Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe gleich den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage und Entwicklung in der Sowjetunion und Jugoslawien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache zur Regierungserklärung bis gegen 13 Uhr dauern. — Ich sehe keinen Widerspruch. Sie sind damit einverstanden.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die parlamentarischen Beratungen in dieser Woche fallen in eine Zeit außergewöhnlicher — ja historischer — Ereignisse. Wir stehen gemeinsam vor Herausforderungen in der internationalen Politik, die sich auch auf unser Land ganz unmittelbar auswirken.Führen wir uns doch noch einmal die dramatischen Ereignisse in der Sowjetunion vor zwei Wochen vor Augen.Am 21. August haben die Bürger von Moskau, Leningrad und anderen Städten der Sowjetunion einen großen Sieg für Demokratie, für Freiheit und Recht errungen. Ihr entschlossener Widerstand ließ den Putsch scheitern.
Meine Damen und Herren, dies geschah auf den Tag genau 23 Jahre, nachdem die Freiheit in Prag von Panzern niedergewalzt worden war. So ist dieser 21. August 1991 auch ein später Triumph für die Menschen, die sich damals den Panzern entgegengestellt haben.Ich bin sicher, der Sieg der demokratischen Idee in der Sowjetunion wird später in den Geschichtsbüchern als „August-Revolution'' gewürdigt werden.Damit ist in der Sowjetunion nicht nur Stalin überwunden, sondern seit dem 21. August auch die Staatsdoktrin von Marx und Lenin. Mit dem Sturz des Denkmals von Felix Dserschinski endet hoffentlich auch endgültig der allgegenwärtige Terror des KGB.
Welches Ereignis könnte uns diesen historischen Umbruch deutlicher vor Augen führen als der rapide Niedergang der KPdSU? Es ist eine Epoche zu Ende gegangen!Die Menschen in Moskau, Leningrad — dem alten und neuen Sankt Petersburg — und in vielen anderen Städten und Regionen der Sowjetunion verdienen unsere Hochachtung für Mut und Standfestigkeit.Wir haben besonders zu danken und unseren Respekt zu bezeugen dem Präsidenten der Russischen Republik, Boris Jelzin.
Ohne dessen Mut und ohne dessen Engagement wäre dieser Putsch kaum so schnell gescheitert.Die einhellige Verurteilung des Putsches durch die freiheitlichen Demokratien des Westens hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dem Widerstand den Rücken zu stärken und damit die Putschisten zur Aufgabe zu zwingen.Präsident Jelzin hat mir in einem Telefongespräch am 21. August für die Unterstützung gedankt und darauf hingewiesen, daß die Unterstützung der freien Welt ihm sehr viel geholfen habe. Er hat, wie Sie wissen, meine Einladung zum Besuch nach Deutschland angenommen, und ich hoffe, daß es schon in sehr kurzer Zeit gelingt, einen Termin zu vereinbaren, denn seine enorme Arbeitsbelastung zu Hause schränkt seine Terminmöglichkeiten verständlicherweise ein.Ich glaube, wir alle sind uns einig: Es war ein großer und bewegender Augenblick, als Michail Gorbatschow und seine Familie am 22. August nach Moskau zurückkehren konnten. Für mich persönlich war es eine besondere Freude, ihn wohlbehalten zu sehen, denn ich habe mich in diesen für ihn ganz besonders schweren Tagen vor allem daran erinnert, wie sehr wir, die Deutschen, ihm zu Dank verpflichtet sind.
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3016 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlIch füge hinzu, daß ich mit einem erheblichen Mißbehagen in diesen Tagen manches vorschnelle Urteil über diesen Mann zur Kenntnis genommen habe. Ich finde, man soll hier auf das Urteil der Geschichte vertrauen, und das wird anders aussehen als mancher dieser Kommentare.Wir wünschen all denen, die in der Sowjetunion und den Republiken Verantwortung tragen, Erfolg bei den großen Anstrengungen, die Union zusammenzuhalten, um diese gemeinsam als Verbund selbständiger Republiken zu erneuern.Der Erfolg der freiheitlich-demokratischen Bewegung hat trotz vieler jetzt noch offener Fragen die Chance vergrößert, daß die grundlegenden Reformen nun tatsächlich verwirklicht werden. Die Weichen sind in Richtung auf eine umfassende demokratische Erneuerung gestellt. Damit ist auch das Bekenntnis der Charta von Paris vom November 1990 zur Demokratie als einziger Regierungsform der Nationen Europas eindrucksvoll bestätigt worden. Diese Charta muß Richtschnur europäischer Politik sein, einer Politik des friedlichen Ausgleichs, der Freiheit und der Menschenrechte.Auch in den drei baltischen Republiken haben wir in diesen Tagen historische Veränderungen erlebt. Die auf Grund des Hitler-Stalin-Pakts zwangsannektierten baltischen Republiken gewinnen ihre Freiheit und Selbständigkeit zurück. Estland, Lettland und Litauen sind gemäß dem erklärten Willen ihrer Völker nunmehr wieder unabhängig.Es war für mich — und ich denke, für uns alle — ein bewegender Augenblick, als die drei Außenminister der baltischen Republiken am 28. August zusammen mit dem Bundesaußenminister die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen hier in Bonn durch ihre Unterschrift besiegelten.
Es wird nunmehr darauf ankommen, daß in den Verhandlungen zwischen Tallin, Riga, Wilna und Moskau die noch offenen Fragen bald gelöst werden. Wir, die Bundesrepublik Deutschland und unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft, wollen mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen an eine Zeit des friedlichen Miteinanders anknüpfen. Insbesondere wir Deutschen können auf eine seit der Zeit der Hanse gewachsene Tradition des friedlichen Handels im Ostseeraum zurückblicken, und wir wollen mit reger kultureller Zusammenarbeit an einen in Jahrhunderten gewachsenen geistigen Austausch anknüpfen. Ein wichtiges Forum sollte und muß dabei auch der Europarat sein.Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Partner in der Europäischen Gemeinschaft sollten mit den baltischen Staaten, wenn diese das wünschen, möglichst bald Verhandlungen über Assoziierungsverträge aufnehmen. Wir wollen damit auch den unvermeidlichen Anpassungsprozeß an marktwirtschaftliche Verhältnisse nach besten Kräften erleichtern.Den drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen gelten auch heute von dieser Stelle ausauf ihrem schwierigen Weg unsere ganz besonders guten Wünsche und unsere Solidarität.
Meine Damen und Herren, wir können bei aller Freude und Genugtuung über diesen historischen Sieg von Freiheit und Demokratie in der Sowjetunion jetzt natürlich nicht zur Tagesordnung übergehen. Das sind wir vor allem auch jenen schuldig, die in diesen historischen Tagen dort ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben.Gefordert ist jetzt, daß der Westen gemeinsam, rasch und umfassend bei der demokratischen und marktwirtschaftlichen Zukunft der Sowjetunion und aller Reformstaaten hilft. Der Erfolg des großen Reformwerks in der Sowjetunion — wie auch in den Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas — liegt in unserem gemeinsamen Interesse. Und auch in unserem eigenen Land sollte mehr als bisher begriffen werden, daß jede Entwicklung dort zu Frieden, Freiheit und rechtsstaatlicher Ordnung nicht zuletzt den Deutschen dient.Die Sowjetunion befindet sich jetzt in einem tiefgreifenden Prozeß der staatlichen Neuordnung. Dabei stehen Entscheidungen an, die die Völker der Sowjetunion allein treffen müssen — auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts, der Gleichberechtigung aller Völker sowie in voller Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte. Wir, die Deutschen, hoffen dabei auf fühlbare Verbesserungen auch für die Rußlanddeutschen. Wir sind unsererseits bereit, dazu beizutragen, ihre Lebensumstände zu erleichtern, damit sie für sich und ihre Kinder in der angestammten Heimat eine Zukunft sehen.Meine Damen und Herren, das jetzt dem Kongreß der Volksdeputierten von Präsident Gorbatschow und zehn Republikpräsidenten vorgelegte Programm zielt in Richtung einer neuen Einheit in Vielfalt. Der föderale Ansatz gibt den Bürgern eine bewährte Möglichkeit, am politischen Geschehen in ihrer Heimat teilzunehmen. Selbstverständlich wird es auch in Zukunft nötig sein, eine Reihe von Aufgaben einheitlich und gemeinsam zu erfüllen.Dazu gehört nicht zuletzt die Außen- und die Sicherheitspolitik. Die Streitkräfte müssen einheitlich geführt werden. Waffen, insbesondere Nuklearwaffen, müssen auch künftig einer zentralen Verfügungsgewalt unterstellt werden. Wir begrüßen ausdrücklich die Zusicherungen, die beim Besuch von Premierminister John Major in Moskau im Blick auf die Kontrolle über die Nuklearwaffen gerade gemacht wurden — Zusicherungen, die sowohl von Präsident Gorbatschow als auch von Präsident Jelzin gegeben wurden.Gleichfalls begrüßen wir, daß die Erklärung des Präsidenten der Sowjetunion und der zehn Republikpräsidenten die strikte Einhaltung aller internationalen Abkommen und Verpflichtungen vorsieht, die von der Sowjetunion abgeschlossen oder übernommen wurden, einschließlich der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie — das ist auch für uns wichtig — der außenwirtschaftlichen Verpflichtungen. Wir gehen dabei davon aus, daß der Vertrag über den
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3017
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlbefristeten Aufenthalt und den planmäßigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte fristgerecht erfüllt wird. Ich will bei dieser Gelegenheit gerne sagen: Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß dies auch die klare Absicht der sowjetischen Führung ist.Meine Damen und Herren, wir haben gemäß der Zusage in der Regierungserklärung von 1982, den Frieden mit weniger Waffen zu verbürgen, gemeinsam mit unseren Verbündeten in den letzten Jahren großartige Erfolge in der Abrüstungspolitik erzielt. Für die Fortsetzung dieser Politik brauchen wir eine erneuerte Sowjetunion als Partner.Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa schließt künftig raumgreifende Offensiven auf unserem Kontinent aus. Der Vertrag wird dem Deutschen Bundestag noch in diesem Herbst vorliegen.In den weiteren Verhandlungen wollen wir bis zum nächsten KSZE-Gipfel im Frühjahr 1992 eine Vereinbarung über die Begrenzung auch der Truppenstärken erreichen. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, damit Massenvernichtungswaffen nicht noch weiter verbreitet werden und nicht in die Hände von verantwortungslosen Machthabern gelangen.
Das heißt für uns ganz konkret, daß sich kein weiterer Staat den Besitz von Kernwaffen verschafft. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, daß alle Staaten unserer Erde endlich dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen beitreten und sich den Kontrollen unterwerfen.Ebenso setzen wir uns mit aller Energie dafür ein, daß die chemischen Waffen endlich durch einen wirksamen Verbotsvertrag weltweit geächtet werden.
Im Rückblick auf manche Debatte hierzulande will ich noch einmal feststellen, daß ich ganz besonders froh darüber bin, daß sämtliche Chemiewaffen von deutschem Boden abgezogen sind.
Auch im Bereich der nuklearen Abrüstung gab es eindrucksvolle Erfolge:Im Mai dieses Jahres wurden gemäß dem INF-Vertrag die letzten sowjetischen und amerikanischen Mittelstreckenflugkörper zerstört.Ende Juli haben die USA und die Sowjetunion den START-Vertrag über den Abbau ihrer strategischen Nuklearwaffen unterzeichnet. Wir alle haben dies gemeinsam begrüßt. Ich sehe im Erfolg bei START einen Ansporn für weitere Anstrengungen bei der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Ich will mich mit Nachdruck dafür einsetzen, daß amerikanischsowjetische Verhandlungen über landgestützte Nuklearsysteme kürzerer Reichweite bald zustande kommen.
Mit einem Wort: Wir alle haben ein elementares Interesse an weiteren Fortschritten im Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Durch die jetzt stattfindende staatliche Neugestaltung in der Sowjetunion können sich, so glaube ich, auch hier ganz neue Chancen ergeben, und wir sollten sie ergreifen.Ich würdige ausdrücklich den konstruktiven Beitrag, den die Sowjetunion in letzter Zeit gegenüber der Dritten Welt geleistet hat. Die Sowjetunion beteiligt sich inzwischen — oft gemeinsam mit dem Westen — aktiv an den Aufgaben der Friedenssicherung und der Wiederherstellung des Friedens in verschiedenen Regionen der Dritten Welt.In Afrika konnten auf diese Weise die Namibia- und die Angola-Frage friedlich gelöst, der Bürgerkrieg in Äthiopien beendet und die Friedenschancen für Mozambique verbessert werden.Im Nahen und im Mittleren Osten sind die USA in Abstimmung mit der Sowjetunion um friedliche Konfliktlösungen bemüht. Wir alle hoffen auf weitere Schritte zum Frieden in naher Zukunft in dieser so heimgesuchten Region.In Lateinamerika können linksradikale Bewegungen nicht mehr wie früher mit sowjetischer Waffenhilfe rechnen. Die letzte Bastion des Kommunismus in der westlichen Hemisphäre, Kuba, gerät immer mehr in ideologische Bedrängnis.Durch die konstruktive Mitarbeit der Sowjetunion im Sicherheitsrat hat nicht zuletzt die Friedensarbeit der Vereinten Nationen eine Stärkung erfahren.Meine Damen und Herren, was den Bereich der Wirtschaftspolitik angeht, so wissen wir aus der Erfahrung des Aufbaus der Europäischen Gemeinschaft, daß der Schlüssel zum Erfolg in der Schaffung eines großen und einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraums liegt und nicht in Zersplitterung. Ein entsprechendes Programm, nach dem die Republiken eine Wirtschaftsunion mit dem Ziel der Zusammenarbeit im Rahmen eines einheitlichen, freien Wirtschaftsraums bilden sollen, wird derzeit im Kongreß der Volksdeputierten in Moskau diskutiert. Wir Deutschen können diese Entwicklung nur begrüßen.Die sich jetzt neu entwickelnde Union und die Republiken müssen nun ein in sich geschlossenes Wirtschaftsprogramm entwickeln und mit dessen Umsetzung beginnen. Nur so kann ein verläßlicher Rahmen für wirksames und zusätzliches westliches Engagement gesetzt werden. Ich kann nicht oft genug betonen, daß ich eine Wirtschaftshilfe an eine sich in voneinander abgeschottete Republiken auflösende Sowjetunion für wenig aussichtsreich hielte. Der Dialog des Westens mit der Sowjetunion und die möglichen Hilfen werden natürlich der neuen Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Republiken Rechnung tragen müssen. Wir wollen, daß Projekte vor Ort beschlossen und durchgeführt werden, damit die Hilfen den Menschen auch unmittelbar zugute kommen.
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3018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlDer diesjährige Weltwirtschaftsgipfel in London hat der Sowjetunion bereits das Tor zur Integration in die Weltwirtschaft geöffnet. In London begann ein Dialog zwischen den großen westlichen Industrienationen und der Sowjetunion. Der Westen muß jetzt — wir werden darauf drängen — die Vereinbarungen des Londoner Gipfels zügig umsetzen.Das gilt vor allem in den Bereichen, die für eine verstärkte technische und projektbezogene Zusammenarbeit besonders hervorgehoben worden waren wie z. B. im Energiesektor, im Transportwesen, in der Landwirtschaft und im Bereich der Sicherheit von Kernkraftwerken.Der britische Premierminister John Major hat gerade auch in seiner Eigenschaft als derzeitiger Vorsitzender der G 7 hierüber Anfang der Woche in Moskau mit Präsident Gorbatschow und Präsident Jelzin gesprochen. Er hat in Moskau die Zusage erhalten, daß dort schnellstens die Voraussetzungen für die Aufnahme dieser breiten Zusammenarbeit geschaffen werden.Wie Sie wissen, meine Damen und Herren, übernimmt die Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar den Vorsitz in der G 7. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, daß der Dialog mit der Sowjetunion auch unter unserem Vorsitz alsbald zu ganz konkreten Ergebnissen führt.Bereits in allernächster Zeit, in diesem Monat noch, wird Bundesminister Theo Waigel nach Moskau fahren. In dieser Woche sind dort sein französischer und sein amerikanischer Amtskollege.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat bei den Hilfen für die Sowjetunion und die Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas immer wieder auf eine faire internationale Lastenteilung gedrungen. Diese große Aufgabe kann nicht allein uns Deutschen oder allein den Europäern überlassen bleiben. Die Demokratisierung in den Reformstaaten und ihre wirtschaftliche Neuorientierung liegen im Interesse des ganzen Westens. Es gilt daher, vorhandene Ansätze zu gemeinsamen westlichen Hilfsmaßnahmen beschleunigt auszubauen. Ich denke, jedes Land — ich betone: jedes Land — muß dabei entsprechend seiner Leistungsfähigkeit einen fairen Anteil an dieser gemeinsamen Verantwortung tragen; denn es geht dabei um unsere gemeinsamen Chancen.
Wir Deutschen sind schon bisher an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit gegangen. Wir haben den Reformprozeß seit 1989 mit über 90 Milliarden DM unterstützt, davon allein mehr als 60 Milliarden DM für die Sowjetunion. Wir leisten damit nach Angaben der EG-Kommission 56 % aller westlichen Hilfen an die Sowjetunion und 32 % der westlichen Hilfen an die Staaten Mittel- und Osteuropas. Gleichwohl — bei allen Schwierigkeiten im eigenen Land — werden wir uns auch in Zukunft an multilateralen Anstrengungen beteiligen.Bei alldem — dies will ich unterstreichen, meine Damen und Herren — kann es nur um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Deswegen ist es eben mit finanzieller Unterstützung von außen allein nicht getan. Aussicht auf durchgreifenden Erfolg haben wir nur, wenn wir eine neue umfassende Wirtschaftspartnerschaft in die Tat umsetzen, unsere Märkte für diese Staaten noch weiter öffnen und unsere östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten bei der Neuordnung ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung intensiv mit Beratung und technischer Hilfe unterstützen.Eine erfolgreiche Umgestaltung der Sowjetunion als Ganzes sowie der einzelnen Republiken ist jedoch allein mit staatlich-administrativen Hilfen von außen nicht zu schaffen. Falls es notwendig werden sollte, werde ich mich in dem vor uns liegenden Winter genauso wie im letzten Jahr wieder für gezielte Lebensmittelhilfe und humanitäre Unterstützung für die Menschen in der Sowjetunion einsetzen. Die großen Hilfsaktionen, die unsere Bürger im letzten Jahr für die Sowjetunion geleistet haben, waren ein großartiges Zeichen der Mitmenschlichkeit und des persönlichen Engagements für die deutsch-sowjetische Verständigung.
Ich will in diesem Zusammenhang jenen Familien besonders danken, die in diesen Sommerferien Kinder aus der Region Tschernobyl gastfreundlich bei uns in Deutschland aufgenommen haben.
Meine Damen und Herren, ganz besondere Sorge bereitet uns in diesen Tagen der Konflikt in Jugoslawien. Uns allen stehen die Bilder vor Augen — Bilder von demonstrierenden Müttern in europäischen Hauptstädten, und aus Jugoslawien kommen Bilder des Schreckens und des Terrors auf die Fernsehschirme. Vor allem diejenigen in Deutschland, die noch eine persönliche Erinnerung an die Schrecken des Krieges haben, sind davon ganz besonders bewegt.Angesichts der massiven militärischen Einsätze der letzten Wochen und Tage — nach den jüngsten Berichten kann man vielleicht sogar sagen: und Stunden — geht es darum, daß sofort und uneingeschränkt auf jede Gewaltanwendung verzichtet wird. Dies gilt für die jugoslawische Volksarmee wie für alle anderen bewaffneten Verbände.Die Europäische Gemeinschaft hat auf der außerordentlichen Sitzung der Außenminister am 27. August erklärt — ich zitiere — :Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten werden niemals eine Politik der vollendeten Tatsachen akzeptieren. Sie sind entschlossen, durch Gewalt herbeigeführte Grenzänderungen nicht anzuerkennen.
Gestern haben sich die Außenminister der Gemeinschaft darauf geeinigt, bereits für den kommenden Samstag eine Friedenskonferenz nach Den Haag einzuberufen. An dieser Konferenz sollen alle Konfliktparteien in Jugoslawien zusammen mit den Gemeinschaftsländern teilnehmen. Ich begrüße es ganz be-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3019
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlsonders, daß mit Lord Carrington ein Mann als Koordinator vorgeschlagen wurde, dessen große internationale Erfahrung allseits geschätzt wird.Meine Damen und Herren, nunmehr sind auch die Voraussetzungen geschaffen, daß die europäische Beobachtermission die Einhaltung des Waffenstillstands auch in Kroatien überwachen kann. Ich will von dieser Stelle aus noch einmal alle Verantwortlichen in Jugoslawien aufrufen, der Mission ihre Tätigkeit zu erleichtern. Hinter den europäischen Friedensbemühungen stehen alle KSZE-Staaten.Dennoch, so glaube ich, ist es wichtig, daß wir in dieser Stunde noch einmal deutlich machen: Wer glaubt, jetzt immer noch auf Gewalt setzen zu können, muß mit einer entschiedenen Antwort aller Europäer rechnen.
Dies gilt auch und nicht zuletzt für die Bundesrepublik Deutschland, namentlich im Blick auf die daraus zu ziehenden Konsequenzen.Wenn Dialog, wenn friedliches Miteinander nicht mehr möglich sind, dann stellt sich für uns, auch und gerade aus unserem Verständnis von Selbstbestimmungsrecht, die Frage, diejenigen Republiken, die nicht mehr zu Jugoslawien gehören wollen, völkerrechtlich anzuerkennen.
Meine Damen und Herren, die Völkergemeinschaft und insbesondere die Europäer werden weiterhin für eine friedliche Lösung auf der Grundlage der KSZE- Dokumente und insbesondere der Charta von Paris für ein neues Europa arbeiten. Dabei gilt es, das Gleichgewicht aller Prinzipien zu wahren: Freiheit und Selbstbestimmung, Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten, Unverletzlichkeit der Grenzen und nicht zuletzt Gewaltverzicht und Achtung der Rechte und Sicherheitsinteressen anderer.Am Anfang muß — ich kann es nicht oft genug wiederholen angesichts der Schreckensbilder, die wir täglich übermittelt bekommen — eine strikte Einhaltung des Waffenstillstands stehen. Die Bundesregierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, damit die uns in Freundschaft verbundenen Völker Jugoslawiens Aussicht auf eine Zukunft haben, die besser ist als die leiderfüllte Gegenwart.Meine Damen und Herren, seit dem KSZE-Gipfel im November 1990 und der Unterzeichnung der Charta von Paris für ein neues Europa wird die KSZE zu einem immer festeren Stützpfeiler für die gesamteuropäische Friedensordnung. Die erste Ratssitzung der Außenminister, die ich am 19. Juni in Berlin eröffnet habe, war dabei ein richtungweisender Anfang. Mit dem „Rat der Außenminister" und dem neugeschaffenen Krisenmechanismus sind Instrumente geschaffen worden, die die politische Handlungsfähigkeit der KSZE stärken.Zur gesamteuropäischen Friedensordnung gehört eine langfristig angelegte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den Reformstaaten Mittel-, Ost- undSüdosteuropas. Dies ist eine wichtige Investition in eine gemeinsame friedliche Zukunft, und gerade wir Deutsche profitieren davon. Jedes Land ist dabei gefordert, dazu seinen Beitrag zu leisten.Wir haben unser Verhältnis zur Republik Polen durch den Grenzvertrag und den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit auf eine zukunftsgewandte Grundlage gestellt. Übermorgen werden wir in diesem Haus Gelegenheit haben, über diese Verträge und über die Perspektiven des deutsch-polnischen Verhältnisses zu debattieren.Wir stehen in Gesprächen und Verhandlungen mit der CSFR und kommen dabei voran. Wir hoffen, bald einen ähnlichen Vertrag abschließen zu können, der auch mit diesem Land gute Nachbarschaft im zusammenwachsenden Europa besiegelt. Auch mit Ungarn, Bulgarien und Rumänien haben wir Verhandlungen über umfassende Verträge aufgenommen.Zukunft hat in Europa und weltweit nur eine Politik, die vom Willen zum Frieden, zur Freiheit, zum Ausgleich und zur Zusammenarbeit bestimmt ist. Gerade in den Ereignissen der letzten Tage und Wochen ist erneut deutlich geworden: Freiheit und Selbstbestimmung sind stärker als Mauern und Panzer.
Die Erfahrung der Geschichte zeigt bis in unsere Tage hinein — und dies soll man in Belgrad nicht vergessen — , daß man einen Staat nicht mit Panzern zusammenhalten kann.
Gegen den Willen der Menschen läßt sich eine staatliche Ordnung, die auf Zwang und Unterdrückung setzt, nicht durchhalten. Andere europäische Völker, insbesondere unsere Nachbarn in Polen, Ungarn und der CSFR, haben diese Erfahrung neuer Freiheit mit uns geteilt.Von der Freiheitsbewegung in Europa können und müssen Hoffnung und Zuversicht für die Menschen und Völker in aller Welt ausgehen, die nach Freiheit streben.Das vereinte, das souveräne Deutschland steht jetzt in der Pflicht, alles daranzusetzen, gemeinsam die innere Einheit Deutschlands in Stabilität und Solidarität zu vollenden. Wir sind aufgefordert, die Einigung ganz Europas voranzubringen und in der Völkergemeinschaft die auf uns zukommende größere Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir uns dieser Verantwortung stellen, leisten wir einen unerläßlichen Beitrag zu einer neuen Epoche, zu einem neuen Europa des Friedens, der Freiheit und der guten Nachbarschaft.
Ich erteile jetzt das Wort dem Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Herrn Engholm.
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3020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Universität in Königsberg hat dieser Tage beschlossen, ihr 650jähriges Bestehen Immanuel Kant, dem großen Sohn dieser Stadt, zu widmen. Was könnte eigentlich den tiefen Umbruch in diesen Wochen besser zeigen als die Planung eines Festes durch Russen für einen deutschen Philosophen der Aufklärung in einer Stadt, die Kaliningrad — Königsberg — heißt?
— Die Zwischenrufe werden wir mit Vergnügen im Protokoll nachlesen.Kants praktischer Imperativ von 1786 liest sich wie das ganze Programm für die Umwälzungen von heute: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden Anderen zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. " In dieser Verpflichtung steht auch dieses Parlament in diesen Tagen.
Seit den letzten Augusttagen ist in Europa nichts mehr, wie es vorher war. Ein neues Zeitalter hat begonnen. Aber bei aller Freude, die wir über die Ereignisse im Osten Europas gemeinschaftlich empfinden— Voreilige seien gewarnt: Hier hat nicht schlicht der Westen über den Osten triumphiert. Es ist nicht damit getan, zu sagen, hier habe einfach ein System das andere abgelöst; das auch. Hier haben vor allen Dingen mutige Menschen auf der Straße die Diktatur besiegt.
Hier haben Bürger Panzern getrotzt, Bergarbeiter gestreikt und Soldaten sich geweigert, auf das eigene Volk zu schießen.Zwei Männer, deren bleibende Verdienste in diesen Tagen manchmal unangemessen gegeneinander ausgespielt werden, verdienen unseren Dank: der eine, der — vor seinem Volk — den Völkern Mittel- und Osteuropas den Weg in die Freiheit geebnet und uns die Einheit ermöglicht hat; der andere, der sich entschlossen gegen eine neue Eiszeit gestemmt hat. Insbesondere wir Deutsche stehen in der Schuld von beiden, von Boris Jelzin und Michail Gorbatschow.
Wir haben allen Anlaß, Dank und Respekt auch einem Dritten zu bekunden, dem amerikanischen Präsidenten George Bush, der im richtigen Moment unglaubliche Besonnenheit und Weitblick gezeigt hat.
— Ich sehe mit großer, innerer Freude, daß immer, wenn Schleswig-Holsteiner hier reden, Freude imganzen Hause angesagt ist. Ich werde Sie damit, Herr Rühe, in der Zukunft häufiger beglücken müssen.
Meine Damen und Herren, bevor ich den Blick nach vorn richte, gestatten Sie mir einige Bemerkungen zur Vergangenheit. Der schreckliche Mißbrauch der Ideale des Sozialismus hat tragische Folgen in der Geschichte gehabt. Unendlich Viele wurden verfemt und verfolgt, weil sie sich nicht vor Stalin und seinen Epigonen verbeugen wollten. Viele aus vielen Ländern, die den Nazis entkamen, starben später in sowjetischen Lagern. Es waren ebenso Konservative wie Liberale, Christen wie Juden und sehr viele Männer und Frauen der europäischen Sozialdemokratie. Sie alle haben an das geglaubt, was jetzt in der Sowjetunion bewiesen wurde: Der Wille zur Freiheit ist letztlich stärker als jedes System und jede Diktatur.
Wir wollen allesamt dem endgültigen Zusammenbruch eines Systems, dessen Errungenschaften nicht einmal auf dem Papier standen oder als Kulisse existierten, keine Träne nachweinen.
Es liegt wohl in der menschlichen Natur, aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Kurzsichtigkeit, vielleicht aus Angst vor dem Unbekannten eher mit dem Status quo zu rechnen und auf den Status quo zu setzen, als an das Neue zu glauben. Wenn wir uns erinnern: Niemand kann sich und seine Partei völlig von dieser verengten Denkungsart ausnehmen
— Manche Ereignisse dieser Tage, denke ich, lassen Nachsicht auf allen Bänken und in allen Reihen dieses Hauses zu.
Jetzt ist die Politik der kleinen Schritte von den Hoffnungen und den Taten der Menschen überholt worden. Damit kommt die eigentliche Bewährungsprobe auf uns zu. Früher hatten wir die Aufgabe, dem Kommunismus gegenüber zu bestehen. Das ist, wenngleich mit Opfern, gelungen. Heute haben wir vor den Augen der Menschen in ganz Osteuropa zu bestehen, ihre Bedürfnisse auf- und ernst zu nehmen und zu helfen, sie zu befriedigen. Das muß erst noch gelingen. Ich denke, damit kommen die eigentlichen Aufgaben erst auf uns zu.Die Charta von Paris ist die Grundlage jeder künftigen deutschen Außenpolitik. Sie ist das Ergebnis des KSZE-Prozesses, der von Willy Brandt und Helmut Schmidt erfolgreich begonnen worden ist.
