideell helfen. Ich frage mich nur,warum diese Menschen in Zukunft noch Geld dort hi-neinstecken sollten. Am Anfang können sie kein Geld he-rausholen, weil die Firmen erst einmal wachsen müssen.Sie können nur Beteiligungen bekommen, die sie aber,wenn sie über der Beteiligungsgrenze liegen, hoch ver-steuern müssen. Sie werden doch dann lieber gleich Ak-tien von großen Kapitalgesellschaften kaufen, wodurchsie unter der Grenze für wesentliche Beteiligungen, also1 Prozent, bleiben und die Kapitalerträge nach einem Jahrsteuerfrei kassieren können. Über dieses Problem müssenwir in der Tat nachdenken, weil hierdurch die Kultur, denSchritt in die Selbstständigkeit zu wagen, in hohem Gradegefährdet wird.Als Folge des Halbeinkünfteverfahrens haben Sie,meine Damen und Herren, Veräußerungsgewinne für Ka-pitalgesellschaften von der Körperschaftsteuer befreit.Demgegenüber wurden die Möglichkeiten zur steuerneu-tralen Umstrukturierung von Personengesellschaften be-reits 1999 massiv beschnitten. Ich habe dazu bei derdritten Lesung gesagt, dass es richtig ist, die Veräu-ßerungsgewinne bei Kapitalgesellschaften steuerfrei zustellen, damit Umstrukturierungen möglich sind, Kon-zernteile an andere verkauft werden und Unternehmeneffektiver arbeiten können, also die „Deutschland AG“aufgelöst wird. Wenn das aber, Herr Eichel, für Kapital-gesellschaften zutrifft, dann trifft das natürlich auch fürPersonengesellschaften zu. Auch diese müssen in einerZeit umstrukturieren, wo sich Wissen alle fünf Jahre ver-doppelt und Schnelligkeit darüber entscheidet, wer seinenWeg gehen kann.Ich nenne Ihnen als Beispiel einen Sachverhalt, denLafontaine kassiert hat, was Sie nicht zurücknehmen wol-len. Es handelt sich um die Realteilung, die wir bei Per-sonengesellschaften kannten. Ich will es einmal einfachausdrücken: Wenn zwei Personengesellschafter auseinan-der gehen und das, was sie real im Betrieb haben, teilenwollen, konnten sie bisher die stillen Reserven mitneh-men. Diese müssen neuerdings aufgedeckt und versteuertwerden. Lassen Sie sich das doch noch einmal durch denKopf gehen, ansonsten wirkt sich das verheerend auf dienotwendigen Umstrukturierungen bei Personengesell-schaften aus.Ich nenne noch einen zweiten Fall, der auch mit Um-strukturierungen zu tun hat: Für Erlöse aus Anteilsver-äußerungen, die wiederum zur Umstrukturierung einerFirma stattfinden, brauchen wir weiterhin die Möglich-keit, sie einer Reinvestitionsrücklage zufließen zu lassen,die zu 100 Prozent steuerfrei gestellt wird, wenn sie in dieUmstrukturierung der Firma fließt. Diese Möglichkeitwurde durch die Änderung von § 6b des Einkommen-steuergesetzes völlig kassiert. Das hat aus meiner Sichtebenfalls ziemlich verheerende Folgen für die notwendi-gen Umstrukturierungen bei Personengesellschaften.Ich komme zu einem weiteren Punkt, den ich noch ein-mal sehr ausdrücklich anspreche, weil er mir als einem amHerzen liegt, der seit 34 Jahren selbstständig ist und im-mer darauf bedacht war, dass es den Leuten, die bei ihmarbeiten, auch gut geht. Die Entlastung für die Arbeit-nehmer ist völlig unzureichend. Ich sage es hier zum wie-derholten Male. Trotz der Absenkung des Spitzensteuer-satzes auf 42 Prozent verläuft der Tarif relativ steil,wodurch der Durchschnittsfacharbeiter in den Spitzen-steuersatz hereinkommt und – das ist ein Faktum – imJahre 2005 prozentual genau so viel Steuern zahlt wie imJahre 2000.
Das hat mit dem langen Zeithorizont zu tun und damit,dass die kalte Progression – das Zusammenwirken von In-flation und Progression – diesen Mehrlohn bei den Ar-beitnehmern auffrisst. Es wird auf Dauer nicht gelingen,so die Binnenkonjunktur wirklich anzuheizen und aufdem Arbeitsmarkt Entscheidendes zu erreichen. Damitwird das Reformziel, die Voraussetzungen für Wachstumund Beschäftigung dauerhaft zu verbessern, zwangsläufigverfehlt.Wie die Erfahrungen mit durchgreifenden Steuerrefor-men in anderen Ländern zeigen, sind die von ihnen aus-gehenden Wachstums- und Beschäftigungsimpulse dannam stärksten, wenn die Steuersenkungen von einer zu-rückhaltenden Lohn- und Tarifpolitik begleitet werden.Ein solcher Effekt ist aber nur von einer fühlbaren, ein-
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schneidenden Senkung der Steuerlast zu erwarten, damitdie Tarifpartner auch Spielräume haben und nicht 70 Pro-zent einer Lohnerhöhung in Form von Steuern und Abga-ben wieder abgeführt werden müssen. Das ist insbeson-dere bei einer zeitlich lang gestreckten Reform der Fall,bei der sich der Entlastungseffekt der einen Stufe verzehrthat, bevor die nächste Stufe erreicht ist.Zur Mehrwertsteuer möchte ich jetzt keine Ausführun-gen machen. – Eines in Ihrem Haushalt, Herr Eichel, ge-fällt mir überhaupt nicht. Überlegen Sie einmal: Obwohldie Steuereinnahmen von 1995 bis 1997 sogar nominalzurückgegangen sind – das hat auch mit den Sonderab-schreibungen für Wohnungsbau, Bürobauten und derglei-chen mehr im Rahmen der deutschen Einheit zu tun –, lagdie Investitionsquote von 1992 bis 1997 im Schnitt bei13,6 Prozent. Sie senken diese Investitionsquote jetzt auf11,4 Prozent. Ich kann nur hundertprozentig den KollegenAustermann unterstützen, der für unsere Fraktion massivfordert, dass die Investitionen deutlich ausgeweitet wer-den.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen.Schade, dass der Kollege Metzger weg ist. Ich respektiereja, wenn er sagt, man müsse mehr auf die Schiene um-steigen. Ich bin sehr dafür. Aber wir müssen eines wissen:Wenn ich 10 Prozent des Verkehrs von der Straße auf dieSchiene bringen will, dann muss ich den Schienenver-kehr verdoppeln. Wenn Sie sich die Zugverdichtungenanschauen, merken Sie, dass es ohne Schienenneu-baustrecken nicht geht. Ich möchte dann sehen, wie beiden Grünen das Geschrei losgeht, wenn wir diese Neu-baustrecken schaffen müssen.
Aber unabhängig davon haben wir überhaupt keine Al-ternative dazu, auch im Straßenbau massiv weiterzu-kommen.
Gerade in den neuen Bundesländern muss viel geschehen,aber zum Beispiel auch noch in der Eifel, wo ich her-komme. Dort sind für eine prosperierende Wirtschaft auchStraßenbauten dringend notwendig. Karl Diller weiß ganzgenau, wovon ich rede.Aber Sie führen die Investitionen für den Straßenbauim Bundesverkehrswegeplan nominal zurück. Das kanneinfach nicht gut gehen. Wir kassieren die Autofahrer abund lassen sie gleichzeitig im Stau stehen. Das kann nichtaufgehen, Herr Eichel!
Ich möchte Sie noch auf eine Besonderheit aufmerk-sam machen, die mit den Konzessionsmodellen zu tunhat. Ich habe in Ihrem Haushaltsentwurf Rückzahlungengesehen, die der Bund aufgrund der umgesetzten Konzes-sionsmodelle leistet und die im Prinzip Projekte betreffen,die bereits gebaut sind. Aber im Haushaltsentwurf stehendiese Mittel so, als würden sie gerade erst investiert. Dassummiert sich bald auf 1 Milliarde DM. Herr Klimmtweiß das ganz genau.
– Nein, wir mussten damals bei der deutschen Wiederver-einigung Zeit einkaufen und haben gesagt: Es ist rechtens,dass man privates Kapital in den Bau von wichtigen Stra-ßenverkehrsmaßnahmen steckt. Das war 1990 eine völligrichtige Entscheidung.
Aber dass jetzt die Rückzahlungen wie Investitionen be-handelt werden, ist mit Blick darauf, dass ein wichtigerKonjunkturträger, die Bauwirtschaft, nach wie vor amStock geht, nicht zu respektieren.Ich kann abschließend nur eines sagen: Herr Eichel,schaffen Sie die dritte, vierte und fünfte Stufe der Öko-steuer ab!
Ziehen Sie die Steuerentlastungsschritte bei der Einkom-mensteuer deutlich vor, und zwar im Einklang mit denBundesländern. Sie können das bezahlen, weil wir durchdie Inflationsrate wesentlich höhere Steuereinnahmen ha-ben. Beseitigen Sie die Nachteile, die Personengesell-schaften bei Umstrukturierungsmaßnahmen im Vergleichzu Kapitalgesellschaften nach wie vor haben. Denken Sienicht zuletzt daran, eine Unternehmensgründungskulturnicht durch eine Mindestbeteiligungsregelung kaputtzu-machen, die es nicht mehr ratsam erscheinen lässt, jungenUnternehmen sein Kapital zu geben.Schönen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Hermenau vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben esjetzt relativ leicht, meine Damen und Herren von der Op-position, weil Sie doch noch einen Punkt gefunden haben,den Sie in dieser Haushaltsdebatte strittig zu stellen ver-suchen: Das ist die Sache mit der Ökosteuer. Aber ver-gessen Sie nicht, dass auch Sie in der Verantwortung sind.Der Spritpreis ist natürlich präsenter als die Summenaus der Einkommensteuererklärung. Da geht es mir ge-nauso wie vielen Millionen anderen Menschen in diesemLand. Kein Mensch weiß wirklich ganz genau, was ereigentlich in den letzten Jahren an Steuern gezahlt hat; dashat keiner im Kopf.
Den Spritpreis kennt man; den sieht man jeden Tag an derTankstelle.
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Das enthebt uns aber nicht der Verantwortung, ge-meinsam darüber nachzudenken, wie gewisse Verhal-tensänderungenmöglich werden. Die ganze Debatte, diejetzt auch medial aufgeheizt und durch Sie unterstütztwird, fußt eigentlich nur darauf, dass alle zu bequem undzu faul sind, ihr Verhalten zu ändern und zum Beispielspritgünstiger zu fahren.
Der ADAC hat Kurse angeboten, in denen man lernenkann, wie man Sprit sparend Auto fahren kann. DieseKurse hat niemand besucht. Das heißt, niemand hat Lust,sein Verhalten zu ändern. Lieber wird versucht, die Re-gierung mit dieser Frage in die Enge zu treiben, um seinebequeme Lebensweise fortführen zu können. Ich will denLeuten ja nicht sagen, dass sie nicht bequem leben dürfen,aber so sehr auf Kosten der Natur und der Zukunft derKinder sollte man es vielleicht nicht machen. Sie entzie-hen sich dieser Verantwortung!
Was ich einigermaßen amüsant finde, ist, dass das dereinzige Punkt ist, bei dem Sie heute irgendetwas zumeckern haben. Ansonsten haben Sie bis jetzt währendder gesamten Haushaltsdebatte noch keinen Punkt gefun-den, an dem Sie irgendetwas wirklich substanziell kriti-sieren könnten. Das heißt: Unsere Politik ist offensicht-lich sehr gut.
Ich möchte einen Punkt herausarbeiten, der mir beson-ders am Herzen liegt, nämlich den Aufbau Ost. Es gabhier und da einzelne verhaltene Stimmen, die meinen, wirwürden in diesem Bereich unglaublich dramatische Kür-zungen vornehmen. Dem kann man entgegenhalten, dasses sich prozentual nur um eine kleine Summe handelt, diein 2001 weniger als in 2000 ausgegeben wird.Aber wer dieses Minus von 3 Milliarden DM bejam-mert, der muss sich an seinen Taten und Worten messenlassen, wenn es um den Länderfinanzausgleich geht.Dieser Punkt sollte nämlich in die Debatte einbezogenwerden. Es wird immer behauptet, dass die Finanzaus-stattung der ostdeutschen Länder auf 92 Prozent desdurchschnittlichen Länderniveaus angehoben werde. Dasist aber nicht der Fall. Das wäre der Fall, wenn man nurdie Ländersteuern berücksichtigen und die kommunalenGelder herausrechnen würde. Die Kommunen im Ostensind aber deutlich finanzschwächer als die im Westen.Wenn die kommunalen Gelder eingerechnet werden wür-den, dann käme je nach Bundesland im Osten ein Niveauvon 66 bis 72 Prozent zustande. Ich bin der Meinung, dasswir bei der Diskussion um die Neuregelung des Länderfi-nanzausgleichs deutliche Fakten sprechen lassen müssen.Ich komme jetzt zu den einzigen Maßnahmen, die dieFinanzkraft der ostdeutschen Länder etwas stärken, näm-lich den Maßnahmen des Bundes. Der Bund stärkt ihreFinanzkraft durch die Bundesergänzungszuweisungen,insbesondere durch die Sonderbedarfsergänzungszuwei-sungen. Das heißt, der Bund tritt dort ein, wo die Ländergar nicht umschichten wollen. Gerade Länder wie Bay-ern, Baden-Württemberg, auch Hessen und Nordrhein-Westfalen, die jetzt am lautesten das Wort führen und ammeisten herumstreiten, indem sie sagen, sie müssten zuviel Geld für die ostdeutschen Länder ausgeben, sind dieLänder, die durch andere Bundesergänzungszuweisungenwieder begünstigt werden, weil sie ja als „arme Länder“nicht die Kraft haben, die Umstellung des Länderfinanz-ausgleichs im Hinblick auf die Unterstützung der ostdeut-schen Länder durchzuhalten.Die westdeutschen Länder bekommen also eine beson-dere Bundesergänzungszuweisung dafür, dass sie an denOsten Geld abgeben müssen. Es gibt also eine Kompen-sation. Die ostdeutschen Länder bekommen eine Bundes-ergänzungszuweisung, weil sie zu schwache Kommunal-finanzen haben. Zwar ist dieses System in gewisser Weisemarode, aber eines wird klar: Die Länder selbst speisennicht die Finanzkraft der ostdeutschen Länder. Es ist viel-mehr der Bund, der die ostdeutschen Länder stabilisiert.Damit bin ich beim Schuldenberg und beim Gegenstandder heutigen Debatte.Der Schuldenberg, von dem hier dauernd gesprochenwird, setzt sich nicht einmal zur Hälfe aus den notwendi-gen Transfers in die ostdeutschen Länder zusammen. Umes einmal klar zu sagen: Man kann zwar behaupten, dassdie ostdeutschen Länder daran schuld seien, dass dieBundesrepublik Deutschland so stark verschuldet ist, aberdas stimmt einfach nicht. Ein großer Teil des Schulden-berges beruht auf dem Konsum der vergangenen Jahreund Jahrzehnte, der vor der Einheit stattgefunden hat.Diesen Konsum können Sie uns wirklich nicht anlasten;denn die paar Westfresspakete können es nicht gewesensein.
Ich möchte gerne darüber sprechen, was wir versuchenzu unternehmen, um die Situation der ostdeutschenLänder zu verbessern, damit ihre Steuerkraft und Fi-nanzkraft durch ihre wirtschaftliche Stärkung gestärktwird. Wir im Osten sollen in die Lage versetzt werden, un-seren eigenen Steueranteil zu erhöhen, der jetzt nur beiungefähr einem Drittel liegt, was natürlich nicht sehr vielist.Es gibt zum Beispiel hinsichtlich der Bahn eine Ver-einbarung mit den Ministerpräsidenten der ostdeutschenLänder, dass die Investitionen in die Schienenwege, dienachzuholen sind, nicht mit dem Ablauf der gesetzlichenVerpflichtung in 2003 eingestellt werden, sondern dassdie gesamte vereinbarte Summe in Höhe von 33 Milliar-den DM bis zum Jahre 2007 auszufinanzieren ist. Dasheißt: Es wird kein Geld eingespart. Die Verausgabungder Mittel wird vielmehr zeitlich gestreckt.Neben diesen Mitteln, die alle ausgegeben werdenkönnen, stehen noch die Extramittel aus der Zinsersparnisaufgrund der Versteigerung der UMTS-Frequenzen zurVerfügung, die wir ebenfalls in die Bahn stecken können.Das sind Maßnahmen, mit denen wir sofort im nächstenJahr beginnen können und mit denen wir im Bereich derBahn Erfolge erzielen werden, die jeder spüren kann.
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Unser Problem ist doch, dass die meisten Maßnahmenviel zu lange dauern, meistens länger als eine Legislatur-periode. Die Menschen fragen dann immer: Wann ge-schieht etwas? Wann wird etwas gemacht? Bei der Bahnwerden wir schon im nächsten Jahr spürbare Erleichte-rungen haben, wenn die Langsam-Fahrstrecken ausge-baut und ausgebessert werden und damit die Pünktlichkeitder Bahn deutlich gesteigert wird, was ich für einen wich-tigen Punkt halte.
Das Gleiche gilt zum Beispiel für die Straße. Es gibtdas Bundesprogramm Verkehrsinfrastruktur, das bis zumJahr 2002 laufen soll. Ohne zusätzliche Gelder aus derUMTS-Versteigerung sind schon 67 Milliarden DM vor-gesehen. Von diesen 67 Milliarden DM gehen 32 Milliar-den DM in die fünf neuen Länder. Bei dieser anteilsmäßighohen Summe kann keiner sagen, dass die ostdeutschenLänder damit ihren Nachholbedarf im Bereich desStraßenbaus nicht decken könnten.Das trifft genauso auf die Bereiche Bildung, Hoch-schulbau und Forschung zu. Auch dort liegt der Anteil derfünf neuen Länder über ihrem Bevölkerungsanteil. Mankann also nicht behaupten, dass die ostdeutschen Ländernur das bekommen, was jedem Bundesland normaler-weise prozentual zustünde. Sie werden vielmehr bevor-zugt – und das zu Recht. Das ist völlig korrekt und sollauch so sein.Aber auf der anderen Seite bei irgendwelchen auslau-fenden Programmen von Kürzungen zu sprechen, dashalte ich für einigermaßen perfide, wenn man überlegt,dass die ostdeutschen Länder im Rahmen bundesweiterProgramme sehr oft einen besonderen Bonus bekommenund besonders bedacht werden. Das betrifft zum Beispieldie Bereiche Innovationen und Forschung.Lassen Sie mich noch zur Gemeinschaftsaufgabe Ost,zu den Geldern kommen, die wir benutzen, um eine ganzeReihe von Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren. Esist richtig: Dieser Betrag wird im nächsten Jahr leichtabgesenkt. Das ist ja auch ein schwieriges Haushaltsjahr.Er wird aber bei weitem nicht in der Stärke abgesenkt, wieman es, wenn man an die allgemeine Ausgabenreduzie-rung denkt, prozentual gesehen in diesem Bereich tunmüsste. Außerdem bestehen jede Menge Möglichkeiten,neue Projekte anzuschieben. Wenn man die Kofinanzie-rung der Länder und auch die EFRE-Mittel, das heißt diein diesem Zusammenhang gewährten europäischen Mit-tel, mit einbezieht, können bei der GemeinschaftsaufgabeOst bzw. bei den Infrastrukturmaßnahmen neue Verpflich-tungen in Höhe von 3,5 Milliarden DM eingegangen wer-den. Das halte ich für ein außerordentliches Bewilli-gungsvolumen. Damit können wir uns sehen lassen. Dassnatürlich die Anzahl der Anträge, etwas neu zu bauen,höher ist, als es die Möglichkeiten unseres Bewilligungs-volumens zulassen, ist nichts Neues und betrifft jeden Po-litikbereich.
Frau Kol-
legin Hermenau, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Aber sicher.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Frau Kollegin Hermenau,
ich habe Ihnen zwar mit großem Interesse zugehört,
möchte jetzt aber eine konkrete Frage stellen. Zu meiner
großen Überraschung las ich in der „Sächsischen Zei-
tung“, dass Sie dem Sportbereich Mittel in Höhe von
400 Millionen DM versprochen haben. Es mag sein, dass
man einer Regionalzeitung so etwas verkünden kann. Sie
haben erklärt, dass dieses Programm mit einem Teil der
Zinsersparnisse, die sich durch die Erlöse der Vergabe der
UMTS-Lizenzen ergeben, finanziert werden soll und dass
Sie dazu die Zustimmung der Koalitionsfraktionen hätten.
Könnten Sie mir einmal erklären, wie das ablaufen soll,
damit dies hier gleich zu Protokoll gebracht wird und wir
Sie daran erinnern können?
Herr Koppelin, Sie haben sich leider vertan. Ich wollte so-fort zum Sportstättenbau kommen. Können Sie sich nocheinen Moment gedulden?
Denn ich würde gerne vorher noch auf zwei anderePunkte eingehen.Es wurde oft die Frage aufgeworfen, ob wir in der Lagesein werden, den ostdeutschen Ländern für die Stärkungdes Arbeitsmarktes genügend Gelder zur Verfügung zustellen. Dadurch, dass sich die Arbeitslosenzahlen inDeutschland insgesamt verbessert haben, ist die Bundes-anstalt für Arbeit in die Lage versetzt worden, die aktivenArbeitsmarktmaßnahmen in Ostdeutschland stabil zu hal-ten. Das halte ich für einen ganz wesentlichen Punkt. Mandarf nicht vergessen, dass die Hälfte aller Gelder, die füreine aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben werden, indie fünf neuen Länder fließen, obwohl dort nur 20 Prozentder Gesamtbevölkerung wohnt. Man darf aber auch nichtvergessen, dass in Ostdeutschland der Arbeitslosenanteildoppelt so hoch ist. Insofern ist diese Maßnahme völliggerechtfertigt.Ganz kurz möchte ich noch die Pflegeeinrichtungenansprechen. Auch in diesem Bereich gab es Komple-mentärmittel der Länder. Die waren wesentlich geringerals die des Bundes. Wir haben den Stand gehalten. Es gehtdarum, den Standard der Pflegeeinrichtungen zu verbes-sern. Die Länder haben in den letzten Jahren die in diesemZusammenhang bereitgestellten Mittel nur zu ungefähr80 Prozent abgerufen. Diesem Abrufverhalten haben wiruns angepasst. Wir senken also nicht das gesamte Bewil-ligungsvolumen ab. Vielmehr verzögern wir einfach zeit-
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Antje Hermenau11096
lich gesehen die Auszahlungen, weil die Länder nichtmehr Mittel abgefordert haben. Die können gar nicht soschnell die entsprechenden Komplementärfinanzierungenleisten. Deswegen ist es meiner Meinung nach völlig ver-nünftig, dass man über vereinbarte Zeiträume hinaus sagt:Wir strecken das Programm zeitlich. Das heißt natürlich,dass im nächsten Jahr ein bisschen weniger Geld vonBundesseite zur Verfügung gestellt wird, weil die Ländergar nicht mehr abrufen bzw. kofinanzieren können.Jetzt komme ich zu den Sportstätten.Circa 20 Prozentdes Bedarfs, den der Sportbund für den Osten Deutsch-lands festgestellt hat, ist inzwischen in Angriff genommenworden. Das, was Sie, Herr Koppelin, gerade zitiert ha-ben, ist ein mehrjähriges Programm. Das ergibt die hoheSumme, die Sie genannt haben. Sie hätten den Artikelgründlich lesen sollen.
– Die Einstiegssumme nenne ich Ihnen, nachdem ich daskonkret mit den Kollegen ausgehandelt habe. Sie wird einzweistelliger Millionenbetrag sein und deutlich über den15 Millionen DM liegen, die im letzten Jahr bereitgestelltworden sind.Herr Koppelin, Sie können sich darüber freuen, an die-ser Sache teilzuhaben. Sie können gerne in Ostdeutsch-land darauf hinweisen, dass Sie durch eine anregendeZwischenfrage versucht haben, die Koalition in dieserFrage auf den richtigen Weg zu bringen.Ich bedanke mich recht herzlich.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Uwe-Jens
Rössel von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Hermenau,ich möchte Ihnen an dieser Stelle die Erwartung vielerBürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland übermitteln,dass die Menschen dort keine leeren Versprechungenmehr hören wollen. Sie erwarten vielmehr einen konkre-ten Fahrplan der Bundesregierung dahin gehend, dass dieAngleichung derLebensverhältnisse inOst- und West-deutschland endlich zustande kommt, und sie erwarten,dass dieser Fahrplan über den Haushalt umgesetzt werdenkann. Das ist eine ganz wichtige Forderung, und daraufkönnen Sie persönlich auch hinwirken.
Ich will an dieser Stelle noch einmal den Standpunktder PDS-Fraktion bekräftigen, wonach die junge Genera-tion nicht nur die Zurückführung der immens hohenöffentlichen Schulden erwartet – so wichtig das ist –, son-dern zugleich erwartet, dass sich die öffentliche Handihrer Verantwortung für andere Zukunftsaufgaben be-wusst wird. Sie erwartet die Auflösung des von der Vor-gängerregierung verursachten Reformstaus im Bildungs-und Forschungsbereich, und sie erwartet in der Tat wirk-same Schritte für den Abbau der Massenarbeitslosigkeit.Das geht in hohem Maße über Investitionen. Deshalbist es unverantwortlich, wenn im Haushaltsentwurf derBundesregierung die Investitionen nach wie vor zurück-geführt statt angehoben werden. Das ist ein falsches Sig-nal.Die PDS-Fraktion – Kollegin Höll hatte das angespro-chen – ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag,welche die 100-Milliarden-DM-Erlöse aus dem Milliar-denpoker
um die UMTS-Mobilfunklizenzen nicht ausschließlichfür die Schuldentilgung verwenden will,
sondern etwa 90 Prozent für die Schuldentilgung, aber10 Prozent für andere Aufgaben. Kollege Wagner, eineZweckbindung dieser Erlöse ist im Telekommunikations-und auch im Haushaltsgesetz nicht vorgesehen;
für andere Erlöse gibt es das, hier jedoch nicht.Unser Vorschlag ist wohl begründet, weil mit diesen100 Milliarden DM selbst die kühnsten Einnahmeerwar-tungen von Bundesfinanzminister Hans Eichel – er gingvon etwa 25 Milliarden DM aus – übertroffen wordensind. Da zugleich die Steuereinnahmen des Bundes ergie-biger als in den Vorjahren fließen und – darauf wurde nochnicht eingegangen – Erstattungen aus EU-Haushaltsmit-teln in Höhe von rund 3,5 Milliarden DM angezeigt sind,gibt es für 2001 – darüber reden wir heute – durchausSpielraum ohne nennenswerte Abstriche am Kurs derHaushaltskonsolidierung.
Wie nun will die PDS diese Bundesaufgaben angehen?Welche Schwerpunkte und Prioritäten setzen wir für die10 Milliarden DM, die nicht für die Tilgung der Bun-desschulden eingesetzt werden sollen? Wir wollen erstensmit der Auflage einer Investitionspauschale des Bundesin Höhe von rund 3Milliarden DM für ostdeutsche Städte,Gemeinden und Landkreise, aber ebenso für struktur-schwache Regionen im Altbundesgebiet Impulse für densoziokulturellen und Bildungsbereich geben.
Das Geld soll, um es klar und deutlich auszudrücken,vom Bund direkt an die Kommunen fließen, und zwarohne Mittel- und Zwischenebenen, ohne bürokratischeHürden und ohne Zweckbindungen. Das wäre in der Tatkommunale Selbstverwaltung pur, die von Bund undLändern so ausgehöhlt wird.Die Milliardenspritze des Bundes könnte gezielt Be-schäftigung fördern und sie käme vor allem dem ange-schlagenen Bau- und Baunebengewerbe zugute. Gerade
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diese Branchen und ihre Beschäftigten leiden darunter,dass in diesem Jahr die kommunalen Investitionen preis-bereinigt um 33 Prozent unter dem Niveau des Jahres1992 liegen. Das ist ein unverantwortlicher Zustand. DieKommunen fallen damit immer mehr als wichtiger Auf-traggeber für das örtliche Handwerk und Gewerbe aus.Aber gerade dort werden Arbeits- und Ausbildungsplätzegeschaffen und gerade dort ist Hilfe seitens der Politikdringend notwendig.
Die Städte und Gemeinden müsse anders als es Bun-desfinanzminister Eichel, der selbst viele Jahre lang Ober-bürgermeister einer Großstadt in Hessen war, will, amMilliardenkuchen aus den Lizenzversteigerungen derMobilfunkfrequenzen partizipieren.
Die Städte und Gemeinden jedoch sind es, die wegen derSteuervergünstigungen für die Mobilfunkunternehmen inden nächsten Jahren allein bei der Gewerbesteuer auf Ein-nahmen in Höhe von 17 Milliarden DM verzichten müs-sen.Kollegin Hermenau und andere Kolleginnen und Kol-legen von der Koalition, wie sieht denn die Hilfe des Bun-des in einer Situation aus, in der auf die Kommunen mitdem jüngst beschlossenen Steuersenkungsgesetz allein in2001 Einnahmeausfälle in einem Umfang von 8,5 Milli-arden DM zukommen werden? Wie sieht hier die Verant-wortungswahrnehmung des Bundes aus? Dies könntenSie, Kollegin Hermenau, nicht nur auf Bundesergän-zungszuweisungen zurückführen. Eine kommunale In-vestitionspauschale des Bundes wäre da ein willkomme-nes Signal, wenn in diesem Herbst zugleich auch von derBundesregierung ein weiteres Signal ausgehen würde,dass die längst überfällige Kommunalfinanzreform end-lich in Angriff genommen wird.
Zweitens. Nach Berechnungen meiner Fraktion könnteder Versteigerungserlös in Höhe von 3,8 Milliarden DMfür die Korrektur des von der rot-grünen Bundesregierungim vergangenen Jahr durchgedrückten Systembruchs beider Anpassung der Renten sowie bei der Anpassung derArbeitslosen- und Sozialhilfe genutzt werden. Wir schla-gen daher vor, dass für den Zeitraum vom 1. Juli 2000 biszum 30. Juni 2001 die nettolohnbezogene Rentenformelrückgängig gemacht und anstelle der von Minister Riestersystemwidrig verankerten Anpassung der Renten in Höheder Inflationsrate wieder eingeführt wird.
Hierfür gäbe es einen Spielraum. Dies wäre ein Schritt,der heutigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rentnernzugute käme.Drittens setzt sich die PDS dafür ein – und hat vor Ortrecherchiert –, dass mit rund 3,2 Milliarden DM dieaußerordentlich angeschlagenen ostdeutschen Woh-nungsunternehmen unterstützt werden.
Diese Wohnungsunternehmen drohen unter dem Druckder finanziellen Lasten, auch unter dem Druck noch vor-handener Altschulden zu zerbrechen. Eine Konkurs-welle – das ist keine Übertreibung; Sie wissen, ich über-treibe nicht – wird um sich greifen, wenn hier nicht etwasgetan wird.Ich sage auch offen: Der Einsatz dieser rund 3 Milliar-den DM ist noch nicht die Lösung des Problems; aber erwäre ein Schritt in die richtige Richtung. Für die Lösungdes Problems müssen wir in diesem Hause gemeinsammit dem Bundesrat bald ernsthafte und nachprüfbareSchritte vorlegen und sie dann auch sehr zügig umsetzen;sonst droht bei 1 Million leer stehenden Wohnungen inOstdeutschland tatsächlich ein Kollaps.Was nun die Verwendung der Zinseinsparungen be-trifft, kann man vieles von dem, was die Regierung unter-breitet hat, mittragen. Aber bisher sind in deren Vor-schlägen Guthabenzinsen in einer Höhe von etwa650 Millionen DM nicht berücksichtigt. Sie resultierendaraus, dass die Telekommunikationsunternehmen ihreGelder in die Bundeskasse eingezahlt haben, deren Ver-wendung aber erst im nächsten Jahr erfolgen wird.Dadurch entstehen dem Bund – bei einer günstigen An-lage – Guthabenzinsen in einem Umfang von 650 Mil-lionen DM. Auch über deren Verwendung muss entschie-den werden. Wir schlagen vor, dass dieses Geld für einProgramm des Bundes zur Bekämpfung des Rechts-extremismus und zur Auseinandersetzung damit einge-setzt wird.
Dies wäre in der Tat ein Signal aus dem Berliner Reichs-tagsgebäude, nicht nur in die Bundesrepublik hinein, son-dern auch an die Weltöffentlichkeit. Das Geld dafür ist da,die politische Notwendigkeit allemal.Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Mitte der Wahlperiode istes Zeit für eine Zwischenbilanz. In der Finanzpolitik fälltdiese Bilanz rundum positiv aus.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition tun,was sie 1998 versprochen haben. Sie tun es konsequentund erfolgreich.Die vier Grundelemente unserer Finanzpolitik sind:erstens der Ausbruch aus der Schuldenfalle. Wir macheneine entschlossene Politik zur Sanierung der Staatsfinan-zen.Zweitens. Wir machen eine Steuerreform zur Entlas-tung der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen.
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Dr. Uwe-Jens Rössel11098
Drittens. Wir stellen die Steuergerechtigkeit und dasPrinzip wieder her, dass starke Schultern mehr zu tragenhaben als schwache.Viertens. Unsere Finanzpolitik ist so ausgerichtet, dasssie zum Abbau der Arbeitslosigkeit beiträgt. Das habenwir versprochen und wir haben Wort gehalten.Noch ein paar Bemerkungen zu allen vier Punkten:
Als Helmut Kohl sein Amt als Bundeskanzler antrat, be-trug die Verschuldung des Bundes 350 Milliarden DM.16 Jahre später hinterließ die Regierung Kohl eine Schul-denlast von 1 450 Milliarden DM.
– Sie können offenbar nicht lesen.
Jetzt wird die Legende verbreitet – Herr Rexrodt hatdas heute auch getan –, dieser Anstieg der Verschuldunghabe nur etwas mit der deutschen Einheit zu tun. Einereine Legende! In der ersten Halbzeit der Regierung Kohlvon 1982 bis 1990 hat sich die Höhe der Bundesschuldenexakt verdoppelt, von 350 auf 700Milliarden DM. In demgleichen Tempo sind sie weiter gestiegen. Sie haben sichvon 1990 bis 1998 noch einmal verdoppelt.
Wenn Sie jetzt so tun, als sei dieser Anstieg der Ver-schuldung nur auf die deutsche Einheit zurückzuführen,als seien sozusagen die Ostdeutschen schuld, dann ist daseine kümmerliche Entschuldigung dafür, dass Sie nichtmit Geld umgehen konnten.
Das Problem war – daran haben wir jetzt leider alle zuknabbern –: Helmut Kohl hatte zwar ein Verhältnis zuBimbes; aber er hatte kein Verhältnis zum Geld der Steu-erzahler.
Der Konsolidierungskurs, den Hans Eichel mit Energieund mit großer Unterstützung der gesamten Koalition be-treibt,
ist sehr erfolgreich. Jahr für Jahr ist die Nettokreditauf-nahme gesunken.
Wir werden bis zum Haushalt 2006 einen ausgeglichenenHaushalt erreichen. Erst dann, meine Herren von derCDU und – nicht zu vergessen – von der CSU, wird eintatsächlicher Abbau der Verschuldung, die Sie hinterlas-sen haben, möglich sein. Sie sollten nicht so viel darüberschreien. Sie sollten froh sein, dass sich die jetzige Koali-tion der Probleme, die Sie hinterlassen haben, annimmt.Der zweite Punkt,
die Steuersenkung und die Steuerreform. Es gibt einenengen Zusammenhang zwischen der Konsolidierung, derDrosselung der Ausgaben und der Senkung der Steuern.Denn wir machen keine Steuerentlastung auf Pump, son-dern erhöhen die Ausgaben parallel in einem nur geringenMaße, und senken die Steuern für die Bürger und Bür-gerinnen stufenweise, verantwortungsbewusst.Wir haben 1999 begonnen mit einer deutlichen Entlas-tung der Familien mit Kindern. Es stimmt, 1999 haben dieBürgerinnen und Bürger, die keine Kinder haben, wenigvon unserer Steuerentlastung gehabt. Das ist in diesemJahr ganz anders. In diesem Jahr haben alle von dieserSteuersenkung wirklich Vorteile und im nächsten Jahrgeht es weiter.Ich nehme einmal ein Beispiel: Eine Arbeitnehmer-familie mit zwei Kindern und einem monatlichen Brut-toeinkommen von etwa 5 000 DM hat
in diesem Jahr monatlich 200 DM mehr in der Tasche als1998. Im nächsten Jahr wird diese Familie bei gleichemBruttoeinkommen 250 DM mehr in der Tasche haben.
Nun sagen Sie, das sei alles gar nichts. In Ihrer Zeit hates zwar ebenfalls einen Anstieg der Bruttoeinkommengegeben. Aber das Schlimme war, die Leute haben immerweniger davon gehabt, weil der Unterschied zwischenbrutto und netto immer größer wurde. Das hatte nichts zutun mit sozialer Gerechtigkeit.
Sie haben noch etwas anderes gemacht. Sie haben hin-genommen, dass Leute mit guten Einkommen in legalerWeise Steuerschlupflöcher nutzen konnten, um sich vordem Finanzamt arm zu rechnen. Damit haben wir gegenden erbitterten Widerstand der Lobby, die leider auch vonF.D.P. und CDU/CSU unterstützt wurde, Schluss ge-macht.
Es ist heute eben nicht mehr möglich, dass man sich beieinem Spitzeneinkommen vor dem Finanzamt einfach
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Jörg-Otto Spiller11099
arm rechnet. Auch das gehört zur Steuergerechtigkeit:dass aus hohen Einkommen ein fairer Beitrag zur Finan-zierung der öffentlichen Aufgaben geleistet wird.Sie haben eine totale Perversion der Marktwirtschaftbetrieben. Es ist geradezu wahnwitzig, dass man Investi-tionsentscheidungen an Verlustzuweisungen orientierte.Investitionsentscheidungen müssen an Gewinnerwartun-gen orientiert werden. Wir haben die marktwirtschaftlicheGrundordnung wiederhergestellt. Darauf sind wir stolz.
Ich mache ein paar Bemerkungen zur Unternehmen-steuerreform.
Zunächst einmal profitieren alle selbstständigen Unter-nehmer genauso wie Arbeitnehmer von der Senkung derEinkommensteuertarife.Obendrein haben wir durch dieVerrechnung der Gewerbesteuer mit der Einkommensteu-erschuld eine faktische Freistellung der Personenunter-nehmen von der Gewerbesteuer, und zwar ohne dass dieFinanzkraft der Gemeinden darunter leidet.
– Ja, das hören Sie nicht gern. Das kann ich mir gut vor-stellen. Sie haben das nämlich nie fertig gebracht. Sie ha-ben immer nur darüber geredet.
Es ärgert Sie jetzt, dass diese Koalition Erfolg hat. WasSie uns vorführen, ist der schwarz-gelbe Neid, weil Siedas nicht zustande gebracht haben.
Der Mittelstand gehört zu den Hauptgewinnern unsererSteuerreform. Das sagen wir, auch wenn es Ihnen nichtgefällt, immer wieder. Das Erfreuliche ist: Wir findendamit immer mehr Zustimmung.Herr Rexrodt, meinen persönlichen Glückwunsch zuIhrem Geburtstag! Aber alles kann man Ihnen trotzdemnicht durchgehen lassen. Sie haben vieles erzählt, waseinfach nicht stimmt.
Sie sagten, der Mittelstand stehe viel schlechter da als dieKapitalgesellschaften. Dazu ist zunächst zu bemerken,dass es viele mittelständische GmbHs gibt. Das wissenauch Sie, und das darf man nicht verschweigen. Auch derMittelstand macht von der Rechtsform der Kapitalgesell-schaft lebhaft Gebrauch. Wenn Sie bei den Personenge-sellschaften bleiben, müssen Sie sich fragen: Wann er-reicht eine Personengesellschaft einen Gewinn, der zueiner steuerlichen Belastung ähnlich wie bei einer Kapi-talgesellschaft führt? Sie müsste einen Durchschnittssteu-ersatz von insgesamt – Pi mal Daumen – 38 Prozent ha-ben, weil nämlich eine Kapitalgesellschaft 25 ProzentKörperschaftsteuer plus im Bundesdurchschnitt etwa13 Prozent Gewerbesteuer zahlt. Um einen solchen Satzzu erreichen, braucht ein verheirateter Handwerksmeistereinen Jahresgewinn von etwa 400 000 DM. Das kommt inmittelständischen Handwerksbetrieben nicht so oft vor.Die meisten liegen deutlich darunter, das heißt, es geht ih-nen steuerlich mit unserem System nicht nur deutlich bes-ser als vorher, sondern auch deutlich besser, als wenn sieeine Kapitalgesellschaft wären. Dass, nebenbei bemerkt,die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft auch nochEinkommensteuer zahlen, sollte Ihnen bekannt sein.Herr Rexrodt und auch Herr Rauen haben gemeint,dass doch die Fachwelt ihre Meinung teilt. Das ist aberleider nicht so. Es liegt vielleicht auch daran, dass Sie zuwenig lesen. Lesen Sie doch wenigstens die Ausführun-gen der Bundesbank. Denn die Bundesbank ist doch nuneine anerkannte Institution. Sie schreibt in ihrem Monats-bericht vom August:Insgesamt gesehen– das schreibt sie über unsere Steuerreform –dürften ... die Personengesellschaften bei der Be-steuerung des laufenden Betriebsergebnisses nichtschlechter abschneiden als die Kapitalgesellschaften.Das ist ein eindeutiges Votum. Die Bundesbank ist nichtdie einzige, die das so sieht.
Der Kern unserer Körperschaftsteuerreform ist dieSenkung des Tarifes auf 25 Prozent, und zwar einheitlich.Wir machen keine Unterscheidung zwischen einbe-haltenem und ausgeschüttetem Gewinn, sondern der Tarifbeträgt einheitlich 25 Prozent. Als Sie noch regierten, be-trug der Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinnein Deutschland 45 Prozent. Jetzt beträgt er 25 Prozent. Ra-ten Sie mal, was die Unternehmen besser finden. RatenSie auch mal, was das Ausland interessanter findet. In denletzten Jahren Ihrer Regierung galt Deutschland als einlahmes Land, das nicht die Kraft aufbrachte, seine Pro-bleme zu lösen. Das hat sich geändert. Es ist ein Ruckdurch Deutschland gegangen. Das wird überall anerkannt.Das bringt uns Zustimmung.
Wir haben bei der Ausrichtung der Unternehmensteu-erreform eine Stärkung der Investitionskraft verfolgt,insbesondere auch mit Blick auf die Wirkung für Ost-deutschland. Dort ist die Kapitalstärke überall unzurei-chend. Bei den wirklich ostdeutschen Unternehmen gibtes einen krassen Mangel an Eigenkapital.
– Solche Bemerkungen werden Ihnen überhaupt nichthelfen.
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Jörg-Otto Spiller11100
Der Mangel an Eigenkapital, die Unfähigkeit aus eige-ner Kraft zu investieren, ist eine der Hauptschwächen derostdeutschen Wirtschaft. Diese Reform der Unterneh-mensbesteuerung wird gerade dafür eine wesentlicheHilfe sein. Das wird uns in Deutschland insgesamt weitervoranbringen.Ich komme zu der letzten Bemerkung, zum Abbau derArbeitslosigkeit.Wir haben inzwischen eine konjunktu-relle Situation, in der der Funke übergegriffen hat: vomExport, von der Auslandsnachfrage auf die inländischeNachfrage, auf die Binnenkraft der Konjunktur. Wir ha-ben, beginnend mit den Ausrüstungsinvestitionen, einekräftige Zunahme der Binnennachfrage, einen realen Zu-wachs bei den Ausrüstungsinvestitionen gegenüber demVorjahr um etwa 9 Prozent. Im nächsten Jahr wird es inähnlicher Größenordnung weitergehen. Wir haben einendeutlichen Zuwachs auch beim privaten Konsum. Dashängt nun in der Tat mit der Kaufkraftentwicklung zu-sammen, und zwar mit dem, was die Leute netto in derHand haben.Ich zitiere noch einmal aus dem Monatsbericht derBundesbank vom August. Die Bundesbank schreibt:Die Steuerreform ist ein wichtiger Schritt zur Ver-besserung der Rahmenbedingungen für das Wirt-schaftswachstum und die Beschäftigung in Deutsch-land.Das ist eindeutig.Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle schreibtnoch prägnanter und eindeutiger, wie ich finde, die Stär-kung der Binnenkaufkraft und der Binnenkonjunktur inDeutschland sei durch unsere Finanzpolitik stark ange-regt. Die Hallenser schreiben wörtlich:Der entscheidende Schub kommt im Jahr 2001 vonder dritten Stufe des Steuerentlastungsgesetzes, diein Verbindung mit der Unternehmensteuerreformvorgezogen werden soll.Die Nettoerwerbseinkommen werden vor allem in-folge der Erhöhung des Grundfreibetrages und derspürbaren Senkung des Eingangssteuersatzes sostark wie lange nicht expandieren...Dann fährt das Institut in Halle fort:Im Jahr 2001 ist ... ein deutlich expansiver Impulsdurch das Steuerreformpaket zu erwarten.Maßgeblich dafür istvor allem die deutliche Entlastung bei der Lohn-steuer ...So ist es. Millionen Bürger dieses Landes, die täglichzur Arbeit gehen und von ihrer Arbeit leben, haben jetztendlich wieder mehr Kaufkraft, die Sie ihnen über langeZeit verweigert haben.Meine Herren, das Einzige, von dem Sie meinen, unsjetzt kritisieren zu können, das sind die Energiepreise unddie Ökosteuer.
Ich empfehle Ihnen, dass Sie vielleicht lhr Programm ein-stampfen. 1998 sind Sie mit folgendem Passus in denWahlkampf gegangen – –
Herr Kol-
lege Spiller, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Wenn Sie mir gestatten, Herr Präsident, möchte ich mit ei-
nem Zitat aus dem Wahlprogramm der CDU für die Bun-
destagswahl 1998 enden:
Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
besonders teuer, wovon wir gegenwärtig im Über-
fluss haben: Arbeit. Dagegen ist das, woran wir spa-
ren müssen, eher zu billig zu haben: Energie- und
Rohstoffeinsatz. Dieses Ungleichgewicht müssen
wir wieder stärker ins Lot bringen, wenn wir unseren
beiden Hauptzielen, mehr Beschäftigung und weni-
ger Umweltbelastung, näher kommen wollen.
Es stimmt.
Als
nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen
Bartholomäus Kalb von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was mich beiIhnen, Herr Kollege Spiller, aber auch bei allen Rednern– es beginnt beim Bundeskanzler und dem Finanzmini-ster – ganz gewaltig stört, ist: Wenn Sie über den Schul-denstand dieses Landes sprechen, tun Sie so, als hätte esdie Wiedervereinigung in Deutschland und die damit ein-hergehenden finanziellen Herausforderungen nie gegeben.
Sie wollen offensichtlich mit diesem Thema immer nochnichts zu tun haben.
– Sie haben ein absolut gestörtes Verhältnis, wie KollegeRamsauer gerade dazwischenruft.Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute Mor-gen hat es der Bundesfinanzminister wieder vorgezogen,Superlative zu gebrauchen. Er sprach von der größtenSparaktion im letzten Jahr und der größten Steuerreformin diesem Jahr. Wenn wir uns die Zahlen anschauen,ist davon nicht viel übrig. Er musste ja zunächst denLafontaine-Effekt beim Haushalt wettmachen.Wenn ich auf die Zahlen schaue, so hatten wir 1998 einHaushaltsvolumen von 456 Milliarden DM, 1999 eines
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Jörg-Otto Spiller11101
von 483 Milliarden DM und jetzt sind wir für dieses unddas kommende Jahr bei einem von rund 478 Milliar-den DM. Trotz des groß angekündigten Sparpakets, dasSie letztes Jahr verkündet haben, haben Sie es nicht ge-schafft, die von Lafontaine verursachten Erhöhungenwieder zurückzunehmen. Sie haben gerade einmal 5 Mil-liarden DM zusammengebracht und die haben Sie nochauf die Länder und die Gemeinden weggedrückt. Auchdas müssen Sie korrekterweise zugeben. Wenn Sie sparen,sparen Sie an der falschen Stelle und zulasten Dritter, wieich eben gesagt habe.
Wenn ich von der „falschen Stelle“ rede, komme ichzurück auf die Investitionen. Kollege Dr. Rexrodt und dieRedner der Union haben bereits darauf hingewiesen: Wirhaben einen historischen Tiefstand, was die Investitions-quote betrifft: 11,4 Prozent, das war noch nicht da. Meinefeste Überzeugung ist, dass ein Bundeshaushalt mit einerInvestitionsquote, die wesentlich unter 13 Prozent liegt,nicht vertretbar ist. Der Haushalt hat eine Schieflage. Erhat erhebliche strukturelle Schwächen.
Ich will gerne wiederholen, was Kollege Metzger hierausgeführt hat. Er hat ja angekündigt, man wolle beiInvestitionen 4 Milliarden DM drauflegen. Das wollenwir, Kollege Austermann, hier gerne festhalten. Wir wer-den das bei den Beratungen dann auch einfordern. Siewerden es aber trotzdem nicht schaffen, die Kürzungen,die Sie dem Verkehrsetat verpasst haben, nämlich 4,8Mil-liarden DM, damit wieder aufzuheben.Wenn wir auf das Jahr 1998 zurückgehen, als Bau-ministerium und Verkehrsministerium noch zwei ge-trennte Häuser waren, dann müssen wir feststellen, dassSie heute 9 Milliarden DM weniger für Investitionen indiesen beiden Bereichen ausgeben, als wir seinerzeitdafür eingestellt hatten.
Gleichzeitig belasten Sie gerade die Verkehrsteilnehmerin einer unverantwortlichen Art und Weise, lassen sie aberim Stau stehen, weil Sie für den Fernstraßenbau nichtstun, ebenso wenig für die dringende Modernisierung derSchienenwege. Sie lassen die Menschen im Stau stehenund nehmen ihnen gleichzeitig unverschämt viel Gelddafür ab. Das ist ungerecht.
Das ist aber auch sehr schädlich, denn es werden dadurchwertvolle volkswirtschaftliche Ressourcen vergeudet:Wer im Stau steht, kann kein Bruttoinlandsprodukt er-wirtschaften.
Der Herr Verkehrsminister verkündet ein Anti-Stau-Programm für die Jahre nach der nächsten Bundestags-wahl, das mit Geld bezahlt werden soll, das er noch nichthat, und Instrumente ausweist, die, wie Herr Staatssekre-tär Diller zugeben musste, er ebenfalls noch nicht hat. Sokann es nicht gehen; das ist keine seriöse Politik. Wirbrauchen wieder eine deutliche Erhöhung der Investiti-onsquote. Herr Metzger hatte ja Recht, als er schon imFrühsommer bestätigte, dass unsere diesbezügliche Kritiksehr berechtigt ist.Investitionen sind die Voraussetzung dafür, dass derWohlstand der Bürger erhalten und gemehrt und die Wett-bewerbs- und Leistungsfähigkeit unseres Landes sicher-gestellt werden kann. Investitionen sichern auch die Er-tragskraft der öffentlichen Hände und des Sozialsystemsin der Zukunft. Man muss auch säen, wenn man erntenwill.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundes-finanzminister hat heute Morgen wieder von der größtenSteuerreform und von den großartigen Entlastungen ge-sprochen. Ich kann mich daran erinnern, wie er uns undden bayerischen Finanzminister Faltlhauser kritisiert hat,als wir eine Reform vorgelegt haben, die noch nicht ein-mal in der heutigen Dimension Entlastungen vorgesehenhat. Er hat sie damals von dieser Stelle aus als völlig un-finanzierbar bezeichnet. Ich frage Sie nur, Herr Bundes-finanzminister: Warum steigt denn dann die Steuerlast-quote in den kommenden Jahren, wenn Ihre Steuerreformwirken sollte? Ein Großteil der nominalen Entlastungwird doch durch die Inflation und die Steuerprogressionim Tarifverlauf aufgefressen. Am Ende des Jahres 2005werden die Menschen weniger Entlastung haben, als Sieheute versprechen.
Die Steuerreform kommt zu spät; sie ist zaghaft undungerecht, weil sie einseitig die großen Kapitalgesell-schaften zulasten des Mittelstandes bevorzugt. Es bliebdem „Handelsblatt“ vorbehalten, zu schreiben – ich zi-tiere aus dem Gedächtnis –: Die große Kapitalgesellschaftist derzeit der SPD liebstes Kind. Das sagt eigentlich al-les aus.Die Verbesserungen, die ganz am Ende in einer Nacht-und Nebelaktion noch erreicht worden sind, kamen oh-nehin nur auf Druck der F.D.P. und der CDU/CSU vor derBundesratsentscheidung zustande. Wie Sie mit dem Ver-fassungsorgan Parlament umgegangen sind, ist eine an-dere Frage. „Ein Schlag ins Gesicht des Parlaments“, ti-telte eine Zeitung. Auch das Karl-Bräuer-Institut weistdarauf hin, wie unseriös dies alles gemacht worden ist, so-wie darauf, dass am Ende des Jahres 2005 die Bürgermehr und nicht weniger Steuern zu zahlen haben werden,weil die Steuerreformschritte viel zu zaghaft sind und vielzu spät greifen werden. Auch war noch nie eine Steuerre-form so angelegt, dass die letzten Schritte erst zum Endeder nächsten Legislaturperiode greifen.Aber, Herr Finanzminister, eines kann ich Ihnen nichtersparen: Sie haben in der 114. Sitzung am 6. Juli von die-ser Stelle aus die Unionsvertreter im Vermittlungsaus-schuss als „Ölgötzen“ bezeichnet,
weil sie sich angeblich nicht bewegten. Dieser Vorwurffällt auf Sie zurück. Sie haben sich bis zu dem Zeitpunkt,zu dem der Bundeskanzler die Show brauchte, nicht be-wegt.
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Bartholomäus Kalb11102
Ich habe das Protokoll dieser Sitzung hier liegen.Etwas anderes haben Sie hervorragend verstanden: Siehaben im Haushaltsplan für die Öffentlichkeitsarbeit – ichzitiere: Information der Bevölkerung über die Maßnah-men der Steuerreform – 7,5 Millionen DM eingesetzt.
Wir haben gesehen, was Sie damit zuwege gebracht ha-ben: Sie haben schon im Mai ganzseitige Anzeigen mitIhrem mehr oder weniger schönen Gesicht, aber mit rela-tiv wenig Informationsgehalt geschaltet.
Die Leichtfertigkeit, mit der der Herr Bundeskanzlerpersönlich mit dem Thema Ökosteuer umgeht, wird deut-lich, wenn man sich an seine Interviews erinnert. Ich habedas Sommerinterview und zwei weitere Interviews gese-hen. In allen diesen Interviews hat er gesagt, der Auf-schlag auf das Mineralöl werde nur 6 Pfennig ausmachen.Er hat dabei wohl vergessen, dass bereits die zweite Stufein Kraft getreten ist. Jetzt hat er durch einen Ghostwriterbestätigen lassen, dass es doch schon 12 Pfennig seien. Erist vielleicht der Meinung erlegen, die er selbst einmalverbreitet hat, 6 Pfennig seien genug. – Das ist einunverantwortliches Abzocken des Bürgers.
Wenn jetzt der Herr Bundesfinanzminister und HerrPoß die Verantwortung für die höheren Ölpreise leugnen,kann ich nur fragen: Warum tun Sie das? Es war doch er-klärtes Ziel der Grünen und der SPD, die Kosten für Ener-gie zu verteuern.
Sie sind durch die erfolgten direkten steuerlichen Belas-tungen dafür verantwortlich.
Zudem sind Sie dafür verantwortlich, weil Sie für denVerlust des Wertes unserer Währung einstehen müssen
und sich als Preistreiber auf dem Markt bewegt haben.Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt beispielsweise:„Massive Kritik an Schröders Europolitik“. Das ist nichtnur meine Meinung. Viele Fachleute teilen die Meinung,dass die Politik der Bundesregierung ganz wesentlich andem Verfall der Währung schuld ist.
Sie betätigen sich auf den internationalen Märktenauch als Preistreiber. Bereits im vergangenen Novemberhat der Hamburger Energieexperte Heino Elfert geschrie-ben, Länder wie Großbritannien und Deutschland wolltenÖlprodukte wie Benzin und Diesel verteuern, sei es ausumweltpolitischen oder aus fiskalpolitischen Gründen.Da sagen sich die Öllieferländer, so schreibt er weiter:Das können wir viel besser!Diese hohen Energiepreise belasten vor allen Dingendie Menschen, die sich nicht dagegen wehren und nichtausweichen können: Rentner, sozial Schwache, Familienmit Kindern, Menschen im ländlichen Raum, die täglichweit entfernt ihrer Arbeit nachgehen müssen, Menschenim ländlichen Raum insgesamt und nicht zuletzt auch dasTransportgewerbe. Deswegen fordern wir: Schluss mitden weiteren Stufen der Ökosteuerreform! Die Stufen fürdie Jahre 2001, 2002 und 2003 müssen aufgehoben wer-den. Sonst ruinieren Sie die Zukunft unseres Landes.
– Also, Herr Kollege Wagner, ich habe Ihnen schon vor-hin gesagt, wie sehr sich die Großwirtschaft mittlerweileauf die SPD verlassen kann. Sie brauchen hier keinenZwischenruf anzubringen. Was mich eher besorgt, ist dieSchwäche der Währung, für die Sie mitverantwortlichsind.
– Frau Kollegin, Sie werden doch nicht glauben, dass eineso verantwortungslose Europapolitik, wie sie von dieserBundesregierung gemacht wird – ich erinnere an die ver-antwortungslose Politik gegenüber Österreich –, dasVertrauen der Menschen in Europa und damit in den Euround das Vertrauen der internationalen Finanzmärktestärkt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kalb,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Es ist doch gera-
dezu blamabel und schädlich, den Österreichern drei
Weise zu schicken und zu glauben, dadurch das Vertrauen
der Menschen und das Vertrauen der internationalen Fi-
nanzmärkte gewinnen zu können. Die „Passauer Neue
Presse“ hat Recht, wenn sie schreibt: Eine bodenlose Bla-
mage für die EU-14. Sie haben damit dem Europagedan-
ken geschadet. Sie haben auch der europäischen Währung
massiv geschadet, weil Sie das Vertrauen der Finanz-
märkte, der Menschen, der Mitgliedsländer und der Bei-
trittsländer zerstört haben.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die SPD-Fraktion ist der Kollege Hans-Eberhard
Urbaniak.
Frau Präsidentin!Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kalb, Sie können esdrehen und wenden, wie Sie wollen: Hans Eichel hat ei-nen ganz soliden Haushaltsentwurf vorgelegt. Er hat mit
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Bartholomäus Kalb11103
Hilfe der Koalitionsfraktionen die Nettokreditaufnahmeim letzten Jahr senken können und spielt im Welt- und Eu-ropakonzert eine ganz wichtige Rolle. Wir sind hoch an-erkannt. Die wirtschaftlichen Kräfte entwickeln sich gut.Wir werden uns in den Haushaltsberatungen über Alter-nativen sachlich auseinander setzen. Wir erwarten Ihrekonkreten Vorschläge. Wir sind sehr gespannt, welcheweiteren Einsparungsmöglichkeiten Sie vorschlagen wer-den.
Da müssen Sie Farbe bekennen. Bisher haben Sie sich indieser Beziehung sehr bedeckt gehalten. Das war nicht inOrdnung.
Ich möchte mich eigentlich mit einem ganz anderenThema beschäftigen, obwohl hierzu noch einiges gesagtwerden könnte. Anstatt den Bundeskanzler anzugreifen,der gerade eine hohe Auszeichnung in New York bekom-men hat, sollten wir alle auf ihn stolz sein. Die Auszeich-nung des deutschen Bundeskanzlers ist nämlich Ausdruckder Anerkennung seiner Politik.
– Nein, er vergisst die kleinen Leute nicht. Er kommtselbst aus diesem Milieu und hat seine Bindung zu diesemMilieu nicht verloren, im Gegensatz zu Ihrer Truppe, dieihre Bindungen zu diesen Leuten schon lange verlorenhat.
Ich möchte mich mit einem Sachverhalt beschäftigen,der im Rahmen der Haushaltsberatungen nicht oft zurSprache kommt, nämlich mit der Bekämpfung von Be-trügereien bei derUmsatzsteuer im Rahmen des Waren-und Dienstleistungsverkehrs. Die Stärke der auf diesemGebiet an den Tag gelegten kriminellen Energie, um denStaat um berechtigte Steuereinnahmen zu bringen, istschon sehr erstaunlich. Seit Öffnung der EU-Grenzen hatsich die Zahl der betrügerischen Manipulationen in die-sem Bereich ständig erhöht. Der Trend hält an. Es ist jaeine wilde Geschichte, wenn man sieht, wie durchScheinunternehmen und Scheinrechnungen Vorsteuerma-nipulationen begangen werden und die Umsatzsteuer hin-terzogen wird.
Hinzu kommen noch die Kraftfahrzeugbetrugsfälle. DerUmsatzsteuerbetrug, dessen Umfang in erheblichemMaße zugenommen hat, muss – das sage ich in aller Klar-heit – bekämpft werden; denn wir haben eine neue Formdes Betrugs erkannt, nämlich den Karussellbetrug: DieKriminellen organisieren sich so, dass sie Bund, Länderund Gemeinden auf die eben geschilderte Weise betrügenund ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.
Der Finanzminister von Baden-Württemberg bewertetdie Steuerausfälle durch Betrügereien mit 23 Milliar-den DM. Das hat er so zu Protokoll gegeben. Er fordertdeshalb selbst, hier müsse mehr gegen den Missbrauchgetan werden, was wir auch tun. Es muss sicherlich mehrin Personal und in dessen Ausstattung investiert werden,um den Kriminellen auf die Spur zu kommen.Dazu ist eine konzertierte Aktion des Bundes und derLänder notwendig; darüber sind wir uns einig. Die Steu-erfahndung muss ausgebaut werden. Für den Bund be-deutet dies insbesondere die Überprüfung des Umsatz-steuer- und Verfahrensrechts, die Einrichtung einerzentralen Stelle auf Bundesebene zur Koordinierung derPrüfungstätigkeit der Länder, die – das muss geprüft wer-den – Schaffung einer Bundessteuerfahndung und die Be-reitstellung und Auswertung von relevanten Informatio-nen, um diesen Kriminellen auf die Spur zu kommen. ZurErledigung dieser Aufgaben ist – das habe ich betont –qualifiziertes Personal notwendig.Die Niederländer haben uns in der EU einiges vorge-macht. Sie haben in diesem Bereich investiert und die Ka-russellbetrügereien wirksam bekämpfen können. Darankönnen wir uns ein Beispiel nehmen. Sie haben die Ein-nahmen aus dieser Steuerart erheblich erhöhen können.
Nachdem der Handlungsbedarf erkannt ist, wollen wirden Bundesminister bitten, die notwendigen Maßnahmeneinzuleiten, damit wir diesen Betrügern auf die Spur kom-men. Denn wir brauchen für den Schuldenabbau mehrEinnahmen. Je schneller dies geht, umso besser.
Meine Damen und Herren, ich zitiere den Chef derSteuer-Gewerkschaft, Dieter Ondrazcek. Er kritisiert,dass sich Bayern und Baden-Württemberg mit seltenenBetriebsprüfungen einen Standortvorteil verschaffen.So seien 1998 in Baden-Württemberg auf einen Prüfer609 Unternehmen gekommen, in Bayern 661 Unterneh-men, in Nordrhein-Westfalen aber 455 Unternehmen.Wenn das ein Standortvorteil, also ein Vorteil für das An-werben von Betrieben ist, dann ist die Solidarität unterden Ländern auf das Härteste strapaziert. Dies ist unse-riös.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Urbaniak, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kalb?
Ja.
Herr KollegeUrbaniak, ist Ihnen bekannt, dass – vielleicht zum Leid-wesen der Betroffenen – in Bayern das Prüfpersonal ver-stärkt worden ist? Ist Ihnen zweitens bekannt, dass dieGroßbetriebe – das sind Betriebe mit einem Umsatz ab11 Millionen DM – im Turnus alle dreieinhalb Jahre ge-prüft werden und das Mittelbetriebe mit einem Umsatz ab1,1 Millionen DM auch im Turnus geprüft werden?
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Hans-Eberhard Urbaniak11104
Herr Kollege
Kalb, wenn es so sein sollte, wie Sie sagen, würde es uns
freuen. Ich habe mir diese Zahlen aktuell geben lassen und
gehe davon aus, dass sie stimmen. Darüber werden wir im
Haushaltsausschuss weiter diskutieren und dazu die Fak-
ten zusammentragen. Wenn ihr die Situation im Süden
verbessert habt, dann habt ihr euch gebessert. Das war
aber auch bitter nötig.
Wir bemühen uns, über das Schuldenmanagement,
das eine neue Form bekommen wird, dafür zu sorgen,
dass wir die Schulden noch effektiver abbauen können.
Im Haushaltsausschuss werden wir noch über den Ge-
schäftsbesorgungsvertrag reden, der die Arbeit dieser In-
stitution, die unter der Kontrolle des Bundesfinanzminis-
ters steht, konkret regelt. Wir gehen davon aus, dass der
Abbau des horrenden Schuldenberges von 1,5 Billio-
nen DM, der durch die Regierung Kohl verursacht wurde,
effektiver erfolgen kann. Hinzu kommt die Verringerung
der Nettokreditaufnahme. Ich meine, das sind gute Aus-
sichten, um auch das Wirtschaftswachstum in unserem
Lande weiter zu beflügeln.
Sieht man sich nun speziell den Haushalt des Bundes-
finanzministeriums an, dann erkennt man, dass es noch
zwei Punkte gibt, die man erwähnen muss:
Erstens. Wir benötigen eine Reform im Bereich des
Zolls, insbesondere in den östlichen Ländern. Daran wird
gegenwärtig gearbeitet. Erfahrungen haben wir bei der
Reform im westlichen Teil der Republik gesammelt, die
wir für diese Arbeit verwerten können, sodass ich sage:
All dies wird unter dem Gesichtspunkt einer ordentlichen
und sauberen sozialen Flankierung geschehen. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt.
Zweitens. Beim Branntweinmonopol haben wir es
noch immer mit einer Subvention von 260 Millio-
nen DM – ein erheblicher Betrag – zu tun. An dieser Stelle
wird weiter abgebaut, der Betrag wird sinken und wir wer-
den unser Ziel, dass gerade in Kleinbetrieben und bäuer-
lichen Einrichtungen eine Stützung erfolgt, erreichen.
Ich bitte also – das ist auch eine Aufforderung an die
Länder –: Kümmert euch mit dem Bund darum, dass wir
eine effektive Steuerfahndung bekommen. Ich habe hier
eine Kleine Anfrage der Kollegin Hasselfeldt, die mich
beim Studium doch erstaunt hat. Die Kollegin hat im Juli
angefragt, wie nach Wegfall der Grenzkontrollen dem er-
höhten Kontrollbedarf im Bereich des Umsatzsteuerbe-
truges Rechnung getragen werden soll. Die Bundesregie-
rung hat geantwortet:
1994 wurde in der Steuerabteilung des Bundesminis-
teriums der Finanzen ein eigenständiges Referat für
die Umsatzsteuerkontrolle eingerichtet. Im Zuge der
im Hinblick auf den Berlin-Umzug notwendigen
Umstrukturierung der Steuerabteilung im Jahre 1998
ist – unter der alten Bundesregierung – dieses Refe-
rat aufgelöst und die Umsatzsteuerkontrolle einem
bestehenden Umsatzsteuerreferat angegliedert wor-
den. Gleichzeitig wurde die Personalausstattung für
den Bereich der Umsatzsteuerkontrolle reduziert.
Dazu kann man doch wohl sagen: Das ist keine gute Ar-
beit, die da seinerzeit geleistet wurde.
Also, gehen wir jetzt gemeinsam daran – wir greifen es
auf –, diesen Betrügern und Kriminellen das Handwerk zu
legen, damit der Staat diejenigen Einnahmen hat, die er
nach dem Gesetz haben darf, gerade auf dem Felde der
Umsatzsteuer. Da müssen wir Hans Eichel unterstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Susanne Jaffke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Urbaniak,Sie haben so schön gesagt, der Herr Bundeskanzler seiausgezeichnet worden. Das ist zugegebenermaßen von ei-ner Institution geschehen, die ich nicht kenne;
aber ich gehe einmal davon aus, dass er diese Auszeich-nung bestimmt bekommen hat, weil er vorher 14 TageSonderurlaub in den neuen Bundesländern gemacht hat.Die Reise war für ihn sicherlich sehr angenehm, weil ersich von den Problembereichen in den neuen Bundeslän-dern fern gehalten hat. Wenn irgendjemand mit einem Pla-kat aufgetaucht ist, dann hat er dieses glanzvoll ignoriert.Von den Menschen, die angeblich überall Schlange ge-standen haben, war nichts zu sehen. Als er des Nachts kurznach 23 Uhr in meiner Heimatstadt Anklam ankam, wa-ren weder der Bürgermeister noch der stellvertretendeBürgermeister anwesend. Der Bürgermeister ist zugege-benermaßen CDU-Mitglied, der stellvertretende Bürger-meister ist bei der SPD; wir gehen da vernünftig mitei-nander um. Diese Personen waren zur Durchreise desHerrn Bundeskanzlers nicht einmal offiziell geladen, waseinen tiefen Einblick auf die Art und Weise des Umgangssowohl mit anderen als auch mit den eigenen Genossengewährt.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch einpaar Bemerkungen dazu, wie die Bundesregierung zumAufbau Ost steht. Die vielen Schulden werden ja nunhinlänglich strapaziert. Wenn ich mich dann schon sozu-sagen einer Gesamtschuld unterwerfen soll, dann steheich auch unter einer Gesamtschuld für die deutsche Ein-heit. Auf die Straße gegangen sind die Leute in den neuenBundesländern, in Leipzig, in Dresden und auch inRostock.
Diese Schuld – dazu steht die ehemalige CDU/CSU-F.D.P.-Koalition – haben wir mit aller Kraft abzutragenund zu ordnen versucht, um daraus für unser deutschesVaterland etwas Gutes zu entwickeln.Wenn man heute in den Haushalt schaut, sieht man,dass für den Aufbau Ost nicht mehr viel Sympathie da ist.Die Mittel für die GA „Regionale Wirtschaftsförderung“werden um fast 300 Millionen DM abgesenkt,
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der Etatansatz für den Straßenbau wird um 207 Mil-lionen DM abgesenkt
und die Gelder für Forschungs- und Entwicklungsvorha-ben speziell in den neuen Ländern werden um 30 Milli-onen DM gekürzt. Abgesehen davon gibt es im Haushalts-entwurf auch noch die globalen Minderausgaben; siestehen ja immer ganz am Ende des jeweiligen Einzelpla-nes. Diese globalen Minderausgaben – das wissen wirsehr genau – können nur bei den freiwilligen Leistungenerwirtschaftet werden. Sie werden wie in den Jahren 1999und 2000 jetzt mit Sicherheit wieder den Mittelstand unddie Investitionen in den neuen Bundesländern treffen.Noch ein Wort zur Ökosteuer. Diese Ökosteuer wurdeja schon reichlich strapaziert. Aber warum gehen Sie ei-gentlich nicht auf die besonderen Bedingungen der neuenBundesländer ein? Sie ignorieren damit schlicht und er-greifend die anders gelagerte Struktur in den neuen Bun-desländern. Der seit zehn Jahren andauernde strukturelleWandel in der Wirtschaft hat heute noch nicht für solcheine Festigkeit gesorgt, dass eine derartig hohe Steuerbe-lastung aufgefangen werden könnte.Am ehesten – das können Sie mir glauben – lässt sichdas bei landwirtschaftlichen Unternehmen und bei denUnternehmen, die im Bereich Güterfernverkehr tätig sind,ablesen. In den landwirtschaftlichen Unternehmen ist eineEntlastung durch die angebliche Senkung von Lohnne-benkosten wegen der geringen Anzahl von Fremdbe-schäftigten nicht zu erkennen. Aber die Kosten für Dieselund Strom schlagen in der Landwirtschaft voll durch.
Die Probleme aufgrund der Kosten, die sich in diesemJahr durch die außergewöhnliche Vorsommertrockenheit,die erschwerten Erntebedingungen aufgrund des starkenRegens und die Aufwendungen für Trocknung ergaben,werden im nächsten Jahr ein Sterben von Landwirt-schaftsbetrieben in einer gewaltigen Größenordnung ver-ursachen, wenn da nicht gegengesteuert wird.Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Regierungskoalition, auch bitten: Denken Sie irgend-wann noch einmal an die Einwohner in den Flächenlän-dern. Gerade die Menschen in Mecklenburg-Vorpom-mern, die in diesem sehr dünn besiedelten Bundesland alsBerufspendler lange Wege zur Arbeit zurücklegen müs-sen, können überhaupt nicht erkennen, dass irgendwelcheSenkungen von Lohnnebenkosten in kleinem Umfang– das ist schon häufig beschrieben worden – die Belastungdurch die Ökosteuer abfangen könnten. Die höherenHeizkosten schlagen ebenso zu Buche. Im Übrigen wer-den sich auch die sozialen Dienstleistungen in denFlächenländern massiv verteuern bzw. haben sich schonverteuert. „Essen auf Rädern“ und Pflegedienste rechnenbei den Kassen heute schon höhere Kosten ab. Eine Ge-sundheitsreform lässt aber weiterhin auf sich warten.Wenn Sie mich fragen, inwieweit die kommunalenHaushalte betroffen sind, kann ich Ihnen darauf nur ant-worten: Die Schülerbeförderungskosten im ländlichenRaum sind um einen zweistelligen Prozentsatz gestiegen.Ich habe mir gestern noch die Zahlen zu den Kosten-steigerungen in der Bundesfinanzverwaltung geben las-sen. Die Kostensteigerungen für die Bundesbehörden unddie nachgeordneten Einrichtungen bei den Heizkosten,den Benzin- und Dieselkosten betragen in diesem Jahr26 Prozent. Das sind die Mehrkosten, die im Einzel-plan 08 allein durch die Ökosteuer entstehen.
– Diese Zahlen kann ich Ihnen gerne geben. Ich gehe da-von aus, dass die Beamten des Bundesfinanzministeriumsüberhaupt keinen Anlass haben, irgendwelche falschenZahlen zu veröffentlichen.Da der Kollege Urbaniak auch so blumenreich ange-sprochen hat, dass es in der Bundesfinanzverwaltung eineStrukturveränderung geben soll, gestatten Sie mir nochein paar wenige Bemerkungen zur Zollstrukturreform.Es ist natürlich nicht so, dass sich die Zollstruktur in denneuen Bundesländern in den nächsten Jahren verändernwird – ich sage Ihnen ganz ehrlich: Gott sei Dank –; denndie Annahmen, die immer gemacht wurden, dass spätes-tens im Jahr 2002 die Grenzen zu Osteuropa fallen, habensich als falsch erwiesen. Das überarbeitete Konzept derArbeitsgruppe „Strukturreform“ sieht vor, dass die Struk-turen bis zu einer vollen Mitgliedschaft der Staaten Ost-und Mitteleuropas – gerade Polens – erhalten bleiben.Aber man zerschlägt die Strukturen im Altbundesge-biet, wovon ich mich unlängst bei einem Besuch in Ba-den-Württemberg überzeugen konnte. In Horb, das imSchwarzwald, in Baden-Württemberg, liegt – wo es sehrviele mittelständische Firmen gibt, die auf den Zoll alsDienstleister angewiesen sind und die zu ihrem Zollamtein sehr gutes Verhältnis haben –, habe ich erfahren, dassdie Zollämter flächendeckend gestrichen werden. Im Mi-nisterium gibt es eine Faustformel: Rund 40 Kilometerhin und zurück, also circa 80 Kilometer, sollte der Radiusdes Einzugsbereiches betragen, für den die Zöllner tätigsind. Dazu kommt noch, dass von den Zöllnern verlangtwird, dass sie ihren Dienst mit dem privaten PKW leisten.Wer kann einem Zollbediensteten zumuten, seinen Dienstmit dem privaten PKW zu verrichten? Abgesehen davonverfügen die Zöllner im gesamten Hauptzollamtsbereichüber nur einen einzigen Laptop, was schon ein Unding ansich ist.
Die Fallzahlen, die zugrunde gelegt werden, sprechendiesen Überlegungen insgesamt Hohn, weil auch durchdie neuen Handelsströme, die sich durch E-Commerce er-geben, die Dienstleistung des Zolls vor Ort mehr gefragtwird. Sie werden uns immer auf Ihrer Seite haben, wennSie eine Zollstrukturreform durchführen, die Sinn macht.Sie würde dann Sinn machen, wenn es eine so genannteAbschichtung von Aufgaben nach unten gäbe, sodass derZoll in schlagkräftigen kleinen Einheiten flächendeckendvor Ort ist und seine Funktion als Dienstleister für dieWirtschaft wirklich wahrnehmen kann.
Darum lassen Sie uns im Haushaltsausschuss kämpfen!
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Susanne Jaffke11106
Leider ist die Zeit hier immer knapp bemessen. Ichhätte gern noch etwas zu den so genannten Versprechun-gen, die der Herr Bundeskanzler zur Steuerreform ge-macht hat, gesagt. Dazu kann ich nur wiederholen:Vollmundige Ankündigungen, gerade für das Land Meck-lenburg-Vorpommern, wie der Ausbau einer Bahntrassevon Berlin nach Rostock, hat es gegeben. Das ist im Haus-halt bisher nicht aufgetaucht.
Das gilt auch für das Gaskraftwerk am Standort Greifs-wald/Lubmin. Dort soll es angeblich Bundesbürgschaftengeb
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Über diese Bürgschaften wurde
überhaupt nicht verhandelt. Ich frage: Was stimmt eigent-
lich?
In diesem Sinne kann ich Ihnen nur eines sagen, liebe
Kollegen von der Regierungskoalition: Lassen Sie sich
von Ihrer Regierung nicht vorführen, sondern seien Sie
endlich einmal kreativ, auch in den Verhandlungen. Neh-
men Sie das Angebot zur Veränderung dieses Haushaltes
an! Dann können wir uns vielleicht irgendwann über gute
Erfolge für Deutschland unterhalten.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmeldun-
gen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Einzelplan 05, Geschäfts-
bereich des Auswärtigen Amtes.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Siemich zu Beginn dieser heutigen Debatte an einen histo-rischen Tag erinnern, der für das Schicksal Deutschlandsvon entscheidender Bedeutung war. Es handelt sich umden Jahrestag des Zwei-plus-Vier-Vertrages, jenes Ver-trages, der die völkerrechtliche und staatsrechtliche Vo-raussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands ge-schaffen hat.Es war vor allen Dingen das persönliche Verdienst vonHans-Dietrich Genscher, damals Bundesaußenminister,diesen für die Wiedervereinigung Deutschlands wichtigenVertrag mit den Garantiemächten zustande zu bringen.
Ich meine, dass wir an dieser Stelle nicht nur dieses Er-eignisses gedenken, sondern ihm auch ganz persönlichdanken sollten.
Darüber hinaus möchte ich aber daran erinnern, dassdie Voraussetzung für den Zwei-plus-Vier-Vertrag derVertrag mit Polen war. Diesen Punkt dürfen wir nichtvergessen. Damit knüpfe ich an die aktuelle Debatte an.Damals gab es nicht die Überlegung, dass über dendeutsch-polnischen Grenzvertrag eine Volksabstim-mung stattfinden sollte. Das war gut so. Die Anerkennungder deutschen Ostgrenze und der polnischen Westgrenzewar die Voraussetzung für den Zwei-plus-Vier-Vertrag.Der Zwei-plus-Vier-Vertrag war schließlich die Voraus-setzung für die Wiedervereinigung in Freiheit. So war dieReihenfolge.An diesem Tag möchte ich besonders an die Debattenüber die schwierigen Fragen der vor uns liegenden politi-schen Integration Europas erinnern. Ich komme nachhernoch auf diesen Punkt zu sprechen.Wir befinden uns jetzt zur Halbzeit der Legislaturperi-ode, was einen Rückblick und auch einen Ausblick not-wendig macht.Unser Etat stand wie alle anderen Einzeletats unterdem Zwang knapper Kassen. Eine Trendwende einzulei-ten war notwendig. Die neue Koalition hat es sich zurAufgabe gemacht, die Sanierung des Staatshaushaltes alseinen zentralen Beitrag zur Gesundung der deutschenVolkswirtschaft herbeizuführen.Für diese Trendwende gab es viele innenpolitischeGründe. An erster Stelle stand die hohe Arbeitslosigkeit,die nicht länger hingenommen werden konnte. Aber auchaus europa- und außenpolitischer Sicht war und ist eszwingend notwendig, dass wir die volle ökonomischeHandlungsfähigkeit wiedergewinnen, damit wir unsereVerantwortung im Konzert mit unseren wichtigstenBündnispartnern wahrnehmen können.
Obwohl ich als Ressortchef den Kopf für die Einsparun-gen hinzuhalten habe, sage ich, dass man in Zukunftabwägen muss, ob nicht bei weiteren Einsparungen dasVertrauen, das über Jahrzehnte gewachsen ist, gefährdetwird.Da die Opposition, nachdem sie 16 Jahre die Verant-wortung für diese Entwicklung hatte, schon nach zweiJahren Erholungspause – eine sehr kurze Erholungspause,die zweifellos noch länger andauern wird, Herr KollegeLamers – anscheinend an Gedächtnisschwund leidet,kann ich Ihnen nur sagen: Sie hätten die Voraussetzungenfür Veränderungen in den Jahren Ihrer Regierungsverant-wortung – das ist kein billiges Ablenken auf die 16 JahreIhrer Regierungszeit –, spätestens nach der deutschenEinheit schaffen müssen, sodass wir die Einschnitte in denvergangenen zwei Jahren nicht mehr gebraucht hätten.Die Trendwende wäre früher möglich und nötig gewesen,Kollege Lamers. Das wissen Sie so gut wie ich.
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Susanne Jaffke11107
– Zur Volksabstimmung komme ich nachher noch. Wennsich CDU und CSU in diesem Punkt mittlerweile auf einegemeinsame Position geeinigt haben, freut mich das. Ichhöre dazu höchst unterschiedliche Stimmen.
Ich höre sehr verantwortungsvolle Positionen von derCDU und die üblichen populistischen Verlautbarungenvon der CSU. Wie wir ja wissen, sind sie nicht so ernst ge-meint. Beim Euro haben wir es ja gesehen.
Da Sie die Volksabstimmung angesprochen haben:Glauben Sie denn allen Ernstes, dass die Frage der Ost-erweiterung Gegenstand einer Volksabstimmung werdenkann? Ich bin nun als Mitglied meiner Fraktion weiß Gottkein Gegner von Volksabstimmungen. Aber es muss sichum abstimmungsfähige Fragen handeln.
Über den Zwei-plus-Vier-Vertrag und auch über dendeutsch-polnischen Vertrag konnte nicht abgestimmt wer-den. Wohl aber kann über weitere Souveränitätsübertra-gungen in Richtung der Vollendung der europäischen In-tegration abgestimmt werden. Darüber nachzudenken, indiesem Bereich einen Konsens herzustellen, weil dieseine Verfassungsänderung notwendig macht, halte ich fürrichtig.
Wenn es dafür eine verfassungsändernde Mehrheit gibt,bedarf dies der sorgfältigen Diskussion und Prüfung.Was wir als Altmitglied der Europäischen Union aberauf keinen Fall machen dürfen, ist, im Rahmen einerVolksabstimmung zu entscheiden, ob unsere Nachbarlän-der Polen oder Tschechien beitreten können.
Denn wenn diese Volksabstimmung Sinn machen soll,dann müssten wir unseren Bürgerinnen und Bürger sagen:Eigentlich habt ihr über gar nichts abzustimmen. Wennwir mit Nein stimmen würden, müssten wir die erfolgrei-che deutsche Außenpolitik der letzten fünf Jahrzehnte,also auch die CDU/CSU-geführter Regierungen, ad actalegen.
In diesem Punkt wird eine Volksabstimmung nicht ge-hen. Sie ist bei diesem Anlass das falsche Instrument. Dasist mein Argument dagegen. Das weiß Herr Stoiber sehrgenau. Herr Lamers hat dies sehr klar artikuliert.
– Günter Verheugen war bei mir Staatsminister. Ichschätze ihn überaus; denn Günter Verheugen macht einekompetente Politik. Gerade bei den Beitrittsstaaten findeter große Zustimmung. Günter Verheugen hat ohne Wennund Aber gesagt: Das war ein Fehler; ich bin hier miss-verstanden worden.
Ich finde es richtig, dass ein Politiker, wenn er einen Feh-ler macht, dies zugibt. Denn dies stellt Vertrauen wiederher. Ich würde mir wünschen, dass Sie von der CDU/CSUIhre Fehler genauso offen eingestehen. Wenn das so wäre,wären wir wesentlich weiter.
Möge Günter Verheugen mit seiner Ehrlichkeit überHerrn Koch kommen und uns allen wäre sehr gedient!
– Dass hier ausgerechnet ein langjähriges Mitglied desCDU-Landesvorstandes Hessen von Verkommenheitspricht, erstaunt mich, mit Verlaub, sehr, Frau Kollegin.
Ich kann mir das bei Ihnen nicht verkneifen. Wir beidesind Hessen, also Landsleute. Angesichts dessen kann ichIhnen nur sagen: Dieser Zuruf von Ihnen schlägt dem Fassnun wirklich den Boden aus.
Meine Damen und Herren, wir stehen in Europa mitder Erweiterung vor der größten Herausforderung, die dieGeschichte uns gestellt hat. Ich habe den Zwei-plus-Vier-Vertrag erwähnt. Die deutsche Einheit war das Ergebnisdes Endes der europäischen Teilung. Die jetzige Bun-desregierung hat sich ebenso wie die Vorgängerregierungimmer dafür eingesetzt, dass die Europäische Union nichtan der ehemaligen Blockgrenze, nicht am ehemaligen Ei-sernen Vorhang aufhört und dass die europäische Eini-gungsidee gesamteuropäisch ist. Wenn unsere östlichenNachbarn Mitglied der Europäischen Union werden wol-len, dann dürfen wir ihnen dies nicht verweigern, undzwar nicht nur aus historisch-moralischen Gründen, son-dern auch aus deutschem Interesse heraus.Unser Handel mit den neuen ost- und mitteleuropäi-schen Demokratien übersteigt heute mittlerweile dasHandelsvolumen, das wir als Europäische Union in Bezugauf die USA und Kanada haben. 40 Prozent davon entfal-len auf die Bundesrepublik Deutschland. Das führt zu Ar-beitsplätzen und Perspektiven für die Menschen hier, vor
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Bundesminister Joseph Fischer11108
allen Dingen für die Menschen in den neuen Bundeslän-dern. Aus historischen und moralischen Gründen, aberauch aus aktuell-politischem Interesse heraus halten wirdie Osterweiterung der Europäischen Union für unver-zichtbar.
Nur, es geht hier nicht um abstrakte Versprechungen,sondern ganz konkret um die Umsetzung des Beschlussesvon Helsinki, darum, in den entsprechenden Verhandlun-gen Nägel mit Köpfen zu machen: Rechtsgebiete müssenübernommen werden; Strukturen müssen angepasst wer-den; eine gegenseitige Wettbewerbsfähigkeit muss aufge-baut werden. – Diesen Prozess hat Günter Verheugen vo-rangebracht. Hierbei hat er unser volles Vertrauen. Er wirddie gute Arbeit, die er meines Erachtens bisher geleistethat, genauso gut fortführen.
Der entscheidende Punkt hierbei ist die Solidität, dieArt, wie diese Arbeit gemacht wird. Dafür ist die Kom-mission, dafür sind aber auch die Mitgliedstaaten Garan-ten. Denn wir wollen einen Erfolg. Dort, wo es Ängstegibt, müssen diese Ängste aufgegriffen, dort, wo Auf-klärung notwendig ist, muss Aufklärung betrieben wer-den. Die Bundesregierung ist entschlossen, dies zu tun,weil wir das Volk mitnehmen wollen.Wir müssen sehen: Der Einwanderungsdruck von derIberischen Halbinsel ist 1986 nach dem Beitritt geringergeworden. Wir müssen den Menschen doch sagen: Be-züglich des Arbeitsmarktes müssen wir keine Angst vorPolen, Tschechien und Ungarn, die in die EuropäischeUnion eintreten, haben. Es wird die notwendigen Über-gangsfristen und Überprüfungsklauseln geben. Wennfestgestellt wird, dass diese Übergangsfristen nicht mehrnotwendig sind, weil die Anpassung erfolgreich abge-schlossen wurde, kann der Prozess abgekürzt werden –wenn nicht, dann nicht.Das alles sind Erfahrungen, die bereits bei der Süd-erweiterung gemacht wurden. Wir müssen aber gleich-zeitig auch sagen, dass die Süderweiterung eines dergroßen politisch und ökonomisch erfolgreichen Projekte,auch was die Arbeitsplätze betrifft, war. Diesen Erfolgwollen wir bei der Osterweiterung wiederholen.
Es besteht ein enger Zusammenhang mit der Vertie-fung. Diese Debatte wurde Gott sei Dank im Vorfeld vonNizza geführt. Ich stimme all denen zu – zumindest unterden Pro-Europäern gibt es in allen Fraktionen einen ho-hen Konsens –, die sagen: Wir werden neben den drei ent-scheidenden Punkten – Zusammensetzung und Größe derKommission, Stimmgewichtung und Mehrheitsentschei-dung – die Frage der verstärkten Zusammenarbeit alsvierten Punkt dazunehmen, wir werden die Frage der An-nahme des Entwurfs für eine Europäische Grundrechte-Charta aufgreifen. Sie wird der erste Teil einer euro-päischen Verfassung sein.Ich habe bei einem Kommentator, der das sehr herab-gewürdigt hat, gelesen, es würde sich dabei nur um ge-drucktes Papier handeln. Ich halte das für eine völligfalsche Einschätzung. Das ist der Beginn einer europä-ischen Verfassung, was die Grundrechte betrifft. Sie regeltnoch nicht die institutionellen Fragen. Deswegen stimmeich all denen zu, die fordern, dass in die Verhandlungenvon Nizza die ersten Bestandteile einer europäischenVerfassungsdebatte einfließen müssen und diese euro-päische Verfassungsdebatte nach Nizza in Richtung einesumfassenden europäischen Verfassungsvertrags fortge-führt werden muss. Denn ich bin der festen Überzeugung– das ist mein Eindruck aus der Diskussion mit den Men-schen –, dass ein Gutteil des vorhandenen Eurofrusts vonder Nicht-mehr-Nachvollziehbarkeit, der Intransparenzder Kompromissstrukturen der Staatengemeinschaftherrührt, die in Brüssel im bestehenden institutionellenGefüge die Beschlüsse ausarbeitet.Das heißt, wir müssen im Rahmen einer Verfassungs-debatte und eines Verfassungsvertrags klären, was woentschieden wird. Diese Frage ist eine Frage der Souve-ränitäts- und Machtverteilung zwischen Nationalstaaten,zwischen den Ebenen der Länder, der Kommunen und dereuropäischen Ebene. Dies muss so entschieden werden,dass die Menschen nicht nur nachvollziehen können, wasin Berlin geschieht – das ist manchmal schwierig genug –,sondern auch, was in Brüssel geschieht. Das wird der ent-scheidende Punkt sein.Ich habe allen Kollegen beim letzten informellen Tref-fen gesagt: Wenn wir diesen Schritt jetzt nicht gehen,wenn wir nicht mehr Transparenz und Demokratie schaf-fen, dann sehe ich keine denkbare demokratische Mehr-heit im Deutschen Bundestag – egal, wie die Zusammen-setzung der Bundesregierung nach der kommendenBundestagswahl sein wird –, die nach 2006 bereit wäre,zusätzliche Belastungen mehrheitsfähig zu machen. Siewird es schlicht und einfach deshalb nicht tun, weil esdafür kein Verständnis beim deutschen Volk mehr gebenwird.Auch aus diesem innenpolitischen Grund wird es ganzentscheidend sein, dass wir die Erweiterung als histori-sche Herausforderung begreifen. Wir dürfen keine Ku-lanzentscheidung treffen. Es darf aber auch keine Verzö-gerungen, keine vorgeschobenen Gründe scheinbarobjektiver Natur geben, weil einem ein Mitgliedslandnicht passt. Wir müssen die Vertiefung vorantreiben. Dasist die wichtigste Herausforderung, vor der die deutscheAußenpolitik in den kommenden Jahren steht.
Das ist eine Herausforderung, an der man auch klar-machen kann, was die Außenpolitik in unserem Landtatsächlich in den vergangenen zwei Jahren geprägt hat:Das ist der Wandel in der Kontinuität.Das gilt auch für den Balkan. Natürlich waren all dieseElemente schon unter der Vorgängerregierung angelegt:etwa die Aufstellung des Kontingents zu wesentlichenTeilen, oft kontrovers diskutiert und dann von Teilen derOpposition mitgetragen.
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Bundesminister Joseph Fischer11109
Wir stehen heute vor schwierigen Entscheidungen. Wirhoffen – obwohl wir wissen, dass Milosevic alles tunwird, um die freie Willensäußerung des serbischenVolkes, wenn es denn dazu kommt und eine Mehrheit fürihn nicht in Sicht ist, zu verfälschen –, dass alles getanwird, damit die demokratische Opposition einen Erfolghat, und wir hoffen vor allen Dingen, dass die Diktaturvon Milosevic in Belgrad keine Zukunft hat, sondern auchin Belgrad Demokratie einziehen wird. Das ist der ganzentscheidende Punkt.
Die Entwicklung in Montenegro steht damit in engemZusammenhang. Wir müssen alles tun, um die demokra-tische Regierung von Präsident Djukanovic vor allenDingen ökonomisch zu stabilisieren. Der Versuch vonMilosevic geht dahin, den Rückhalt im montenegrini-schen Volk für den gewählten Präsidenten und seine Re-gierung zu unterminieren, indem die Wirtschaft, indemdie sozialen Verhältnisse entsprechend negativ beeinflusstwerden. Hier können wir unseren Beitrag leisten, hiermüssen wir unseren Beitrag leisten. Ich denke, das istunter Präventivgesichtspunkten von ganz entscheidenderBedeutung.Aber auch im Kosovo wird es darum gehen, einen lan-gen Atem zu haben. Ich höre immer die Frage nach derExit-Strategie. Jüngst habe ich ein hochinteressantesBuch über die amerikanische Nachkriegsgeschichte gele-sen. Kollege Lamers, die erste Debatte im Kongress überdie Exit-Strategie in Bezug auf Europa fand 1946 statt. Daging es los: dieselben Argumente, dieselben Sätze, diesel-ben Worte. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir müssen ge-meinsam mit unseren Partnern die Dickschädeligkeit, denlangen Atem, aber auch die Entschlossenheit haben, dieseRegion, die Teil Europas ist, an Europa heranzuführenund dann, wenn sie es will, langfristig in Europa hinein-zuführen. Oder diese Region wird aus dem Teufelskreisvon Gewalt und einem aggressiven mörderischen Natio-nalismus nicht herauskommen.
Hier möchte ich allen Beteiligten, der Bundeswehr,den eingesetzten Polizeibeamten, den Zivilbeamten, denNichtregierungsorganisationen, meinen nachdrücklichenDank aussprechen. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundes-tag an seiner vollen Unterstützung für die Fortführungdieser einst gemeinsam beschlossenen Politik festhält.
Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihevon Themen, die ich angesichts der abgelaufenen Rede-zeit nicht mehr ansprechen kann. Ich möchte in diesemZusammenhang nur einige erwähnen.Es wäre wichtig, noch über die Erneuerung des trans-atlantischen Verhältnisses zu sprechen, wobei wir dies imLichte der Wahlentscheidung vermutlich profunder tunkönnen. Aber wir müssen es tun. Das ist eine der ganz zen-tralen Herausforderungen.Die Frage der Zukunft Russlands ist eine zweite, unssehr bedrängende Frage. Voraussetzung wird sein, dass esgelingt, dort dem Rechtsstaat zum Durchbruch zu verhel-fen. Das ist das A und O auch für die ökonomische Stabi-lisierung.Weitere Fragen betreffen die neuen Konfliktregionenin Zentralasien, den neuen Krisengürtel, der mit dem nu-klearen Rüstungswettlauf auf dem indischen Subkonti-nent bis nach Südasien reicht, ferner die Chancen für dieEuropäische Union im Nahen Osten und im Mittelmeer-raum sowie unsere Rolle in den Vereinten Nationen.Ich nenne auch noch Afrika, diesen scheinbaren Kon-tinent der Hoffnungslosigkeit, bei dem wir allerdings dieHoffnung nicht aufgeben dürfen, weil er direkter Nachbarist und wir auch dort eine tief empfundene humanitäreVerpflichtung haben. Wir müssen vor allen Dingen dieChancen, die es dort gibt, sehen und fördern. All das sindPunkte, die noch diskutiert werden müssten.Ich möchte jedoch einen letzten Punkt ansprechen. Dasist die jetzt getroffene Entscheidung der 14 Mitgliedstaa-ten der Europäischen Union zu Österreich.Was hat mandazu in den letzten Tagen nicht alles an triumphierendenÄußerungen – die Forderung, man möge sich entschuldi-gen, und Ähnliches – gehört! Da kann ich nur fragen: Fürwas denn?
– Entschuldigung, einen Teufel werde ich tun.
Ich sage Ihnen: Sie müssen den Bericht der Drei Wei-sen einmal lesen.
Ich hatte nie Zweifel daran. Für mich war das überhauptkeine Frage. Ich zweifle nicht am Rechtsstaatlichkeits-charakter der Republik Österreich.
– Was, ach was? Das war nie die Frage. Die Frage war,warum die FPÖ von der ÖVP in die Regierung geholtwurde. Die Frage ist die nach dem Charakter der FPÖ.
– Lesen Sie einmal das Gutachten der Drei Weisen, dasFPÖ-Kapitel, durch. Wenn Sie das lesen, wird Ihnen jedesTriumphgeheule ersterben.
Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Die Bundesregie-rung unterstützt gemeinsam mit den anderen Partnern volldas Vorgehen der französischen Präsidentschaft. Wir wer-den hier umgehend die Konsequenzen aus dem Gutachten
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Bundesminister Joseph Fischer11110
ziehen. Das Gutachten ist entsprechend umzusetzen.Dazu brauchen wir überhaupt nicht die schönen Lippen-bekenntnisse über Verteidigung der Demokratie oder garüber die Vollendung der politischen Integration Europasin den Mund zu nehmen. Wir müssen festhalten, dass einePartei, die ganz offensichtlich Fremdenfeindlichkeit zumBestandteil ihres Programms – zumindest in Wahlkämp-fen – erklärt und die ein dubioses Verhältnis zur national-sozialistischen Vergangenheit hat, in einem vereintenEuropa als Regierungspartei nicht selbstverständlich seindarf. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
Deswegen, meine Damen und Herren, gibt es an die-sem Punkt nichts zu entschuldigen, sondern es gibt jedenGrund, genau hinzuschauen, wie es die Drei Weisen vor-geschlagen haben. Das werden wir auch in Zukunft tun.Ich bedanke mich.
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Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Die Lautstärke, mit der derMinister die Blamage, die er mit verschuldet hat, hier um-zudrehen versucht, den Vorgang als gerechtfertigt hinzu-stellen versucht, kann natürlich beim allerbesten Willennicht verdecken, dass Sie, Herr Minister, nicht nur den bi-lateralen Beziehungen zwischen Österreich und der Bun-desrepublik Deutschland, sondern auch der europäischenSache schweren Schaden zugeführt haben.
Das ist ja nun wirklich nicht nur unser Urteil. In der„Neuen Zürcher Zeitung“ von Montag ist die Rede vonder politischen Sprengkraft, von der Fragwürdigkeit desVorgehens, von der groben Missachtung der Verpflich-tungen gegenüber einem Mitgliedstaat unter bewussterUmgehung der Institutionen und einschlägiger Bestim-mungen des Unionsvertrages; rechtlich mehr als fragwür-dig, in jeder Beziehung unsäglich. Sie sollten wirklichversuchen, alles in Ihren Kräften Stehende zu tun – auchim Interesse der eigenen Regierung – um die Sanktionenjetzt ohne weiteres Hakenschlagen oder Nachkarten undohne Bedingungen einzustellen.
Wir reden heute über den Haushalt. Wenn der Haushaltder Ausdruck der Prioritäten ist, die sich ein Land setzt,dann setzt diese Regierung die Prioritäten falsch. Dennder Entwurf des Bundeshaushalts spiegelt nicht die lang-fristigen, die wirklich nationalen Interessen unseres Lan-des wider. Diese nämlich hängen immer mehr – das wis-sen wir doch alle – von Wohl und Wehe all unserer Nach-barn im engeren wie im weiteren Sinne ab.Die Bedeutung der Außenpolitik für Sicherheit undWohlergehen der Völker hat in dieser einen, immer engerzusammenwachsenden Welt generell zugenommen. FürDeutschland, wie wir alle völlig übereinstimmend sagen,gilt das doch in ganz besonderer Weise.Es geht heute um Sicherheit im umfassenden Sinne unddamit in der Tat um existenzielle Fragen, um existenzielleAbhängigkeiten. Das Bewusstsein von der Globalität,von der einen Welt, von der wechselseitigen existenziel-len Abhängigkeit ist in allen westlichen Gesellschaftennicht gut entwickelt, in der deutschen ganz besonders we-nig. Das mache ich Ihnen natürlich nicht zum Vorwurf,Herr Minister. Ich mache Ihnen aber zum Vorwurf, dassSie, indem Sie überhaupt nicht gekämpft haben, es denLeuten noch weiter erschweren, zu erkennen, wie abhän-gig wir eigentlich sind. Wie sollen die Bürger denn einGefühl für diese Abhängigkeit entwickeln, wenn Sie zwarheute sagen: „So geht es nicht weiter“ – wie auch auf derBotschafterkonferenz –, das aber zum ersten Mal tun? Daskann man beim allerbesten Willen doch nicht „kämpfen“nennen.Indem Sie die Vorgängerregierung beschimpfen, wol-len Sie nur davon ablenken, dass Sie nicht gekämpft ha-ben, Herr Minister. Sie sind doch angetreten mit dem Vor-satz, nicht alles anders, sondern alles besser zu machen.Sie machen es nicht besser, sondern Sie machen esschlechter.
Das ist nichts als die Wahrheit.Sie haben gesagt: Deutschland wird öfters gefordertsein. – Ja, natürlich. Deutschland wird in globalem Um-fang gefordert sein. Die Folgen der von Ihnen ange-kündigten strategischen Überprüfung unserer nationalenInteressen werden mit Sicherheit mehr Geld kosten. DerAußenminister wird aber im nächsten Jahr real wenigerGeld zur Verfügung haben als im letzten Jahr. Wenn Siedas als einen Ausweis Ihrer Stellung in der Regierungansehen, dann habe ich dieser Aussage nichts hinzuzufü-gen.
Herr Minister, wenn Sie nicht kämpfen, vielleicht weilSie zu verlieren drohen, dann können Sie nicht erwarten,dass Sie die Unterstützung der Öffentlichkeit, in diesemFalle auch die Unterstützung der Opposition, bekommen.Sie brauchen aber die Unterstützung aller politischen undgesellschaftlichen Kräfte.Sie gehen nicht mit gutem Vorbild voran. Dennochschlage ich Ihnen vor, einmal zu überlegen, ob nicht Par-lament und Regierung gemeinsam eine Gruppe von sach-verständigen und engagierten Frauen und Männern ein-setzen sollten, die so konkret wie möglich abzuschätzensucht, welche Mittel für die Außenpolitik adäquat wärenund den gestiegenen Anforderungen, von denen wir alleübereinstimmend reden, einigermaßen entsprächen. Ich
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Bundesminister Joseph Fischer11111
weiß, der Umgang der Regierung mit Kommissionsergebnissen – Stichwort: Von-Weizsäcker-Kommission –ist nicht gerade ermutigend. Denn ohne eine Debatte überdas Ergebnis einer Kommission ist ihre Einsetzung sinn-los und nichts als eine Alibiübung. So verstehe ich dasGanze nicht. Ich mache das ernsthafte Angebot, dass wireinmal überlegen: Welche Mittel müssen in Zukunft fürdie Außenpolitik zur Verfügung gestellt werden, wenn siewirklich den Interessen unseres Landes gerecht werdensoll?Das gilt natürlich auch für die von Ihnen zu Recht ge-plante Reform des auswärtigen Dienstes. Wir werdendieses Projekt konstruktiv begleiten, wenn Sie es wollen.Aber auch hier wird es Geldes bedürfen.Die Bilanz der bisherigen Regierungspolitik auf demauswärtigen Feld ist jedenfalls nicht sonderlich glänzend.Mir ist unklar, welche Stellung der Außenminister indieser Regierung hat. Zuweilen entsteht der Eindruck,Sie, Herr Fischer, seien zuständig für Moral und Visionund der Bundeskanzler für die Politik. Vielleicht ent-spricht diese Aufgabenteilung der Art, mit der allein sichdiese Koalition zusammenhalten lässt. Dabei frage ichmich allerdings, wie lange es Ihre Fraktion noch mit-macht, wenn Sie sich beispielsweise – ein sehr typischerFall – im Bundessicherheitsrat in der Frage der Rüstungs-exporte überstimmen lassen. Ihre Fraktion muss sich fra-gen, ob Sie sich nicht gerne überstimmen lassen.
Die Entscheidung zur Lieferung der Munitionsfabrik indie Türkei müsste auch den Weg zur Lieferung des Leo-pard-2-Panzers ebnen, wenn sich die Türkei für dessenKauf entschiede. Das wäre doch eigentlich ganz logisch.Deshalb wird in der Koalition dieser Streit geführt. DieSPD scheint sich nun aber die Zusage zur Munitionsfa-brik mit der Absage der Leopard-Panzerlieferung er-kaufen zu wollen. Die Inkonsequenz und die Doppel-züngigkeit der deutschen Türkeipolitik können nichtklarer zum Ausdruck gebracht werden.
Herr Fischer, wenn man der Türkei als NATO-Partnernicht einmal eine Munitionsfabrik liefern möchte, obwohlsie damit eine NATO-Vorgabe erfüllen möchte, dann stelltsich natürlich die Frage, ob sie überhaupt NATO-würdigist. Wenn sie aber nicht NATO-würdig ist, dann ist siedoch erst recht nicht EU-würdig. Das passt doch beimallerbesten Willen vorne und hinten nicht zusammen.
Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion derGrünen, im Übrigen haben diejenigen, die, um die Muni-tionsfabrik zu verhindern, darauf hingewiesen haben,dass Gewehre im Hinblick auf den Kurdenkonflikt ge-fährlicher seien als Panzer, ein besonders gutes Argumentfür die Lieferung der Panzer gebracht. Das war ganzgewiss nicht Ihre Absicht.
Aber das alles zeigt doch, dass Sie sich hier hoffnungslosverheddert haben, und gibt Aufschluss über die Stellungdes grünen Außenministers in dieser Bundesregierung.Im Übrigen wird die Sache noch absurder, wenn mansich vor Augen führt, dass die Türkei, auch wenn sie sichfür das französische oder das amerikanische Produktentscheidet, ein im Kern deutsches Produkt bekommt;denn das, was einen Panzer ausmacht – Mobilität undFeuerkraft –, ist in beiden Fällen deutsche Technik.Schlimmer als das Hickhack bei dieser Angelegenheitkann es gar nicht sein, die in ihrer Bedeutung von mirnicht überschätzt wird, die aber doch einiges über den Zu-stand der Regierung beim Thema Türkei aussagt.Im Übrigen ist das Thema der Waffenlieferung in dieTürkei ein letztes Fingerhakeln in Sachen Menschen-rechte.Dieses Thema hätte ich vielleicht mit dem Manteldes Schweigens gnädig zugedeckt, wenn nicht der Bun-deskanzler die Chuzpe, um nicht zu sagen die Dreistigkeitbesessen hätte, auf der erwähnten Botschafterkonferenzwörtlich zu behaupten: „Das Engagement für die Men-schenrechte steht auf der Prioritätenliste dieser Regierungweit oben.“Sie, Herr Fischer, waren so klug, das Thema Men-schenrechte in Ihrer Rede bei derselben Gelegenheitgewissermaßen nur kursorisch zu erwähnen, wohl wis-send, dass die Behauptung Schröders nun wirklich durchgar nichts zu belegen ist und dies eine offene Wunde inIhrer Fraktion ist.Wo konnte man denn, um nur zwei Beispiele zu nen-nen – Tschetschenien und China –, etwas von der be-haupteten Priorität der Menschenrechte spüren? Nichtskonnte man spüren. Auch Sie haben in der Opposition undzu Beginn Ihrer Amtszeit behauptet, dass sich die gesamteAußenpolitik an den Menschenrechten orientieren müsse.Heute reduziert sich dieses Streben auf die erwähntengrotesken Klimmzüge in der Frage der Waffenlieferung indie Türkei.Ich war – das will ich gerne einmal heute sagen –ebenso gespannt wie skeptisch, ob es Ihnen gelingenwürde, der deutschen Außenpolitik einen stärkeren men-schenrechtlichen Stempel aufzudrücken. Sie kennen michgut genug, um mir zu glauben, wenn ich sage: Ich hättekeine Probleme gehabt, dies auch öffentlich anzuerken-nen, wenn Ihnen dieses Kunststück gelungen wäre.In Ihrer Oppositionszeit haben Sie uns, die damaligeRegierungskoalition, in einer Art und Weise angegriffen,von der ich heute gerne gestehe, dass sie mir oft wehge-tan hat, und zwar nicht, weil jeder sachliche Anlass IhrerKritik gefehlt hätte, sondern weil Sie den Eindruck er-weckt haben, als fehle es uns nicht nur an gutem Willen,sondern als hätten wir kein Herz im Leibe, als würden wirnicht unter dem Dilemma von Menschenrechten und denrealen Möglichkeiten der Politik leiden.
Heute, Herr Minister, habe ich den Eindruck, dass Sienicht einmal unter diesem Dilemma leiden. Jedenfallshabe ich es noch nie gespürt. Nicht nur ich frage mich,welche Folgen es für die Identität und die Zukunft der
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Karl Lamers11112
Grünen hat, nachdem sie während des Kosovokriegesvom Pazifismus und mit dem Pseudoatomausstieg vondem Kern- und Symbolthema ihrer Umweltpolitik Ab-schied genommen haben. Herr Schröder steht bereit, siezu beerben. Darin sieht er auch einen wesentlichen Zweckder Koalition mit Ihrer Partei. Allerdings wird er mitSicherheit auch noch erleben, welche Folgen seine Politikfür den linken Flügel seiner eigenen Partei haben wird.
Das Thema Europa wird heute noch näher vom Kolle-gen Hintze behandelt werden. Ich will mich nur auf einenAspekt beschränken. Sie, Herr Minister, haben in IhrerRede vor der Botschafterkonferenz davon gesprochen,dass Sie hofften, im Jahre 2005 die ersten Beitrittsländerin der Europäischen Union begrüßen zu können. Der Bun-deskanzler hat bei derselben Gelegenheit an dem Zielda-tum 2003 festgehalten.
– Nein, davon war nicht die Rede, Herr Kollege Erler. –Auch hier wäre ganz gewiss eine bessere Koordinierungwünschenswert gewesen. Nun weiß ich, dass Ihre Sichtder Dinge, Herr Minister, wahrscheinlich die realisti-schere ist. Ich weiß sehr wohl, dass hinter verschlossenenTüren allenthalben auch in Brüssel über dieses von Ihnengenannte Datum gesprochen wird. Es ist sowohl die Folgeunzureichender Reformfähigkeit der Beitrittsländer alsauch unzulänglicher Aufnahmefähigkeit der Europä-ischen Union – nicht nur, was die institutionelle Reformangeht, sondern auch die finanziellen Voraussetzungen,von denen wir von Anfang an gesagt haben: Sie sind durchdie Agenda 2000 nicht geschaffen worden. Das wird jajetzt indirekt von Ihnen und direkt von Brüsseler Kom-missaren bestätigt.Wenn diese Perspektive aber richtig ist, dann wissenwir alle, welche Gefahren damit verbunden sind: einNachlassen der Reformbereitschaft, tiefe Enttäuschungenbei unseren Nachbarn. Deswegen bitte ich, wirklich ein-mal zu überlegen – ein Gedanke, den Kollege Scharpingund ich schon zu Beginn der 90er-Jahre zum Ausdruck ge-bracht haben –, ob es angesichts dieser Tatsachen, die jaletzten Endes im wirtschaftlichen Bereich liegen, nichtangemessen ist, eine Art politische Mitgliedschaft derBeitrittsländer ins Auge zu fassen, sie dort zu beteiligen,wo man sie beteiligen kann und wo wir sie, beispielsweisebei der Innen- und Justiz- sowie bei der Migrationspolitik,dringend brauchen. Wir brauchen sie aber ebenfalls beider Außen- und Sicherheitspolitik und bei der Verteidi-gung, sicher auch bei der Diskussion um einen Verfas-sungsvertrag, von dem auch Sie eben gesprochen haben.Dieses große Projekt, das wir unverändert als ganz ent-scheidend für die innere Balance der Europäischen Unionund für die Stabilität auf unserem ganzen Kontinent anse-hen, darf nicht gefährdet werden durch eine tiefe Ent-täuschung.Im Übrigen würde ein solches Vorgehen, wie ich esangedeutet habe, auch ermöglichen, zwischen den Bei-trittsterminen zu differenzieren, ohne bei anderen denEindruck der Diskriminierung hervorzurufen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lamers,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich weiß das, Frau Präsi-
dentin. – Mir lag daran, Ihnen auch diesen Gedanken mit
besonderem Nachdruck ans Herz zu legen. Ich glaube –
insofern sind wir ja einer Meinung –, dass dies in der Tat
eine der Schicksalsfragen für die Europäische Union und
natürlich vor allen Dingen für unser Land ist.
Wenn Sie eine solche Politik mit mehr – ich möchte
nicht sagen: Engagement – Realitätssinn verfolgen, dann,
Herr Minister, haben Sie unsere Unterstützung, aber nicht,
wenn Sie aus koalitions- und parteiinternen Gründen
einen solchen Hickhack veranstalten wie bei den Themen,
die ich eben erwähnt habe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die Bundesregierung präsentiertsich bei dieser Haushaltsdebatte mit einer positiven Leis-tungsbilanz zur Halbzeit. Zu der hat auch die deutscheAußenpolitik, haben auch die Aktivitäten der Bundesre-gierung in der internationalen Politik beigetragen. Die Ba-sis dafür ist die gute Zusammenarbeit zwischen dem Aus-wärtigen Amt und dem Parlament, sind die koordiniertenAktivitäten von Regierung und Regierungsfraktionen,aber auch die im Kern derzeit nicht gefährdete Haltungeines Grundkonsenses zwischen allen Fraktionen in die-sem Raum.Herr Kollege Lamers, an diesem Eindruck haben Siedurch Ihre – entschuldigen Sie – etwas lustlos vorgetra-gene Kritik in kleiner Münze nichts ändern können. DerGrundkonsens wird nicht beschädigt, wenn Sie etwas zuÖsterreich sagen, ein bisschen zu etwas mehr Geld, wobeiSie wieder nicht sagen, woher es kommen soll, und dannnoch das Thema Rüstungsexporte antippen.Lokomotive dieses Erfolges ist der Außenministerselbst. Das kann er nur durch die tüchtige Arbeit von vie-len tausend Mitarbeitern, im Hause wie auch im Ausland.Ich finde, dafür muss man auch einmal Dank und Aner-kennung in dieser Debatte aussprechen.
Der Lohn ist – auch das scheint Ihnen entgangen zu sein,Herr Kollege Lamers – eine sehr breite, eine erstaunlichbreite Zustimmung der Bevölkerung für die Außenpolitikund für den Außenminister.Im Gegensatz zu Ihnen stelle ich für die SPD-Bun-destagsfraktion fest, dass die rot-grüne Regierung dierichtigen Prioritäten setzt. Es ist richtig, jetzt das Haupt-augenmerk – das haben wir gerade wieder gehört – aufden Erfolg bei den strukturellen Reformen und beim Ver-trag von Nizza zu legen, zugleich die Osterweiterungsorgfältig vorzubereiten und Frankreich bei seiner
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Karl Lamers11113
wahrscheinlich historischen Aufgabe im Rahmen dergegenwärtigen Präsidentschaft zu unterstützen. HerrAußenminister, wir freuen uns, dass Sie jetzt – dabei wer-den wir Sie unterstützen – mit guten Argumenten für dieOsterweiterung noch mehr in die Öffentlichkeit gehenwollen.
Es ist unverzichtbar, bei den Bemühungen um eine Sta-bilisierung in Südosteuropa keinen Moment nachzu-lassen, neue Perspektiven auch im Sinne der europäischenIntegration dieser Länder für diese Region zu schaffenund dafür die Möglichkeiten des von Deutschlandangestoßenen Stabilitätspaktes voll zu nutzen. Es istvernünftig – das ist eine weitere Priorität –, die Instrumen-te präventiver Politik zu erweitern und sie zum Beispielintensiv in jener konfliktreichen Zone anzuwenden, dievom Nahen Osten über den Kaukasus bis hin zum Kaspi-schen Meer reicht. Hier geht es um die nächsten Be-währungsproben einer vorausschauenden Friedenspoli-tik. Deshalb wollen wir, dass Barak und Arafat zu einerFriedenslösung kommen. Deshalb wollen wir nicht nur,dass im Kaukasus die Kampfhandlungen auslaufen, son-dern auch, dass dort Konzepte einer politischen Stabilitätfür die ganze Region Raum greifen.
Deshalb wollen wir, dass soziale, wirtschaftliche und po-litische Dämme gegen eine Ausbreitung des gewaltberei-ten islamischen Fundamentalismus in Zentralasien und inder kaspischen Region errichtet werden.Es ist gut, dass der Bundeskanzler in New York diedeutsche Unterstützung für eine handlungsfähige Welt-organisation zum Ausdruck gebracht hat. Der deutscheBeitrag zur Stärkung der Vereinten Nationen ist aus derSicht der SPD-Bundestagsfraktion noch ein bisschenwichtiger als der Titel „Weltstaatsmann“, den der Bun-deskanzler mitgebracht hat und zu dem wir ihm gleich-wohl herzlich gratulieren.