Ich ziehe daraus folgende Schlußfolgerungen: Unser Verhältnis zu den Staaten und Republiken, die sich als selbständig erklären, muß eindeutig geklärt
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3021
Ministerpräsident Björn Engholm
werden. Niemand wird bei der Lösung dieser Aufgabe die Gefahren übersehen, die von nationalistischen Übertreibungen ausgehen. Rassismus, Nationalismus, der Haß auf Minderheiten dürfen in unserem neuen Europa nie wieder irgendeine Chance bekommen.
Aber in mancher Befürchtung bei der Beurteilung des Wunsches der Völker auf neue Selbständigkeit klingt manchmal so etwas wie eine heimliche Sehnsucht nach der scheinbar guten alten bipolaren, kalkulierbaren Welt wider. Ich warne Neugierige: Wer damit kokettiert, vergißt, welchen Preis die Völker im Osten für ihre jahrzehntelange Kasernierung haben bezahlen müssen.
Ich setze dagegen: Wer in der Vergangenheit mit Leidenschaft für die Unabhängigkeit von Völkern der Dritten Welt gestritten hat, der kann heute bei dem Wunsch der Völker des Baltikums oder Jugoslawiens auf eigene Selbstbestimmung den Kopf nicht in den Sand stecken.
Für die SPD gilt deshalb: Wir stehen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, auch zu jenem Weg der Selbstbestimmung, der zur Selbständigkeit dieser Völker führt. Wir können anderen nicht das verwehren, was wir jüngst für unser Volks selber erfolgreich in Anspruch genommen haben.
Das galt gerade gestern für die baltischen Republiken; es gilt heute für die Slowenen und Kroaten, und es mag morgen für manche anderen gelten.In der Jugoslawien-Krise hat die Bundesregierung und hat die Gemeinschaft lange keine rühmliche Rolle gespielt. Mit der Formel, daß nur einem geeinten Jugoslawien der Weg in die Europäische Gemeinschaft offenstehen würde, fanden diejenigen Bestätigung, die den jugoslawischen Staatsverband mit Gewalt zusammenhalten wollten. Das war die falsche Aussage der Politik.
Ich erinnere daran, daß Ende Mai die sozialdemokratische Bundestagsfraktion eindringlich vor der Gefahr eines Bürgerkrieges gewarnt hat und die Gefahr der Libanonisierung des Balkan beschworen hat. An vorausschauendem Krisenmanagement, auch bei der Bundesregierung, hat es zu jener Zeit gefehlt.
„Jetzt rächen sich die außenpolitischen Versäumnisse gegenüber dem Vielvölkerstaat Jugoslawien" — Originalzitat Horst Teltschik, jüngst in der „Bild am Sonntag".
Mit Sorge beobachten wir, daß das berechtigte Verlangen der Völker Jugoslawiens nach Selbstbestimmung von zunehmend bösartigem Nationalismus überdeckt wird. Auch heute nacht ist wieder geschossen worden. Auch heute nacht hat die unselige Auseinandersetzung wieder Tote gekostet. Ich glaube, es ist höchste Zeit, konkret ins Auge zu fassen, daß Sanktionen politischer und wirtschaftlicher Art gegen die Verantwortlichen ins Feld geführt werden.
Ein Zeichen von ganz großer symbolischer und weit darüber hinausreichender Bedeutung ist, glaube ich, der mutige Protest der Mütter von Zagreb und Belgrad, die sich auf den Marsch machten, um ihre Söhne davor zu bewahren, in einem sinnlosen Krieg verheizt zu werden.
Die Völkergemeinschaft kann und muß verlangen, daß das Recht auf Selbstbestimmung in Verantwortung für den Frieden und im Geist guter Nachbarschaft wahrgenommen wird, d. h. demokratisch legitimiert, mit friedlichen Mitteln und unter Beachtung des Rechtes nationaler Minderheiten und mit Respekt vor der gemeinsamen Sicherheit in Europa. Bevor vagabundierende Atomwaffen neue Risiken schaffen, müssen sie nach meiner Auffassung zum Thema der Vereinten Nationen gemacht werden.
Wer diese Prinzipien verletzt, wer gar mit Gewalt Grenzen umstoßen will, der sperrt sich selbst aus der freien Gemeinschaft der europäischen Völker aus und muß mit wirtschaftlicher und politischer Isolierung rechnen.Aus den Fehlern in der Jugoslawien-Krise ist zu lernen. Ich schlage eine dringliche Sitzung der KSZE vor, die die baltischen Staaten als ordentliche Mitglieder aufnimmt und auf der sich die Republiken der Sowjetunion unbeschadet ihres völkerrechtlichen Status auf die Charta von Paris verständigen und entsprechende Vereinbarungen treffen. Ich glaube, daß eine solche Sitzung von hohem Sinn ist.
Für die Integration und für die Reform der Europäischen Gemeinschaft muß der Kurs heißen: Jetzt erst recht und hoffentlich mit mehr Mut und mehr Geschwindigkeit, als die Staaten der Gemeinschaft den Prozeß bisher vorangetrieben haben.
Wer jetzt das Ziel der Europäischen Union verzögerte oder gar aufgäbe, der erwiese ganz Europa einen Bärendienst.
Wir würden in kleinstaatliche Kabinettspolitik der Zwischenkriegszeit mit all den furchtbaren Folgen zurückfallen.
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3022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Ministerpräsident Björn Engholm
Für meine Partei gilt deshalb: Wir wollen kein schwaches Europa mit einem übermächtig starken Deutschland in der Mitte; wir wollen ein starkes Europa, in das das größer gewordene Deutschland seine ganze Kraft zugunsten der Gemeinschaft einbringt.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine tiefgreifende Reform der EG; ich werde heute das Vergnügen haben, darüber mit Jacques Delors zu reden.
— Ihre Reaktion klang, mit Verlaub, ein wenig neidvoll.
Wer Jacques Delors kennt, der weiß, daß es in der Tat ein intellektuelles Vergnügen ist, mit diesem weitsichtigen Menschen Gedanken austauschen zu dürfen.
Wir brauchen eine größere Effektivität der Institutionen, und wir brauchen stärkere Rechte des Europäischen Parlaments. Daß sich dieses Parlament eher auf dem Status des kaiserlichen Reichstages befindet, was seine Rechte angeht, das hat keine Zukunft.
Wir wollen eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion und ebenso eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.Es ist zugleich höchste Zeit für eine gemeinsame Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle, d. h. für gemeinsame Kontrollen des Waffenhandels und für gemeinsame Initiativen zur Reform der Vereinten Nationen. Die Europäer müssen dafür sorgen, daß die Weltorganisation mehr Macht und auch mehr Geld im Kampf gegen die Rüstung und gegen die Ursachen von Konflikten weltweit bekommt.
Niemand wird die Illusion haben dürfen, daß von Wladiwostok bis Lissabon, vom Nordkap bis zur Türkei alle Staaten Mitglied einer integrierten Europäischen Gemeinschaft sein könnten. Die historische und die kulturelle Vielfalt Osteuropas und die verschiedenartigsten Völker der Sowjetunion lassen sich nicht in eine Mega-EG pressen.Dennoch sage ich mit Nachdruck: Die Europäische Gemeinschaft muß offener werden als bisher, offener für neue Mitgliedstaaten und offener für die Zusammenarbeit mit Staaten, die auf Grund ihrer Strukturen jetzt noch nicht für eine Mitgliedschaft zur Verfügung stehen.
Deshalb wollen wir jetzt das Abkommen über den europäischen Wirtschaftsraum mit einer großen Initiative im Herbst über die Bühne bringen. Deshalbbin ich nachdrücklich für den schnellen Beitritt Schwedens und Österreichs und weiterer EFTA-Staaten, die sich in absehbarer Zeit zu einem Beitritt entschließen werden.
Deshalb bin ich nachdrücklich für weitreichende Handels-, Kooperations- und Assoziierungsabkommen, die den baltischen Republiken, aber ebenso den anderen Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas die Heimkehr nach Europa endlich erleichtern und ermöglichen.Jetzt ist eine große Gemeinschaftsanstrengung des Westens notwendig, um den Völkern des Ostens beim Umbau ihrer Gesellschaften tatkräftig zu helfen. Die europäischen Lagerhäuser sind voll, um hohe Preise zu garantieren, was wiederum Kosten verursacht, die auch das deutsche Volk mit gezahlt hat. Lassen Sie uns die Lagerhäuser zugunsten der in diesem Winter Hungernden im Osten Europas öffnen!
Ich teile die Auffassung, daß konkrete Projekte gefördert werden müssen, daß das Transferieren von Geld allein nicht reichen wird. Dabei wird Wissen ebenso wichtig sein wie das Geld als solches. Ich plädiere dafür, auch unkonventionelle Wege bei der Hilfestellung für den Osten zu gehen. Ich habe in der letzten Zeit mehrfach Vorschläge eines Managers der Deutschen Bank, Herrn Lebahn, gelesen, der eine Art von „Systemdolmetschung" anbietet, um das undurchdringliche Dickicht im Osten mit vernünftigen und tatkräftigen Methoden aufzuhellen und damit die Hilfen dort hinzubringen, wo die Menschen die Hilfen wirklich benötigen.Wir Deutschen — auch das will ich mit allem Nachdruck sagen — werden gegenwärtig mit einer zu großen Anforderung an deutsche Hilfen überfordert. Jetzt müssen Europa und Nordamerika großzügig und eng zusammenwirken. Hier könnte sich die Perspektive des amerikanischen Präsidenten Bush — Deutsche und Amerikaner als partners in leadership — auf eine ganz neue und faszinierende Art und Weise beweisen.
Auch Japan, Herr Kollege Graf Lambsdorff, ist zur Mithilfe gebeten. Der japanische Beitrag zum neuen Europa kann nicht darin bestehen, immer neue Märkte zu erobern und sich ansonsten fein zurückzuhalten.
Aus der Föderalisierung der Sowjetunion ergibt sich zugleich, Herr Bundesratspräsident, eine besondere Aufgabe für die deutschen Länder. Ich glaube, je stärker die Föderalisierung im Osten Platz greift, desto mehr Chancen kleinteiliger Kooperationen gibt es auch für die föderativen Einheiten der Bundesrepublik Deutschland. Ich weiß um die Bemühungen meines Kollegen Voscherau, in diesem Bereich einer der Vorreiter zu sein. Ich bin sicher, alle Länder und alle Ministerpräsidenten werden die Chance der kleintei-
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ligen Abstimmung und Zusammenarbeit für die Zukunft intensiver denn je zuvor nutzen.
Schleswig-Holstein hat solche Möglichkeiten bereits vor längerer Zeit getestet. Wir haben sie lange vor der Unabhängigkeit der baltischen Staaten auch mit den Präsidenten Landsbergis und Rüütel beredet. Die Chance, einen überregionalen Ostseerat zu begründen mit Staaten, mit deren Zusammenarbeit man noch vor Jahresfrist nie hat rechnen können, ist eine unglaubliche Möglichkeit. Wir wollen die Gelegenheit beim Schopfe packen.
Die großen Aufgaben, die wir im Osten zu erledigen haben, dürfen nicht dazu führen, andere Konfliktherde in der Weltinnenpolitik zu vernachlässigen. Ich meine, wir dürfen nicht den Blick verstellen auf die Probleme und Sorgen der gesamten Mittelmeerregion, auf die des Nahen Ostens, und wir dürfen nicht vergessen, welche unendlichen Sorgen, Nöte und Probleme noch in der Nord-Süd-Politik bewältigt werden müssen, die jetzt schon so sträflich vernachlässigt wird. Alle diese Aufgaben sind gleich dringlich. Wir haben zu begreifen, daß sie auch mit dem qualifizierten Überleben des Kontinents Europa zu tun haben.Weder mit einer Armutsgrenze an Oder und Neiße noch mit einer zwischen Nord und Süd können wir Europäer dauerhaft und in Frieden existieren. Eine Völkerwanderung von Ost nach West, gar eine große Völkerwanderung von Süd nach Nord würde das Ende aller Hoffnungen auf diese faszinierende neue Weltordnung bedeuten. Deshalb sollen wir heute helfen.
Die Frage stellt sich für uns, ob wir heute Solidarität wählen — sie wird uns etwas kosten — oder ob wir in absehbarer Zeit gezwungen sein werden, die Grenzen so dichtzumachen, daß das jeder Philosophie, die wir entwickelt haben, widerspricht. Ich bin dafür, Solidarität heute zu offerieren und tatkräftig zu helfen.
Das geht, wie wir wissen, nicht ohne Einschnitte auch bei uns. Ich sage mit aller Zurückhaltung, aber allem Ernst: Wir müssen uns künftig mehr denn je überlegen, ob nicht jede einzelne D-Mark, die wir immer noch in fragwürdige Projekte — auch der Großrüstung — stecken, nicht hundertmal besser investiert ist in praktischer Solidarität den Völkern des Ostens gegenüber.
Das gilt für die Handelsbeziehungen, bei denen sicher ist, daß wir ohne sogenannte asymmetrische Handelsbeziehungen die Zukunftsprobleme nicht werden bewältigen können. Das heißt, wer von Solidarität redet, der muß bereit sein, auch Produkte aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn dann aufunseren Markt zu lassen, wenn es eigenen Produzenten hier weh tut.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ruft nach Veränderungen im Osten, aber sie verschweigt uns die wirklichen Konsequenzen für den Westen. Auf vielen Feldern ist heute neues Denken erforderlich. Ich will dazu einige wenige Bemerkungen machen. Bis heute hat für mich die Sicherheitspolitik der Bundesregierung und der NATO aus der Charta von Paris kaum erkennbare Konsequenzen gezogen.
Wir konnten vielleicht noch vor Monaten mit einigem Sinn über die Frage der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Tiefflügen reden. Aber ist es angesichts der Situation der letzten 14 Tage vertretbar, strategisch begründbar, daß nun auch die neuen Länder und ihre Bevölkerung mit der Segnung der Tiefflüge bedacht werden?
Wenn heute die Ukraine oder Weißrußland atomwaffenfreie Zonen sind, dann gehört Deutschland an die Seite der Staaten, auf deren Boden es absolut keine einzige Atomwaffe mehr gibt.
Was immer an Gerüchten dran sein mag, in den neuen Bundesländern müssen sich im Zweifel Inspekteure davon überzeugen können, daß alle sowjetischen Atomwaffen auch wirklich abgezogen sind.
Es darf künftig keine neue NATO-Strategie beschlossen werden — das gehört zur Neuerung des Denkens —, ohne Moskau oder Warschau, ohne Kiew oder Riga vorher zu konsultieren. Das heißt nämlich künftig europäisch organisierte gemeinsame Sicherheit.
Meine Damen und Herren, eine Armee — und dies betrifft viele Armeen in Europa und ganz direkt die Bundeswehr — , die ihren potentiellen Gegner nicht mehr so fixieren kann wie immer zuvor, braucht ein erweitertes Selbstverständnis. Unsere Soldaten müssen wissen, wofür sie künftig stehen. Insbesondere die, die weiterhin zur Wehrpflicht eingezogen werden, — wofür ich votiere, weil ich gegen eine Berufsarmee bin — , müssen innerlich überzeugt sein, wofür sie ihre Tätigkeit leisten.
Das heißt, zu der traditionellen Aufgabe der Verteidigung werden weitere, neue Aufgaben hinzukommen. Ich schlage Ihnen vor, über eine Truppe von Grünhelmen für humanitäre Hilfen, für ökologische
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3024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
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Einsätze und Katastrophenschutzeinsätze in der Welt miteinander zu reden. Hier könnte eine friedenstiftende Aufgabe unserer gut ausgerüsteten Soldaten in der Zukunft liegen.
Meine Damen und Herren, ich biete Ihnen an, das Grundgesetz gemeinsam so zu ändern, daß Bundeswehreinheiten als Blauhelme für friedenserhaltende Missionen der UNO, also nicht für Kampfeinsätze, bereitgestellt werden können. Ich weiß, daß die Koalition mehr will, aber warum können wir uns eigentlich nicht auf das verständigen, was hier im ganzen Hause fast unumstritten ist?
Das Notwendige jetzt tun und über das andere strittig bleiben, wäre eine Aufgabe pragmatischer Politik, die Sie uns bisher vorenthalten haben.
Seit Willy Brandt damals das Prinzip der Nachbarschaft politisch-inhaltlich definiert hat, auch gegenüber einer Welt, die noch scharf von uns getrennt war, wissen wir, daß gute Nachbarschaft eines der elementarsten Instrumente von weltweiter Sicherheit ist. Aber ich sage es deutlich: Es ist blamabel, daß die deutsch-polnischen Verträge erst nach einem peinlichen Hickhack in der Koalition zur Ratifizierung vorgelegt worden sind.
Es ist wahrhaft kein Ruhmesblatt für diese Regierung, daß der Vertrag mit der CSFR bis gestern durch deutsche Schadensersatzforderungen blockiert worden ist. Vaclav Havels großmütige und überzeugende Geste der Versöhnung auch gegenüber den Vertriebenen bedeutet für uns: Befreien wir uns endlich in unserem Verhältnis zu Tschechen und Slowaken von dem Ballast dieser bösen Vergangenheit.
Meine Damen und Herren, über allem muß die Botschaft stehen, daß Sicherheit künftig nie wieder auf das Militärische allein reduziert werden darf. Die gleiche Kraft und die gleiche Phantasie, die Generationen vor uns und wir selbst immer noch in militärische Projekte gesteckt haben, sollten wir heute in Projekte der zivilen und sozialen Ordnung unserer Welt investieren. Damit würden wir dieser Welt den größten Gefallen tun.
Unsere Bereitschaft und unsere Fähigkeit zu guter Nachbarschaft wird nicht zuletzt daran gemessen werden, welches Verhältnis wir zu den bei uns lebenden Ausländern unterhalten. Ich sage hier nach Ereignissen, die tief bedrohlich sind: Lassen Sie uns alle der Versuchung widerstehen, aus den Vorurteilen gegen Menschen anderer Hautfarbe, Herkunft oder Rasse politisches Kapital zu schlagen.
Ich habe in meinem Landtag einmal gesagt: Die Lufthoheit an deutschen Stammtischen sollten wir anderen überlassen; sie ist kein Ersatz für eine humane Ausländerpolitik.
Deshalb lassen Sie uns nicht, Herr Kollege Rühe, mit einer dramatischen Einschränkung des Art. 16 unserer Verfassung spekulieren. Was immer Sie auf diesem Gebiet vorhaben, eine Veränderung dieses subjektiv-öffentlichen Rechtes würde kein Problem lösen helfen, und sie wäre unserer eigenen Geschichte nicht würdig.
Ich sage Ihnen zu, daß die Sozialdemokraten an jeder rechtsstaatlich begründbaren Straffung der Verfahren mitwirken werden.
Daß hier erhebliche Erleichterungen möglich sind, daß hier eine starke Eindämmung des Mißbrauchs dieses Artikels möglich ist, davon gehe ich aus.Wenn Sie als Regierende und Mehrheit dieses Hauses den Gemeinden und Kreisen in Deutschland einmal eine hilfreiche Hand bei der Bewältigung der realen Probleme vor Ort gegeben hätten, dann wäre das auch leichter gewesen.
Aber eine Regierung, die über Jahre so sträflich allein schon in der Bereitstellung von verfügbaren Wohnungen für Schwächere versagt hat,
darf für sich nichts in Anspruch nehmen.
Ich appelliere auch an uns alle und an die Regierung insbesondere: Lassen wir nicht zu, daß Aussiedler und Asylbewerber gegeneinander wegtariert werden.
Allerdings kann Vertreibungsdruck bei Deutschstämmigen nicht auf ewig weitervererbt werden. Insoweit, denke ich, sollten wir den Versuch unterneh-
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men, eine Abschlußgesetzgebung zu Art. 116 unserer Verfassung möglich zu machen.
Schließlich: Diese Regierung sollte mehr tun zur Beseitigung der Fluchtursachen in der Welt. Die Freiheit in der Ukraine begrüßen, aber Staaten wie Zaire oder Niger oder Malawi unterstützen, das paßt nicht mehr zusammen. Auch die Entwicklungspolitik braucht in diesem Sinne die Überprüfung.
— Ich meine, Herr Kollege, daß es manchmal ratsam wäre, die Jahresberichte von amnesty international zu lesen, statt darauf zu hoffen, daß staatssekretärliche Umarmungen in Fernost irgendwelche Probleme lösen helfen.
Die Teilung Deutschlands und Europas durch Teilen überwinden, das ist eine Aufgabe für vermutlich mehr als ein Jahrzehnt. Deshalb teile ich die Auffassung, die gestern bei der Debatte mehrfach zum Ausdruck gekommen ist: Unser Volk hat ein Recht auf die ungeschminkte Wahrheit über das, was auf uns an Anforderungen zukommt, und auch über Wege, wie wir dieser Anforderungen Herr und Frau werden.
Ich wiederhole, was die Kollegin Matthäus-Maier und andere immer wieder mit Überzeugung zum Ausdruck gebracht haben: Wer die Mehrwertsteuer erhöhen will, um damit Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen, hat nicht begriffen, in welcher Welt wir heute leben.
Nie wieder wegsehen! Das war in prägnanter Eindringlichkeit die Lehre, die Willy Brandt den Deutschen am 50. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht in das politische Stammbuch geschrieben hat. Diese Lehre gilt für uns heute uneingeschränkt.Es gibt keine kollektive Schuld der Deutschen. Aber es gibt auch keine kollektive Unschuld, etwa durch Berufung auf die „Gnade der späten Geburt".
Wir müssen, aus unserer Geschichte lernend, Mitverantwortung für die neue Weltinnenpolitik übernehmen, die unsere Erde so bitter nötig zum Überleben braucht. Die Auflösung des Ost-West-Konflikts, das Ende des Blockdenkens, der Zerfall des Sowjetimperiums, das ist eine unendlich große Chance für unsere gemeinsame Welt. Jetzt werden Regierungen gebraucht, die diese Chance nutzen.
Bei unserem letzten Zusammentreffen in diesem Hohen Haus hat der Herr Bundeskanzler an seine erste Rede nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden erinnert. Ich muß am Rande bemerken: Diese Jungfernrede von Herrn Dr. Kohl als Parteivorsitzender fand am 13. März 1975 statt. Damals war Herr Dr. Kohl schon 700 Tage im Amt; meine erste Rede fand sieben Tage nach Übernahme des neuen Amtes statt.
Ich will daraus keine Vergleichbarkeiten zwischen Oggersheimern und Lübeckern ableiten.Damals hat der Parteivorsitzende Dr. Kohl gesagt: Wir brauchen eine starke Regierung, die Mut hat und handelt.
— Ich war mir sicher, daß Sie dieser meiner Forderung an diese Bundesregierung uneingeschränkt zustimmen würden.
Meine Damen und Herren, der Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher, ein Ideologieforscher von hohem Rang, hat immer wieder eindrucksvoll beschrieben, wie sehr totalitäre Verführung es dem Menschen erschwert, „Politik selbst zu denken und mitzugestalten, um der Unterwerfung unter den Alleinanspruch politischen Glaubens entgegenzuwirken" . Der Siegeszug der Demokratien im Osten Europas hat die Chance für Menschen und Völker, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, so erhöht wie nie zuvor. Darin, glaube ich, liegt am Ende das größte Glück dieses Jahrhunderts.
Das Wort hat jetzt Herr Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Engholm, Sie haben eben einige Bemerkungen zu den Polenverträgen gemacht, zu der Art und Weise ihres Zustandekommens, zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung. Wir werden diese Verträge am kommenden Freitag debattieren. Ich möchte aber die von Ihnen eben geübte Kritik mit Nachdruck zurückweisen.
Meine Damen und Herren, diese Verträge betreffen das ganze deutsche Volk nicht in gleicher Weise; ein
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Dr. Alfred DreggerTeil unseres Volkes ist davon besonders betroffen. Es waren immerhin 14 Millionen Menschen, die am Ende des Krieges aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden sind. Dabei sind 2 Millionen Menschen umgekommen. Diese Belastung machte es nicht einfach, wenn man ein größeres Ziel hatte als einen Grenzvertrag, wenn man dazu einen Partnerschaftsvertrag wollte, damit aus diesem furchtbaren Geschehen schließlich Freundschaft entstehen würde. Von dieser Aufgabe hat sich die Sozialdemokratie eigentlich schon nach wenigen Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet.
Die ganze Last der Integration dieser Menschen lag bei uns.
Herr Bundeskanzler Helmut Kohl hat die Polenverträge persönlich vorbereitet. Wir haben es schließlich erreicht, daß große Teile der Heimatvertriebenen ihnen zustimmen. Meine Damen und Herren, wir werden diese Menschen auch in Zukunft nicht im Stich lassen. Sie sind ein Teil des deutschen Volkes, und nur mit ihnen gemeinsam können wir eine dauernde deutsch-polnische Freundschaft begründen. Und das ist unser Ziel.
Meine Damen und Herren, nach dem Faschismus hat nun auch der Kommunismus sein Ende gefunden. Auch der Wiederbelebungsversuch in Moskau ist gescheitert. Das war die beste Nachricht dieses Jahres.
Beide, Faschismus und Kommunismus, waren diesseitige Heilslehren. Hoffnungen standen an ihrem Anfang, Massengräber an ihrem Weg, Massenarmut und Massenflucht an ihrem Ende. Es waren schreckliche Jahrhundertirrtümer. Ihnen auch nur eine Träne nachzuweinen kann nur bösartigen Dummköpfen einfallen.
Die schlimmen Folgen des Kommunismus werden uns noch lange belasten. Was wird aus der bisherigen Sowjetunion? Wird ihre innere Ordnung rechtsstaatlich und demokratisch sein? Wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker über die künftigen Beziehungen zwischen ihren Republiken und zu ihren Nachbarn entscheiden? Wird eine politische Union entstehen, wie wir sie in Europa erstreben, oder wenigstens eine Wirtschaftsgemeinschaft, mit der wir nach dem Kriege begannen? Über all diese Fragen haben nicht wir zu entscheiden. Wir werden mit allen Lösungen einverstanden sein, die zu einer friedlichen und rechtsstaatlichen Ordnung in Osteuropa führen.
Herr Dr. Dregger, entschuldigen Sie, wenn ich kurz unterbreche. Es ist zu unruhig im Raum. So kann sich der Sprechende kein Gehör verschaffen. Ich bitte um Ruhe.
Danke, Frau Präsidentin. — Henry Kissinger hofft, daß die jetzt entstehende Ordnung — ich zitiere ihn — „weniger militaristisch, lose konföderiert und weniger expansionistisch" sein wird als die alte Ordnung der Zaren und der kommunistischen Generalsekretäre. Das wäre in der Tat ein Segen für die ganze Menschheit.
Auch wir bekunden unseren Respekt vor Michail Gorbatschow, der mit ungeheurem Mut die Befreiung vom Joch des Sozialismus und Imperialismus eingeleitet hat, und vor Boris Jelzin, dem gewählten Präsidenten der Republik Rußland, der in einer gefährlichen Krise entschlossen, umsichtig und wirksam gehandelt hat. Jelzin hat sich als einer der ersten von der kommunistischen Partei getrennt. Er hat sie verboten und ihr Vermögen eingezogen. Er hat als einer der ersten die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt.
Der Präsident des litauischen Parlaments, Landsbergis, hat den Westen kritisiert, daß er erst nach Jelzin diese Anerkennung vorgenommen hat. Ich finde das im Hinblick auf den Präsidenten der Republik Rußland bemerkenswert. Er hat seinem Volk seine alten Nationalfarben zurückgegeben, und er hat die Verfolgung der Kirchen beendet. Bei aller Kritik an der russisch-orthodoxen Kirche wird man doch sagen müssen: Ohne sie hätte das russische Volk weder die Tatarenstürme noch den Angriff Hitler-Deutschlands, noch den Kommunismus überleben können.
Wir Deutsche wissen, daß wir in Mittel- und Westeuropa nicht in Frieden und Wohlstand leben können, wenn Osteuropa in Chaos und Armut versinken würde. Deshalb haben wir als erste in Ost- und Mitteleuropa geholfen, obwohl wir durch unsere Aufgaben in den neuen Bundesländern mehr als andere belastet sind.Das erlaubt es uns, heute an unsere Freunde und Verbündeten im Westen zu appellieren, den neuen Demokratien in Osteuropa mit uns gemeinsam beizustehen, d. h. Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Dabei wissen wir, daß die Selbsthilfe das Entscheidende ist.Die Hilfe des Marshallplans nach dem Kriege war erfolgreich, weil Staat und Wirtschaft bei uns — obwohl weitgehend zerstört und demontiert — in ihrer Arbeitsweise intakt, leistungsbereit und leistungsfähig waren. Solche Voraussetzungen müssen auch in den Staaten der Sowjetunion geschaffen werden, damit die Hilfe des Westens Nutzen stiften kann.Meine Damen und Herren, wenn sich Ost und West jetzt zu einem Gemeinschaftswerk zur Überwindung der Folgen des Kommunismus verbinden, wäre es absurd, wenn sie sich weiterhin hochgerüstet einander gegenüberstünden.Ich beglückwünsche die Republik Ukraine zu dem von ihr erklärten Verzicht auf atomare Waffen.
Das sollte für alle Republiken der Sowjetunion beispielhaft sein, die unabhängig werden wollen. Sie alle
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Dr. Alfred Dreggersollten darüber hinaus erklären, daß sie dem atomaren Nichtverbreitungsvertrag beitreten. In Verhandlungen über die Anerkennung der Unabhängigkeit dieser Republiken sollte der Westen dieses Thema zum Gesprächsgegenstand machen.Abrüsten, meine Damen und Herren, müssen vor allem die Atommächte selbst. Sie haben ihre im Nichtverbreitungsvertrag festgelegten Abrüstungsverpflichtungen bisher nicht erfüllt. Die im START-Vertrag von den USA und der Sowjetunion vereinbarten Reduzierungen um etwa ein Drittel sind unzureichend. Die Vernichtung der Welt — und das wäre mit diesem atomaren Potential möglich — kann nicht Gegenstand militärischer Strategie sein.