Es ist notwendig, dass wir die Arbeit der Weltorganisa-tion durch Beiträge zu einer gerechteren Weltwirtschafts-ordnung erleichtern. Wir begrüßen ausdrücklich, dass derBundeskanzler eine deutsche Beteiligung an Kofi AnnansInitiative angekündigt hat, die Zahl der Menschen, die amstärksten in Armut leben, weltweit bis zum Jahr 2015 zuhalbieren. Das ist die vernünftige Fortsetzung der KölnerEntschuldungsinitiative, die eine Erweiterung auf demG8-Gipfel in Okinawa erfahren hat.Aus aktuellem Anlass füge ich, besonders an die rechteSeite des Hauses gerichtet, hinzu: Es kann nicht angehen,dass wir die Explosion der Rohölpreise auf dem Welt-markt nur durch die Brille des deutschen Verbrauchers ander Zapfsäule betrachten, anstatt uns auch um die Exis-tenzgefährdung von Millionen von Menschen zu küm-mern, die ein Dauerhochpreis für Brennstoffe auslöst.
– Hier handeln Sie schon wieder mit kleiner Münze.
Schließlich nenne ich den letzten Punkt der Prioritäten:Inzwischen ist unbestritten, dass die Entscheidung überdas Holocaust-Denkmal, unsere Beschlüsse zum Zwangs-arbeiterabkommen und die Art, wie sich die Deutschenmit dem Rechtsradikalismus im eigenen Land auseinan-der setzen, eine internationale und kaum zu überschät-zende Wirkung und Bedeutung haben. Aber besonders imHinblick auf den Kampf gegen den Rechtsradikalismuswäre es fatal, diese Aufgabe auf eine Standortfrage zu re-duzieren. Gerhard Schröder hat bei seiner Rede vor dendeutschen Botschafterinnen und Botschaftern am 4. Sep-tember, die eben schon zitiert wurde, hierzu eine gute Po-sition formuliert, die ich zitieren möchte:Ausländerfeindlichkeit und neonazistische Gewaltwerden wir in Deutschland nicht dulden. Hierzu ver-pflichten uns nicht nur historische Gründe. Es gehtauch nicht allein um den Ruf unseres Landes im Aus-land, um Investoren aus dem Ausland oder dringendbenötigte Spitzenkräfte für Wirtschaft und Wissen-schaft. Nein, es geht um ein elementares Prinzip un-serer Demokratie. Wir dürfen nicht an den Grund-werten unserer Gesellschaft rütteln lassen. WennGrundrechte wie Menschenwürde und körperlicheUnversehrtheit nicht für alle Bürger, also auch fürdie ausländischen Mitbürger, gleichermaßen gelten,dann ist unsere Werteordnung in ihrem Keim gefähr-det.
Das ist eine hervorragende Position, die ich von unsererSeite ausdrücklich unterstütze.Meine Damen und Herren, Deutschland ist heute einverlässlicher und anerkannter Partner in der interna-tionalen Politik. Für die Bürger der Hauptstadt wurdedas zuletzt sichtbar in den großen Staatsbesuchen vonClinton, Blair, Chirac, Putin, Zhu Rongji, Khatami undvielen anderen.Manchmal kann Ansehen und Einfluss des Heimatlan-des auch für einen einzelnen Bürger Bedeutung bekom-men. Wir freuen uns, dass die Bemühungen der Bundes-regierung um die Freilassung der Familie Wallert zumSchluss von Erfolg gekrönt wurden. Wir danken allendaran Beteiligten und auch der Republik Libyen für ihreUnterstützung. Ich finde, dass ebenfalls die FamilieWallert selbst, die unter größter Belastung ein Höchstmaßan Übersicht und Selbstkontrolle bewahrt hat, hier Dankund Anerkennung verdient.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesre-gierung in allen Hauptaufgaben der internationalen Poli-tik, setzt selbst aber auch eigene Schwerpunkte. In dieser
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Gernot Erler11114
Haushaltsdebatte haben wir die drei wichtigsten zu nen-nen: Besondere Prioritäten haben für uns die erfolgreicheUmsetzung des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, dieparlamentarische Begleitung der Entwicklung einer Ge-meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europä-ischen Union, der so genannten GASP, und eine eigeneInitiative zur öffentlichen Information und Argumenta-tion in Sachen Osterweiterung der EU. Einzelheiten hi-erzu wird nachher mein Kollege Günter Gloser vortragen.Der Stabilitätspakt ist und bleibt der große Test für dieFähigkeit Europas zu einer langfristigen, auf Inklusionund Kooperation abzielenden präventiven Friedenspoli-tik. Der EU-Sonderbeauftragte Bodo Hombach leistet– das ist längst europaweit anerkannt – mit einem erstaun-lich kleinen Team eine erstaunlich umfangreiche undwirksame Arbeit.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt und begleitetdiese Arbeit durch eine spezielle Arbeitseinheit. Wir ha-ben den Anstoß dazu gegeben, in das vielgliedrige Ge-bäude des Stabilitätspakts auch ein parlamentarischesStockwerk einzuziehen, unter anderem durch die Organi-sation und Durchführung von zwei Parlamentarierkonfe-renzen: die erste im Oktober letzten Jahres in Berlin unddie zweite im Juni dieses Jahres in Dubrovnik.Wir freuen uns, dass unser Staffelstab inzwischen auchvon anderer Seite aufgenommen wurde. Gerade heute undmorgen findet in Zagreb ein Gipfel aller Parlamentspräsi-denten der Stabilitätspaktstaaten statt, an dem unter an-derem Vizepräsidentin Antje Vollmer und die KolleginUta Zapf teilnehmen. Wir erwarten von diesem Gipfelweitere Anstöße für die notwendige parlamentarische Di-mension des Stabilitätspakts.Im Zuge der Haushaltsdebatte möchte ich in SachenStabilitätspakt eine sehr klare Erwartung zum Ausdruckbringen: Die Bundesrepublik hat mit der AnkündigungEindruck gemacht, 1,2 Milliarden DM in vier Jahren zurVerfügung zu stellen, und dieser wichtige Beitrag darf aufkeinen Fall in Frage gestellt werden,
und zwar weder durch eine Reduzierung der 1,2 Milliar-den DM noch durch eine zu weit greifende Streckungnoch durch eine Verwendung für andere Projekte als fürdie des Stabilitätspaktes.
Ich kündige an, dass meine Fraktion hier sehr energischeInitiativen ergreifen wird, um diese drei Punkte sicherzu-stellen und damit jeden Zweifel an dem für uns wichtigenPunkt, Erfolg des Stabilitätspakts, im Keim zu ersticken.Bei dem zweiten wichtigen Schwerpunkt, GASP, gehtes meiner Fraktion ebenfalls um die Rolle des Parlamentsbei einer solchen fundamentalen Weiterentwicklung Eu-ropas. Unerwartet schnell hat sich im letzten Jahr derHohe Repräsentant Javier Solana eine eigene Stellungaufgebaut; zudem existieren inzwischen in der Umset-zung der Beschlüsse von Helsinki ein ganzes Bündel vonneuen Institutionen der GASP, und zwar sowohl militäri-sche als auch nicht militärische. Wir haben Gespräche mitallen unseren Schwesterparteien und mit Herrn Solana inBrüssel geführt und dabei festgestellt: Es wird noch einlanger Weg sein, bis die verschiedenen Kulturen bei derAufgabe von Souveränitätsrechten zusammenkommenwerden.Uns ist hierbei besonders wichtig, dass nicht militäri-sche Initiativen und Institutionen nicht zurückbleiben.Dies bedeutet die Verstärkung der präventiven Fähig-keiten im Rahmen der GASP. Unsere Fraktion wird hierzuim Herbst einen ausführlichen Bericht vorlegen.Es gibt einen Schwerpunkt bei dem Aufbau präventiverFähigkeiten und der muss sich auch in Haushaltsentschei-dungen niederschlagen.
Nach meiner Meinung verträgt sich eine Kürzung um20 Millionen DM in diesem Bereich nicht mit der ange-sprochenen Prioritätensetzung. Auch hier werden wir unskräftig einsetzen, um eine Korrektur zu erreichen.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der KollegeGloser etwas zu dem dritten Schwerpunkt, nämlich zu derEU-Erweiterung, vortragen wird. Deshalb kann ich mirmeine Ausführungen hierzu sparen. Ich möchte nur so vielsagen: Mit einem Teil seiner Initiative – diesen akzep-tieren wir alle in der SPD – hat Günter Verheugen offeneTüren eingerannt, nämlich als er die politischen Elitenaufgefordert hat, aktiver auch mit den berechtigten,nachvollziehbaren und beantwortbaren Sorgen der Bürgerumzugehen. Wir haben schon vor seinem Appell unsereEntscheidung getroffen und eine Art Gesamtkonzept zudiesem Bereich vorbereitet.Mein Fazit ist: Es bekommt diesem Land gut, wenn dernationale und internationale Grundkonsens gewahrtbleibt. Herr Kollege Lamers, ich möchte betonen: Ichhabe Ihren Ausführungen nicht entnehmen können, dassdie CDU/CSU diesen Pfad verlassen möchte. Wir sindbereit, den Grundkonsens in den wichtigen Fragen auf-rechtzuerhalten und auszubauen und zugleich für einebreite Zustimmung der Öffentlichkeit und der Bürgerin-nen und Bürger unseres Landes hierfür zu sorgen. Wirkönnen im Augenblick über das Ausmaß des Grundkon-senses hinsichtlich der Außenpolitik dieser Regierungfroh sein. Dass dies deutliche eigene Schwerpunkt- undAkzentsetzungen der größeren Regierungspartei nichtausschließt, habe ich versucht darzulegen.Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
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Gernot Erler11115
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Werner Hoyer für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede miteinem Dank an Bundesminister Fischer beginnen. Er hatzu Recht darauf hingewiesen, dass heute vor zehn Jahrenein überaus wichtiger Vertrag zustande gekommen ist. Ichweiß es zu schätzen, dass Sie die Rolle vieler gewürdigthaben, die daran beteiligt waren, insbesondere die vonHans-Dietrich Genscher und von Markus Meckel. Es warangemessen, dass Sie das hier getan haben.
Ich hätte mir gewünscht – das sage ich, damit dasGanze nicht zu freundlich wird –, Sie hätten auf die Frage,die Ihnen mehrfach aus dem Saal entgegengeschallt ist,konkret geantwortet: Was macht er denn jetzt? Hebt ernun die Sanktionen gegen Österreich auf oder nicht?Ihr Kollege, der dänische Außenminister Niels HelvegPetersen, hat klar gesagt: Heute, innerhalb weniger Stun-den, werden die Sanktionen aufgehoben. Punkt, aus! Einesolche Antwort haben wir heute auch vom deutschenAußenminister erwartet.
Die Aufhebung der Sanktionen gegen Österreich ist fürden dänischen Außenminister natürlich außerordentlichwichtig; denn in Dänemark steht das Referendum überden Euro an. Ich fürchte, dort ist schon ein großer Scha-den entstanden. „Jyllands-Posten“, eine der großen däni-schen Zeitungen, schreibt in der heutigen Ausgabe:Der Schaden für die Jaseite– also für diejenigen, die den Beitritt Dänemarks zurEuro-Zone befürworten –ist geschehen. Ein eklatantes Fiasko, das auf Monatedie dänische EU-Debatte vergiftet hat, war dieseEntscheidung gegen Österreich.Wenn der Bundeshaushalt das in Zahlen gegosseneRegierungsprogramm einer Bundesregierung ist, wie esdie Finanzwissenschaft auszudrücken pflegt, dann ist derEntwurf des Einzelplans 05, nämlich der für das Auswär-tige Amt, eine Bankrotterklärung für die deutsche Außen-politik. Er entbehrt jeglicher Prioritätensetzung und lässtkeine ernsthafte Auseinandersetzung mit den verändertenund gestiegenen Herausforderungen an die RolleDeutschlands in der Welt erkennen. Damit steht er – dasist wichtig – in krassem Kontrast zur Rhetorik des Außen-ministers anlässlich der Botschafterkonferenz und der desBundeskanzlers bzw. – wie hieß das noch? – des „WorldStatesman“ anlässlich der Tagung der Vereinten Nationenletzte Woche in New York. Deshalb ist der Einzelplan 05eine tiefe Enttäuschung für die Angehörigen des auswär-tigen Dienstes im In- und Ausland. Sie erwarten von einerBotschafterkonferenz mehr als von einem erweitertenJahrgangstreffen. Sie erwarten nicht nur inhaltliche Per-spektiven. In dieser Hinsicht sind sie ja schon zur Genügeenttäuscht worden. Sie erwarten vielmehr auch Perspek-tiven für ihren Dienst, und zwar nicht nur für die Ziele undfür den Instrumentenkasten deutscher Außenpolitik, son-dern auch für die Mittel, mit denen die Diplomatie derPolitik helfen soll, ihre Ziele zu erreichen.Der deutsche auswärtige Dienst habe hinsichtlich derKürzungsmöglichkeiten das Ende der Fahnenstange er-reicht, so Joseph Fischer letzte Woche. Das habe ich schonvor Jahren gehört.
Aber noch nie habe ich so wenige Anstrengungen er-kennen können, daraus die Konsequenzen zu ziehen, wiebei diesem Minister.
Um es auf eine kurze Formel zu bringen: MinisterFischer kämpft nicht für den Stellenwert deutscher und in-ternationaler Politik und er kämpft nicht für sein Haus. Erkämpft nicht für dessen Fähigkeit, den gewachsenen He-rausforderungen mit den Mitteln einer Diplomatie gerechtzu werden, die auf diese Herausforderungen auch vorbe-reitet sein muss. Er gefällt sich darin, mit sorgenzerfurch-ter Stirn den globalgalaktischen Diskurs zu führen und diezusätzlichen Herausforderungen zu beschreiben.
Gleichzeitig gefällt er sich darin, die Platte vom solida-rischen Beitrag des Auswärtigen Amtes zur Haushalts-konsolidierung aufzulegen. Das passt nicht zusammen.
Wir brauchen – hier nehme ich die Anregung des Kol-legen Lamers gerne auf – in Deutschland eine Debatteüber unsere Rolle in der Welt, über internationale Politik,über internationale Wirtschaftsbeziehungen, über kultu-rellen Austausch, über alle Dimensionen von Globalisie-rung und darüber, was uns das eigentlich Wert ist. Des-wegen wäre in Anlehnung an die britische RoyalCommission eine Gruppe, die sich darüber grundsätzlichmit langfristiger PerspektiveGedanken macht, eine guteIdee.
Alle reden von Globalisierung, nur die deutsche Po-litik wird immer provinzieller. Wer, wenn nicht derAußenminister, müsste dagegen eigentlich Sturm laufen?Aber weit gefehlt: Mit Ausnahme seiner als Privatmanngehaltenen Europarede sind von Minister Fischer keinekonzeptionellen Überlegungen zu zentralen Fragen derAußenpolitik zu hören gewesen. Diese Rede bestach eherdurch die Tatsache, dass sie gehalten wurde, als durchihren Inhalt im Detail.Der deutsche auswärtige Dienst ist heute kleiner als derder alten Bundesrepublik vor der Wende. Allein imRechts- und Konsularbereich haben sich die Aufgabenvervielfacht. Das hat jetzt auch der Minister begriffen. Ineinem Brief vom 1. September schreibt der Bundesminis-ter an die Berichterstatter für den Haushalt des Auswärti-gen Amtes, wie sehr es im Visumsbereich brummt, und
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bittet, man möge doch dafür sorgen, dass die Rechts- undKonsularabteilungen der Auslandsvertretungen von denzu erwartenden pauschalen Stellenkürzungen ausgenom-men werden. So viel Chuzpe ist schon stark. Genau die-sen Antrag hat die F.D.P. für den Haushalt 1999 und denHaushalt 2000 gestellt, sogar als Gesetzesantrag einge-bracht. Er ist jedes Mal von Ihnen abgelehnt worden.Wenn Sie diesmal mitmachen wollen, sind Sie herzlicheingeladen. Sie können sicher sein, dass dieser Antrag vonuns wieder gestellt wird. Kämpfen Sie also endlich fürIhren Haushalt! Kämpfen Sie für den Auswärtigen Dienst,nicht mit uns, sondern bitte mit dem Finanzminister.
Die Schwachstellen dieser Regierung sind nicht nur inden haushaltstechnischen Punkten zu sehen, sondern auchbei den Inhalten. Bei dem Thema Menschenrechte sinddie Grünen als Tiger gestartet. Inzwischen ist ihr Außen-minister als Bettvorleger gelandet. Der Stellenwert derhumanitären Hilfe im Regierungsentwurf ist erbärmlich.Das, was zum Thema OSZE und zum Stabilitätspakt an-gemerkt worden ist, wird von mir unterstützt. Auch hiergibt es erhebliche Schwachstellen im Haushalt. Wir wer-den bei den Beratungen darauf zurückkommen.
Der angekündigte Aufschwung in der auswärtigenKulturpolitik findet nicht statt. Im Gegenteil. Um nur einBeispiel zu nennen, über das viel zu wenig gesprochenwird: Viele deutsche Auslandsschulen sind, obwohl sievon überragender Bedeutung sind, akut von Schließungbedroht.
Die Führungsrolle Deutschlands bei der für uns undunserer wirtschaftlichen, politischen und insbesondere si-cherheitspolitischen Interessen so wichtigen Osterweite-rung der EU wird zunehmend weniger erkennbar. Deut-sche Initiativen zur Überwindung der Blockade in derRegierungskonferenz zur institutionellen Reform der EUsind nicht in Sicht.Man könnte das noch lange fortsetzen, zum Beispiel imHinblick auf die Außenwirtschaftspolitik. Hier reihen sichder Bundeswirtschaftsminister und der Bundesaußenmi-nister in dieselbe Phalanx ein. Sie tun beide nichts dafür.Ich finde es schon erstaunlich, Herr Bundesaußenminis-ter, dass Sie bei den vielen Gelegenheiten, die es in denletzten Monaten gegeben hätte, nicht ein einziges Mal ei-nen der Gäste auf der EXPO empfangen haben.
Vollends wirr, meine Damen und Herren, wird es aberbei der Balkanpolitik und der Rüstungsexportpolitik. Inder Balkanpolitik haben Sie wahrscheinlich einen Preisdafür zahlen müssen, dass Sie am Anfang Ihrer Amtszeitbei einer nuklearstrategischen Frage schief gelegen ha-ben, und hinterher nicht mehr aufmucken konnten, wennandere Fehler gemacht haben. Das ist zum Beispiel bei derbedenklichen Entscheidung über die Zielauswahl der Fallgewesen mit dem Ergebnis unnötiger Zwangssolidarisie-rung des serbischen Volkes mit seinem Diktator. Früherhätten Sie, Herr Fischer, gesagt: Der deutsche Außenmi-nister organisiert die Abdankung der Politik gegenüberdem Militär.Vollends wirr wird es in der Rüstungsexportpolitik.Da wird erst in einem großen Kraftakt einem NATO-Mit-glied der Kandidatenstatus für die EU verschafft, einerpolitischen Union, die sich auf Rechtsstaatlichkeit, De-mokratie und Menschenrechte festgelegt hat. Als Nächs-tes wird diesem NATO-Partner ein Spitzenprodukt deut-scher Rüstungstechnologie zum Ausprobieren geliefert.Jetzt, wo sie das Ding ganz gerne hätten, und zwar gleich1 000 Stück, wird das mit dem Hinweis auf die Men-schenrechtssituation abgelehnt. Das geschieht, obwohldie militärische Stärkung der Südostflanke der NATO einvon der Bundesregierung abgesegnetes Ziel des Bündnis-ses ist, bei dem die Leoparden helfen könnten. Um nocheines draufzusetzen, wird die Lieferung einer Munitions-fabrik an die Türkei genehmigt. Zum Beispiel sind Ge-wehrkugeln in den kurdischen Bergschluchten menschen-rechtspolitisch offenbar weniger brisant als Panzer. DieseLogik schmerzt.
Die gleiche Story könnte ich Ihnen über die Lieferung ei-ner MOX-Anlage nach Russland erzählen. Auch hierbeisind die Widersprüche evident.Ich denke, man muss Verständnis für die Frage haben,die in der vergangenen Woche in der Zeitschrift „Die Wo-che“ gestellt worden ist, ob nämlich „der Eindruck einesradikalen Wandels nicht bloß ein oberflächlicher Befundist. Ob Fischers Programm nicht schon immer das war, alswas es heute kenntlich wird: Fischer. Ein Machtmensch,der sich beim Drang nach oben wechselnden Milieus an-passt, Abhängige und Bewunderer um sich schart und al-lein das tut, was ihm nützt.“Zum Schluss möchte ich ein Wort zum Thema Öster-reich sagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hoyer,
ich bitte Sie, sich kurz zu fassen.
Selbstverständlich, FrauPräsidentin. – Wir haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, indem wir das fordern, was die dänische Regierung sinn-vollerweise sofort angekündigt hat. Die Bundesregierungsollte das Gleiche tun und sie sollte sich nicht scheuen zu-zugeben, einen fatalen Fehler begangen zu haben. Ichglaube, es ist auch ein Zeichen von Souveränität, wennman sich zu Fehlern bekennen kann und alles tut, um ge-genüber dem österreichischen Volk einen solchen Fehlerauszuräumen.Herzlichen Dank.
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Dr. Werner Hoyer11117
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! In der Regel wird in derAußenpolitik über das Eigentliche, über das, worum esgeht, immer eine weihevolle Soße ausgegossen. Dabeigibt es für das Eigentliche einen Begriff, der zwar nichtschön, aber klar ist: Interessen. Über Interessen will ichreden und über Interessen will ich streiten.Das deutsche Interesse umschreibt die Bundesregie-rung lieber als „europäische Werte“, „Menschenrechte“oder „Bündnisverpflichtungen“. Mit diesen Argumentenhat sie sich am NATO-Krieg gegen Jugoslawien beteiligt,mit diesen Argumenten verficht sie die neue NATO-Stra-tegie, die weltweite Interventionen selbst ohne UNO-Mandat erlaubt, und so werden auch Rüstungsexporte be-gründet.Ich habe mich oft gefragt, ob die Regierung nichtmerkt, welch hässliches Bild sie so von Deutschlandzeichnet: Krieg, Interventionsbereitschaft und Rüstungs-exporte. Dafür erwartet sie noch einen Platz im Weltsi-cherheitsrat der UNO – absurd! Das sind aus meiner Sichtkeine taktischen Differenzen oder Stilfragen, sonderngrundsätzliche Gegensätze. Deswegen sage ich für meineFraktion, dass ich mich in den beschworenen außenpoli-tischen Grundkonsens, den der Kollege Erler für alleFraktionen dieses Hauses formuliert hat, nicht eingliedereund nicht eingliedern lasse.
Wir haben grundsätzliche Differenzen, die man so nichtüberbrücken kann.
In der Koalitionsvereinbarung hieß es noch: „DeutscheAußenpolitik ist Friedenspolitik.“ Jetzt, zwei Jahre später,müsste es heißen: „Deutsche Außenpolitik sind die Inte-ressen der deutschen Wirtschaft.“ Auf diese Linie hatBundeskanzler Schröder beim Botschaftertreffen die Re-form des diplomatischen Dienstes gebracht. Eine Reformist sicher nötig, nur nicht so.Die Wirtschaft, so der Kanzler, habe den Anspruch auf„Geleitschutz durch die Politik“. Danach ist die Politik fürdie Wirtschaft Wegbereiter und Gefolgsmann zugleich.Umgekehrt wäre es richtig, das Primat der Politik gegen-über der Wirtschaft zu betonen. Die Diplomaten sollensich, so Gerhard Schröder, „stärker als bisher für die In-teressen der deutschen Wirtschaft einsetzen.“ Warumnicht für die Interessen der Künstler, der Kirchen, derWissenschaftler, der Frauen, für die Interessen von Ge-werkschaften oder Nichtregierungsorganisationen?
Warum sollen sich Diplomaten besonders für eine sin-guläre Gruppe einsetzen? Das Schlimme ist: Das ist dieGrundphilosophie dieser Regierung – sich einsetzen fürdie Interessen der Wirtschaft.
Der Kanzler meint es so, wie er es ausgeführt hat. DerAußenminister meint das auch, wenn er die Botschaftenauffordert, sich nach den Methoden der Wirtschaft umzu-bauen. Sie sollen Dienstleistungsunternehmen werdenund PR-Arbeit machen.PR-Arbeit statt Goethe-Institute – das kommt dabei he-raus, wenn man deutsche Interessen mit Wirtschaftsinte-ressen gleichsetzt. Das ist weder neu noch rot-grüne Poli-tik; es ist im Grunde die gleiche Philosophie, die derberüchtigte Hermann Josef Abs verfolgte, als er sagte:„Was gut ist für die Deutsche Bank, ist gut für Deutsch-land“. Das mag für Rot-Grün inzwischen stimmen, füruns demokratische Sozialisten jedoch nicht.
Wir streiten dafür, dass in der deutschen Außenpolitiknicht nur die Interessen einer Gruppe eine Rolle spielen,sondern die aller. Mit den vielen, davon sind wir über-zeugt, kommt man eher zu fairem Welthandel, friedlicherKonfliktlösung, partnerschaftlicher Kooperation und da-zu, dass deutsche Außenpolitik tatsächlich Friedenspoli-tik wird.Die Bundesregierung hingegen bietet der Wirtschaftaußenpolitischen Geleitschutz. Das wird beim Rüstungs-export auf den Begriff gebracht. Die nationalen Richtli-nien zum Rüstungsexport hat die Regierung zwar ver-schärft, sie unterläuft sie aber gleichzeitig, indem sie dengrenzüberschreitenden Interessen der Wirtschaft folgt.Sie engagiert sich für europäische Rüstungsabkommen,Rüstungsplanung und ein europäisches Rüstungskontor.Es geht um internationale Marktdominanz auch im Waf-fengeschäft. „Rüstungsexport ist gut“, Kolleginnen undKollegen von der SPD-Fraktion, betitelte Ihre Wehr-expertin, Kollegin Wohlleben, knapp und präzise ihrenGastkommentar in der „Welt“ vom 7. September.
„Rüstungsexport ist gut“ – da kann man direkt Mitleid be-kommen, wie sich die Rüstungslobby früher abmühenmusste. Jetzt sagt man pauschal: Rüstungsexport ist gut.Rüstungsexport ist immer noch das Geschäft mit Kriegund Tod.Für uns reicht die NATO-Mitgliedschaft der Türkeieben nicht aus, um eine Munitionsfabrik zu exportieren.Menschenrechtsverletzungen begründeten für den Außen-minister den Krieg gegen Jugoslawien. Menschenrechts-verletzungen in der Türkei gegen Kurdinnen und Kurdenwiegen wohl zu leicht, um den Waffenexport zu stoppen.
Nicht die Orientierung an Menschenrechten werfen wirder Bundesregierung vor, sondern wir werfen ihr vor, dasssie damit opportunistisch umgeht.
Zusammengefasst heißt das, die Außenpolitik der Bun-desregierung bewegt sich in dem Dreieck: DeutscheWirtschaftsinteressen haben Vorrang – die Führungs-rolle der USA wird nicht infrage gestellt – Alternativenzur NATO sind ein Tabu. Was ist an einer solchen Außen-
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politik eigentlich noch rot? Was ist an einer solchenAußenpolitik eigentlich noch grün?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Gehrcke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im auswärtigen Haushalt
– mein letzter Gedanke – werden zu wenig Mittel einge-
setzt, die Frieden stiftenden Ansprüchen entsprechen
könnten. Ebenso unbefriedigend sind die Mittel zur För-
derung internationaler Organisationen, die Haushaltstitel
für Konsulararbeit oder Gelder für Konfliktvorbeugung.
Einer Außenpolitik, die auf einem solchen Grundkon-
sens, wie ich ihn beschrieben habe, beruht, verweigern
wir demokratische Sozialistinnen und Sozialisten unsere
Zustimmung.
Ich danke sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gegenwär-tige Präsident der Generalversammlung der Vereinten Na-tionen, Theo-Ben Gurirab, Außenministers Namibias,
hat an uns eine völlig berechtigte Frage gestellt. Gerichtetan die industrialisierte Welt fragte er: „Können wir ihnenvertrauen?“ Er meint damit diejenigen, die politische Ver-antwortung tragen. „Globalisierung“, sagt er, „wird voneinigen als eine Kraft des sozialen Wandels gesehen, diedie Kluft zwischen den Reichen und den Armen schließenhilft, zwischen dem industrialisierten Norden und demsich entwickelnden Süden.“ Zugleich sagt er – ich finde,er hat Recht –:
„Aber Globalisierung wird auch gesehen als eine zerstö-rerische Kraft.“Machen wir uns nichts vor: Aus dem Blickwinkel de-rer, die als Dritte Welt bezeichnet werden, ergibt sichdiese Zwiespältigkeit der Globalisierung.Die stürmischeDebatte über die Globalisierung hat schließlich die einzigwirkliche globale Institution der Welt, die es gibt, nämlichdie Vereinten Nationen, jetzt auch erreicht. Was in Seattlegeschehen ist, wird vielleicht demnächst auch in Prag ge-schehen, nämlich dass sich der Protest gegenüber denmöglichen Folgeerscheinungen der Globalisierung jetztendlich auch innerhalb der UNO in harten Debattenäußert, die, wie ich finde, dem Thema und den Problemenangemessen sind.Der Administrator des Entwicklungsprogramms derVereinten Nationen hat auf eine bedeutsame Trendver-schiebung in dieser Debatte aufmerksam gemacht, die inden sich entwickelnden Ländern zu erkennen ist: Eine un-abhängiger handelnde Weltwirtschaft wird nicht mehrrundweg abgelehnt. Nicht vergessen, lieber KollegeGehrcke: Das sagen die Vertreter der Dritten Welt selbst.Sie wollen in die Weltwirtschaft einbezogen sein, sie wol-len in der Weltwirtschaft anerkannt sein. Jetzt kommt esdarauf an, dass wir mithelfen, die globalen Rahmenbe-dingungen so zu setzen, dass alle in der Tat Zugang zurWeltwirtschaft haben. Es soll nicht so sein, wie Sie eshier insinuiert haben, nämlich dass der Kapitalismus welt-weit gesiegt hätte, sondern alle Menschen dieser Erdemüssen über ihre Marktteilnahme die Chance haben, sichan den Reichtümern dieser Erde zu beteiligen. Das ist ent-scheidend.Ich finde es sehr wichtig, dass Bundeskanzler Schröderin der VN-Debatte genau auf diesen Punkt aufmerksamgemacht hat und dass der Außenminister und die Ent-wicklungsministerin ihn dabei unterstützt haben. Ichglaube, dass das deutlich macht, dass die Position derBundesregierung in diesem Punkte sehr klar ist: Sie willmithelfen, dass die Länder der Dritten Welt aus der Ver-schuldungsfalle, in die sie hineingeführt worden sind,auch wieder herauskommen. Das ist einer der wichtigstenBestandteile einer vernünftigen progressiven Politik.
Inklusion also, die Einbeziehung der Menschen derDritten Welt, wird gefordert, damit alle ihre Fähigkeiteneinbringen können und sich mit anderen Marktteilneh-mern messen können. Kofi Annan hat diesen Grundge-danken ebenfalls aufgenommen. Gegen die Globalisie-rung zu argumentieren, sagt er, sei vergleichbar damit,gegen die Gesetze der Schwerkraft zu argumentieren.– Aber – das muss man hinzufügen – das darf nicht be-deuten, dass sie als Naturgesetz akzeptiert wird.
Im Gegenteil – das sagt Kofi Annan –: Wir müssen dieGlobalisierung zu einer Lokomotive machen, die Men-schen aus der Not herauszieht, und nicht zu einer Macht,die sie niederdrückt. Das ist die Aufgabe, vor der dieinternationale Staatengemeinschaft steht. Der Millen-nium-Gipfel der Vereinten Nationen hat genau daraufaufmerksam gemacht. Ich bin stolz darauf, dass dieBundesregierung an diesem Punkte klargemacht hat: Siestellt sich eindeutig auf die Seite derer, die an diesemfairen Wettbewerb der Nationen und der Fähigkeiten derMenschen teilnehmen wollen. Dieser entscheidendePunkt ist auf dem Millennium-Gipfel der Vereinten Na-tionen deutlich geworden.Mehr als 1Milliarde Menschen müssen mit einem Ein-kommen von 1 Dollar pro Tag leben; ebenfalls 1 Milli-arde Menschen, die zumeist zu der Gruppe gehören, dieich eben genannt habe, haben keinen Zugang zu sauberemWasser. Die Staats- und Regierungschefs haben sich bei
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Wolfgang Gehrcke11119
dem Millennium-Gipfel verpflichtet, diese Zahlen biszum Jahr 2015 zu halbieren. Ist das etwa kein Beitrag zursozialen Gerechtigkeit auf der Erde?
Ist das kein Beitrag, der deutlich macht, dass die Vertreterder Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den an-deren Staatschefs das Problem dieser Erde sehr wohl er-kannt haben?Bis 2015 soll auch für alle Kinder eine volle Primar-schulbildung geschaffen werden. Außerdem haben sichdie Regierungschefs darauf geeinigt und verpflichtet, biszu diesem Jahr die Ausbreitung von Aids endlich zustoppen. An dieser Agenda für die nächsten 15 Jahre müs-sen wir gemeinsam arbeiten, damit diese 1Milliarde Men-schen auf der Erde die Chance und eine Perspektive fürwirkliches Überleben haben.
Dieser Millennium-Gipfel zeigt auch, dass sich dieVereinten Nationen wieder stärker auf ihre globale Ver-antwortung konzentrieren: Forum zu sein, Arena der De-batten, um Verständigung zu suchen, Wege aus den Ge-fahren zu finden, in die die Menschen sich gegenseitigbringen.Globale Verantwortung übernehmen heißt aber auch,die innere Reform der Staatengemeinschaft vorantreiben,um institutionell leisten zu können, was programma-tisch versprochen wird. Dazu gehört auch die überfälligeReform des Sicherheitsrates. Der Bundeskanzler hatdies in New York klar ausgedrückt. Wir danken ihm dafür.Ich füge hinzu: Ich finde es angemessen, dass der Sicher-heitsrat in einer fairen Weise reformiert wird. Wenn sichalle Länder der Erde an Entscheidungen beteiligen kön-nen, dann darf die Bundesrepublik Deutschland nicht bei-seite stehen.
Es ist gut zu wissen, dass der Bundeskanzler, derAußenminister und die Ministerin für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit dabei deutlich gemacht haben: Die Bun-desrepublik Deutschland wird ihren Beitrag zur weltwei-ten sozialen Gerechtigkeit leisten und dafür eintreten,dass aus der Welt, wie sie ist, ein besserer Platz zumLeben für alle Menschen dieser Erde werden kann. Denn– so haben Gerhard Schröder, Tony Blair, Wim Kok undGöran Persson in ihrem Manifest geschrieben –:Wir können den Wandel nicht aufhalten, aber wirkönnen ihn so gestalten, dass er nicht nur wenigennutzt, sondern vielen.Was könnte man dem hinzufügen?Der Millennium-Gipfel war zu Beginn eines neuenJahrhunderts christlicher Zeitrechnung ein Moment desInnehaltens. Trotz aller seiner inneren Konflikte kann derWesten bilanzieren: Der materielle Reichtum der indus-trialisierten Nationalstaaten ist in ungeahnte Höhen ge-stiegen. Die Systemkonkurrenz ist mit dem Ende derorganisierten Verantwortungslosigkeit der kommunis-tischen Diktatur beseitigt worden. Die meisten der neuentstandenen Transformationsländer haben sich entschie-den, sich in den modernisierenden Sog der EuropäischenUnion zu begeben. Was die Dritte Welt genannt wurde,gruppiert sich neu, wird vielgestaltig, sucht eigene Wege,Tradition und Moderne miteinander zu verbinden, wieThabo Mbeki mit seiner „afrikanischen Renaissance“.Sollte einst der Westen – über diesen Punkt sollten wireinmal gemeinsam diskutieren – seine Errungenschaftenselbst gefährden, dann, weil er die Warnzeichen überse-hen hat. Eines der Warnzeichen, das leicht übersehen wer-den kann, ist der Unilateralismus. Die neokonservativeRevolution in den USAdominiert das Mehrheitsverhaltender Legislative in den USA. In der Tat: Im Augenblick istkein ernsthafter Herausforderer der USA zu erkennen –nirgendwo. Dies darf aber nicht dazu führen, dass sichdie USA von ihrer multilateralen Verantwortung verab-schieden.Ich finde es gut, dass der amerikanische Präsident BillClinton gegen Ende seiner Präsidentschaft deutlich ge-macht hat: Für die USAmacht es künftig nur Sinn, mit denanderen Staaten kooperativ zusammenzuarbeiten, wenndie USA diesen wesentlichen Grundzug akzeptieren, derauch schon für die Politik bezüglich Deutschland bestand.Multilateralität ist ein Gut, auf das niemand verzichtendarf.Selbst – wie wir heute in der „Süddeutschen Zeitung“sehr ausführlich nachlesen konnten – wenn die USAheutedie letzte übrig gebliebene Großmacht der Erde sind, dannzeigt sich ihre Kooperationsfähigkeit in ihrer Bereit-schaft, auf unilaterale Schritte zu verzichten. Deswegenbegrüßen wir es, dass das National-Missile-Defense-Pro-jekt wenigstens zeitweilig beiseite gelegt worden ist. Ichwünsche mir sehr, dass der neue amerikanische Präsidentund der neue amerikanische Kongress eben an jener mul-tilateralen Tradition der USA festhalten und sie gemein-sam mit uns, mit Europa und mit allen anderen Staatendieser Erde weiterentwickeln.
Die Aufrüstungstendenzen sind bisher nicht abge-klungen. Im Gegenteil: Wenn wir nach Asien blicken – obes der Konflikt zwischen Indien und Pakistan oder andereKonflikte sind –, dann erkennen wir sehr wohl selbstzer-störerische Kräfte. Die europäische Erfahrung der letzten25 Jahre zeigt klar – wir sollten aber nicht so tun, als obwir besser seien oder alles besser wüssten als andere –:Kooperativ zu sein ist immer besser als Konfrontation.Wir müssen versuchen zu erreichen, dass die Staaten denanderen Staaten gute Nachbarn sind. Es kommt entschei-dend darauf an, das Neue zuerst zu denken und dann dasNeue zu tun. Das ist das große Erbe von Willy Brandt. Ichbin stolz darauf, dass die Bundesregierung mit Bundes-kanzler Gerhard Schröder und dem Außenminister
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Joschka Fischer die deutschen Interessen in dieser Tradi-tion international wahrt und durchsetzt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Die Tatsache, dass sichin diesem Moment auf Einladung des Bundestagspräsi-denten ein riesiger Pulk von Journalisten im Innenhof desReichstags um den Erdtrog von Herrn Haacke versam-melt, könnte davon ablenken, dass es hier im Plenarsaalum die eigentlich wichtigen Dinge geht: um die entschei-denden Zukunftsfragen Europas und um entscheidendeDiskussionen des Deutschen Bundestages. Ich denke, wir,die wir hier im Plenarsaal zusammengekommen sind,sollten uns diesen Fragen widmen.
Denn Europa steht zurzeit an einem Scheidepunkt. So-wohl die interne EU-Reform als auch die Erweiterunghaben eine kritische Phase erreicht. Es ist wichtig, dasswir uns darüber austauschen.
Die CDU/CSU-Fraktion will den Erfolg der beiden euro-päischen Projekte. Wir wollen eine Reform, die die EUhandlungsfähiger, demokratischer und bürgernähermacht, und wir wollen, dass die Erweiterungsverhandlun-gen einen großen Sprung nach vorne machen.EU-Kommissar Günter Verheugen hat die Bundesre-gierung mit seinem Vorschlag einer Volksabstimmungzur Osterweiterung in erhebliche Unruhe versetzt. – DerAußenminister hat in diesem Zusammenhang MaoTsetung zitiert; ich weiß nicht, ob das im Plenum richtigangekommen ist.
– Herr Fischer, Sie haben Ihren Mao nicht richtig gelesen.Hier geht es jetzt um Europa. –
Jedenfalls hat Herr Verheugen mit seiner Intervention denFinger auf eine offene Wunde gelegt. Die Bundesregie-rung verhält sich in der Frage der Osterweiterung der Eu-ropäischen Union ausgesprochen zurückhaltend.
Sie begibt sich in einen ressortinternen Clinch zwischendem Außenminister und dem Finanzminister, der vor ei-nigen Tagen erklärt hat, eigentlich sei er zuständig undnicht der Außenminister. Kollege Lamers hat dies schonangesprochen.
Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Gefahrbesteht, dass die Überwindung der europäischen Teilungauf die lange Bank geschoben wird. Die Kandidatenlän-der fragen sich, ob sie überhaupt noch erwünscht sind.Hinzu kommt, dass die deutsche Öffentlichkeit durch dieüberzogene Ausweitung des Kreises potenzieller Kandi-daten irritiert und alarmiert wurde.Herr Außenminister, ich will dazu etwas aus Sicht desParlaments sagen: Die Bundesregierung betreibt in derFrage der Erweiterung eine Geheimdiplomatie, die derSache nicht gut tut. Weder die Öffentlichkeit noch derDeutsche Bundestag – auch nicht dessen Ausschüsse – er-fahren ausreichend über den Stand der Verhandlungen.Wir haben hier im Parlament bisher kein vollständigesVerhandlungsergebnis vorgelegt bekommen. Die Erwei-terung wird nur dann ein Erfolg, wenn wir diese Fragenmit der Öffentlichkeit diskutieren und die kritischenPunkte ansprechen und wenn daraus keine Geheimveran-staltung der Bundesregierung gemacht wird.
Die großen politischen und ökonomischen Chancender Osterweiterung der EU und der Gewinn an Stabilitätfür alle Beteiligten dürfen nicht verspielt werden. Ich sagehier für die CDU/CSU-Fraktion klipp und klar Ja zur Ost-erweiterung. Dies ist eine politische, ökonomische undmoralische Aufgabe für uns.
Wir müssen die Osterweiterung gründlich vorbereiten.Wir haben in diesem Zusammenhang eine Große Anfrageeingebracht. Wir müssen darüber öffentlich diskutieren.Auch dazu soll unsere Anfrage eine Grundlage sein. Dennes muss mit den Menschen im Lande eine breite öffentli-che Diskussion über die Ängste und Sorgen, aber auchüber die großen Chancen im Rahmen des Erweiterungs-prozesses eingeleitet werden.
Ein demokratischer Rückschritt wäre allerdings dieAufnahme von Volksabstimmungen in unser Grundge-setz. Ich finde es positiv, dass sich der Bundesaußenmi-nister mittlerweile von seinen ehemaligen Radikalpositio-nen entfernt hat. Es haben sich ja einige aufgeregt, dass erheute anders spricht als früher. Ich bin sehr beruhigt; dasmuss ich Ihnen sagen. Denn wenn er so handeln würde,wie er früher gesprochen hat, müssten wir sagen: GuteNacht, Deutschland! Dies wäre schrecklich. Er hat gesagt,dass man über Grundsatzfragen, darüber, ob Polen aufge-nommen werden soll oder nicht, keine Volksabstimmungdurchführen kann. Er hat ja nicht völlig Unrecht. Nur, zuunterscheiden, bei welchen Fragen eine Volksabstim-
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Wolfgang Gehrcke11121
mung möglich ist und bei welchen nicht, ist sehr uner-quicklich.Ich sage eines klipp und klar: Für mich bedeutet dieDiskussion, die jetzt von der linken Seite des Hauses – inWiedererweckung eines alten Politzombies – angestoßenworden ist, einen demokratischen Rückschritt. Warum?Was ist das Hauptargument für die repräsentative De-mokratie?
Die Welt wird zunehmend komplizierter und komple-xer, und alle politischen Entscheidungen sind im Zusam-menhang zu verstehen: Wofür gibt man das Geld aus?Welche Bündnisstrategien geht man ein? Welche Ent-scheidungen trifft man? Nur die repräsentative Demokra-tie hat die Stärke, die Komplexität der Entscheidungenentsprechend aufzunehmen. Damit sind wir sehr weit ge-kommen; das sollten wir nicht aufs Spiel setzen.
Der Bericht der Drei Weisen zur innenpolitischen Si-tuation in Österreich kaschiert nur mühsam den großenFehler der übrigen EU-Staaten, Österreich mit erhobenemFinger auszugrenzen. Durch die Sanktionen gegen Öster-reich wurde nämlich die Gefahr erhöht, die zu bekämpfensie vorgaben, und das europaweit. Das ist ein schwerwie-gender Fehler, den sich auch unsere deutsche Bundesre-gierung zurechnen lassen muss.
Im Übrigen: Das, was die Weisen ermittelt haben,spricht für ihre Weisheit und wäre den beteiligten Regie-rungen schon durch oberflächliche Zeitungslektüre deut-lich geworden.
Herr Kollege Hintze,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gernot
Erler?
Aber ja.
Herr Kollege Hintze, Sie haben
soeben den Bericht der Drei Weisen angesprochen. Haben
Sie die Ziffer 115 dieses Berichtes zur Kenntnis genom-
men? Dort heißt es:
Die Maßnahmen der XIVMitgliedstaaten der EU ha-
ben nicht nur in Österreich, sondern auch in den an-
deren Mitgliedstaaten das Bewusstsein für die ge-
meinsamen europäischen Werte gestärkt. Es kann
kein Zweifel bestehen, dass im Falle Österreichs die
von den XIV Mitgliedstaaten getroffenen Maßnah-
men die Anstrengungen der österreichischen Regie-
rung verstärkt haben.
Der Absatz schließt:
Sie haben auch die Zivilgesellschaft motiviert, diese
Werte zu verteidigen.
Würden Sie zugeben, dass das eigentlich ein Beleg
dafür ist, dass die 14 Staaten richtig gehandelt haben, je-
denfalls nach dem Bericht der Drei Weisen? Das ist das
Gegenteil von dem, was Sie hier behaupten.
Es schädigt nicht die Qua-lität eines Berichtes, wenn nach 114 richtigen Sätzen ein-mal ein falscher kommt, Herr Kollege Erler.
Ich will noch einen ernsten Punkt hinzufügen. DerBundesaußenminister hat immer argumentiert, dass ge-rade wir Deutsche, obwohl Österreich unser Nachbar istund wir wissen, wie zuverlässig er ist, gar nichts andereshätten machen können als die anderen. Ich muss sagen,ich empfinde es als besonders peinlich, dass wir als einLand, das in seinen Bundesländern zum Teil mit üblenrechtsradikalen Ausschreitungen zu kämpfen hat, dieseZeigefingerkoalition gegen Österreich angeführt haben.Ich finde das peinlich.
Ich hoffe, dass die Bundesregierung jetzt den Schadenrasch wieder gutmacht.Dabei ist eines beachtlich: Uns wurde im Parlamentimmer vorgetragen, es handele sich nicht um eine Maß-nahme der EU – das stimmt ja auch, dafür gibt es keineRechtsgrundlage –, sondern um bilaterale Maßnahmender 14 anderen EU-Mitglieder. Was sagte die Regierungs-sprecherin gestern aber auf die Frage, ob Deutschland nundie Sanktionen einstellen wird? Sie antwortete, das werdedie französische Präsidentschaft entscheiden. Meine Da-men und Herren, was ist das für eine Logik? Entweder istes eine Sache der EU, dann ist das eine klare Vertragsver-letzung, oder es ist unsere Sache, dann dürfen wir nichtauf die französische Präsidentschaft verweisen. In dieserFrage wird ziemlich schräg gespielt.
Alle Kraft muss jetzt der Weiterentwicklung in der Eu-ropäischen Union gelten. Wir haben interessante Gedan-ken vom Herrn Außenminister in seiner Eigenschaft alsJoseph Fischer an der Humboldt-Universität gehört. Ichfand den Vortrag – ich will das hier noch einmal sagen –durchaus interessant. Er hat eine Diskussion in Europa an-gestoßen und an dieser Diskussion beteiligen wir uns.Ich freue mich, dass er jetzt ganz ungebrochen von ei-nem Verfassungsvertrag spricht. Das ist eine Idee, dieWolfgang Schäuble und Karl Lamers in Deutschland ge-gen nicht geringe Widerstände in die politische Diskus-sion gebracht haben. Aber, lieber Herr Bundesaußenmi-nister, bis jetzt wächst in mir die Befürchtung, dass dieseRede ein rein rhetorisches Ereignis blieb. Ich habe nichtsgegen gute Reden, aber für die praktische Politik ist esschade, wenn einer guten Rede nicht gute Taten folgen.Die Regierungskonferenz tritt auf der Stelle. In denzentralen Fragen der Weiterentwicklung Europas – den-ken wir beispielsweise an die Mehrheitsentscheidung – istdie Konferenz ein halbes Jahr lang über kreative Vor-schläge nicht hinausgekommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Peter Hintze11122
Auch die Beitrittsverhandlungen kommen nicht sorecht voran. Was wir heute in dieser Debatte beklagen, ist,dass diese Bundesregierung – da ist sie seit vielen Jahrenund Jahrzehnten übrigens die erste – als europäischer Mo-tor ausfällt.
Für uns sind die Prioritäten in der laufenden Regie-rungskonferenz klar: Wir wollen Mehrheitsabstimmun-gen im Rat als Regel. Wir wollen die Stärkung derDemokratie durch eine Stärkung des Europäischen Parla-mentes und durch die bessere Berücksichtigung der Be-völkerungszahlen in den Institutionen der EU. Ich nennehier nur die Stichworte „größere Proportionität im Euro-päischen Parlament“ und „Einführung der doppeltenMehrheit bei Abstimmungen im Rat“. Wir wollen mehrFlexibilität vor allen Dingen in der Außen-, Sicherheits-und Verteidigungspolitik und eine präzisere Aufgaben-verteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene.Schließlich wollen wir keine „leftovers“ der „leftovers“von Amsterdam. Diese müssen jetzt geregelt werden.Aber wir wissen heute, dass es natürlich „leftovers“ vonNizza geben wird. Sie haben erfreulicherweise schon ge-sagt, dass Sie sich dazu bekennen: Kompetenzabgren-zung, Grundrechte-Charta, Weiterentwicklung und Ver-einfachung der Verträge und die Reform des Rates.Nun komme ich zu einem Punkt, den ich langfristig fürsehr entscheidend halte. Wenn wir uns fragen, welche In-stitution in Brüssel am stärksten für Intransparenz, ge-ringe demokratische Legitimation und große Bürokratieverantwortlich ist, dann ist das der Rat. Der Ministerratist so, wie er sich im Laufe der Jahre entwickelt hat, eineFehlkonstruktion, die es zu korrigieren gilt.
Ich will die kritischen Punkte nennen: Erstens. Der Ratist Legislative, Exekutive und Kontrolleur der Exekutivezugleich. Das bedeutet eine massive Verletzung der Ge-waltenteilung; parlamentarische Beteiligung und öffentli-che Kontrolle sind nicht gesichert. Deswegen müssen wirdas reformieren. Der Rat sollte sich zur zweiten Kammerder Legislativen entwickeln. Die Aufgaben der Exekutivemüssen bei der Kommission zusammengefasst werden.Zweitens. Die innere Struktur des Ministerrates iststreng nach Fachressorts aufgesplittert. Das führt zu un-sinnigen Entscheidungen. Da macht der Rat der Land-wirtschaftsminister einen großen Beschluss zur Förde-rung des Tabakanbaus in Europa, und der Rat derGesundheitsminister stellt EU-Mittel zur Verfügung, umdie Menschen vom Tabakrauchen abzubringen.
Diese Unsinnigkeit ist nur ein kleines Beispiel. Das mussaufgehoben werden. Das geht nur, wenn die ursprünglicheIdee des Allgemeinen Rates aktiviert wird, wenn er in ei-ner festen Zusammensetzung von Europaministern tagt,die ihrer Regierung tatsächlich verantwortlich sind, undwenn der Rat seine parlamentarischen Funktionen wahr-nimmt und seine exekutiven Funktionen abgibt.Drittens. Die Arbeitsweise des Rates ist überbürokrati-siert. Es gibt über 300 Ratsgruppen auf Beamtenebeneund mehrere Hundert Gruppen auf Kommissionsebene.Die Folge ist null Transparenz und eine zweifelhafte Le-gitimation. Wer gibt politische Vorgaben? Wer übernimmtpolitische Verantwortung? Der Rat muss politischer undparlamentarischer arbeiten. Das ist eine mittel- und lang-fristige Aufgabe, aber das müssen wir bei der Reform derInstitution angehen.Lassen Sie mich nun ein Thema ansprechen, das dieMenschen in Deutschland massiv beschäftigt und bei demder in New York jüngst hochdekorierte Bundeskanzler,der Sachen ja auch richtig macht, einen groben Fehler ge-macht hat. Es geht um die Frage des Außenwertes desEuro und der – wenn man dieses Wort überhaupt ver-wenden kann – politischen Begleitung durch die Bundes-regierung und durch den Herrn Bundeskanzler. Wir allewissen, dass die D-Mark auch in früheren Zeiten gegen-über dem US-Dollar eine Schwankungsbreite hatte. Wirwissen, dass die Kaufkraft der Währung im Inland vonsolchen Schwankungen des Außenwertes zunächst einmalnicht betroffen ist. Dennoch dürfen wir die negativen Fol-gen eines nach außen dauerhaft schwachen und eines vorallen Dingen immer schwächer werdenden Euros – dieBewegung geht ja nach unten – nicht unterschätzen. HohePreise für Importe werden sich früher oder später auch inder Inflationsrate bemerkbar machen. Wer vor dem Win-ter Heizöl einkauft oder heute seinen Wagen voll tankt,der zahlt einen guten Teil des hohen Preises: einmal we-gen der Ökosteuer – das ist jetzt aber nicht Thema – undzum Zweiten wegen des schwachen Euro.In einer solchen Situation muss sich die Bundesregie-rung bei ihren Äußerungen wirklich zurückhalten. Siedarf auf keinen Fall die falschen Signale setzen. Wenn derdeutsche Bundeskanzler – wie vor wenigen Tagen imFernsehen weltweit übertragen – verkündet, es sei eigent-lich eine gute Sache, dass der Euro schwach wird, dannmuss man sich nicht wundern, wenn die internationalenDevisenmärkte darauf reagieren und den Euro purzelnlassen. Das halte ich für einen schwerwiegenden Fehlerdes deutschen Bundeskanzlers.
Jetzt versucht Herr Eichel, den politischen Weichspül-gang, den Herr Schröder eingelegt hat, wieder auszu-schalten. Es ist eine Frage, wer von beiden gewinnt. DerSchaden für uns, für Deutschland, für die Bürger, ist schoneingetreten. Kollege Hoyer hat auf das Referendum in Dä-nemark hingewiesen. Da geht es um die Frage, ob die Dä-nen der Einführung des Euro zustimmen. Es wäre fatal,wenn diese Entscheidung negativ ausfiele.Natürlich kann der deutsche Bundeskanzler mit seinenAusführungen den Euro jetzt nicht wieder ganz schnellhoch treiben. Das wäre ja eine wunderbare Sache. Er hatihn aber mit seinen Redereien heruntergeholt. Das findeich sehr negativ.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Peter Hintze11123
Vor diesem Hintergrund kann ich gut verstehen, dassder Präsident der EZB, Herr Duisenberg, der letzten Kon-ferenz der EU-Finanzminister fern geblieben ist. Da hat eseine große Aufregung der Finanzminister gegeben. Er hatdamit das klare Signal gesetzt, dass die Europäische Zen-tralbank – so wie in den Verträgen verankert – ihre Unab-hängigkeit verteidigt und sich nicht an den Zügel der Fi-nanzminister oder der Kanzler legen lässt. Das ist einegute Sache. Er hat damit ein Zeichen der Unabhängigkeitgesetzt.
Zum Schluss noch einen Gedanken: Einen Beschlusshaben die Finanzminister im Ecofin-Rat gefasst, den ichnicht verstehe und über dessen Korrektur noch einmal dis-kutiert werden muss. Es geht um die Frage, wann die Bür-gerinnen und Bürger im Land das Euro-Bargeld bekom-men. Meiner Meinung nach ist es ein Fehler, sich zuweigern, den Menschen vor dem 1. Januar 2002 den Um-tausch zu ermöglichen. Es würde die Umtauschproze-dur erheblich entkrampfen, wenn wir nicht alles auf den1. bzw. 2. Januar 2002 konzentrieren – das ganze Ban-kensystem droht dann zusammenzubrechen –, sondernwenn wir den Menschen Gelegenheit geben, den Euroschon vor 2002, im Dezember 2001, in die Hand zu be-kommen. Hier sollten die Finanzminister noch einmalnachdenken. Das ganze Umtauschverfahren, der Einsatzder neuen Geldscheine würden erleichtert, wenn die Fi-nanzminister sagen: Jawohl, wir machen es möglich, dassdas Geld bereits im Dezember 2001 umgetauscht wird.Europa ist nicht nur eine Sache von Mark und Pfennigund von Euro und Cent. Gerade mit dem Geld muss manaber behutsam umgehen, wenn man die Europabereit-schaft der Menschen im Lande stärken will. Dazu fordereich die Bundesregierung auf.Schönen Dank.
Das Wort hat nun-
mehr für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Kollege Dr.
Helmut Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoyer,vielleicht befriedigt es ja den ehernen Zensor – wie Siehier vor uns standen –, wenn ich Ihnen mitteile, dass derAußenminister am 20. September auf der EXPO am Na-tionalitätentag der baltischen Länder teilnimmt, dass erdort die baltischen Außenminister empfängt, dass er am18. Oktober – das ist dann mehr für Ihre Nachbarfrak-tion – sogar den Außenstaatssekretär des Vatikans auf derEXPO empfängt.
Es ist ja schön, dass Sie den Kalender unseres Außenmi-nisters so genau studieren. Sie sollten dann allerdings beider Wiedergabe nichts weglassen.
Lassen Sie mich – bei allem Streit – damit beginnen,dass wir natürlich alle darin übereinstimmen, dass wir unszusammen mit der Göttinger Bevölkerung sehr darüberfreuen, wenn sich die Familie Wallert heute in ihrer Hei-matstadt wieder vereinigt.
Vielen ist dafür zu danken, auch dem libyschen Ver-mittler, der immer wieder den Weg und die Kontakte zuden Entführern fand, aber in diesem Zusammenhang ins-besondere auch und für uns natürlich den Beamten undder leitenden Ebene des Auswärtigen Amtes. Denn werdie lange und zermürbende Geschichte dieser Geiselhaftverfolgte, der weiß, dass an manchen Punkten Entschei-dungen sehr schnell hätten zu Katastrophen führen kön-nen. Dass solche Klippen umschifft wurden, ist auch derBesonnenheit der beteiligten Diplomaten zu verdanken.
Und nun zum Streit. Sie wären natürlich eine ganzschlechte Opposition, wenn Sie nicht in den Wunden derKoalition herumbohren würden. Natürlich – das liegt jaauf der Hand – mussten Sie über die Widersprüche in derRüstungsexportpolitik sprechen.
Nur, die Fronten sind doch ganz klar: Haben wir vonsei-ten der CDU – von der CSU muss ich gar nicht sprechen –oder zumindest von den Liberalen jemals eine Unterstüt-zung unserer Standpunkte gefunden? Nie, hingegen voneinem großen Teil der SPD sehr wohl. Deshalb bleibenwir bei unseren Grundsätzen. Darüber müssen wir nunwirklich diskutieren.Wir bleiben erstens dabei, dass Rüstung kein beliebi-ges Wirtschaftsgut ist, sondern ein sehr spezielles Gut,dessen Export häufig in Form von Kriegen und Bürger-kriegen in den Empfängerländern auf uns zurückschlägt.Zwei Drittel der Rüstungsexporte – sie steigen im Mo-ment global wieder – gehen auch heute noch in Länder derDritten Welt.