Zunächst und vor allem sollten die atomaren Kurzstreckenwaffen weltweit und total beseitigt werden. Diese Waffen sind schwer kontrollierbar, haben nur geringe Abschreckungswirkung auf einen potentiellen Angreifer, gefährden aber gerade deshalb um so mehr die von ihnen bedrohte Zivilbevölkerung. Das beste wäre eine baldige Vereinbarung über einen Totalverzicht, der dann schrittweise verwirklicht werden könnte.Meine Damen und Herren, das Scheitern des Putsches in Moskau hat den baltischen Staaten den Weg in die Unabhängigkeit geebnet, die sie infolge des schrecklichen Hitler-Stalin-Paktes im Zweiten Weltkrieg verloren hatten. Nach 52 Jahren unfreiwilliger Zugehörigkeit zur Sowjetunion kehren Estland, Lettland und Litauen in das alte Europa zurück, zu dem sie immer gehört haben.
Auf Grund der jahrhundertealten Beziehungen zwischen Deutschen und Balten freuen wir Deutsche uns ganz besonders über diese Veränderung. Selbstverständlich werden wir dafür eintreten, daß die baltischen Staaten genauso wie Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen wirtschaftspolitischen und sicherheitspolitischen Rückhalt in der Europäischen Gemeinschaft — und später vielleicht auch einmal in der Westeuropäischen Union — finden.Der sterbende Kommunismus hat uns in Europa eine andere schwere Krise hinterlassen: den Krieg in Jugoslawien. Die Staatsidee Jugoslawiens, nämlich das friedliche Zusammenleben der südslawischen Völker, wurde von Anbeginn durch serbisches Streben nach Vorherrschaft beeinträchtigt. Hinzu kam die kommunistische Ideologie, die mit diesem Streben der Serben ein Bündnis eingegangen ist. Heute gibt es in Jugoslawien keine Staatsgewalt mehr, die Recht, Ordnung und inneren Frieden für alle durchsetzen könnte.Deshalb sage ich: Die Selbstbestimmung der Slowenen und Kroaten, die in demokratisch einwandfreier Weise geltend gemacht worden ist, darf nicht weiter im Blutvergießen erstickt werden.
Ich begrüße die Erklärung der europäischen Außenminister, keine Grenzveränderung in Zukunft anerkennen zu wollen, die durch Kampfhandlungen herbeigeführt wurde. Die EG hätte nach meiner Ansicht mehr tun müssen, um diesen Krieg zu verhindern bzw. zu beenden. Einige EG-Partner haben sich aus Sorge um ihre Minderheiten und Volksgruppen allzulange geweigert, die europäische Jugoslawienpolitik unter das Gesetz des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu stellen. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist in der Charta von Paris verankert und damit auch für die EG- Staaten verbindlich. Es entspricht im übrigen europäischen Grundwerten, ohne deren Beachtung europäische Politik unglaubwürdig und wirkungslos ist.
Meine Damen und Herren, Europa muß eine politische Union werden, um seiner gestiegenen Verantwortung gerecht werden zu können. Diese Verantwortung ergibt sich aus der Tatsache, daß Europa neben Japan und den USA eines der drei großen Kraftzentren der Erde ist. Die USA werden uns diese Verantwortungslast nicht auf Dauer abnehmen, Japan schon gar nicht. Die politische Union Europas ist daher ein zwingendes Gebot der Stunde. Dazu muß eine europäische Verfassung geschaffen werden, die über den ökonomischen Bereich hinaus klare Kompetenzen für Europa festlegt. Auch und insbesondere die Sicherheitspolitik gehört dazu. Nur so, meine ich, meine Damen und Herren, kann Europa das werden, was es angesichts weltweiter Herausforderungen sein muß: ein Subjekt der Weltpolitik.Wir wollen keinen europäischen Einheitsstaat, der die Nationalstaaten mit ihren nationalen Kulturen gleichmachen würde. In Europa aufzugehen, das ist ein Gedanke, den ich außerhalb Deutschlands noch nie gehört habe und dem ich daher, von meinen eigenen Gefühlen abgesehen, nur eine äußerst geringe Chance der Verwirklichung einräume. Aber Europa muß sich politisch formieren. Dazu braucht es außer der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion auch eine Sicherheitsunion auf der Grundlage des bereits existierenden, aber mit Leben zu erfüllenden Vertrages über die Westeuropäische Union aus dem Jahre 1954.Eine europäische Sicherheitsunion ist allerdings kein Ersatz für das Atlantische Bündnis. Im Golfkrieg haben wir erfahren, daß nur die USA die Fähigkeit zum weltweiten Handeln haben. Deshalb bleibt das transatlantische Bündnis mit den USA der Sicherheitsanker für das freie Europa.
Die europäische Sicherheitsunion, die Atlantische Allianz und eine gesamteuropäische Friedensordnung auf der Grundlage der KSZE, der unsere transatlantischen Verbündeten USA und Kanada ebenso angehören wie die Sowjetunion und ihre etwaigen Nachfol-
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Dr. Alfred Dreggergestaaten, das ist ein Gesamtsystem, dem auch diejenigen zustimmen können, die diesen Einheitsbestrebungen bisher mit sehr großer Skepsis gegenüberstanden.Ich nenne das Vereinigte Königreich, dessen Parlamentarier in einer solchen Gesamtordnung nicht zu fürchten brauchen, die Eurokraten in Brüssel könnten einen heimtückischen Anschlag auf die britische Souveränität planen, die man auf der Insel seit der Schlacht von Hastings im Jahre 1066 doch in so wirksamer Weise verteidigt hat.Ich nenne Frankreich, weil die enge Bindung zwischen Frankreich und Deutschland durch die Integration auch auf dem Felde der Sicherheitspolitik gewährleisten würde, daß nicht Deutschland — auf Grund seiner geographischen Mittellage — allein, sondern nur Frankreich und Deutschland gemeinsam die politische Mitte Europas bleiben werden.
Ich glaube, es ist eine der großen Besorgnisse unserer französischen Verbündeten, daß das anders sein könnte.Ich nenne die USA, weil diese in einer solchen Gesamtordnung nicht zur „Außenmacht" Europas würden, wie Helmut Sonnenfeldt kürzlich manche amerikanischen Befürchtungen formuliert hat.Auf diese Weise könnten wir eine gesamteuropäische Friedensordnung schaffen, zu der drei große Unionen gehören würden: die Sowjetunion — in welcher Gestalt auch immer — im Osten, die USA im Westen und die sich zwischen diesen beiden Großmächten bildende politische Union Europas. Dieses Europa wäre auf Grund seiner dezentralen Struktur zwar defensivfähig, aber nicht offensivfähig. Es wäre geeignet und berufen, zur friedenserhaltenden Mitte zwischen Ost und West zu werden. Das ist eine Perspektive, an der weiter zu arbeiten wir die Bundesregierung auffordern.
Meine Damen und Herren, diese Perspektive, auf die noch vor wenigen Jahren nur wenige zu hoffen wagten, die heute aber auf konkreten Grundlagen beruht, ist uns nicht in den Schoß gefallen. Sie ist das Ergebnis von Politik und auch glücklicher Fügung. Das 1945 völlig ruinierte, geteilte und zum Schauplatz des Ringens zwischen Ost und West gewordene Deutschland hat zur Vorbereitung und Konkretisierung dieser Perspektive entscheidende Beiträge geleistet.
Die erste Weichenstellung war die Entscheidung für den Westen: Europäische Gemeinschaft, Nordatlantische Allianz — das Werk vor allem Konrad Adenauers. Die deutsche Linke, solange sie die deutsche Wiedervereinigung überhaupt noch wollte, hat gerade in der Westbindung das entscheidende Hindernis für die deutsche Einheit gesehen. Das war, meine Damen und Herren — die Geschichte hat es erwiesen —, ein Fehlurteil.
Das Gegenteil ist richtig: Ohne Westbindung wäre es nicht zur Wiedervereinigung gekommen. Warum? — Deutschland ist zu schwach zur Hegemonie. Das war es immer. Deutschland muß ein wertvoller Verbündeter sein, dessen Verbündete die berechtigten Anliegen Deutschlands im eigenen Interesse unterstützen. Mit Rückhalt dieser Verbündeten war und ist es dann auch möglich, durch eine kluge, ausgleichende Politik für die deutsche Einheit die Zustimmung auch der nichtverbündeten Nachbarn im Osten zu gewinnen.Heute ist Deutschland der Verbündete des Westens und zugleich der bevorzugte Partner des Ostens. Das ist für ein Land in der Mitte — und das sind wir — eine Traumkonstellation, die dem Bismarckreich sowohl in der kaiserlichen Zeit wie in der Zeit der Weimarer Republik nie vergönnt war. Nur diese Konstellation hat die Wiedervereinigung möglich gemacht.Helmut Kohl war dabei weit mehr als ein Vollstrekker Adenauerscher Politik. Er hat blitzschnell und richtig gehandelt, als mit dem Fall der Mauer die Lage da war.
Deutschland hat seine Einheit mit Zustimmung der vier Siegermächte und aller seiner Nachbarn erreicht. Der größte Erfolg in der Kette Ihrer Erfolge, Herr Bundeskanzler, war der 16. Juli 1990. An diesem Tage erlangten Sie die Zustimmung von Präsident Michail Gorbatschow zur Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands — ungeteilt! — in der Allianz!
Das war die Voraussetzung für die Einheit und für die Sicherheit Deutschlands — einer der größten außenpolitischen Erfolge, die es je gegeben hat.
Noch im Dezember 1989 war es für Herrn Lafontaine — ich zitiere ihn — „historischer Schwachsinn, sich ein vereintes Deutschland in der nordatlantischen Allianz vorzustellen. " — Meine Damen und Herren, was wäre aus Deutschland geworden und was wäre aus der NATO geworden, wenn am 2. Dezember der falsche Mann, nämlich Lafontaine, gewählt worden wäre?
Lafontaine stand nicht allein; dafür drei Beispiele.
— Nachher können Sie gern Fragen stellen.
— Das hören Sie nicht gern, aber das ist noch gar nicht so lange her, und das beeinflußt natürlich die Politik.
Egon Bahr sagte noch am 2. Oktober 1989 in der „Süddeutschen Zeitung" — ich zitiere ihn —, man solle aufhören, im Sinne der Staatlichkeit über die
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Dr. Alfred Dreggerdeutsche Einheit zu reden; es gehe nicht um die Einheit, sondern um die Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Staaten. — Welch ein grandioser Irrtum, kann ich nur sagen.
An der Jahreswende 1989/90 — die Mauer war schon offen — unterschrieben fünf Bremer Senatoren der SPD, unter ihnen Henning Scherf, eine sogenannte Bremer Initiative, die 727 Milliarden DM an die DDR zu zahlen vorschlug, um dort einen Wirtschaftsboom auszulösen.
Ja, meine Damen und Herren, man faßt sich an den Kopf! Dieser absurde Vorschlag führender Sozialdemokraten läßt nicht nur Ihre wirtschaftspolitische Inkompetenz erkennen; er zeigt auch, daß Ihnen nichts zu teuer war, um die Eigenständigkeit des sozialistischen Modells in Deutschland zu retten.
— Wollen Sie sich von Ihren Senatoren in Bremen distanzieren, Herr Vogel? Das sind doch sehr bekannte Persönlichkeiten.
Jetzt das dritte Beispiel: Im Januar 1990, also noch später, unterschrieben sechs Bundestagsabgeordnete der SPD, unter ihnen die Kollegen Hans Koschnick, Büchler und Kuhlwein, einen Aufruf der Zeitschrift „Wiener", in dem — ich zitiere — ohne Wenn und Aber die Anerkennung der DDR gefordert wurde — im Januar 1990! Begründet wurde das mit der Behauptung, die Forderung nach Wiedervereinigung gefährde die Entspannung zwischen Ost und West.
Meine Damen und Herren, daß auch das eine Fehleinschätzung war — um es höflich auszudrücken — , hat die Geschichte erwiesen.
Ich kann nur sagen: Wie gut für Deutschland, daß bei der Bundestagswahl am 2. Dezember wir gewonnen haben und nicht Sie!
Meine Damen und Herren, diese drei Beispiele, denen ich weitere anfügen könnte, sind immer noch aktuell; denn sie erklären vieles vom heutigen Verhalten der SPD. Natürlich: Wer die Einheit nicht so recht wollte, der hat heute seine Schwierigkeiten, wenn diese Einheit doch gelingt,
und zwar nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch und ökologisch und sozial, und daran kann doch gar kein Zweifel bestehen.
Meine Damen und Herren, die Geschichte ist über sie hinweggegangen.
— Über sie, die SPD-Vorschläge. Über Sie, ja wen denn sonst?!
Frau Brigitte Seebacher-Brandt hat in ihrem Essay „Die Linke und die Einheit" auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die — ich zitiere — die Linke im Umgang mit der Wirklichkeit immer schon gehabt habe.— Ende des Zitats.
Ich stimme ihr zu. Auch ich glaube, daß es vor allem der fehlende Sinn für die Wirklichkeit war, der die SPD in den 70er Jahren veranlaßte, das Ziel der deutschen staatlichen Einheit aufzugeben und sich sogar zu einer gewissen Kumpanei mit der SED zu entschließen.
Eine von der SPD zusammen mit der SED eingesetzte Kommission, Herr Vogel, hat sogar das „gemeinsame humanistische Erbe" — ich zitiere — beider Parteien für den künftigen Umgang miteinander bemüht. Diese famose Kommission wurde niemals aufgelöst.
Wer weiß, vielleicht schlägt Herr Gysi demnächst ihre Reaktivierung vor; das kann man ja nicht ausschließen.
Meine Damen und Herren, was bedeutet: Verlust der Wirklichkeit? — Wer in der Politik die Wirklichkeit verkennt, kann nicht rational handeln. Schlimmer noch: Er ist nicht kalkulierbar. Ist es nicht gerade das, was manche im Ausland, Freunde und andere, den Deutschen nachsagen? Muß sich die SPD nicht fragen, ob sie durch ihre Deutschlandpolitik diesem schlimmen Urteil bzw. Vorurteil über die Deutschen Vorschub geleistet hat?
Ich glaube, daß Sie, Herr Vogel, und Sie, Herr Engholm, Anlaß hätten, darüber einmal sehr eingehend nachzudenken und Schlußfolgerungen für Ihre künftige Politik daraus zu ziehen.
Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU, haben nicht nur gegen erhebliche Widerstände aus der
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Dr. Alfred DreggerSPD die Wiedervereinigung durchgesetzt und zunächst das westliche Deutschland und dann das vereinte Deutschland zum Verbündeten des Westens und zugleich zum bevorzugten Partner des Ostens gemacht, wir haben mit Ludwig Erhard auch das Weltmodell der Sozialen Marktwirtschaft geschaffen. Von Karl Marx redet niemand mehr. Die Ideen Ludwig Erhards bewegen die Welt.
Meine Damen und Herren, Sozialismus kann man durch Gesetz einführen, mit der Sozialen Marktwirtschaft geht das nicht. Für sie müssen auch außerhalb des ökonomischen Bereichs Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Freiheit für den einzelnen gewährleisten, Rechtstaatlichkeit für jeden, eine Garantie des Privateigentums und andere Menschenrechte. Soziale Marktwirtschaft setzt auch die Bereitschaft voraus, den Tüchtigen den Lohn ihrer Leistung nicht zu verweigern. Nur wenn die Tüchtigen und die besonders Tüchtigen Ungewöhnliches leisten, wird ein Ertrag erwirtschaftet, der mit Hilfe staatlicher Ausgleichssysteme auch den Hilfsbedürftigen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
Unser System aber ist komplizierter — wie das Leben selbst, dem es gerecht wird. Ich werde nie die Aussage des damaligen Gorbatschow-Beraters Jakowlew vergessen, der mir bei unserer ersten Begegnung sagte — ich zitiere — : Es ist im kommunistischen System leichter, 3 000 Panzer in Auftrag zu geben, als 3 000 Menschen in einem Dorf zu versorgen. — Das ist so; deswegen haben wir den Panzerkommunismus als letzte Einheit gehabt.Meine Damen und Herren, die unternehmerische Gesellschaft, die Wettbewerbswirtschaft, die freiheitliche und soziale Gesellschaft ist leistungsfähiger, aber eben auch komplizierter als die sozialistische. Sie setzt Initiative, Entfaltung und Verantwortungsbereitschaft nicht nur weniger Menschen auf der Kommandobrücke, sondern möglichst aller Menschen voraus.Das zu erreichen ist in den Ländern, in denen 40 oder sogar 70 Jahre lang jede freiheitliche Regung unterdrückt wurde, nicht einfach. Selbst den Deutschen, die in Sachsen, Thüringen und in anderen Teilen Mitteldeutschlands vor dem Kriege in der Produktivität ihrer Wirtschaft der Wirtschaft des Westens überlegen waren, fällt es schwer, der Anschluß zu finden.Meine Damen und Herren, aber wir sind — ich glaube, das kann man heute mit allgemeiner Zustimmung sagen — auf dem Weg. Wer sollte es schaffen, wenn nicht wir?
— Wir haben auf Grund erbrachter Leistungen ein gesundes Selbstbewußtsein.
Wir haben in den Jahren 1990 und 1991 ein Hilfsprogramm für die neuen Bundesländer aufgelegt, fürdas es in seinem Ausmaß und seiner Wirkung kein geschichtliches Beispiel gibt.
Diese ungewöhnliche Leistung ist nur möglich, weil diese Regierung und diese Koalition von 1983 bis 1989 durch Ausgabenbeschränkungen,
durch Steuersenkungen um 50 Milliarden DM je Jahr und durch das dadurch geförderte Wirtschaftswachstum in der alten Bundesrepublik Deutschland dafür die Voraussetzungen geschaffen haben.
Wäre die Wiedervereinigung 1982 gekommen, nachdem Sie abgetreten waren, dann wäre sie nicht zu finanzieren gewesen.
Die einzige Antwort der SPD besteht in Schwarzmalen und Miesmachen.
Meine Damen und Herren, dieses Verhalten ist, gemessen an der historischen Aufgabe, vor der wir stehen, nicht nur erbärmlich, sondern auch schädlich.
Sie motivieren nicht, Sie verbreiten Pessimismus und Verzagtheit. Schlimmer noch: Sie bringen die Menschen in Deutschland gegeneinander auf.
Ressentiments und Zorn auf beiden Seiten sind die Folgen.Es ist leider wahr: Seit dem Nein Lafontaines zur deutschen Wirtschafts- und Währungsunion hat sich an der negativen Haltung der SPD nichts Wesentliches geändert.
Die von Ihnen, Herr Engholm, erwartete Kurskorrektur ist heute morgen nicht sichtbar geworden.
Es war sehr nett, wie Sie gesprochen haben. Der „Münchner Merkur"
schrieb unlängst über Herrn Ministerpräsidenten Engholm, sein Auftreten sei zwar umgänglicher
als das seines Parteifreundes von der Saar, in der Sache, so das Blatt, zerredeten aber auch Sie gleicher-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3031
Dr. Alfred Dreggermaßen die Aufwärtstendenzen, wo es nur möglich sei. — Meine Damen und Herren, ich meine, Deutschland braucht keine umgänglichen Miesmacher, sondern Deutschland braucht Mutmacher. Ob die dann umgänglich sind, ist weniger wichtig.
Ein Wort zur Asyldebatte. Asylgewährung für Ausländer in unserem Land ist etwas völlig anderes als Hilfe für andere Völker in ihrer Heimat,
die wir in großem Umfang leisten müssen und auch tatsächlich leisten. Im Hinblick auf Osteuropa hat es der Bundeskanzler eben ausgeführt; ich habe es ergänzt.Hilfe in der Heimat verdient den Vorzug;
denn die Heimat mit ihren natürlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ist nur schwer zu ersetzen. Außerdem ist unser Land zu klein und zu übervölkert, als daß es in der Lage sein könnte, die Hilfe für andere Völker hier bei uns in Deutschland zu leisten.
Das kann nur die Ausnahme sein.
Unser Grundgesetz kennt da nur eine einzige Ausnahme. Sie wird gemacht für — ich zitiere — „politisch Verfolgte". Wer politisch Verfolgten auch in Zukunft helfen will, darf dieses Grundrecht auf Asyl jetzt nicht einem ungebremsten Massenmißbrauch aussetzen, meine Damen und Herren.
Die Dringlichkeit dieses Problems ergibt sich auch aus folgenden Zahlen: 1990 stellten bei uns in Deutschland 193 000 Asylbewerber einen Antrag auf Asyl — 1991, 1992 werden es weit über 200 000 sein —, von denen, wie wir auch wissen, nur ganz wenige anerkannt werden. Bei uns waren es also 193 000, in Frankreich — auch ein Rechtsstaat und auch ein wohlhabendes Land — waren es nicht 193 000, sondern 56 000, in Großbritannien — von diesem Land möchte ich das gleiche sagen wie von Frankreich — waren es 25 000 und in Italien 4 700.Unsere geltende rechtliche Regelung ermöglicht es auch solchen, die offenkundig nicht politisch verfolgt sind, bei uns Aufnahme zu finden.
Sie können über Jahre hinweg ihren offensichtlich unbegründeten Anspruch vor Gericht verfolgen. Die Kosten von all dem trägt der Steuerzahler. Das gibt es nirgendwo sonst, meine Damen und Herren.
Die Unterschiede in der Asylpraxis der europäischen Rechtsstaaten und die Unfähigkeit des Deutschen Bundestages, den Massenmißbrauch des deutschen Asylrechts zu verhindern, enttäuschen unsereMitbürger und veranlassen sie zu berechtigter Kritik, der ich mich ausdrücklich anschließe.
Ich frage die verehrten Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion: Was wollen Sie Ihren Kommunalpolitikern, die mit den Folgen Ihrer Verweigerungshaltung fertig werden müssen, noch alles zumuten?
Wir wollen das Asylrecht schützen, indem wir seinen Massenmißbrauch verhindern. Soweit dazu eine Grundgesetzänderung notwendig ist, muß sie beschlossen werden. Das ist selbstverständlich. Es wäre auch nicht die erste Grundgesetzänderung. Es ist doch nicht der Sinn unseres Grundgesetzes, Mißbräuche zu schützen.
Es kann doch nicht unsere, des Deutschen Bundestags, Aufgabe sein, dem durch Untätigkeit noch Vorschub zu leisten.
Zu diesem Thema finden intensive Gespräche statt, wie schon so häufig in früheren Jahren. Der Bundeskanzler hat dazu auch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden eingeladen. Ich hoffe, daß diese Gespräche diesmal Erfolg haben werden. Sollten sie scheitern, dann, so meine ich, muß im Deutschen Bundestag abgestimmt werden.
Probleme müssen gelöst, sie können nicht unbegrenzt lange verschoben werden. Wir stehen in der Pflicht unserer Wähler. Diese Wähler wollen ganz überwiegend, daß wir den politisch Verfolgten Asyl gewähren. Das werden wir auch tun. Daran wird sich nichts ändern.
Wir müssen aber gleichzeitig auch umgehend den Massenmißbrauch beenden. Das sind die vernünftigen Wünsche unserer Wähler.
Wir, die CDU/CSU, werden entschlossen das uns Mögliche tun, um diesen Wählerwillen zu verwirklichen.Danke.
Das Wort hat jetzt Herr Dr. Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nur ein Wort zur Asylproblematik: Die FDP-Bundestagsfraktion hat gestern einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung der Asylverfahren beschlossen, den sie in die Verhandlungen innerhalb der Koalition und mit der Opposition einbringen wird.
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3032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Hermann Otto SolmsSie wird sich natürlich auch an den Gesprächen zur Vereinheitlichung eines europäischen Asylrechts beteiligen. Das schließt möglicherweise auch die Änderung des Grundgesetzes mit ein, was ich ganz offen sagen will.
Aber es hat nur Sinn, Vorschläge zu diskutieren, die dazu beitragen können, konkret die Probleme zu bekämpfen oder zu bewältigen. Vorschläge, die offensichtlich nicht in der Lage sind, dies zu tun, sollte man dann füglich fallenlassen.
Zum Thema: Mit großer Genugtuung können wir feststellen, daß sich liberale und demokratische Ziele und Werte in der Sowjetunion zum ersten Mal in ihrer Geschichte durchgesetzt haben: persönliche Freiheit, Menschenrechte und Demokratie. Wir können mit großer Genugtuung — das sage ich für die FDP-Bundestagsfraktion — feststellen, daß es offensichtlich so ist, daß jedenfalls die Fraktionen dieses Hauses, die klassischen demokratischen Parteien in Deutschland, in der Beurteilung dieser Situation und dessen, was da zu tun ist, übereinstimmen. Ich glaube, dies ist gut, nachdem es in der Zeit, als es um die deutsche Einigung ging, deutlich unterschiedliche Betrachtungen und Handlungsvorschläge gegeben hat. Für die jetzt gefundene Übereinstimmung, Herr Engholm, danken wir.Allerdings darf nicht der Eindruck entstehen, den es jedenfalls bei mir gegeben hat, daß es der Führer der größten Oppositionspartei damit bewenden lassen will, der Regierungsaußenpolitik sozusagen den letzten Feinschliff zu erteilen. Ich habe in einer Zeitung gelesen, Sie wollten heute Ihre außenpolitische Visitenkarte in Bonn abgeben.
Ich meine, es hätte in diesem Falle genügt, die Visitenkarte Herrn Genscher zu schicken mit der Bemerkung: Kompliment für die Arbeit! Nur weiter so! Engholm.
Allerdings, eine Differenzierung ist mir aufgefallen, nämlich die Differenzierung in der Beurteilung von Sozialismus und Sozialdemokratie. Es würde mich doch sehr interessieren, ob es allgemeine Überzeugung in der Sozialdemokratischen Partei sein wird, daß hier, nämlich zwischen Sozialismus und Sozialdemokratie, die Grenze zu ziehen ist
und daß der alte, traditionelle Spagat, den viele in der SPD mit der Formulierung „demokratischer Sozialismus" gemacht haben, ad acta gelegt wird.
Denn in dieser Frage wird sich die Führungskraft eines Parteivorsitzenden erweisen, nicht darin, daß erder Bundesregierung in ihrer Politik folgt. Das ist gutund sinnvoll; aber das wird in der Partei wohl nicht die notwendige Führungskraft demonstrieren können.Meine Damen und Herren, die zweite Phase einer demokratischen Revolution hat in der Sowjetunion begonnen. An ihrer Spitze stehen Persönlichkeiten, die bereits durch Wahlen legitimiert sind und dadurch natürlich viel mehr Einfluß haben. Sie haben die Rückkehr zu alten Machtstrukturen, zum kommunistischen Klassenstaat verhindert. Der Stalinismus hat nun endgültig ausgedient. Die Auflösung der KPdSU ist hierfür ein augenfälliges Symbol.Gleichzeitig befindet sich das letzte von Europa ausgehende imperiale Reich in einem Prozeß der Erosion. Die alten Strukturen sind zusammengebrochen, die neuen sind noch nicht gefunden. Die Welt hält den Atem an. Wird aus dem Chaos des Zerfalls wieder eine stabile Ordnung mit strikter Kontrolle der Atomwaffen entstehen? Das ist die zentrale Frage, die sich uns stellt.Die baltischen Staaten haben den Schritt in die Freiheit geschafft, die ihnen durch den räuberischen Pakt von Hitler und Stalin im Jahre 1939 geraubt worden ist. Das Scheitern des Putsches befreit nicht nur die Völker der Sowjetunion, sondern auch Europa und die ganze Welt von dem Alptraum, daß Geschichte rückgängig gemacht werden könnte und der Sieg von Recht und Demokratie aufzuhalten wäre.Die Menschen in der Sowjetunion, denen manche zu Unrecht die Fähigkeit zu Demokratie absprechen, haben sich mit größtem Mut gegen Panzer und Gewehre gestellt. Sie haben mit gewaltlosem Widerstand die Vollendung dieses Staatsstreiches verhindert. Es ist die entscheidende Erneuerung, daß die Initiative und die Kraft dieses Widerstandes von den Menschen ausging. Das hatten viele den Russen nicht zugetraut.Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Republik, hat in der Stunde äußerster Bedrohung die Nerven behalten und den Mut aufgebracht, Widerstand zu leisten. Er wurde so zur Symbolfigur und zum Hoffnungsträger für das Volk. Die Soldaten haben sich im Gewissenskonflikt für die verfassungsmäßige Ordnung entschieden. Sie handelten — in diesem Falle wörtlich — als Bürger in Uniform. Ich frage mich, ob eine Berufsarmee — das frage ich mich auch im Hinblick auf die Diskussion hier bei uns — ebenso dem Rufe des Volkes gefolgt wäre.
Am 21. August 1991 haben die Panzer mit der russischen Trikolore in Moskau gezeigt, daß die sowjetische Armee eine andere geworden ist. Sie ist insbesondere eine andere als diejenige geworden, die vor 23 Jahren — der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen — unter Hammer und Sichel den „Prager Frühling" niedergewalzt hat.Das Scheitern des Putsches wäre ohne die Person des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow und die Voraussetzungen, die seine seit sechs Jahren verfolgte Politik von Glasnost und Perestroika schuf, undenkbar gewesen. Denn dadurch wurde in Wirklichkeit erreicht, daß die Menschen nach Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten der Unterdrückung erste
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3033
Dr. Hermann Otto SolmsAnsätze eines Lebens in Freiheit und Demokratie erlernen konnten.Erstmalig in seiner Geschichte — das ist besonders bemerkenswert — hat nun das russische Volk die Chance, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Die Politik Gorbatschows hat der Sowjetunion ein neues Ansehen in der Welt verschafft. Wir Deutschen wissen, daß wir die Deutsche Einheit der Person Gorbatschows und seiner Politik ganz persönlich verdanken.