Bekennen Sie sich zu dem Spruch Ihrer Partei und IhresAltbundeskanzlers: „Frieden schaffen mit immer wenigerWaffen!“ Arbeiten Sie mit uns zusammen an einer klarenRestriktion des Rüstungsexports! Dann können wir überdiesen Punkt wieder reden.
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Zweiter Punkt. Es ist doch ganz klar, dass bei Rüs-tungsproduktion das ökonomische Gesetz der Preisverbil-ligung durch große Serien nicht gelten kann, dass bei res-triktiver Rüstungsexportpolitik Rüstung auch teurer seinkann, als sie bei ungehindertem Export wäre.Drittens. Wir haben in der Koalition Rüstungsexport-richtlinien vereinbaren können, über deren Einhaltung wirimmer wachen werden. Dann haben wir eben die Kon-flikte, an denen Sie sich weiden. Aber das Problem ist füruns ein noch größeres als das Abschalten der Atomkraft-werke. Auch das müssen Sie sehen. Wenn Sie an der Jahr-hundertarbeit der globalen Reduzierung und letztlich desVerbots von Rüstungsexporten mitarbeiten, dann solltenSie hier nicht so eine alberne Tanzerei machen.Vor allem aber sollten Sie bei meinem vierten Punkthelfen. Wir brauchen hier im Parlament mehr Transparenzauf diesem Gebiet.
Mein letzter Punkt. Wir werden uns von den Rüstungs-exportfans in Ihren Reihen nie das Stöckchen hinhaltenlassen, wann die Frage einer Koalitionskrise oder gar ei-nes Koalitionsbruchs ansteht. Das bestimmen immer nochwir. Einmal stand sie an, und wir sind sehr froh, dass wirdieses Problem gelöst haben.
Sie sagen jetzt, Gewehre seien doch noch gefährlicher alsPanzer. Ja, aber nicht jede Frage wird gleich eine Koaliti-onsfrage. Das wissen Sie ganz genau.Lieber Herr Lamers, jetzt komme ich auf ein anderesIhrer Lieblingsthemen. Jetzt komme ich auf Österreich.Ich höre immer von Sanktionen. Ich habe auch gehört, essei ausgegrenzt worden. Aber was ist denn verabredetworden? Von den Regierungen der beteiligten Mitglieds-länder ist ein Verhaltenskodex verabredet worden, nichtSanktionen im normalen Sinne dieses Wortes. Wer denBericht der Drei Weisen liest – ich habe den Eindruck, Siehaben ihn überhaupt nicht gelesen –,
der findet hinreichend Anlass zu sagen: Dieser Krach warnötig. Wenn erstmalig eine klar fremdenfeindliche Parteiin eine Koalitionsregierung eintritt, dann bedarf das aller-dings einer Reaktion.
In Ergänzung des Kollegen Erler lese auch ich etwasvor. Was fordern die Drei Weisen? Wir fordern die Ent-wicklung eines „Präventiv- und Überwachungsverfahrens... innerhalb der EU“, um auf Entwicklungen innerhalbvon EU-Mitgliedstaaten angemessen reagieren zu kön-nen. – Hier wird gesagt: Natürlich muss auf solche Sachenreagiert werden. Wir stellen jetzt fest, dass bei diesem ers-ten Mal eine Exit-Strategie fehlte.
Deshalb ist der Bericht der Drei Weisen ein sehr nützli-ches Instrument. Die beteiligten Regierungen, denke ich,haben einen sehr nützlichen Konflikt geführt.
– Wer geht denn hier rein?Noch eine Bemerkung zum Thema Volksabstim-mung. Herr Hintze, Sie waren mit Ihren Worten gar nichtso weit von mir entfernt. Aber so allgemein geht es nicht.Deshalb noch einmal: Volksabstimmungen – das vertretenwir – sind in Fragen des „national destiny“, in Fragen desSchicksals der Nation abzuhalten. Volksabstimmungenüber andere Länder, über Nachbarn sind reine Arroganz.Das war der Fehler dieser Äußerung. Ihn hat HerrVerheugen selber eingesehen. Er hat die berühmte Äuße-rung gemacht, dass ihm jedes Jahr einmal ein Flop pas-siert. Gut, damit ist dieses Thema erledigt.Jetzt kommen wir zu den Verhandlungen über denHaushalt. Dabei sage ich in Richtung von Herrn Hoyerund Herrn Lamers: Ich habe mir einmal die Aufstellunggeben lassen. Es geht um den Anteil des Einzelplans 05am Gesamthaushalt. Ich kann Ihnen sagen, dass der An-teil seit 1980 von damals 0,93, glaube ich, auf etwa0,7 Prozent gesunken ist. Herr Hoyer, Sie waren doch da-mals selber in der Exekutive. Ich bilde mir ein, ich hätteim Ausschuss immer angeboten, dass wir die Interessendes Auswärtigen Amtes gemeinsam vertreten. Diese billi-gen Sachen habe ich mir nicht geleistet.Was ist passiert? Nach 16 Jahren, in der Ihre Fraktio-nen ihre Regierung nie verteidigt haben, wenn der Haus-halt des Einzelplans 05 als Sparbüchse benutzt wurde,kommen Sie jetzt und verlangen in dem ersten Jahr, indem eine Konsolidierungspolitik dringend nötig ist undgemacht werden muss und bei der der Vizekanzler weiß,dass er solidarisch mitmachen muss, er solle seinen Be-reich nicht im Stich lassen. Nein, der richtige Kampf be-ginnt erst jetzt.Ich bedanke mich für Herrn Lamers und Herrn HoyersAnmerkung, dass wir da zusammenarbeiten können.Okay, das Angebot habe ich umgekehrt auch immer ge-macht. Jetzt werden wir das Auswärtige Amt stärken.Damit Sie sehen, dass wir das durchaus anders sehenkönnen, dass wir auch als Regierungspartei durchaus et-was zu bemängeln haben, hatte ich mir einige Sachen no-tiert, die Herr Erler vorweggenommen hat. Ich sage nocheinmal: Es ist natürlich eine sehr fiskalische und vonAußenpolitikern überhaupt nicht zu billigende Sache,wenn im Zusammenhang mit der generellen Zusage zumStabilitätspakt jetzt wieder etwas in die Länge gezogenwird und auch ein bisschen fehlt. Das können wir unsnicht bieten lassen. Darin sind wir uns, glaube ich, völligeinig.
Ich sage noch eines: Die Kosten des Stabilitätspakts,für vier Jahre finanziert durch eine Finanzierungszusage,
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Dr. Helmut Lippelt11125
sind geringer, als die EXPO in einem halben Jahr im Mo-ment an Defiziten produziert. Das ist sehr viel weniger.Wir hätten ganz nebenbei für den Stabilitätspakt nochmehr Geld übrig, wenn wir das hätten.Beim zweiten Punkt ist es genau dasselbe. Es ist natür-lich völliger Unsinn, wenn das Finanzministerium, nach-dem wir die Mittel für Frieden schaffende Konfliktbe-wältigung durch ein parlamentarisches Verfahren um20 Millionen DM aufgestockt haben, jetzt kommt undsagt: Wir gehen von unserem Entwurf für 2000 aus underklären die damalige Aufstockung zu einer einmaligenSache. Nein, das war nicht einmalig. Hier wird eines derwichtigsten Instrumente zukünftiger Außenpolitik aufge-baut. Deshalb erwarte ich dringend vom Finanzministe-rium, dass diese Mittel verstetigt werden und wir beimnächsten Mal nicht wieder ein parlamentarisches Verfah-ren anwenden müssen, sondern dass es vom Fi-nanzministerium selbst kommt.Die Klingel hat geläutet. Herr Präsident, Sie habenRecht.
Sie haben zu dem üb-
lichen Mittel gegriffen und das rote Licht durch Ihr Ma-
nuskript verdeckt. Deswegen die Klingel.
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Ich möchte gern noch den Hinweis machen, dass in
14 Tagen eine für uns unglaublich wichtige Wahl stattfin-
det, bei der es sich um das Schicksal einer Nation handelt
und bei der wir den Demokraten Jugoslawiens sagen müs-
sen, dass natürlich im Falle, dass sie sich durchsetzen
– worauf wir alle hoffen – die Sanktionen aufgehoben
werden und der Dialogprozess sofort wieder beginnt. Dies
alles noch einmal zu sagen halte ich für wichtig. Ansons-
ten bekommen wir ganz schwierige Verhältnisse, zum
Beispiel in Montenegro. Folglich wird der Finanzminister
auch die nötigen Mittel für das eine wie für das andere fin-
den müssen.
Ich gebe für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Professor Dr. Helmut
Haussmann das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zweite Teil der De-batte gehört der Europapolitik. In meiner knappen Re-dezeit will ich sagen: Für einen überzeugten Europäer istdie Halbzeitbilanz dieser Regierung leider sehr enttäu-schend. Ich mache es an drei Punkten deutlich.Erstens. Über Österreich hinaus leidet das traditionellgute Verhältnis Deutschlands zu den kleinen Staaten, dasvon uns immer gepflegt wurde. Die baltischen Staaten, dieVolksabstimmung in Dänemark zeigen: Die Sanktionengegen Österreich haben in kleinen Ländern zu der Er-kenntnis geführt, dass sich ein großes Land mit einer be-sonderen Verantwortung für Österreich nicht nur hinterFrankreich, sondern auch hinter Parteipolitik der Sozialis-ten und der Grünen in Europa versteckt hat und damit ei-nen Weg gegangen ist, der uns viel Zeit gekostet hat, derzu durchschnittlichen Ergebnissen der portugiesischenPräsidentschaft beigetragen hat und der weiter Zeit kostenwird.Herr Außenminister, Sie stehen heute vor dem Parla-ment. Sie müssen vor dem Parlament heute noch erklären,ob Sie eine Aufhebung der Sanktionen aus Sicht der Bun-desregierung für richtig halten. Das wollen wir vor IhremAbflug wissen.
Zweitens. Das Vertrauen in Deutschland als AnwaltOsteuropas ist inzwischen leider gestört. Gerade am heu-tigen Tag ist dies äußerst bedauerlich. Schon die Agenda2000 in Berlin hat in den Finanzierungsfragen für Kennerklar gezeigt, dass die Aufnahme Polens im Bereich Agrarnicht finanziert ist
und der verbindliche Fahrplan nach wie vor nicht vorliegt.Es geht nicht, Herr Außenminister, um den detailliertenBeitrittstermin von Polen, Ungarn oder anderen Staaten,aber es geht um eine Entscheidung der Bundesregierung,um einen Fahrplan, unter welchen Bedingungen osteuro-päische Staaten in Europa willkommen sind.Ich kann Sie nur darin unterstützen: Am Ende diesesJahres, in Nizza, muss dieser Fahrplan klar sein.
Er muss ehrlich sein, aber er muss klar sein; denn er sorgtsonst in den Staaten für empfindliche Rückschritte. DieF.D.P.-Fraktion hat während ihrer dreitägigen Klausur inDresden Vertreter aus Ungarn eingeladen. Es ist ganzdeutlich geworden: In Ungarn wird erwartet, dass dieBundesregierung dazu beiträgt, dass dann, wenn be-stimmte Voraussetzungen da sind, auch Beitrittsfähigkeiteintritt.Drittens. Die Bundesregierung und insbesondere derBundeskanzler gefährden das wichtigste europäische Pro-jekt, nämlich die gemeinsame Währung.Man sollte sichkeiner Illusion hingeben. Es ist schwierig genug, die Men-schen in Deutschland für die Osterweiterung zu gewin-nen. Wenn aber die Bundesregierung ihren Beitrag durchstrukturelle Reformen, durch ein Bekenntnis zum starkenEuro nicht leistet, wenn der Euro vor Eintritt als realerWährung – uns trennen davon weniger als fünfhundertTage –, nicht stärker wird, wird die Skepsis gegenüberweiteren Integrationsschritten in Europa zunehmen. Ichkann als Ökonom nur sagen: Das Gerede, ein billiger Euroist gut für unsere Exporte, ist sehr kurzsichtig.
Eine Weichwährung gefährdet auf Dauer unsere Wirt-schaftsfähigkeit, weil sie suggeriert, wir hätten unsereHausaufgaben gemacht.
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Dr. Helmut Lippelt11126
Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika bei einerWährungsveränderung von 20 Prozent schon jetzt sowettbewerbsfähig sind, muss man sich die Frage stellen,ob Deutschland in der Tat wettbewerbsfähig ist. Deshalbkann ich den Außenminister und auch den Finanzministernur dazu auffordern, das Ihre dazu beizutragen, dass derEuro stärker wird. Wir haben sonst keine Leitwährung.
Die Entwicklungsländer warten auf eine zweite Leit-währung. Sie warten auf eine Alternative zum Dollar.Aber in der jetzigen Verfassung ist der Euro dazu zuschwach.
Ein Schlüssel liegt in der deutschen Innenpolitik. Be-schleunigen Sie die Steuerreform. Setzen Sie die Öko-steuer aus. Killen Sie nicht die Autokonjunktur.
Dann tragen Sie das Ihre dazu bei, dass der Euro unddamit ein wichtiges Symbolprojekt für mehr europäischeEinigkeit wahr wird.Danke schön.
Für die Fraktion der
PDS spricht der Kollege Uwe Hiksch.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Debatte, die unser EU-KollegeGünter Verheugen über die Frage losgetreten hat, wiees gelingen kann, die Bürgerinnen und Bürger an demschwierigen Prozess der Veränderung der EuropäischenUnion zu beteiligen, ist ein wichtiger Beitrag dazu, end-lich hier im Hohen Haus und auch bei der Bundesregie-rung zu erkennen, dass wir die Bürger bei ihren Sorgenund Nöten angesichts der Veränderungen in der Europä-ischen Union abholen müssen. Wir müssen darüber reden,wie die Menschen in den Prozess der europäischen Inte-gration einbezogen werden können und wie man ihre Sor-gen über Arbeitslosigkeit und Sozialabbau ernst nehmenkann. Wir müssen darüber diskutieren, dass eine der vor-dringlichsten Aufgaben der Regierungskonferenz auchdarin besteht, endlich zu einer Demokratisierung derEuropäischen Union zu kommen.
Ein Europa, das sich nicht demokratisiert – hier hatOskar Lafontaine in seinen jüngsten Äußerungen absolutRecht gehabt –, das es nicht schafft, einfache, für die Men-schen verständliche Entscheidungsprozesse zu organisie-ren, und das wegen des heute vorhandenen Vetorechts voneinzelnen Staaten blockiert werden kann – weshalb esMehrheitsentscheidungen als Regelprinzip braucht –,wird ein Europa sein, bei dem die Menschen nicht mit-machen wollen.Das Interessante an der Kritik an Günter Verheugenwar vor allen Dingen, dass die Mehrheit der Kritiker nurdarauf hingewiesen hat, dass der Beitritt der mittel- undosteuropäischen Staaten nicht möglich sei, wenn Volks-entscheide kämen. Was heißt denn das? Die Menschensind noch nicht von der europäischen Idee überzeugt. Da-ran müssen wir arbeiten. Deshalb macht die PDS-Bun-destagsfraktion immer wieder deutlich, dass im Mittel-punkt der europäischen Politik die zentralen Fragenstehen müssen: Wie kann über die Europäische Union Ar-beitslosigkeit bekämpft werden und wie kann – dieseFrage stellen wir national, regional und auch auf europä-ischer Ebene – ein öffentlicher Beschäftigungssektoraufgebaut werden, der den Staat wieder ernst nimmt unddafür sorgt, dass sich die Politik endlich darum kümmert,dass jeder Mensch ein Recht auf Arbeit hat?
Zum Zweiten geht es darum, dass die Menschen alsEhrenamtliche – sei es in den Wohlfahrtsverbänden, sei esin Initiativen – eine Antwort auf den Versuch der EU-Kommission wollen, die Ökonomisierung der sozialenDienstleistungen durchzusetzen. Wir müssen darüberdiskutieren, dass die Privatisierung des öffentlichen Per-sonennahverkehrs sowie von Wasser und Abwasser keinZiel europäischer Politik werden darf und dass Alten-heime und all das, was in der Bundesrepublik aus der Ge-schichte unseres Landes heraus entstanden ist, nämlichein starker, von Wohlfahrtsverbänden getragener sozialerBereich, nicht einfach dem Wettbewerb unterworfen wer-den dürfen. Auch wenn die PDS-BundestagsfraktionWettbewerb als richtig und wichtig ansieht, werden Pri-vatisierungsorgien, wie sie zum Teil von der Bundesre-gierung betrieben und zum Teil von der EU-Kommissionangedacht werden, und der Versuch, unser bewährtes Sys-tem der Wohlfahrtsverbände zu zerschlagen, eindeutig aufunseren Widerstand treffen. Wir verteidigen die sozialenDienstleistungen und treten deshalb für einen starken öf-fentlichen Sektor ein.
Als Drittes wird die PDS-Bundestagsfraktion dafürkämpfen, dass Europa so verstanden wird, wie es einmalgegründet wurde: als Zivilmacht und nicht als Militär-macht.
Wer sich anschaut, wie zwischenzeitlich leider auch beiBündnis 90/Die Grünen und SPD über die Militarisie-rung Europas diskutiert wird, gewinnt den Eindruck, dassdas, was uns Willy Brandt einmal vorgegeben hatte, dieBetonung des Primats des Politischen in der Außenpoli-tik, von der Regierungskoalition vergessen wurde unddass nur noch der Primat der Stärke und der Waffen gese-hen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-tion, wenn Sie den Kommentar lesen, den Ihre verteidi-gungspolitische Sprecherin Verena Wohlleben geschrie-ben hat, dann müssten Sie sich eigentlich schämen, dassim Namen der Sozialdemokratie so etwas geschriebenwurde. VerenaWohlleben schreibt, heute gelte wie eh undje die Feststellung von Vegetius aus dem 4. Jahrhundert
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Dr. Helmut Haussmann11127
vor Christus: „Wenn du den Frieden haben willst, seikriegsbereit.“ Was für Worte! In diese Worte passt natür-lich, dass die rot-grüne Bundesregierung mittlerweileRüstungsexporte in die Türkei – seien es Panzer, sei eseine Waffenfabrik – als normal empfindet. Meine liebenGrünen, auch Sie, Herr Außenminister Fischer: Wenn Sienoch einigermaßen wüssten, was Sie vor wenigen Jahrenhier im Hause gesagt haben, dass nämlich Rüstungsex-porte an die Türkei ein Skandal seien, müssten Sie sich fürdie heutige Politik schämen.Wir treten dafür ein, dass die Europäische Union unddie Politik der Bundesrepublik Menschenrechte ernstnehmen muss. Es muss gelingen, die Grundrechts-Charta rechtsverbindlich zu verankern. Vor allen Dingenmuss es darum gehen, dass in der Bundesrepublik nichtdie Wirtschaftsinteressen an erster Stelle stehen und dieFragen der Menschenrechte, der zivilen Verteidi-gungspolitik sowie die Forderung, dass nicht das Militär,sondern die Außenpolitik zu gelten hat, endlich wieder inden Mittelpunkt kommen. In diesem Sinne wollen wir Eu-ropa als zivile Gegenmacht gegen Militarismus und gegenjede Form von international ungezügelten Kapital- undFinanzströmen. Die PDS kämpft für ein Europa der Men-schen und nicht – wie leider zwischenzeitlich die rot-grüne Bundesregierung – für ein Europa, das nur noch dieÖkonomie kennt.Danke schön.
Ich gebe das Wort
dem Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Christoph
Zöpel.
D
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die letzten Wochen und auch diese Debatte
sind von der notwendigen Forderung nach mehr europä-
ischer Öffentlichkeit bestimmt. Ich stimme dem zu. An
den kritischen Anmerkungen, dass sie an vielen Punkten
in Europa fehlt, ist viel dran. Sie fehlt auch im Minister-
rat. Noch stärker fehlt sie zwischen den Ländern; am
stärksten fehlt sie zwischen den Ländern, die bereits in der
EU sind, und denen, die in die EU kommen wollen.
Bevor man darüber nachdenkt, wie man weiterkommt
und was bereits passiert ist, ist es wichtig, sich zu ver-
deutlichen, welche Kommunikation, welche Öffentlich-
keit und mit welchem Ziel dies notwendig ist. Die Debatte
über mehr europäische Öffentlichkeit macht nur dann ei-
nen Sinn und gibt nur dann eine richtige Orientierung,
wenn sie in eine durch Wahlen erfolgende Legitimation
europäischer Politik, in die parlamentarische Wahl und
parlamentarische Kontrolle einer europäischen Exekutive
mündet.
Wenn das in den nächsten zehn Jahren nicht gelingt, nützt
es auch nichts, zu fordern, wir müssten mehr diskutieren.
Ich betrachte das als ziemlich zukunftsgerichtete
Grundorientierung. Ich sehe an einzelnen Punkten der De-
batte Fortschritte, und manches mag Sie jetzt vielleicht
überraschen. Unter Umständen ist die gegenwärtige De-
batte über den Euro – über seinen zu niedrigen oder zu
hohen Wert, je nach Blickrichtung, denn jeder Ökonom
wird zugeben, dass es verschiedene Aspekte gibt – die
erste wirkliche europaweite Debatte über ein konkretes
europäisches Problem. Dann ist sie ein Fortschritt.
Sie wird die Forderung nach sich ziehen – darüber kann
es gar keinen Zweifel geben –, zu fragen: Welches sind die
geeigneten Institutionen und welche geeigneten Kontroll-
möglichkeiten gibt es, um den Euro zu stärken und
stabiler zu machen? Es ist immer schwierig, sich dazu
zu äußern. Herr Kollege Hintze und Herr Kollege
Haussmann, nehmen Sie es mir nicht übel: Wenn die
Märkte, auf denen der Euro gehandelt wird, Sie sehr ernst
nähmen, was würde nach dem, was Sie hier gesagt haben,
wohl passieren?
Ein weiterer Punkt ist die Debatte über die öster-
reichische Innenpolitik. Ich denke, sie war nützlich für
Europa. Sie hat europäische Werte herausgearbeitet. Ich
glaube, sie wird die Umsetzung des europäischen Grund-
rechtskatalogs erleichtern, dessen Erarbeitung ein großes
Verdienst ist.
Sie war eine notwendige Debatte. Sie war vielleicht ein
wenig ein Anachronismus, weil es hier insofern bereits
um europäische Innenpolitik geht, als man nicht will, dass
in Europa an Regierungen Parteien beteiligt sind, die
fremdenfeindlich sind.
Aber ein letztes Mal: Wegen des Zustandes der euro-
päischen Institutionen musste das mit diplomatischen
Mitteln gemacht werden. Diplomatie und Öffentlichkeit
schließen sich doch vielfach aus. Das ist ein Problem der
Debatte.
Herr Kollege Zöpel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
D
Selbstverständlich, immer.
Herr Staatsminister Zöpel, HerrHaussmann hat eben den Außenminister aufgefordert, zuerklären, wie es die Bundesregierung jetzt mit den Sank-tionen gegen Österreich hält. Nachdem mit Ihrer Personwiederum ein Vertreter der Bundesregierung am Redner-pult steht, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Was ge-denkt die Bundesregierung jetzt, nach dem Bericht derWeisen, mit den Sanktionen gegen Österreich zu tun?Wollen Sie sie aufheben, ja oder nein, und, wenn ja,wann?
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Uwe Hiksch11128
D
Kollege Irmer, ich kann Ihnen nach Rücksprache
mit dem Bundeskanzler die Antwort geben, die auch not-
wendig ist: Wir wollen es der französischen Präsident-
schaft überlassen – natürlich nach Konsultationen mit al-
len Mitgliedstaaten einschließlich Deutschlands –, die
Entscheidung bekannt zu geben. Alles andere als der
engste Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutsch-
land in dieser Frage wäre ein fataler Fehler der deutschen
Politik.
Die Debatte, die durch einen solchen Fehler ausgelöst
würde, würden Sie nutzen, um eben diesen Fehler zu
geißeln. Das wissen wir von Anfang an. So bleibe ich bei
meiner Antwort: Wir überlassen es – nach Konsultatio-
nen – der französischen Präsidentschaft, die Entscheidung
der 14 EU-Mitgliedstaaten bekannt zu geben.
Gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage?
D
Ich möchte eigentlich gerne weiterreden.Ich bin jetzt sehr konkret auf die Europapolitik einge-gangen. Herr Kollege Hintze, eines nehme ich Ihnen per-sönlich übel, nämlich die Bemerkung, die Bundesregie-rung habe Sie über die Osterweiterung in den Aus-schüssen nicht zulänglich informiert. Ich kenne keine ein-zige Frage aus den letzten 12Monaten, die ich Ihnen nichtso ausführlich beantwortet habe, dass sich manche schongewundert haben, wieso ich so ausführlich war. Das ist dieRealität.
Jetzt möchte ich auf das Konkrete, was in der Europa-politik seit Ende 1998 durchgesetzt und fortgesetzt wird,eingehen.
– Ich muss mir nicht den Vorwurf machen lassen, demParlament zu knapp berichtet zu haben. Ich habe eher zuausführlich über das berichtet, was ich in einer transpa-renten Demokratie für notwendig gehalten habe. Ich binleidenschaftlich für Transparenz im Parlament und sogarim Ministerrat der EU.
Wir haben in Helsinki und während der portugiesi-schen Präsidentschaft Fortschritte gemacht. Wir stehenjetzt unter der französischen Präsidentschaft vor der Not-wendigkeit, die Voraussetzungen für die Osterweiterungzu schaffen. Unsere Linie ist, mit all unserem Tun Frank-reich zum Erfolg zu verhelfen. Das ist das Klügste undNotwendigste, was auch Sie immer gefordert haben. Daswerden wir in der effizientesten Form auch tun. Ich binsicher, es wird einen Vertrag geben, mit dem sich dasschaffen lässt. Der Vertrag wird in einigen Punkten wei-terweisen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen,etwa 2004 sei ein geeigneter Zeitpunkt, über eine europä-ische Grundordnung zu sprechen, die mehr Öffent-lichkeit, mehr Demokratie und auch Kompetenzabgren-zungen bringt. Dann können wir mit der Osterweiterungweitermachen.Das Wichtigste der Osterweiterung für Deutschlandist für mich in der bisherigen deutschen Debatte zu kurzgekommen: Die Osterweiterung ist aus deutscher Sichtnicht allein ein Vorgang der Ausdehnung der Marktwirt-schaft nach Osteuropa und der Übernahme des Acquis.Die Osterweiterung – wer etwas anderes behauptet, machteinen Fehler – ist auch die historische Aufgabe der Aus-söhnung Deutschlands mit Polen und Tschechien.
Es ist jetzt die Stunde gekommen, der AussöhnungDeutschlands mit Frankreich, um die wir weiterhin rin-gen – meine eben gemachten praktischen Hinweise warenein Zeichen dafür –, diese Aussöhnung folgen zu lassen.Wer etwas anderes behauptet, der wird die Chance, die inder Osterweiterung liegt, nicht nutzen. Konkrete Fort-schritte sind bereits deutlich geworden: In der Helsinki-gruppe ist ein Großteil der Kapitel und in der Luxem-burggruppe sind alle Kapitel mit den Staaten eröffnetworden. Die ersten sind abgeschlossen. Aber ein Kapitelöffnen und abschließen heißt: Im Augenblick geht es umdie Übernahme des Acquis.Eine realistische Einschätzung ist – jeder, der sich da-mit beschäftigt, wird das so sehen –, dass die Gesprächeüber den Acquis und seine Übernahme mit den entspre-chenden Ländern etwa zu dem Zeitpunkt abgeschlossensein werden, wenn Nizza von den 15 EU-Staaten ratifi-ziert wird. Dann wird nur noch über wenige zentralePunkte zu diskutieren sein, nämlich zum Beispiel über dieFragen der Übergangsbestimmungen und der Finanzie-rung. Ich glaube, dass es Sinn macht, wenn über dieÜbergangsbestimmungen, die für die, die schon Mitgliedin der EU sind, und für die, die noch hineinkommen wol-len, von Bedeutung sind, sensibel gesprochen wird. Fürmich stehen die Übergangsbestimmungen in einem sehrengen Zusammenhang mit der Idee der Versöhnung. Ver-söhnung ist auch Gewöhnung. Gewöhnung bedeutet ineinzelnen Fällen auch Übergangsbestimmungen; sei eswegen der Befürchtungen der Polen beim Erwerb vonGrundstücken, sei es – zum Glück abnehmend, weil im-mer bewusster wird, dass die Zahl der Menschen und auchdie Zahl der Erwerbskräfte in Deutschland abnimmt – beider Frage der Zuwanderung von Arbeitskräften. Das magdann nach 2002 geschehen. Dann wird sich auch die Frageder Finanzierung noch einmal stellen.Die Agenda 2000 ist doch klug gemacht: In der Mitteihrer Laufzeit ist eine Revisionsklausel vorgesehen. Sieliegt genau an dem Punkt, wo die harten Verhandlungenüber diese Themen beginnen. Die Revisionsklausel hatman vorgesehen, um neu nachdenken zu können. Das ver-bindet sich dann mit der Debatte um die Agrarpolitik, die
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man fair führen muss. Dass die polnische Agrarwirtschaftnoch nicht den Entwicklungsstand der deutschen Agrar-wirtschaft erreicht hat, wissen die Polen so gut wie wir.Aber dass insgesamt die Agrarwirtschaft der Welt im In-teresse vieler ein wenig geändert werden muss, weiß je-der, der schon einmal das Stichwort Agrarverhandlungenim Rahmen der WTO gehört hat. Auch dies wird etwanach 2002/03 zusammenlaufen.Dann werden wir ratifizieren müssen, und dann zeigtsich etwa in der Mitte dieses Jahrzehnts – der Außenmi-nister hat mutig, wenn ich das so sagen darf, 2005 ge-nannt –, ob es die meisten der ersten acht osteuropäischenStaaten und sicherlich mit Sonderüberlegungen Zypernund Malta – das will ich hier nicht vertiefen, das weiß je-der – geschafft haben. Das ist dann eine Erweiterung um70 Millionen Menschen. Das ist ein historischer Schritt.Ich glaube, es ist nichts verzögert, es geht voran.Ich erlebe bei den Hunderten von Gesprächen, die ichmit verschiedensten Gesprächspartnern führe, immermehr Zustimmung dazu, dass dieser Prozess recht objek-tiv beschrieben werden kann. Es kann in der zweitenHälfte dieses Jahrzehnts dazu kommen, dass es auch denRumänen und Bulgaren gelingt hinzuzustoßen. Es wärewunderbar – eine Hoffnung im Hinblick auf die Wahlenin den nächsten Tagen, die Herr Kollege Lippelt genannthat, steht damit im Zusammenhang –, wenn im Laufe die-ses Jahrzehnts auch mit den restlichen Europäern nord-westlich von Athen bzw. westlich der Grenze der ehema-ligen Sowjetunion gesprochen werden kann.Ich sehe hier klare und deutliche Perspektiven undschließe mit dem, womit ich begonnen habe: Das bedarfeiner gesamteuropäischen Kommunikation. Wer überPolen oder Tschechien kommuniziert, sollte sich immerüberlegen: Wie hören die das? Das ist meine Sorge.
Ich war vorhin mit einer Polin, die ich besonders schätze,mit der polnischen Botschafterin in Wien, zusammen.
– Eben. Sie ist im selben Krankenhaus geboren wie ich,so etwas verbindet.
– Zehn Jahre später!Sie hat mir erzählt, Sie habe den Gedanken, zunächstin Österreich – weil sie dort eben Botschafterin ist – einenösterreichisch-polnischen Journalistenpreis auszusetzen.Ich halte das für einen hervorragenden Gedanken. Wirsollten auch darüber sprechen, wie wir es honorieren kön-nen, wenn so sensibel wie möglich über die Menschen ge-schrieben wird, mit denen wir uns versöhnen müssen. Dasist für mich die große Herausforderung europäischerKommunikation, die sich uns stellt und an der wir allemitwirken müssen. Wir müssen bei jedem Reden über dieStaaten, die beitreten wollen, fragen: Wie wirkt das bei ih-nen? Dann kann man mit ihnen auch viel offener reden.Dann leisten wir etwas in diesem Jahrzehnt.Ich glaube, wir haben dabei Fortschritte gemacht. DieWeise, in der Sie mir zugehört haben, hat mich beein-druckt. Ich habe das Gefühl, Sie sind mit mir in dieserNotwendigkeit einer Meinung.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention erhält das Wort der Kollege Peter Hintze.
Herr Zöpel, Sie haben
eben eine Ausführung, die ich hier im Bundestag gemacht
habe, angegriffen und bestritten. Der intellektuellen Red-
lichkeit wegen will ich doch einmal kurz den Sachverhalt
darstellen.
Wir fühlen uns von Ihnen persönlich auf die von uns im
Ausschuss gestellten Fragen zu den von uns angespro-
chenen Komplexen immer fair, gut und zügig unterrich-
tet. Ich habe hier einen anderen Komplex angesprochen,
möglicherweise war er Ihnen nicht präsent – ich werde es
mir jetzt auch verkneifen, auf die amtsinternen Auseinan-
dersetzungen einzugehen, wer für was zuständig ist –: Es
gibt im Zusammenhang mit der Osterweiterung mittler-
weile mehrere Hundert Verhandlungsdokumente in den
einzelnen Kapiteln über die einzelnen Länder, die die
Bundesregierung freundlicherweise im Rahmen der guten
Zusammenarbeit den Bundesländern zur Verfügung stellt.
Ich habe hier angesprochen, dass es auch das gute Recht
des Deutschen Bundestages wäre, wenn der Fachaus-
schuss, wenn wir als Opposition die Gelegenheit hätten,
alle diese Dokumente zu bekommen, um nicht schlechter
als die Bundesländer gestellt zu werden. Das ist ein parla-
mentarisches Anliegen, das ich aus dem allgemeinen par-
teipolitischen Streit heraushalten wollte. Das wollte ich
hier ansprechen. Ich bitte darum, in diesem Punkt keinen
falschen Widerspruch aufkommen zu lassen.
Schönen Dank.
Zur Erwiderung der
Kollege Zöpel.
D
Ich habe inzwischen auf jede entsprechende Bitte imAusschuss reagiert, indem ich festgestellt habe: Sie be-kommen diese Unterlagen. Das sage ich auch hier, im-mer – aber nur zur Absicherung – mit dem Hinweis: Esgibt manchmal – aber viel seltener, als man glaubt – eineverfassungsrechtliche Restriktion. Wenn es die nichtgibt – ich sehe sie nicht –, dann bekommen Sie, wie vonmir jedes Mal zugesagt, jedes von Ihnen gewünschte Pa-
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Staatsminister Dr. Christoph Zöpel11130
pier im Rahmen der Osterweiterung. Dies habe ich hier-mit erneut zugesagt.
Nun gebe ich dem
Kollegen Dr. – – , dem Kollegen Christian Schmidt,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
– Man kommt bei den Doctores und bei den Professoren
schon ein bisschen durcheinander. Da gibt es auch Hono-
rarprofessoren und andere. Also, der Kollege Schmidt hat
das Wort.
Herr Präsi-dent! Ohne die Gepflogenheit zu missachten, den präsi-dierenden Kollegen in irgendeiner Weise in die Debatteeinzubeziehen, stellt sich natürlich auch die Frage, in wel-cher Funktion der Kollege vor mir in der Tat gesprochenhat und ob Sie die Dauer seines Beitrags nicht eigentlichauf die Redezeit der SPD-Fraktion anrechnen müssten.Ich darf sagen: Ich habe die Art und Weise sehr ge-schätzt, wie Staatsminister Zöpel in einem Bereich, fürden er, wenn ich recht weiß, nicht mehr zuständig ist, ge-antwortet hat. Manchmal lassen Äußerungen – auch die-jenigen, die Kollege Hintze angesprochen hat – von an-derer Seite der Bundesregierung Schärfe, Deutlichkeitund Klarheit vermissen. Es gibt in der Tat eine ganzeReihe von Fragen, die wir angesprochen haben, von denFragen der beabsichtigten Übergangsregelungen bis hinzu manchen anderen Dingen, über die dieses Parlament,das als Verfassungsorgan in der repräsentativen Demo-kratie ausgehandelten Verträgen mit einer entsprechendenMehrheit zuzustimmen hat, gerne rechtzeitig informiertwürde. Das ist ein Stück Bürgernähe und Demokratiever-ständnis, das notwendig ist. Es hat ganz und gar nichts mitdem zu tun, was Herr Kollege Zöpel angesprochen hat.Ich will einen Punkt aufgreifen, den er genannt hat. Erhat den Schwerpunkt auf die Osterweiterung und geradeauf unsere Nachbarländer gelegt. Es ist in der Tat eineganz entscheidende Frage, wie die Wirkung unserer Posi-tion auf Polen, auf die Tschechische Republik und aufUngarn gesehen wird; allerdings – ich gestatte mir, dasdazuzusagen – gilt es auch zu berücksichtigen, wie dieWirkung der Fragestellungen auf unsere eigenen Bürgerist.Der Kollege Verheugen hat schon vor Monaten Fra-gestellungen aufgeworfen, beispielsweise die der Konse-quenz der Freizügigkeit, die mich vermuten lassen, dassseine Äußerung nicht ein rechter Ausrutscher war, son-dern eigentlich in der Konsequenz seines Denkens liegt.Ich bin sehr dafür, dass wir keine Unklarheit aufkommenlassen und dass wir die Osterweiterung der Europä-ischen Union als eine politische Jahrhundertaufgabe an-sehen, an der wir alle arbeiten.
Ich bin aber auch sehr dafür, dass wir unser Volk, dieBürger, die uns gewählt haben, unsere Mitbürger, in diePolitik so ernsthaft einbeziehen, dass wir uns auch derMühe unterziehen, zu argumentieren, wie notwendig dieIntegration Polens, Tschechiens und Ungarns ist. Es magdann natürlich das eine oder andere Thema geben, überdas vertieft gesprochen werden muss und bei dem es Dis-krepanzen gibt, die aus dem Weg geräumt werden müs-sen.Die Agenda 2000 wurde bereits angesprochen. DenBürgern bei uns ist nicht klar, wie die Finanzierung derErweiterung der Europäischen Union vonstatten geht. Siesehen nur, dass die Beträge, über die in Berlin damals ver-handelt worden ist, nicht ausreichen. Ich will gar nicht al-lein von der polnischen Landwirtschaft reden. Wir habeneine ganze Reihe von Defiziten. 68Milliarden DM für dieBeitrittsländer ist zu wenig. Die Frage ist: Wie löst sichdas Problem der Defizite?Der luxemburgische Ministerpräsident Juncker hat janun vor einiger Zeit nicht gerade freundliche Sätze überden Europäischen Rat gesagt, als er über die Art undWeise gesprochen hat, wie die Verhandlungen ablaufenund wie intensiv bzw. weniger intensiv Vorlagen gelesenwerden. Es lohnt sich schon, die Agenda 2000 noch ein-mal zu lesen. Ich befürchte, dass sie auch damals einigenicht ganz gelesen haben.Der Bundeskanzler hat in einer Situation, in der er vonEuropa noch recht wenig Ahnung hatte – noch weniger,als er gegenwärtig hat –, seine Zustimmung zu Entschei-dungen gegeben, bei denen eine deutsch-französische Ko-operation nötig gewesen wäre. Ich will nur noch einmaldas Thema Kofinanzierung ansprechen. Diese ist keinHeilmittel, aber notwendig.Wo ich schon bei den deutsch-französischen Bezie-hungen bin, möchte ich noch ein Vorgehen ansprechen,das nicht unwidersprochen bleiben kann. In Bezug auf dasVorgehen gegen Österreich wird das Argument ge-bracht, es sei dringend erforderlich, dem deutsch-franzö-sischen Verhältnis in dieser Frage die Priorität einzuräu-men. Jawohl, es ist richtig, dass das deutsch-französischeVerhältnis in allen Bereichen ein Schlüsselverhältnis fürdas Gedeihen der europäischen Integration ist. Das kannaber nicht heißen, dass in solchen Fragen wie in denen derBehandlung von Mitgliedstaaten der Europäischen Unioneiner französischen Einlassung – wenn es denn so war –mit gewisser deutscher Unterstützung der Weg gebahntwird, Deutschland jetzt aber nicht bereit ist, die Initiativezu ergreifen – diese muss ja nicht coram publico stattfin-den – und zu sagen: Meine lieben französischen Freunde,ich glaube, wir müssen hier einen Ausweg finden. DerAusweg, der jetzt in Form einer Brücke, die der Berichtder Drei Weisen baut, geboten wird, wäre da. Unter Ziffer115 findet sich sogar etwas, durch das sich diejenigen be-stätigt fühlen können, die immer noch meinen, die Sank-tionen hätten irgendetwas Positives bewirkt, und was manaufnehmen könnte.
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Staatsminister Dr. Christoph Zöpel11131
Ich wiederhole das, was Kollege Haussmann gesagthat: Ich fordere den Außenminister auf, sich hier und jetzt,bevor er zur Generalversammlung der Vereinten Nationennach New York entschwindet, hinzustellen und zu sagen,ob er wie sein dänischer Kollege und entsprechend dergestrigen Ankündigung von Herrn Moskovici bereit wäre,die Sanktionen aufzuheben.
Ich möchte da schon noch einmal auf die Feinheiten IhrerArgumentation eingehen. Es geht nicht, zu sagen, das seikeine Angelegenheit der portugiesischen Präsidentschaft;deren Briefpapier sei nur versehentlich verwendet wor-den; es handle sich hierbei vielmehr um Einzelentschei-dungen der 14 Staaten. Ich kann mich gut daran erinnern,wie wir in der Fragestunde hier standen und wie unseremündlichen Fragen von Herrn Staatsminister Volmer ineiner sehr herablassenden Art und Weise beantwortet undkorrigiert wurden.
Es ist nun so, dass jeder für sich entscheiden kann, dennes betraf nur die bilateralen Beziehungen. Herr Fischer,seien Sie mutig, nehmen Sie die bilateralen Beziehungenzu Österreich wieder auf, entschuldigen Sie sich anstän-dig und sagen Sie: „Ich habe Blödsinn gemacht; ich willversuchen, das nicht mehr zu tun.“ Dann passt die Sache.
– Nein, so einfach ist es nicht. Ich möchte Ihnen ganzernsthaft sagen: Gehen Sie einmal nach Österreich undsprechen Sie mit Ihren Genossen. Fragen Sie sie – viel-leicht in zwei bis drei Jahren, wenn sie ihre Wahlnieder-lage verdaut haben –, ob Sie ihrem Lande etwas Gutes ge-tan haben.Ich habe es vorhin in allem Ernst als Zwischenruf ein-gebracht. Wenn bei den anstehenden Kommunalwahlen inBelgien jetzt der Stimmenanteil des Vlaams Blok inAntwerpen oder sonst wo möglicherweise noch zunimmt– davor besteht ja Furcht –, dann muss man das auch ander Fragestellung messen, ob denn solche Sanktionen et-was nützen oder nicht. Wenn Herr Haider jetzt öffentlichtriumphiert, dann ist das eine Konsequenz Ihrer Schnaps-ideepolitik mit diesen komischen Sanktionen.
Eigentlich wollte ich ja mit einem Lob anfangen. DasLob bezog sich auf die Botschafterkonferenz, die Sie,Herr Außenminister, durchgeführt haben, und auf die Re-den, die dort bezüglich der Perspektiven des auswärti-gen Dienstes gehalten worden sind. Ich finde, das passtdurchaus da hinein. Ich möchte Sie nämlich darin bestär-ken, dass Sie den auswärtigen Dienst bei der notwendigenReform mit einer entsprechenden parlamentarischen Be-gleitung, die wir anbieten, unterstützen. Lassen Sie sichvom Finanzminister nicht die Butter vom Brot nehmen.
Er geht ja inzwischen nicht nur so weit, dass er Ihnen Stel-len streicht – ab und zu gibt Ihnen der Haushaltsausschussein paar Stellen, die Sie gar nicht wollten; vielleicht ver-suchen Sie das auch in diesem Jahr –, sondern sogar nochweiter. Wenn der Finanzminister sagt, die EU-Länderbräuchten untereinander keine diplomatischen Vertretun-gen mehr, dann sollten im diplomatischen Dienst undauch bei unserer Außenpolitik alle Alarmglocken läuten.Die Vertretungen sind nicht nur ein Teil europäischer In-nenpolitik, sondern auch ein Teil der Darstellung der Bun-desrepublik Deutschland nach außen. Wenn es in Öster-reich keine Botschaft mehr gegeben hätte, dann hätten Sieniemanden mehr gehabt, der nach Ihrer Version überhauptnoch mit Österreich hätte reden dürfen. Seien Sie alsodankbar, dass wir in Österreich eine Botschaft mit sehrverdienten Mitarbeitern haben, die anständig und gut ge-arbeitet haben.
Wir stimmen in Bezug auf die Reform des auswärtigenDienstes auch zu, dass dieser zahlenmäßig nicht reduziertwerden darf – ich will das noch einmal ansprechen – unddass wir dabei eine Art Generalrevision durchführen müs-sen, nicht weil das Gesetz über den auswärtigen Dienstaus dem Jahre 1990 nicht mehr gut wäre, sondern weilsich die politischen und technischen Realitäten geänderthaben. Wenn es aber stimmt – da ist die Zahl wohl eini-germaßen zutreffend –, dass zahlenmäßig gerade einmaldie Hälfte der Diplomaten, die Frankreich oder Großbri-tannien in seinem Dienst hat, die gleiche Arbeit für dasgrößere Deutschland leisten muss, dann zeigt das erstensdie Arbeitsbelastung unserer Diplomaten und zweitensdie Notwendigkeit, diese Arbeit neu zu definieren und ineine neue Politik mit einzubeziehen. Ich befürchte, alleinmit der klassischen Vorstellung vom Diplomaten wird beikeinem Finanzminister die Geneigtheit bestehen, mehrGeld locker zu machen.Das heißt, die Motivation muss gestärkt werden, dieAufgaben müssen neu definiert werden. Die Motivationleidet allerdings dann, wenn beim internen Stellenkegelund vor allen Dingen bei den politischen „guidelines“, beiden Richtlinien, Schwierigkeiten bestehen. Auf diesemuss man noch einmal zu sprechen kommen.Da geht es beispielsweise um die Frage: Wie wird ei-gentlich mit Russland umgegangen? Wie wird mit demtransatlantischen Verhältnis umgegangen? Wo ist da dieOrientierung? In Ihrer Rede finde ich sehr wenig zu die-ser Frage; Sie haben es zum Schluss kurz angesprochen.Ich finde auch keine Beschäftigung mit den Schwierig-keiten, die insbesondere in Russland auftreten, nachdemHerr Putin in gewissen Bereichen seines politischen Ver-haltens einen Weg eingeschlagen hat, der mit Demokratienichts mehr zu tun hat. Hier muss etwas passieren. Hiermuss auch im auswärtigen Dienst – nicht nur auf
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Christian Schmidt
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Botschafterkonferenzen – klar werden, dass wir eine Re-gierung brauchen, die in diesen Fragen eine klare Ziel-stellung hat. Unsere Regierung hat sie nicht und das ist be-dauerlich.Etwas Versöhnliches zum Schluss – wenn es nicht sotraurig wäre, könnte man darüber lachen –: Offensichtlichneigt der Weltstaatsmann Schröder dazu, sich zum Dollarzu äußern. Erst hilft er mit, den Euro nach unten zu reden,und nun versucht er anscheinend, auch den Dollar nachunten zu reden. Wie könnte es sonst sein, dass im Haus-haltsentwurf für den Beitrag an die Vereinten Nationenvon 308 Millionen US-Dollar ein Wechselkurs von1,88 DM zugrunde gelegt wird?
Nach dem heutigen Wechselkurs wären das rund 700Mil-lionen DM. Das Haushaltsrisiko von rund 120 Millio-nen DM versucht der Bundeskanzler offensichtlich per-sönlich mit flotten, lockeren Sprüchen zu lösen, indem erdie Wirtschaft nach unten redet.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Günter Gloser für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man so man-che Zwischentöne in der heutigen Debatte ein bisschenbeiseite schiebt, dann glaube ich, feststellen zu können,dass es in wichtigen Fragen der Außen- und Europa-politik einen Grundkonsens gibt. Ich erwähne ausdrück-lich, Herr Kollege Hintze, dass Sie vorhin gesagt haben– ich denke, Ihre Aussage hat nicht nur heute, sondernauch morgen und übermorgen Bestand –, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wolle den Erfolg beider Projekte, alsoden Erfolg bei der Regierungskonferenz in Nizza und denErfolg im Rahmen der EU-Erweiterung. Das ist ein gutesZeichen. Im Deutschen Bundestag – auch als Sie damalsregiert haben – gab es in Grundfragen immer schon einenKonsens.Es ist vorhin schon gesagt worden – und ich kommedarauf zurück –: In der Mitte der Legislaturperiode ist esZeit, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Ich darf in die-sem Zusammenhang ein paar kritische Anmerkungen zuden Vorwürfen machen, die die jetzige Opposition uns da-mals gemacht hat: Wir würden Deutschlands Interessenschaden; wir seien kein verlässlicher Partner; wir hättendie deutsch-französischen Beziehungen gestört. Ich mussdazu sagen: Sie haben sich eine Scheinwelt aufgebaut. Siehaben Ihre Meinung in der Zwischenzeit an bestimmtenStellen auch schon korrigieren müssen. Die deutsch-fran-zösischen Beziehungen funktionieren gut. Sie sind derMotor der europäischen Einigung.
Ich halte es für einen Wert an sich, dass unter der Re-gierung Schröder/Fischer der Weg der europäischen In-tegration kontinuierlich weitergegangen wird. Wir sindein berechenbarer Partner geblieben und bleiben es auchin der Zukunft. Wir haben sehr viele wichtige Entschei-dungen getroffen – ich erinnere nur an die ersten sechsMonate unserer Ratspräsidentschaft –, beispielsweiseEntscheidungen hinsichtlich des Kosovo. Ohne die Frie-densinitiativen der Bundesregierung wäre dieser Konfliktnicht zu der Zeit der deutschen Präsidentschaft beendetworden.Ich erwähne ferner die Agenda 2000. Ohne das Ver-handlungsgeschick der Bundesregierung wäre in Berlindieser zukunftsweisende Kompromiss – ja, es war einKompromiss – nicht möglich gewesen. Erst dieser Kom-promiss im Rahmen der Agenda 2000, Herr KollegeSchmidt, hat die Möglichkeit geschaffen, auch über dieEU-Erweiterung Beschlüsse zu fassen. Diesen Punktsollte man einmal festhalten. Staatsminister Zöpel hatvorhin gesagt, dass man ausdrücklich eine Revisionsklau-sel aufgenommen hat, um Veränderungen aufgrund deraktuellen Diskussion einbeziehen zu können.Auch die Ausarbeitung einer Grundrechte-Chartawurde von Ihnen lange bekämpft. Jetzt gibt es darüber ei-nen Konsens. Weil es für die europäische Idee wichtig ist,ein identitätsstiftendes Projekt zu haben, reden wir nichtnur über ein bürgernahes Europa, sondern wir wollen mitdieser Charta ein bürgernahes Europa schaffen.Ein weiterer Punkt ist die europäische Beschäfti-gungspolitik.Auch dafür wurden in Köln unter der deut-schen Ratspräsidentschaft wesentliche Akzente gesetztund von den Portugiesen weiterentwickelt. Zur Halbzeitund nach Ende der ersten für diese Regierung sicherlichnicht einfachen Jahre kann man sagen, dass es sich umwichtige Meilensteine auf dem Weg zur europäischen In-tegration handelte.Ich komme nun auf das Thema Osterweiterung zusprechen. Ich bin sehr erfreut darüber, dass entsprechendeSignale von der Opposition kommen. Die SPD-Bundes-tagsfraktion wackelte an dieser Stelle zu keinem Zeit-punkt. Im Gegenteil: Wir haben vor wenigen Wochen inder Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass wir diesesProjekt unterstützen. Wir wissen nämlich, dass es nebenden Risiken vor allem Chancen birgt. Wir nehmen dieseRisiken ernst. Ich glaube aber, dass wir uns in diesemPunkt nicht von allen, aber doch von einigen Kollegen derCDU/CSU unterscheiden, indem wir diese Risiken offenansprechen. Wir wollen die Bürger aber nicht noch mehrverängstigen. Wir sind nämlich der Auffassung, dass be-stimmte Risiken durch Entscheidungen der Kommunen,der Länder und des Bundes und irgendwann – Sie erwäh-nen ja immer das Subsidiaritätsprinzip – durch Unterstüt-zung der Europäischen Union politisch beherrschbar sind.
Angesichts der aktuellen Diskussion, die durch das In-terview ausgelöst wurde, sage ich ganz deutlich: Nehmenwir die Ängste und die Befürchtungen ernst! Sprechenwir mit den Menschen, aber bestärken wir sie nicht inihren Ängsten! Liebe Kollegen aus Bayern, Ihr Minister-präsident hat leider bei den Menschen Ängste geschürt,
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Christian Schmidt
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anstatt aufklärerisch zu wirken. Wir von der SPD-Frak-tion informieren, aber desinformieren nicht.
In diesem Punkt gibt es Unterschiede bei Ihnen.Merkel sagt dieses, Merz sagt jenes und Stoiber sagt et-was anderes. Es wäre ganz wichtig, dass Sie wenigstensin diesem Punkt einen gemeinsamen Weg finden.
Ein weiterer Punkt – dies möchte ich mit Hinweis aufunsere Regierung sehr deutlich feststellen –: Ohne Zwei-fel muss es zwischen Außenministern Treffen geben.Wichtig ist aber auch das Gespräch mit den Bürgerin-nen und Bürgern, mit den Landräten und den Bürger-meistern vor Ort in den grenznahen Regionen. HerrDr. Müller, ich kann Sie beruhigen: Es gibt viele Bürger-meister – leider gibt es in Bayern immer noch zu viele Ih-rer Couleur; in Mecklenburg-Vorpommern habe ich ganzandere Bürgermeister kennen gelernt –, die klar sagen:Wir sind für die EU-Erweiterung. Über das Ob gibt esüberhaupt keinen Dissens, nur über das Wie. Damit müs-sen wir uns hier im Parlament, aber auch in den Landta-gen und in den Kommunen befassen.
In Mecklenburg-Vorpommern fragt man sich zum Bei-spiel, warum man mit den Grenzübergängen nach Polennicht in die Gänge kommt, warum eine Verbesserung derdortigen Situation so lange dauert. Da muss einmal nach-gehakt werden. Ein anderer Bürgermeister einer Stadt ander Grenze äußerte: Wenn die Grenzen geöffnet werden,dann fließt der dadurch entstehende Verkehr durch meineStadt. Das kann ich den Bürgern nicht zumuten. – Da istdie Frage an uns gerichtet, was man, wenn es sich zumBeispiel um eine Bundesstraße handelt, tun kann.Oftmals sind es sehr banale Dinge, die in den nächstenMonaten im Rahmen der Vorbereitung der EU-Er-weiterung zu lösen sind, damit zum Beispiel, wenn sichder Verkehr durch die Stadt schlängelt und es Staus gibt,nicht gesagt wird: Die EU-Beitrittsländer sind die Schul-digen. Wir wollten eigentlich keine EU-Erweiterung; füruns wird nichts getan. – Ich denke, wir alle sind gefordert:Sie in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen,und wir in den Ländern, in denen wir die Verantwortungtragen, und hier auf Bundesebene.
CDU-Kommunalpolitiker aus Mecklenburg-Vor-pommern haben mir gesagt – ich habe mich darüber sehrgefreut –, dass es bei ihnen mittlerweile Handwerker gibt,die die polnische Sprache erlernen. An diesem Beispielwird klar, dass sie nicht nur sagen: „Die Polen kommen zuuns nach Mecklenburg-Vorpommern“, sondern dass sieden europäischen Markt auch anders begreifen, indem siesagen: „Wir können unsere Leistungen auch in Polen an-bieten. Dazu müssen wir aber die Sprache beherrschen.Wir können ja nicht jedes Mal einen Dolmetscher mit-nehmen.“ Ich denke, dass es viele Initiativen in diesemSinne gibt. Dies ist ein sehr gutes Beispiel. Es gibt nochviele andere, die anzusprechen den zeitlichen Rahmensprengen würde.In diesem Bereich besteht Handlungsbedarf. Wirkönnen die bestehenden Risiken beherrschen. Das soll-ten wir den Menschen sagen. Insofern teile ich GünterVerheugens Einschätzung, dass wir noch mehr Informa-tionen weitergeben müssen. Haushälter und anderemöchte ich darauf hinweisen, dass wir keine teuren Hoch-glanzbroschüren brauchen. Die erreichen nämlich vieleMenschen nicht. Wir brauchen andere Medien, um ent-sprechende Informationen zu den Menschen zu transpor-tieren.Ich möchte Günter Verheugen für eine Äußerung aus-drücklich danken, nachdem er so viel Schelte und Prügelbekommen hat. Er hat zu Beginn des entsprechenden In-terviews gesagt: Die Erweiterung der EuropäischenUnion nach Osten ist ein historischer Glücksfall. – Rechthat er. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Weil dies einhistorischer Glücksfall ist, brauchen wir darüber auchkeine Volksabstimmung. Das Gefährliche an der ent-standenen Diskussion ist, dass bei den Menschen durchbestimmte Äußerungen Erwartungen geweckt wordensind. Der Vergleich mit der Einführung des Euro hinkt. Esist vorhin in der Diskussion schon angesprochen worden:Dann, wenn wir unsere Souveränität abgeben, sollten wirabstimmen, aber nicht in anderen Fällen. Wenn die Polenim Rahmen ihres Beitritts eine Volksbefragung durch-führen, dann ist das logisch. Denn sie werden Souverä-nitätsrechte auf die Ebene der Europäischen Union über-tragen.Herr Kollege Hintze, ich hoffe, dass der jetzt beste-hende Konsens nicht nur im Jahre 2000/2001 anhält, son-dern dass er auch noch im Wahljahr 2002 besteht. An an-derer Stelle ist es schon gesagt worden: Es wäre fatal, dieEU-Erweiterung zu einem Wahlkampfthema zu machen.Dies wäre kein gutes Zeichen auch an unsere Nachbarn.Das heißt nicht, dass man in bestimmten Punkte nicht kri-tisch miteinander umgehen sollte. Das bringt das Rollen-verständnis von Regierung und Opposition mit sich. Abereine platte Auseinandersetzung über dieses Thema hielteich für gefährlich.Auch ich sage noch einmal – ich weiß nicht, wer diesvorhin angesprochen hat –: Es ist wichtig, sich in dieKöpfe unserer Nachbarn zu versetzen. Dort gibt es Re-gierungen, die ihren Bürgerinnen und Bürgern wahnsin-nige Opfer im Rahmen dieses Prozesses abverlangenmüssen. Auch dort gibt es Wahlen. Es ist nicht nur bei unsso, dass manches so oder so entschieden wird, weilWahlen anstehen. Auch in Polen, in Tschechien und inUngarn wird gewählt. Das ist bei bestimmten Prozessen,die wir zu bewerkstelligen haben, zu berücksichtigen.
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Günter Gloser11134
Nicht Frust auf Europa ist angesagt, sondern Lust aufEuropa. Machen wir alle mit!Vielen Dank.
Weitere Wortmel-dungen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtesliegen nicht vor. Wir kommen deshalb nunmehr zum Ein-zelplan 17, Geschäftsbereich des Bundesministeriumsfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend.Ich gebe zunächst das Wort der Frau BundesministerinDr. Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, es istin der heutigen Beratung schon deutlich sichtbar gewor-den, dass die Bundesregierung mit dem Haushalt 2001den Prozess der wirtschaftlichen, aber auch der sozialenErneuerung unseres Landes ganz konsequent fortsetzt.Wir packen die notwendigen gesellschaftlichen Moderni-sierungen an. Dafür steht auch der Einzelplan 17, undzwar mit all seinen Bereichen.Lassen Sie mich mit der Familienpolitik beginnen. Fa-milie ist bei jungen Leuten glücklicherweise nicht out.Das zeigen uns viele Studien, und ich hoffe, dass wir dasauch um uns herum erleben. Wir wissen aber auch, dassjunge Leute beides wollen, sie wollen Erwerbsarbeit undFamilie miteinander vereinbaren. Deswegen ist es unserevorrangige familienpolitische Aufgabe, die Rahmenbe-dingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Berufzu verbessern; denn wir wollen den jungen Leuten dieMöglichkeit eröffnen, so zu leben, wie sie das selbermöchten. Wir wollen ihnen nicht vorschreiben, wie sie zuleben haben.
Ich habe mich aber manchmal über das erschrocken,was in den letzten Wochen aus der familienpolitischenEcke der Opposition kam. Das war schon ein Stück weitein Griff in die Mottenkiste, das muss ich hier einmal sodeutlich sagen.
An vielen Punkten klang auch wieder der Wunsch durch:Am schönsten wäre es eben doch, wenn man die Frauenwieder im Heim und am Herd hätte.
Das wird mit uns nicht zu machen sein.Die Gleichsetzung von Familien- und Bevölkerungs-politik – das war in den letzten Wochen durchaus zu ver-nehmen – machen wir nicht mit. Wer diese propagiert,zeigt, dass er noch nicht ganz im 21. Jahrhundert ange-kommen ist.Schauen Sie sich doch einmal an, was in anderen Län-dern, zum Beispiel in den nordeuropäischen Ländern oderauch in Frankreich los ist. Dort gibt es eine hohe Erwerbs-quote von Frauen, dort sind gute Rahmenbedingungen fürdie Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben. Dortkönnen junge Menschen ihren Kinderwunsch relativ gutumsetzen, und sie tun das auch.Wir versuchen, gute Rahmenbedingungen zu schaffen,damit junge Leute das auch bei uns tun können. Deswe-gen geht es in der Familienpolitik auch darum, tradierteRollenbilder aus den Köpfen zu bekommen. Hier habenSie uns eine ganze Menge hinterlassen, die wir kräftig ab-arbeiten.
Sie wissen – darüber haben wir schon mehrfach disku-tiert –, dass am 1. Januar 2001 das neue Erziehungsgeld-gesetz in Kraft tritt.
Ich denke, wir haben damit sehr deutlich gemacht, wo wirdie Rahmenbedingungen verbessern. Wir räumen mit tra-dierten Rollenbildern auf und geben Vätern und Mütterndie Möglichkeit, sich zur gleichen Zeit um die Kinder-erziehung zu kümmern. Wir werden das Elternzeit nen-nen. Darauf konnten wir uns ja gemeinsam verständigen.Wir verbessern auch die finanzielle Situation. Es wer-den immerhin 300 Millionen DM zusätzlich in den Erzie-hungsgeldetat fließen. Es werden wieder mehr Eltern Er-ziehungsgeld bekommen. Das hat es seit 14 Jahren nichtmehr gegeben, da ging die Kurve nämlich nach unten.Dieser Betrag – der Finanzminister hat es Ihnen heuteschon vorgerechnet – kommt zu den Dingen, die wir be-reits getan haben, wie zum Beispiel die Kindergelder-höhung um 50 Mark, die steuerlichen Entlastungen unddie Verbesserungen beim Wohngeld. Ich denke, das kannsich sehen lassen.Wir machen mit der Flexibilisierung der Elternzeitdeutlich, dass wir einen Modernisierungsprozess voran-treiben; denn wir wollen ermöglichen, dass junge Vätermehr Zeit mit ihrer Familie verbringen können.
Sie sagen, dass sie das möchten. Nun erhalten sie dasRecht auf Teilzeitarbeit. Sie dürfen bis zu 30 Wochen-stunden während der Elternzeit arbeiten. Ich hoffe, dassviele junge Väter davon auch Gebrauch machen werden.Wir brauchen jetzt mutige Väter im Land, und wir allekönnen dazu beitragen, dass die Väter ermuntert werden.Wir werden dieses Gesetz, wenn es Anfang nächstenJahres in Kraft tritt, mit einer Väter-Kampagne begleiten.Dadurch wollen wir versuchen, an die Rollenbilder he-ranzugehen und deutlich zu machen, dass für uns auchVäter, die sich um die Erziehungsarbeit kümmern, „ganzeMänner“ sind. Wir werden außerdem natürlich auch mitden Unternehmen zusammenarbeiten. Darüber hinauswird es einige andere Projekte geben.
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Günter Gloser11135
Es gibt auch schon einige gute Beispiele. An ihnenwird deutlich, dass diese Entwicklung gut für die Unter-nehmen ist. Ich freue mich, wenn ich einen Personalcheftreffe, der sagt, – davon gibt es nicht sehr viele – er wolleauch in der Führungsetage Männer haben, die sich nach-weislich um die soziale Kompetenz bemüht haben, diealso reduziert gearbeitet, vom Erziehungsurlaub Ge-brauch gemacht haben und sich wirklich um Familie undEltern kümmern. Das werden wir weiter unterstützen.
In der Politik dieser Bundesregierung für mehr Chan-cengleichheit von Frauen und Männern geht es auch umgesellschaftliche Modernisierung. Wir haben hierschon ausführlich über das Programm „Frau und Beruf“,unser gleichstellungspolitisches Regierungsprogramm,diskutiert. Davon sind bereits viele Punkte umgesetzt.Ich will nur einige nennen: Wir fördern Existenzgrün-dungen von Frauen – das läuft im Übrigen gut –, wir be-reiten sie im Rahmen des Projektes „Change/Chance“auf die Betriebsnachfolge in mittelständischen Betriebenvor. Außerdem kümmern wir uns in der Initiative„D 21“ zusammen mit den führenden Computerfirmen inunserem Land darum, dass Frauen ihre Berufschancen indiesem wichtigen und zukunftsträchtigen Bereich besserergreifen können und dass darum geworben wird, dassMädchen auch Ausbildungsplätze in diesem Bereich an-nehmen. Ich denke, das ist genau der richtige Weg.Wir sind uns aber doch vielleicht darüber einig, dassdas nicht reicht; wir können nicht nur auf solche Angeboteund auf Freiwilligkeit setzen. Deswegen habe ich vorigeWoche Eckpunkte für ein Gleichstellungsgesetz vorge-legt. Unser Ziel ist es, in diesem kommenden Gesetz alleUnternehmen zu verpflichten, Maßnahmen zur Gleich-stellung zu ergreifen. Es ist aber auch klar, dass unter-nehmerische Freiheit und Tarifautonomie Vorrang vorstaatlichen Interventionen haben. Wir wollen die Eigen-verantwortung der Betriebe erhalten, sodass zum Beispieljeder Betrieb diejenige Betriebsvereinbarung abschließenkann, die gerade notwendig ist.Deswegen soll dieses Gesetz zwei wesentliche Struk-turelemente enthalten: In der ersten Stufe soll die Ver-pflichtung festgeschrieben sein, zu solchen Vereinbarun-gen zu kommen. Dazu werden zurzeit noch Katalogeentwickelt, in denen steht, welche Punkte wir uns vorstel-len können. Daran können noch viele Unternehmen mit-wirken. Es gibt also für die Unternehmen bei dem, was sietun, viel Freiheit. Klar ist aber: Alle müssen etwas tun.Wir können nicht nur auf Freiwilligkeit setzen. Das habenwir schon bitter gespürt.
In der zweiten Stufe heißt es deswegen: „Wer nichthören will, muss fühlen.“ Wer sich nicht engagiert hat, fürden legen wir fest, was zu tun ist. Es müssen dann zumBeispiel Mindestanforderungen erfüllt werden. Ich denke,das ist eine vernünftige Struktur: Wir schreiben den Be-trieben nur vor, dass sie hinsichtlich der Gleichstellungund der Vereinbarkeit von Familie und Beruf etwas tunmüssen. Wie sie das aber machen, das ist ihre Sache.Das ist – das will ich nochmals sagen – wirklich wich-tig für den notwendigen Modernisierungsprozess in derWirtschaft. Wenn Sie sich einmal die positiven Beispieleansehen – ich nenne Ihnen gerne einige Beispielunterneh-men, bei denen Sie sich informieren können; wir habendazu gerade eine Broschüre erstellt – und sich anhören,was Unternehmen sagen, die diesen Weg gegangen sind,dann stellen sie fest, dass alle sagen, dass das nicht Kos-ten verursacht, sondern spart. Die Unternehmen profitie-ren davon. Sie haben diese kreativen Frauen an den ent-sprechenden Stellen eingesetzt. Sie kümmern sich umfamilienfreundliche Arbeitszeiten und anderes mehr. Ichdenke, das müsste eigentlich für alle zu vertreten sein.Wir werden, nachdem wir mit den entsprechenden Ex-perten weitergearbeitet haben, sicher noch über einen Ge-setzentwurf zu diskutieren haben; wir haben für dieseEckpunkte vieles aufgegriffen, was wir in einem langenDialogprozess gemeinsam mit Gewerkschaften, mit derWirtschaft, mit Unternehmen und mit der Wissenschafterarbeitet haben. Darauf freue ich mich schon. Eines vor-neweg: Ich habe vonseiten der CDU/CSU unterschiedli-che Äußerungen gehört. Von Ihnen, Frau Böhmer, habeich gehört, dass Ihnen dies nicht genug ist. Da habe ichrichtig gejubelt und gesagt: Na prima!
Ich denke, Sie werden jetzt etwas vorlegen, das nochüber das hinaus geht, was ich vorgeschlagen habe. Wirkönnen darüber reden, ob wir noch mehr verlangen wol-len. Ich bin durchaus dazu bereit. Ich habe auch andereMeinungen dazu gehört. Das kann ja noch ganz spannendwerden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir andie letzten Wochen zurückdenken, stellen wir fest, dassuns ein Thema sehr bewegt hat – das ist ein sehr bit-teres –, und zwar die rechtsextremen, die fremdenfeindli-chen Gewaltexzesse in unserem Land. Diese Morde, dieseTerrorakte, auch die Ausrufungen von so genannten na-tional befreiten Zonen durch Banden sind etwas, was wirsehr ernst nehmen müssen. Dies ist eine Kampfansage anunser demokratisches Gemeinwesen, eine Kampfansage,die wir sehr entschieden beantworten müssen.Einzelne Maßnahmen allein sind dazu nicht ausrei-chend. Wir müssen wissen, dass wir uns auf einen langenProzess einrichten müssen. Natürlich geht es darum, dassder Staat handelt, wirklich unnachgiebige Sanktionen er-lässt. Aber wir brauchen das Engagement aller Kräfte, diesich vor Ort gegen Ausländerfeindlichkeit einsetzen undengagieren – es können gar nicht genug sein –: Eltern,Lehrerinnen und Lehrer, Unternehmer, Unternehmerin-nen, Gewerkschafter, Gewerkschafterinnen.Es war wichtig, dass wir diese Politik, über die wir hierschon mehrfach diskutiert haben, zum Schwerpunkt ge-macht haben, dass wir gefragt haben: Wie schaffen wir es,dass alle Jugendlichen in diesem Land eine Chance ha-ben?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann11136
Dafür machen wir das Sofortprogramm. Deshalb küm-mern wir uns ja so um Ausbildungsplätze. Das mussnatürlich konsequent fortgeführt werden. Natürlich brau-chen wir eine präventive Jugendarbeit auf allen Ebenen,die uns hierbei unterstützt.
Wir müssen die Gegenkräfte, die es ja wirklich gibt,stärken. Das heißt, wir müssen das alltägliche demokrati-sche Engagement, auch die Netzwerke für Demokratie,unterstützen. Dabei sind mir besonders die Projekte wich-tig, in denen sich junge Leute, Jugendliche zum Ziel ge-setzt haben, sich mit anderen Jugendlichen auseinander zusetzen, die ausländerfeindliche Einstellungen haben.Sie haben vielleicht schon das eine oder andere überdas Projekt gelesen, das es in Sachsen gibt – ich habe esmir vor Monaten angesehen –, „Für Demokratie Couragezeigen“, wo junge Leute Schulprojekttage durchführen,sich mit Gleichaltrigen auseinander setzen, sich wirklichin diese Thematik hineinbegeben. Ich denke, dass diesesdirekte Gespräch sehr wirksam sein kann.Solche Ansätze zu unterstützen, das verfolgen wir mitder Initiative „Arbeit und Qualifizierung gegen Rassis-mus und Fremdenfeindlichkeit“, für die die Bundesregie-rung für die nächsten drei Jahre 75Millionen DM aus demEuropäischen Sozialfonds bereitstellt. Wir wollen hiermitnicht wieder irgendein neues Programm auflegen, beidem nach drei Jahren gefragt wird: Was machen wir dennnun wieder? Wer finanziert das weiter? Wir wollen dieInitiativen, die es vor Ort gibt, unterstützen. Ich denke,dass das enorm wichtig ist.
Wir sehen in diesen Debatten natürlich auch, dass dieErziehung zur Akzeptanz, zur Toleranz, zur Weltoffenheitetwas ist, für das man gar nicht genug tun kann. Deswe-gen will ich hier noch einmal sagen, in welchem Umfangwir nach wie vor den internationalen Jugendaustauschfördern: Es gehen immerhin – Sie kennen den Haus-halt ja – 60 Millionen DM in den internationalen Jugend-austausch, in die Jugendwerke, in die Begegnungen. Wiralle sind uns wohl darin einig, dass wir das aus-bauen müssen. Wir haben den Etat im Haushalt des nächs-ten Jahres schon ein bisschen ausgebaut. Wir wollen nichtnur das Bewährte fortführen, sondern zusätzlich mit derEinrichtung des Koordinierungsbüros für den deutsch-israelischen Jugendaustausch mit Sitz in Wittenberg inSachsen-Anhalt einen wichtigen Schwerpunkt dieser Ar-beit setzen.Ich will einmal die Zahlen nennen. Im letzten Jahr wa-ren es 340 000 junge Menschen, die an einem solchenAustauschprogramm teilgenommen haben. Das ist gutund wichtig. Das darf aber nicht dazu führen, dass Länderund Kommunen ihre Förderung zurückfahren, weil wirunser Niveau halten.
Meine Damen und Herren, Gewalt hat viele Facetten.Aber wir können die Gewalt in der Gesellschaft nurzurückdrängen, wenn wir damit schon bei den Kindernanfangen.
Eine moderne Kinder- und Familienpolitik muss deutlichmachen, dass Gewalt kein akzeptiertes Mittel der Erzie-hung ist.
Es muss in unserer Gesellschaft selbstverständlich wer-den – das ist mir wirklich bitterernst –, dass Kinder ohneGewalt erzogen werden.Wir haben vor der Sommerpause in diesem Haus dasGesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung verab-schiedet. Nur reicht ein Gesetz nicht aus, um den not-wendigen Bewusstseinswandel zu erzielen. Das wissenwir auch. Deswegen werden wir nächste Woche mit einerKampagne zur gewaltfreien Erziehung beginnen, die El-tern Unterstützung geben will. Wir wollen Eltern auch ge-genüber der Gesellschaft helfen. Es erziehen ja nicht nurdie Eltern. Andere erziehen mit, und andere sorgen mitdafür, dass Eltern gelegentlich ausrasten, indem sie sichnicht gerade solidarisch mit Eltern, die einmal ein Pro-blem mit ihrem Kind haben – die sind auch nicht immernur friedlich und freundlich, süß und nett, wie wir wis-sen –, verhalten.Wir werden die Kampagne unter dem Motto „MehrRespekt vor Kindern“ durchführen. Es geht uns wirklichum eine Veränderung des Bewusstseins. Wir werden nichtnur eine Kampagne mit Plakaten und Material durch-führen. Wir wollen viele Einzelprojekte und Vor-Ort-Ak-tionen im ganzen Land unterstützen und Eltern in Erzie-hungsfragen helfen. Ich bitte alle in diesem Haus, sichdaran zu beteiligen. Ich denke, es lohnt sich.
Es lohnt sich, den Weg zu gehen und es zu versuchen. Wirwissen, dass wir das Problem nicht von heute auf morgenlösen können. Aber wenn wir Gewalt in der Gesellschaftabbauen wollen, dann müssen wir bei den Kindern anfan-gen.Meine Damen und Herren, auch in der Seniorenpoli-tik stehen wir in den nächsten Wochen und Monaten vorwichtigen Entscheidungen. Wir haben in der letzten Sit-zungswoche vor der Sommerpause ebenfalls das Gesetzüber die Berufe in der Altenpflege verabschiedet, das einebundeseinheitliche Altenpflegeausbildung vorsieht. Dasist ein wichtiger Schritt zur Sicherung der Qualität in derPflege, zur Aufwertung des Berufsbildes, zur Weiterent-wicklung der Pflegeberufe. Nun wissen wir, dass am29. September der Bundesrat darüber entscheiden muss.Wir haben fast alle Vorschläge, die aus den Ländernkamen, umgesetzt. Aber wir haben das Problem, dass vonder bayerischen Seite versucht wird, dieses Gesetz zu Fallzu bringen, obwohl – das muss man einmal deutlich sa-gen – die Bayern selbst, die zurzeit eine zweijährige schu-lische Ausbildung haben, sehen, dass das so eigentlich
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann11137
nicht geht. Das müssen wir ändern. Wir brauchen wenigs-tens drei Jahre. Warum dann nicht gleich dieses bundes-einheitliche Gesetz? Müssen Sie denn in einem solchenPunkt, wenn es um Pflegequalität und Sicherheit für ältereLeute geht, einen parteipolitischen Streit führen? Ichglaube, das kann man vor den Menschen, die Pflege brau-chen, nicht vertreten.
Als zweiten Punkt haben wir – das wissen Sie – dieNovelle des Heimgesetzes auf der Tagesordnung.
Wir haben in den letzten Monaten viel mit Verbänden überdas Altenpflegegesetz beraten. Schon seit zehn Jahrengeht es um das Thema der bundeseinheitlichen Altenpfle-geausbildung. Das kenne ich schon aus der Landespolitik.Sie wollten es eigentlich auch immer, Ihre Regierung hates nur irgendwie nicht hingekriegt. Jetzt haben wir das aufdem Tisch. Nun lasst es uns endlich machen. Ich denke,es ist einfach wichtig.
– Jetzt sind wir beim Heimgesetz, ja. Das wird nächstenMonat im Kabinett sein. Da haben wir eine ganze Mengezu leisten.
Ich denke, das ist klar. Wir haben sehr viele Abstim-mungsprozesse durchgeführt; das wird vernünftig.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss noch ein paar Sätze zum Zivildienst sagen. Ichdenke, dass die Situation jetzt klar ist. Die Bundesregie-rung hat gesagt, die Wehrpflicht bleibt. Damit bleibt auchder Zivildienst. Die Erfahrungen, die wir im Sommer mitder verkürzten Zivildienstdauer gemacht haben, habengezeigt, dass die Kassandrarufe, die prophylaktisch ausallen Ecken und Enden kamen, unberechtigt waren. Esgibt immer wieder das eine oder andere Problem. Aberdiese Probleme, zum Beispiel bei der individuellenSchwerstbehindertenbetreuung, haben wir – ich sage dasganz klar, weil mir das ernst ist – schon seit Jahren. Schonseit Jahren erklären sich immer weniger Zivildienstleis-tende bereit – das beruht ja auf Freiwilligkeit –, in diesemBereich zu arbeiten. Wir haben alle Freiheiten gelassen.Die Steuerung hat gut funktioniert, was aus den Zahlen er-sichtlich ist, die ich auf dem Tisch habe. Ich denke, wirwerden auch das, was jetzt auf dem Tisch liegt, hinbe-kommen.Auch die Verbände sehen das so. Sie wissen, dass beieiner Verkürzung des Zivildienstes auf zehn Monate – da-rüber freut sich niemand, jeder hätte seine Zivis gerne län-ger – die Arbeit im Prinzip weitergehen kann. Es bedarfnatürlich einer organisatorischen Umstellung. Deswegenhaben wir die Arbeitsgruppe zur Zukunft des Zivil-dienstes eingerichtet. Sie wird noch diese Woche ihreEmpfehlung vorlegen.
Frau Bundesministe-
rin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, ich bin am
Schluss.
Ich möchte Ihnen noch das Internationale Jahr der
Freiwilligen ans Herz legen. Wir haben in diesem Bereich
noch viel Potenzial, das wir nicht genutzt haben. Das kön-
nen wir im nächsten Jahr gemeinsam unterstützen.
Wir stehen für eine Politik, die den Menschen in unse-
rem Land gleiche Chancen eröffnet. Wir stehen für eine
Politik, die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass die
Menschen ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten
können. Wir stehen für eine Politik, die Bürgerinnen und
Bürger aktiv beteiligt und den gesellschaftlichen Zusam-
menhalt in diesem Land endlich wieder fördert. Das sind
die Richtlinien unserer Politik.
Danke schön.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident.Da mir die Frau Ministerin leider keine Zwischenfragegestattet hat, möchte ich zumindest anmerken dürfen,dass es im Zivildienst wirklich nicht so eiapopeia läuft.Frau Ministerin, ich hätte schon erwartet, dass Sie we-nigstens ein Wort dazu sagen, dass in einer großen Stadtin Bayern, in Würzburg, der individuelle Schwerbehin-dertenbetreuungsdienst in diesem Jahr eingestellt wurde,weil beim Zivildienst so gekürzt wurde, dass der Betreu-ungsdienst nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.Dort sind behinderte Menschen richtiggehend liegen ge-blieben. Ich finde, das kann nicht akzeptiert werden – inkeiner Stadt, auch nicht in Bayern.Ich will noch etwas hinzufügen. Sie haben gesagt: Dasich die Regierung entschieden hat, den Wehrdienst bei-zubehalten, wird demzufolge auch der Zivildienst blei-ben. Das ist möglicherweise momentan richtig. Dennoch,finde ich, sollte eine Regierung für den Fall vorbereitetsein – diese Diskussion ist ja bedauerlicherweise nicht ab-geschlossen –, dass der Zivildienst eines Tages nicht mehrzur Verfügung steht, weil die Wehrpflicht doch – aus wel-chen Gründen auch immer – abgeschafft wird. Dann soll-ten Alternativen bereits funktionieren. Es gibt einiges,was man nicht abschaffen kann, ohne bereits etwas Neueszu haben. In dem Falle, wenn es um Betreuung von Men-schen geht, müssen zuerst funktionierende Alternativengeschaffen werden.Ich weiß, dass der Zivildienst keinen sozialen Sicher-stellungsauftrag hat. Jeder aber weiß, dass momentan Zi-vildienstleistende Aufgaben mit hoher Verantwortungübernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind und die sieeigentlich nicht machen dürften. Ich finde, dazu hätten Sie
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etwas sagen sollen. Wir sind hier in einer Haushaltsde-batte. Ich hätte gerne gehört, mit wie viel Geld Sie das un-terstützen wollen.Danke schön.
Zur Beantwortung
Frau Bundesministerin Dr. Bergmann.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Entschuldigung, aber
ich habe nicht mitbekommen, dass Sie vorhin eine Zwi-
schenfrage stellen wollten. Ich antworte natürlich gerne
auf Ihre Frage, das hätte ich auch vorhin gemacht.
Zum Thema Steuerung. Wir haben den Verbänden und
den Beschäftigungsstellen wirklich freie Hand gelassen.
Es gab Kontingente, die vorgegeben waren. Aber wir ha-
ben hier sogar noch ausgetauscht und gesagt: Wenn es ir-
gendwo zu Problemen kommt, dann verteilen wir um. Wir
hatten eine Extraregelung für den Bereich der individuel-
len Schwerstbehindertenbetreuung und für den Bereich
der mobilen Dienste. Das gilt ebenso für den Kinderbe-
reich. Wir haben, so gut es irgend ging, abgesichert, dass
auch dort, wo es keine Kontingente mehr gab, jeder Zivi,
der kam, eingestellt werden konnte.
Warum und weshalb das in Würzburg nicht geklappt
hat, weiß ich nicht; da muss ich einmal nachfragen. Man
muss sich aber auch die Beschäftigungsstellen vor Ort an-
sehen und sich fragen: Haben sie jetzt vor lauter Angst an-
ders reagiert? Ich habe bisher von solchen Fällen nichts
gehört. Wir sind wirklich jeder Beschwerde, die aus die-
sem Bereich gekommen ist, sofort nachgegangen und ha-
ben uns darum gekümmert, dass genau dies nicht eintritt.
Wir werden im Jahresdurchschnitt 2000 immerhin
124 000 Zivildienstleistende haben. Und es gibt immer
ein paar Bereiche, wo man sagen kann: Wenn dort einmal
im Moment keiner ist, dann ist das nicht so schlimm. Aber
diesen Bereich haben wir vorrangig abgedeckt.
Ich muss auch noch einmal sagen, dass diese Arbeit auf
Freiwilligkeit beruht. Das Hauptproblem ist: Wie be-
kommen wir genügend junge Leute, die freiwillig in
diesem Bereich arbeiten? Wir werden in den nächsten Ta-
gen die Empfehlung der Arbeitsgruppe vorstellen. Dabei
werde ich noch etwas zu dem Thema sagen: Wie können
wir Freiwilligendienste ausbauen? Wie können wir in be-
stimmten kritischen Bereichen das eine oder andere mit
entsprechend qualifizierten Freiwilligen abfangen? Das
Thema fällt nicht unter den Tisch. Da brauchen Sie sich
keine Sorgen zu machen.
Ich gebe nunmehr
der Kollegin Dr. Maria Böhmer für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen nicht nurmutige Männer in diesem Land, wir brauchen vor allenDingen eine mutige Familienministerin.
Bei dieser Bilanz, die Sie versucht haben anzureißen, FrauMinisterin Bergmann, hilft Schönreden nichts. Die Bilanzist dürftig, wenn man sich anschaut, was in den letztenzwei Jahren geschehen ist.
Sie häufen Minuspunkt auf Minuspunkt: beim Erzie-hungsgeld zu kurz gesprungen, beim Kindergeld nur dasNötigste, die Eigenheimförderung haben Sie als Erstesgekürzt, den Unterhaltsvorschuss haben Sie auf die Kom-munen verlagert und die älteren Menschen sind im War-testand, was das Heimgesetz betrifft. Ich darf gar nicht anunseren Antrag denken, den wir im Pflegebereich zu denDemenzkranken gestellt haben. Jugendschutz im Me-dienbereich scheint für Sie ein Fremdwort zu sein, derZivildienst ist zur Spardose degeneriert. Bei der Alterssi-cherung der Frauen – das muss ich Ihnen sagen – habenSie bisher auf der ganzen Linie versagt.
Bezüglich des Programms „Frau und Beruf“, das immerwieder angesprochen wird, hat die Steigerung ganze14 Pfennige pro erwerbstätige Frau betragen. Damit wol-len Sie Frauen nach vorne bringen?Im Bereich der Frauenpolitik gibt es statt eines Geset-zes, das wir jetzt debattieren könnten, wirklich nur küm-merliche Eckpunkte, wie wir in der letzten Woche erfah-ren haben. Ich muss Ihnen sagen: Unter diesen Um-ständen darf es nicht wundern, dass die „Wirtschaftswo-che“ am 17. August festgestellt hat, dass Sie, Frau Minis-terin Bergmann – es tut mir Leid –, ein Ausfall auf derganzen Linie seien.Vier zentrale Politikfelder haben Sie vor sich. In vierzentralen Politikfeldern haben Sie so gut wie nichts be-wirkt.Ich nenne als Erstes – das tue ich bewusst – denFamilienbereich. Sie haben im Koalitionsvertrag gesagt:Wir wollen Deutschland wieder zu einem kinder- und fa-milienfreundlichen Land machen. Das sind schöne Worte,das sind gute Worte. Aber wie sieht die Realität aus? DieSituation der Familien in Deutschland ist äußerst unbe-friedigend. In der „FAZ“ war am 8. September zu lesen:fast jedes fünfte Kind arm. Kinder kosten Geld – gar keineFrage.
Aber Kinder dürfen nicht zum Armutsrisiko werden. Jemehr Kinder, umso mehr kommt eine normal verdienendeFamilie an die Grenze der Sozialhilfebedürftigkeit. Dasist sozial ungerecht; denn Kinder sind unsere Zukunft.
Wie war das noch einmal mit dem Kindergeld, dessenErhöhung Sie ja immer wieder in den Blick rücken undauf das Sie auch heute wieder rekurrieren? Jedes Kind ist
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Dr. Ilja Seifert11139
gleich viel wert, das habe ich von der SPD immer wiedergehört. Wenn ich mir aber vor Augen führe, dass eine Fa-milie mit vier Kindern bei der Kindergelderhöhung imSchnitt nur mit der Hälfte der Erhöhung wegkommt – sieerhält umgerechnet pro Kopf statt 30 DM nur 15 DM –,dann muss ich sagen: Der Weg, den Sie hier beschreiten,ist nicht der Weg in eine familienfreundliche Gesellschaft.Familienförderung ist ein Stiefkind dieser Bundesre-gierung, trotz aller Worte, die Sie finden, trotz aller finan-ziellen Mittel, die Sie aufbringen. Hier muss ich Ihnen sa-gen: Die hochgelobten Kindergelderhöhungen werdenvon steigenden Kindergartenbeiträgen und von den Aus-gaben für Strom, Benzin und Heizöl aufgefressen.
Das, was sich hier darstellt, ist ein dickes Minusgeschäftfür Familien. Es ist typisch SPD: In die eine Tasche gebenSie etwas, aus der anderen Tasche nehmen Sie etwas.
Man muss doch Politik als eine Gesamtheit sehen, mankann den Blick doch nicht nur auf eine Tat richten.Nehmen Sie die Ökosteuer. Sie betrifft alle, aber be-trifft die Familien ganz besonders. Die Familien müssenmit dem Auto zur Arbeit fahren, die Kinder müssen zurSchule gebracht werden, gerade im ländlichen Bereich,und auf die Heizkosten kann doch niemand verzichten.Oder wollen Sie die Familien im Winter im Kalten sitzenlassen? Das bedeutet in jedem Monat 130 DM mehr fürdas Tanken und 33 DM mehr für das Heizen.
Das heißt, dass den Familien unter dem Strich wenigerbleibt, als sie vorher gehabt haben. Das ist Etiketten-schwindel.
Die Ökosteuer mutiert hier zur K.-O.-Steuer für Familien.Sie verschließen – das habe ich in allen Debatten heuteund in den letzten Tagen gemerkt – einfach die Augen vordieser Entwicklung. Wir sagen es Ihnen hier noch einmalganz klar: Satteln Sie bei der Ökosteuer Anfang desnächsten Jahres nicht erneut drauf, stoppen Sie diese Ent-wicklung und schaffen Sie die Ökosteuer ab!
Politik für Familien ist auch mehr als Finanzpolitik.Wir müssen die gesellschaftlichen Veränderungen inden Blick nehmen. Da sind wir nicht auseinander, wennes darum geht, eine bessere Vereinbarkeit von Familie undBeruf zu erreichen. Wir müssen dafür sorgen, dass sichdie Menschen wieder auf Kinder freuen, Ja zu Kindernsagen und sich nicht zurückgehalten fühlen. Aber dazumüssen bestimmte Rahmenbedingungen in unserer Ge-sellschaft verändert werden. Auch muss in der Arbeits-welt etwas geschehen. Nur, sehr geehrte Frau MinisterinBergmann, mit den von Ihnen vorgelegten Eckpunkten fürein Gleichstellungsgesetz, mit denen erreicht werden soll,dass Frauen in der Arbeitswelt vorankommen, werden Sie– mit Verlaub – nicht viel ausrichten. Vor allen Dingensind keine neuen Ideen dabei.Ich habe einmal in mein Regal gegriffen – das würdeden anderen Kolleginnen hier auch nicht schwer fallen –und jetzt eine Broschüre aus dem Jahre 1987 in der Hand:„Leitfaden zur Frauenförderung in Betrieben“. Wenn ichdie dünnen Eckpunkte, die Sie vorgestellt haben, mit demvergleiche, was 1987 von der ersten FrauenministerinDeutschlands gesagt worden ist, dann sehe ich keine Wei-terentwicklung. Das ist Stagnation bei den Ideen. Wirbrauchen gerade bei der Vereinbarung von Familie undBeruf neue Ideen. Wir brauchen ein druckvolles Eintretenfür Verbesserungen.Jetzt möchte ich Ihnen einmal sagen, wo es solcheneuen Ideen gibt. Nicht bei der SPD; aber schauen Sie insSaarland: Im Saarland werden jetzt die Weichen für dieFinanzierung im Kindergartenbereich neu gestellt. Dersaarländische Ministerpräsident Müller geht einen muti-gen Weg.
Die Kindergartenplätze sollen kostenlos sein. Das halteich für richtig. Werben Sie dafür, damit wir gemeinsam inDeutschland Verbesserungen erreichen können.
Wir brauchen eine qualitative Weiterentwicklung,eine Modernisierung der Familienpolitik. Sie haben übermehr Kindergeld und über die Änderungen beim Erzie-hungsgeld gesprochen. Aber das alles ist nicht der großeWurf; denn Familien müssen heute immer noch auf ver-schiedene Leistungen rekurrieren, müssen zu verschiede-nen Ämtern gehen und sind mit verschiedenen Einkom-mensgrenzen konfrontiert. Wir treten dafür ein, einFamiliengeld zu schaffen, das es Eltern leichter macht,Kinder zu erziehen, und das Ja zum Kind erleichtert. Wirwerden dafür kämpfen und uns in der nächsten Zeit mitIhnen darüber auseinander setzen, wie eine zukunftswei-sende Familienförderung auszusehen hat.Was das Familienbild angeht, so bin ich in letzter Zeitsehr nachdenklich geworden; denn Sie sind dabei, dasGrundrecht in Art. 6 des Grundgesetzes, „Ehe und Fami-lie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichenOrdnung“, auszuhebeln. Sie wollen für die gleichge-schlechtlichen Lebensgemeinschaften eine „Ehe light“schaffen. Wir sind dafür, Diskriminierungen abzubauen.Dort, wo es notwendig ist, dass Hilfe geleistet wird, sindwir für konkrete Hilfe. Aber wir werden es nicht mitma-chen, dass jeglicher Unterschied zur klassischen Ehe vonIhnen ausgehebelt wird.
Die „Ehe light“ geht auf Kosten aller anderen. Beden-ken Sie: Der Kuchen, den Sie zu verteilen haben, wirdnicht größer werden.
Wenn mehr an diesem Tisch sitzen – das planen Sie mitIhren Vorschlägen zur „Ehe light“ –, dann werden dieStücke kleiner. Das geht zulasten der kinderreichen Fami-lien und der Alleinerziehenden und das ist kein Weg ineine familienfreundliche Gesellschaft.
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Dr. Maria Böhmer11140
Jetzt will ich einen weiteren Punkt ansprechen, der mirseit längerer Zeit – gerade wenn ich mir Ihre Äußerungenbzw. Nichtäußerungen vor Augen führe, Frau MinisterinBergmann – sehr viel Sorgen macht: Es ist das ThemaFrauen und Rente. Ich habe die Pressemeldungen ver-folgt. Ich habe Sie, Frau Ministerin, vermisst, als es da-rum ging, sich in dieses Themenfeld einzubringen undForderungen für Frauen zu erheben. Sie haben in NewYork davon gesprochen, wir bräuchten ein „gender main-streaming“, das heißt, die Integration der Anliegen vonFrauen in allen Politikbereichen. Nur: Wo erheben SieIhre Stimme, wenn es darum geht, für Frauen in derRentenreform etwas zu erreichen? Es ist die Mehrzahlder Rentner, um die es geht. Es geht um die Zukunft von11 Millionen Rentnerinnen in Deutschland. Hier erkenneich nichts, was von Ihnen an Gedanken eingebracht wor-den ist.
Das einzige, was ich aus Ihrem Hause registriert habe,war ein harscher Protest, als die Frauenverbände einen of-fenen Brief an Bundeskanzler Schröder schrieben unddarin erklärten, die Frauen stünden in Gefahr, eindeutigeVerliererinnen dieser Rentenreform zu werden, wenn diePläne von Rot-Grün Realität würden. Daraufhin hat IhreParlamentarische Staatssekretärin, Frau Niehuis, von ei-ner unglaubwürdigen Allianz und von unglaubwürdigenLuftblasen gesprochen.So kann man in diesem Land nicht mit Frauen um-gehen. Sie haben die Frauen vor der Wahl benutzt, um dieRentenforderungen, die Sie aufgestellt haben und die Sieheute als Fehler bitter bereuen, im Lande zu verbreiten.Wenn Ihnen aber die Botschaften nicht passen, greifen Siezu Beschimpfungen; das geht nicht. Wir müssen zurück-kehren zu einer Politik, die dazu führt, dass gerade in derRentenversicherung Nachteile für Frauen abgebaut wer-den und vor allen Dingen keine neuen Nachteile entste-hen.
Ich hoffe sehr darauf, dass in dem Gesetzentwurf, den wirerwarten, diese Bedingungen erfüllt sind und Sie IhreStimme mit erheben.Ich will als letzten Punkt eines ansprechen: Sie habensich zur Jugendpolitik, zu Gewalt und zum Rechtsradika-lismus geäußert. Aber ich habe von Ihnen nichts zu einemBereich gehört, der in diesem Zusammenhang eigentlichin Ihrem Blickfeld liegen sollte: Es ist der Jugendschutzim Medienbereich. Frau Ministerin, das ist eine Kompe-tenz, die in Ihren Händen liegt. Gewalt im Fernsehen, Ge-walt im Internet, Pornographie im Internet und die Ent-wicklung im digitalisierten Fernsehen, das alles muss unseigentlich alle umtreiben.Seit einem Jahr liegt der Bericht zum IuKDG, zum In-formations- und Kommunikationsdienste-Gesetz, vor. Indiesem ist ausgeführt, dass die Bestimmungen zum Ju-gendschutz im Medienbereich nicht mehr den aktuellenAnforderungen entsprechen. Welche Schlussfolgerungenziehen Sie aus dieser Aussage? Wo sind Ihre Vorschläge?Ich habe bisher nichts erfahren. Die Länder – so ist mir zuOhren gekommen – wollen jetzt den Jugendschutz imMedienbereich auf ihre Seite ziehen. Das heißt: EineKernkompetenz aus Ihrem Haus steht zur Disposition. Ichkann Ihnen nur sagen: Wehren Sie sich! Im Zeitalter derGlobalisierung und im Zeitalter von Internet kann es dochnicht sein, dass eine Kernkompetenz im Bereich des Ju-gendmedienschutzes von der nationalen Ebene völlig aufdie regionale Ebene, auf die Länderebene verlagert wird.
Wir brauchen klare, einheitliche Regelungen im Be-reich des Jugendmedienschutzes. Wir brauchen bessereEinrichtungen in diesem Bereich. Wir müssen diesenDschungel durchforsten. Das gilt es zu tun, hier erwarteich Vorschläge aus Ihrem Haus und nicht nur von Länder-seite. Denn es gilt, schnell zu handeln, damit wir der Ge-walt auf diesem Feld Einhalt gebieten können.
Frau Kollegin
Böhmer, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Auch Ihnen, Frau
Ministerin, läuft die Zeit davon. Politik für junge Men-
schen, für Ältere, für Frauen und für Familien muss man
richtig machen! Rot-Grün kann das nicht. Das kann nur
die Union. Deshalb werden wir mit Ihnen weiterhin hef-
tig über die Zukunft der Familien in Deutschland streiten.
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht nun die KolleginIrmingard Schewe-Gerigk.
legen! Während der Vorbereitung meiner Haushaltsredestand ich ein wenig in der Versuchung, es dem Altbun-deskanzler Kohl gleichzutun, als er seine Neujahrsredegehalten hat, und die Rede aus dem letzten Jahr nocheinmal vorzutragen; denn: Das Meiste ist gleich geblie-ben, sieht man einmal davon ab, dass die Ausgaben dies-mal nur um 2 Prozent reduziert werden. Aber bei einem10-Milliarden-DM-Haushalt, bei dem fast 7 Milliar-den DM allein durch das Erziehungsgeld gebunden sind,ist auch nicht mehr viel zu holen. Die Kürzungen sinddennoch schmerzlich.
Aber angesichts Ihrer Hinterlassenschaft von 1,5 Billio-nen DM an Schulden, die wir bei unserer Regierungs-
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Dr. Maria Böhmer11141
übernahme vorgefunden haben, kommt man an Einspa-rungen nicht vorbei,
es sei denn, man spart auf Kosten der nächsten Genera-tion. Dies wollen wir nicht.Die Einsparungen waren durch die Verkürzung des Zi-vildienstes und durch eine geringere Inanspruchnahmedes Erziehungsgeldes aufgrund der gesunkenen Gebur-tenrate möglich. Frau Böhmer, ist es nicht so, dass IhreKolleginnen von der CDU/CSU-Fraktion immer wiederverbreiten, wir würden das Erziehungsgeld kürzen? Daswird nicht gekürzt. Wir haben 300 Millionen DM mehreingestellt. Aber weil weniger Kinder geboren werden,wird auch weniger in Anspruch genommen. So weit zuden Mitteln des Einzelplans 17.Sie sagen: Im Haushalt tut sich nicht viel. Wenn Sie nurden Haushalt betrachten, könnte ich Ihnen vielleicht zu-stimmen. Aber es ist nicht der Haushalt allein. Ich möchtejetzt an drei Beispielen aus den Bereichen Familien-,Frauen- und Seniorenpolitik, die konträr zu Ihrer Vorlage,Frau Kollegin, stehen, deutlich machen, welchen Wandeldie neue Bundesregierung eingeleitet oder sogar schonumgesetzt hat.Beispiel Familienpolitik: Die gesunkene Geburtenrateund ihre Auswirkung auf die sozialen Sicherungssystemewaren im Sommer Thema zahlreicher Veröffentlichun-gen. Besonders hat sich dabei der bayerische Minister-präsident Stoiber hervorgetan, in dem er eine aktive Be-völkerungspolitik gefordert hat.
Wie er die Frauen ködern möchte, mehr Kinder zu ge-bären, hat Herr Stoiber – vielleicht Gott sei Dank – nichtgesagt. Verehrter Herr Stoiber, ich hatte gedacht, dieseZeiten seien eigentlich vorbei. Wir lehnen eine aktive Be-völkerungspolitik ab.
Wir müssen allerdings die Paare unterstützen, die zwareinen Kinderwunsch haben, diesen aber aus vielfältigenGründen nicht realisieren. Von diesen Paaren gibt es eineMenge, wie Befragungen zeigen. Das ist das Ergebnis Ih-rer konservativen Familienpolitik, die stets auf demRücken der Frauen ausgetragen wurde. Es ist doch keinWunder, dass schon heute jede dritte Frau auf Dauer kin-derlos bleibt. Das ist die Begründung dafür. Das ist in mei-nen Augen eine stille Revolution der Frauen, die deutlichmacht, dass sie nicht mehr bereit sind, die alleinige Ver-antwortung für die Kinder zu übernehmen.
Der Arbeitsmarkt ist weit davon entfernt – auch darinstimmen wir überein –, mit flexiblen Arbeitszeiten aufdie Bedürfnisse von Eltern zu reagieren. Die meisten Kin-derbetreuungseinrichtungen und Schulen sind so gestal-tet, dass die Mütter mittags mit fertig gekochtem Essenzur Verfügung stehen müssen. Und die Väter? In denmeisten Fällen haben sie noch immer die Zuschauerrollein der Familie inne. Auch das werden wir ändern.Frau Böhmer, wenn Sie vorhin gesagt haben, die Mi-nisterin sei ein Ausfall in der Familienpolitik,
dann muss ich Ihnen sagen, dass ich das, was Sie gesagthaben, für einen Ausfall halte.
Gerade in der Familienpolitik hat die Bundesregierungentscheidende Weichenstellungen vorgenommen, ange-fangen mit dem Elternzeitgesetz, das für drei Jahre denRechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit vorsieht,und mit dem neuen Gesetz, mit dem jetzt die Möglichkeitzur Teilzeitarbeit auch im Zusammenhang mit anderenBedürfnissen generell festgeschrieben wird.Auch finanziell – im Rahmen der Einkommensteuer –sind die Familien besser gestellt worden. Deshalb führeich folgendes Beispiel noch einmal an, Frau Böhmer: EinEhepaar mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommenvon 60 000 DM, das eine Fahrleistung von 15 000 Kilo-metern im Jahr und einen normalen Verbrauch an Gas undStrom hat, spart trotz aller Belastungen noch immer2 000 DM. Deswegen können Sie hier nicht behaupten:Die Ökosteuer sei schuld. Sie sollten intellektuell etwasredlicher sein.
Zweimalige Erhöhung des Kindergeldes und auch Er-höhung des Erziehungsgeldes – auch das sind ziemlicheLeistungen. Dass das Familienpolitikerinnen immer nochnicht genug ist, ist doch klar. Wir setzen das aber Schrittfür Schritt um. Wir sind auf dem Weg, auch 2002 wiederetwas finanziell für die Familien zu tun. Eine Kindergeld-erhöhung wäre meiner Ansicht nach die gerechteste Lö-sung, weil dann kleine und mittlere Einkommen einetatsächliche Förderung bekommen.Auch bei Antworten zum demographischen Abwärts-trend steht das Thema Migration auf der Tagesordnung.Im Jahre 2050 werden selbst bei einer eingerechneten Zu-wanderung von 200 000 Menschen pro Jahr in Deutsch-land 10MillionenMenschen weniger leben. Auch aus die-sem Grunde begrüße ich als Grüne ausdrücklich dieEU-Richtlinie zur Familienzusammenführung, die jasehr weitgehend ist und nach der Kinder bis zum 21. Le-bensjahr zu ihren Eltern nach Deutschland nachziehenkönnen.
Eine weitere notwendige Maßnahme zur Sicherung dersozialen Sicherungssysteme wäre die Erhöhung derFrauenerwerbstätigkeit.Auch hier haben Sie uns mit ei-ner Frauenerwerbstätigkeit von unter 40 Prozent eineHinterlassenschaft vermacht, bei der wir eine ganzeMenge nachholen müssen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Irmingard Schewe-Gerigk11142
Damit bin ich beim zweiten Thema, der Gleichstel-lungspolitik in der Privatwirtschaft. Noch nie hattenwir eine so gut ausgebildete Frauengeneration – FrauLenke, Sie werden mir da zustimmen. 55 Prozent habendie Hochschulreife; der Anteil der Studentinnen ist52 Prozent. Frauen haben durchschnittlich die besserenNoten. Diese Zahlen finden keine Entsprechung in derBerufswelt. Frauen verdienen immer noch fast ein Drittelweniger als Männer. Sie haben 1999 laut Eurostat 3,7 Pro-zent der Führungspositionen inne. In den Hundert größtenAktiengesellschaften hat es bis vor kurzem eine Vor-standsfrau gegeben. Diese gibt es nun auch nicht mehr. Imeuropäischen Vergleich liegen wir sowohl bei der Er-werbsquote als auch bei den Verdienstchancen und bei derKinderbetreuung im unteren Drittel. Bei den Führungspo-sitionen bilden wir mit Italien das Schlusslicht. Das sindkeine Indikatoren für einen modernen Wirtschaftsstand-ort.
Ich finde, wir können es uns nicht länger leisten, in Eu-ropa das Schlusslicht bei der betrieblichen Gleichstellungzu sein.Beim Thema Europa denkt man natürlich sofort immeran den sinkenden Euro. Es gibt eine Menge Erklärungen,woran es liegt, dass er sinkt. Ich möchte noch eine hinzu-fügen: Vielleicht liegt ja die Euro-Schwäche daran, dassbei uns so wenige Frauen in Entscheidungspositionensind,
während in den Vereinigten Staaten fast jede zweite Top-position mit einer Frau besetzt ist. Diese Erklärung wäreja mal eine Überlegung wert.
Es gibt schon jetzt eine Reihe von Unternehmen – dassind nicht nur Großbetriebe –, die erkannt haben, dassChancengerechtigkeit letztendlich auch den Unterneh-men zugute kommt. Um diesen positiven Prozess zu be-schleunigen, brauchen wir ein Gesetz, das die Unterneh-men zur Gleichstellung verpflichtet. Das ist, KolleginLenke, keine Politik mit der Brechstange,
sondern das, was die Ministerin vorgeschlagen hat, würdeich als ein Werkzeug zur Feinjustierung bezeichnen. Esgeht sehr genau auf die Dinge ein, die zu regeln sind.Ihnen geht das alles viel zu weit. Den CDU-Kollegin-nen Süssmuth und Böhmer geht das viel zu langsam undist zu wenig verbindlich. Wir scheinen also auf dem rich-tigen Wege zu sein.
Wir hätten bei diesem schwierigen Projekt natürlich gernenoch die eine oder andere unterstützende Stimme aus derOpposition und der Koalition.Zum Schluss komme ich zu einem traurigen Kapitel,der Seniorenpolitik. Seit Jahren berichten die Medienüber Missstände in Heimen. Untersuchungen belegen,dass 30 Prozent der Pflegeheimbewohner an qualvollenSchmerzen durch offene Wunden leiden, die durch Pfle-gefehler entstanden sind. Fachleute gehen davon aus, dasseine häufige Todesursache von Heimbewohnern das Aus-trocknen aufgrund mangelnder Flüssigkeitszufuhr ist.Festschnallen mit Gurten und Ruhigstellen mit Psycho-pharmaka sind an der Tagesordnung. So wird der Lebens-abend zur Hölle. Diese Vorfälle sind nicht neu. Trotzdemwurde bisher nicht gehandelt. Auch hier wird die Politikendlich reagieren.
Eine Änderung des Heimgesetzes, die auch unangemel-dete Kontrollbesuche ausdrücklich vorsieht, und aucheine bessere Ausbildung des Fachpersonals werden si-cherlich eine Verbesserung bringen. Das können aber nurerste wichtige Maßnahmen sein, die meines Erachtensauch noch nicht ausreichen werden. Wir werden das Ge-spräch mit bereits bestehenden Initiativen und Fachleutensuchen, damit diese Menschenrechtsverletzungen an altenMenschen ein Ende finden.Ich glaube, dieser kleine Exkurs in die drei Fachberei-che hat deutlich gemacht, wie wichtig und umfassend dieArbeit unseres Ausschusses ist, ohne dass sich das imHaushalt in Mark und Pfennig widerspiegelt. Lassen Sieuns um die besten Lösungen streiten. Ich denke, wir tungut daran, unsere Konzepte vorzustellen und durchzuset-zen, damit sich in dieser Republik endlich etwas bewegt.Vielen Dank.
Mein Kollege Schrift-
führer sagte mir, dass die Regelung hinsichtlich der Re-
dezeit locker gehandhabt würde. Ich will eigentlich, dass
die Redezeit eingehalten wird. Das sage ich jetzt. Eben
habe ich das ein bisschen laufen lassen.
Nun erteile ich der Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Frak-
tion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! In der rot-grünen Frauen- und Familienpoli-tik ist mehr Schein als Sein und mehr Zwang als Motiva-tion. Das ist typisch sozialdemokratisch und typisch grün.Wir Liberale haben eben andere Vorstellungen vonFrauen- und Familienpolitik.Wir sind nämlich nicht fürGesetze, die persönliches und wirtschaftliches Handelneinschränken; vielmehr wollen wir politische Rahmenbe-dingungen, die wir nicht mit Androhung und Zwang er-reichen wollen.
Sie haben gesehen: Wir haben auf der Grundlage desBundesverfassungsgerichtsurteils politische Alternativenzur Elternzeit, zur Erziehungszeit und zur Familienförde-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Irmingard Schewe-Gerigk11143
rung vorgelegt. Wir sind in Bezug auf die Möglichkeitender Beschäftigung von Frauen wirklich weitergegangenals Sie. Unsere Vorstellungen zielen mehr auf die indivi-duelle Ausgestaltung der Vereinbarkeit von Familie undBeruf und natürlich auf die Unterstützung von Männernin der Familienphase. Unsere Konzepte liegen auf demTisch. Sie haben sicherlich andere gehabt und Sie sindvon Ihren überzeugt. Wir werden die zwei Jahre einmalabwarten und schauen, ob sich auf der Grundlage Ihrerneuen Konzepte wirklich etwas bewegt hat. Ich habe da-ran meine Zweifel.Ich möchte kurz zu § 19a des Ausländergesetzes kom-men. Wir im Deutschen Bundestag arbeiten über Frakti-onsgrenzen hinweg sehr konstruktiv zusammen. Wirkonnten Sie überzeugen, dass diejenigen Frauen, die fürden Lebensunterhalt nachweislich nicht aufkommen kön-nen, einen Sozialhilfeanspruch haben. DiesbezüglicheMaßnahmen waren in Ihrem ursprünglichen Gesetzent-wurf nicht enthalten. Ich finde eigentlich ganz gut, dassIhnen die F.D.P. in diesem Punkt weiterhelfen konnte.
Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie habeneine Halbzeitbilanz vorzulegen. Man fragt sich manch-mal, welche Vorstellungen Sie zu Beginn der Regierungs-zeit hatten und was Sie in der Politik haben durchsetzenkönnen. Ich erinnere mich sehr gern an das, was Sie nichtdurchsetzen konnten. Zum Beispiel haben Sie in dieserRegierung bis heute das Ehegattensplitting nicht abschaf-fen können – eine Forderung, die man von Ihnen immerhören konnte.Außerdem wollten Sie eine Gleichstellung mit der Ehe.Volker Beck ist heute nicht da. Er hat in den Veranstal-tungen, bei denen ich war, immer gesagt: Wir wollen diegleichgeschlechtlichen Partnerschaften der Ehe gleich-stellen. Sie haben in dem Entwurf, den Sie zusammen mitder SPD vorgelegt haben, einiges zurückgenommen.
– Wir haben einen anderen Entwurf, der verfassungsfestist, Herr Simmert, während Ihr Entwurf vor dem Verfas-sungsgericht überhaupt nicht standhält. Von daher werdenSie noch viele Änderungen vornehmen, noch vieles beidem Gesetz zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaftenzurücknehmen.Herr Simmert, ich bleibe bei Ihnen. Ich habe in altenProtokollen nachgelesen. Im Februar 1999 haben Sie fürdie Koalitionsfraktionen und die von ihr getragene Regie-rung die zeitliche Gleichstellung des Zivildienstes mitdem Wehrdienst gefordert. Wir haben da so viele Ände-rungen gehabt. Wieso ist Ihnen das eigentlich nicht ge-lungen?
Das ist überhaupt kein Problem. Herr Simmert, wo ist ei-gentlich Ihre Erfolgsmeldung?Ich meine, diese wenigen Beispiele zeigen, dass Sie indieser Regierung ganz kleine Brötchen backen müssen.
Ich will aber auch noch auf die SPD zu sprechen kom-men. Schröder hat im Wahlkampf am 17.April 1998 – ichkann mich sehr genau daran erinnern; es ist auch im Fern-sehen gezeigt worden – versprochen, dass er eine Steuer-politik zur Entlastung von Familien mit Kindern gestal-ten will. Jeder weiß das. Aber Fakt ist doch, dass dieindirekten Steuern durch steigende Energiepreise – das istjetzt wirklich nicht wegzudiskutieren; die hohen Heizöl-und Benzinpreise sind nicht nur von Ihnen zu verantwor-ten – –
– Ja, dafür können Sie nichts; aber auch als Sie in der Op-position waren, haben Sie nicht gefragt, welche Preisesteigen und welche nicht. Jetzt müssen Sie sich sagen las-sen, dass eine Entlastung der Familien faktisch nicht vor-handen ist.
Machen Sie eine bessere Politik – Herr Fischer ist ja nichtmehr da –, vielleicht wäre es etwas anders gekommen,wenn er sich da ein wenig mehr eingesetzt hätte.Meine Damen und Herren, ich möchte nur aus dem„Focus“ dieser Woche zitieren – das haben Sie sicher auchmit Interesse gelesen –:Wie so oft leiden besonders die Familien unter stei-genden Preisen. Die zusätzlichen Belastungen zwin-gen die Familien zu schmerzhaften Einsparungen.Das ist Fakt.Ich möchte noch ganz kurz auf einen weiteren Meilen-stein Ihrer Regierungspolitik eingehen, nämlich auf dasGleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft. Sie wol-len ja die Vergabe von Aufträgen an Frauenförderung bin-den. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass das sehr büro-kratisch werden wird und dass der Schuss für die Frauennach hinten losgehen wird, Frau Wolf.
Sie werden es sehen. Die Wirtschaft erhält von Ihnen Auf-lagen über Auflagen:
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der Erzie-hungszeiten, 630-Mark-Gesetz, Gleichstellungsgesetzund das Neueste – das habe ich gestern im Radio gehört –:Sie wollen einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auchbei Betrieben mit zwei bis drei Mitarbeitern einführen. Da
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Ina Lenke11144
sagen Sie mir einmal, wie ein Betrieb überhaupt überle-ben kann.
Mir ist es ein wirkliches Bedürfnis, mich jetzt nochdem Zivildienst zu widmen.
Im Einzelplan 17 werden für nächstes Jahr 2 Milliar-den DM veranschlagt. Im letzten Haushalt hat es ja aus-schließlich massive Kürzungen gegeben. Darunter habendie Zivildienstleistenden bis heute zu leiden.
– Ja, sicher. Sie haben einen geringeren Rentenanspruch.Das wissen Sie doch, Herr Simmert, erzählen Sie dochnichts.Weiterhin müssen die Einrichtungen mehr Entlas-sungsgeld bezahlen und ihr Anteil bei den Tagegeldernliegt höher.
Sie haben die Zivildienstzeit während Ihrer Regie-rungszeit gekürzt. Gemäß dem Scharping-Konzept wer-den Sie ihn bis 2002 von 13 auf 10 Monate kürzen, umnicht falsch verstanden zu werden.
– Ab 1. Januar 2002 wollen Herr Scharping und Sie eineneunmonatige Wehrpflicht einführen, dann wären wir bei10 Monaten. Das bedeutet, dass es in anderthalb Jahrendrei Monate weniger sind.Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich halte es fürsehr positiv, dass wir junge Leute zu kürzeren Zwangs-diensten, Wehr- oder Zivildienst, verpflichten. Die jungenMänner können dann eher eine berufliche Ausbildungmachen. Die Schwierigkeit, die ich jedoch mit der Regie-rungspolitik habe, ist, dass Sie immer kürzen, kürzen undkürzen, aber kein Konzept für den Zivildienst vorlegen.Das haben Sie bis heute nicht geschafft.
Ich habe wirklich den Eindruck, Frau Ministerin – ich be-gründe das jetzt auch noch –, dass das für Sie keine Her-zensangelegenheit und deshalb auch keine Chefinnensa-che ist.Durchgesickert ist ja nun in der letzten Woche, dass dieArbeitsgruppe zur Zukunft des Zivildienstes, die in IhremMinisterium hinter verschlossenen Türen tagt, einen frei-willigen Zwangsdienst ausgebrütet haben soll. Man kannsich also als Wehrpflichtiger oder Zivildienstleistenderzwei Monate länger, als der Zivildienst dauert, verpflich-ten. Dann braucht man weder den Wehrdienst noch denZivildienst zu leisten. Sie wollen also jetzt, weil SieSchwierigkeiten mit den Einrichtungen haben, einen frei-willigen Zwangsdienst, der zwei Monate länger als derZivildienst – das muss man sich einmal vorstellen, daswären drei Monate länger als die Wehrpflicht – dauert,einrichten. Ich halte das für happig. Für mich ist der Vor-schlag völlig unseriös. Vielleicht fragen Sie einmal nach.Ich bekomme keine Antwort, denn diese Arbeitsgruppetagt hinter verschlossenen Türen. Die Ministerin hat ja an-gekündigt, dass es in der nächsten Woche eine entspre-chende Vorlage geben wird. Ich bin sehr gespannt, ob sichdieser Vorschlag in dieser Vorlage wiederfindet.