Noch ist völlig offen, wie die Neuverteilung der politischen Macht in der Sowjetunion aussehen wird. Zur Zeit gibt es mehr Fragen als Antworten. Ohne den Aufbau einer föderalen Struktur und die Lösung des Minderheitenproblems wird es keine stabilen Verhältnisse geben. Lösungen mit Waffengewalt, wie sie in Jugoslawien gesucht werden, führen niemals zu einer dauerhaften Befriedung.Hoffen wir, daß die vorläufigen Abmachungen zwischen Rußland einerseits, der Ukraine und Kasachstan andererseits positive Präzedenzwirkungen haben. Hoffen wir, daß die Vereinbarungen von zehn Republiken mit der Zentralgewalt unter Gorbatschow, die gestern getroffen wurden, zu dauerhafter Stabilität führen.Wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen vorerst wohl nur die Russische Republik und die Ukraine. Selbst die baltischen Staaten hängen, was Energie- und Rohstoffversorgung anbetrifft, noch weitgehend am Tropf des bisherigen großen Bruders.Unabhängig und demokratisch zu sein heißt noch lange nicht, daß der Traum vom Leben in Würde, aber auch vom Wohlstand erfüllt ist oder erfüllbar wäre. Nicht klar ist vor allen Dingen, welche Kräfte in Zukunft den Finger am Abzugshahn der 27 000 noch vorhandenen Atomsprengköpfe haben werden.Die Selbstverpflichtung der Ukraine zur atomwaffenfreien Zone sowie Erklärungen aus Moskau, daß die nukleare Verfügungsgewalt weiterhin zentralisiert bleiben soll, sind zunächst eine bloße Beruhigung. Der Zerfall einer Atommacht in eine Vielzahl miteinander möglicherweise auch noch zerstrittener Atommächte ist eine Vorstellung, die uns allen den Schlaf rauben kann. Hier geht es darum, daß die zentrale Verfügung über die Atomwaffen gesichert werden muß.
Es muß deshalb geklärt werden, wer die Kontrolle über die Atomwaffen erhält, wer die Völkerrechtsnachfolge des bisherigen sowjetischen Vertragspartners in den Abrüstungsvereinbarungen vertritt und wer in Zukunft mit welchen Befugnissen bei Verhandlungen am Tische sitzen wird.Bundesaußenminister Genscher weist mit Recht darauf hin, daß jetzt die nuklearen Kurzstreckenwaffen, die atomare Artillerie, weitere Truppenreduzierungen sowie ein erfolgreicher Abschluß der Chemiewaffenverhandlungen dringend auf die Tagesordnung gehören.
Weltinnenpolitik besagt, daß uns allen daran gelegen sein muß, die politischen Prozesse in der Sowjetunion und den Republiken in ein überschaubares Fahrwasser zu lenken, sie mittelfristig zu unterstützen und zu stabilisieren. Dazu muß die westliche Welt einen spürbaren Beitrag leisten. Es ist im eigenen Interesse des Westens, die politischen Prozesse der bisherigen Sowjetunion gerade auch durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterstützung voranzutreiben und damit dazu beizutragen, daß diese Stabilisierung eintreten kann.Es ist unabdingbar, daß die Hilfe über das bisherige Maß hinaus gesteigert wird. Um das Dringlichste voranzustellen: Angesichts der massiven Transport- und Logistikprobleme in der Sowjetunion muß eine humanitäre Hilfsaktion jetzt und aus unserer Mitte heraus beginnen, um den Armutsschichten, den Rentnern, den Kranken und den sonstigen Unterversorgten im kommenden Winter das Nötigste bereitzustellen.
Viele Menschen sind dort nicht in das Verteilungssystem für elementare Lebensgüter einbezogen. Meine Damen und Herren, es wäre eine schlimme Vorstellung, wenn für die Menschen dort Freiheit und Demokratie gleich zu Beginn dieser Entwicklung mit Hunger und Elend verbunden wären.Dem müssen wir alle entgegenwirken.
Eine andere Frage ist es, ob man weiterhin in eine nicht hinreichend reformierte Wirtschaft wie in ein Faß ohne Boden Milliarden an Finanzhilfe hineinschütten sollte. Hier ergeben sich gerade für die Bundesrepublik, die bisher weit Überdurchschnittliches geleistet hat, objektive Grenzen. Unsere Ressourcen für Großaktionen dieser Art sind so gut wie erschöpft. Wir dürfen auch unsere Volkswirtschaft nicht überfordern.Seit 1989 hat Bonn Verpflichtungen in Höhe von rund 60 Milliarden DM übernommen, und zwar nur für die Sowjetunion. Das sind nach Berechnungen der EG-Kommission 56 % der Gesamtleistungen der EG- Staaten. Im Verhältnis zu den Verpflichtungen, die die Vereinigten Staaten und die Japaner übernommen haben, ist dies noch stärker hervorzuheben. Die Japaner haben sich ja nur mit einem Beitrag von 0,3 der westlichen Hilfszusagen beteiligt.
Ich meine, das ist für eine wirtschaftliche Weltmacht ein armseliges Ergebnis.Nunmehr ist die internationale Staatengemeinschaft in weit größerem Umfang als bisher gefordert. Es muß eine internationale Lastenteilung stattfinden. Was die Bundesrepublik schon bisher getan hat, geht an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Jetzt kommt es darauf an, daß dies in einen internationalen Prozeß
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3034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Hermann Otto Solmseingebettet wird. Es ist daher zu begrüßen, daß sich die G-7-Staaten schnell zusammengefunden haben, um dieses Problem zu erörtern und gemeinsam das Notwendige zu veranlassen.Die Bereitstellung finanzieller Ressourcen wird allerdings nur dann Sinn machen, meine Damen und Herren, wenn die notwendigen inneren Reformen in der Sowjetunion durchgeführt werden. Es geht insbesondere darum, die zentralen Entscheidungen für die Wende hin zu einem marktwirtschaftlichen System zu treffen,
obwohl wir wissen, daß mit diesen Entscheidungen die Probleme nicht sofort gelöst sein werden, sondern daß sie erst dann offen zutage treten. Das zeigt uns ja die Entwicklung in den neuen Bundesländern. Zunächst einmal werden die Probleme aufgedeckt, die in dem alten System geschlummert haben. Dies bedeutet zunächst hohe Arbeitslosigkeit und schwere Verwerfungen in der Wirtschaft. Aber das ist die Voraussetzung dafür, daß eine gesunde Basis für die Zukunft geschaffen werden kann.Wichtige Voraussetzungen dabei sind eine stabile konvertible Währung, privates Eigentum an Produktionsmitteln und an Grund und Boden — das ist ein Thema, um das sich Herr Gorbatschow bisher herumgedrückt hat — , die Zerschlagung und Privatisierung der Kombinate, eine freie Preisbildung, ein freier Außenhandel, die Gewerbefreiheit, die allgemeine Freizügigkeit und die notwendige soziale Absicherung, damit die Entwicklung nicht zunächst in ein Chaos ausufert.Zur Zeit ist das Land ein ökonomischer Zwitter, eine Gemengelage aus Resten der Planwirtschaft und Anfängen von Marktwirtschaft, aus wirtschaftlicher Sicht die schlimmste aller Welten. Dies muß jetzt beschleunigt überwunden werden. Erst wenn durchgreifende Reformen geschehen, wie es auf dem Weltwirtschaftsgipfel gefordert worden ist, kann die Hilfe wirkungsvoll eingesetzt werden.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, hieran anknüpfend, ein Wort zum auswärtigen Dienst, dessen Haushalt heute nachmittag zur Beratung ansteht. Das Augenmerk ist jetzt insbesondere auch auf die Probleme in Osteuropa und in der sich wandelnden Sowjetunion zu richten. So werden sich die neu eröffneten Konsulate in vielen Städten dort insbesondere der deutschen Minderheit anzunehmen haben. In einem organisatorischen Meisterstück ist es gelungen — dafür muß man den Beamten im Auswärtigen Amt ein Kompliment aussprechen — , drei diplomatische Vertretungen in den baltischen Staaten buchstäblich aus dem Boden zu stampfen.
Am Montag dieser Woche haben die Botschafter dort ihren Dienst angetreten und ihre Beglaubigungsschreiben überreicht. Es ist nicht dabei geblieben, daß man nur ein Schild aufgehängt hat; vielmehr ist der Dienst aktiv angetreten worden. In Vollzug der historischen Verpflichtung ging es darum, schnell ein Signal zu setzen, daß wir Estland, Lettland und Litauendie Hand zur Versöhnung und zum Neuaufbau reichen.Meine Damen und Herren, eine Bemerkung zur Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft. Es ist in meinen Augen nicht zu bestreiten, daß es einen Widerspruch zwischen den beiden Zielen der Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft, d. h. der Weiterentwicklung bis hin zur politischen Union, und der Verbreiterung der Europäischen Gemeinschaft, d. h. der Aufnahme von neuen Mitgliedern, gibt. Persönlich glaube ich, nach der Schaffung des gemeinsamen Marktes 1993 werden die Fragen Priorität gewinnen müssen, die mit der Aufnahme bzw. vorläufigen Assoziierung neuer Mitglieder verbunden sind.
Wir müssen den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie des Baltikums reale Perspektiven dafür geben, daß sie Mitglieder der europäischen Wohlstandsgemeinschaft werden können. Sonst gibt es dort keine stabilen Verhältnisse; sonst lassen sich die Wanderungsprozesse von Ost nach West nicht eindämmen. Wir haben keine Wahl. Die zuletzt beigetretenen drei EG-Mitglieder waren vor noch gar nicht langer Zeit selbst von Diktaturen geknebelt. Es war auch die Aussicht auf eine Mitgliedschaft im Kreise der Demokratien Westeuropas, die den Umgestaltungsprozeß entscheidend in Schwung brachte, die half, die Demokratisierung in diesen Ländern fest zu verwurzeln. Lassen wir die jüngsten Demokratien Europas nun nicht in der Kälte stehen. Manche Region Westeuropas, die heute aus dem Strukturfonds der EG unterstützt wird, lebt im Verhältnis zu diesen Ländern in einem echten Wohlstandsgebiet. Hier müssen wir uns also neu besinnen.
Einige Bemerkungen zu Jugoslawien. Die EG, die Bundesrepublik Deutschland und ihre Außenminister wurden in der letzten Zeit vielfach gescholten, daß sie sich nicht entschiedener für eine Befriedung in Jugoslawien eingesetzt hätten.
Die Frage ist nur: Was hätten sie tun können? Wichtig war, daß wir keinen deutschen Alleingang versucht haben,
sondern versucht haben, den Prozeß in die Europäische Gemeinschaft und in die KSZE einzubinden.Die im westlichen Ausland vielfach unterbewertete KSZE, die ja teilweise als Steckenpferd des Genscherismus bezeichnet wird, hat einen Krisenmechanismus entwickelt, der vielversprechend und zukunftsweisend ist, nicht zuletzt unter Aufweichung der schwerfälligen Konsensregel.Die EG hat sich — das ist deutlich hervorzuheben — unter dem formalen Mandat der KSZE nicht ohne Erfolg um Streitschlichtung bemüht und dabei etwas durchaus Neues zuwege gebracht, nämlich das Institut der neutralen Beobachter. Wir können nur hoffen, daß die Völker und die Verantwortlichen in Jugosla-
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Dr. Hermann Otto Solmswien — auch unter Androhung von Boykott- und Anerkennungsmaßnahmen — zur Besinnung kommen; denn in Wirklichkeit können nur sie selbst die Lösungen bewerkstelligen, allerdings nicht mit Waffengewalt, sondern nur über Gespräche und friedliche Maßnahmen.
Meine Damen und Herren, es zeigt sich heute, daß der traditionelle Nationalstaat ein immer weniger geeignetes Instrument ist, Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu geben. Das Zeitalter, in dem sich nationale Interessen in Einflußsphären oder machtstaatlichem Dominanzstreben niederschlugen, ist vorbei. Niemand will die Bedeutung nationalen Selbstbewußtseins leugnen. Die Ereignisse in Jugoslawien und in der Sowjetunion haben sich natürlich auch bei uns tief eingeprägt. Doch in einer enger werdenden Welt kann keine Nation ihre eigenen Interessen zu Lasten anderer Nationen vertreten oder durchsetzen. Die wachsende Interdependenz moderner Gesellschaften zwingt in immer engerer Abstimmung und Harmonisierung zu gemeinsamem Handeln.Lassen Sie mich abschließend hinzufügen: Während der Stunden und Tage des letztlich fehlgeschlagenen Putsches in Moskau mag manchen der Gedanke beschlichen haben, was geschehen wäre, wenn wir zu diesem Zeitpunkt noch von einer Zustimmung der sowjetischen Seite zur deutschen Einheit abhängig gewesen wären. In der Rückschau hat sich damit wohl endgültig erwiesen, daß es von großer Klugheit war, die historische Stunde des letzten Jahres nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, um die deutsche Einheit schnellstens zu vollenden.
Wenn der Putschversuch in der Sowjetunion nun fehlgeschlagen ist, dann um so besser. Uns allen wurde jedoch noch einmal drastisch vor Augen geführt, daß alles auch hätte anders kommen können. Es stand im wahrsten Sinne des Wortes auf des Messers Schneide.Die Gefahr weltweiter militärischer Konflikte scheint zurückzugehen. Neue Herausforderungen in Europa und weltweit kommen auf uns zu. Mit der internationalen Zustimmung zum deutschen Einigungsprozeß ist uns ein Vertrauensvorschuß entgegengebracht worden, den wir durch die Übernahme gewachsener internationaler Verantwortung honorieren müssen.
Herr Kollege Solms, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
Ja, aber gestatten Sie mir bitte, noch zwei Sätze zu sagen. — Meine Damen und Herren, nutzen wir die deutsche Einheit für ein gemeinsames freiheitliches und demokratisches Europa.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Putsch in der Sowjetunion ist gescheitert und mußte scheitern, weil im 20. und 21. Jahrhundert letztlich jeder Versuch scheitern wird, irgendeine gesellschaftliche Ordnung gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.
Aber, ich finde, bei der Aufzählung der Opfer des Stalinismus hat Herr Engholm natürlich zwei Gruppen vergessen. Nicht wenige Sozialistinnen und Sozialisten und sogar sehr viele Kommunistinnen und Kommunisten sind in der Stalin-Zeit selber Opfer des Stalinismus geworden, bis hin zur Ermordung. Ich finde es unredlich, so zu tun, als ob das nicht geschehen wäre.Das signalisiert meines Erachtens das Ende dessen, was man „real existierenden Sozialismus" nannte, zumindest in Europa, und ich gehe davon aus, daß die stalinistischen und poststalinistischen Kräfte für immer abgewirtschaftet haben.
Aber das ist nicht das Ende der Kräfte, die für einen demokratischen Sozialismus auf demokratische Weise streiten; denn bei der notwendigen Lösung der globalen Probleme der menschlichen Zivilisation sind wir keinen einzigen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil, sie spitzen sich täglich zu und verlangen nach Veränderung.Ich habe in den letzten Tagen — das ist ja nicht so üblich — auch einmal versucht, selbstkritisch die eigene Gedankenwelt im Laufe der verschiedenen Jahre und Jahrzehnte zu überprüfen. Dabei ist mir aufgefallen, daß ich im politischen Denken mit einem Begriff aufgewachsen bin, dem Begriff Status quo. Ich glaube, daß viele, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, davon ausgingen, daß die Erhaltung des Status quo eine Voraussetzung für den Frieden in Europa sei.
So ist es über Jahre und Jahrzehnte verkündet worden. Das war auch immer Ausdruck eines sogenannten Stabilitätsdenkens. Ich habe den Eindruck, das ist vielleicht alles mögliche, aber mit Sicherheit kein linkes Denken; denn linkes Denken geht eigentlich immer in Richtung Veränderung, nicht in Richtung Erhaltung der bisherigen Zustände.Das führt andererseits dazu, daß man eben das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen wirklich ernst nehmen muß, d. h. wirklich respektieren muß. Das bedeutet, daß man es nicht aufwiegen kann mit Stabilitäts- oder Status-quo-Gedanken. Wenn eben Völker selbst bestimmen können, heißt das, daß man auch damit leben muß, daß sie Verän-
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3036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Gregor Gysiderungen bestimmen, und heißt es darüber hinaus, daß man auch zu respektieren hat, daß sie solche Veränderungen wünschen, die einem möglicherweise selbst nicht gefallen. Nur scheint mir wichtig zu sein, daß man dann in dieser Haltung auch konsequent ist.Da geht es gegenwärtig in erster Linie um die Frage des Rechts zur Lostrennung von Republiken aus Bündnissen, aus Bündnisstaaten. Das sehen wir in der Sowjetunion, und das sehen wir bei Kroatien und Slowenien in Jugoslawien. Es gibt, glaube ich, niemanden mehr, der dieses Recht hier im Hause bestreiten würde. Aber was würde eigentlich passieren, wenn, sagen wir einmal, ein Bundesstaat der USA einen solchen Wunsch äußerte? Wären dann die meisten im Hause zur gleichen Konsequenz bereit? Was wäre, wenn die Korsen ihr Selbstbestimmungsrecht verwirklicht sehen wollen oder Basken oder Nordiren oder vor allem die Palästinenser?Ich glaube, wir müssen einfach akzeptieren, daß es ein unteilbares Selbstbestimmungsrecht von Völkern und Nationen gibt und daß wir uns dafür einzusetzen haben, unabhängig davon, ob es der jeweiligen eigenen Vorstellung der Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt entspricht oder nicht entspricht. Ich befürchte, daß wir davon noch weit entfernt sind, sondern daß das Selbstbestimmungsrecht nach wie vor abhängig ist von den jeweils eigenen politischen Vorstellungen zur Veränderung dieser Welt.Es ist schon darauf hingewiesen worden, welche Veränderungen in der Sowjetunion eintreten werden, ob es sie in Zukunft so überhaupt noch geben wird, welche Sorgen damit verbunden sind hinsichtlich der zentralen Verfügungsbefugnis, wie es so schön heißt, über Atomwaffen. Ich wünsche mir natürlich, daß es solche Verfügungsbefugnis gar nicht mehr gibt, indem man sie einfach abschafft. Ich finde, daß gerade die Auflösung der Sowjetunion am deutlichsten zeigt, daß der Zeitpunkt gekommen ist, sich endgültig von Massenvernichtungswaffen auf dieser Welt zu verabschieden. Sie können jetzt mit Sicherheit nicht mehr zur Stabilität, sondern höchstens zur Instabilität beitragen.
Übrigens, wenn in dieser Situation keine Initiativen ergriffen werden, dann sage ich voraus, daß wir in gar nicht allzulanger Zeit erleben werden, daß viele sogenannte Entwicklungsländer erklären werden, daß der Besitz von Massenvernichtungsmitteln ein Ausdruck ihrer Souveränität ist. Wir werden die Weiterverbreitung der Kernwaffen und der anderen Massenvernichtungswaffen erleben, wenn wir jetzt nicht wirklich aktiv bei der Abschaffung so voranschreiten, daß deutlich wird: Massenvernichtungswaffen und Souveränität eines Staates haben überhaupt nichts miteinander gemein, im Gegenteil, sie gefährden die Souveränität eines jeden Landes und müssen schon deshalb als Großgefahr der Zivilisation beseitigt werden.Die Sowjetunion wird im Augenblick daran ein besonders großes Interesse haben, weil die Erosion stattfindet. Es käme jetzt darauf an, daß die anderen Atommächte ein gleiches Interesse an den Tag legen, insbesondere die USA.Dann gestatten Sie mir noch etwas, was mir hier gerade bei der Rede des Herrn Dr. Solms aufgefallen ist. Wenn man vom Selbstbestimmungsrecht eines Volkes spricht, kann man der Sowjetunion, der russischen Föderation oder den anderen Republiken von hier aus nicht ernsthaft eine Lektion erteilen, was sie jetzt alles an wirtschaftlichen Veränderungen durchzuführen hätten, damit eine Hilfe durch die Bundesrepublik Deutschland gewährleistet werden kann. Das ist nämlich genau die Negierung des Selbstbestimmungsrechts. Daß man in Gesprächen, in Verhandlungen über alles mögliche auch am Wirtschaftssystem sprechen kann, ist das eine. Daß man aber Bedingungen diktiert und hier sozusagen lehrmeisterhaft auftritt und sagt, was da alles zu verändern ist, damit weiterhin Hilfe kommt, ist die Negierung des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes.
Meines Erachtens ist doch ganz klar, daß auf Jahrzehnte hin dort ein wirtschaftliches und politisches System existieren wird, das sich ganz wesentlich vom westlichen unterscheidet. Andere Vorstellungen sind meines Erachtens völlig unrealistisch.Hinsichtlich des Lostrennungsrechts von Staaten ist mir natürlich noch etwas aufgefallen. Interessanterweise gibt es nach meinem Überblick — Sie mögen mich eines Besseren belehren — ein solches verfassungsrechtlich komischerweise garantiertes Recht nur in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Nun war es, als es dort garantiert wurde, zunächst nicht den Fetzen Papier wert, auf dem es stand; das ist klar.
Selbst in der Stalinschen Verfassung stand dieses Lostrennungsrecht. Aber es stand immerhin darin. Darauf können sich die Völker jetzt stützen, nachdem eine neue Zeit begonnen hat. Es gibt solche Rechte nicht in der französischen Verfassung, nicht in der britischen. Und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, wenn ich das einmal sagen darf, kennt zwar den Beitritt, aber keinen Austritt. Kurzum, wir werden es hier in Zukunft noch mit einer Reihe von Fragen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen zu tun bekommen, die, glaube ich, noch nicht bis zum Ende durchdacht sind.Natürlich hoffen wir alle — ich will das an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen —, daß keine russische Dominanz im Vergleich zu den anderen Republiken eintritt, also sozusagen diesbezüglich ein Schritt zurückgemacht wird, sondern die Gleichberechtigung der Republiken und Nationen in der bisherigen Sowjetunion für die Zukunft wirklich garantiert wird.Lassen Sie mich zur Wirtschaftshilfe aus dem Westen noch etwas sagen. Sie kommt meines Erachtens viel zu spät. Die Demütigung von Gorbatschow bei dem G-7-Treffen in London hat die Putschisten mit motiviert.
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Dr. Gregor Gysi— Weil sie in ihrer Erklärung darauf z. B. direkt Bezug genommen haben. — Daraus hat man zu lernen, daß Hilfe uneigennützig zu gewähren ist und genau nicht an Bedingungen zu knüpfen ist und daß man in einer solchen sensiblen Situation, in der sich die Sowjetunion zu dieser Zeit befand, auf jede Demütigung verzichten müßte.Gestatten Sie mir noch etwas zur Reaktion des Westens zu sagen. Ich verfolge in diesem Zusammenhang alle Diskussionen über das Asylrecht, über die Änderung des Grundgesetzes, über die Frage, Einwanderungsland ja oder nein, und bin schockiert. Ich bin deshalb schockiert, weil die Veränderungen im Osten offensichtlich dazu führen, daß sich hier immer stärker ein Abschottungsdenken durchsetzt. Ich sage Ihnen: Ein Abschottungsdenken ist gefährlich.
Wer die Einheit dieses Europa und letztlich auch der Welt will und in ihrer Ganzheit begreifen will, wird über Visabestimmungen die Probleme nicht lösen.Es ist und bleibt eine Tatsache, daß der reiche Westen einschließlich der Bundesrepublik Deutschland in nicht unbeachtlichem Umfang auf Kosten der Dritten und der Vierten Welt lebt.
Gleichzeitig zu sagen, wir machen für sie die Türen zu, ist nicht nur amoralisch, sondern auch höchst kurzsichtig, weil das letztlich niemals Erfolg hat. Das kann ich Ihnen garantieren; ich komme aus einem Land, in dem es extreme Abschottungspolitik gab.
— Ja — um es vorsichtig zu formulieren —. Das will ich ja durchaus respektieren.
Ich will Ihnen noch etwas sagen. Neues Denken fehlt auch in allen Fragen der Rüstung und der Nato. Der Ministerpräsident Engholm hat bereits darauf hingewiesen. In einer Zeit, in der man radikal abrüsten und über neue Sicherheitsstrukturen nachdenken könnte, wird hier im Westen diesbezüglich weitergemacht, als ob nichts wäre. Schlimmer noch: Es findet eine Ausweitung z. B. auf die neuen Bundesländer statt, und es wird sogar mit Tiefflügen und ähnlichen Maßnahmen begonnen, um deutlich zu zeigen, daß es im Militär so weitergeht wie bisher.
Eine Begründung dafür ist von der Bundesregierung nicht geliefert worden. Sie kann auch nicht geliefert werden. Das beweist, daß das neue Denken hier im Westen bisher am wenigsten fruchtet.Gorbatschow war bekanntlich mit dem Ziel neuen Denkens angetreten. Das können Sie ihm nicht abstreiten.
— Wissen Sie: ich habe hier heute Herrn Dr. Dregger gehört. Nun frage ich Sie im Ernst, welche Wirkung das neue Denken seit Gorbatschow auf ihn gehabt hat. Ich habe keine Ergebnisse verspürt.
Für mich ist das alles altes Denken, wie man es seit Jahren und Jahrzehnten kennt.
Das hätte selbst Ihnen auffallen müssen.
Ich will Ihnen noch etwas sagen. Wer den europäischen Einigungsprozeß wirklich wünscht, muß ja zur Kenntnis nehmen, daß es unterschiedliche Tendenzen gibt: einerseits die Bildung neuer Nationalstaaten, andererseits die engere Verflechtung. Hier hätte die Bundesrepublik Deutschland natürlich eine große Aufgabe gehabt, nämlich an Hand der Vereinigung mit den neuen Bundesländern ein Beispiel auch europäischer Einigung zu setzen, das überzeugend ist. Aber dieses Beispiel ist weder ökonomisch noch sozial überzeugend. Wir haben es mit Berufsverboten zu tun. Kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen werden „abgewickelt" . Ich erinnere nur an die jüngsten Verleumdungen — wie sich nun zu einem beachtlichen Teil herausgestellt hat — der Charité. Es findet eine juristische Abwicklung in der Form statt, daß sich Siegermentalität immer mehr durchsetzt.Genau diese Beispiele braucht dieses Europa nicht, wenn man eine Einigung in Europa anstrebt und wenn man unter Europa nicht nur die Europäische Gemeinschaft, sondern wirklich ganz Europa, d. h. auch Osteuropa, versteht.Es ist hier etwas zu der Frage der Abschaffung der Wehrpflicht gesagt worden. Es ist von allen Fraktionen bisher vor den Gefahren einer Berufsarmee gewarnt worden.Erstens gibt es eine ganze Menge Berufsarmeen, und zweitens kommt es ja wohl auf die Zielstellung an. Wenn man davon ausgeht, Schritt für Schritt Armee überhaupt abzuschaffen, stellt die Abschaffung der Wehrpflicht eben den ersten Schritt dazu dar. Meines Erachtens sind jetzt, zum Ende des 20. Jahrhunderts, die Voraussetzungen dafür sehr wohl gegeben, da der Ost-West-Konflikt praktisch nicht mehr existiert und auch ein gegenseitiges Rüsten nicht mehr existiert, vielmehr das Rüsten immer einseitiger wird, wenn die Welt immer westlicher wird.Ich habe vorhin gesagt, daß zwar das Ende der orthodoxen stalinistischen Kräfte — wie ich meine: völlig zu Recht — gekommen ist, daß es aber demokratische Sozialistinnen und Sozialisten auch in Zukunft geben wird, weil die globalen Probleme nach
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3038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Gregor Gysiwie vor nicht nur ungelöst sind, sondern sich zuspitzen. Ich habe darauf hingewiesen, daß die rechten und die konservativen Kräfte dafür nicht einmal den Ansatz einer Konzeption haben. Der Abstand zwischen der Ersten Welt einerseits und der Dritten und der Vierten Welt andererseits wächst täglich. Wo ist denn das Konzept, um diese Unterschiede Schritt für Schritt abzubauen und damit übrigens auch die Voraussetzung zu schaffen, daß die Menschen in ihren eigenen Ländern leben wollen?In der Frage der Gleichstellung der Geschlechter befürchte ich sogar einen Rückschritt, wenn sich die Vorstellungen der CDU/CSU zum § 218 durchsetzen.In der Frage der sozialen Unterschiede im eigenen Land gibt es keine Entwicklung derart, daß man sehen könnte, sie werden abgebaut. Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger in ganz Deutschland nimmt täglich zu. Die sozialen Unterschiede wachsen.
— Das ist eine Tatsache. Das können Sie jeder Statistik entnehmen!Diese Bundesrepublik Deutschland, die sich Sozialstaat nennt,
hat es bis heute noch nicht einmal geschafft, eine Mindestrente oder eine Mindestsicherung einzuführen. Das wäre in einer 40jährigen Entwicklung doch wohl das mindeste gewesen.
Die monopolistische imperiale Macht der transnationalen Konzerne besteht weiterhin. Der ökologische Umbau hat nicht begonnen.
— Wissen Sie, gerade die Triumphe dieser Konzerne, die Triumphe der Rüstungspolitik, die Triumphe einer antisozialen Politik sind es ja, die die Welt so gefährlich machen.
Herr Kollege Gysi, wenn Sie sich jetzt noch auf einen Dialog einlassen, überschreiten Sie Ihre Redezeit erheblich. Sie ist nämlich schon abgelaufen.
Vor diesen Gefahren zu warnen ist und bleibt die Aufgabe der Opposition, auch die Aufgabe der Opposition PDS.
Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen diese Haushaltsdebatte zum Zeitpunkt einer Umbruchsituation, wie es sie in Europa in solchem Ausmaß zuletzt als Folge des Zweiten Weltkrieges gegeben hat. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums, der 1989 mit den revolutionären Ereignissen in Ostmitteleuropa begann, vollendet sich nun mit dem Auseinanderfallen der Zentralmacht selbst. Das System von Jalta gehört endgültig der Geschichte an.Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der der letzte Akt des über 70 Jahre währenden Trauerspiels des Sowjetkommunismus in den letzten Wochen über die politische Bühne geht, hat Millionen von Menschen Wechselbädern unterschiedlichster Gefühle ausgesetzt. Eben noch herrschten Angst und Verunsicherung über die ersten Meldungen vom Moskauer Putsch, und schon ist der Spuk vorüber, gerade an jenem 21. August — die Ironie oder auch die Gerechtigkeit der Geschichte will es so — , an dem 23 Jahre zuvor sowjetische Panzer den Prager Frühling zermalmten. Diesmal widerstanden die Demokraten den Panzern.Dies ist eine erste Lehre der jüngsten Geschichte: Die Demokratiebewegung des Ostens ist inzwischen so stark, daß sie den verzweifelten Versuchen von Dogmatikern und Hardlinern aller Couleur, das Rad der Geschichte gewaltsam zurückzudrehen, erfolgreich entgegentreten kann.
Eben noch rieben sich einige alte Männer in Moskau, Peking, Havanna und Belgrad vor Vergnügen die Hände, und schon wechselt die Szene — um im Bühnenbild zu bleiben —: Die drei häßlichen Brüder stürzen zu Boden, nämlich der KGB, die KPdSU-Nomenklatura, der militärisch-industrielle Komplex.Dies ist das Verdienst vieler mutiger, zumeist junger unbekannter und im allgemeinen recht unheroischer Menschen in Rußland und anderen Republiken der bisherigen Sowjetunion, das Verdienst der Demonstranten, der Streikenden, der Soldaten und Offiziere, die den Befehlen der Junta nicht gehorchten, derjenigen Menschen, die mit ihren Körpern das russische Parlament schützten und vor deren Toten wir uns verneigen, der vielen, die zivilen Ungehorsam leisteten.Dies ist eine zweite Lehre aus den Ereignissen: Der Freiheitswille der Völker ist ein ausschlaggebender Faktor des politischen Fortschritts, ungeachtet aller mehr oder minder erfolgreichen politischen und diplomatischen Balanceakte.Unbedingt müssen neben diesen Hauptakteuren auch die verdienstvollen Politiker genannt werden, deren aufrichtige Haltung den Widerstand beflügelte: Jelzin vor allem, die Bürgermeister von Leningrad und Moskau, der ehemalige Außenminister Schewardnadse, um nur einige zu erwähnen.
Nicht ungenannt bleiben darf schließlich Michail Gorbatschow. Da er immer Kompromisse mit den Dogmatikern und Politbürokraten eingegangen ist und sich nie eindeutig für die Demokratiebewegung
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Gerd Poppeentscheiden konnte, da er schließlich selbst die Putschisten mit der erforderlichen Machtfülle ausstattete, ist er ohne Zweifel mitverantwortlich für das Geschehen. Andererseits aber konnten sich die demokratischen Kräfte erst auf Grund des Versuchs von Glasnost und Perestroika formieren. Dies bleibt ebenso unzweifelhaft Gorbatschows Verdienst. Noch vor zwei Jahren wäre der Widerstand der Moskauer und Leningrader Bevölkerung völlig undenkbar gewesen.Wir beglückwünschen die Menschen in Rußland, im Baltikum und in anderen Teilen der bisherigen Sowjetunion, die mit ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit den Putsch zum Scheitern brachten. Wir haben jedoch auch allen Grund, uns selbst zu gratulieren, drohte doch ein vorläufiges Ende unserer europäischen Träume, ein Ende der Abrüstung, ein neuer kalter Krieg oder gar Schlimmeres. Wir alle sind noch einmal davon gekommen. Das ist leider nur zum geringsten Teil das Ergebnis westlicher Politik.So manch führender Politiker des Westens saß unter den Zuschauern in der ersten Reihe, wußte zunächst nicht recht, welchen der Akteure er beklatschen sollte, und betrat die Bühne erst, als die Kulissen schon weggeräumt wurden. Es bleibt unerklärlich, warum schon in den ersten Stunden des Putsches von „neuen Machthabern" oder von der „neuen Führung" gesprochen wurde und wieso ausgerechnet gegenüber Leuten, die ihre Panzer vor einem demokratisch gewählten Parlament auffahren ließen, die Erwartung zum Ausdruck gebracht wurde, die Menschenrechte einzuhalten. Warum schließlich wurde angesichts des drohenden Blutbades das Schwergewicht der politischen Forderungen auf die erhoffte Vertragstreue gelegt? Ein ganzer Tag mußte verstreichen, ehe der Westen angemessen reagierte. Dieser Tag hätte immerhin entscheidend sein können.Nun muß man allerdings anerkennen, daß wie die vielen anderen Menschen, die ich erwähnte, auch Politiker irritiert und verunsichert sein können, Furcht, Trauer und neue Hoffnung zeigen dürfen. Deshalb mache ich diese Anmerkungen nicht, um auf kleinkarierte Weise ein Haar in der Suppe der deutschen Außenpolitik zu finden, sondern einzig und allein deswegen, weil ich weiß — und das auch aus eigenen Erfahrungen —, wie wichtig für Menschen in einer scheinbar ausweglosen Situation jede Ermutigung ist, wie sehr sie eine moralische Unterstützung benötigen, selbst wenn diese nur akustisch über Kurzwellensender zu empfangen ist.
Das ist eine uralte Erfahrung der ost- und mitteleuropäischen Demokratie- und Menschenrechtsbewegung. Die direkte Unterstützung der engagierten Menschen, materiell und immateriell, erzeugt mindestens ebenso viele Anstöße in Richtung der erhofften demokratischen Veränderung wie jede noch so geschickte Diplomatie.
Ich bin allerdings geneigt, in dem erwähnten Detail des Ausbleibens einer unverzüglichen unmißverständlichen Reaktion aus dem Westen eher den Ausläufer eines systematischen Fehlers westlicher Politik zu erkennen. Allzu lange hat der Westen ausschließlich auf die Reformierbarkeit der Moskauer und auch der Belgrader Zentrale gesetzt. Er hat das Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar prinzipiell akzeptiert, nicht aber den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Demokratie und nationaler Selbstbestimmung zur Kenntnis nehmen wollen, der für die östlichen Gesellschaften und insbesondere auch für die Großreiche Sowjetunion und Jugoslawien seit Jahren eine entscheidende Schubkraft der Veränderung gewesen ist.Daß Marktwirtschaft mit der führenden Rolle der KPdSU nicht vereinbar ist, daß die Perestroika bei aller Gutwilligkeit der Reformer scheitern muß, wenn die Zentralmacht zu Lasten der demokratischen Kräfte in den einzelnen Republiken gestärkt wird, daß ein erheblicher Teil der finanziellen Mittel, die der Westen, vor allem die Bundesrepublik zur Verfügung gestellt hat, versickern mußten und niemals der Bevölkerung, sondern allenfalls der Machterhaltung des Apparats zugute kamen, das haben nicht nicht nur wir vom Bündnis 90 von dieser Stelle aus mehrfach betont — das sei nur beiläufig bemerkt — , sondern das ist auch die Auffassung kluger Analytiker aus allen politischen Lagern gewesen. Es lohnt sich schon, das mit dem heutigen Wissen nachzulesen und zu vergleichen. Lesen Sie beispielsweise in Heft 4 der Zeitschrift „Europa-Archiv" vom Februar dieses Jahres den Artikel über „Die reaktionäre Wende in der Sowjetunion". Dort wird die Vorgeschichte jenes „nationalen Rettungskomitees" sehr eindringlich beschrieben. Selbst die Namen der mutmaßlichen Putschisten sind durchweg genannt.Spätestens die Absetzung des Innenministers Bakatin und erst recht der Rücktritt Schewardnadses hätten das äußerste Alarmsignal für westliche Politiker sein müssen. Statt die reale politische Gefahr durch sofortiges Handeln bekämpft zu haben, müssen sich so manche Politiker der EG — auch der Bundesrepublik — an ihre zögerliche Haltung angesichts der brisanten Situation in den baltischen Ländern oder daran erinnern lassen, wie beschämend Jelzin seinerzeit im Europäischen Parlament behandelt wurde.
— Ich sage nicht, von wem im einzelnen. Aber ich denke, man sollte sich insgesamt daran erinnern.
Bei all den Warnungen und detaillierten Analysen, die uns seit mehr als einem Jahr erreicht haben, muß es doch sehr verwundern, auf welche Weise sie in den Wind geschlagen oder ignoriert wurden und wie überrascht und gelähmt viele Politiker angesichts des tatsächlich stattfindenden Putsches gewesen sind, obwohl es Leute gegeben hat, die sogar den Zeitpunkt recht genau vorausgesagt haben.
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3040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Gerd PoppeDiese Kritik sei nicht den Geheimdiensten ins Stammbuch geschrieben, von deren Überflüssigkeit ich von jeher überzeugt bin,
sondern allen politisch relevanten Kräften in den USA und Westeuropa und natürlich vor allem in der Bundesrepublik, wobei ich keine Partei und keine demokratische Bewegung ausnehmen will.Die dramatischen Ereignisse in der Sowjetunion und der ihnen folgende politische Umbruch haben die öffentliche Aufmerksamkeit für die kriegerischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien zeitweise überlagert, bei manchen vielleicht auch falsche Hoffnungen erweckt. Daß die schon mehrfach vereinbarte Waffenruhe nicht eingehalten wird, war von vornherein absehbar. Die großserbischen Ambitionen der Nationalisten um Milosevic und ihr drohender Machtverlust im Falle einer demokratischen Entwicklung lassen wenig Hoffnung auf Dialog und Verhandlungen. Das gleiche gilt für die Führung der sogenannten jugoslawischen Volksarmee, die ihre Legitimationsgrundlage nach den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens nahezu vollständig eingebüßt und sich mittlerweile in eine serbische Armee verwandelt hat. Armee und serbische Milizen werden den Krieg — ungeachtet aller Appelle und Beschlüsse — weiterführen.Die kroatische Regierung ist vielleicht nicht viel weniger nationalistisch als die serbische. Sie ist nur schwächer, da sie nicht die Armee als Verbündeten und sogar einen Großteil ihrer Waffen an sie abgegeben hat. Es ist durchaus zu bezweifeln, daß die Vorstellungen der kroatischen Regierung über den Umgang mit der serbischen Minderheit und den Nachbarrepubliken den Maßstäben einer demokratischen Verfahrensweise, des Völkerrechts und der Respektierung der Menschenrechte standhielten, hätte diese Regierung die Möglichkeit zu unbegrenzter Entfaltung.Aber die kroatische Regierung ist demokratisch gewählt. Sie hat das ausdrückliche Mandat, die Souveränität Kroatiens gegen die altkommunistische Föderation einerseits und großserbischen Herrschaftsanspruch andererseits durchzusetzen. ihr Anspruch auf völkerrechtliche Anerkennung ist ebenso berechtigt wie der slowenische. Aber würde; dies nicht zwangsläufig einer De-facto-Anerkennung Serbiens gleichkommen, einschließlich seiner Machtansprüche im Kosovo? Würde es nicht nur den Schutz des eher „europäischen" Teils auf Kosten des eher „balkanischen" Teils bedeuten und neue gewaltsame Auseinandersetzungen in den anderen Regionen Jugoslawiens zur Folge haben?Diese Befürchtungen sind alles andere als unbegründet. Aber der jetzt stattfindende Bürgerkrieg kann durch Waffenstillstandsabkommen und EG-Beobachter nicht kontrolliert, noch weniger gestoppt werden. Der Konfliktschlichtungsmechanismus der KSZE und die Vermittlungsversuche der EG haben nicht den erhofften Erfolg gehabt. Zu befürchten ist, daß auch die geplante Friedenskonferenz erfolglos bleibt.Eine Chance könnte vielleicht in der Einbeziehung der UNO liegen. Das hätte die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens als Völkerrechtssubjekte zur Voraussetzung. Trotz der Gefahren für den Süden des bisherigen Jugoslawien, trotz der Skepsis bezüglich der Minderheitenpolitik der kroatischen Regierung sollte sich die Bundesregierung dazu entschließen, Slowenien und Kroatien anzuerkennen. Andere Staaten würden sich anschließen, und es bestünde immerhin die Chance, die UNO zu aktivieren, die den Aggressor ermitteln, verurteilen und mit Sanktionen belegen könnte. Sollte es zum letzten Mittel — zu einem militärischen Eingreifen mit dem Ziel der Trennung der Konfliktpartner — kommen, so wäre ohnehin einzig die UNO zur Einleitung eines derartigen Schrittes berechtigt.Vorerst bleibt nur, alle sofort praktizierbaren Möglichkeiten zur Eindämmung des Krieges auszuschöpfen. Dazu gehört, ein totales Verbot des Exports von Rüstungsgütern nach Jugoslawien weltweit durchzusetzen. Dazu gehört auch die politische, materielle und moralische Unterstützung aller Friedenskräfte. Und wenn ich vorhin meine Bewunderung für die Moskauer und Leningrader, die passiven Widerstand leisteten, zum Ausdruck brachte, so sind an dieser Stelle vor allem die Soldatenmütter in Jugoslawien zu nennen, die gegen diesen Krieg bisher vermutlich mehr erreicht haben als alle europäischen Institutionen zusammengenommen.
Die radikalen Veränderungen in Europa, die noch lange nicht abgeschlossen sind, verlangen eine ebenfalls radikale Änderung westlicher Außenpolitik, die sich selbstverständlich auch im Bundeshaushalt niederschlagen muß.Eine angemessene Reaktion auf die neue Situation wären die seit langem angekündigte Änderung der Strukturen und Strategien der NATO und eine drastische Reduzierung des Verteidigungshaushalts der USA und der Bundesrepublik. Statt dessen werden die Unsicherheit des sowjetischen Atomwaffenarsenals und die potentielle Gefahr aus dem Osten weiter beschworen, als gäbe es die Unabhängigkeits- und Atomwaffenverzichtserklärungen der ehemaligen Sowjetrepubliken nicht. Selbstverständlich muß das sowjetische Raketenpotential abgerüstet werden. Es gibt keinen plausiblen Grund für dessen Beibehaltung. Unverzüglich müssen weitere Abrüstungsverhandlungen stattfinden. Aber ebenso selbstverständlich ist der Westen jetzt an der Reihe, deutliche Zeichen zu setzen.Aber auch die Europäische Gemeinschaft muß neue Wege beschreiten. Allein östlich ihrer Grenzen sind fast 400 Millionen Menschen mit der Bewältigung des Stalinismus und seiner Folgen konfrontiert. Diese Menschen stehen vor der Tür der EG. Wenn der deutsche Außenminister in der „Welt am Sonntag" erklärt, „Stabilität und Vitalität ... der EG, des Europarates und des westlichen Bündnisses bilden das Fundament, das den Prozeß des Wandels in Stabilität garantiert" , so heißt das mit anderen Worten, daß die EG unbeirrt ihren Weg zur politischen und zur Wirtschafts- und Währungsunion weitergeht, während sich der „Prozeß des Wandels" — ein reichlich ver-
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Gerd Poppeharmlosender Begriff für die osteuropäische Gegenwart — mit westlicher Wirtschaftshilfe schon irgendwie konsolidieren wird.Der neuen Situation wird eine derartige EG-Politik nicht gerecht. Der Countdown zur Vollendung einer westeuropäischen Abschottung muß gestoppt werden. Ein neues Europa entsteht nicht dadurch, daß die Zwölf in den kommenden Jahren den einen oder anderen Staat in ihren illustren Kreis aufnehmen, zumal die Aussicht besteht, daß wir es dann mit bis zu 20 zusätzlichen ost- und südosteuropäischen Staaten zu tun haben. Ein neues Europa muß auch die neuen Partner stärker zu Wort kommen lassen, d. h. nicht nur ihre eigenen Aufnahmeanträge formulieren lassen. So wichtig schnelle Assoziierungsverträge mit den osteuropäischen Staaten sind, so erforderlich ist es auch, parallel dazu mit einem schrittweisen Prozeß zu beginnen, der Lastenausgleich und Reichtumstransfer, die gemeinsame Staatsbürgerschaft und ein gemeinsames Parlament, vielleicht ein Parlament der Länder oder Regionen, in absehbarer Zukunft zur Realität werden läßt.Auch andere Fundamente der gegenwärtigen europäischen Ordnung sind von den Veränderungen betroffen. Die Helsinki-Schlußakte, so verdienstvoll sie gewesen ist — die Osteuropäer wie auch wir in der damaligen DDR haben dies sehr wohl erfahren —, ist inhaltlich erschöpft. Die neuen Themen der Minderheitenrechte, der gewaltfreien Lösung von Grenzproblemen, der Solidarität mit den Ärmsten der Welt müssen jetzt ins Zentrum der Diskussion gerückt werden. Eine neue europäische Charta muß erarbeitet werden, die über Helsinki und auch über die Charta von Paris hinausreicht und in der die Vision eines Europa der Regionen Gestalt annimmt.Stützen westlicher Außenpolitik oder, besser gesagt, deren Mythen sind die Vorstellungen, man könne sich auf eine vernünftige Politik von oben, d. h. zwischen Staaten, beschränken und könne mittels finanzieller Hilfen die gewünschte politische Entwicklung entscheidend steuern. Spätestens die Entwicklung der Sowjetunion zeigt, daß sehr viel differenzierter vorgegangen werden muß. Die nach Unabhängigkeit strebenden Einzelrepubliken müssen unterstützt und ihrem Wunsch nach politischer und wirtschaftlicher Anbindung sollte entgegengekommen werden, wenn sie einen dauerhaften Verzicht auf Gewalt und die Garantie der Menschenrechte, insbesondere der Minderheitenrechte, glaubhaft machen können.Das Streben nach nationaler Unabhängigkeit und die Demokratiebewegung haben sich gegenseitig verstärkt und die Machtzentrale geschwächt. Der Abbau der zentralistischen Macht aber birgt neue Gefahren in sich, die mit einer nach westlichen Vorstellungen anachronistischen Neugründung vieler, darunter sehr kleiner Nationalstaaten verbunden sind. Es ist zu vermuten, daß aber gerade durch die Anerkennung und die verstärkte Einbindung in gesamteuropäische Politik und Wirtschaft die Nationalisten zurückgedrängt und die Demokraten gestärkt werden können. Dies gilt auch angesichts der Übermacht Rußlands. Niemand kann sich ein großrussisches Reich wünschen, das an die Stelle des Sowjetimperiums tritt.Aber auch Jelzin muß unterstützt werden, nicht weil er der neue „starke Mann" ist, sondern weil seine Politik eine Gewähr für das Verschwinden des alten Apparates bieten kann. Die stalinistischen und dogmatischen Kräfte werden am ehesten in einer von Gorbatschow geführten neuen Union zu überleben versuchen. Eine starke Demokratiebewegung aber würde auch in einer zur Konföderation reformierten Union mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik ein ausreichendes Korrektiv gegenüber den problematischen nationalistischen Tendenzen in vielen Einzelrepubliken bilden können.Wird die westliche Außenpolitik in der bisherigen eingleisigen Weise fortgesetzt, so ist jetzt schon absehbar, daß sie mit der hier nur angedeuteten Vielschichtigkeit der Probleme überfordert ist. Erfolgreich kann sie nur sein, wenn sie sich all jenen Kräften zuwendet, die sich im Sinne einer „civil society" auf allen Ebenen für Demokratie und Menschenrechte, für die Beseitigung von Kriegsgefahr und Umweltzerstörung einsetzen.Dazu geeignet sind beispielsweise konkrete Partnerschaften zwischen Städten und Regionen, Parteien und Bürgerbewegungen, kulturellen, kirchlichen, wissenschaftlichen und Bildungseinrichtungen, Familien und einzelnen. Vieles davon erfordert erhebliche finanzielle Zuwendungen von Bund und Ländern. Hier ist das Umdenken, die Phantasie, die Kreativität der Haushälter ebenso gefordert wie die der Außenpolitiker.Niemand bestreitet, daß die Bundesrepublik erheblich mehr finanzielle Leistungen für die Entwicklung Osteuropas erbracht hat als alle anderen EG-Staaten. Allein, der Hinweis darauf reicht nicht. Wenngleich sich alle EG-Staaten in die Pflicht genommen sehen sollten, so werden auch uns zusätzliche Opfer abverlangt, wollen wir nicht jugoslawische Verhältnisse in vielen Teilen der bisherigen Sowjetunion mitzuverantworten haben, einschließlich der zu erwartenden gigantischen Fluchtbewegungen.Ein sinnvoller Einsatz zusätzlicher Bundesmittel unter gleichzeitiger Reduzierung des Verteidigungshaushaltes in gleichem Umfang könnte verhindern helfen, daß ein solches Katastrophenszenario Realität wird.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Freiherr von Stetten hat gestern in einem Zwischenruf ehrfürchtig davon gesprochen, daß der Bundeskanzler den „Mantel der Geschichte" ergriffen habe. Nun, der Bundeskanzler wird sich den Namen sicher für große zukünftige Verwendungen merken. Aber ich frage mich doch: War es nicht eher so, daß der Mantel der Geschichte den zögernden Bundeskanzler ergriffen hatte? Waren es nicht der Bundeskanzler und Herr
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Ortwin LowackSchäuble, die noch Ende 1988/Anfang 1989 mit Honecker einen Vertrag über deutsche Leistungen im Wert von 8,6 Milliarden Mark abgeschlossen haben,
die einem Anheben der Transitpauschale um 3,2 Mil-harden DM, das auf zehn Jahre fortgeschrieben wurde, zugestimmt haben?
Als uns in Ost-Berlin jüngere SED-Funktionäre schon gesagt haben „Wir wollen den Mann in einem Jahr weghaben! ", hat der Bundeskanzler noch in Honekker investiert.
Es war die größte Stützungsaktion für das alte Regime.
Nicht die deutsche Einheit hat Helmut Kohl gebraucht — auch wenn hier schon eifrig die Legenden gestrickt werden —; ich habe eher den Eindruck, Helmut Kohl hat die deutsche Einheit gebraucht, um sich auf diese Art und Weise aus einer Reihe von Wahlniederlagen wieder herauszuziehen.
Ich denke, auch darüber sollten wir einmal sprechen: Meine sehr verehrten lieben Kollegen — vor allen Dingen in der CDU — , glauben Sie nicht, daß das Gären in Ihrer Partei auch davon herrührt, daß man genau spürt, daß diese Revolution, die drüben als einmaliger Akt über die Bühne gegangen ist, von seiten der Spitze der Bundesregierung noch nicht die gebührende Antwort erhalten hat?
War es nicht Gorbatschow, der fairerweise selbst eingeräumt hat — ganz anders als der Bundeskanzler —, daß er die Einheit nur nicht behindert habe, aber jedenfalls nicht entscheidend ursächlich für die deutsche Einheit gewesen sei?Ich darf daran erinnern: Es gab aus der CDU/CSU-Fraktion eine Delegation, die im Juni 1990 in Moskau war. Damals lautete die Forderung von einem Hardliner wie Achromejew: 4 Milliarden DM für den Abzug der Sowjets aus Deutschland! Das haben wir noch empört zurückgewiesen, weil wir gesagt haben: Für eine Besatzungsarmee — und dann noch für so lange — gibt es keine innere Berechtigung; dieses Geld kann dem deutschen Steuerzahler nicht abverlangt werden.Ich frage Sie: War es nicht der Herr Bundeskanzler, der daraus hinterher in wenigen Telefongesprächen einen Kredit zunächst in Höhe von 5 Milliarden DM und dann noch ein Paket von über 15 Milliarden DM— dieses Paket, das Theo Waigel dann unterschreiben durfte — zurechtgezimmert hat?
Stand nicht er in der Verantwortung, als es um die 17 Milliarden DM Transferrubel ging, die uns heute belasten,
als es um die 22 Milliarden DM Hermes-Bürgschaften ging, von denen wir nicht wissen, ob und wann wir das Geld jemals wiederbekommen?War es nicht tatsächlich so — das frage ich, weil heute früh die KSE angeführt wurde — , daß die Lebensmittellieferungen vieler gutmeinenden Deutschen deswegen nicht bei den Adressaten in der Sowjetunion angekommen sind, weil die Sowjetunion in der größten Transportaktion der Geschichte — zur Umgehung dieser KSE — ohne deutschen Widerspruch tausende, zehntausende von Panzern und Großgeräten nach östlich des Urals zurückgezogen hat und damit die Transportwege so verstopft hat, daß die Lebensmittel nicht ankamen? Wo war der deutsche Protest?
Ist hier nicht Geld in ein falsches System gesetzt worden, Geld, das uns heute fehlt? — Heute wissen wir, wo es hätte angelegt werden müssen. Heute sagt Theo Waigel zu Recht: Ich habe es nicht mehr; wir können auf diesem Weg nicht weitermachen.Wir haben den Putsch in der Sowjetunion erlebt. Waren es nicht der Regierungssprecher Helmut Kohls und der Herr Bundesaußenminister — er noch in einem Interview des Deutschlandfunks am Dienstagmorgen — , die ausdrücklich vom „amtierenden Staatspräsidenten Janajew" gesprochen haben? — Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch das ist leider ein Teil der Wahrheit der Geschichte.Und Jelzin? — Natürlich ist er hier schäbig behandelt worden, auch noch in einem Augenblick, als jeder vorausgesehen hat: Dieser Mann wird eines Tages der Präsident Rußlands werden. Die Wahlen standen doch an! Das hätte man doch vorhersehen können!Zu Jugoslawien wäre viel zu sagen. Es wurde rechtzeitig gewarnt — darüber werden wir uns zu unterhalten haben — , übrigens schon im Februar. Die Bundesregierung hat damals — sicherlich auch abgelenkt durch die Golfsituation — nichts getan. Im Juni ist die Forderung nach einer Anerkennung Sloweniens und Kroatiens ebenfalls unbeantwortet geblieben.Das möchte ich hier doch einmal klar zum Ausdruck bringen: Ich bedaure, daß die deutsche Außenpolitik mehr oder weniger zum Privatvergnügen eines Duumvirats an der Spitze geworden ist, bestehend aus Bundeskanzler und Außenminister. Dafür, daß so viele Kanzlerknechte das verdrängen, kann ich nichts,
aber das erklärt vielleicht, daß wir nicht nur in derGolfregion die Situation überhaupt nicht aufgearbei-
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Ortwin Lowacktet haben. Es wurde verdrängt. Es wurde hier nicht diskutiert, weil man eine Diskussion darüber nicht haben wollte.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. — Versagt wurde auch in Jugoslawien, auch in der Sowjetunion, auch in China, worüber wir noch zu debattieren haben werden.
Ich sage voraus: Auch die Politik gegenüber Polen, über die wir am Freitag zu debattieren haben werden, wird so, wie sich das hier mancher vorgestellt hat, nicht laufen.
Danke schön.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Europa und in der Welt vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen. Die Sowjetunion holt die Entwicklungen nach, die sich vorher in den Staaten Mittel- und Osteuropas und auch in Ostdeutschland vollzogen haben.Die erste Phase der Freiheitsrevolution in der Sowjetunion wurde von Michail Gorbatschow angestoßen. Es war eine Revolution von oben. Niemand, der in diesen Tagen über das Verhalten Gorbatschows in der sowjetischen Innenpolitik der letzten Monate und Jahre richtet, sollte vergessen: Ohne seine mutigen Schritte
wäre Mittel- und Osteuropa nicht frei geworden und hätte Deutschland nicht seine Einheit erlangt.
Seine Reformen waren auch eine Voraussetzung dafür, daß der Putsch im August gescheitert ist. Er ist gescheitert an dem Mut demokratisch gewählter Politiker, um die sich freiheitsliebende Bürger geschart haben, nämlich um den russischen Präsidenten Jelzin sowie die Oberbürgermeister von Leningrad und Moskau. Ich denke, daß heute im Westen alle die Anlaß zum Nachdenken haben, die in der Vergangenheit an der Unumkehrbarkeit der Freiheitsfähigkeit und des Freiheitswillens der Völker der Sowjetunion gezweifelt haben
und die als Motiv für die Abwendung der Völker derSowjetunion vom Kommunismus nur den berechtigten Wunsch nach besseren materiellen Lebensverhältnissen sahen. Nein, der Wunsch nach Freiheit steht an der Spitze, und er hat sich im August in Moskau und in der Sowjetunion durchgesetzt!
Damit kehren die Völker der Sowjetunion nach Europa zurück. Die Epoche des Kommunismus ist endgültig beendet, und die Sowjetunion bewegt sich hin auf eine konföderative Ordnung.Ich würde, Herr Ministerpräsident Engholm, nicht von einer föderativen Ordnung sprechen. In Wahrheit erleben wir eine Neubegründung des Verhältnisses der Republiken in der Sowjetunion auf der Grundlage der Gleichberechtigung durch eigene Entscheidungen von unten mit wirklich konföderalen Elementen, mit den Elementen eines Staatenbundes.Wenn dabei eine Gesamtverantwortung für die Sicherheitspolitik und, wie wir hoffen, für die Wirtschaftspolitik bewahrt werden kann, dann sollten wir nicht sorgenvoll auf diese Entwicklung blicken, gerade weil wir in Deutschland die Vorzüge föderaler Entwicklungen in einem kleinen Raum kennen und deshalb sicher wissen, daß es der Zentralismus des Kommunismus war, der viele Initiativen in den Völkern der Sowjetunion erstickt hat, die jetzt eine Chance haben, sich freizusetzen und damit auch Vitalität in eine freiheitliche Gesellschaft in diesen Staaten hineinzutragen.Seien wir hier also nicht so bedenklich, sondern erkennen wir, daß diese Entwicklung in der Sowjetunion mit dem Wunsch der meisten Republiken zusammenzubleiben doch auch eine Chance bietet, die Zusammenarbeit zwischen diesem Teil Europas und Mittel-, Südosteuropa und Westeuropa zu erleichtern.Die Perspektive einer konföderativen Ordnung für ganz Europa bietet gerade den Vielvölkerstaaten einen Auffangrahmen, daß sie ihre revolutionären Entwicklungen in Stabilität vollziehen können. Es muß der Wille nach Selbstbestimmung eben nicht automatisch zu neuem Nationalismus führen, es muß nicht zur Balkanisierung Europas führen, wenn das Europa, das sich schon heute freiheitlich organisiert hat, gesamteuropäische Strukturen und auch gesamteuropäische Solidarität anbietet.
Je mehr der Wille zu Selbstbestimmung und Demokratie in Osteuropa, in der Sowjetunion auf gesamteuropäische Strukturen und auf gesamteuropäische Solidarität trifft, um so stabiler wird sich dieser Wille entfalten können.Die westlichen Institutionen, die Europäische Gemeinschaft, der Europarat und die NATO, stellen gerade jetzt ihre Vitalität und ihre Anziehungskraft unter Beweis. Über die Zukunftsfähigkeit aber entscheiden ihre Völker und ihre Demokratien.