Jetzt denken Sie aber
an Ihre Redezeit.
Ich achte jetzt darauf.
Nein, sie ist schon seit
über einer Minute abgelaufen.
Über eine Minute? Dann will ich
nur zum Schluss Frau Bergmann noch ein Lob ausspre-
chen. Gemäß dem Haushaltsentwurf wollen Sie Mittel zur
Stärkung des Ehrenamtes einsetzen. Da stimmen wir Ih-
nen uneingeschränkt zu. Ich hoffe, dass es nicht nur Gut-
achten geben wird, sondern auch vor Ort von den Verei-
nen und Verbänden praktische Arbeit durchgeführt
werden kann. Dabei sind wir Ihnen gerne behilflich.
Nun hat die Kollegin
Petra Bläss, PDS-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Zwei Jahre nach der Bundestagswahlist es an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Auch inder Frauenpolitik fällt diese ernüchternd aus. Der Re-gierungswechsel zu Rot-Grün war zu Recht mit der Hoff-nung auf einen Paradigmenwechsel in der Gleichstel-lungspolitik verbunden. Lassen Sie mich aus aktuellemAnlass exemplarisch aufzeigen, warum die Enttäuschungüber Ihre halbherzige Politik – übrigens nicht nur bei uns –so groß ist.Frau Ministerin Bergmann, die Koalition hat vor zweiJahren ein effektives Gleichstellungsgesetz für die Pri-vatwirtschaft versprochen. Die Praxis hat gezeigt, dassin puncto Chancengleichheit in der Privatwirtschaft auffreiwilliger Basis so gut wie nichts passiert und dass jah-relange Appelle an die Wirtschaft, an die Unternehmer, andas Management nichts bewegt haben.Nun ist von einem effektiven Gleichstellungsgesetzfür die Privatwirtschaft so gut wie keine Rede mehr. Nunwollen Sie doch wieder auf Appelle setzen. Natürlichgibt es die Unternehmen, bei denen Appelle fruchten, diemit gutem Beispiel vorangehen, die zudem wissen, dasssich die Gleichbehandlung der Geschlechter auch rech-net. Aber sie sind in der Minderzahl. Sie selber haben ver-gangene Woche gesagt, dass sich von über 2 MillionenBetrieben gerade einmal knapp 100 um Prädikate fürChancengleichheit bemühen.
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Ina Lenke11145
Frau Ministerin, ich habe mich an den Dialogforen Ih-res Ministeriums zum Thema Chancengleichheit in derWirtschaft beteiligt. Ich bin mit Ihnen der Meinung, dassChancengleichheit für Männer und Frauen tatsächlich einErfolgsfaktor für die Wirtschaft sein kann. Aber intensi-ver Dialog ersetzt keine Handlungen, auch und vor allemnicht die des Gesetzgebers.
Wenn Sie sagen, unternehmerische Freiheit und Tarif-autonomie haben Vorrang vor staatlichen Interventionen,dann bringen Sie etwas durcheinander. Unternehmeri-sche Freiheit darf keinen Vorrang haben, wenn sie zurDiskriminierung eines ganzen Geschlechts genutzt wird.
Die Tarifautonomie wird durch das Grundgesetz ge-schützt. Im Übrigen hat niemand gefordert, hier von staat-licher Seite zu intervenieren. Die Gleichstellung derFrauen aber ist ein Verfassungsauftrag. Ihn durchzusetzenist Aufgabe der Politik. Davor kann sich die Koalitionnicht drücken.Aber genau das tun Sie, wenn Sie nun, wie vergangeneWoche angekündigt, die Verantwortung auf die Tarif- undBetriebspartner abschieben. Es mag ja gut klingen – wieSie eben noch einmal ausgeführt haben – dass sich dannjeder das aussuchen kann, was er braucht. Aber das hilftden Frauen herzlich wenig. Warum meinen Sie, dass Ge-werkschaften und Betriebsräte gerade jetzt das durchset-zen können, was ihnen jahrelang nicht gelungen ist? Dahilft es auch nichts, dass Sie für einen späteren Zeitpunktgesetzlichen Zwang ankündigen.Nein, es bleibt dabei: Wir brauchen klare und verbind-liche gesetzliche Vorgaben. Dazu gehören nun einmal ef-fektive Quotierungsregelungen.
Wir brauchen Gleichstellungsbeauftragte in den Betrie-ben, die entsprechende Rechte haben, die Gleichstellungdurchzusetzen.
– Das reicht eben nicht. Aber zur notwendigen Novellie-rung des Betriebsverfassungsgesetzes sage ich gleichnoch etwas.Wenn das Gesetz nicht zum zahnlosen Papiertiger wer-den soll, denn brauchen wir auch Sanktionen, vor allemein Verbandsklagerecht.
Zudem müssen wir die Vergabe öffentlicher Aufträge da-ran knüpfen, dass die Unternehmen Frauen fördern. Ei-nige Bundesländer haben bereits solche Regelungen. Siebeweisen, dass die Welt nicht untergeht und auch derStandort nicht verloren ist, wenn Betriebe Anreize haben,nicht zu diskriminieren.Wir müssen auch das individuelle Diskriminierungs-verbot nach § 611 a des Bürgerlichen Gesetzbuches neufassen. Denn es ist für Frauen heute noch immer äußerstschwer, sich gegen persönliche Diskriminierung zur Wehrzu setzen. Das geltende Gesetz ist in der Praxis kaumwirksam, weil der Tatbestand „Diskriminierung aufgrunddes Geschlechts“ nicht eindeutig definiert ist, weil die Be-weislast zu groß ist und die Sanktionen äußerst geringsind.Damit noch nicht genug. Wir müssen auch dasBeschäftigtenschutzgesetz überarbeiten. Denn der Schutzvor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist nach wievor nicht ausreichend. Noch immer behandeln Betriebe,Verwaltungen und Ausbildungsstätten sexuelle Belästi-gung als Kavaliersdelikt. Wir brauchen eine klare Defini-tion der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und effek-tive Beschwerdemöglichkeiten. Außerdem brauchen wirSchadenersatzansprüche für die betroffenen Frauen.Bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzesschließlich müssen wir die Betriebsräte und seine Gre-mien quotieren und ihre Kompetenzen im Bereich derFrauenförderung ausweiten. Nur so können wir wirklichsicherstellen, dass die Betriebsräte die Interessen vonFrauen angemessen vertreten.Sie sehen also: Wir haben einen enormen Regelungs-bedarf.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn es auch mei-nes Erachtens sehr spät ist: Endlich ist unsere Gesellschaftangesichts des Ausmaßes rassistisch motivierter Gewalt-übergriffe aufgewacht. Wir Politikerinnen und Politikersind jetzt gefordert, unseren Worten Taten folgen zu las-sen. Die PDS fordert, in den Haushalt im Rahmen desKinder- und Jugendplanes einen neuen Titel zur Förde-rung des zivilgesellschaftlichen Engagements gegenRechtsextremismus und Rassismus einzustellen. Wirhalten es für absolut dringlich, nicht nur zu Zivilcouragegegen den Rechtsextremismus aufzurufen, wir müssendafür auch öffentliche Gelder bereitstellen.Vielerorts sind es Jugendliche, die sich mit sehr vielMut gegen Rassismus und Gewalt zur Wehr setzen unddie eine unverzichtbare dialogorientierte Arbeit leisten.Sie brauchen unsere Unterstützung. Frau Ministerin, wiralle, vor allem die Jugendlichen, nehmen Sie beim Wort.Sie haben eben sehr klare Worte gesprochen – ich findedas gut –, dass wir die Gegenkräfte stärken müssen.
Aber – jetzt kommt mein „Aber“ – der Haushaltsent-wurf, also die in Zahlen gegossene Politik, lässt davon lei-der herzlich wenig erkennen. Entgegen verschiedenenÄußerungen aus dem Ministerium gibt es zumindest imMoment – ich hoffe, das ändert sich noch im Laufe derHaushaltsberatungen – keine zusätzlichen Mittel, keinAktionsprogramm, noch nicht einmal die quasi angekün-digte Intensivierung, also die Aufstockung der Mittel fürpolitische Bildung.In diesem Sommer sind viele Menschen hierzulandewach geworden und haben das Ausmaß von Rassismus,Antisemitismus und Rechtsextremismus in diesem Land
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Petra Bläss11146
erkannt. Es ist Aufgabe der Politik, also von uns allen, al-les Erdenkliche zu leisten, damit wirksam und nachhaltigdagegen angegangen werden kann. Wir alle sind hier ge-fordert.Ich danke Ihnen.
Ich danke der Frau
Kollegin Bläss dafür, dass sie 50 Sekunden ihrer Redezeit
eingespart hat.
– Ich bitte, diese Bemerkung nicht zu ernst zu nehmen.
Nun spricht die Kollegin Hildegard Wester, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem dritten Haushalt seit dem Regierungswechsel imJahre 1998 wird der Konsolidierungskurs der rot-grünenBundesregierung fortgesetzt. Trotz Sparhaushalt ist es ge-lungen, die Prioritäten richtig zu setzen. Der von dieserKoalition eingeleitete Abbau der Staatsverschuldungliegt auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen so-wie der Familien und Senioren;
denn nur mit einem ausgeglichenen Haushalt kann manauf Dauer Zukunftsinvestitionen leisten. Wo wären Zu-kunftsinvestitionen sinnvoller und wichtiger als in demBereich, den wir gemeinsam hier vertreten?So ist es für junge Menschen, aber auch für unsere So-zialsysteme von zentraler Bedeutung, dass die Arbeitslo-senzahlen endlich sinken, was im Augenblick der Fall ist.Das ist ein Erfolg rot-grüner Wirtschafts- und Finanzpoli-tik und gezielter Arbeitsmarktförderungspolitik.
Zu den Schwerpunkten des rot-grünen Zukunftspro-gramms gehört ganz eindeutig auch die Besserstellungvon Familien. In der Familienpolitik haben wir unserWort, das wir vor der Wahl gegeben haben, eingelöst. Wirhatten nämlich versprochen, Frau Böhmer, die wirtschaft-liche und soziale Lage der Familien spürbar zu verbes-sern.
Das ist uns zu einem großen Teil gelungen. Ich werde Ih-nen gleich die Daten und Zahlen nennen.In diesem Zusammenhang können wir ganz besondersstolz darauf sein, dass wir eine Bundesministerin haben,die trotz des schweren Standes, den unser Ressort im Ka-binett häufig hat, durchgehalten und gekämpft hat.
In diesem Sinne war die Wahl, die auf Frau Bergmann alsMinisterin fiel, nicht ein Ausfall, sondern ein sehr guterEinfall.
Bei den Familien in Deutschland und vermutlich auchbei Ihnen ist es fast schon in Vergessenheit geraten, dassbereits zum 1. Januar 1999, also nachdem wir drei Monatean der Regierung waren, das Kindergeld von 220 DM um30 DM auf 250 DM angehoben wurde. Seit Anfang die-ses Jahres haben wir das Kindergeld erneut um weitere20 DM erhöht und einen Kinderbetreuungsfreibetrag vonrund 3 000 DM eingeführt. Alleinerziehende können die-sen Beitrag übrigens allein in Anspruch nehmen. Die Kin-dergelderhöhung um 20 DM kommt auch Familien mitbesonders niedrigem Einkommen zugute, da sie nicht aufdie Sozialhilfe angerechnet wird.
Seit Übernahme der Regierung wurde das Kindergeld so-mit um 22,7 Prozent erhöht.Diese und weitere Erhöhungen bei anderen familien-bezogenen Leistungen, zum Beispiel um 500 MillionenDM beim BAföG, um 475 Millionen DM beim Wohngeldund um 300 Millionen DM jährlich beim Erziehungsgeld,sind in der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel.
Diese Ausgaben für den Familienleistungsausgleichwerden 2001 erstmals das Niveau von 60 Milliarden DMüberschreiten. 1998 waren wir bei einem Niveau von49,9 Milliarden DM. Für die zweite Stufe der Umsetzungdes Verfassungsgerichtsurteils zum Familienleistungs-ausgleich ab 2002 werden wir aber noch deutlich drauf-legen müssen. Auch das werden wir gemeinsam mit Re-gierung und Fraktionen – hoffentlich auch mit IhrerMithilfe – schultern. Wir werden dabei darauf achten,dass verheiratete und unverheiratete Eltern, Alleinerzie-hende oder in Partnerschaft Erziehende befriedigendeAntworten auf ihre Situation erhalten. Denn so wie wir beider ersten Stufe der Umsetzung der Karlsruher Vorgabendarauf geachtet haben, dass mehr als 90 Prozent der Al-leinerziehenden mit der Neuregelung besser fahren alsvorher, werden wir auch bei der zweiten Stufe darauf ach-ten, dass Nachteile, die entstehen könnten, kompensiertwerden.Familien profitieren aber nicht nur von unserer Fa-milienlastenausgleichspolitik, sondern auch von der all-gemeinen Steuerpolitik, deren nächste Stufe im Jahre2001 wirksam werden wird. Die entsprechenden Zahlensind zwar soeben schon genannt worden; ich möchte sieaber wiederholen, weil es hier offensichtlich verschiedeneGrundlagen gibt – vielleicht prägen sie sich besser ein,wenn man sie immer wieder nennt –: Eine Familie mit ei-nem durchschnittlichen Einkommen von 60 000 DM undzwei Kindern wird im Jahre 2005
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Petra Bläss11147
– bis dahin findet ja ein allmählicher Anstieg statt; schonjetzt kommt es zu einer Entlastung von knapp 2 000 DM –nur noch rund 2 400 DM Steuern zahlen. Das sind 45 Pro-zent weniger als im Jahre 1998. Diese Familien beziehenbereits jetzt pro Jahr ein Kindergeld von 1 200 DM mehr,
sodass diese Familien dann, wenn wir die letzte Stufeunserer Einkommensteuerpolitik umsetzen, mehr als4 000 DM pro Jahr zusätzlich im Portemonnaie habenwerden.
Natürlich kommt jetzt bestimmt wieder der Einwurf„Ökosteuer“. Darauf möchte ich kurz eingehen: Ich weißnicht, woher Sie die Zahlen nehmen, nach denen eine Fa-milie allein aufgrund der Ökosteuer – das kam jedenfallsbei mir so an – pro Monat 130 DM mehr für Sprit ausgibt.
Etwas anderes als die Ökosteuer haben wir hier nicht zuvertreten. Wir machen Politik und sind nicht in der Wirt-schaft. Wir werden nicht dabei nachlassen, im Sinne derUmwelt und im Sinne der Entlastung der Arbeit eine ver-nünftige Steuerpolitik voranzutreiben und fortzuführen.
Wir werden uns nicht daran beteiligen, zu verschleiern,wo die Verursacher der Erhöhungen der Energiekostensind. Sie befinden sich jedenfalls nicht in der Politik. DiePolitik wird sich an diesem Punkt nicht erpressen lassen.
Mit der Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzeshaben wir weitere Meilensteine gesetzt.
Das wurde soeben schon einmal festgestellt; ich muss eswiederholen. Wir haben eine Reform auf den Weg ge-bracht, die überfällig war. 14 Jahre lang hat das GesetzGeltung gehabt, das Sie seinerzeit eingebracht haben unddas nicht dazu angetan war, dass Männer und Frauen Be-ruf und Familie miteinander vereinbaren können.Jetzt gibt es zudem für immerhin 75 Prozent der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben ei-nen Rechtsanspruch auf Teilzeit. Das ist eine zukunfts-weisende Politik. Denn die Menschen wollen Beruf undFamilie miteinander vereinbaren. Dies gilt nicht nur fürFrauen, sondern auch für Männer. Wir wollen gleichzei-tig eine gezielte Frauenförderungspolitik betreiben. Wirsind auf dem besten Wege. Frau Bläss, es geht nicht nurdarum, zu appellieren. Vielmehr wird dabei ein verbindli-ches Gesetz herauskommen.Es wird verbindlich sein, dass Frauenförderung ein Zielder Politik ist, das eingehalten werden muss. Nur – dasmüsste durchaus in Ihrem Sinne sein, Frau Lenke –, dieWahl der Mittel, die der einzelne Betrieb vornimmt, solltenach den Gegebenheiten des Betriebes so flexibel wiemöglich sein. Wenn dort aber nichts passiert, werdenSanktionen eintreten.
Genau das sind die Ziele und Absichten der Bundesregie-rung und der Ministerin Bergmann. Die Fraktion unter-stützt diesen Weg und dieses Ziel intensiv.Ich sagte soeben, wir wollen Männern und Frauen er-möglichen, Erziehung und Beruf miteinander zu verein-baren. Damit machen wir auf der einen Seite deutlich,dass Erziehung eine gesellschaftliche und nicht nur eineAufgabe der Familien ist; denn die Betriebe und die Ge-sellschaft werden in die Pflicht genommen. Wir machenaber auf der anderen Seite auch deutlich, dass wir er-kennen, dass es nicht nur der finanzielle Rahmen ist, derFamilien eventuell dazu bringen könnte, ihren Kinder-wunsch zu realisieren. Die übrigen Bedingungen sind vielwichtiger als die Frage, ob es 10 DM oder 20 DM mehran Kindergeld geben wird. Das heißt aber natürlich nicht,dass ich nicht um jede 10 DM mehr an Kindergeld kämp-fen werde. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Ergän-zung.
Bedeutsam für den Haushalt im Bereich des Erzie-hungsgeldes – wir wollen das neue Gesetz Elternzeit-gesetz nennen – ist die Erhöhung der Einkommensgren-zen. Wir überlegen uns natürlich intensiv – wir wärenkeine guten Familienpolitikerinnen und Familienpoliti-ker, wenn wir das nicht täten, und ich lade Sie recht herz-lich ein, mitzumachen –, wie wir gegebenenfalls nochSpielräume für weitere Verbesserungen in diesem Bereicherreichen können.Es ist hier bereits häufig angesprochen worden, aberich muss es noch einmal bekräftigen, dass das Elternzeit-gesetz allein nicht in vollem Umfang die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf ermöglichen oder erleichtern kann.Es müssen durch die Kommunen und Länder Betreu-ungseinrichtungen für Kinder aller Altersgruppen bereit-gestellt werden. Hier muss kräftig investiert werden. Ichdenke, wir täten dabei gut daran, der Ministerin bei ihrenVerhandlungen, die sie zurzeit mit den Ländern führt, denRücken zu stärken, damit hier weitere Anstrengungen un-ternommen werden. Das alles muss natürlich finanzierbarsein.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
In den Vorstellungen der Bundes-regierung wurde ausgeführt, dass die Bundesregierungdie Länder und Kommunen finanziell unterstützt. MachenSie das in dieser Legislaturperiode, um mehr Betreuungs-
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Petra Bläss11148
einrichtungen für Kinder aller Altersgruppen vorzuhal-ten?
Frau Lenke, Sie wissen,
dass die Bundesregierung die Kommunen und Länder bei
dieser Aufgabe nicht unmittelbar unterstützen kann. Es
gibt daher Gespräche, um auszuloten, auf welchen Wegen
man Anreize schaffen kann. Das wird sicherlich nicht
durch eine direkte finanzielle Unterstützung möglich sein.
Meine Damen und Herren, es ist weiterhin erfreulich,
zu beobachten, dass der zur Verfügung stehende Ansatz
beim Unterhaltsvorschussgesetzmit 555 Millionen DM
ausreichend ist. Wir haben durch die Veränderung des Fi-
nanzierungsschlüssels, der zum 1. Januar dieses Jahres in
Kraft getreten ist, erreichen können, dass auf der einen
Seite der Bund entlastet und auf der anderen Seite die
Möglichkeit gegeben wurde, sich durch stärkere
Rückholaktivitäten von Kosten zu entlasten.
Wir sehen, dass es eine erfreuliche Entwicklung gibt;
denn es sind zum Teil Steigerungen im Rückholfluss von
4 bis 5 Prozent zu vermerken, und das in relativ kurzer
Zeit. Ich finde die Bemühungen ausgesprochen notwen-
dig, denn sie zeigen einerseits, dass mehr herausgeholt
werden kann, sie zeigen andererseits aber auch, dass es
viel zu lange versäumt worden ist, von denjenigen Unter-
haltsleistungen einzufordern, von denen sie gezahlt wer-
den müssen, nämlich von den Unterhaltspflichtigen.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
– Ja, ich denke an meine Redezeit.
Dadurch, dass ich meine Redezeit überschritten habe,
kann ich den wichtigen Bereich der Seniorenpolitik nun
leider nicht mehr ansprechen; das Wesentliche haben die
Ministerin und Frau Schewe-Gerigk aber schon gesagt.
Sie haben mich mit Ihren Einlassungen zur Familienpoli-
tik dazu verleitet, hier etwas ausführlicher zu werden. Ich
kann Ihnen jetzt nur anbieten: Bringen Sie Ihre Kritik in
die Haushaltsberatungen ein. Versuchen Sie mit uns das
zu machen, was zu machen ist; denn dass wir alle so viel
wie möglich für die Familien wollen, das ist, so denke ich,
selbstverständlich.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun die
Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, die 14. Le-gislaturperiode hat Halbzeit und die Bilanz für Ihr Hausfällt bislang kläglich aus.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Sie in der Bekannt-heitsskala der Bevölkerung am unteren Ende rangieren –und das, obwohl Sie Fachbereiche vertreten, die nahezujede Bürgerin und jeden Bürger persönlich betreffen. Dievon Ihnen auf den Weg gebrachten Initiativen sind nurvon mäßiger Innovationskraft und werden öffentlich ent-sprechend wenig wahrgenommen. Ihre Durchsetzungs-fähigkeit am Kabinettstisch wird nicht ohne Grund selbstaus Ihrer eigenen Fraktion bemängelt.
In einem Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 2. März die-ses Jahres beklagt Ihre Fraktionskollegin Ulla Schmidt,dass Sie ohne Not den Begehrlichkeiten Eichels nachge-geben haben. Ich kann Ihre Kollegin nur unterstützen,wenn sie fordert – ich zitiere –: „Da muss man schon malNein sagen!“. Frau Ministerin, setzen Sie sich auch ein-mal durch! Wir unterstützen Sie gerne, wenn es um dieAnliegen von Familien, Senioren und Jugendlichen geht.
So sind viele Ihrer Ankündigungen und Versprechenebenso wie zahlreiche Forderungen, die in der letzten Le-gislaturperiode von der Oppositionsbank aus lautstark er-hoben wurden, dahingeschmolzen. Gesetzentwürfe wer-den verschoben und verschoben; Versprechungen werdenStück für Stück von allen Seiten zurechtgestutzt. Das Er-ziehungsgeld hat diverse Entwürfe durchlaufen, die im-mer geringere Leistungen und Verbesserungen für die Fa-milien beinhaltet haben. Nach eineinhalb Jahren lag dannendlich der Regierungsentwurf vor, der nur noch gering-fügige Mittelerhöhungen vorsah. Dafür, dass dies einezentrale Maßnahme der Regierung sein sollte, nimmt sichdas sehr spärlich aus.Besonders erstaunlich ist aber, dass der Haushalts-ansatz 2001 um – man höre – 200Millionen DM unter denAnsatz von 2000 sinkt. Da kann dann auch jeder Laie se-hen, dass Sie selbst nicht damit rechnen, dass Ihr neuesGesetz gravierende Verbesserungen bringt. Natürlich sin-ken – das räume ich ein – mit rückläufigen Geburtenzah-len die Ausgaben. Aber dann hätten Sie diese Mittel zumBeispiel für die Anhebung der Freibeträge beim Erzie-hungsgeld verwenden können. Oder prognostizieren Siesinkende Ausgaben, weil Sie aufgrund der Budgetrege-lung noch mit deutlichen Einsparungen für den Bundes-haushalt rechnen? Denn diese Budgetregelung verführtjunge Familien dazu, auf einen Teil ihres Erziehungsgeld-anspruchs zu verzichten.Viel besser sieht es für die Familien auch beim Kin-dergeld nicht aus. Der von der rot-grünen Regierung zäh-neknirschend erhöhte Kinderfreibetrag ist nur die unab-wendbare Minimalantwort auf die Beschlüsse desBundesverfassungsgerichts und kommt nur circa 10 Pro-zent der Bevölkerung zugute.
Aber die große Mehrheit der Familien kann eben nicht die3 000 DM an Kinderfreibetrag in Anspruch nehmen, son-dern bekommt die 30 DM mehr Kindergeld im Monat –und das nur für das erste und zweite Kind.
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Ina Lenke11149
Das Bundesverfassungsgericht fordert ein familienpo-litisches Gesamtkonzept. Bis jetzt ist das, was Sie vorge-legt haben, nur Stückwerk. Mit den jetzt für 2002 an-gekündigten 30 DM mehr an Kindergeld – rechtzeitig zurnächsten Wahl –
werden Sie die Ungerechtigkeiten gegenüber Familiennicht beseitigen – schon gar nicht, wenn Sie entgegen allerVernunft an der familienfeindlichen Ökosteuer festhalten.
Als Sie noch in der Opposition waren, haben Sie im-mer von Gerechtigkeit für Familien gesprochen. Jetzt sindSie an der Regierung; jetzt haben Sie die Möglichkeit,Ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Da der Fi-nanzminister wesentlich mehr Geld in der Tasche hat alsursprünglich erhofft, könnten Sie tatsächlich Familien-politik machen. Machen Sie diese! Legen Sie ein Ge-samtkonzept vor! Kleckern Sie nicht!Auch für die Seniorinnen und Senioren gehen dieDinge nur langsam voran. Das Heimgesetz liegt nachzwei Jahren Regierungszeit noch nicht vor,
obwohl es von Anfang an zugesagt war. Aber es gibt stän-dig grundlegend geänderte Entwürfe. Das ist immerhinmehr als das von langer Hand versprochene Ambulante-Dienste-Gesetz.Denn dort gibt es noch gar nichts. Sie be-tonen zwar immer die Notwendigkeit, dass die Qualität inder Pflege sobald wie möglich gesichert werden muss,aber von Ihnen ist dazu bisher noch nichts vorgelegt wor-den.Lange, lange warten wir auch schon auf Ihr vielfachangekündigtes Gleichstellungsgesetz. Aber auch die Vor-stellung am letzten Freitag enthielt wieder nur eineAnkündigung. So kann man seine Pressemitteilungen undReden natürlich auch füllen.
Aber Politik muss konkret sein und darf nicht nur ausAnkündigungen bestehen.
Denn noch sind die Eckpunkte des Gleichstellungs-gesetzes nur erahnbar. Mehr als die Grundidee konntenSie auch dieses Mal wieder nicht bieten. Diese spärlichenAussagen lassen darauf schließen, dass dann tatsächlichverwirklichte Aussagen nur minimal sein werden. Wirwerden sehen, ob die immer noch bestehenden eklatantenBenachteiligungen für Frauen im Erwerbsleben im Er-gebnis wirksam abgebaut werden.
Gleiche Chancen und gerechte Entlohnung für Frauenim Beruf sind ein Anliegen, das fraktionsübergreifendgroße Unterstützung findet. Trotzdem ist das für Frauennur eine Seite des Lebens. Die andere ist die Familie.
Wenn man Ihre bisherigen Gesetze und Vorhaben be-trachtet, Frau Ministerin, dann stellt man fest, dass Sie inerster Linie immer an die Berufstätigkeit denken und dassdie Familie nur zweite Priorität hat.
Wir wollen, dass Sie beides gleich behandeln, Frau Mi-nisterin.Vor einigen Wochen hat das Kabinett im Hinblick aufdie Diskussion um den Rechtsextremismus eine Initia-tive für Jugendliche beschlossen. Auf Nachfrage konntenwir in Erfahrung bringen, dass es sich dabei um arbeits-politische Maßnahmen handelt. Dagegen ist nichts zu sa-gen. Aber mir fehlt das Engagement der Jugendministe-rin. Denn es gab bereits unter Frau Nolte Projekte gegenAggression und Gewalt. Im Haushalt des Jugendministe-riums, den wir heute einbringen, ist keine zusätzlicheMark für dieses Thema vorgesehen. Wir fordern jugend-politische Maßnahmen zur Gewaltprävention und zurGewaltbekämpfung, zur Bekämpfung von Radikalismusjedweder Art, nicht nur von rechts, sondern auch vonlinks.
Frau Ministerin, großen Schaden haben Sie durch dieSparmaßnahmen im Zivildienstbereich angerichtet. Ent-gegen allen vollmundigen Versprechungen und Ihren heu-tigen Behauptungen sind auch im Pflegebereich deutlicheVerschlechterungen erfolgt. Die Betreuung von chronischKranken und von Behinderten hat durch die Verkürzungdes Zivildienstes auf elf Monate deutliche Einschränkun-gen erfahren. Übergänge zwischen den Zivildienstleisten-den sind für die Verbände kaum lückenlos organisierbar,sodass es zu entsprechenden Sommerengpässen kam undauch in Zukunft wieder kommen wird.Die Verbände beklagen einhellig große Planungspro-bleme und Verschlechterungen insbesondere bei den sogenannten Diensten am Menschen.
Im Juli war aufgrund der Kürzungen nur noch etwa dieHälfte der Zivildienstplätze besetzt. Der ParitätischeWohlfahrtsverband – dieses Schreiben haben Sie sicher-lich auch bekommen – hat soeben hilferufend mitgeteilt,dass er im Juli nur 40 Prozent der Stellen besetzen konnte.Damit lässt sich keine kontinuierliche Hilfe für die behin-derten oder chronisch kranken Menschen planen. So über-legen einzelne Verbände jetzt bereits, ob sie den Einsatzvon Zivildienstleistenden in Zukunft nicht ganz streichen.
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Maria Eichhorn11150
Die geplante Verkürzung des Ersatzdienstes auf zehnMonate verschärft die Situation zusätzlich und entsprichtweder der Wehrgerechtigkeit noch dem sinnvollen Ein-satz von Zivildienstleistenden. Dass dann gerade im wich-tigsten – im pflegerischen – Bereich Zivildienstleistendekaum noch angemessen eingearbeitet werden können,wurde offensichtlich auch in Ihrem Haus entdeckt. Nunsollen deshalb nach Plänen des Ministeriums Freiwilligedie Lücke füllen, wie letzte Woche bekannt wurde; FrauLenke hat es angeführt. Das heißt, Zivildienstleistendesollen ihren Dienst um zwei Monate verlängern. GlaubenSie denn wirklich, dass ohne irgendwelche Anreize dieweniger attraktiven Einsatzstellen auf diese Weise besetztwerden können?Wenn ich Ihr Vorgehen im Zivildienstbereich in denletzten Monaten verfolge, werde ich den Verdacht nichtlos, dass Sie den Zivildienst eigentlich abschaffen wollen.Die CDU/CSU ist für die Beibehaltung der Wehrpflicht.Dazu gehört untrennbar – schon im Hinblick auf dieWehrgerechtigkeit – der Zivildienst. Dass der Zivildienstgerade im Pflegebereich unverzichtbare, wertvolle Diens-te leistet, hat die aktuelle Diskussion eindrucksvoll be-stätigt.Von der Oppositionsbank aus haben Sie, meine Damenund Herren von der Regierung, gerade im Bereich desEinzelplans 17 immer die tollsten Dinge gefordert. Dieheutige Regierungsrealität hält Ihren früheren Forderun-gen nicht im Entferntesten stand. Im Haushalt 2001 fin-den sich gewaltige Mittelsteigerungen für Geschäftsbe-darf und Kommunikation. Aber für Mehrausgabenzugunsten von Familie, Senioren, Frauen und Jugend ha-ben Sie kein Geld. Ich bin gespannt, wie Sie das bei denBeratungen rechtfertigen werden.
Denken Sie an die Re-
dezeit, bitte.
Ein letzter Satz: Frau
Ministerin, ich fordere Sie auf, nicht vor dem Finanz-
minister zurückzuweichen, sondern um die Anliegen Ih-
res Hauses zu kämpfen.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genauso vielfältig wiedie junge Generation ist der hier vorliegende Haushalt-sentwurf des Familienministeriums. Der Kampf gegenJugenderwerbslosigkeit, das Eröffnen von neuen Chan-cen für junge Frauen und Männer, die Bekämpfung desRechtsextremismus – er ist im Übrigen nicht ausschließ-lich ein Jugendproblem – und die Neuordnung des Zivil-dienstes: Die rotgrüne Koalition stellt sich mit dem vor-liegenden Haushaltsentwurf des BMFSFJ den anstehen-den Herausforderungen.Gerade die Bekämpfung des Rechtsextremismus unddie damit verbundene Stärkung der Zivilgesellschaft kannnatürlich nicht ausschließlich mit Haushaltstiteln gestaltetwerden. Dazu bedarf es mehr. Die Bundesregierung hatjedoch – Frau Eichhorn, vielleicht nehmen Sie das einmalzur Kenntnis – zusätzlich 75 Millionen DM aus Mittelndes Europäischen Strukturfonds bereitgestellt.
Es werden weitere Maßnahmen ergriffen, die Sie auch imHaushalt finden. Die Bundesregierung ist nämlich nicht– wie vielleicht manches Mal die alte Regierung – aufdem rechten Auge blind.
Bündnis 90/Die Grünen treten seit langem für ernst-hafte, konzeptionelle Anstrengungen in diesem Bereichein. Strohfeuer oder blinden Aktionismus können wir unsan dieser Stelle nicht mehr leisten. Dies betrifft auch dieJugendarbeit. Bund und Länder müssen ihr Engagementverstärken. Wir brauchen einen Bewusstseinsbildungs-prozess nicht nur bei jungen Menschen, der Zivilcourage,aber auch das Wissen um die deutsche Vergangenheit inden Mittelpunkt stellt. Schule und Jugendarbeit kommenhierbei in Ost und West eine besondere Bedeutung zu. Wirmüssen in diesem Punkt die Vernetzung unterschiedlicherAkteure, die Vernetzung unterschiedlicher Menschen för-dern: kein Nebeneinander, sondern ein stärkeres Mit-einander für Toleranz und gegen Rassismus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rechtsextremismusdarf nicht noch stärker zur Jugendkultur werden. Ich teiledie Aufforderung des Vorsitzenden des Zentralrats der Ju-den in Deutschland, Paul Spiegel, dass gerade in punctoJugendarbeit stärkere Anstrengungen nötig sind. Dies isteine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gleichzeitig aberauch eine dauernde Herausforderung an die Politik.Ein Baustein zur Vernetzung unterschiedlicher Akteurevor Ort ist das Programm „Entwicklung und Chancen“von Ministerin Bergmann. Diesen innovativen Weg neuerProjekte gilt es weiter zu gehen. Das machen wir.
Auch die Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeitgeht 2001 mit dem Sofortprogramm JUMP in eine neueRunde. Das Programm ist weiterhin wichtig. Gerade inden neuen Bundesländern gilt es jedoch draufzusatteln.Notprogramme werden allerdings in keinem Fall das im-mer noch vorhandene strukturelle Defizit an Ausbil-dungsplätzen ausbügeln können. Dies gilt besonders fürjunge Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie be-nachteiligte Jugendliche.
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Hier ist nach wie vor die Wirtschaft gefragt. Nur dann,wenn junge Frauen und Männer einen Ausbildungs- undArbeitsplatz im ersten Markt finden, können wir von ei-ner wirklichen beruflichen Perspektive für junge Men-schen sprechen.Perspektiven eröffnen heißt aber auch, im nationalen,europäischen und internationalen Kontext zu denken. Ge-rade für junge Menschen ist es besonders wichtig, anderekulturelle Zusammenhänge zu erfahren und zu verstehen.Dies gilt auch für soziale oder ökologische Dimensionen.Bündnis 90/Die Grünen setzen sich deshalb für einenAusbau der Freiwilligendienste ein. Einen kleinenSchritt haben wir bereits im vorliegenden Haushalt ge-macht.Das anstehende UN-Jahr der Freiwilligen ist für unsAnlass genug, die rechtlichen Rahmenbedingungen vonFreiwilligen zu verbessern. Dazu bedarf es neben einerverstärkten finanziellen Förderung auch eines Frei-willigendienstentsendegesetzes, das die rot-grüne Koali-tion auf den Weg bringen wird. Ein wichtiger Bausteinwurde bereits mit den Kooperationsbüros – das hat FrauMinisterin gerade angesprochen – für den deutsch-israe-lischen Jugendaustausch gelegt.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Gerne.
Bitte sehr.
Lieber Herr Kollege Simmert,
habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie jetzt – im Ge-
gensatz zur Situation von vor zwei oder drei Monaten –
für den Ausbau von Freiwilligendiensten anstelle des Zi-
vildienstes oder ähnlicher Dienste sind? Wollen Sie da-
rauf verzichten, daraus feste Arbeitsplätze zu machen?
Wie darf ich Ihre jetzige Bemerkung verstehen?
Wenn ich mich recht entsinne, hatten Sie als Person
und auch die Grünen insgesamt die Dienstkategorie bis-
her eher abgelehnt. Es würde mich schon interessieren
und es wäre auch nicht unwichtig, ob Sie sagen: Wir wol-
len richtige Arbeitsplätze mit gut bezahlten und gut aus-
gebildeten Arbeitnehmern, die eine Perspektive haben,
oder Dienste, die irgendwelche Löcher stopfen sollen.
Kollege Seifert, wenn Sie mit der Frage etwas gewartethätten, dann hätten Sie gemerkt, dass ich zu der PassageZivildienst später komme. Hier geht es mir jetzt um inter-nationalen Freiwilligendienst. Die Antwort auf Ihre Fragewerde ich Ihnen gleich geben. Ist das in Ordnung? – Gut.Ich will mit dem Bereich Freiwilligendienst undJugendaustausch fortfahren, weil beide Punkte, wie ichfinde, ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung des Rechts-extremismus sind. Nicht nur mit Israel, sondern auch mitunserem Nachbarn Polen müssen wir gerade vor demHintergrund der deutschen Vergangenheit den Dialog derGenerationen untereinander verstärken.
Ob der Freiwilligendienst in der Gedenkstätte Ausch-witz, die freiwillige Arbeit in israelischen Pflegeheimenmit Schoah-Überlebenden oder ein trinationaler Jugend-austausch, dies alles ist mehr als Erinnerungskultur. Diesalles ist ein aktiver Beitrag für einen nachhaltigen Be-wusstseinsbildungsprozess, für Toleranz und für die Stär-kung einer pluralen Zivilgesellschaft und damit Grund-stein jeder lebendigen Demokratie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber KollegeSeifert – liebe Frau Lenke, bitte hören Sie zu – ich kommejetzt zu dem im Einzelplan 17 größten Bereich, den desZivildienstes. Die rot-grüne Bundesregierung hat im Ge-gensatz zur schwarz-gelben die Gleichbehandlung vonWehr- und Zivildienst nahezu hergestellt.
– Jetzt hören Sie gut zu, was wir alles getan haben. Viel-leicht waren Sie bei den verschiedenen Gelegenheitennicht dabei. – Gleiche Besoldung und die einseitige Ver-kürzung des Zivildienstes auf elf Monate machen deut-lich, dass Rot-Grün die Gleichbehandlung der Dienstewichtig ist, wichtiger zumindest als Ihnen früher, währendIhrer Regierungsbeteiligung.
– Frau Lenke, hören Sie mir zu.Gleichzeitig konnten wir dabei auch noch sparen. Diealte Bundesregierung hat weder das eine noch das andereauf die Beine gestellt, was wir in den ersten zwei Jahrenerreicht haben.
– Annähernd, annähernd.Natürlich ist es ein schwieriger Weg gewesen, dieGleichbehandlung der Dienste und die Kernbereiche desZivildienstes ausgewogen zu steuern; das bestreite ichnicht. Aber das, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition, uns noch vor wenigen Monaten undauch heute wieder, Frau Eichhorn, zum Vorwurf gemachthaben, ist in keiner Weise eingetreten, zumindest größ-tenteils nicht. Was war da von Ihnen nicht alles zu hörenund zu lesen über Engpässe in den Pflegediensten,
über gravierende Ausfälle im sozialen Bereich; nie undnimmer würde man die Verkürzung der Zivildienstzeitenverkraften.Kollege Seifert, ein Punkt ist richtig: Es scheint einigeProblemfälle zu geben. Frau Ministerin hat gesagt: Manmuss sich das anschauen. Das werde auch ich tun. Aber
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hier davon zu reden, Frau Eichhorn, dass die VerbändeSturm laufen würden, das ist falsch. DPWV vor einigenWochen: Die Delle werden wir verkraften, sie ist nicht sogroß, wie befürchtet. AWO: keine gravierenden Ausfällein Bereichen, wo wir dies gedacht haben. Also, keinChaos. Die Verbände konnten sich in einem angemesse-nen Zeitraum auf die Veränderungen einstellen und denEinsatz von Zivildienstleistenden selbst steuern. Das vonIhnen beklagte Horrorszenario blieb nun wirklich aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich stehen wirgerade beim Zivildienst durch die anstehende Wehrstruk-turreform vor neuen Herausforderungen. Kollege Seifert,jetzt komme ich zu dem von Ihnen angesprochenen Punkt.
Obwohl Sie eigent-
lich keine Redezeit mehr haben.
Ich bin gleich am Ende. Ich wollte auf die Frage innerhalb
meiner Rede noch eingehen.
– Dass Sie mir nicht zuhören wollen, ist mir klar, aber im
Ausschuss werden Sie sich noch mit uns beschäftigen
müssen.
Also, die Position von Bündnis 90/Die Grünen ist be-
kannt und bleibt – konzeptionell untermauert – weiterhin
die, dass wir eine Konversion des Zivildienstes wollen.
Im Übrigen finde ich es gut, dass Sie uns nachfolgen wol-
len und die Wehrpflicht abschaffen möchten.
– Aussetzen, ach, so weit gehen Sie nicht. Na ja, wir wer-
den sehen. Der Zivildienst wird jedoch nicht von heute auf
morgen abzuschaffen sein. Auch das haben wir immer
deutlich gesagt. Die vom BMFSFJ eingesetzte Kommis-
sion wird in den nächsten Tagen ihre Ergebnisse dazu vor-
stellen, wie der Umbau gestaltet werden kann. Der grüne
Faden in diesem anstehenden Diskussionsprozess für
meine Fraktion ist dabei klar: Unser Grundgedanke bleibt
weiterhin der der Gleichbehandlung.
Wir wollen auch hier konzeptionell den attraktiven
freiwilligen Dienst ausbauen. Wir wollen über den Be-
reich der Arbeitsplatzschaffung und über Beschäfti-
gungspotenziale reden und diskutieren. Das werden wir
machen. Wir bleiben bei dem Beschluss, den wir im Mai
gefällt haben. Ich glaube allerdings, dass der Dialog und
das, was wir mit den Verbänden zusammen auf den Weg
gebracht haben – das steht für diese Kommission –, der
richtige Weg ist. Den werden wir zusammen gehen.
Ich plädiere in diesem Zusammenhang für eine weni-
ger hektische und eher konzeptionelle politische Diskus-
sion, Frau Lenke, nach Vorlage der Kommissionsergeb-
nisse, und nicht vorher.
Nun müssen Sie bitte
zum Schluss kommen.
Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss und
danke Ihnen.
Jetzt hat Kollege
Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Diesen Sommer sind wir nur allzudeutlich daran erinnert worden, welch bedeutsame Auf-gabe die Jugendpolitik darstellt.Ich glaube, für uns alle ist es erschreckend, wie dieHemmschwelle für Gewalt bei verblendeten Jugendlichenzwischen Bier und Hakenkreuz so weit gesunken ist, dassder Zynismus der Worte umschlägt in Drangsalierung, jasogar Mord.Die beschämenden rechtsextremistischen Straftatender vergangenen Monate zeigen den Ungeist der Gedan-kenlosigkeit, der Fremdenangst, der Menschenverach-tung als Quelle der Intoleranz.
Sie zeigen aber auch deutlich die Defizite unserer Gesell-schaft bei der Erziehung zur Demokratie.
Der Kampf der rechten Szene um die Vorherrschaft aufder Straße und vor allem in den Köpfen unserer Jugend isteine Kriegserklärung an unsere Demokratie, eine gesamt-gesellschaftliche Herausforderung an alle Demokraten,an Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und nicht zuletztauch an die Politik.
Auch und gerade das Jugendministerium ist gefordert,gegen diesen braunen Spuk vorzugehen und praktischgeistige Vorsorge zum Schutz unserer Jugend zu leisten.Das muss sich aber auch im Haushalt widerspiegeln. Wieschon einige meiner Vorrednerinnen kritisierten, liegt lei-der ein Haushaltsentwurf von der Bundesministerin vor,in dem die Maßnahmen der Jugendpolitik nicht unerheb-lich, nämlich um 6 Millionen DM, gekürzt werden.Wir Liberalen glauben, dass alle demokratischenKräfte gemeinsam offensiv für eine freiheitlich-demokra-tische Gesellschaft werben sollten. Die F.D.P. schlägt da-her eine Initiative „Erziehung zur Demokratie“ vor.
Wir fordern ein Sonderprogramm zur Förderung derkommunalen Jugendarbeit, insbesondere für politischeBildung, soziales Engagement und kulturelle Arbeitnichtstaatlicher Organisationen mit einer Mindestausstat-tung von 300 Millionen DM, von denen 250 Milli-
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onen DM vom Bund kommen sollen. Wir fordern einBund-Länder-Programm zur Verbesserung der politi-schen Bildungsarbeit. Allein die Versorgung mit Postenfür Genossen bei der Bundeszentrale für politische Bil-dung ist noch kein Konzept.
Wir fordern eine Verbesserung des internationalen Ju-gendaustauschs besonders dahin gehend, dass von deut-scher Seite Jugendliche aus allen, wirklich allen Landes-teilen teilnehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine offensive Erzie-hung zur Demokratie darf nicht an kleinlichen Kostenar-gumenten scheitern. Sie muss uns allen etwas wert sein.Wir Liberalen werden entsprechende Anträge in die Haus-haltsdebatte einbringen und hoffen hier auf parteiüber-greifenden Konsens, auf eine Koalition der Vernunft zurStärkung unserer Demokratie.
Beim Jugendaustausch erfüllt uns mit Besorgnis, dassdem Austausch mit Polen noch bei weitem nicht die glei-che Beachtung wie dem mit Frankreich zuteil wird. Natür-lich hängt die Situation des Deutsch-Polnischen Jugend-werkes unmittelbar mit der Haushaltslage in Polen zu-sammen.
Doch die diesbezügliche Antwort der Bundesregierungauf die Kleine Anfrage meiner Fraktion lässt leider allzuwenige kreative Lösungsansätze erkennen. Der deutsch-polnische Jugendaustausch braucht mehr Unterstützungals bisher. Mit einem Weiterwursteln nach bisherigenPrinzipien ist es nicht getan. Hier muss ein Paradigmen-wechsel her.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Liberalen freuenuns darüber, dass immerhin die Mittel im Rahmen desKinder- und Jugendplanes um 2 Millionen DM für dendeutsch-israelischen Jugendaustausch aufgestockt werden.
Doch im Hinblick auf die Jugendkriminalität in denneuen Ländern und die rechtsextremen Umtriebe scheinteine Erhöhung der Aktionsprogramme als vordringlich.Leider erfolgt hier aber nur eine Verstetigung des Vorjah-resansatzes in Höhe von 6,1 Millionen DM. Eine Schwer-punktbildung mit entsprechender Mittelerhöhung wäreaus Sicht der F.D.P. zu begrüßen.Liebe Kollegen, wenn es um die Chancen und Per-spektiven unserer Kinder und Jugendlichen geht, ist diePolitik mehr denn je gefordert. Lassen Sie uns gemeinsamdieser Verantwortung gerecht werden!Danke.
Jetzt hat die Kollegin
Christel Hanewinckel, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Politik für Jugendverdient Ihren Namen, wenn sie der jungen Generationzum Beispiel durch Schuldenabbau Zukunft eröffnet,wenn sie die jungen Leute mit ihren Möglichkeiten undFähigkeiten zum Beispiel durch Ausbildung in die Ge-sellschaft aufnimmt, sodass sie dann als junge Erwach-sene, die eine Familie gründen, Anerkennung und Sicher-heit in unserem Land finden.Jugendpolitik ist nicht an ein Ressort gebunden und dasist gut so. Übergreifende Ansätze sind sowohl inhaltlichals auch finanziell nötig. Deshalb gibt es jugendpolitischeAnsätze, Programme und Gelder im Bundesministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend, im Bildungs-ministerium, im Arbeitsministerium und im Innenminis-terium.Wichtig für junge Frauen und Männer sind vor allenDingen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, damit sie ihrenPlatz in der Gesellschaft finden können und nicht amRande leben müssen. Die Ausbildungssituation der letz-ten Jahre war ausgesprochen schlecht. Unser JUMP-Pro-gramm hat das auffangen können. 2 Milliarden DM ansinnvollen Investitionen in die Zukunft unseres Landesund in die Zukunft der jungen Frauen und Männer habenjetzt bereits über 200 000 Jugendlichen eine neue Chancegegeben. Dieses Programm muss und wird weitergehen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Veränderung unddie Verbesserung der Strukturen für Kinder und Jugendli-che vor Ort. Wir haben dieses Programm „Entwicklungund Chancen für junge Menschen in sozialen Brennpunk-ten“ genannt. Im Kinder- und Jugendplan des Bundes sinddafür – wie im letzten Jahr – erneut 15 Millionen DM be-reitgestellt worden. Damit kann vor Ort gezielt gearbeitetwerden.Jetzt muss ich leider von meiner so schön vorbereite-ten Rede abweichen und mich auf die Vorwürfe der CDUeinlassen. Liebe Kollegin Eichhorn, wenn ich höre, dassSie Programme gegen Rechtsextremismus bzw. gegenRechtsextreme fordern, erinnere ich Sie an Ihr damaligestolles Programm mit dem Namen AGAG. Nach diesemProgramm wurde Geld immer dorthin geschickt, wo esgerade gekracht und geknallt hat. So sagten sich jungeLeute: Offensichtlich muss man sich in diesem Land eineGlatze scheren und irgendetwas kaputtschlagen, um end-lich Geld an die Basis zu bekommen. So kann es dochnicht gehen.
Sie haben sich zwar das AGAG-Programm einfallen las-sen, haben aber versäumt, Geld in die Strukturen der Ju-gendarbeit in den östlichen Bundesländern zu investieren.
– Ja, es gab Programme, aber die liefen nur von hier bisda und dann war Schluss. Wer auffällig wurde, bekam et-was – genau so darf es nicht weitergehen.
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Klaus Haupt11154
Es muss so sein, dass die Programme intensiviert wer-den und stabil bleiben. Die Jugendlichen vor Ort und die-jenigen, die in der Jugendarbeit tätig sind, müssen sich da-rauf verlassen können. Acht Jahre dieser schlimmen Zeit,in der der Rechtsextremismus bzw. die Gewalt weiter ge-wachsen ist, haben Sie zu verantworten – wenn wir schonvon Verantwortung sprechen.
Wenn wir uns unseren Haushalt ansehen, stellen wirfest, dass 16 Millionen DM für internationale Jugend-arbeit ausgegeben werden. Internationale Jugendarbeithat nicht nur völkerverbindende, sondern auch Friedenschaffende Wirkung. Die Erfahrungen von jungen Leutenüber Grenzen hinweg spielen eine große Rolle für die Er-haltung von Demokratie sowie Weltoffenheit und sindwichtig für die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeitund Rassismus.Aus diesem Grund haben wir zwar kein neues Werk,aber einen neuen Jugendaustausch mit Israel – neben diebestehenden Werke mit Frankreich, Polen und Tsche-chien, die intensiviert und stabilisiert worden sind – ge-stellt. In Zukunft werden wir uns Gedanken darüber ma-chen müssen, wie Jugendaustausch und Jugendbegeg-nung zwischen Deutschland und den osteuropäischen so-wie südosteuropäischen Ländern aussehen können. Dafürwerden wir Geld bereitstellen müssen.
Das Jahr 2001 wird das Jahr des Ehrenamtes bzw. dasJahr der Freiwilligen sein. Bürgerinnen und Bürger enga-gieren sich für eine gerechte und lebenswerte Gesell-schaft. Freiwilligenengagement und die Unterstützungdurch den Staat gehören zusammen. Deshalb haben wirden entsprechenden Haushaltstitel seit 1999 von damals952 000 DM auf 4 Millionen DM für das Jahr 2001 auf-gestockt. In diesem Titel wird deutlich, dass Bürgernähe,Demokratie und Verantwortung eben auch entsprechendeFlankierungen brauchen und dass die Rahmenbedingun-gen für das ehrenamtliche Engagement deutlich verbes-sert werden müssen. Zum Bereich der Freiwilligendiens-te hat der Kollege Simmert bereits einiges gesagt. Natür-lich werden wir sie nicht nur weiterhin unterstützen, son-dern auch prüfen, wo sie auszubauen sind.Jugendliche selbst – das finde ich sehr wichtig – emp-finden eine starke Förderung ihrer Selbstständigkeit, so-zialen Kompetenz und Toleranz durch ihre Arbeit im frei-willigen sozialen oder ökologischen Jahr. Andere, zumBeispiel bei den Jugendfeuerwehren, stellen fest, dass derEinsatz für andere nicht nur Mühe, sondern auch Spaßmacht und sie dort ein Erlebnis von Gemeinschaft haben.Ich denke, auch das ist sehr wichtig für heranwachsendejunge Leute hinsichtlich ihres späteren Engagements alsErwachsene in der Zivilgesellschaft.Fazit: Wir haben die Kinder- und Jugendpolitik nichtnur verstetigt – die Titelansätze sind geblieben –, sondernwir haben finanziell noch zugelegt und dieses Niveauwerden wir auch in der Zukunft halten. Sie, Herr KollegeHaupt, haben nicht die Frage der Jugendarbeit angespro-chen, Sie haben sich vielmehr auf den Titel bezogen, indem es um jugendliche Aussiedler und um jugendlicheAusländer geht, die entsprechende Sprachkurse brau-chen. Hierfür sind 6 Millionen DM weniger eingestellt.
– Ja, das ist eine Maßnahme für Integration. Es ist daraufhingewiesen worden, dass die Zahl der jugendlichen Aus-siedler sehr stark zurückgegangen ist. Wir werden imRahmen der Haushaltsberatung prüfen, ob der Ansatz soangemessen ist oder ob bei ihm nicht noch etwas drauf-gesattelt werden muss.Im Bereich der Frauenpolitik kann man sehr deutlichzeigen, dass eine innovative und den Wünschen derFrauen entsprechende Politik auch mit begrenzten Mittelnmöglich ist.
40 Millionen DM, die für Projekte, Initiativen und Maß-nahmen im Bereich der Frauenpolitik bereitgestellt wer-den, sind zwar ein wichtiger Aspekt, aber genauso wich-tig ist die Frage: Wie gehe ich mit dem Geld um? Nichtnur Gelder, sondern auch solche Ressourcen wie Kreati-vität, Mut und eben auch „gender mainstreaming“ sindwichtig, um neue Wege zu beschreiten.Die Ausgaben sind im Haushalt 2001 stabil geblieben.Wenn Sie sie mit den Zahlen des Haushalts von 1998 ver-gleichen, dann werden Sie feststellen, dass es bestimmteTitel in Ihrem Haushalt überhaupt nicht gegeben hat. Unsist wichtig, dass wir eine Politik für die Frauen machenund dass das gemacht wird, was sie für sich als wichtigempfinden.Das Allensbach-Institut–ich erwähne es nur, damit Sienicht denken, dass das ein uns nahe stehendes Institut ent-deckt hat – hat mittels einer Umfrage herausgefunden,dass das Thema Gleichstellung in der Bevölkerung einensehr hohen Stellenwert hat. Zwei Drittel der befragtenMänner und Frauen sagen ganz klar: Hier besteht auf al-len Ebenen Handlungsbedarf, also nicht nur beim Staat,sondern auch in der Privatwirtschaft. Für die Frauen istdie Gleichstellung das Wichtigste. Sie wollen für die glei-che Arbeit den gleichen Lohn, eine gleich gute Altersver-sorgung und die gleichen Aufstiegschancen im Beruf wiedie Männer bekommen.An zweiter Stelle steht für die Frauen die Bekämpfungvon Gewalt gegen Frauen. Die Studie zeigt also, dass dasMinisterium und die Koalition bundespolitisch die richti-gen Schwerpunkte in der Frauenpolitik gesetzt haben. Ichnenne das Programm „Frau und Beruf“ und den Aktions-plan der Bundesregierung „Bekämpfung von Gewalt ge-gen Frauen“.Frauenförderung bedeutet nicht, Defizite bei Frauenwettzumachen, die sie gar nicht haben; Frauenförderungbedeutet vielmehr, Frauen endlich die gleichen Chancenwie Männern zu geben. Wir werden den Begriff „Gleich-stellung“ langsam, aber sicher ins Bewusstsein aller brin-gen. Davon können Sie ausgehen.Es gilt aber auch, neue Wege zu beschreiten. Dazugehört – an erster Stelle – unbedingt das Gleichstellungs-gesetz für die Privatwirtschaft. Liebe Frau Kollegin
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Christel Hanewinckel11155
Bläss, das neue Gleichstellungsgesetz wird für die Unter-nehmen verpflichtend sein. Aber die Tarifpartner habendie Möglichkeit, Regelungen miteinander zu gestalten.Tun sie das nicht in dem vorgegebenen Rahmen, könnensie sicher sein, dass der gesetzliche Zwang auf dem Fußfolgt. Es wäre also günstig, sich etwas genauer mit denVorgaben bzw. den Eckpunkten zu beschäftigen.
„Gender mainstreaming“ ist nach dem Willen der rot-grünen Bundesregierung als Querschnittsaufgabe alsdurchgängiges Leitprinzip in den Ministerien verankertworden. Das ist gut und richtig so. Es wurde allerhöchsteZeit, dass das geschehen ist.
Als Querschnittsaufgabe vieler Ministerien und Fach-bereiche sehe ich auch die Jugendpolitik. In den Haus-halten für Bildung und Forschung sowie für Arbeit undSozialordnung sind entsprechende Summen veranschlagtworden. Für Frauen und Jugendliche ist zwar wichtig, wiegroß der jeweils für sie vorgesehene Titel ist. Aber ihreWünsche und Hoffnungen finden die größte Wert-schätzung in einer ressortübergreifenden Politik, die da-mit automatisch zur Sachpolitik wird.Ich muss zum Schluss noch einen Punkt ansprechen.Frau Böhmer, Sie haben das eingebrachte Gesetz für ein-getragene Partnerschaften gleichgeschlechtlicher Paareangesprochen. Ich bin immer wieder überrascht, wieso ei-gentlich bei denen, die in einer Ehe leben, oder auch beidenen, die zwar nicht in einer Ehe leben, aber meinen,man könne der Ehe etwas wegnehmen, plötzlich Ängsteentstehen, wenn wir gleichgeschlechtlichen Paaren, dieverantwortlich miteinander leben wollen, die Chanceeröffnen, das auch öffentlich zu tun. Ihnen wird doch ankeiner Stelle etwas weggenommen,
im Gegenteil: Wir sorgen lediglich dafür – eigentlichmüsste noch viel mehr passieren –, dass an dieser Stelleendlich die Diskriminierung von Erwachsenen, die sichverantwortlich füreinander fühlen, beendet wird.