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3044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundesminister Hans-Dietrich GenscherWir in West- und Mitteleuropa stehen heute genauso auf dem Prüfstand der Geschichte wie die Nachbarn östlich von uns.
Der KSZE-Prozeß bietet dabei einen gesamteuropäischen Rahmen. Die Entwicklung bestätigt seine Richtigkeit, aber die Ereignisse in der Sowjetunion und in Jugoslawien bestätigen auch seine Unvollkommenheit. Neues muß hinzugefügt werden: Es wird notwendig sein, daß wir Konfliktverhütung ausbauen zu einem Sicherheitsrat im Rahmen der KSZE. Wir müssen diese KSZE handlungsfähig machen durch KSZE- Blauhelme und -Grünhelme; da stimme ich Ihnen ganz zu, und das werden wir vertreten. Wir müssen diese KSZE aufnahmefähig machen für diejenigen, die ihre Unabhängigkeit erhalten.Ich habe gestern für den kommenden Dienstag in Moskau zu einer Außenministerkonferenz einladen lassen mit dem Ziel, die baltischen Staaten in die KSZE aufzunehmen. Ob es zu dieser Konferenz kommen wird, hängt von der Zustimmung aller 35 Staaten ab; aber unser Anstoß ist gegeben.Meine Damen und Herren, die uneingeschränkte Achtung von Menschenrechten, Freiheit und Selbstbestimmung ist das Fundament, auf dem das neue Europa entstehen kann und entstehen muß. Aber die dramatischen Ereignisse in der Sowjetunion zeigen, daß das Bekenntnis zur Bewahrung der demokratischen Ordnung allein nicht genügt. Wir müssen jetzt die Charta von Paris um die Forderung ergänzen, daß, wer immer sich in einem KSZE-Staat durch Putsch an den Menschenrechten und an der demokratischen Ordnung vergreift, mit einer absoluten Ächtung durch die Staatengemeinschaft rechnen muß. Die Staatengemeinschaft muß sich verpflichten, unrechtmäßig geschaffene Fakten niemals anzuerkennen. Das Recht muß gelten und nicht die Macht des Stärkeren.Es muß auch klargestellt werden, noch deutlicher als in der Charta von Paris, daß der Schutz der Menschenrechte, daß die Achtung des Rechts auf Selbstbestimmung und die Bewahrung der Demokratie die ganze Staatengemeinschaft angehen, weil darauf unser Zusammenleben gegründet ist, und daß die Anteilnahme der anderen Staaten an derartigen Entwicklungen eben keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten, sondern eine innere Angelegenheit der gesamten Staatengemeinschaft ist.
Die Ereignisse in der Sowjetunion haben eine Entwicklung beschleunigt, die nun zu einem neuen Verhältnis der Republiken untereinander und auch zur Union — oder wie immer der Zusammenschluß heißen mag — führen wird. Wie eng, wie lose diese Union sein wird, das hängt vom Ergebnis der weiteren Verhandlungen ab. Wir können nur hoffen, daß die verbleibenden Republiken ein Verhältnis der Gleichberechtigung finden, und wir, die Europäische Gemeinschaft, die westliche Staatengemeinschaft, müssen uns im Gesamtumfang unserer Beziehungen, also nicht nur in den diplomatischen Beziehungen, sondern auch in allen Formen der Zusammenarbeit, darauf einstellen, dieser veränderten Struktur Rechnung zu tragen.Die Europäische Gemeinschaft muß die Chancen erkennen, die sich aus den neuen Entwicklungen in Osteuropa ergeben, sie muß aber auch die Risiken sehen, die dann entstünden, wenn die jetzt unternommenen Anstrengungen östlich von uns scheiterten. Wir dürfen nicht nur Beobachter sein.Das folgende sage ich nicht an die Adresse dieses Hauses — denn wenn ich einmal vom letzten Beitrag absehe, haben die Anstrengungen der Bundesregierung zu helfen immer eine breite Unterstützung bekommen —, sondern ich appelliere an unsere Freunde, Partner und Verbündeten: Die Hilfe für Mittel- und Osteuropa und für die Sowjetunion kann nicht allein eine deutsche Sache sein.
Wir haben uns in der Vergangenheit angesichts der militärischen Herausforderungen durch die damalige Sowjetunion im westlichen Bündnis zusammengefunden zu einer gemeinsamen Anstrengung für eine freie Demokratie und für unsere Unabhängigkeit. Wir haben gelernt, daß Sicherheit mehr bedeutet, als nur militärische Anstrengungen zu unternehmen. Wenn ich die Gefahr sehe, die bei einem Scheitern der Wirtschaftsreformen östlich von uns entsteht, wenn dann eine Abwanderungswelle nicht von Hunderttausenden, sondern von Millionen von Menschen kommt, muß ich sagen: Das könnte die Stabilität in Europa mehr bedrohen als die militärische Herausforderung durch die Rote Armee in der Zeit des kalten Krieges.
Deshalb ist es notwendig, daß wir alle entsprechend unserer Leistungsfähigkeit und nicht unterschieden nach der geographischen Nähe oder Entfernung zur Sowjetunion zur Entwicklung östlich von uns beitragen.Während wir vor dieser Herausforderung stehen, wird deutlich, daß die Vergrößerung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft gerade jetzt dringlich ist. Es ist eine unangemessene Diskussion, über die Alternative „Erweiterung oder Vertiefung" zu reden. Um erweitern zu können, müssen wir die Zusammenarbeit vertiefen, müssen wir die politische Union, die Wirtschafts- und Währungsunion schaffen, damit wir offen sein können für Beitretende, ohne darunter die Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft leiden zu lassen.
— Herr Kollege, ich habe das ja gerne gehört. Vieles von dem, was Herr Ministerpräsident Engholm hier vorgetragen hat, war eine Unterstützung der Politik der Bundesregierung. Wer hört das nicht gern!
Die Reformstaaten brauchen heute Assoziierungsverträge mit der Europäischen Gemeinschaft. Ich sage offen vor dem Deutschen Bundestag: Das sind ungleichgewichtige Verträge, bei denen wir mehr ge-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3045
Bundesminister Hans-Dietrich Genscherben, als wir bekommen. Aber es sind gleichgewichtige Verträge, weil die europäische Stabilität uns auch nutzt. Es wird notwendig sein, zu erkennen, daß wir für die Einfuhren aus den Staaten östlich von uns offen sein müssen. Wir sollten hier auch manchen Widerstand bei uns selbst überwinden.
Wir müssen jetzt Europa als Einheit begreifen. Das bedeutet auch, daß die Assoziierung in der Perspektive des Beitritts gesehen werden muß. Herr Ministerpräsident, Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß die Republiken der Sowjetunion wohl nicht diejenigen sein können, die beitreten. Aber wir sollten uns einig sein, daß die Beitrittsperspektive für die heutigen EFTA-Staaten, für die Staaten Mittel- und Südosteuropas und natürlich auch für die baltischen Staaten gegeben sein muß. Wenn wir diese Perspektive nicht geben, wird die Hoffnungslosigkeit größer werden. Die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft in der Perspektive der Mitgliedschaft ist das Licht im Tunnel, das die Menschen dort brauchen, um die Jahre zu bestehen, die vor ihnen liegen und die keine leichten und einfachen Jahre sein werden.
Die westliche Staatengemeinschaft hat mit dem Siebenergipfel in London ein Angebot unterbreitet.
— Es hätte weiter gehen können, wenn es nach uns gegangen wäre. Sie wissen auch, daß wir mehr gewünscht hätten. Aber seine schnelle Umsetzung jetzt ist um so dringlicher.Genauso dringlich ist die Vorbereitung einer Nahrungsmittelhilfe der Europäischen Gemeinschaft. Die hier schon erwähnte Lagerräumung wird sicher auch die großen Lagerkosten ersparen, die wir zu tragen haben. Das ist zwar nicht der Gesamtbetrag, aber man muß ihn bei den Kosten abziehen. Ich jedenfalls halte es für nicht verantwortbar, im Osten Menschen hungern zu sehen und im Westen Lager zu unterhalten, die Geld kosten.
Wir werden auch daran zu denken haben, daß es schon jetzt möglich ist, konkrete Projekte in der Sowjetunion, vor allen Dingen die Energie- und Rohstoffwirtschaft, zu fördern. Im Grunde ist die Sowjetunion reich an Energien und Rohstoffen. Aber ihre Energie- und Rohstoffwirtschaft ist in einem Zustand, der nicht einmal die Selbstversorgung garantiert, geschweige denn die großen Exportmöglichkeiten nutzen kann.Genauso wichtig ist die Schaffung eines gesamteuropäischen Verkehrsnetzes, eines Energieverbundes für ganz Europa, einer Telekommunikationsstruktur. Eine Pipeline von Ingolstadt in die Tschechoslowakei, eine Autobahn von Prag nach Nürnberg, eine regionale Zusammenarbeit im Länderdreieck Deutschland, Polen, Tschechoslowakei, das bringt die Völker näher zusammen; das sind konkrete Projekte, die wir jetzt unternehmen können und die wahrlich nicht nur im deutschen und nicht nur im Interesse unserer östlichen Nachbarn, sondern wiederum auch im gesamteuropäischen Interesse liegen.Die Änderung der staatlichen Strukturen stellt auch neue Fragen im Bereich der Sicherheitspolitik. Mit dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa haben wir rüstungskontrollpolitisch die Grundlage dafür gelegt, daß neue kooperative Strukturen der Sicherheit in Europa entstehen können. Gerade im Lichte der Entwicklung in der Sowjetunion ist es jetzt notwendig, daß wir diesen Vertrag schnellstens in Kraft setzen. Er allein bietet die Möglichkeit, das Militärpotential in der Sowjetunion in einem rüstungskontrollpolitischen Regime zu halten. Wenn es dort künftig neben den Streitkräften der Union auch Nationalgarden der unabhängigen Republiken geben sollte, so darf das nicht zu neuer Aufrüstung führen. Deshalb sind neue Schritte der Abrüstung erforderlich.Genauso wichtig ist es, daß wir darangehen — wenn nicht durch Verhandlungen, dann durch den Vorschlag gleichgerichteten Verhaltens — , die nukleare Artilleriemunition und die nuklearen Kurzstreckenraketen in West und Ost schleunigst zu beseitigen.
Die Zahl der Atomwaffenbesitzer darf nicht ausgeweitet werden.Meine Damen und Herren, uns alle erfüllt das Mitgefühl mit den leidenden Menschen in Jugoslawien, mit den Völkern Jugoslawiens, denen wir uns allen in Freundschaft verbunden fühlen. Wir nehmen in Jugoslawien nicht Partei für die eine oder für die andere Republik, nicht für die eine oder andere jugoslawische Nation. Wir nehmen Partei für Freiheit und Demokratie, für Menschenrecht und für Selbstbestimmungsrecht. Wir nehmen Partei für eine friedliche Konfliktlösung und gegen den Einsatz militärischer Gewalt. Es bleibt dabei: Die Politik der gewaltsam veränderten Tatsachen wird nicht anerkannt werden.
Das Recht auf Selbstbestimmung für die Völker Jugoslawiens haben die 35 Staaten der KSZE am 19. Juni 1991 in Berlin unter meinem Vorsitz unterstrichen. Sie haben dort gesagt: Es ist allein Sache der Völker Jugoslawiens, über ihre Zukunft zu entscheiden. Nur, diese Entscheidung muß auch tatsächlich durch Verhandlungen getroffen werden können. Wir haben es begrüßt, daß am 27. August alle EG-Staaten bereit waren, die Verantwortung der jugoslawischen Volksarmee und der serbischen Freischärler für die Fortdauer der Kampfhandlungen festzustellen. Leider gilt das auch noch heute.Am 7. September soll die Friedenskonferenz in Den Haag auf Einladung der Europäischen Gemeinschaft als Ergebnis eines deutsch-französischen Vorschlages
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Bundesminister Hans-Dietrich Genscherbeginnen. Ob sie zustande kommt, hängt von der Entwicklung in diesen Tagen ab. Ich wiederhole: Eine Anerkennung der durch Gewalt veränderten Grenzen wird es nicht geben. Würden wir diese dennoch anerkennen, so würden wir die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens der Völker zutiefst erschüttern. Wir würden eine Prämie für die Anwendung von Gewalt geben. Das darf nicht sein.
Aber die Bundesregierung wird auch keine Prämie für diejenigen gewähren, die durch Anwendung von Gewalt Verhandlungen verhindern. Wenn diejenigen Völker Jugoslawiens, die ihre Unabhängigkeit wünschen, diese Unabhängigkeit nicht durch Verhandlungen erreichen können, dann werden wir ihre einseitigen Unabhängigkeitserklärungen völkerrechtlich anerkennen.
Ich möchte dem Verantwortlichen an der Spitze der jugoslawischen Volksarmee sagen: Mit jedem Schuß, den Ihre Kanonen und Panzer jetzt abgeben, rückt für uns die Stunde dieser Anerkennung näher. Wir werden nicht länger zusehen können.
Gewalt ist kein Mittel des Zusammenhalts von Staaten und Völkern, die nichts anderes wollen, als ihr Recht auf Selbstbestimmung verwirklichen.Das Angebot der Friedenskonferenz steht. Die Persönlichkeit von Lord Carrington und die Einrichtung einer Schlichtungskommission bieten die Garantie unparteiischer Verhandlungsführung und Entscheidungs- und Einigungshilfe. Die drei von der Europäischen Gemeinschaft zu benennenden Präsidenten von Verfassungsgerichten sind gestern benannt worden. Es sind die Präsidenten der Verfassungsgerichte Deutschlands, Frankreichs und Italiens.Wir werden jetzt alles dafür tun, daß diese Friedenskonferenz, wenn sie am Samstag zustande kommt und ihre Arbeit beginnt, schnell zum Abschluß kommt. Wir machen es zur Voraussetzung neuer entscheidender, auch finanzieller Hilfen der Europäischen Gemeinschaft, daß diese Konferenz schnell zu einem guten Ergebnis führt.Wir sind nicht bereit, durch finanzielle Leistungen der Europäischen Gemeinschaft vorher zu einer direkten oder indirekten Finanzierung des Krieges der jugoslawischen Volksarmee gegen die eigenen Bürger beizutragen.
Aber wir sind bereit, dazu beizutragen — wie wir das mit der Eröffnung der Hermes-Bürgschaften schon getan haben — , daß die Republiken, die sich aktiv am Friedensprozeß beteiligen wollen, wirtschaftlich unterstützt werden. Diejenigen, die Verhandlungen weiter verhindern, direkt oder indirekt,müssen damit rechnen, daß gegen sie von uns jedenfalls wirtschaftliche Sanktionen beantragt werden.Wir müssen die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, die politischen und die wirtschaftlichen Mittel, nutzen. Wir müssen dazu beitragen, daß auch in diesem Teil Europas die Menschen friedlich zueinander finden, so wie wir das mit unseren Nachbarn getan haben und weiter tun werden.Dem dienen die Verträge, die wir am Freitag beraten werden. Ich denke, daß die Vorbereitungszeit, die wir uns genommen haben, auch dazu geführt hat, daß die Akzeptanz dieser Verträge auch in Deutschland weiter verbreitert wurde.Herr Ministerpräsident, was den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag angeht: Wir haben in dem Ausreifen des Verhandlungsprozesses Ergebnisse erreichen können, die vor wenigen Monaten weder auf der tschechoslowakischen Seite noch bei uns so möglich gewesen wären. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diese Verhandlungen zu einem glücklichen Ende zu führen.
Meine Damen und Herren, es ist in den letzten Monaten viel über die größer gewordene Verantwortung des vereinigten Deutschlands gesprochen worden. Nicht alles, was als Ausdruck dieser Verantwortung gezeigt und erklärt wurde, kann sich so sehr auf unser Grundgesetz gründen wie das Wissen, daß die Werte dieses Grundgesetzes unser Handeln bestimmen müssen.Wir haben nicht die Absicht, nach der Devise, am deutschen Wesen müsse die Welt genesen, vorzugehen. Aber gerade auf Grund unserer Geschichte stehen wir unter dem Postulat unseres Grundgesetzes, das uns aufgibt, Europa zu einen und dem Frieden in der Welt zu dienen. Die Werte dieses Grundgesetzes werden uns auch dann bestimmen und auf unserem Weg nicht irremachen, wenn wir wie in diesen Tagen von bestimmten Stimmen in Jugoslawien verdächtigt werden.Es bleibt dabei: Unser Handeln ist auf Freiheit und Demokratie, auf Menschenrechte und auf Selbstbestimmungsrecht gegründet. Diese Werte haben uns zur deutschen Einheit geführt, und diese Werte werden auch die Grundlage des ganzen Europas sein, in dem wir Deutschen zu Hause sind.Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Hans Koschnick.
Herr Präsident! Es tut mir leid, daß ich eine so wichtige Debatte störe. Aber ich bin heute vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion mit der Kennzeichnung in Anspruch genommen worden, daß ich mich als prominenter Linker noch im Jahre 1989 gegen die Wiedervereinigung ausgesprochen habe.
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Hans KoschnickIch bestreite nicht, daß Alfred Dregger damit recht hat, daß ich ein Linker bin; denn ich stehe links von Alfred Dregger. Das ist unbestreitbar.
Aber unrecht hat Alfred Dregger mit der Formulierung, ich hätte mich in der Zeitung „Wiener" noch im November 1989 gegen die deutsche Wiedervereinigung ausgesprochen. Dies war eine Meldung der CDU/CSU-Pressestelle. Der Fraktionsgeschäftsführer hat damals etwas aus dem „Wiener" ausgeworfen. Ich habe ihm am nächsten Tag die Unterlagen zugestellt und habe einen Tag darauf, am 15. Februar, den Brief bekommen:Sie können sicher sein, daß ich in Kenntnis Ihrer tatsächlichen Äußerungen die Meldung des „Wiener" nicht mehr mit Ihrer Person in Verbindung bringe.
Nun gehe ich davon aus, daß Herr Rüttgers dies nun nicht nur auf sich bezogen hat und daß Alfred Dregger noch in die Klamottenkiste des damaligen Wahlkampfs gegriffen hat. Es wäre gut, dies in allen zukünftigen Wahlkämpfen zu unterlassen; dann brauchen wir darüber nicht mehr zu reden.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Koschnick hat seine Erklärung, glaube ich, in einer Form abgegeben, die für das Haus und für den Betroffenen ausgesprochen akzeptabel ist. Eine weitere Diskussion erfordert dies jetzt nicht.
Damit sind wir am Ende unserer vereinbarten Redezeit angelagt. Ich schließe die Aussprache.
Wir setzen die Aussprache zum Haushalt 1992 fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992
— Drucksache 12/1000 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995
— Drucksache 12/1001 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind dafür heute sechs Stunden vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Dr. Hans-Jochen Vogel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Kollege Dregger, es wäre eine angemessene Geste gewesen, auf die Erklärung von Hans Koschnick mit einem Wort der Entschuldigung zu antworten. Das wäre ein angemessener Umgang.
Jedem kann ein solcher Irrtum unterlaufen; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Aber die Art der Reaktion, Herr Kollege Dregger, wäre so, wie ich es anrege, besser gewesen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir erleben in diesen Tagen, Wochen und Monaten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft rasante Veränderungen politischer Strukturen von weltgeschichtlichem Ausmaß: die Öffnung des Eisernen Vorhangs, den Fall der Mauer, den Zusammenbruch des SED-Regimes, den Übergang der Völker und Staaten des östlichen Mitteleuropas zu Demokratie und Selbstbestimmung, die deutsche Einigung, den Beginn des Abzugs der sowjetischen Truppen, das Ende des Warschauer Paktes, die gewaltlose Überwindung des Staatsstreichs in Moskau, die Wiederherstellung der Souveränität der baltischen Staaten, das Auseinanderfallen der bisherigen Sowjetunion und die Agonie und das Ende der KPdSU. Das alles hat in weniger als 800 Tagen stattgefunden. Ich glaube, man muß schon fast bis zur russischen Oktoberrevolution oder zur Französischen Revolution zurückgehen, um Prozesse von vergleichbarer Tragweite und Dynamik nennen zu können.Es wird großer Anstrengungen bedürfen — ich habe heute in diesem Hause gute Ansätze dazu gehört — , damit wir das, was da geschehen ist, in seiner vollen Bedeutung erfassen und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen, also insbesondere in der uns gemäßen Form mithelfen, daß diese Entwicklung nicht zerstörerische Kräfte freisetzt — denn diese Gefahr ist durchaus nicht illusionär — , sondern schließlich zu einer stabilen demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung führt, unter deren Schutz sich zum Wohle der Menschen eine ökologisch und sozial gebändigte Wettbewerbs- und Marktwirtschaft entfalten kann; eine Entwicklung auch, die uns im gemeinsamen europäischen Haus mit den Völkern, die ihr Selbstbestimmungsrecht zurückerlangt haben, ohne Angst, Not und Furcht in Frieden zusammenleben und so einen alten europäischen Traum endlich Wirklichkeit werden läßt.
Herr Kollege Engholm hat dazu für uns das gesagt, was im gegenwärtigen Moment möglich und notwendig ist. Er hat auch andere drängende Fragen, so die Rolle Deutschlands in der Welt und die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, den blutigen Konflikt in Jugoslawien und die drängenden Probleme der Asyl- und Zuwanderungsfrage, angespro-
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Dr. Hans-Jochen Vogelchen. Er hat das verantwortungsbewußt und überzeugend getan, ohne Rechthaberei und ohne die Attitüde derer — von denen es leider zu viele gibt —, die angeblich schon immer alles so und nicht anders auf den Punkt vorausgesehen haben,
auch mit der erklärten Bereitschaft zur Kooperation über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg, solange und soweit die besonderen Umstände im Interesse unseres Volkes es erfordern. Dafür danke ich Björn Engholm.
Unsere Aufmerksamkeit wird durch die Vorgänge, von denen ich sprach, stark in Anspruch genommen— das ist verständlich — , aber unsere eigenen Probleme werden dadurch allenfalls überlagert und verdeckt, nicht jedoch gegenstandslos oder gar gelöst. Glaube keiner, er könne sich vor diesen unseren Problemen auf Dauer auf die Hochebenen internationaler Gipfel und internationaler Politik flüchten! Die Probleme werden ihn auch dort einholen. Glaube auch keiner, wir könnten es uns nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme leisten, im Gefühl der Überlegenheit unserer Ordnung die Hände in den Schoß zu legen und die Dinge auch in unserem Lande dem Selbstlauf zu überlassen!Gewiß, unsere Gesellschaftsordnung hat sich im Wettbewerb der Systeme als die stärkere, die attraktivere erwiesen, aber die Anziehungskraft beruht doch gerade auf den Elementen der Freiheit, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit, die wir — oft genug gegen konservativen Widerstand — in diese Ordnung eingefügt haben
und die wir im Wege der Reformen auch in Zukunft immer aufs neue einfügen müssen.Es wäre ein katastrophaler Fehler zu meinen, der Wegfall der kommunistischen Herausforderung mache die fortwährende Erneuerung und Verbesserung unserer gesellschaftlichen Ordnung entbehrlich. Aus dem gleichen Grunde müssen wir unser Gemeinwesen gerade jetzt in stabilem Zustand und in guter Verfassung halten. Das ist auch wahr: Die Herausforderungen für und die Anforderungen an unser Gemeinwesen sind nicht kleiner, sie sind größer geworden. Außerdem, das Erreichte und gemeinsam Geschaffene ist nicht ein für allemal gewährleistet. Im Gegenteil, es ist gefährdet, und zwar in wesentlichen Punkten durch Handlungen oder Unterlassungen, die Sie zu verantworten haben, die die Bundesregierung zu verantworten hat.Das gilt für die Vollendung der deutschen Einheit. Wir bestreiten nicht — ich sage es hier zum wiederholten Male — : Sie, Herr Bundeskanzler, haben zur raschen Verwirklichung der staatlichen Einheit ihren— wichtigen — Beitrag geleistet. Aber Sie haben die Größe und Schwere der Aufgabe verkannt, nach derstaatlichen Einheit auch die wirtschaftliche und soziale Einheit herzustellen
und den beiden Teilen unseres Volkes, die 40 Jahre lang unter völlig unterschiedlichen Voraussetzungen gelebt haben, wieder zur bewußtseinsmäßigen Einheit und zur Überwindung der Gräben und Klüfte zu verhelfen, die in diesen 40 Jahren entstanden sind. Sie haben geglaubt, es genüge, die üblichen Verfahren und Instrumente, die üblichen politischen Taktiken und Machtkalküle anzuwenden. Daraus erklären sich die Fehlentscheidungen und Versäumnisse, die ich kritisiere. Wir machen Sie nicht für den schlimmen Zustand verantwortlich, in dem die SED und die Blockparteien, nicht die SED allein, die Strukturen und die gesellschaftliche Substanz der ehemaligen DDR hinterlassen haben. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie haben die interfraktionelle Zusammenarbeit lange Zeit abgelehnt und parteitaktischen Überlegungen den Vorrang eingeräumt.
Sie haben die mit dem SED-Regime, jedenfalls in ihren Führungsebenen, eng verflochtene Blockpartei CDU im Wege der Fusion als Ganzes konserviert, die kritische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gebremst,
die alten Parteikader ohne Rücksicht auf deren individuelle Belastung in ihren Machtpositionen belassen und damit den glaubwürdigen Neuanfang erschwert.
Der Vorwurf, die alten Seilschaften seien nach wie vor zugange, der allerorten in den neuen Bundesländern zu hören ist, gilt doch gerade deshalb der Union inzwischen fast ebenso stark wie den Hinterlassenschaften der SED.
— Herr Bundeskanzler, wenn Sie das für absurd halten, dann empfehle ich, daß Sie mich bei den nächsten Besuchen auf Bürgerversammlungen in Stendal, in Königs Wusterhausen, in Suhl begleiten und hören, was die Menschen dort über die Seilschaften sagen.
Im übrigen widerspricht Ihrem Zwischenruf das Nikken vieler — auch auf Ihrer Seite des Hauses —, die ich hier gesehen habe, die besser über die Verhältnisse Bescheid wissen.
— Kümmern Sie sich selber darum. Ich bin kein Denunziant. Schauen Sie sich selber um, fragen Sie Ihre Geschäftsführer.
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Dr. Hans-Jochen VogelErst jetzt unter dem Druck der Stasi-Offenbarung und des Konflikts, der gegenwärtig Ihre Partei erschüttert, wird deutlich, was dort versäumt worden ist
und welchen langfristigen Preis Sie und die Menschen in den neuen Bundesländern für Ihren damaligen Augenblicksvorteil zu zahlen haben. Wenn Sie noch einen Zeugen brauchen, daß das stimmt, was über die Schwere des Konflikts und über den Preis gesagt wird, dann fragen Sie ihren Generalsekretär, der sich dazu bei jeder Gelegenheit äußert.
Sie haben den Menschen in den alten Bundesländern zu lange gesagt, die deutsche Einigung erfordere keine zusätzlichen Anstrengungen, insbesondere keine zusätzlichen Steuerleistungen, obwohl die Menschen solche Anforderungen damals erwartet haben und zu solchen Anstrengungen auch durchaus bereit waren. So war es nämlich im Herbst 1989 und dann 1990. Sie haben auch bei den Menschen in den neuen Bundesländern illusionäre Erwartungen geweckt, so als ob es sich nicht um die Bewältigung eines einmaligen Umstellungsprozesses handeln würde, der nahezu alle ohne Ausnahme in existentieller Weise fordert und berührt. Sie haben zu lange geglaubt, das freie Spiel der Kräfte, der Markt und der Wettbewerb würden die alten Strukturen mehr oder weniger im Selbstlauf überwinden und durch leistungsfähige Strukturen unseres Zuschnitts ersetzen, der Staat, unser Gemeinwesen — ich erinnere an die Debatte, bei der hier Herr Biedenkopf und Herr Stolpe nachdrücklich Mahnungen artikulierten — , sei nur in zweiter Linie gefordert. Heute wissen doch auch Sie, daß die Marktkräfte, sich selbst überlassen, die vorhandenen Strukturen, insbesondere die Industriestrukturen, ohne Rücksicht auf ihre mittelfristigen Überlebenschancen radikal zerstören, und daß die Gemeinschaft zunächst die Voraussetzungen dafür schaffen muß, daß eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft ihre positiven Wirkungen entfalten kann.
Ich fürchte Sie glauben auch noch immer, es genüge, unsere Verfassung einfach auf das sogenannte Beitrittsgebiet — ein merkwürdiger Ausdruck — zu erstrecken; das Zusammenwachsen werde sich dann schon in Form der Anpassung der Hinzugekommenen an diejenigen ergeben, zu denen sie hinzugekommen sind. Eine besondere Anstrengung, etwa ein breiter Diskussionsprozeß über die endgültige Verfassung, an dem die Menschen in den neuen Bundesländern gleichberechtigt teilnehmen können — das schwebte bekanntlich den Vätern und Müttern des Grundgesetzes 1948/49 vor — sei überflüssig, wenn nicht gefährlich, weil er auch uns in den alten Bundesländern Veränderungen zumute.In bemerkenswerter Weise hält Ihnen ja Ihr Stellvertreter, Herr de Maizière, auch wörtlich vor — ich zitiere wörtlich aus dem verteilten Text — , daß Sie auch in Ihrer eigenen Partei Veränderungen nur inden neuen Ländern verlangen und daß Sie überhaupt mit den Problemen, mit der Situation
— dann tragen Sie das doch mit Herrn de Maizière aus! Ich werde doch den Stellvertreter zitieren dürfen —,
mit den elementaren Lebensbedürfnissen der Menschen im Osten weiterhin unsensibel umgehen.Ich meine, in dem Gedanken sollte eine Gemeinsamkeit in diesem Hause herzustellen sein, daß der Prozeß des Zusammenwachsens der Deutschen Veränderungen nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern Veränderungen auch in unseren Köpfen, in unserem Bewußtsein und in unserem Verhalten zur Folge haben muß. Dazu dient die Verfassungsdiskussion.