Da wird es wirklich allerhöchste Zeit, dass etwas passiert.Aus meiner Sicht ist das ein Punkt, der kommen muss,weil er nämlich verfassungskonform ist
bzw. weil Art. 3 des Grundgesetzes diese Regelung gera-dezu einfordert.Vielen Dank.
Als letzter Redner in
dieser Debatte hat das Wort der Kollege Manfred Kolbe,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Großes hattesich die rot-grüne Regierungskoalition in der Koalitions-vereinbarung vom 20. Oktober 1998 gerade im Politikbe-reich Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgenom-men. Umso kläglicher fällt heute die Zwischenbilanz aus.
Meine Vorrednerinnen haben schon aus der „Berliner Zei-tung“ und aus der „Wirtschaftswoche“ zitiert. Normaler-weise hat man es dann als dritter Redner schwer, noch einZitat zu finden.
Ich kann aus dem „Stern“ von vor zwei Wochen zitieren.
Der sicherlich nicht CDU-nahe „Stern“ hat Halbzeitzeug-nisse verteilt. Ich darf einmal aus dem „Halbzeitzeugnis“für die Familienministerin zitieren:Die Familienministerin traut sich nichts zu; kann sichnicht gegen den Kanzler durchzusetzen ...
Magere Reform des Erziehungsurlaubs, gemessen andem, was die SPD wollte. Erziehungsgeld wurdenicht erhöht. Bei den Frauenverbänden ist sie untendurch. Als Ministerin für Senioren, Jugend und Fa-milie ein Totalausfall. Gesamturteil: „Mangelhaft“.Ich bedauere das. Das ist übrigens ein Urteil, das ansons-ten nur noch von der BundesgesundheitsministerinAndrea Fischer erreicht wird,
die ich in meiner weiteren Funktion als Berichterstatterfür Gesundheit hier ganz herzlich begrüße: Frau Fischer,hallo!Persönlich tut mir das Leid, Frau Bergmann, weil ichSie nicht unsympathisch finde.
Politisch ist dem aber leider nichts hinzuzufügen. Die Fa-milienpolitik der rot-grünen Regierungskoalition ist man-gelhaft. Ihre Rede, Frau Bergmann, war genauso lustloswie die Familienpolitik einfallslos war.
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Christel Hanewinckel11156
Der Beifall, der aus Ihren Reihen kam, war genauso dürf-tig wie die in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbare Fa-milienpolitik.
Da wir in einer Haushaltsdebatte sind, komme ich zumHaushalt.
Von diesem Haushalt war bisher auch kaum die Rede.
Warum war von diesem Bundeshaushalt bisher kaum dieRede? Weil auch dort die Ergebnisse mager sind.
Ich ziehe eine Bilanz Ihrer zweijährigen haushaltspo-litischen Tätigkeit, Frau Bergmann: Im Bundeshaushalt1999 wurden die Ausgaben für die Förderprogramme von771 Millionen DM auf 751 Millionen DM reduziert,während gleichzeitig der Gesamthaushalt um 25 Milliar-den DM anstieg. Unter Lafontaine wurde einzig die Fa-milienpolitik reduziert. Im Bundeshaushalt 2000 wurdeIhr Haushalt gerupft: minus 7,4 Prozent, während der Ge-samthaushalt nur um 1,4 Prozent zurückging. Im Haushalt2001, zu dem der Regierungsentwurf vorliegt, geht IhrHaushalt wieder um 245 Millionen DM zurück – mi-nus 2,23 Prozent –, während der Gesamthaushalt imÜbrigen stabil bleibt.In allen drei Jahren, die Sie zu verantworten haben,Frau Bergmann, ist Ihr Haushalt also unterproportionalbedacht worden. Welches politische Fazit bleibt uns danur zu ziehen? – Die Familienpolitik hat unter dieser rot-grünen Regierungskoalition den Stellenwert verloren, densie bei uns hatte.
Seit Ihrem Amtsantritt, Frau Bergmann, ist Ihr Etat um1 Milliarde DM zurückgegangen, während gleichzeitigder Gesamthaushalt um 22 Milliarden DM angestiegenist. Trotz des angeblichen Sparkommissars Eichel hat derBundeshaushalt 2001, den Sie jetzt vorlegen, ein Volumenvon 22 Milliarden DM mehr als der letzte Waigel-Haus-halt. So stark spart Herr Eichel also gar nicht. Man kanndas der deutschen Öffentlichkeit gar nicht oft genug sa-gen. Aber bei der Familienpolitik wird gespart. Deren Etatgeht in der Tat zurück.
– Herr Küster, das sind die Zahlen.
– Diese Zahlen können Sie auch durch Ihr Geschrei nichtwiderlegen, Herr Küster.Besonders das Erziehungsgeld wird von Ihnen ge-rupft. Dort liegt der stärkste Rückgang in diesem Haus-halt: minus 200 Millionen DM. Es sinkt von 7,1 Milliar-den DM auf 6,9 Milliarden DM – trotz der Novellierungdes Bundeserziehungsgeldgesetzes, Frau Ministerin, dieangeblich zu den Kernstücken Ihrer sozialdemokratischenFamilienpolitik gehört.
Frau Bergmann, es ist ein familienpolitisches Trauerspiel:Sie propagieren lautstark angebliche Verbesserungenbeim Erziehungsgeld und gleichzeitig lesen wir, dass imHaushalt 200 Millionen DM weniger für die Familienvorgesehen sind. Das sind die Tatsachen.
Wer den Gesetzentwurf genau gelesen hat, konntebereits dort unter dem Punkt Kosten finden – FrauBergmann, Sie mussten es eigentlich wissen –:Die Leistungsverbesserungen führen zu Mehrausga-ben, die größtenteils kompensiert werden, unter an-derem durch Einsparungen auf Grund der erhöhtenMinderungsquote für das Erziehungsgeld bei Ein-kommen oberhalb der Einkommensgrenze sowiedurch die Entwicklung der Einkommen im Verhält-nis zur nicht dynamisierten Einkommensgrenze.Das stand schon damals im Gesetzentwurf, der angeblichwesentliche Verbesserungen für Familien bringt, unterdem Punkt Kosten.
Dort stand, dass durch die Erhöhung der Minderungs-quote und durch die Nichtdynamisierung der Einkom-mensgrenzen, wie sie die Union gefordert hatte, keineMehrkosten, also keine Mehrleistungen für die Familie,entstehen. Sie haben, gelinde gesagt, die Öffentlichkeit et-was hinters Licht geführt. Sie wussten, dass es zu Leis-tungseinschränkungen und nicht zu Mehrleistungen fürdie Familien kommen wird. Trotzdem haben Sie Ihr Re-formwerk gepriesen.
– Frau Wester, lesen Sie doch den Bundeshaushalt: minus200Millionen DM für die Familien beim Erziehungsgeld.
Das ist doch eine Tatsache. Wir würden uns freuen, wennes anders wäre; aber es ist leider so.
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Auch in anderen Bereichen – das meiste ist von mei-nen Vorrednern schon gesagt worden –
haben Sie wenig vollbracht bzw. Sie, Frau Bergmann, ha-ben sich gar nicht geäußert. Das muss man Ihnen als Fa-milienministerin vielleicht am meisten vorwerfen. Mankann Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie sich nicht immerdurchgesetzt haben – das ist nicht immer einfach; das wis-sen wir –, aber man kann Ihnen vorhalten, dass Sie sichnicht geäußert haben. Sie haben zum Beispiel zur Steuer-politik nichts gesagt. Ich jedenfalls habe nichts gehört.Frau Wester hat von Steuererleichterungen für die Fa-milien im Jahre 2005 fabuliert.
Frau Wester, machen Sie das einmal auf einer Versamm-lung. Die Menschen lachen Sie aus, weil sie merken, wassie heute weniger in der Tasche haben.
Wer heute tankt, der zahlt für Ihre Entlastung, die ervielleicht im Jahre 2005 einmal zu spüren bekommt,schon jetzt. Das ist es, was die Familien trifft. Wenn dem-nächst Heizöl bestellt wird, dann werde ich den Bürgerin-nen und Bürgern in meinem Wahlkreis erzählen: Die FrauWester verspricht Ihnen aber Steuererleichterungen imJahre 2005. Die Leute werden Sie auslachen und werdenauch ihren Unmut äußern. So können Sie das doch nichtmachen!
Frau Bergmann, Sie haben dazu nichts gesagt. Ich meineschon, dass Sie als Bundesfamilienministerin gefordertsind, zu dieser Steuerpolitik, die die Familien besondersbelastet, Stellung zu beziehen.Frau Bergmann, Sie haben sich auch nicht zur Rentegeäußert. Jedenfalls habe ich es nicht gehört. Geäußert hatsich aber die Ministerpräsidentin von Schleswig-Hol-stein, die bekanntlich nicht in meiner Partei ist. FrauSimonis hat am Wochenende erklärt, die Absenkung desStandardrentenniveaus auf circa 61 Prozent wirke sichinsbesondere für Frauen verheerend aus, da sie, bedingtdurch die Kindererziehungszeiten, nicht die hierfür gefor-derten 45 Beitragsjahre erreichen können. Der drohendenAltersarmut von Frauen könne, so Frau Simonis, nurdurch eine klare familienpolitische Komponente entge-gengewirkt werden.
Frau Simonis gehört nicht meiner Partei an, FrauBergmann. Auch dazu müssen Sie sich einmal äußern.Zum Schluss kommen wir zu Ihrem ehemaligen Lieb-lingsthema, von dem wir heute ebenfalls nichts mehrgehört haben. Genauer gesagt hören wir seit dem23. Mai 1999 von dem Thema „Frauen in Führungsposi-tionen“ nichts mehr.
Frau Schewe-Gerigk, Sie haben den niedrigen Anteil vonFrauen in Führungspositionen beklagt. Da gebe ich Ih-nen teilweise Recht. Nur, was tun Sie denn in Ihrem urei-genen Bereich, über den Sie bestimmen?
Nehmen wir die drei höchsten Staatsämter, die Siewährend der Regierungszeit Ihrer rot-grünen Koalitionwieder besetzt haben.
Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben wir keineFrau in einem der höchsten drei Staatsämter. Das ist Ihrefrauenpolitische Leistung.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.
Wir dagegen kehren ge-
legentlich auch vor der eigenen Türe und haben eine Par-
teivorsitzende. Wir gehen also mit gutem Beispiel voran.
Folgen Sie uns!
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz sagen: Wir
brauchen in Deutschland wieder eine Familienpolitik; wir
brauchen wieder eine Politik für die Jugend; wir brauchen
wieder eine Politik für die Senioren; wir brauchen wieder
eine Politik für Frauen. Die CDU/CSU wird dafür sorgen.
Weitere Wortmeldun-gen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend liegen nicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Gesundheit, Einzelplan 15.Die Familienpolitiker dürfen gerne bei der Gesund-heitspolitik hier bleiben.Nun beginnen wir mit der Aussprache. Das Worthat die Bundesministerin für Gesundheit, Frau AndreaFischer. Bitte sehr.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Manfred Kolbe11158
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt we-nige Einzelpläne des Bundeshaushalts, in denen der Haus-haltsplan selber nur so eingeschränkt die Ressortpolitikwiedergibt wie in diesem Fall. Deswegen werde auch ichmich heute hauptsächlich zu den Fragen der Gesundheits-politik äußern, die uns alle umtreiben. Gestatten Sie miraber vorher noch ein paar Worte zum Einzelplan desBMG.Dass der Etat in diesem Jahr niedriger liegt als im letz-ten, ist zum einen einigen Sondertatbeständen geschuldetwie zum Beispiel einem rückläufigen Bedarf an Mittelnfür den Umzug des BfArM nach Bonn. Zum anderen istdas natürlich auch Ausdruck der Disziplin des gesamtenBundeskabinetts und damit auch des Bundesministeriumsfür Gesundheit, das sich ebenfalls nicht der Aufgabe ver-weigert, im eigenen Haus sorgsam zur Haushaltskonsoli-dierung beizutragen.
Ich möchte zwei Aspekte besonders positiv hervorhe-ben: Die Ansätze für die Anti-Aids-Kampagne, die Dro-genaufklärung und die allgemeine Aufklärung sind ge-halten worden. Wir lösen damit eine Zusage gegenüberdem Parlament aus dem letzten Jahr ein.
Ich freue mich darüber hinaus, dass es mit der Etatisierungdes Sonderprogramms „Umwelt und Gesundheit“endlich gelungen ist, erste Schritte in diesem bislang sträf-lich vernachlässigten Bereich zu unternehmen.
Aufgrund einschlägiger Erfahrungen gehe ich davonaus, dass die Beratungen im Haushaltsausschuss auchdiesmal so konstruktiv wie gewohnt verlaufen werden.Damit möchte ich mich der Gesundheitspolitik im All-gemeinen zuwenden,
der, wie ich höre, die Opposition in Zukunft besondereAufmerksamkeit widmen will. Das ist sicherlich auch fürSie lohnenswert, weil wir da ja immerhin eine bemer-kenswerte Entwicklung vorweisen können,
die manchen Unkenruf der vergangenen zwei Jahre als ge-genstandslos erscheinen lässt.Die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherungentwickeln sich im Jahre 2000 positiv; das Defizit gehtzurück, sodass für das gesamte Jahr 2000 mit einem aus-geglichenen Finanzergebnis gerechnet werden kann.
Gleichzeitig sind die Beitragssätze stabil, verglichenmit dem Stand bei Regierungsübernahme sogar leichtrückläufig. Das ist ein erfreuliches Ergebnis aus der Sichtvon Bürgerinnen und Bürgern, deren Belastung mitSozialversicherungsbeiträgen längst die Schmerzgrenzeerreicht hatte.
Dieses Ergebnis war nur durch Anstrengungen, abernatürlich auch über Konflikte zu erreichen gewesen. Dasist vollkommen klar. Weil das politische Gedächtnis jamanchmal nur ziemlich kurz zurückreicht, würde ichdoch gerne daran erinnern, dass seit Mitte der 90er-Jahrenicht nur die Beiträge zur Krankenversicherung, sondernauch die Zuzahlungen ständig gestiegen waren. Nachmeiner Erinnerung war das nicht minder konfliktträchtig.Wir haben mit der Gesetzgebung im vergangenen Jahreine ganze Reihe von Veränderungen eingeleitet, von de-nen die meisten zurzeit der Selbstverwaltung überantwor-tet sind, die sie umsetzt. Es ist sicher davon auszugehen,dass sich das nicht nur auf die künftige Entwicklung derAusgaben, sondern auch auf die Qualität positiv auswir-ken wird. Ich möchte stellvertretend anführen, dass es in-zwischen eine Grundsatzeinigung zwischen den Parteiender Selbstverwaltung zur Frage eines neuen Kranken-hausfinanzierungssystems gegeben hat und dass außer-dem die Vereinbarungen der Selbstverwaltung im Bereichder integrierten Versorgung vorankommen – bei allenSchwierigkeiten, die es da noch gibt. Wir wollen errei-chen, dass es auch zu einer Stärkung der hausärztlichenVersorgung kommt.Es gibt trotzdem Risiken für die Beitragsentwicklungund es gibt natürlich eine vielstimmige Kritik, auf die ichgleich noch näher eingehen werde. Wir haben von der al-ten Bundesregierung nicht nur Schulden in der gesetzli-chen Krankenversicherung geerbt, insbesondere in denneuen Bundesländern,
die bis heute große Solidaritätsanstrengungen der Bürge-rinnen und Bürger im Westen verlangen.
Wir haben von der alten Bundesregierung in diesem Som-mer – Auslöser waren zwei einschlägige Urteile des Bun-desverfassungsgerichtes – außerdem zwei Kuckuckseierins Nest gelegt bekommen, die uns noch schwer zu schaf-fen machen werden. Das Verfassungsgericht hat in diesemSommer bestätigt, dass die Regelung zur Berücksichti-gung von Einmalzahlungen beim Krankengeld verfas-sungswidrig war. Der Gesetzentwurf, den die Bundesre-gierung jetzt vorgelegt hat, um auf dieses Gerichtsurteilzu reagieren, sieht eine verfassungskonforme Regelungfür die Zukunft vor. Für die laufenden Fälle und ebenfallsrückwirkend für die noch nicht bestandskräftigen Fällewird es Rückzahlungen geben. Damit entsprechen wirsämtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
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Die Kritik hat sich in den letzten Wochen daran ent-zündet, dass das Krankengeld nicht rückwirkend bei de-nen erhöht werden soll, deren Ansprüche schon bestands-kräftig sind, unter anderem weil sie keinen Widersprucheingelegt haben. Das stimmt; eine ganze Reihe von Ak-teuren haben
versprochen, dass dies geschehen sollte. Ich kann auchverstehen, warum solche vollmundigen Zusagen nichteingelöst werden. Trotzdem bleiben diejenigen, die dasjetzt vollmundig fordern, die Antwort auf die Frage schul-dig, auf wessen Kosten das geschehen soll. Nach Schät-zungen der Krankenkassen geht es dabei um einen bis zu4 Milliarden DM höheren Betrag gegenüber den gut1 Milliarde DM, die unser Gesetzentwurf bislang bereitsan Mehrbelastungen für die gesetzliche Krankenversiche-rung vorsieht. In dieser Größenordnung – das ist meinefeste Überzeugung, zumal wenn man bedenkt, dass auchnoch ein zweites Verfassungsgerichtsurteil auf seine Um-setzung wartet – kann die gesetzliche Krankenversiche-rung diese Ausgaben nicht ohne Beitragssatzerhöhungenverkraften.Es wäre dann von Ihnen noch zu erklären, woher dasGeld kommen soll. Es kann auch nicht im Interesse derVersicherten sein, dass man ihnen erst in die eine Taschemehr gibt und ihnen hinterher aus einer anderen Taschemehr nimmt, und es kann ebenso nicht sein, dass – nochschlimmer – das Geld für die Versorgung von Krankenfehlen würde.Wer hier vollmundig anderes fordert – noch dazu,wenn er damals gegen den Rat der Juristen das verfas-sungswidrige Gesetz zu verantworten hatte –, der ruftkeck „Haltet den Dieb!“ und ist doch selbst vor Jahr undTag mit der Kasse durchgebrannt.
Weil auch absehbar ist, was die im Haushaltsentwurfenthaltene Absenkung der Bemessungsgrundlage fürdie Beiträge von Arbeitslosenhilfebeziehern zur Folgehat, möchte ich Sie daran erinnern – das hat meiner Ziel-richtung entsprochen –, dass die alte Bundesregierung1995 dieses Prinzip der Beitragsentrichtung in allen an-deren Zweigen der Sozialversicherung selber eingeführthat. Im Übrigen wäre diese Erhöhung ohne weiteres zuverkraften gewesen, wenn jetzt nicht noch die Hypothe-ken der alten Regierung dazukämen. Ich gehe davon aus,dass diese neueren Entwicklungen vom Parlament in denHaushaltsberatungen berücksichtigt werden.Dann möchte ich noch zu einer weiteren Kritik kom-men, die immer gerne von denen geäußert wird, die sta-bile Beitragssätze nur dann für wichtig halten, wenn sieselber in der Regierung sind. Das ist das wohlfeile Lied,es sei zu wenig Geld im System und wir würden mit derBegrenzung derAusgaben die medizinische Versorgungbehindern.
Interessanterweise kommt diese Kritik immer aus dersel-ben Ecke wie die Klage darüber, dass wir mit Qualitätssi-cherung, Leitlinien, Positivliste und anderem die Kunstdes Heilens zu stark einschränken würden. Was denn nun?Mehr Geld und gleichzeitig keine Orientierung an allge-mein gültigen Standards der Medizin, also noch mehrÜberflüssiges auf der einen Seite und noch mehr Unter-versorgung bei bestimmten Krankheiten auf der anderenSeite?Nehmen wir dafür ein Beispiel aus der letzten Zeit. DerDiabetiker-Bund hat in der vergangenen Woche beklagt,dass es an den Budgets liege, wenn wir in Deutschlandeine beklagenswert schlechte Behandlung von Diabeti-kern haben.
Das sehe ich genauso.
Er rechnet vor, dass die Behandlung eines gut eingestell-ten Diabetikers rund 1 700 DM im Jahr, die Behandlungeines aufgrund seiner Diabetes zusätzlich schwer Er-krankten – weil er zum Beispiel schlecht behandelt wurde– aber bis zu 80 000 DM koste.Ich kann einfach nicht erkennen, warum das Budgetdaran schuld sein soll.
Es ist ja offenkundig die gute Behandlung, die die kos-tengünstigere ist. Hier scheint mir viel eher ein Fall fürLeitlinien vorzuliegen, die dann in die Praxis überführtwerden müssen.
Diese Maßnahme streben wir zum Beispiel durch die Ein-führung des Koordinierungsausschusses an, die wir imGesetz vorgesehen haben und wofür die Selbstverwaltungzuständig ist.Die Koalition wird sich sicherlich weiterhin mit derFrage beschäftigen, ob die Budgets in der jetzigen Formhandhabbarer gemacht werden müssen. Aber was nichtangehen kann, ist, dass der Ruf nach mehr Geld die Aus-weichlosung für all diejenigen wird, die sich den Qua-litätsmängeln der gesundheitlichen Versorgung nicht stel-len wollen.
Zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass all das zu-sätzliche Geld, das immer wieder gefordert wird, nur vonPatienten und/oder Versicherten kommen kann. Das müs-sen sowohl diejenigen, die höhere Honorare fordern, alsauch diejenigen, die sich diese Forderungen zu Eigen ma-chen, offen und ehrlich sagen.Die Bundesregierung wird mit einer Reihe von Vorha-ben die drängenden Fragen in der gesetzlichen Kranken-versicherung anpacken. Ganz oben auf unserer Liste stehtdie Wettbewerbsordnung. Mit Verlaub: Die Wettbe-werbsordnung in der gesetzlichen Krankenversicherungist vor vielen Jahren eingeführt worden. Es war nicht ab-sehbar, dass es trotz Risikostrukturausgleich offensicht-
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Bundesministerin Andrea Fischer11160
lich noch Möglichkeiten einer lohnenden Risikoselektiongibt. Maßnahmen gegen diese Wettbewerbsverzerrungmüssen wir jetzt anpacken.
Zu einer unserer wichtigen Aufgaben gehört auch dasso genannte Transparenzgesetz, mit dem wir die Black-box Gesundheitswesen erleuchten wollen.
Die jüngst aufgedeckten Betrugsfälle machen offenkun-dig deutlich, dass es eine gewisse Dringlichkeit auf die-sem Gebiet gibt. Aber von diesen akuten Fällen abgese-hen ist schon lange bekannt, dass wir zu wenig wissen,was wir im Gesundheitswesen genau tun. Mehr Daten-transparenz könnte sicher dazu beitragen, die alte Streit-frage, wie viel Geld man für welche Leistungen braucht,besser beantworten zu können.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir legen kei-nesfalls die Hände in den Schoß, nur weil wir gesagt ha-ben, es werde keine so genannte große Gesundheitsreformgeben. Es gibt keinen gordischen Knoten, den man durch-schlagen könnte. Das Problem liegt in vielen kleinen Kno-ten, die aufgeknüpft werden müssen.Ich kann mir schon vorstellen, dass die Versuchung fürdie Opposition groß ist, sich populistisch auf dem The-menfeld Gesundheit zu tummeln. Aber würden Sie offenund ehrlich sein, dann wäre Ihnen vergleichbare Kritikwie die, die Sie uns entgegenbringen, ebenfalls gewiss.Nur weil Sie nicht wissen, wie es mit Ihnen weitergehensoll, haben Sie noch längst nicht das Recht, die Krankenund die Versicherten zu verunsichern.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sprechezunächst nicht von dem letzten Satz. Ich möchte zuerst dieGelegenheit nutzen, Frau Schaich-Walch zu ihrem Wahl-sieg gestern in der Fraktion herzlich zu gratulieren.
Vielleicht kann man damit den Wunsch verbinden, dassnach dem Abgang von Herrn Dreßler und nach der Nie-derlage von Herrn Schreiner nun die Gedanken etwasmehr auf modernere Ideen in der Gesundheitspolitik imRahmen einer sich verändernden Welt gerichtet werden.Ich bin mir aber nicht sicher. Eigentlich hatte ich erwar-tet, dass Sie heute reden würden. Da das aber nicht derFall ist, bin ich etwas vorsichtig und warte ab, bis Sie dasnächste Mal hier reden werden.
Frau Ministerin, ich habe das Gefühl, dass Sie – vonwem auch immer – ernsthaft getroffen worden sind; denndas Ende Ihrer Rede ging über das hinaus, was eigentlichangemessen gewesen wäre. Es geht ja nun wirklich umPatienten, um Versicherte. Diese sollen jedoch nicht ver-unsichert werden. Vielmehr soll hier einmal realistischdargestellt werden, wie sich die Lage seit dem Antritt derjetzigen Bundesregierung verändert hat.Im Juli hatte sich der Bundeskanzler als „Erfolgskanz-ler“ in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet.In diesem Zusammenhang ist noch eine umfangreiche Er-folgsbilanz aufgestellt worden. Interessant ist aber, dass erdie Gesundheitspolitik ausgespart hat. Offensichtlichgenügt sie seinen Erfolgsansprüchen nicht. Die „Rheini-sche Post“ fragt sogar: „ Macht Schröder Gesundheits-politik nun zur Chefsache?“ Ich zitiere einmal weiter:Wie aus dem Arbeitskreis Gesundheit der SPD-Bundestagsfraktion zu hören ist, zeigt sich der Re-gierungschef zunehmend unzufrieden mit der Amts-führung der grünen Ressortchefin Andrea Fischer.
Nicht nur der Kanzler – hast du meine Rede schon ge-lesen? – ist mit diesen Leistungen unzufrieden, Frau Mi-nisterin, auch die Bürgerinnen und Bürger. Sie beurteilen– ich komme auf das Zitat des Kollegen Kolbe aus dem„Stern“ zurück; ich mache es aber kürzer – Ihre Politiküberwiegend mit „weniger gut“ oder „schlecht“, unddas – Sie wollen ja auch etwas zu Ihrem Haushalt hören –trotz Steigerung Ihres für die Werbung vorgesehenenEtats um 300 Prozent. Insofern scheint dieses Geld nichtgut angelegt zu sein. Die Bürger jedenfalls haben Ihre Po-litik nicht positiv aufgenommen.Überwiegend weniger gut bzw. schlecht ist auch dieStimmung im deutschen Gesundheitswesen. Frau Minis-terin, Sie sind offensichtlich weder in der Lage, Ihr Res-sort und die nachgeordneten Behörden zu führen, nochin der Lage, die in der Gesundheitspolitik dringend zu lö-senden Probleme wirklich anzupacken.So streitet Ihr Haus über Monate mit dem Bundesver-sicherungsamt über die Einschätzung der Finanzlage derPflegeversicherung.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukteist nach Angaben der Industrie nach seinem Umzug vonBerlin nach Bonn personell so ausgedünnt, dass an einebeschleunigte Zulassung von Medikamenten nicht mehrzu denken und die Gefahr einer Verlagerung von Zulas-sungen ins Ausland offenbar gegeben ist. Das Institut –nehmen Sie das in Bonn, wo Sie mit Sicherheit dieVerantwortung tragen – hat im Rahmen der Finanzpla-
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Bundesministerin Andrea Fischer11161
nung Mittel für „geringe Umbaukosten“ in Höhe von650 000 DM und weitere für die Anschaffung von Gerä-ten benötigte Gelder in derselben Höhe überhaupt nichteingestellt. Das ist aber nicht alles. Insgesamt sind jetztaußerplanmäßige Ausgaben in Höhe von 32 Milli-onen DM zusätzlich zu finanzieren. Mit der ZentralenKommission für Biologische Sicherheit, die die Bundes-regierung in allen gentechnikrechtlichen Sicherheitsfra-gen beraten soll, hat man sich total überworfen und dieStelle des Abteilungsleiters für Verbraucherschutz undVeterinärmedizin ist seit Monaten verwaist.
Insofern müssen Sie sich Kritik gefallen lassen. Aberdie Führung des Hauses ist es nicht allein. Sie haben nachunserer Auffassung auch Probleme, die aus falschengesundheitspolitischen Entscheidungen erwachsendenSchwierigkeiten in den Griff zu bekommen.Mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz und derGKV-Gesundheitsreform 2000 sollten, so wird jetzt deut-lich, 1999 und bis in das Jahr 2000 hinein im Grunde ge-nommen nur Wähler geködert werden. Kleinere Leis-tungsverbesserungen wie beispielsweise die Übernahmeder Kosten für die Soziotherapie sollten das Bild vermit-teln, es sei genügend Geld in der gesetzlichen Kranken-versicherung vorhanden, man müsse nur die Wirtschaft-lichkeitsreserven ausschöpfen und dann ließen sichLeistungsverbesserungen vornehmen. Um dies zu be-werkstelligen, werden die alten Rezepte von Budgetie-rung und Reglementierung unbeirrt fortgesetzt.Aber, meine Damen und Herren, die Menschen merkeninzwischen, dass mit sektoralen Budgets die in der Ge-sundheitspolitik bestehenden Probleme eben nicht zu lö-sen sind. Kranke und schwerstkranke Patienten machentagtäglich die Erfahrung, dass ihnen medizinisch notwen-dige Behandlungen vorenthalten werden. Ihre Sorgenwerden immer drängender. Zuckerkranke beklagen, dassihnen die zur Blutzuckerkontrolle notwendigen Blut-zuckerteststreifen vorenthalten werden. Krebskrankeweisen darauf hin, dass in der Heilmittelversorgung drin-gend notwendige Therapien wie Lymphdrainage oderKrankengymnastik nicht mehr verordnet werden. Patien-ten, die aus Krankenhäusern entlassen werden und derambulanten Nachbehandlung bedürfen, wird unter Hin-weis auf Regressandrohung und Budget das Medikament,auf das sie in der Klinik eingestellt wurden, verweigert.Wenn wir darauf hinweisen, dann ist das keine Verun-sicherung, sondern die Darstellung und das Aussprechenvon Tatsachen, so wie sie heute vorzufinden sind.
Auch die Ärzte, denen unter Regressandrohung dieEinhaltung der Budgets aufoktroyiert wird, empfinden esals unerträglich, auf eine medizinische Behandlung ver-zichten zu müssen, die sie im Rahmen ihrer Verantwor-tung im Einzelfall für angezeigt halten.Immer weniger Patienten – resümiere ich – kommen inden Genuss von Arzneimittelinnovationen, für die nurwenig oder gar kein Geld da ist. Dessen ungeachtet hältdie rot-grüne Bundesregierung verbissen an ihrerBudgetierungspolitik fest, bisher jedenfalls. Es darf trotz-dem schon jetzt die Frage gestellt werden: Wie langenoch?Der finanzielle Crash ist bislang nur wegen der Mehr-einnahmen aus den geringfügigen Beschäftigungsverhält-nissen vermieden worden. Ist dieser Effekt erst einmalverpufft, wird die im Ausgabewachstum liegende Dyna-mik, die unvermeidlich ist, wieder stärker zum Tragenkommen. Es wird sich erneut die Frage stellen, welcheSteuerungsinstrumente dann zur Verfügung stehen odergestellt werden sollen.Vielleicht kommt diese Frage auch schon viel früherauf die Bundesregierung zu; denn die Ministerin hat denHerren Eichel und Riester erlaubt, ungeniert in das Porte-monnaie der Krankenkassen zu greifen. Ebenso wie schon1999 bei der sozialen Pflegeversicherung wird jetzt beider gesetzlichen Krankenversicherung eine Kürzung derBeiträge für Arbeitslosenhilfebezieher in Kauf genom-men. Etwa 1,2 bis 1,5 Milliarden DM werden dadurch inden Kassen fehlen.Sie, Frau Ministerin, haben zwar im Rahmen der Pres-sekonferenz zu den Halbjahresergebnissen vor wenigenTagen versprochen, die Senkung in den Haushaltsbera-tungen noch einmal zu überdenken, aber ich habe erhebli-che Zweifel an Ihrem Kampfesmut – um zu vermeiden zusagen: an der Ehrlichkeit Ihrer Aussage. Warum? Weil Sieschon anlässlich der Ressortgespräche zum Haushalt2000/2001 angekündigt hatten, sich vehement gegen dieKürzung zur Wehr zu setzen. Auch Frau Schaich-Walcherklärte im Juni in der „Süddeutschen Zeitung“: SollteRiester Erfolg haben –wörtlich –,ist absolut klar, dass die Kassen die Beiträge im kom-menden Jahr erhöhen.Deshalb wolle auch sie sich gegen die Kürzung derBeiträge aussprechen.Offensichtlich haben die beiden Damen in ihrem Pro-test sehr vorsichtig agiert, denn die Herren – in diesemFall Riester und Eichel – haben sich beim Kanzler durch-gesetzt, und das, obwohl sie sich doch eigentlich als dieGralshüter der Beitragssatzstabilität in den Vordergrundspielen wollten und uns, wenn wir sagen, dass es so nichtweitergeht, vorhalten, wir wollten Beitragserhöhungen inKauf nehmen.Nun drohen der gesetzlichen Krankenversicherung– Sie haben das gerade gesagt – als Folge der Urteile desVerfassungsgerichts zu den Beiträgen der freiwilligenRentner und den Einmalzahlungen weitere Belastungen.Ich sage: Auf diese wäre die gesetzliche Krankenversi-cherung vorbereitet, hätte Rot-Grün ihr nicht seit Regie-rungsantritt laufend die Finanzmittel entzogen. DerEinnahmeausfall durch Reduzierung der Zuzahlungenbeläuft sich auf rund 1 Milliarde DM, das Aussetzen derKrankenhaussonderregelung – sie wird immer als Notop-fer bezeichnet – führt zu Einnahmeausfällen in Höhe vonrund 700 Millionen DM, die Ausweitung von Leistungen,zum Beispiel der Soziotherapie, führt zu Mehrausgaben inHöhe von rund 1 Milliarde DM und die Ausnahmerege-lung bei den Krankenhäusern führt zu Mehrausgaben inHöhe von rund 2 Milliarden DM.
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Wolfgang Lohmann
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Zusammen mit der Kürzung der Renten in 2000 und2001 und der Kürzung der Beiträge für Arbeitslose – ichhabe das gerade angedeutet – spricht man von einer Be-lastung der Kassen – man kann das nachrechnen – von5,3 Milliarden DM in diesem Jahr und von 7,5 Milliar-den DM im Jahr 2001.Die immer wieder zur Entlastung zitierten Mehrein-nahmen von 2 Milliarden DM bis – wie Sie in Ihrer Pres-severöffentlichung schreiben – möglicherweise 3 Milliar-den DM durch das Abkassieren bei geringfügigBeschäftigten reichen mit Sicherheit nicht aus, um Bei-tragssatzerhöhungen zu vermeiden. Auch der wirtschaft-liche Aufschwung wird bei immer weniger Beitragszah-lern nicht ausreichen, die Einnahmeausfälle zu kompen-sieren.Frau Ministerin, meine Damen und Herren von der Re-gierungskoalition, glauben Sie wirklich ernsthaft, dass dieFinanzen der gesetzlichen Krankenversicherung mit im-mer weniger Beitragzahlern und rigiden Budgets zustabilisieren sind, ohne die medizinische Versorgung derBevölkerung weiter zu verschlechtern? Erste Zweifel anIhrer eigenen Sicht haben Sie offenbar schon, Frau Mi-nisterin. Denn während Sie anlässlich der Pressekonfe-renz, die ich bereits zitierte, noch erklärten, in dieser Le-gislaturperiode keine Reform mehr auf den Weg bringenzu wollen, sagten Sie auf einer Podiumsdiskussion derBertelsmann-Stiftung – ich habe es selbst gehört –Es ist eine falsche Vorstellung, dass es mit einer Ge-sundheitsreform getan ist.Wären Sie anlässlich der Gespräche zur GKV-Gesund-heitsreform 2000 auf unsere Angebote eingegangen, dannhätten Sie jetzt keine Torsoreform und müssten nicht übereine wirklich grundlegende Reform der GKV nachden-ken. Offensichtlich finden Sie und die Koalitionäre immermehr Geschmack an unseren Alternativen. DiesenSchluss ziehe ich, nachdem ich aus Ihrem Munde lobendeWorte über das System der Krankenversicherung in derSchweiz anlässlich der Podiumsdiskussion bei der Ber-telsmann-Stiftung gehört habe. Der Schweiz ist wegenihrer marktwirtschaftlichen Anreizsysteme der Carl-Bertelsmann-Preis verliehen worden. In der Jury saß übri-gens auch Herr Dreßler. Ich weiß nicht, wie Sie sichgefühlt haben: Sie saßen als Weltkind in der Mitten zwi-schen diesen beiden Ministerinnen aus der Schweiz undaus den Niederlanden, die sehr gelobt wurden, währendich Lobesworte für Ihre Politik nicht gehört habe.
– Sie sind für ihre Reformbemühungen, für ihre zukunft-weisenden Reformen gelobt worden und haben dafür ei-nen Preis bekommen. Es ist eine einmalige Sache gewe-sen, dass dort drei Ministerinnen saßen, von denen dieeine immer wieder den Kopf einziehen musste, wenn esum das Lob für eine moderne, zukunftsgewandte Politikging.Und dann ist da noch der Bundeskanzler, der sich in ei-nem Beitrag für die „Frankfurter Hefte“ für die Selbstbe-teiligung der Versicherten ausgesprochen hat: „Unver-zichtbar“, sagte er.Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stelle ich fest, dass dieBundesregierung nicht weiß, was sie in der Gesundheits-politik wirklich will. Die Fragen lauten also: Wollen Siedie grundlegenden Probleme der GKVernsthaft angehen?Kommt das Festbetragsneuordnungsgesetz? Wie steht esum eine Reform des Organisationsrechts und des Risiko-strukturausgleichs? Was passiert in der Pflegeversiche-rung? Bisher hört man nur von einem Referentenentwurfzur Qualitätssicherung, der aber bei den Betroffenen we-gen Überreglementierung auf erhebliche Kritik stößt.Die angekündigte Verbesserung der Situation Demenz-kranker lässt weiter auf sich warten. Bei der häuslichenKrankenpflege haben Sie es zu verantworten, dassSchwerstkranke keine hinreichenden pflegerischen Leis-tungen mehr erhalten.
Ihre eigene Klientel war bei einem Pflegefachgespräch– so nannte sich das – so aufgebracht, dass sie Sie, FrauFischer, wiederum so aufgebracht hat, dass die „Süddeut-sche Zeitung“ titelte: „Bundesministerin fällt aus derRolle“.Frau Ministerin, fallen Sie nicht aus der Rolle. PackenSie die notwendige und zukunftsweisende Reform in derGKVzum Nutzen der Kranken, der Versicherten und - dasist mir wichtig - um der Glaubwürdigkeit unserer gesetz-lichen Krankenversicherung an; denn diese muss erhaltenbleiben. Auf die Weise, wie Sie das zurzeit machen, istGefahr im Verzuge.Schönen Dank.
Jetzt hat der Kollege
Eckhart Lewering von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Der Einzelplan 15für das Bundesministerium für Gesundheit sieht für daskommende Haushaltsjahr Ausgaben von rund 1,75 Milli-arden DM vor. Im laufenden Jahr sind im Einzelplan 15rund 1,84 Milliarden DM veranschlagt. Die Ausga-ben weisen im Vergleich zum Vorjahr eine kontinuier-liche Entwicklung auf. Der Ausgabenrückgang um rund85 Millionen DM beruht im Wesentlichen auf besonderenUmständen des laufenden Jahres, die im kommendenHaushaltsjahr in dieser Höhe nicht mehr ausgabenwirk-sam sind.Zu den Ausgaben im Einzelnen: Für gesundheitspoli-tisch relevante Maßnahmen sind circa 127 Millionen DMveranschlagt. Von besonderer Bedeutung sind hierbei dieModellprogramme zur Verbesserung der Versorgung Pfle-gebedürftiger, Maßnahmen gegen Drogen- und Suchtmit-telmissbrauch, Vorhaben zur medizinischen Qualitätssi-cherung und Maßnahmen zur Krebsbekämpfung. Zudemfinanziert das Gesundheitsministerium Maßnahmen zurgesundheitlichen Aufklärung der Bevölkerung, insbeson-dere im Bereich der Drogen- und Aidsprävention.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Wolfgang Lohmann
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Die Modellprogramme werden auch in diesem Jahrweiter zurückgeführt. Das frühere hohe Ausgabenniveauentsprach dem Nachholbedarf in den Jahren nach derdeutschen Einigung. Die meisten Vorhaben sind mittler-weile in die Regelversorgung übernommen worden. DieMaßnahmen zur gesundheitlichen Aufklärung werden invergleichbarem Umfang fortgeführt. Sowohl bei der Aids-aufklärung als auch für die Informationen gegen Drogen-missbrauch und für die allgemeine gesundheitlicheAufklärung stehen weiterhin entsprechende Mittel zurVerfügung. Die Erfolge der Präventionsmaßnahmen ver-gangener Jahre dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,dass das Wissen über gesundheitsgefährdendes Verhaltenpermanent erneuert werden muss.Vielerorts ist eine Verdrängung der Aidsproblematikzu beobachten. Hierzu tragen auch die Erfolge und leiderauch die vermeintlichen Erfolge bei der Entwicklungneuer Medikamente bei. International sind hohe Steige-rungsraten bei der Zahl der Aidsinfektionen zu beobach-ten: Weltweit haben sich im vergangenen Jahr mehr als5 Millionen Menschen allein mit Aids infiziert. Im Zeital-ter der offenen Grenzen und der internationalen Zusam-menarbeit kann man darüber nicht einfach hinwegsehen.Aids ist eine weltweite Bedrohung und erfordert unserweltweites Engagement, nicht zuletzt zu unserem eigenenNutzen.
Moderne Konzepte gegen den Drogenmissbrauch er-fordern ein ideologiefreies Herangehen an die Problema-tik, wie es auf kommunaler Ebene, wo man mit den Pro-blemen unmittelbar konfrontiert wird, zum Glück schonvielfach über alle Parteigrenzen hinweg möglich ist. Ichdenke hier an Frankfurt und auch an Hannover. Der An-stieg der Drogenkriminalität und der Opfer illegaler Dro-gen fordern weiterhin ein hohes Engagement auch auf derBundesebene.Einen neuen Ausgabeposten stellt das Aktionspro-gramm „Umwelt und Gesundheit“ dar. 1 Million DMsind für das Programm im kommenden Jahr im Einzelplan15 vorgesehen. Darüber hinaus erfolgt eine gleich hoheFinanzierung durch das Bundesumweltministerium. ImFinanzplanungszeitraum für die nächsten Jahre steigt derBetrag auf 2,5 Millionen DM an.Mit dem Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“werden neue Wege beschritten. Zum einen eröffnet diesystematische und ganzheitliche Herangehensweise dieMöglichkeit, Wechselwirkungen und Summationseffekteim erforderlichen Rahmen zu berücksichtigen, zum ande-ren wird das Prinzip der Vorsorge als primäres Grund-prinzip von Umwelt- und Gesundheitspolitik betont.Grundlagen dieses Programms sind erstens die Samm-lung und Bewertung aller fachlichen Informationen sowiedie Schaffung fundierter fachlicher Grundlagen für um-weltbedingte Krankheiten, zweitens die Überprüfung undVerbesserung bestehender Verfahren der Risikobewer-tung und Standardsetzung, drittens die Verbesserung vonDiagnose und Therapie in der Umweltmedizin und vier-tens die Umsetzung vorbeugender Maßnahmen in derUmwelt- und Gesundheitspolitik.Unter den in Deutschland bestehenden Umweltbedin-gungen haben vor allem chronische Erkrankungen Be-deutung. Das Programm trägt dazu bei, fehlerhafte Dia-gnosen und die damit übliche Odyssee der Patientendurch verschiedene Arztpraxen – mit entsprechenden Kos-tenfolgen auch für das System der gesetzlichen Kranken-versicherungen – abbauen zu helfen. Dem Schutz der Ge-sundheit durch Erhalt der Umwelt oder durchWiederherstellung gesundheitsfördernder Umweltbedin-gungen gebührt Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen.Dem tragen wir Rechnung.
Wir haben vor der Wahl versprochen, den Schutz derMenschen vor Gesundheitsgefahren zu einem Leitgedan-ken der Gesundheitspolitik zu machen. Auch in diesemPunkt halten wir Wort.Überhaupt kann man sagen, dass man, wenn man eineZwischenbilanz der Arbeit der rot-grünen Koalitionzieht, konstatieren muss, dass wir bereits nach der Hälfteder Legislaturperiode einen großen Teil unserer gesund-heitspolitischen Ziele erreicht haben.
Wir haben Leistungsbeschränkungen und Zuzahlungs-pflichten, die die Vorgängerregierung verhängt hatte, ab-gebaut oder vermindert und moderne Konzepte der Ge-sundheitsförderung und -vorsorge wieder eingeführt. Wirhaben die Rolle des Hausarztes neu definiert und Mög-lichkeiten für moderne, integrierte Versorgungsformenauf den Weg gebracht.
Die Rehabilitation ist gestärkt worden. Die rot-grüneKoalition setzt Akzente für eine Gesundheitspolitik, diezum Ziel hat, vermeidbare Kosten schon in ihrer Entste-hung zu bekämpfen. Aus diesem Grund haben wir mit derGesundheitsreform 2000 Prävention wieder zu einemzentralen Bestandteil der Gesundheitspolitik gemacht.Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ wird in Zu-kunft konsequent umgesetzt werden.
– Ja, das machen wir auch so.– Das ist eine Politik, die dieInteressen der betroffenen Menschen und die Vermeidungunnötiger Kosten miteinander zu vereinbaren vermag.
Selbsthilfegruppen und Patientenrechten haben wir dieBedeutung zugemessen, die Ihnen gebührt. Der Anstiegder Krankenversicherungsbeiträge ist gestoppt und diesolidarische Krankenversicherung gestärkt. Anstelle dervorhergesagten Defizite gab es im vergangenen Jahr so-gar Überschüsse.
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Eckhart Lewering11164
Wir sind unserem Ziel, ein qualitativ hochwertiges Ge-sundheitssystem zu schaffen, das seine Leistungen für alleVersicherten in gleicher Weise bereitstellt,
bereits ein gutes Stück näher gekommen.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert, PDS-
Fraktion?
Bitte, Herr Seifert.
Herr Kollege, bitte
sehr.
Lieber Herr Kollege, Sie spra-
chen gerade davon, dass Sie die Selbsthilfeförderung so
sehr unterstützt hätten. Ich anerkenne sehr die Leistung
des BMG, das die Selbsthilfe fördert. Aber was tun Sie
dafür, dass die gesetzlichen Krankenkassen endlich ihrer
Verpflichtung nachkommen – es gibt ja jetzt das Gesetz –,
Selbsthilfe zu fördern? Jeder weiß doch, dass sie das nicht
oder nur so restriktiv tun, dass bei den Betroffenen kaum
etwas ankommt. Wir brauchen die Hilfe dringend.
Herr Dr. Seifert, wie Sie
wissen, haben wir in dem Gesetz im Jahre 2000 festgelegt,
dass die Krankenkassen die Pflicht haben, etwas für die
Selbsthilfegruppen zu tun,
und das werden sie sicher auch tun.
Ein weiteres Beispiel für diese Politik ist ein neu in den
Haushalt aufgenommener Posten. Es handelt sich hierbei
um 3,3 Millionen DM für den Bundesanteil an laufenden
Rentenzahlungen zur Entschädigung von Hepatitis-C-
Opfern der ehemaligen DDR. Ich erinnere hier nochmals
daran, dass die alte Koalition diese Aufgabe lange vor sich
her geschoben hatte und erst die neue Bundesregierung
dieses Problem erfolgreich angepackt hat.
Die Finanzhilfen zur Förderung von Investitionen in
Pflegeeinrichtungen in den neuen Ländern betragen
867 Millionen DM und stellen damit den größten Einzel-
posten im Gesundheitshaushalt dar.
83 Millionen DM sind für internationale Aufgaben des
Gesundheitswesens vorgesehen. Der hierin enthaltene
WHO-Beitrag ist in US-Dollar zu zahlen und muss wegen
der Kursentwicklung nachträglich angepasst werden.
Mit 53 Millionen DM werden wissenschaftliche For-
schungsinstitutionen finanziert, die der Bund gemeinsam
mit den Ländern fördert.
Die Personalausgaben bilden mit 314 Millionen DM
den zweitgrößten Ausgabenblock. Ein großer Teil der
Stellen wird durch Einnahmen finanziert, insbesondere
im Bereich der Arzneimittelzulassung.
Der Einzelplan 15 enthält Investitionen im Umfang
von circa 1 Milliarde DM. Ich schenke mir jetzt die ein-
zelnen Zahlen dazu.
Ich komme zum Schluss zu den im Einzelplan 15 vor-
gesehenen Einnahmen. Sie belaufen sich auf circa
92 Millionen DM. Die Einnahmen aus Zulassungsaufga-
ben der Institute dienen zur Deckung der Personal- und
Sachausgaben. Mögliche Steigerungen der Gesamtein-
nahmen wurden im vergangenen Jahr zu hoch angesetzt.
Aus diesem Grunde wurden die erwarteten Einnahmen
für dieses Jahr angepasst.
Mit dem Haushaltsentwurf 2001 schreitet die Bundes-
regierung weiter fort auf ihrem erfolgreichen Weg der
Haushaltskonsolidierung. Sie schafft damit die finanzielle
Grundlage für ein funktionierendes Gemeinwesen und für
den Erhalt unseres Gesundheitswesens.
Ich danke Ihnen.
Jetzt hat der Kollege
Dr. Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Gesund-heitspolitik ist in der Tat gescheitert. Auch die Bürgerdraußen merken dies.
Erstens wollen wir klar feststellen, dass wir beim Re-gierungswechsel einen Überschuss und kein Defizit über-geben haben.
Zweitens. Durch die Maßnahmen seit der Regierungs-übernahme sind Summen ins Spiel gekommen. Diesekann man nur einhalten, indem eine strenge Budgetie-rung realisiert wird. Das bedeutet, dass letztlichLeistungskürzungen erfolgen. Diese strenge Budgetie-rung merken die Bürger ganz genau.Ist es sehr sinnvoll, wenn wir heute erleben, dass eineFrau, die eine Brustamputation durchmachen musste,noch zweimal Lymphdrainage bekommt? Das ist ein Fak-tum.Es ist ein Faktum, dass Patienten ins Krankenhausüberwiesen werden, die eigentlich Krankengymnastik be-kommen sollten. Aber der Arzt sagt, das Budget ist er-schöpft, und überweist diesen Patienten für 14 Tage insKrankenhaus. Er bekommt im Krankenhaus zweimal amTag Physiotherapie.
Meine Damen und Herren, das kostet hohe Summenund ist unverantwortlich.
– Das sind Fakten!
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Es geht weiter. Die Krankenkassen sagen heute ein-deutig: Häusliche Pflege wird nicht mehr verschrieben;der Patient wird ins Krankenhaus überwiesen.
– Ich weiß, das alles passt Ihnen nicht.
Weitere Beispiele aus der Praxis: das Arzneimittel- undHeilmittelbudget, bei dem der Patient massiv betroffenwird und gerade der chronisch Kranke darunter leidet. Siesagen, Sie machen eine Politik für den Patienten? Nein,diese Patienten werden in den Bereichen Diabetes, Par-kinson, Krebs und in anderen Bereichen massiv berührt.
Ich bin erstaunt, dass die Fragen und die bisherigen Er-gebnisse der Rheuma-Liga nicht diskutiert werden.Schade, dass die Rheuma-Liga nicht zur Anhörung am27. September eingeladen wird. Dort könnten Fakten ge-nannt werden, die sehr interessant sind, weil die Betreu-ung auch dieses Patientenkreises massiv betroffen wird.Ich könnte Ihnen noch weitere Beispiele aufzählen, beidenen Sie durch Gesetzesänderungen finanzielle Mittelentziehen und dadurch eben sehr stark Patienten treffen.Aber nicht nur das, ich würde Ihnen auch empfehlen, mitÄrzten in den neuen Bundesländern intensiv zu reden.Gerade die Allgemeinärzte in den neuen Bundesländern,aber auch die Fachärzte werden in der Honorierung mas-siv getroffen.Sie wissen selber: Nicht nur die Ärzte, sondern auchPhysiotherapeuten und Psychologen ringen gerade in denneuen Bundesländern um ihre Existenz. Gehen Sie hinund schauen Sie, wie die durchschnittlichen Jahresein-kommen von diesen Bürgern sind. Sie werden feststellen,dass zu diesen Beträgen kaum noch gearbeitet werdenkann und eine Freiberuflichkeit nicht mehr gesichert ist.Ich sage Ihnen sehr deutlich: Mit Ihrer Politik zerstörenSie dieses System. Sie zerstören die Freiberuflichkeit indiesem System.
Es ist wahrscheinlich Ihre Absicht, diese Freiberuflichkeitzu zerstören und damit Ihre Planwirtschaft noch stärker zurealisieren.
Wenn Sie das nicht wollen, dann ändern Sie doch IhrGesetz. Dann sprechen Sie doch mit den Ärzten. Danngehen Sie doch in die neuen Bundesländer und sprechenbei Veranstaltungen mit den Ärzten. Nein, Sie sagen beiVeranstaltungen ab. Die KV Sachsen organisiert einegroße Veranstaltung – keiner von der SPD kommt. Dassind unfaire Methoden. Bekennen Sie sich dazu! Von denGrünen rede ich erst gar nicht. Sie kommen generell nicht.
Über einen weiteren wichtigen Punkt wird bisher vielzu wenig diskutiert. Wir alle wissen: Dieses Gesundheits-system wird nach dem 30. September ganz neu und andersbetrachtet werden. Das sage ich Ihnen heute voraus. Nachdem 30. September wird über Beitragssatzsteigerungendiskutiert werden, weil Sie es über die Budgetierung nichtmehr im Griff haben. Die Bürger machen es nicht mehrmit, dass Leistungskürzungen fast bis auf die Haut gehen,sogar bis ins Rückenmark, weil sie die Leistungen nichtmehr bekommen.Ein zweiter wichtiger Punkt: Frau Ministerin, Sie kün-digen immer Sachen an, egal ob es nun im Pflegebereichoder im Gesundheitsbereich ist, doch es bleibt bei denAnkündigungen. Wir haben im Pflegebereich schon un-sere Probleme. Wir sind im Defizit. Sie behaupten, wirkommen nächstes Jahr aus dem Defizit heraus. Aber Siemüssen gerade auch im Pflegebereich erkennen, wohinder Trend geht. Es geht sowohl im ambulanten als auch imstationären Bereich hin zu den Sachleistungen. Die Geld-leistungen werden reduziert. Dafür gibt es sicherlich vieleArgumente: Kleinfamilie, Überforderung der Familie.Diese Kosten steigen nennenswert an. Dies ist bisher vonIhnen so gut wie gar nicht berücksichtigt worden.Wenn Sie glauben, Sie könnten ein Gesetz nur für De-menzkranke, vielmehr für die zu pflegenden Demenz-kranken machen, dann werden Sie nicht erfolgreich sein.Es gibt genau ähnliche Krankheitsbilder, bei denen Fami-lienmitglieder diese Patienten pflegen und draußen vorder Tür stehen. Dann haben Sie die Klagen am Hals.Eines haben wir bisher nicht berücksichtigt. Wir habenbisher die Leistungen in diesem System nicht fortge-schrieben. Auch das wird ein großes Thema werden. Istdas überhaupt haltbar?
– Ja, ich weiß. Aber da Sie nun in diesem Pflegebereichdie große Verantwortung tragen, muss man Sie schon da-ran erinnern, dass Sie Versprechungen einhalten müssen,die Sie vor den Wahlen verkündet haben. Wir werden ge-nau diese Themen nutzen.Meine Damen und Herren, ich spreche hier noch einThema an: Diese Woche hat ja beim Bundeskriminalamteine größere Zusammenkunft im Gesundheitssektor statt-gefunden. Ich sage dazu ganz deutlich: Ich bin wirklichfür Strafverfolgung für diejenigen, die hier nicht sauberabrechnen. Aber ich sage Ihnen auch: Eine Hetzjagd indiesem Bereich auf den Weg zu bringen, um von dentatsächlichen Problemen abzulenken, dies werden wirnicht mitmachen. Das sage ich Ihnen heute voraus.
Das Wort hat nun die
Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Wenn heute in erster Lesung über denEinzelplan 15 debattiert wird, muss erneut festgehaltenwerden: Die Absenkung der Kassenbeiträge für die
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Dr. Dieter Thomae11166
Arbeitslosenhilfeempfänger zugunsten des Bundes-haushaltes war und bleibt ein schwerer Fehler.
Auch wenn Sie das anders sehen, Frau Ministerin Fischer:Die damit verbundene Mittelkürzung ist angesichts der fi-nanziellen Belastungen, die auf die gesetzliche Kranken-versicherung noch zukommen, und angesichts der realenSituation im Gesundheitswesen nicht zu verantworten.Wo Sie Ihre Zufriedenheit hernehmen, kann ich beim bes-ten Willen nicht nachvollziehen. Denn die Grundpro-bleme des Bereiches sind da, sie sind nach wie vor un-gelöst, und überall wachsen neue Spannungen und darausresultierende Proteste.In den Krankenhäusern verschlechtern sich die vie-lerorts schon heute unhaltbaren Arbeitsbedingungen wei-ter. Ende dieses Monats wollen die Ärzte in Sachsen undSachsen-Anhalt mit einer Aktionswoche auf erneuteHonorareinbußen aufmerksam machen. Die Brisanz derSituation in den neuen Bundesländern erwächst auchdaraus, dass den Ärzten in der eigenen Niederlassung– wie damals allen Menschen in den neuen Bundeslän-dern – blühende Landschaften versprochen wurden, sieaber heute eine ganz andere Wirklichkeit erleben.Nun weiß ich, dass ich Sie für dieses Versprechen nichtverantwortlich machen kann, aber Sie haben jetzt die Ver-antwortung. Ich möchte deshalb an die Bundesregierungappellieren, den hier bestehenden dringenden Hand-lungsbedarf keinesfalls zu unterschätzen.
Viele AOKen und Ersatzkassen geraten immer mehr inSchwierigkeiten; dies vor allem, weil der finanzielle Aus-gleich zwischen den Kassen nicht richtig funktioniert undBetriebskrankenkassen mit Dumping-Beiträgen jungeund gesunde Mitglieder abwerben. Dabei geht es letzt-endlich nicht um die Existenz einer Einzelkasse, sondernes geht um die Leistungsfähigkeit des Systems der soli-darischen Krankenversicherung.
Meine Damen und Herren, es ist ein beschämender Zu-stand, dass die Menschen in einem der wohlhabendstenLänder der Welt inzwischen Woche für Woche durch neueHorrormeldungen aus dem Gesundheitsbereich er-schreckt werden. Das ist unverantwortlich angesichts derTatsache, dass alle Probleme im Gesundheitswesen vonden Menschen mit hoher Sensibilität verfolgt werden.Wenn die Gesundheitsministerin vor diesem Hinter-grund stolz verkündet, dass die Krankenkassen in diesemJahr voraussichtlich ohne Defizite abschließen werden,und dies als den entscheidenden Erfolg der jüngstenGesundheitsreform wertet, dann kann es nicht verwun-dern, wenn viele Menschen das geradezu als Hohn emp-finden. – Mehr sage ich nicht; das lasse ich weg.