Ich finde es wohltuend, wenn einer, der jetzt allein für sich spricht, allen Seiten des Hauses ein bißchen den Spiegel in die Vergangenheit hinein vorhält— ich meine Herrn Lowack — und uns alle vor allzu großer Selbstgerechtigkeit den anderen gegenüber bewahrt. Ich glaube, das ist nützlich, und das verdient bei aller sonstigen Divergenz Anerkennung.Ich sage: Bei allen Unsicherheiten der Einschätzung des zeitlichen Ablaufs, die es bei uns gab, waren wir Sozialdemokraten näher bei der Realität, und unsere Positionen waren stärker im Einklang mit der Größe der Herausforderungen.Wir waren zur Zusammenarbeit bereit. Wir haben als politische Kraft in den neuen Bundesländern neu bei Null begonnen. Wir haben den Menschen die Wahrheit gesagt und Steuererhöhungen für unabweisbar erklärt, und zwar vor den Wahlen. Wir haben— übrigens im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip — gefordert, daß sich die größere Gemeinschaft, also der Staat, breit engagieren muß, weil die Kräfte der kleineren Gemeinschaften, die individuellen Kräfte nicht ausreichen. Wir haben dem Leitbild des Einzugs in ein fertiges Haus das Leitbild der gemeinsamen Erneuerung des gemeinsamen Hauses entgegengestellt.Sie haben sich inzwischen vielen unserer Positionen genähert und eine Reihe von ihnen übernommen. Ich nenne als Beispiel nur die Stichworte: Verstärkung der finanziellen Ausstattung der Länder und Gemeinden im Laufe des Frühjahrs 1991. Ich nenne Korrekturen am Prinzip Rückerstattung vor Entschädigung. Ich nenne die breitere Realisierung von Qualifizierungs-, Aufbau- und Beschäftigungsgesellschaften. Was ist hier gegen den Begriff der Beschäftigungsgesellschaft polemisiert worden! Inzwischen ist es für die Menschen drüben eine gewisse Hoffnung, daß sich diese Form der Gemeinschaftsinitiative ausbreitet. Und ich nenne durchgreifende Verbesserungen des Rentenüberleitungsgesetzes. Und natürlich haben Sie das unter dem Druck Ihres Versprechens getan, was wir schon vor den Wahlen angekündigt haben, nämlich die Steuern erhöht.
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3050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Hans-Jochen VogelAber das genügt nicht. Drei prinzipielle Korrekturen sind vor allem erforderlich, damit die soziale Einheit, die Angleichung der Lebensverhältnisse vorankommt und die Menschen in den neuen Bundesländern diese Übergangsperiode ohne vermeidbare Beeinträchtigungen und Beschädigungen überstehen.Erstens. Den großen Produktionsbetrieben muß mehr Zeit gegeben werden, sich umzustellen und auf mittlere Frist wettbewerbsfähig zu werden. Es ist leichter, einen Betrieb umzustrukturieren, als einen Betrieb, der dichtgemacht wurde, durch einen neuen Betrieb zu ersetzen.
Die neuen Bundesländer — ich glaube, wir stimmen da überein — dürfen nicht zu einer Industriebrache werden. Außerdem ist es noch immer sinnvoller gewesen, Geld für Sanierungen, oder für Qualifizierung, Umschulung und Beschäftigung aufzuwenden, als für Arbeitslosigkeit, also für erzwungenes Nichtstun.
Zweitens. Die Unklarheiten und Unsicherheiten über die Eigentumsverhältnisse dauern noch immer an. Es sind noch immer viele Investitionsvorhaben dadurch behindert. Andererseits leben redliche Erwerber und Nutzer, und zwar auch nach dem Stichtag, den wir im Gesetz und im Vertrag vom Oktober 1989 festgelegt haben, in großer Zahl in Sorge vor dem Verlust ihrer Wohnungen. Das Reparaturgesetz hat die Probleme nicht gelöst. Deshalb muß mit dem Vorrang der Entschädigung vor der Rückerstattung Ernst gemacht und eine neue Initiative in dieser Richtung ergriffen werden.Drittens. Das sage ich nach allen Richtungen: Die alten Seilschaften müssen verschwinden. Ich verallgemeinere nicht und schere durchaus nicht alle Mitglieder der SED und der Blockparteien über einen Kamm. Das wäre ungerecht; das tun wir nicht. Aber ich verstehe die Wut und die Empörung der Menschen in den neuen Bundesländern, die in den Betrieben und den Verwaltungen in leitenden Stellungen noch immer denen begegnen, von denen sie vor der Wende bevormundet und schikaniert worden sind.
Wir entwerfen kein Horrorgemälde von der Lage in den neuen Bundesländern. Wir freuen uns über die positiven Tendenzen im Baugewerbe,
im Handwerk und in einzelnen Dienstleistungsbereichen.
Wir sind überzeugt, daß wir — die 16 Millionen in den neuen Bundesländern und die über 60 Millionen in den alten Bundesländern — es schließlich gemeinsam schaffen werden. Wir sind überzeugt davon.
Aber daß den Menschen auf dem Weg dorthin mehr zugemutet wird und dieser Prozeß länger dauernwird, als es notwendig wäre, fällt in Ihre Verantwortung.Zu verantworten haben Sie auch, daß sich unser Gemeinwesen insgesamt in einer durchaus kritischen Situation befindet. Das gilt vor allem für den Zustand der öffentlichen Finanzen. Ich wiederhole nur die wichtigsten Kennziffern. Diese Kennziffern lauten: Die Verschuldung der öffentlichen Hände ist seit 1982 von 683 Milliarden DM auf 1 300 Milliarden DM gestiegen und wird laut Ihren eigenen Zahlen bis 1995 — bis dann sind es nur noch vier Jahre — auf über 2 300 Milliarden DM, das sind 2,3 Billionen DM, steigen. Das betrifft die gesamte öffentliche Hand, auch die von Ihnen genannten Schattenhaushalte, die, wie Sie behaupten, bei richtiger Lektüre des Haushalts durchaus eingerechnet werden können.
Das haben wir gemacht.
— Danke schön. Ich bin überhaupt gut. Ja. Also danke sehr.
Die Zinsleistungen betrugen 1982 50,1 Milliarden DM. Heute liegen sie bei 111 Milliarden DM. Für 1995 errechnen sich die Zinsen auf Grund Ihrer Zahlen, Herr Kollege Waigel, auf 175 Milliarden DM.Jetzt kommt die Zahl, die eigentlich am meisten Besorgnis erregt. Die private Ersparnisbildung wurde 1982 zu 51 % von den öffentlichen Händen in Anspruch genommen. In diesem Jahr werden es voraussichtlich rund 85 % sein. 85 % der gesamten Ersparnis- und Kapitalbildung wird von den öffentlichen Händen in Anspruch genommen.Das sind alarmierende Zahlen. Sie wirken sich bereits auf die gesamtwirtschaftliche Situation aus. Die Warnlichter flackern. Die Preissteigerungsrate ist mit 4,1 % so hoch wie seit 1982 nicht mehr. Wir hätten einmal seinerzeit das sagen sollen, was Sie gestern gesagt haben, Herr Kollege Waigel: Das sei eine Zahl, die ein beruhigtes Preisklima widerspiegele.
Ich sage: Das alles ist in erster Linie die Folge davon, daß Sie die Steuern noch im Jahr 1990 entgegen unserem Rat in unvernünftiger Weise gesenkt haben und dann nicht den Mut hatten, sie rechtzeitig im notwendigen Umfang zu erhöhen. Wo gibt es denn das, daß eine Opposition wie im Jahr 1989/90 konkretere und weiterreichende Vorschläge zur Erhöhung der öffentlichen Einnahmen macht als die Regierung und daß Sie außerdem nicht die Kraft hatten und haben, zunächst die Ausgaben an den richtigen Stellen zu vermindern! Dabei imponieren mir übrigens — das sage ich hier fairerweise — Ihre Anstrengungen immer noch mehr als die öffentlichen Schauveranstaltungen, die der Bundeswirtschaftsminister mit diesem Thema veranstaltet.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3051
Dr. Hans-Jochen VogelIch weiß, Herr Waigel, da muß man pflichtgemäß den Kopf schütteln. Das weiß ich von früher. Da haben Sie recht.In unserem Volk ist das Gefühl, ist die Sorge weit verbreitet, daß das nicht gutgehen kann, daß wir— das sage ich nach allen Seiten — die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und unseres Gemeinwesens überfordern. Die Bundesbank hat mit der Erhöhung des Leitzinses im August das gleiche zum Ausdruck gebracht.Übrigens gibt es doch nach wie vor das LambsdorffPapier. Ich meine jetzt das neue, vom Frühsommer dieses Jahres — das alte gibt es auch —,
in dem Ihr Koalitionspartner die Sachlage noch dramatischer beschreibt, als ich das tue.Im übrigen: Wenn Lambsdorff solche Papiere schreibt, soll man genau auf den Kalender gucken!
Ich gehöre zu denen, die da noch unmittelbare Erinnerungen haben.Im übrigen: Ganze Passagen, Kollege Lambsdorff, haben Sie wörtlich von damals durch Inserieren übernommen.
— Diese Eigenschaft, daß ich den Grafen verliebt anschaue, habe ich nun wirklich nicht. Sie brauchen ja das Datum nicht verliebt anzuschauen.Unser Konzept zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen liegt auf dem Tisch. Frau Matthäus-Maier
hat es gestern erläutert. Dieses Konzept berücksichtigt auch die Bedürfnisse der alten Bundesländer, die in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt worden sind. Wir können Ihnen nur raten: Wenn Sie selber nicht die Kraft haben, ein angemessenes Konzept zu realisieren, wenn Ihnen nichts anderes einfällt, als an der Mehrwertsteuerschraube zu drehen — um 1 %, wie Sie uns sagen, um 2 %, wie der Herr Bundeskanzler vorsorglich vor drei Wochen einmal angedeutet hat, damit man sich später gegen den Vorwurf, man habe es nicht gesagt, wehren kann; offenbar sind Sie lernfähig —, dann übernehmen Sie doch unser Konzept. Es wäre nicht das erste Mal, daß Sie das getan haben.
Gleiches gilt für andere wichtige Felder der Politik, so etwa für den bedrohlichen Wohnungsmangel, über den Sie erheitert jetzt fröhliche Gesichter zeigen, was mich wundert; das gilt ebenso für den um sich greifenden Verkehrsnotstand oder den Pflegenotstand.
— Was hat das mit dem Wohnungsmangel zu tun?
— Ich freue mich, Herr Gerster, daß Ihnen die rheinland-pfälzischen Angelegenheiten noch Zeit lassen, sich hier an der Debatte zu beteiligen.
Das gilt ebenso, wie ich bereits erwähnte, für den Pflegenotstand, unter dem in erster Linie die Kranken, aber zunehmend auch das Pflegepersonal in schlimmer Weise leiden.Das gilt ebenso für die Neudefinition des Auftrags unserer Streitkräfte, die mit der Abrüstung verbundenen Strukturveränderungen in der Bundeswehr und die Hilfen für die Regionen, die durch die Auflösung von Einrichtungen der Bundeswehr oder der Verbündeten Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft einbüßen.Ich greife auf, was Björn Engholm heute morgen hier gesagt hat, und wiederhole es: Die Opposition ist bereit, konstruktiv an der Neudefinition des Auftrags der bewaffneten Streitkräfte mitzuarbeiten. Das ist nämlich genauso wie damals die Gründung und der Aufbau der Bundeswehr eine gemeinsame Verantwortung des ganzen Hauses.
Dasselbe gilt auch für die große Lücke, die unverändert zwischen dem Gleichstellungsgebot und der tatsächlichen Situation der Frauen klafft — und das nicht nur in den neuen Bundesländern, in denen die Frauen ganz besonders von der Arbeitslosigkeit und dem gesamten Umstellungsprozeß betroffen sind.Ich sagte zu Beginn meiner Rede, der Fortgang der Reformen sei kein Luxus, keine Spielerei, sondern ein dringendes Gebot, um die Qualität unserer Ordnung und damit die Lebensqualität für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger zu bewahren und zu verbessern. Auch hier sind es eher wir und nicht Sie, die die Entwicklung vorantreiben. Sie hemmen auf vielen Gebieten notwendige Schritte durch Ihren internen Streit oder auch durch schlichtes Desinteresse. So ist es bei der Pflegeversicherung, die nicht vorankommt, weil Sie nicht fähig sind, endlich das Gesetzgebungsverfahren einzuleiten. Wir werden unseren Gesetzentwurf noch in diesem Monat einbringen und Sie zwingen, Farbe zu bekennen.Herrn Kollegen Blüm ist wohl inzwischen klar, daß er dann nicht mehr mit launigen Sprüchen lavieren kann, sondern daß es dann endgültig um sein politisches Überleben geht, wenn er hier Farbe zu bekennen hat.
— Auch er fällt unter die neue Pflegesicherungsregelung. Keiner ist ausgeschlossen, auch nicht Herr Blüm. Oder meinen Sie die politische Pflege? — Das ist dann Ihre Sache.
Auch bei der Reform des Schwangerschaftsrechts steht Ihr Beitrag — nach der heutigen Zeitungslektüre sage ich: noch — aus. Soweit ich sehe, sind inzwischen die reformerischen Stimmen in Ihrem Lager
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3052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Hans-Jochen Vogeleher leiser geworden. Die Niederlage, die Frau Kollegin Süssmuth am vergangenen Wochenende auf dem Parteitag ihrer niedersächsischen Partei erlitten hat, macht das besonders deutlich. Die Kolleginnen aus den neuen Bundesländern, die sich noch vor einem Jahr vernehmlich äußerten, sind auch fast völlig verstummt. Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß dem Bundestag eine Lösung gelingt, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens durch umfassende Hilfen und Respektierung der Eigenverantwortung der Frau tatsächlich befördert und nicht länger dem Irrtum huldigt, dies könne durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfahren nach dem unsäglichen Beispiel von Memmingen geschehen und befördert werden.
Wenn wir uns nicht einigen, dann bitte ich zur Kenntnis zu nehmen: Wir streiten nicht um die Orientierung des Schutzes des vorgeburtlichen Lebens, wir streiten um die Mittel und die Wege, wie das am besten erreicht werden kann. Wir bekennen uns zu dem Weg der Hilfe und der Stärkung und Anerkennung der Eigenverantwortung und der Eigenentscheidung der Frau.
Der Bedeutung der Sache wäre es übrigens angemessen — das ist fast eine Bitte — , wenn wir sie im Bundestag und insbesondere im Plenum mit dem gleichen Ernst und dem gleichen individuellen Engagement behandeln würden, die unsere Debatte über die Hauptstadtfrage, wie immer auch die inhaltliche Meinung war, am 20. Juni ausgezeichnet haben.
— Ach Gott, ja; jeder ist so klein, wie er ist.
Überfällig sind Reformen auch in der Agrarpolitik. Das bisherige System, das noch immer die Produktion anreizt, das den Steuerzahlern immer höhere Milliardenbeträge abverlangt und den Bauern einen immer geringeren Anteil an diesen Summen zukommen läßt, hat sich schon lange ad absurdum geführt. Seit Jahren verlangen wir deshalb, zur flächenbezogenen Förderung überzugehen, bei der die Bauern nicht zu intensiver Überproduktion verleitet, sondern für die Leistungen entschädigt werden, die die Gesellschaft dringend benötigt, die nur sie erbringen können, nämlich die Pflege unserer Kulturlandschaft. Wenn so das Grundeinkommen sichergestellt ist, dann kann die Produktion im wesentlichen den Marktregeln unterstellt werden. Dann hört der Unsinn auf, den auch der Bundesaußenminister hier in bezug auf die Lagerhaltung und die Exporte zu Recht kritisiert hat.Die Europäische Kommission hat damit begonnen, sich mit ihren Vorschlägen in diese Richtung zu bewegen, auch deshalb, weil das bisherige System zu tiefgreifenden Konflikten mit den USA und den Entwicklungsländern geführt hat und das GATT-Abkommen zu sprengen droht. Die Bundesregierung lädt auch deshalb schwere Verantwortung auf sich, wenn siesich der überfälligen Korrektur des agrarpolitischen Kurses weiter widersetzt.Das wäre zugleich ein wichtiger Beitrag zur ökologischen Entlastung des Bodens und der Gewässer und damit zum Schutz der Umwelt. Auch zu letzterem geschieht nur ein Bruchteil dessen, was nötig wäre, um zumindest weitere Verschlechterungen zu verhindern. Die Ankündigungen und das, was wirklich geschieht, klaffen immer wieder auseinander. Es fehlt bis heute die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz, und die Regierungsinitiative für die Einführung der Klimaschutzabgabe.Auch für die Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik mangelt es an einem mit den Bundesländern abgestimmten Konzept. Für uns hat der Um-und Ausbau des Bildungssystems einen hohen Stellenwert.Zwei weitere Themen gehören ebenfalls auf die Tagesordnung notwendiger Reformen. Das sind die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen und die Erneuerung des Bodenrechts. In beiden Richtungen liefert die Entwicklung in den neuen Bundesländern zusätzliche Argumente.
Die leistungslosen Bodenwertsteigerungen erreichen in den neuen Bundesländern geradezu astronomische Ausmaße. Sie übertreffen selbst die skandalösen Preissteigerungen in bestimmten westdeutschen Zentren wie München, Stuttgart oder Frankfurt/Main. Auch die Frage, ob das, was Arbeit, hohe öffentliche Zuschüsse und Kapital an Produktivvermögen gemeinsam schaffen, für alle Zeiten nur den Kapitaleignern zuwachsen soll, stellt sich in den neuen Bundesländern mit besonderer Schärfe, dies auch deshalb, weil die dort in der Vergangenheit als sogenannte Volksvermögen entstandenen Produktionsanlagen, von denen ja nicht alles völlig unbrauchbar ist, im Ergebnis ebenfalls zu überaus günstigen Bedingungen auf die Kapitaleigner übergehen.Wir werden in beiden Richtungen erneut die Initiative ergreifen und uns dabei insbesondere auch an den Erkenntnissen und Empfehlungen der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik orientieren. Ich nehme mit Befriedigung zur Kenntnis, daß auch aus dem Gewerkschaftsbereich in den letzten Tagen positive Signale in dieser Richtung gegeben werden. Ich glaube, es ist überfällig, diese Dinge ernsthaft anzugehen.
Herr Bundeskanzler, Parlament — das ist Auseinandersetzung, auch kritische Auseinandersetzung; dafür habe ich mich nicht zu entschuldigen. Deshalb stelle ich fest: Die Partei, an deren Spitze Sie stehen, befindet sich in einer tiefen Krise.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3053
Dr. Hans-Jochen VogelIhr Generalsekretär — und das erheitert Sie offenbar — bezeichnet die Lage der Union in aller Öffentlichkeit als katastrophal.
Also, ich habe in meiner Partei in 40 Jahren auch schon eine ganze Menge erlebt — Sie werden in Ihrer Sammlung auch sicher irgendein entsprechendes Zitat haben — , aber daß der Generalsekretär oder der Bundesgeschäftsführer hergeht und sagt, die Lage der eigenen Partei ist katastrophal, ist eine relativ seltene Erfahrung.
— Stimmt nicht? — Na, gut, okay.Einer Ihrer Stellvertreter — wenn ich es richtig sehe, der Erste Stellvertreter — bemerkt, die CDU erschöpfe sich in Gezänk und Selbstgefälligkeit. Herr Geißler schließlich hält die Partei schlechthin für ausgelaugt und programmatisch erschöpft.
— Wenn Sie Bedarf an Zitaten haben, kommen Sie nachher zu mir; ich habe alles greifbar, in Klarsichthüllen.
— Ja, ich kenne die Situation, so ist es ja nicht; ich kann ja mitfühlen.In den alten Bundesländern sind die Strukturen Ihrer Partei nach dem reihenweisen Verlust der Regierungsposition in den Ländern weithin zusammengebrochen, zuletzt mit bundesweit hörbaren Begleitgeräuschen in Rheinland-Pfalz. In den neuen Bundesländern bröckeln die Strukturen ebenfalls. Ihre Mitgliederzahlen gehen dort noch drastischer zurück als in den alten Bundesländern.
— Entschuldigung, wir treffen uns: Sie kommen von oben herunter, und wir gehen von unten hinauf.
Ich sage Ihnen voraus: In etwa anderthalb Jahren sind wir beieinander. Dabei ist aber der, der hinaufgeht, in einer besseren Verfassung als der, der heruntergeht.
In besonderem Maße wenden sich die Frauen und die jungen Menschen von Ihnen ab — sagt der Generalsekretär.Das ist kein Zwischentief, das ist kein Unwetter, das aus heiterem Himmel über Sie gekommen ist, sondern das ist — das hat Frau Süssmuth zuletzt, auch heute wieder, ausgeführt — ein Prozeß, der schon lange imGange ist und dem Gesetz von Ursache und Wirkung folgt. — Schauen Sie doch nicht so grämlich!
— Hat es sich endlich herumgesprochen? Ich finde es großartig, daß Sie jetzt auch Werbung für die Buchproduktion machen. Ich schließe mich ausdrücklich an.Eine — und wohl die entscheidende — Ursache ist das Versagen in der Sache.
— Was Sie alles für Bücher lesen, Herr Rühe. Haben Sie denn noch Zeit? Sie sollten sich mehr um die Partei kümmern und nicht immer Bücher lesen.
Ich wiederhole: Eine — und wohl die entscheidende — Ursache ist das Versagen in vielen Sachfragen. Was ich hier als kritische Bilanz vorgetragen habe, gibt die Einschätzung und das Empfinden eines wachsenden Teils unseres Volkes wieder. Zu Recht schreibt das „Handelsblatt" — das Sie wohl nicht für eine sozialdemokratische Einrichtung halten — vor drei Tagen: Die Union hat in den Augen vieler Wähler ihre wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz verloren.
Das bestätigen die Umfragen, und das bestätigenmehr und mehr — Sie, Herr Bundeskanzler? — Nein— Ihre eigenen Parteifreunde.Zwei weitere Ursachen kommen hinzu: Das ist die immer häufigere Mißachtung des Prinzips der Gerechtigkeit, und das ist — ich wiederhole es noch einmal — ein tiefgreifender Glaubwürdigkeitsverlust.Und ich muß da unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger auch in Schutz nehmen. Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger sind zu solidarischen Anstrengungen durchaus bereit. Ich will hier einmal hervorheben: Was die Städte und Gemeinden in den alten Bundesländern auf dem Wege von Partnerschaften und Patenschaften zusammen mit Städten und Gemeinden in den neuen Bundesländern bewegt und geleistet haben, ist aller Anerkennung und allen Respektes wert.
Aber die Menschen empören sich zu Recht, wenn breiten Schlichten zusätzliche Leistungen abgefordert werden, denen, die im Überfluß leben, zur gleichen Zeit aber noch hinzugegeben wird. Genau das geschieht doch immer wieder, z. B. bei der Erhebung der Ergänzungsabgabe auch von denen, die am untersten Rand der Steuerpflicht mit einem Monatseinkommen von 840 DM als Hilfsarbeiter in Leipzig leben. Mir wird keiner erklären können, daß es gerecht sei, je-
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3054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Hans-Jochen Vogelmanden mit diesem Einkommen zur Ergänzungsabgabe heranzuziehen.
— Entschuldigung! Sie können mir glauben, daß ich solche Zahlen, bevor ich sie hier nenne, dreimal prüfen lasse. Sie sind dreimal geprüft. Mit 840 DM steuerpflichtigem Einkommen ist er dabei.
— Da staunen Sie selber, daß das so ist! Und vor allem bei der von Ihnen mit einer erstaunlichen, einer besseren Sache würdigen, unglaublichen Hartnäckigkeit betriebenen Beseitigung der Vermögen- und der Gewerbekapitalsteuer.Mit einigen in Ihrer eigenen Fraktion muß ich fragen: Genieren Sie sich eigentlich gar nicht,
als sogenannte Volkspartei Großunternehmen und besonders wohlhabenden Eignern dieser Unternehmen Steuern in Milliardenhöhe gerade in dem Moment zu erlassen, in dem Sie die breiten Schichten mit zusätzlichen Steuern belasten? Das ist doch auch eine Frage des Zeitpunktes, der Kombination.
Sagen Sie bitte nicht, daß käme dem Handwerk und dem Mittelstand zugute. Sie wissen so gut wie wir, daß die ganz überwiegende Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Handwerksbetriebe infolge der Freibeträge überhaupt keine Gewerbesteuer und überhaupt keine Vermögensteuer zahlt. Es ist doch eine Begünstigung der Großen und nicht der Mittleren und der Kleinen.
Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie doch die Zahlen beim Zentralverband des Deutschen Handwerks ab.
Ein weiteres Beispiel ist die Zinsbesteuerung. Hier sind Sie von einem erstaunlichen Verständnis und einer erstaunlichen Rücksichtnahme bis hin zur Rückzahlungsamnestie für die, die ihre Steuern nicht bezahlen. Bei all dem, was ich höre, wird immer wieder bedacht, wie denn das auf diejenigen wirkt, die ihre Steuern hinterziehen. Wäre es nicht naheliegend, auch einmal an die zu denken, die ihre Steuern ehrlich zahlen? Es darf doch nicht wahr sein, daß die für dumm verkauft werden!
Auch unser Widerstand gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer hat hier eine von mehreren Wurzeln. Denn diese Erhöhung der Mehrwertsteuer orientiert sich nicht an der Leistungsfähigkeit, sondern trifft trotz des Satzes von 7 % — das sind im wesentlichen nur Lebensmittel, aber Leute mit geringem Einkommen brauchen ja auch Kleidung und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs; lesen Sie die Liste nach— auch die, die wegen ihres geringen Einkommens keine Lohn- und Einkommensteuer zu entrichten haben, also auch die Sozialhilfeempfänger, die Studenten, die Arbeitslosen und die Rentner.Das mag bequem sein — und vielleicht haben wir es in früherer Zeit auch als bequem empfunden; das will ich ja gar nicht bestreiten — , gerecht ist es nicht, und Gerechtigkeit ist nun einmal das Fundament jeglicher Politik, die mehr sein will als vordergründige Interessenbefriedigung und Augenblickslösung.
Wenn Sie mir das nicht glauben und wenn Sie wieder mit dem abgedroschenen Vorwurf antworten, wir schürten den Sozialneid,
dann lesen Sie es bei Oswald von Nell-Breuning nach, dem wir alle anläßlich seines Todes hohen Respekt erwiesen haben. Oswald von Nell-Breuning schrieb zuletzt im Jahre 1985 — wörtliches Zitat — :Das Maß der Besteuerung bestimmt sich nicht nach dem größeren oder geringeren Nutzen, den der einzelne vom Staat und seiner Tätigkeit gezogen hat, sondern nach seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit, das heißt seiner größeren oder geringeren Fähigkeit, einen Teil der von allen gemeinsam zu tragenden Lasten auf seine Schultern zu nehmen.Es ist schon ein bedeutender Vorgang, daß nicht die CDU, sondern daß wir uns auf die katholische Soziallehre von diesem großen Mann berufen.
— Ich bitte Sie! Das ist Ihnen doch nicht neu; das hat Ihnen doch auch Herr Geißler in Ihrer eigenen Fraktionssitzung gesagt.
— Wir brauchen doch nur immer das zu lesen, was Herr Feldmeyer schreibt. Sie haben doch ein paar Protokollanten. Damit sind wir doch genau im Bilde. Man muß bloß die „FAZ" abonnieren; da steht das immer ziemlich genau drin.Ebenso schwer wiegt, daß Ihnen die Menschen nicht mehr ohne weiteres vertrauen, daß sie Ihnen nicht mehr ohne weiteres glauben, daß sie das tun werden, was Sie zuvor versprochen haben. Täuschen Sie sich nicht: Da wirkt noch immer — das ergeben auch Ihre Diskussionen; Wilhelm, Töpfer, andere sagen es auf Ihren Parteitagen — die, ich sage es ganz milde, Nichteinhaltung des Wahlversprechens nach, die Steuern nicht zu erhöhen. Aber das ist nicht der einzige Fall.Sie sind gerade dabei, ein weiteres Versprechen in Frage zu stellen, nämlich das gegenüber den Berg-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3055
Dr. Hans-Jochen Vogelleuten, denen Sie — entgegen den Ergebnissen der Kohlerunden 1987 und 1989 — die Kokskohle-Beihilfe um 1,1 Milliarde DM kürzen wollen. Das bedeutet, daß in den Kohlerevieren weitere Arbeitsplätze in beträchtlicher Zahl verlorengehen.Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie zu bedenken, was Sie auf vielen Kongressen der IGBE, der Gewerkschaft der Bergarbeiter, gesagt haben. Ich bitte Sie zu bedenken, was die Bergarbeiter und die Bergbauregionen in den Jahren des Aufbaus — als wir gefroren haben und für jede Tonne Kohle dankbar waren — an solidarischer Anstrengung unternommen haben. Die Solidarität von damals muß heute ihre Antwort finden, indem wir solidarisch sind.
Außerdem: Die Gewerkschaft und den Bereich kann man suchen, der bei einem Abbau von 600 000 auf etwa 160 000 oder 170 000 Arbeitsplätzen innerhalb von 20 Jahren mitgeholfen hat.Ich vermute, daß Sie jetzt noch lebhafter werden; aber ich kann es Ihnen nicht ersparen:
Die Glaubwürdigkeit Ihrer Politik, der Politik der Union, ist auch durch all das schwer erschüttert, was jetzt hinsichtlich der Aktivitäten und Kontakte des Herrn Schalck ans Tageslicht kommt. Ich mache niemand zum Vorwurf, daß er mit dem genannten Herrn oder anderen Repräsentanten der seinerzeitigen DDR gesprochen und verhandelt hat. Das war notwendig, und das haben auch wir getan. Ich werde jeden in jeder Partei in Schutz nehmen, der jetzt angegriffen wird, weil er gesprochen und verhandelt hat, weil er — hier nenne ich Herbert Wehner, der dies als einer der ersten getan hat — auch Tausenden von Menschen zur ersehnten Freiheit verholfen hat. Ich werde deswegen keinen angreifen.