Wir meinen, die entscheidende Frage im Gesundheits-wesen ist heute nicht, ob der allgemeine Beitragssatz inder GKV 13,60 oder 13,57 Prozent beträgt. Die Haupt-gefahr besteht darin, dass die Versicherten ebenso wie dieMitarbeiter in den Einrichtungen das elementare Ver-trauen in die GKV verlieren. Schlimmer noch, die Ak-zeptanz des Solidarsystems in der Bevölkerung kann irre-versiblen Schaden nehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenigstens darinsollte Übereinstimmung bestehen: Durch Privatisierungund Deregulierung können weder die bestehenden Ver-sorgungs- noch die Finanzprobleme des Gesundheitswe-sens gelöst werden.
Das gilt für ein Zusammenstreichen des Leistungskata-logs im Gefolge von Basis- und Wahlleistungen ebensowie für einen ökonomischen Verdrängungswettbewerb.Wer das Solidarsystem zerstört, zerstört die entschei-dende Grundlage unseres Gesundheitswesens und einenzentralen Eckpfeiler des Sozialstaates.
Ich denke aber, noch hat die Regierung das Heft desHandelns in der Hand. Wenn sie die solidarische Kran-kenversicherung bewahren will – davon gehen wir nachwie vor aus –, dann muss sie jetzt alles tun, um das Ver-trauen der Menschen in das System zu stärken, statt zu-zulassen, dass es zunehmend zerredet und Schritt fürSchritt ausgehöhlt wird. Auf diese Weise kann auch dienotwendige Zeit gewonnen werden, um eine wirklicheReform des Gesundheitswesens endlich einmal sorgfältigvorzubereiten.Erforderlich sind tatsächlich neue Strukturen und eineKonsolidierung der Finanzgrundlagen, die strikt am Soli-darprinzip orientiert bleibt. Notwendig ist auch, zügig dieVerfassungsgerichtsurteile zu den Krankengeldzahlungenund zu den Beiträgen der freiwillig versicherten Rentnerumzusetzen. Im Interesse von Glaubwürdigkeit und Ver-trauensstärkung kann es dabei nur um Lösungen gehen, inderen Ergebnis alle – ich betone: alle – betroffenen Lang-zeitkranken Rückzahlungen erhalten und die freiwilligversicherten Rentner den pflichtversicherten gleichge-stellt werden.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Dr. Martin Pfaff, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Traditionsgemäß bietet die Haus-haltswoche, vor allem die in der Mitte einer Legislaturpe-riode, Anlass zum Rückblick, aber auch zum Ausblick.Sie ist auf ganz besondere Weise eine Nagelprobe für dieRegierung selbst – es geht um die Frage, ob sie klare Vor-stellungen über die Ziele und die notwendigen Maßnah-men in der laufenden Legislaturperiode und darüber hi-naus hat –, aber natürlich auch eine Nagelprobe für dieOpposition: Wird sie alles in Bausch und Bogen verdam-men, auch Maßnahmen, die sie in der Vergangenheit sel-ber durchgeführt hat oder im Konsens mit durchgeführt
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hat, wird sie Populismus pur in den Vordergrund stellen,weil dies der Opposition leichter fällt, oder wird sie dortVerantwortung mit tragen, wo es erforderlich ist? Ichmuss ganz offen sagen, die Bemerkungen, die ich heutegehört habe, stimmen mich nicht gerade optimistisch.
Herr Kollege Lohmann, Sie sagen hier, eine moderneGesundheitspolitik sei gefordert. Besteht eine moderneGesundheitspolitik darin, dass man
Gesundheitsrisiken privatisiert, dass man die Zuzahlun-gen erhöht, dass man den Leistungskatalog mindert unddie Risiken den Menschen aufbürdet,
die zum Teil nicht in der Lage sind, sie zu tragen? DieseVorschläge haben einen langen grauen Bart. Das ist nichtmodern, auch wenn man es wieder auf neues Briefpapierkopiert; das muss ich hier in aller Deutlichkeit sagen.
Zweitens sprechen Sie das Problem der Zulassung vonArzneimitteln an. Es besteht ja in der Tat. Aber hier mussdoch die bescheidene Frage erlaubt sein, was Sie denn inden 16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan haben, um die-sen Stau bei den Zulassungen zu beseitigen? Angemahntwurde es von uns und von den europäischen Institutionenschon lange. Wer im Glashaus sitzt, sollte sicher nicht mitSteinen werfen.
Sie haben die sektoralen Budgets kritisiert. Wir wis-sen, sie haben auch negative Effekte. Aber dann frage ichSie: Warum haben Sie denn das Globalbudget verhindert,das eine intelligentere Form gewesen wäre
und mehr Flexibilität zwischen den Sektoren erlaubthätte? Auch hier erfordert die Glaubwürdigkeit einiges.In einem Punkt haben Sie ja nicht Unrecht: Die Kür-zung der Beiträge der Arbeitslosen zur gesetzlichenKrankenversicherung stellt einen Verschiebebahnhofdar. Ich sage das in aller Deutlichkeit. Nun muss aber zumeinen auch daran erinnert werden, dass die Haushaltskon-solidierung, die Sparbemühungen eine logische Konse-quenz der Finanzsituation sind, die wir bei der Über-nahme der Regierungsverantwortung vorfanden.
Ohne diese Situation würde Walter Riester nicht seinenBeitrag zur Konsolidierung des Haushalts leisten müssen.Zum anderen darf ich, da Sie ja besondere Experten fürVerschiebebahnhöfe sind, daran erinnern, was eigentlichin Ihrer Regierungszeit geschehen ist. Erstes Beispiel: dieSenkung des Rentenbeitrags von 18,7 Prozent auf17,7 Prozent, später auf 17,5 Prozent bei gleichzeitigerErhöhung des Beitrags der Bundesanstalt für Arbeit. Daswar eine Zweckentfremdung des Reservepolsters derRentenversicherung. Zweites Beispiel – wohlgemerkt, ichkomme zur GKV –: Absenkung von Reha-Leistungen inder Rentenversicherung, Anstieg ambulanter Leistungenin der gesetzlichen Krankenversicherung. Das haben Siegemacht. Drittes Beispiel: Ausgliederung der medizini-schen Rehabilitation als Regelleistung der GKV. Das warIhre Absicht und das bedeutet eine weitere Belastung dergesetzlichen Pflegeversicherung. Durch das so genannte2. GKV-Neuordnungsgesetz wollten Sie darüber hinausdie häusliche Krankenpflege und die ambulante Rehabili-tation von einer gesetzlichen Anspruchsleistung auf einesatzungsgemäße Mehrleistung umsatteln. Das hätte eineMehrbelastung der gesetzlichen Pflegeversicherung be-deutet.In den fünf Jahren zwischen 1992 und 1997 haben Sieder gesetzlichen Krankenversicherung 17 Milliarden DMentzogen, und zwar durch die Senkung der Bemessungs-grundlage für die Krankenversicherungsbeiträge ausEntgeltersatzleistungen von 100 Prozent auf 80 Prozent– 4,5 Milliarden DM pro Jahr –, durch die Anhebung derBemessungsgrundlage vom Nettoentgelt bei den Ren-tenversicherungsbeiträgen – 1 Milliarde DM pro Jahr –,durch die Senkung der den Krankenkassen zustehendenBeitragseinzugsvergütungen – einen Bruchteil einer Mil-liarde DM – und durch die Senkung der Entgeltfortzah-lung. Ich könnte die Liste fortsetzen.
Sie haben dem System 17 Milliarden DM entzogen. Ichsage noch einmal: Wer im Glashaus sitzt, sollte wirklichnicht mit Steinen werfen.
Im Übrigen: Zu dem, was Bundeskanzler Schröderüber die Stärkung der Eigenverantwortung gesagt hat,stehen wir.
Mit Eigenverantwortung meinen wir aber nicht eineErhöhung der Zuzahlung. Wir meinen die Verantwortungder Menschen für ihre Lebensführung, für das Lebens-umfeld, vor allem aber für die Lebensführung: das ist Ei-genverantwortung.
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Dr. Martin Pfaff11168
Es ist klar, dass das Ernährungs-, Bewegungs- und Ar-beitsverhalten einen wesentlichen Einfluss auf die Zivili-sationskrankheiten hat. Mit diesem Konzept der Eigen-verantwortung können wir uns anfreunden, nicht aber miteiner Anhebung der Zuzahlungen.Geschätzter, lieber Dieter Thomae: Die rot-grüne Ge-sundheitspolitik hat sicher dieses vernichtende Urteilnicht verdient. Das ist ganz klar.
Der Überschuss, den ihr uns am Ende der Periode über-lassen habt – es gab einen rechnerischen Überschuss –,war das Produkt einer enormen Anhebung der Zuzahlun-gen. Die Anhebung der Zuzahlungen zur Entlastung desBudgets ist die Kunst der Primitiven. Das kann jeder ma-chen
Die andere Frage ist, wie sich Budgets auswirken. Ichfinde es sehr eigenartig, mit welcher Begeisterung nochunter dem früheren Bundesgesundheitsminister SeehoferBudgets eingeführt wurden. Das war damals in Ordnung,jetzt aber soll es auf einmal Teufelswerkzeug sein. Ichfrage Sie zum Arzneimittelbudget: Bedeutet Ihre Kritik andiesem Budget, dass alle Ärztinnen und Ärzte, die mitihrem Budget zurechtkommen, ihren Patientinnen undPatienten die notwendige Versorgung verweigern?Bedeutet das, dass nur der geringere Anteil, der nicht zu-rechtkommt, die Norm ist, obwohl alle anderen offen-sichtlich damit zurechtkommen? Wenn wir die Spielre-geln kennen, wissen wir auch, dass in begründeten Fällenauch Erklärungen für Überschreitungen angebracht wer-den können.Was die Freiberuflichkeit der Ärzte angeht: Wir wis-sen alle, dass die Ärzte einen sozial gebundenen Beruf ha-ben. Sie werden aus Zwangsbeiträgen der Mitglieder dergesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Im Übri-gen: Auch dieses Gebot der sozialen Gebundenheit derfreien Berufe verpflichtet doch nicht die Sozialversiche-rungen, oder den Gesetzgeber, Überkapazitäten, die zuenormen Ausgabensteigerungen führen, zu finanzieren.Wollen Sie denn wirklich, dass die Versicherten mit ihrenZwangsbeiträgen Kapazitäten finanzieren, die nicht er-forderlich sind und über den Bedarf hinausgehen?
Das kann ja wohl nicht der Sinn der sozialen Kranken-versicherung sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,wir wollen keine Hetzjagd auf Ärzte. Ich finde, das wärenicht richtig. Aber diejenigen, die das Gesetz brechen,müssen mit aller Konsequenz des Gesetzes rechnen, sowie es in anderen Bereichen ebenso der Fall ist.So viel nur als erste Replik. Ich sagte ja schon, dasseine solche Haushaltswoche auch Anlass zum Rückblickinsgesamt geben kann.
Nachdem der Kollege Eckhart Lewering schon einigesgesagt hat, kann ich nur wiederholen: Wir haben nach Be-ginn unserer Regierungsverantwortung das unseligeKrankenhausnotopfer gestrichen. Das wissen die Men-schen draußen. Wir haben die Zuzahlungen bei Arznei-mitteln reduziert. Auch das ist angekommen.
Leider konnten wir es wegen der Finanzlage nicht so weitreduzieren, wie wir es gerne getan hätten.
Wir haben die Zuzahlungen für chronisch Kranke nachdem ersten Jahr gestrichen. Das ist doch eine sozialpoliti-sche Leistung, die eigentlich auch von Ihnen Anerken-nung verdienen würde. Wir haben bei den Psychothera-peuten die Zuzahlungen gestrichen, wir haben dieDynamisierung der Zuzahlungen ebenfalls gestrichen,und den unseligen Koppelungsmechanismus, den man Ih-nen, verehrter Herr Kollege Seehofer – ich erinnere an denberühmt-berüchtigten Spaziergang im Altmühltal –, zu-schreibt, dass nämlich bei einem Steigen der Beiträge dieVersicherten zu höheren Zuzahlungen genötigt werden,also sozusagen als Hebel gegenüber den Kassen benutztwerden, haben wir Gott sei Dank auch gestrichen. Daraufsind wir auch ein wenig stolz. Ich glaube, die Menschenwerden das auch zu würdigen wissen.
Wir haben den Zahnersatz, den Sie für nach 1978 Ge-borene privatisiert haben, als Sachleistung wieder einge-führt. Wir haben die unseligen PKV-Elemente, die in derprivaten Krankenversicherung durchaus richtig am Platzsind, wieder aus der gesetzlichen Krankenversicherunggestrichen. Ich fasse zusammen: Diese Bundesregierunghat – gemessen an ihren Ankündigungen aus dem Wahl-kampf – auch in der Gesundheitspolitik Wort gehalten.
Nehmen wir einmal das GKV-Strukturreformgesetzals Beispiel. Ich stelle mit aller Ernsthaftigkeit fest: An-gesicht der Kritik an unserem System – die WHO hat unswieder einen Spiegel vorgehalten, auch wenn er etwasverzerrt war – sind wir uns doch darüber einig, dass es ei-nige Defizite in unserem System gibt, zum Beispiel diemangelnde Verzahnung. Die Antwort auf dieses Problemsind Maßnahmen in Richtung integrierter Versorgung. Ein
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Dr. Martin Pfaff11169
weiteres Problem sind falsche Anreize im Vergütungssys-tem. Die Antwort sind beispielsweise durchgehend leis-tungsbezogene Vergütungen und Fallpauschalen im Kran-kenhaus, die Stärkung der Prävention, die Sie geschwächthaben, Steigerung der Transparenz, Qualitätssicherung,über die schon viel gesprochen wurde, sowie Stärkung derPatientenrechte und der Rolle der Hausärzte.Wir können auch darauf stolz sein, dass wir die unse-lige Sozialmauer, die im Gesundheitswesen durch dieMitte Deutschlands ging, endlich zum Abriss freigegebenhaben. Die Einführung eines gesamtdeutschen Risiko-strukturausgleichs war ein wichtiger Punkt.
Zur finanziellen Lage der gesetzlichen Krankenver-sicherung hat die Frau Bundesministerin einiges gesagt.Ich sage es ganz deutlich: Hier gibt es Licht und Schatten.Es gibt Licht, weil die Finanzsituation der gesetzlichenKrankenkassen am Ende des Jahres wie im vergangenenJahr wahrscheinlich wieder ausgeglichen sein wird. Esgibt auch etwas Licht, weil jetzt die Einkommen aus ge-ringfügiger Beschäftigung in der gesetzlichen Kranken-kasse berücksichtigt werden. Hier lagen Sie, meine liebeKolleginnen und Kollegen von der Opposition, deutlichdaneben. Wenn der Umfang der geringfügigen Beschäfti-gung wirklich so drastisch zurückgegangen wäre, wie Sieprognostiziert hatten, dann würden die Einnahmen in die-sem Jahr nicht bei 2 Milliarden DM und im nächsten Jahrsogar über 2 Milliarden DM liegen. Sie wären dann deut-lich geringer ausgefallen. Hieran zeigt sich wiederum,dass unser Schritt richtig war.Die Beitragssätze in Ost und West haben sich bis aufdrei Zehntel Beitragssatzpunkte – wohlgemerkt: imDurchschnitt – angenähert. Sie werden für einige Zeit sta-bil sein.Es gibt aber auch Schatten. Das möchte ich in allerDeutlichkeit sagen. Die Urteile des Bundesverfassungs-gerichts bedeuten, dass die Ausgaben um 3 Milliarden bis6,5 Milliarden DM steigen werden. Die Einmalzahlungenbeim Krankengeld und die Angleichung der Krankenkas-senbeiträge für freiwillig versicherte Rentner bedeuten fürdie Krankenkassen Mindereinnahmen in Höhe von unge-fähr 500 Millionen DM. Wir wissen, dass dies finanzielleRisiken in sich birgt. Auch der Verschiebebahnhof, derdurch die Sparzwänge notwendig wurde, ist eine weitereBelastung. Dazu habe ich schon einiges gesagt.Dennoch meinen wir, dass die Finanzlage kurzfristigüberschaubar ist, auch wenn mittelfristig erhebliche Risi-ken bestehen und sich große Gewitterwolken zusammen-brauen. Darauf werde ich noch eingehen. In den Progno-sen wird davon ausgegangen, dass die gesetzlichePflegeversicherung zwar übergangsweise Defizite auf-weisen wird, dass aber in relativ wenigen Jahren die Bud-gets wieder ausgeglichen werden können bzw. in derzweiten Hälfte des Jahrzehnts sogar Überschüsse entste-hen werden, sobald die Situation der Demenzkranken ver-bessert ist, was unabdingbar ist. Niemals wird die gesetz-lich erforderliche Mindestreserve unterschritten. Dasmuss man auch einmal deutlich sagen. Ich weiß, das kannuns angesichts des Bedarfs, der nicht gedeckt ist, nichtvoll befriedigen. Aber auch hier gibt es einige Missver-ständnisse.Das große Problem sehen wir nicht in der Entwicklungder Durchschnittsbeiträge, sondern in der Entwicklungder Beitragssätze nach Kassenarten, und zwar beson-ders in der neuesten Entwicklung nach 1999. Wir habengemeinsam in Lahnstein den Risikostrukturausgleich be-schlossen. Wir haben auch gemeinsam die Ausweitungder Wahlfreiheit beschlossen. Wir haben uns auch ge-meinsam gefreut – ich hoffe, jedenfalls die meisten vonuns –, dass die intendierten Wirkungen auch erzielt wur-den. Aber vor allem seit 1999 ist ein ganz besonderes Pro-blem entstanden. Das betrifft auch schon das Jahr 1998,aber besonders danach hat sich das Problem bis zum heu-tigen September vergrößert.Deshalb hat der heutige Termin auch eine gewisse sym-bolische Bedeutung. Es ist ganz offensichtlich, dass hierein erhebliches Problem auf uns zukommt. Schon im Jahr1999 haben rund eine Million Menschen die Kranken-kasse gewechselt, wahrscheinlich sind es in diesem Jahrnoch etwas mehr. Dass sie die Kassen wechseln wollenoder können, ist aber nicht das Problem. Das war als In-strument des Wettbewerbs sogar intendiert.
Das Problem besteht darin, dass es überwiegend 25-bis 40-Jährige sind, die ihre Kasse wechseln. Wenn mansich die Auswertung einer großen Kassenart anschaut,dann zeigt sich, dass von den Abgewanderten weniger als1 Prozent in den letzten drei Jahren überhaupt einenKrankenhausaufenthalt hatte. Das heißt, die Wechslersind jung, allein stehend, Gutverdiener und vor allem ge-sund; das betrifft also vor allem eine bestimmte Alters-gruppe. Das heißt im Klartext: Den großen Kassen, denAOKen und den Ersatzkassen werden Ressourcen entzo-gen, die dem gesamten System fehlen.
Diejenigen, die breitere Schultern haben, entziehen sichder Solidarpflicht. Das ist doch nicht etwas, das nur eineHälfte des Hauses interessieren kann. Ich sagte es schon:Wir haben das gemeinsam beschlossen.Im Wesentlichen geht es um circa 15 Betriebskranken-kassen, die den Löwenanteil dieser Wechsler aufnehmen.Diese haben in der Regel kein Servicenetz, kein Dienst-leistungsangebot in der Fläche. Sie sind in der Regel nichtgleichermaßen für alle, sondern hauptsächlich für die Jun-gen und Gesunden zu erreichen, die zum Beispiel im In-ternet surfen und die günstigeren Beitragssätze findenkönnen. Das kann ja keine Lösung für alle sein. Es kannnicht der Zweck dieses Wettbewerbs sein, dass sich die„guten Risiken“ der Solidarpflicht entziehen; nicht nur,weil die Ressourcen entzogen werden, sondern weil diesin der Tendenz dazu führen muss, dass es zwei Arten vonKassen geben wird: Kassen mit geringen Beitragssätzenfür Junge und Gesunde und Kassen für Alte, Kranke, Fa-milien mit Kindern und Menschen mit besonderengesundheitlichen Risiken oder mit geringeren Einkom-
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Dr. Martin Pfaff11170
men. Ich frage: Wie lange kann eine solche Entwicklungandauern, bis es wirklich zum Crash kommt? Hierfür tra-gen wir alle zusammen eine besondere Verantwortung.Wir haben es zusammen beschlossen. Ich meine, wir kön-nen nicht nur zusehen, wie die Entsolidarisierung in die-ser Legislaturperiode ein Ausmaß erreicht, das erheblicheKonsequenzen nach sich zieht.Kurzfristig müssen wir also der Risikoselektion imKassenwettbewerb etwas entgegensetzen, ohne aber dieKonstruktion dieses Mechanismus grundsätzlich in Fragezu stellen. Wir müssen darüber hinaus mehr Transparenzschaffen.
[CDU/
CSU]: Machen Sie einen Vorschlag!)Wir müssen das Krankenhausfinanzierungsgesetz und dieBundespflegesatzverordnung an die Situation nach demJahre 2003 anpassen. Wir müssen den Fremdkas-senausgleich regeln. Mittelfristig – das sage ich in gebo-tener Kürze – müssen wir Rationalisierungsreserven dortmobilisieren, wo sie zu mobilisieren sind. Das ist einesehr schwierige Aufgabe. Wenn das nicht ausreicht, dannkommt sicherlich die Diskussion, ob nicht die Verbreite-rung der Bemessungsgrundlage über neue Einkommens-arten oder die Anhebung der Beitragsbemessungs-und/oder Versicherungspflichtgrenze aufs Tapet muss.Wenn wir schon über Verbreiterung und Erhöhung derEinkommensgrenzen für diejenigen, die ihren Solidarbei-trag leisten sollen, reden, dann müssen wir auch über denArbeitgeberbeitrag reden;
denn auch dort gibt es Ungerechtigkeiten zwischen denen,die vielen Menschen Brot und Arbeit geben, und den an-deren, die eben mehr Maschinen einsetzen.
Diese Diskussion muss erlaubt sein. Sie muss aber in die-ser Legislaturperiode beginnen und wird dann hoffentlichin der nächsten Legislaturperiode Früchte tragen.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit!
Ich komme zum Schluss.
Die Dinge, die Sie anbieten – Pflicht- und Wahlleis-
tungen, Reduzierung des Risikostrukturausgleichs, Ab-
schaffung der Budgets – sind keine Alternative für uns.
Wir halten folgende drei Folgerungen fest: Erstens: Auch
in Zukunft muss gelten, gleiche Gesundheitschancen für
alle – unabhängig vom Einkommen – zu gewährleisten.
Zweitens: Mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit muss
auch in Zukunft unser Ziel sein. Drittens und letztens: So-
lidarisch organisierte und vor allem finanzierte Gesund-
heitssysteme sind sowohl kosteneffektiver als auch ver-
teilungsgerechter. Wir müssen ja wirklich bekloppt sein,
wenn wir diesen Weg verlassen wollen.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Aribert Wolf, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Nach zwei Jahrenrot-grüner Regierungspolitik lautet die nüchterne Dia-gnose in der Gesundheitspolitik: Das deutscheGesundheitswesen ist krank. Ärzte fürchten um ihr Ein-kommen und verschreiben Patienten wichtige Arzneimit-tel nicht mehr. Zu leiden haben insbesondere die chro-nisch Kranken. Weil das Geld nicht reicht, müssen zumBeispiel Rheumapatienten um die dringend notwendigeKrankengymnastik betteln. Immer mehr Menschen sindvon der Gesundheitspolitik dieser rot-grünen Bundesre-gierung bitter enttäuscht.
Frau Fischer, Sie haben ganze Arbeit geleistet. Sie ha-ben sich zu einem echten Negativposten der RegierungSchröder ausgewachsen. Mit Ihrer rückwärts ausgerichte-ten Gesundheitspolitik brechen Sie bei Umfragen alleMinusrekorde. Während man in der Rentenpolitik neueWege geht und aus der Überalterung unserer Gesellschaftendlich Konsequenzen ziehen will, leugnen Sie noch im-mer die auch für die Krankenversicherung bestehendenHerausforderungen. Sie jagen lieber mit Rezepten vonvorgestern vermeintlichen Wirtschaftlichkeitsreservennach; aber vor den wirklichen Problemen drücken Siesich.Zu dem, was die Bürger davon halten, darf ich aus ei-nem offenen Brief der Deutschen Vereinigung MorbusBechterew – Morbus Bechterew, das ist Rheuma an derWirbelsäule; genau die davon betroffenen chronischKranken sind die Opfer Ihrer Politik – vom 2.August die-ses Jahres zitieren:Selbst bei der für Morbus-Bechterew-Patientennotwendigen Verordnung der kostengünstigen undsehr effektiven Morbus-Bechterew-Gymnastik inGruppen stellen unsere Mitpatienten und wir in derVerordnungspraxis eine wachsend starke Beschrän-kung fest. ... Wir sehen ein, dass durch die Mittelbe-grenzung nicht alle Wünsche erfüllt werden können.Damit aber einen spürbar schlimmeren Verlauf vonchronischen Krankheiten hinzunehmen, ist unsozialund unmenschlich.Diese Sätze sprechen für sich.
Ich sage ganz ehrlich: Mich berührt das.Aber noch mehr berührt mich – ich dachte, dass das ei-gentlich auch Sozialdemokraten auf die Palme treibenmüsste –, dass die Situation für die Menschen draußen nurdann besser ist, wenn man privat versichert oder Sozial-hilfeempfänger ist; denn für deren Behandlung unterlie-gen die Doctores nicht Ihren strengen Spargesetzen. Wobleibt denn da die soziale Gerechtigkeit? Die viel be-schworene Mehrklassenmedizin ist doch längst Wirk-lichkeit in den bundesdeutschen Wartezimmern. Das istdie traurige Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Dr. Martin Pfaff11171
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Wolf, in dem
Papier für eine sozial gerechte Gesundheitsreform, dessen
Mitunterzeichner Sie zusammen mit den Kollegen Zöller
und Seehofer sind, reden Sie von Wahlleistungen und
führen Beispiele an, wonach letzten Endes, so heißt es da,
ein Kernbeitragssatz von zwölf Beitragssatzpunkten er-
zielt werden könnte. Nach dem heutigen Stand wäre das
eine Senkung um 1,6 Beitragssatzpunkte. Das macht rund
29 Milliarden DM aus. Zusammengerechnet ist das mehr,
als die gesamten Hilfsmittel – Fahrtkosten, Kuren, Heil-
mittel und häusliche Krankenpflege – ausmachen. Kön-
nen Sie den Patientinnen und Patienten erklären, was Sie
ihnen alles wegstreichen wollen, um den Beitragssatz zu
erreichen, der in Ihrem Papier für eine sozial gerechte Ge-
sundheitsreform steht?
Herr Kirschner, Ihre Fragezeigt eigentlich, wie fantasielos die Regierungsparteienan die Gesundheitspolitik herangehen. Wir denkenschlicht und ergreifend nicht daran, ganze Leistungsfelderauszugrenzen.
– Habe ich jetzt das Wort oder wollen Sie weiterreden?Darauf können wir uns gerne verständigen; wir müssennur wissen, wie.
Wir wollen nicht ganze Leistungsfelder ausgrenzen.Wir wollen beispielsweise ermöglichen, dass Menschenentscheiden können, ob sie, zum Beispiel in den betref-fenden Bereichen, eine Selbstbeteiligungwählen. Das istein überlegenswertes Modell.
Wir können ferner darüber nachdenken, ob wir quer-beet, über alle Leistungsbereiche hinweg, vom Kranken-haus über ambulante Leistungen bis hin zur Kran-kengymnastik etc., einfach zulassen, dass der Einzelneentscheiden kann, ob er die entsprechenden Leistungenselbst finanziert oder ob er sich dagegen versichern will.Das bedeutet für diejenigen, die jetzt betroffen sind, kei-nerlei Mehrbelastung, sondern mehr Freiheiten, da derBürger selbst entscheidet, welche Leistungen er für nötigund welche er für unnötig hält.
Bei Ihrer Politik ist es so, dass einem der Arzt heute,wenn man in eine Arztpraxis geht, sagt: Guter Mannbzw. gute Frau, ich kann Ihnen das nicht mehr verordnen,denn mein Budget ist erschöpft. Da helfen weder Härte-fallregelungen noch eigene Entscheidungen der Bürger.Vielmehr werden diese Entscheidungen von anderen ge-troffen. Deswegen ist das Ansehen, das Ihre Gesund-heitspolitik in der Öffentlichkeit genießt, auch so niedrig.
Mich beunruhigt, dass mit dieser rot-grünen Gesund-heitspolitik ein dramatischer Ansehensverlust der gesetz-lichen Krankenversicherung einhergeht. Vor der Wahl ha-ben uns die rot-grünen Regierungsparteien nochvollmundig mehr soziale Gerechtigkeit versprochen.Doch dieses rot-grüne Wahlversprechen ist wie eine Sei-fenblase zerplatzt.Das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
wertete im April 2000 die Antworten von 4 000 repräsen-tativen Versicherten der Gmünder Ersatzkasse aus. Vonden Befragten waren im vierten Quartal 1999 58 Prozentin Behandlung. 27 Prozent dieser Menschen wurde dieVerschreibung bisher verordneter Arznei- oder Heilmittelverweigert bzw. auf das Jahr 2000 verschoben. Bei68 Prozent der Ablehnungen von Verordnungen gaben dieÄrzte als Begründung an, sie müssten wegen der Budge-tierung die Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen.In 24 Prozent der Fälle gaben die Versicherten, denen Me-dikamente verweigert wurden, an, sie hätten spürbare ge-sundheitliche Nachteile gehabt. Meine Damen und Her-ren, eine Ministerin, die sich angesichts solcher Problemenoch ihrer Erfolge rühmen will, taugt allenfalls für eineComedyserie im Fernsehen, nicht aber für das Bundes-kabinett.Ihre rot-grüne Politik beschädigt nicht nur das Ver-trauen in unser Gesundheitswesen, sie demotiviert auchdie Leistungserbringer und schadet den Patienten. Auchdie Ärzte sind zu Recht sauer. Denn Erfolg lohnt sichnicht für sie. Wenn die Arzneimittelausgaben insgesamtüberschritten werden, wird der Sparsame genauso bestraftwie der Vielverordner. Ist das etwa gerecht?Der Präsident der Bundesärztekammer kritisiert dieZustände in den deutschen Krankenhäusern. Mit demKostendruck steigt auch die Arbeitsbelastung des Klinik-personals. Immer mehr Patienten werden von übermüde-ten Medizinern behandelt. Dass das Risiko für Leib undLeben, das davon ausgeht, und die Gefahr, durch Be-handlungsfehler Schäden zu erleiden, steigen, kann sichja jeder ausmalen. Dieses Risiko gehen Sie bewusst ein,ganz zu schweigen von der Menschlichkeit, die in denKrankenhäusern immer öfter auf der Strecke bleibt. Fürdie grüne Gesundheitsministerin ist dies alles kein Pro-blem. Statt für Patienten – das haben wir ja auch heutewieder gehört – interessiert sie sich vorwiegend für Zah-len. Das ist beschämend.Aber auch bei den Zahlen steht es nicht zum Besten.2,5 Milliarden DM beträgt das aktuelle Defizit der Kas-sen.Ab nächstem Jahr fehlen den Krankenversicherungen
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dank rot-grüner Verschiebebahnhöfe weitere 1,2 Milliar-den DM. Denn der Staat zahlt dann für seine Arbeitsloseneinfach weniger Beiträge. Dies ist ein Finanzloch, das derkleine Mann, das Otto Normalverbraucher mit seinen Bei-trägen wieder auszugleichen hat.Keines der grundlegenden Finanzierungsproblemeist gelöst. Ich erinnere nur daran, was Sie von Rot-Gründer Krankenversicherung mutwillig an Einnahmen entzo-gen oder an zusätzlichen Zahlungsverpflichtungen aufge-bürdet haben: Durch die Reduzierung der Zuzahlungenergibt sich ein Einnahmeausfall von 1 Milliarde DM jähr-lich, durch das Aussetzen des Krankenhausnotopfers einEinnahmeausfall von 700 Millionen DM jährlich. Durchdie Ausweitung von Leistungen, zum Beispiel in Formvon Soziotherapie und Selbsthilfegruppen, entstehenMehrausgaben von 1 Milliarde DM jährlich, durch dieAusnahmeregelung vom Budget bei den KrankenhäusernMehrausgaben von 2 Milliarden DM jährlich und durchdie Kürzung bei Renten in den Jahren 2000 bzw. 2001Mindereinnahmen von 600 Millionen DM bzw. 1,4 Milli-arden DM.Meine Damen und Herren, wenn wir das zusammen-rechnen, ergibt sich allein für das Jahr 2000 eine Mehrbe-lastung der gesetzlichen Krankenversicherungen in Höhevon 5,3Milliarden DM und für das Jahr 2001 von 7,5Mil-liarden DM. Wir werden nächstes Jahr sehen, FrauFischer, wer Recht hat. Mitte nächsten Jahres – das pro-gnostiziere ich Ihnen – werden die Beiträge saftig steigen.Dann werden Sie sinkende Behandlungsqualität undhöhere Kosten verantworten müssen. Das sind die trauri-gen Brandzeichen, die Sie dem deutschen Gesundheits-wesen aufdrücken.Aber auch ein anderes Feld haben Sie ganz toll be-ackert. Das Gutachten zum RSA, das noch Horst Seehoferin Auftrag gegeben hat, kassieren Sie erst ein, um es dannmit einer einjährigen Verzögerung
doch wieder auf den Weg zu bringen. Auch das ist eintrauriger Meilenstein Ihrer rückwärts gewandten Politik.Damit ist wertvolle Zeit verstrichen, um eine fundierteGrundlage für die Organisationsreform der gesetzlichenKrankenversicherungen auf den Weg zu bringen.Aber es kommt noch pikanter. Die Ministerin sagt öf-fentlich, sie sei für einen Ausschluss von kinderlosen Ehe-paaren aus der beitragsfreien Mitversicherung, umdann, ein paar Wochen später, mit dem Entwurf desLebenspartnerschaftsgesetzes neue Personengruppen indie beitragsfreie Mitversicherung aufzunehmen. StattEhepaaren sollen bei Frau Fischer also künftig nur nochschwule und lesbische Partner beitragsfrei in der Kran-kenkasse mitversichert sein.
Die Bundesregierung hat offensichtlich auch in dieserFrage keine vernünftige Linie.
– Ja, das ist neben der Kappe; das finde ich auch. Aberwarum machen Sie es dann?
Auch in den anderen Bereichen hat man sich im BMGwenig hervorgetan. In der Pflegeversicherung fehlen400Millionen DM. Mit der Genehmigung der Richtlinienzur häuslichen Krankenpflege verschlechtern Sie diehäusliche Versorgung von Pflegebedürftigen; auch daPfusch ohne Ende.Weil Sie gerne hören, was wir möchten, möchte ich Ih-nen in kurzen Zügen unser Konzept vortragen. Wir wol-len nicht Ihre alten Trampelpfade weiter auslatschen, son-dern wir wollen mutig neue Konzepte angehen und neueIdeen in die Tat umsetzen.
Wir meinen, der Versicherte muss stärker in den Blick-punkt rücken. Er braucht mehr Rechte, mehr Transparenzund mehr Wahlmöglichkeiten.Warum eigentlich soll ein gesetzlich Versicherter nichtwissen dürfen, was seine Behandlung beim Arzt gekostethat? Warum soll er nicht erfahren, welcher Arzt gute Be-handlungsqualität und welcher schlechte abliefert? Wirwollen, dass die Bürger aus verschiedenen Versorgungs-angeboten das für sie passende auswählen können. DieMenschen sollen die Wahlmöglichkeiten haben; nicht Po-litiker sollen für sie entscheiden, was richtig und wasfalsch ist.Wir wollen einen solidarischen Kernbereich, der si-cherstellt, dass keiner in jungen Jahren, in denen er we-nige Leistungen braucht, zu viele Leistungen abwählt.Zum Schutz der Kranken muss die gesetzliche Kranken-versicherung auch die Risikopatienten versichern unddiejenigen aufnehmen, die schon heute Leistungen ausder gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen.Für die Leistungserbringer wollen wir mehr Wettbe-werb und vor allem für die Selbstverwaltung mehr Ge-staltungsspielräume und weniger Budgetierung.Unser Gesundheitswesen braucht diese neuen Ideenund diesen neuen Mut und nicht die rot-grünen Pannen beider Gesetzgebung zur Gesundheitsreform, Auftritte imZirkus Roncalli oder das Fabulieren über Patientenrechte,Selbsthilfegruppen und ärztliche Ethik. All dies soll ei-gentlich nur verdecken, dass die grüne Ministerin mitihren Rezepten am Ende ist. Offensichtlich hat sie nichtmehr die politische Kraft, die brennenden Problemegesetzgeberisch zu lösen. Eigentlich müsste jetzt derKanzler selbst rasch die Notoperation einleiten. Denn Ge-sundheit ist ein hohes Gut und kein Versuchskaninchenfür eine überforderte Ministerin.Ich bedanke mich.
Jetzt hat die KolleginMonika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Aribert Wolf11173
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Nach diesem Redebeitrag – man weiß schon
vorher, wer zu dem Thema spricht – bin ich mir nicht si-
cher: Soll man froh sein über diesen Beitrag oder eher fra-
gen, ob es für diese Themen nicht einen Qualifizierteren
hätte geben können?
Als Sie angefangen haben, habe ich einen Moment ge-
stutzt und mich gefragt: Möchte der Kollege Aribert Wolf
jetzt tatsächlich eine Renaissance des Wahl- und Regel-
leistungsprinzips, das insbesondere für chronisch Kranke
eine Leistungsausgrenzung bedeutet?
Möchte er genau das, weshalb die Vorgängerregierung ab-
gewählt worden ist, wieder einführen?
Dann würde ich sagen: Machen Sie weiter so in der De-
batte, dann haben wir gar nichts zu befürchten.
Natürlich ist die Haushaltsdebatte immer der Zeit-
punkt, zu dem man Bilanz zieht, nach vorne schaut – völ-
lig richtig – und sich – gerade beim Gesundheitshaushalt
– am wenigsten mit Zahlen des Haushalts selber aufhält.
Aber es ist sicherlich richtig, dass die Leistung, die wir
gleich zu Beginn erbracht haben – das Prinzip der Sach-
leistung unter der Bedingung der Beitragssatzstabilität,
die ebenfalls erreicht worden ist, wieder zur vollen Gül-
tigkeit zu bringen –, eine politische Leistung ist, die auch
Sie nicht schmälern können und die die Bevölkerung sehr
wohl zu honorieren weiß.
Wir wissen – ich gestatte mir zu sagen: auch Sie wis-
sen –, dass sektorale Budgets nicht das sind, was sich
zukunftsorientierte Gesundheitspolitikerinnen vorstellen.
Wir alle wissen, dass die Diskussion unter den Leistungs-
trägern und Leistungserbringern darüber sehr weit voran-
geschritten ist, wie man Behandlungsleitlinien und Orien-
tierung in die Versorgung hineinbringen kann und wie
Qualität und Transparenz in den Honorierungssystemen
abgebildet werden können. Ein Schritt in diese Richtung
sind die weltweit nirgendwo sonst in dieser Umfänglich-
keit vollzogenen Fallpauschalen im Krankenhaus.
Sie wissen das. Aber die Bevölkerung kann es in die-
ser Klarheit nicht wissen, weil die Sachlage kompliziert
ist. Aber Ihnen als verantwortlichen Politikerinnen und
Politikern ist bekannt, dass die Kassenärztliche Vereini-
gung als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Verant-
wortung, aber auch die Pflicht hat, ihr Honorierungssys-
tem der Zukunftsorientierung anzupassen.
Die Politik kann nur sehr schlecht dort hineinregieren.
Augenblicklich werden Gespräche über Honorie-
rungssysteme geführt. Ich kann nicht dem Argument fol-
gen, dass das Mindestdurchschnittseinkommen vor Steu-
ern für niedergelassene Ärzte bei 250 000 DM liegen
muss und sie zugleich Leistungseinschränkungen in der
Größenordnung von 25 Prozent durchführen wollen. Das
kann ich nicht gutheißen.
Herr Dr. Thomae, Sie wissen um die Tatsache, dass die
gesamtdeutsche Grundlohnsummenanbindung und die
Transfers vom Westen in den Osten Leistungen sind, die
Sie während Ihrer Regierungszeit nicht erbracht haben.
Die niedergelassenen Ärzte in den alten Bundesländern
erbringen solidarische Leistungen an ihre Kollegen in den
neuen Bundesländern. Um die Zeit der Wende und danach
waren dort noch ein sehr profundes Wissen und eine fach-
lich sehr hohe Kompetenz vorhanden hinsichtlich einer
integrierten Versorgung. Diese Kompetenz und die ent-
sprechende Struktur hat ihnen die alte Bundesregierung
genommen, als sie darauf gesetzt hat, dass alle in die
Zwangsniederlassung kommen.
Es war strukturell ein eklatanter Fehler, den wir direkt
nach der Vereinigung auf das Heftigste kritisiert haben.
Jetzt liegt die Zukunft in der integrierten Versorgung.
Wenn vorhin in den Debattenbeiträgen die Beispiele
Schweiz und Niederlande genannt worden sind, dann
frage ich: Wofür sind diese Länder gelobt worden? Sie
sind dafür gelobt worden, dass sie entsprechende Be-
handlungsleitlinien haben, sich an Qualitätssicherung und
Qualitätsstandards orientieren und eine integrierte Ver-
sorgung durchführen.
Wer versucht nun, dies auf den Weg zu bringen? Das ist
ein Bestandteil des Gesundheitsstrukturgesetzes.
Sie können sagen, dass in der jetzigen Form eine Gefahr
darin besteht, dass es interessengeleitet zu Einkaufsmo-
dellen kommen könnte, die niemand von uns will. Lassen
Sie uns über solche Fragen sprechen.
Frau Kollegin, gestat-ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolf? – Bittesehr, Herr Kollege.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 200011174
Meine Frage, Frau
Knoche: Stimmen Sie mir zu, dass zum Beispiel die
Schweiz ein System von Kern- und Wahlleistungen hat
und deshalb so erfolgreich arbeitet? Das ist genau das
Konzept, das die Union vorschlägt.
Ich
weiß, dass das Schweizer System in seiner gesamten
Struktur ein anderes ist als unseres. Das weiß ich sehr
wohl. Ich weiß aber auch, dass unser System nur dann sta-
bil und eine Grundvoraussetzung für solche Innovationen
ist, wenn das solidarische Sachleistungsprinzip bestehen
bleibt.
Nur darüber kann man sicherstellen, dass ein für mich
bürgerrechtlich sehr hohes Ziel gehalten werden kann,
nämlich dass alle Versicherten an dem medizinischen
Fortschritt partizipieren können, ohne zusätzlich selbst in
die eigene Tasche greifen zu müssen. Das halte ich für
eine außerordentlich wertvolle Grundvoraussetzung, die
wir haben.
Wir haben, wie Sie wissen, in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung keinerlei steuerliche Anteile. Alle Vor-
schläge, die die Bevölkerung in der Tat irritieren – Verän-
derung der Bemessungsgrundlage, Wahl- und Regel-
leistungen usw. –, sind unverantwortlich, weil sie einen
wichtigen Aspekt außen vor lassen –, ich bin sehr dank-
bar, Herr Dr. Pfaff, dass Sie dies angesprochen haben –:
Zum Solidarprinzip und zu den Prinzipien der sozialen
Marktwirtschaft gehört es, dass die Unternehmen den
gleichen Anteil an der Sicherstellung der Finanzierungs-
grundlagen des Sozialsystems leisten.
In diesem Zusammenhang gibt es viele Ideen und Vor-
schläge, die vor der Entscheidung, ob man die Pflichtver-
sicherungsgrenze anhebt oder nicht, berücksichtigt wer-
den müssen.
Eine wichtige Botschaft ist in den letzten zwei Jahren
gesendet worden und wird für den Rest der Legislatur und
für künftige Wahlversprechen gelten: Unter Rot-Grün
wird es in der gesetzlichen Krankenversicherung nie wie-
der ein Antasten der paritätischen Finanzierung geben,
weil wir das als Zukunftsgarantie und als sichere Basis für
die Weiterentwicklung all dessen, wovon ich gesprochen
habe, brauchen.
Ich will eines hinzufügen: Es steht Ihnen zu, die Re-
gierung nicht zu loben. Aber wichtig finde ich doch, dass
die neuen Leistungen im Bereich der Soziotherapie mehr-
fach nur fiskalisch-kritisch betrachtet worden sind. Wel-
cher Zuwachs an Antidiskriminierung und Gleichstellung
von psychisch Kranken ist mit diesem Leistungsanspruch
vollzogen worden!
Wie viel Antidiskriminierung und Gleichstellung von dro-
genkranken Menschen ist im Rahmen der Heroinsubstitu-
tion vollzogen worden!
Wie viel Zustimmung aus der Bevölkerung haben wir
dafür, dass wir die durch die neuen Biotechnologien ent-
standenen medizin-ethischen Fragen auf der festen Basis
der Grundwerte dieser Gesellschaft aufgeworfen haben,
uns deren Beantwortung annehmen und darüber gesund-
heitspolitisch verantwortungsvollst diskutieren! Dies ist
eine sehr wichtige Debatte.
– Frau Schwaetzer, ich will Ihnen dazu Folgendes ant-
worten: Wenn wir das Sachleistungsprinzip, das für
mich ein Ausdruck von Kultur, des Sozialen ist,
nicht hätten, dann hätten wir bei allen ethischen Fragen,
die mit den versprochenen Veränderungen zu tun haben,
sofort das Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Das wis-
sen alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Nichts
ist wichtiger – auch auf diesem medizin-ethischen Gebiet
– als der Punkt, dass wir in der GKVein solidarisches, sta-
biles Finanzierungssystem bewahren, verteidigen und
weiterentwickeln. Das soll an dieser Stelle eine sehr wich-
tige Botschaft an die Bevölkerung sein.
Jetzt hat der Kollege
Ulf Fink das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Gesund-heitspolitik sieht so schlecht aus und muss scheitern, weilSie einen grundlegenden Zusammenhang missachten.Dieser grundlegende Zusammenhang lautet: Es gibt in derWelt kein Gesundheitswesen, das mit begrenzten Mittelnunbegrenzte Leistungen versprechen kann.
Sie können die Einkommen der im GesundheitsbereichBeschäftigten senken, Sie können Kapazitäten verringernusw. Sie kommen aber immer wieder an den Punkt, dassSie sich vor die Frage gestellt sehen, ob Sie mit begrenz-ten Mitteln wirklich unbegrenzte Leistungen versprechenkönnen.
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Sie tun es. Die Budgetierung ist nichts anderes, alsdass Sie den Eindruck erwecken, auf der einen Seite blie-ben die Beitragssätze stabil und auf der anderen Seitekönne alles, aber auch alles – selbst das Kleinste – finan-ziert werden. Das geht aber nicht. Die Konsequenzen ha-ben die Ärzteschaft, die Physiotherapeuten und viele an-dere zu tragen. Das wurde bereits dargelegt; die KollegenThomae und Wolf haben entsprechende Beispiele ge-nannt.Ist es denn wirklich in Ordnung, wenn heute wichtigeLeistungen nicht mehr gewährt werden und sich die Be-treffenden dagegen nicht wehren können?
Ist es wirklich sozialer, wenn bestimmte Leistungen, ohnedass der Betreffende das vorher erkennen kann, späternicht gewährt werden? Wäre es nicht viel sozialer, wennSie den Leuten vorher genau sagten, was geht und wasnicht geht?
Wäre es nicht viel sozialer, wenn Sie ihnen sagten: „Ihrmüsst vielleicht ein paar Mark dazuzahlen, dafür be-kommt ihr das aber auch“? Bei der Selbstbeteiligung, wiewir sie eingeführt haben, gibt es ausdrücklich Härtefälle,es gibt die Überforderungsklausel. Die sozial Schwachenwerden so geschützt. In Ihrem System der Budgetierungaber gehen die Ärmsten am schlechtesten aus, denn dieReichen können sich die Zuzahlung leisten.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Budgetierung – das sageich in vollem Bewusstsein – ist eine besonders infame Artund Weise, die Schwachen in unserer Gesellschaft vonden wichtigen Leistungen auszuschließen.
Ich sehe das besonders im Osten. Im Osten Deutsch-lands ist die Morbidität, also die Krankheitshäufigkeit,größer als in Westdeutschland. Man sieht das bei den Hy-pertonien, bei den Stoffwechselerkrankungen und an derZahl der Herzinfarkte. Die Zahl all dieser Erkrankungenist deutlich höher als im Westen. Nun müsste man eigent-lich meinen, dass – gemessen an dieser Tatsache – derRessourceneinsatz in Ostdeutschland höher ist als imWesten.
Die Wahrheit ist aber genau umgekehrt: Für die ambu-lante Versorgung pro Versicherten in Ostdeutschland wirdnicht mehr Geld als im Westen eingesetzt, sondern 22 Pro-zent weniger. Das bedeutet: Ein Arzt im Osten Deutsch-lands muss fünfzehnmal mehr tun als ein Arzt im Westen,bekommt dafür aber 13 Prozent weniger Honorar als einArzt im Westen. Das schreiben Sie mit Ihrer Budgetierungin alle Ewigkeit fort. Das kann doch nicht richtig sein. Dasist einfach falsch.
Kollege Pfaff hat gesagt, Bundeskanzler GerhardSchröder habe in der „Neuen Gesellschaft FrankfurterHefte“ davon gesprochen, dass es Selbstbeteiligungenim Gesundheitswesen geben müsste. Damit habe er abernicht so etwas Böses wie Zuzahlungen gemeint, sonderneher Leibesübungen und Ähnliches. Lieber ProfessorPfaff, das hat er nicht gemeint. Ich habe nämlich vorlie-gen, was er gesagt hat. Er sagt ausdrücklich:Ein Gesundheitswesen ohne finanzielle Selbstbetei-ligung der Versicherten ist nicht mehr vorstellbar.Das hat er ganz offensichtlich gemeint.Es ist aber auch merkwürdig. Auf der einen Seite sagenalle zu Recht: Mehr Eigenvorsorge im Alter muss sein. Siesagen, es sei eine wunderbare Errungenschaft, die Siedem deutschen Volke präsentieren. Beim Gesundheits-wesen aber sagen Sie: Nein, hier nicht, hier ist es des Teu-fels, grausam und furchtbar. – Irgendetwas ist hier nichtganz stimmig.Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen. LiebeFrau Bundesgesundheitsministerin, wir haben über dieZukunft des Gesundheitswesens viele Debatten geführt.Sie haben dabei im Frühsommer dieses Jahres einen Vor-schlag gemacht und gesagt, dass eine Finanzierung, dienur am Erwerbseinkommen anknüpfe, falsch sei. Statt-dessen müsse man – das sei gerechter – auch die sonsti-gen Einkünfte heranziehen. Sie haben dafür eine gute Be-gründung gegeben.Nun hatten Sie verhältnismäßig schnell Gelegenheit,diesen Grundsatz in die Praxis umzusetzen, und zwar auf-grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Es gibtnämlich schon einige in der Krankenversicherung, dienicht nur von ihrem Erwerbseinkommen, sondern auchvon ihren sonstigen Einkünften Beiträge zahlen. Das sinddie freiwillig versicherten Rentner. Auf die pflichtver-sicherten Rentner trifft das nicht zu. Man hätte meinenkönnen, dass Sie in Verfolgung Ihrer guten Überlegungenvom Frühsommer gesagt hätten: Jetzt wollen wir die an-deren wie die freiwillig versicherten Rentner behandeln.Die Wahrheit aber ist: Sie sind ins Bundeskanzleramt ge-gangen und haben gesagt, alle sollten nur noch von ihremErwerbseinkommen Beiträge bezahlen, andere Einkünftewürden nicht mehr herangezogen. Ob das eine nach vorneweisende Politik ist, kann ich nicht sagen. Ich komme da-mit offen gestanden auch schwer zurecht; von Verschie-bebahnhöfen ist vorhin ja schon gesprochen worden.So etwas habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen: BeiBezug der Arbeitslosenhilfe sind zunächst die Beiträgean die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung unddie Krankenversicherung auf der Grundlage von 80 Pro-zent des früheren Bruttoentgelts gezahlt worden. Dann istder Anteil reduziert worden. Die Rentenversicherung be-kommt das nicht mehr, die Pflegeversicherung bekommtdas nicht mehr. Dadurch fehlen der Pflegeversicherungüber 400 Millionen DM. Die Beiträge an die Krankenver-sicherung aber wurden nach wie vor auf Grundlage von80 Prozent des früheren Bruttoentgelts gezahlt. Man hättedenken können, dass dies hier wie bei der Renten- und beider Pflegeversicherung gemacht wird – ich finde dasfalsch; es wäre aber logisch gewesen –, aber nein, es sollein Mittelweg gefunden werden. Da frage ich mich: Wasist das für eine Logik?
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Ulf Fink11176
Zum Thema Pflegeversicherung. Es wird von der Bun-desregierung und von der Regierungskoalition dargetan,dass es wegen der Überalterung der Gesellschaft dra-matische Probleme bei der Alterssicherung gebe, diegelöst werden müssen. Bei der Pflegeversicherung, diedurch die Überalterung der Bevölkerung mindestensebenso betroffen ist, weil mit dem Alter die Pflegebedürf-tigkeit steigt – das ist jedem bekannt –, brauche man aberkeine Beitragsatzsteigerung; auch Professor Pfaff hat dasheute gesagt. Ich frage: Kommt es bald zu Beitragsüber-schüssen? Wie soll das gehen? So etwas kann doch nie-mand glauben.
Seit 1992 – 1996 ist die Pflegeversicherung eingeführtworden; die Berechnungsbasis ist aber 1992 – gab eskeine Anpassungen bei den Leistungen der Pflegeversicherung. Das bedeutet, dass die Menschen der Pflege-stufe 3 scharenweise in die Sozialhilfe fallen. Das wolltenwir doch gerade verhindern. Deswegen müssen Sie dieLeistungen anpassen.Zu den Demenzkranken. Ich habe gehört, dass dafür500 Millionen DM veranschlagt waren. Nach eigenenSchätzungen sollen es aber im nächsten Jahr nur 200 Mil-lionen DM und im darauffolgenden nur 300 MillionenDM sein. Dazu möchte ich nur sagen: Eine nach vorne ge-richtete Gesundheits- und Pflegepolitik müsste wirklichanders aussehen als die Politik, die Sie betreiben.
Jetzt hat der Kollege
Dr. Ilja Seifert von der PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Auch die wenigen außerpar-lamentarischen Zuhörinnen und Zuhörer begrüße ichganz herzlich. Wenn ich die heutige Debatte Revuepassieren lasse, so habe ich den Eindruck, dass es sich hierum ein Ministerium der GKV handelt; von der Pflegever-sicherung wurde nur marginal geredet. Ich denke aber,dass auch die Behandlung dieses Themas eine wichtigeAufgabe Ihres Ressorts ist. Dementsprechend hätte diesesThema seinen gebührenden Platz finden müssen. Das warleider nicht der Fall. Ich werde das mit meiner drei-minütigen Rede sicherlich nicht umreißen können. Abervielleicht können wir zumindest daran erinnern, dass auchdieses Thema wichtig ist.Ich will hier ja auch nicht das ganze Pflegeversiche-rungsgesetz in Bausch und Bogen kritisieren, sondern ein-fach sagen: Wenn Sie, Frau Ministerin, sich schon daraufeingelassen haben, zu sagen, Sie wollten das System derPflegeversicherung nicht mehr ändern – ich bin der Mei-nung, es wäre immer noch möglich und auch nötig –, dannmuss man auch einmal sagen, was in diesem Rahmenüberhaupt möglich ist.Jetzt wird immerzu davon geredet, demenzkrankeMenschen über die Pflegeversicherung wenigstens einbisschen abzusichern, genau genommen ihre Angehöri-gen. Wie aber wollen Sie das machen, Frau Ministerin,wenn Sie nicht einmal ansatzweise den rein somatischenPflegebegriff kritisieren? Demente Menschen brauchendoch nicht somatische Hilfe, sie brauchen einfach jeman-den, der da ist. Das ist ein Zeitfaktor, nichts sonst.Die Pflegerichtlinien zwingen beispielsweise zu Fol-gendem: Die Abrechnung für die Begleitung außer Hausdarf zwei- bis dreimal im Monat vorgenommen werden,und zwar nur für ganz bestimmte Dinge, nämlich für sogenannte Verrichtungen, bei denen der Betreffende bzw.die Betreffende unbedingt persönlich anwesend seinmuss: für Arztbesuche und Bankgeschäfte. Wie aber wol-len Sie dementen Menschen und ihren Angehörigen überdie Pflegeversicherung helfen, wenn sie zwei- bis dreimalpro Monat eine Stunde außer Haus dürfen? Allen Ernstes:Das ist nicht lächerlich, das ist traurig. Dies muss man ein-mal sagen.Ich möchte in der knappen Zeit gern noch etwas zu derPflegesituation in Heimen sagen. Jeder weiß, dass ichdie nicht besonders mag, dass ich vielmehr dafür wäre, dieambulante Pflege wesentlich auszuweiten, indem tatsäch-lich Zeitbudgets bezahlt werden. Aber es gibt Menschen,die in Pflegeheimen leben. Ich will Ihnen jetzt einmal sa-gen, wie frei die Träger da in ihren Verhandlungen sind.In einer mittleren Stadt in Sachsen, Bischofswerda,zahlt ein Pflegeheim für die Reparatur einer Automatiktür60 DM pro Stunde an den Handwerker. Für den Kunden-dienst in der Küchentechnik zum Beispiel in eben diesemPflegeheim zahlt man 114 DM pro Stunde an den Elektri-ker. Die Pflegestunde wird mit 48 DM bezahlt – wohlge-merkt, bei 50 Prozent Fachkräften und 50 Prozent Hilfs-kräften. Wie soll, bitte schön, eine menschenwürdige,ganzheitliche Pflege – assistierende Begleitung, unter-stützende Betreuung – stattfinden, wenn nicht die perso-nale Anwesenheit von Menschen gestärkt wird? Das trifftnatürlich für die GKV genauso zu. Wenn von Überforde-rungen in Krankenhäusern die Rede ist, ist das genau dasGleiche. Es müssen mehr Menschen in das System, nichtnur mehr Geld. Das ist das Problem.
–Über Geld dann auch die Menschen, einverstanden.Aber es kann nicht sein, dass eine Pflegestunde dasHeim 48 DM kostet, dasselbe Heim aber für den Türauto-matikservice 60 DM und für den Küchentechnikservice114 DM zahlen muss. Ich kann Ihnen auch noch die Preisefür die Services einer Aufzug- oder einer Computerfirmanennen: Sie liegen alle oberhalb dessen, was im Rahmender Pflegeversicherung bezahlt wird. Das kann nicht sein,meine Damen und Herren.Ich bitte Sie: Machen Sie eine Pflegeabsicherung, diedie Menschen und die personale, das heißt: zeitliche Zu-wendung in den Mittelpunkt stellt und nicht irgendwelche
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000
Ulf Fink11177
Verrichtungen mit einem rein somatischen Begriff. Dannwerden wir vorankommen und dann können wir vielleichtsogar innerhalb des Pflegeversicherungssystems eine ver-nünftige Verbesserung erreichen, wenn Sie schon nichtdas System ändern wollen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,dass wir alle gut nach Hause kommen.
Das waren dann auch,
wie es sich gehört, fünf Minuten. Ich danke dem Kollegen
für seinen Beitrag.
Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen
nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Ta-
gesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages ein auf morgen, Mittwoch, den 13. September 2000,
9 Uhr. Ich wünsche allen noch einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.