Aber es verstärkt sich doch von Tag zu Tag der Verdacht, daß im Dreieck der Herren Strauß, März und Schalck kommerzielle und politische Interessen in eine enge Berührung gerieten,
daß aus diesem Dreieck internes Regierungswissen kontinuierlich und auf kürzestem Weg an die damaligen Machthaber der DDR gelangt ist. Es verstärkt sich auch der Verdacht, daß Herr Strauß in diesem Zusammenhang als — um den von der, Herrn Strauß gegenüber gewiß nicht voreingenommenen, „FAZ" empfohlenen Begriff zu verwenden — „Informationsquelle" diente, wobei ich jetzt hinzusetze: als reichlich sprudelnde Informationsquelle.
— Aha, die „FAZ" verleumdet also. Das ist interessant. Ich bin in meiner Wortwahl sehr korrekt.
Passen Sie einmal auf! Es kommt noch besser. Als vorsichtiger Mann rede ich von Verdacht, obwohl der Ihnen — genauso wie mir — bekannte Herr Strauß junior gestern öffentlich, in der „Süddeutschen Zeitung" nachlesbar, bestätigt hat, es sei ziemlich alles authentisch, was in den bisher bekannt gewordenen Vermerken stehe.
Da kann ich nur sagen: Hört! Hört! Und da sagt der Kollege: „Verleumdung".
Also: Was Herr Strauß junior sagt, werde ich doch in Gottes Namen von diesem Pult aus auch sagen dürfen!
— Was ist da?
— Jawohl. Ich komme noch darauf zu sprechen. Da ist nämlich noch eine viel interessantere Stelle. Die lese ich Ihnen dann gern auch in vollem Wortlaut vor, aber erst dann, wenn ich Sie noch durch weitere Mitteilungen erfreut habe.Ich greife der abschließenden Würdigung dessen, was da geschehen ist, nicht vor.
Aber ich habe auch nicht vergessen, mit welcher Schärfe Herr Strauß — das sage ich auch in Kenntnis der Tatsache, daß es sich um einen Toten handelt — uns Sozialdemokraten immer wieder angegriffen hat, weil wir im Zuge der Ost- und Deutschlandpolitik das intensive Gespräch mit der DDR-Seite suchten und führten. Und
das gerade in der Zeit, in der dieses Dreieck als Informationsabschöpfungsquelle aktiv war.
Ich verdränge auch nicht aus meinem Gedächtnis— da spreche ich auch den Justizminister an, weil er das im nachhinein sicherlich zu würdigen versteht —, daß andere wegen vergleichsweise harmloser Informationen nach geltendem Recht — ich erhebe keinen Vorwurf — wegen einmaligen Kontakts oder zweimaliger Kontakte zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt werden mußten.
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3056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Hans-Jochen VogelWundern Sie sich wirklich darüber, daß unter dem Eindruck dessen, was da an immer neuen Einzelheiten auf den Tisch kommt, mehr Menschen als je zuvor Politik für ein doppelzüngiges und für ein wenig appetitliches Geschäft halten?
— Das Wortgetöse, mit dem Sie darauf reagieren, verrät in erster Linie Nervosität.
Wir führen keine nachträgliche Kampagne gegen Herrn Strauß,
vor der Sie ihn schützen müssen. Die Wahrheit ist: Herr Strauß wird von seinen eigenen Aktivitäten eingeholt, und seine Freunde hätten besser daran getan, ihn zu seinen Lebzeiten zu warnen und von solchen Aktivitäten abzuhalten,
insbesondere die, die sich in diesen Tagen öffentlich als Fachleute in Sachen Strauß erklärt haben.Außerdem: Der verheerende Eindruck ist durch die geradezu rührende Fürsorge — „Betreuung" darf man nicht sagen, so habe ich gelernt — , die Herrn Schalck nach seiner Flucht aus der damals noch existierenden DDR — ich bin jetzt vorsichtig —
unter den Augen des Bundeskanzleramts zuteil wurde,
durch die unwahre Antwort, die das Bundeskanzleramt auf die Fragen unseres Kollegen Conradi gegeben hat, und durch die Widersprüche, in die man sich zunehmend verstrickt, nachdem jetzt auch Herr Wieck aus seiner Reserve heraustritt und seinen Beitrag leistet, noch verstärkt worden.
Schließlich hat Herr Strauß junior, der sich bekanntlich rühmt, die Verbindung zwischen Schalck und dem BND hergestellt zu haben, geäußert — jetzt kommen die Zitate —, Herr Schalck — so wörtlich! — sei ein Opfer der gesamten linken Mafia geworden. — Dann gehört auch der Herr Stoiber dazu — nicht? —, der ihn des Landes verweisen wollte! Dann gehört der auch schon zur linken Mafia!
Alle stehen links von Dregger, und alle gehören schon zur linken Mafia.
Dann sagt Herr Strauß junior — darf man doch zitieren, nicht? — , wörtlich, man müsse den Mut von Herrn Schalck bewundern. — Das ist ein bemerkenswerter Sachbeitrag.Auch verdient Aufmerksamkeit, daß er die CSU- Führung, und zwar namentlich die Herren Waigel und Streibl, kritisiert und ihr vorwirft — —
— Aber bitte sehr! Hier steht es doch! Da sind die angesprochen auf den Vermerk, wo Sie im „Schwarzwälder" und so — —
— Wo war es denn dann? In München!
— Na gut. Wenn sich der Widerspruch darauf beschränkt, daß ich sage, es sei im „Schwarzwälder" gewesen, und Herr Waigel sagt, es sei in einem anderen Münchner Lokal gewesen, in dem man gut speist— okay; dann sind wir dicht beieinander.
— Weil Sie mich auffordern, lese ich es Ihnen wörtlich vor. Auf Ihre Äußerung, Sie wollten mit März nichts mehr zu tun haben und es sollte künftig über andere Stellen gehen:Das haben wir nach dem Tod meines Vaters öfters gehört; das ist Bestandteil dieses Kleinkriegs, der in unwürdigen Dimensionen läuft.
— Dann lese ich noch mehr vor. Daß sich dies immer mehr verbreitet, verdanke ich Ihrer Mithilfe.Zu den von Schalck-Golodkowski nach einem Gespräch am 13. Februar 1989 mit dem neuen Vorsitzenden Waigel und dem bayerischen Ministerpräsidenten Streibl notierten abfälligen Bemerkungen der beiden Politiker über Strauß und seine wirtschaftlichen Verflechtungen mit März, die nicht ihre Billigung gefunden hätten, äußert sich Max Strauß verärgert: „Das haben wir nach dem Tod meines Vaters öfters gehört; das ist Bestandteil dieses Kleinkriegs, der in unwürdigen Dimensionen verläuft."Ist jetzt die Beziehung zu Ihnen genügend hergestellt? —Er kritisiert gleichzeitig die Taktik, die die CSU- Führung in der Sache anwendet. Jetzt wieder wörtlich:Diese Taktik sei, gelinde gesagt, äußerst kompliziert. Sie können nicht sagen,— das sagt er Ihnen —der lichtvolle Strauß hat den lichtvollen Milliardenkredit unter lichtvollen Umständen mit dem größten Verbrecher, Schieber und Dreckschwein aller Zeiten gemacht. Das geht nicht.Dies sagte Strauß junior.Ich kann nur sagen: Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. Wo jemand recht hat, hat er recht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3057
Dr. Hans-Jochen VogelEs fragt sich nur, meine Herren — das ist aber nicht meine Sorge —, wo Sie die Korrekturen in dem, was er als unvereinbar erklärt, ansetzen müssen.Der „Bonner General-Anzeiger" — auch kein sozialdemokratisches Kampfblatt — schrieb dazu vor wenigen Tagen
— nein, der General-Anzeiger; das ist völlig in Ordnung —:Watergate läßt jedenfalls schon jetzt schön grüßen.
— Das schreibt der „Bonner General-Anzeiger" . Ich werde ja zitieren dürfen.Ich fürchte, Herr Bundeskanzler, wenn hier nicht restlose Klarheit geschaffen wird und wenn weiter verzögert und verdeckt wird solange, bis es nicht mehr anders geht, dann könnte es nicht bei dem Gruß bleiben, von dem hier die Rede ist.Wir freuen uns nicht über die Krise, in der Sie sich befinden; wir waren selber in Krisen. Wir wissen schon jetzt, daß Ihre Krise, weil es die Krise der stärksten Regierungspartei ist, unser Gemeinwesen insgesamt in Mitleidenschaft zieht. Daß die Politikverdrossenheit ganz allgemein steigt, kann jeder an den sinkenden Prozentsätzen der Wahlbeteiligung ablesen. Wir wollen nicht, daß aus Ihrer Krise eine Krise unseres Gemeinwesens wird. Gerade in Zeiten wie dieser wäre das besonders schädlich und gefährlich.Wir wollen, daß sich die Dinge zum Besseren wenden, daß die Menschen in die Politik wieder Vertrauen fassen, daß das Gewicht der größergewordenen Bundesrepublik in Europa und in der Welt im Sinne einer friedlichen und demokratischen und sozialen Entwicklung zum Tragen kommt. Europa und die Welt hat auf diesen deutschen Beitrag auch im Hinblick auf dunkle Kapitel unserer Geschichte einen Anspruch. Daran wird sich unsere Arbeit als Opposition orientieren, in dem Bewußtsein, daß Ihre Schwäche unsere Verantwortung erhöht und daß diese Verantwortung die jederzeitige Bereitschaft einschließt, die Regierungsmacht zu übernehmen, die Ihnen immer rascher entgleitet.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Vogel, ich muß zugeben, ich bin ein wenig sprachlos.
Eine solch billige Sammlung von Verdrehungen und Verdächtigungen habe ich, ehrlich gesagt, heute morgen hier nicht erwartet.
Ich dachte, ich würde heute etwas hören von einer SPD-Konzeption für die Zukunft der Menschen in unserem Lande. Statt dessen haben wir, wie schon so oft in diesem Hause, Allgemeines, Mäkeleien, vor allem aber Beschimpfungen und Verdrehungen gehört.
Nun hat der SPD-Vorsitzende Engholm gerade gestern noch gesagt, daß es eine solche Konzeption noch gar nicht geben könne, weil, wie in der „Rheinischen Post" zu lesen war, einheitliche Aussagen sozialdemokratischer Politik erst zukünftig in speziellen Arbeitsgruppen erarbeitet werden müßten. Insofern verwundert es natürlich nicht, daß wir eine Rede von Herrn Vogel gehört haben, wie wir sie z. B. auch im Frühjahr hier schon erlebt haben. Ich meine, in entscheidenden Punkten ist die SPD einmal mehr den Beweis schuldig geblieben, daß sie die Zukunft unseres Vaterlandes gestalten kann.
Der neue Parteivorsitzende hat heute morgen hier in der Sache Allgemeines gesagt, aber natürlich in sehr netter Form. Ich will ausdrücklich zugeben: Er ist, wie die Sommerpause gezeigt hat, auch lernfähig.
Er hat zuerst den Rücktritt des Bundeskanzlers gefordert. Auf Befragen, welchen Grund er denn für diese Forderung habe, hat er die Rücktrittsforderung mit Bedauern zurückgenommen.Der Fraktionsvorsitzende hat, verdeckt unter Beschimpfungen, die Beschlußlage erläutert, und zwar zugegebenermaßen, wie immer, Herr Vogel, wohlgeordnet. Unklar ist mir nur, wer in der SPD dem eigentlich noch zustimmt.Der Dritte im Bunde schweigt zur Zeit. Man darf rätseln, wann aus Saarbrücken wieder einmal zu hören sein wird, er wisse ja doch alles besser.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine solche Konfusion ist natürlich zwangsläufig, wenn niemand weiß, wer was zu sagen hat. Da haben wir gelesen, der neue Vorsitzende, will die Macht von der Fraktion in die Parteizentrale verlegen.
Der Fraktionsvorsitzende wehrt sich gegen diese Demontage, und Lafontaine pocht auf die Macht der Ministerpräsidenten. Die logische Folge eines solchen Zustandes ist natürlich: Niemand weiß, wohin die Reise geht, und die Suche nach Alternativen muß dann ergebnislos bleiben. Dabei, so meine ich, haben die Bürger Anspruch auf Klarheit, und zwar spätestens seitdem die SPD im Bundesrat Mitverantwortung übernehmen muß.Was wollen die Menschen in dieser Debatte über den Haushalt 1992 hören? — Ich meine, die Menschen wollen Antworten, etwa in der Asylfrage.Jeder von uns weiß, die Städte und Gemeinden werden mit dem Problem nicht mehr fertig. Sozialdemo-
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3058 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Jürgen Rüttgerskratische Bürgermeister und Oberbürgermeister fordern heute eine Grundgesetzänderung.
In diesem Jahr steigt die Zahl der Asylanten auf mehr als 200 000; im August waren es mehr als 28 000. Mit 28 000 ist die Zahl der Asylbewerber erstmals deutlich höher als die Zahl der Aussiedler. Jeder von uns hört im Wahlkreis, liest in den Zeitungen fast täglich von überfüllten Schulen, von überfüllten Turnhallen, von Zeltlagern, von Wohncontainern. Ganz schlimm ist, daß wir fast wöchentlich Nachrichten über Anschläge auf Ausländerwohnheime lesen.Was sagt die SPD in dieser Situation? — Herr Engholm fordert eine Zuwanderquote. Ministerpräsident Schröder lehnt die Zuwanderquote ab und will nur über Art. 116 reden. Herr Lafontaine will über alles mit sich reden lassen und Herr Vogel keinesfalls über eine Verfassungsänderung.
Herr Wedemeier verschiebt unterdessen gegen Recht und Gesetz Asylanten in andere Bundesländer.Herr Engholm hat heute morgen davor gewarnt, Asylbewerber und Aussiedler gegeneinander auszuspielen. Ich meine, da hat er recht. Diese Aufforderung, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört aber auf SPD-Parteitage, sie gehört an die Adresse der Kollegen Schröder und Lafontaine, die dieses böse Spiel in den letzten Wochen betrieben haben.
Seit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden redet in den letzten Wochen und Monaten kein anderer Politiker soviel von politischer Moral wie Herr Engholm. Keiner führt das Wort von der Wahrhaftigkeit so oft im Munde wie Herr Engholm. Ich meine, es ist jetzt an der Zeit, daß er diesen Anspruch endlich selbst einlöst. Sonst könnte man im Zusammenhang mit dem Thema Asylrecht wirklich auf den Gedenken kommen, hier sei der Biedermann als Brandstifter unterwegs.
Die Debatten der letzten Monate und Jahre haben doch eines ganz deutlich gezeigt: Mit den Rezepten, die wir von der SPD hören, ist das Asylproblem nicht zu lösen. Nicht derjenige ist ausländerfeindlich, der das Grundgesetz ändert, sondern derjenige, der dem anhaltenden Zuzug keinen Einhalt gebietet.
Natürlich ist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereit, alle Schritte zu unternehmen, um das Asylverfahren zu straffen und die Abschiebung von Wirtschaftsflüchtlingen zu erleichtern. Aber man darf ja wohl auch einmal daran erinnern, daß die nächste Verfahrensänderung die sechste ist, die vom Deutschen Bundestag seit 1982 beschlossen wird. Jeder weiß, daß sie zwar das Problem lindern, aber letztlich nicht lösen kann.Wer weiter will, daß Verfolgte in Deutschland auch in Zukunft Aufnahme finden, wer nicht will, daß Deutschland ausländerfeindlich wird, wer will, daß es zu einer einheitlichen europäischen Regelung kommt,und wer will, daß den Schlepperorganisationen das Handwerk gelegt wird, der muß heute ja zu einer Grundgesetzänderung sagen.
Kollege Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Natürlich.
Herr Kollege, würden Sie sich dann liebenswürdigerweise auch zu dem Gesetzentwurf des Landes Bayern äußern, der im Bundesrat anhängig gemacht worden ist und der es ermöglicht, auch politisch Verfolgte zurückzuweisen, wenn er angenommen würde, was ich nicht hoffe?
Herr Kollege Hirsch, ich habe eben mit großer Freude in dieser Debatte zur Kenntnis genommen, daß Ihr Fraktionsvorsitzender erklärt hat, daß Sie sich in Ihrer gestrigen Fraktionssitzung dazu durchgerungen haben, gegebenenfalls auch einer Änderung des Grundgesetzes zuzustimmen.
— Natürlich, auch bei einer Europäisierung. Wir schließen das gar nicht aus. Es ist ja eines der Ziele, das in diesem Zusammenhang angestrebt wird. Dann werden wir ganz sicherlich über alle Vorschläge
— seien sie aus Bayern, aus Baden-Württemberg, aus der FDP oder der CDU/CSU — diskutieren. Herr Hirsch, wenn wir dann gemeinsam einen solchen Vorschlag im Bundestag einbringen, hoffe ich auch, daß wir gemeinsam die Mehrheit dadurch bekommen, daß die SPD endlich zu einer klaren Linie in dieser Frage kommt.
Also verweigern Sie eine Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf von Bayern?
Das war eine zweite Zwischenfrage. Gestatten Sie die auch noch?
Ich müßte Sie dann bitten, das zu wiederholen. Ich glaube allerdings, Herr Hirsch, daß es keinen Zweck hat, wenn wir jetzt eine Detaildebatte über das Asylrecht führen. Hier führen wir eine politische Debatte. Ich bin froh, daß gerade Sie persönlich diesem Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes im europäischen Rahmen zugestimmt haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen wollen nicht nur wissen, wie es in der Asylfrage weitergeht. Die Menschen wollen natürlich auch wissen— jeder, der über die Sommerzeit hinweg in den Wahlkreisen diskutiert hat, weiß das —, wie es mit den Finanzen weitergeht. Nun haben die SPD-Ministerpräsidenten erklärt, sie seien einer Mehrwertsteuererhöhung nicht abgeneigt. Es ist natürlich klar: Das Hemd der Länderfinanzen ist ihnen näher als der Rock der Parteiideologie.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3059
Dr. Jürgen RüttgersFrau Matthäus-Maier
— Herr Penner, das haben wir von ihr gehört — spricht ein entschlossenes Nein. Das Parteipräsidium der SPD hat gerade ein konditioniertes Nein gesprochen, was dann logischerweise auch ein konditioniertes Ja ist. Herr Engholm will — das war hochinteressant — eine Erhöhung im Bundestag und im Bundesrat ablehnen, im Vermittlungsausschuß aber zustimmen. Da möchte ich doch einmal daran erinnern: Mit einer solchen Strategie ist Herr Lafontaine im vergangenen Jahr auf die Nase gefallen.
Der Höhepunkt der SPD-Strategie ist aber, daß Herr Engholm vorsichtshalber gleichzeitig einen höheren Anteil an der Mehrwertsteuer für die Länder und Gemeinden gefordert hat. Auch hier Konfusion statt Klarheit.Nun hat Herr Engholm bei dem Konzept, das er Anfang der Woche in einer Pressekonferenz vorgelegt hat, gesagt, wir müßten auf ausgabewirksame Gesetze verzichten. Das hat auch der Finanzminister gestern in seiner Einbringungsrede vorgetragen. Interessant ist, daß dies die SPD-Fraktion nicht daran hindert, täglich neue Forderungen zu stellen, so z. B. am selben Tag, als Herr Engholm den Verzicht gefordert hat, die Forderung nach einer Erhöhung des Forschungshaushalts um 1,6 Milliarden DM. So etwas ist allenfalls sozialistische Haushaltswirtschaft. Seriös ist das nicht.Nun haben wir in diesem Zusammenhang auch gehört — Herr Vogel hat das soeben noch einmal vorgetragen — , daß die SPD keinesfalls eine Unternehmensteuerreform mittragen will. Herr Engholm hat auch das heute morgen bestätigt. Ich will ihm mit einem Zitat antworten. Das Zitat lautet:Wenn wir als Industriestandort Bundesrepublik im Europäischen Binnenmarkt attraktiv bleiben wollen, muß die Unternehmensbesteuerung .. . dringend abgesenkt werden.Also sprach Herr Engholm am 20. April 1989 in der Zeitschrift „Die Bunte".
Damit stellt sich für mich die Frage: Ist Herrn Engholm die richtige Einsicht wieder abhanden gekommen, oder ist er hier im innerparteilichen Machtkampf zwischen Partei, Fraktion und anderen Gremien unterlegen?
Wenn das nicht der Fall sein sollte, muß man aber die Frage stellen, was denn von den Erklärungen des Herrn Engholm zu solchen wichtigen Sachfragen überhaupt zu halten ist. Denn wenn er das eine 1989 und Anfang der Woche etwas anderes erklärt hat, dann muß man ja fragen: Wie lange hält denn eigentlich die Erklärung von Anfang der Woche: bis Ende des Jahres oder darüber hinaus?
Was für die Menschen und auch für die Debatte in diesem Haus wichtig ist: Was gilt eigentlich?Nehmen wir den nächsten Punkt. Die SPD hat erklärt, eine Ergänzungsabgabe für sogenannte Besserverdienende ab 60 000 DM bzw. 120 000 DM Jahreseinkommen müsse eingeführt werden. Interessant ist, daß ich als verheirateter Bundestagsabgeordneter diese Ergänzungsabgabe dann nicht zahlen muß, mein unverheirateter Mitarbeiter allerdings sehr wohl.
Abgesehen von solchen Ungereimtheiten wird damit sehr deutlich, daß eine solche Ergänzungsabgabe eben nicht — wie behauptet worden ist und wie auch Herr Vogel soeben noch einmal gesagt hat — die Reichen trifft — diese könnten das leicht verschmerzen —, sondern die Mittelschicht in der Bundesrepublik Deutschland, die unsere wirtschaftliche Dynamik trägt und die wir für den Aufbau in den fünf neuen Bundesländern brauchen.
Eines in diesem Zusammenhang kann ich allerdings bestätigen, daß es nämlich mit einer solchen Ergänzungsabgabe allen gleich geht. Vor allem geht es aber allen gleich schlechter.Gestern hat Frau Matthäus-Maier ein Zahlenwerk über die Staatsverschuldung vorgetragen.
— Ja, Herr Penner, rechnen kann sie; das gebe ich gerne zu. — Am Anfang war ich richtig erschrocken. Nachdem ich mir das angeguckt hatte, habe ich allerdings festgestellt, daß Frau Matthäus-Maier eine entscheidende Zahl leider vergessen hat, nämlich folgende: Ohne die Zinszahlungen für 300 Milliarden DM SPD-Schulden hätte der Bundesfinanzminister bis zum vergangenen Jahr keine neuen Schulden machen müssen. Das ist die Basis aller ihrer Berechnungen, die sie leider ausgeblendet hat.
Man muß einfach sagen: Wir übernehmen zwar gerne Verantwortung, aber für die finanzpolitischen Fehlleistungen der SPD muß die SPD selber geradestehen.Ich will an ein weiteres erinnern: Frau MatthäusMaier hat am 4. September 1989 an dieser Stelle folgendes gesagt — ich zitiere — :Kreditaufnahme des Staates ist grundsätzlich weder etwas Schlechtes noch etwas Gutes. Es kommt darauf an, wofür man solche Schulden macht und in welcher Situation man sie macht.
Wenn Frau Matthäus-Maier hier wäre, würde ich ihr in der Tat recht geben: Genau darauf kommt es an. Es kommt darauf an, daß wir diese Schulden für den
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3060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Jürgen RüttgersAufbau in den fünf neuen Bundesländern machen, daß wir damit Investitionen finanzieren, daß wir damit den Übergang in die Soziale Marktwirtschaft finanzieren und daß wir diese Schuldenaufnahme kontrolliert vornehmen; denn das sind Investitionen für die innere Einheit unseres Landes, und das ist gut angelegtes Geld.Wir werden uns durch die unausgegorenen Vorstellungen der SPD nicht von unserer Politik der soliden Finanzen abbringen lassen.
Zur Haushaltskonsolidierung gehört: Abbau der Neuverschuldung auf 25 Milliarden DM bis 1995, weiterer Abbau von Subventionen — bisher in einer Höhe von 60 Milliarden DM; 30 Milliarden DM allein in den nächsten drei Jahren — und eine maßvolle Erhöhung der Mehrwertsteuer bei gleichzeitiger Entlastung der Familien.Als wir 1982 mit der Politik der Haushaltskonsolidierung begannen, haben wir in diesem Hause den Vorwurf gehört, wir würden die Republik kaputtsparen. Wären wir den Vorschlägen der SPD damals gefolgt, so könnten wir heute die Kosten der Einheit nicht finanzieren. Deshalb bleibt es bei dem erfolgreichen Kurs der Bundesregierung und der Koalition.
Nun fragen die Menschen auch: Wie geht es denn in Europa weiter? Wie sichert ihr den Frieden in einer Zeit, in der ein Imperium zerfällt und in der in Jugoslawien ein Bürgerkrieg tobt? Dazu gehört natürlich auch die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und nach der Zukunft der NATO.Nun zeigt ein Blick in die Geschichte und die Debatten des Hauses, daß die SPD in Bündnisfragen leider — ich sage ausdrücklich: leider! — immer schon zwiespältig war. Im Zusammenhang mit dem NATO- Doppelbeschluß hat sie damals eine Eiszeit angekündigt; geschehen ist nichts dergleichen. Das gemeinsame Ziel der NATO, nämlich die Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen, hat die SPD als unrealistisch bezeichnet und für die Sowjetunion als unzumutbar erklärt. Gleiches geschah mit der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland. Was ist das Ergebnis? Die Raketen sind verschwunden, und ganz Deutschland gehört zum Bündnis.Das ist eigentlich das Interessante: Selbst durch solche fundamentalen schlechten Erfahrungen läßt sich die SPD nicht so einfach von einem falschen Kurs abbringen. Herr Lafontaine hat die NATO einmal als „historischen Schwachsinn" bezeichnet. Der SPD-Abgeordnete Hermann Scheer hat jetzt gerade die Umwandlung der NATO in eine Europapolizei gefordert. Das alles geschieht in einer Situation, in der der mißglückte Putsch in der Sowjetunion und der Bürgerkrieg in Jugoslawien die Unwägbarkeiten der europäischen Sicherheit doch sehr deutlich gemacht haben, vor allem aber in einer Situation, in der Staaten wie Polen, wie Ungarn, wie die CSFR den Schutz gerade dieses westlichen Bündnisses suchen.Nun hat der Bremer SPD-Parteitag beschlossen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland nur nach einer Grundgesetzänderung an Blauhelm-Aktionen beteiligen soll. Dann hat der Parteivorsitzende Engholm erklärt, es ginge vielleicht auch ohne Änderung des Grundgesetzes. Daraufhin hat ihn der Fraktionsvorsitzende zurückgepfiffen. Heute morgen — das haben wir gerade gehört — ist Herr Engholm umgefallen.Wie schon im vergangenen Jahr bei der deutschen Einheit ist die SPD den globalen Herausforderungen der Zukunft eben nicht gewachsen. 1990 war sie einmal für und einmal gegen die Wirtschafts- und Währungsunion. Sie war einmal für und einmal gegen den Einigungsvertrag.Wir haben in den letzten Monaten und Jahren wirklich einiges an falschen Prophezeiungen der SPD gehört und sind sie an und für sich schon gewohnt. Aber in diesem Jahr — das müssen Sie zugeben, liebe Kollegen von der SPD — haben Sie es wirklich übertrieben.Der Kollege Thierse — eben gerade noch hier — hat am 21. Februar 1991 im Deutschen Bundestag — das ist noch nicht so lange her —
— das war früh; denn er darf, Herr Kollege Penner, bei Ihnen immer früh reden — eine Arbeitslosenquote von über 40 % für Mitte des Jahres prognostiziert. Herr Roth, seines Zeichens wirtschaftspolitischer Berater von Herrn Engholm, hat vorausgesagt, daß die neuen Bundesländer für lange Zeit — man höre — regelrechte Notstandsgebiete bleiben würden. 70 % der Arbeitsplätze würden verlorengehen. Herr Vogel sprach von sozialen Unruhen, die zu erwarten seien. In anderem Zusammenhang war von Lehrstellenkatastrophe die Rede.
Die Realität stellt sich aber wie folgt dar: Im August ist die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern nicht gewachsen; die Quote liegt weiter bei 12,1 %. Gleichzeitig ist die Zahl der Kurzarbeiter um 170 000 zurückgegangen.
Damit ist eines klar: die Verelendungstheorie von Hans-Jochen Vogel und von Oskar Lafontaine ist genauso falsch wie diejenige von Karl Marx und Friedrich Engels.
Die SPD hat sich im Frühjahr genauso wie im Jahr zuvor geirrt. Damals haben Sie geglaubt, die Wiedervereinigung hätte Zeit. Aber spätestens nach dem gescheiterten Putsch in Moskau weiß nun wirklich jeder in Deutschland: Nur wenige Wochen bestand die Chance zur friedlichen Wiedervereinigung. Bundeskanzler Helmut Kohl hat diese Chance ergriffen und erfolgreich für unser Land umgesetzt.Im Frühjahr sprach die SPD von einer Wirtschaftskatastrophe. Inzwischen ist klar: Der Aufschwung in
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Dr. Jürgen Rüttgersden fünf neuen Bundesländern beginnt. Das Licht am Ende des Tunnels ist zu sehen.Nun gibt es auch in der SPD kluge Leute. Es gibt Herrn Stolpe, Ministerpräsident aus Brandenburg. Er sieht mehr als nur einen Silberstreifen am Horizont. Im Osten — so sagt er — seien die größten Schwierigkeiten bis 1994 überwunden. Auch ich glaube das. Ich glaube, daß wir diesen Mut und diesen Optimismus haben können. Ich frage mich dann natürlich auch: Warum sollte Herr Stolpe nicht ebenso mit seiner anderen Einschätzung recht haben — Zitat — :Ich glaube, auch wenn meine Partei das nicht sehr gerne hört, daß Kohls Strategie aufgehen könnte, und dann braucht die CDU nur noch daran zu erinnern, wer das alles auf den Weg gebracht hat.Ein kluger Mann!Nun will ich nicht den Eindruck erwecken, als hätten wir wirklich alles richtig gemacht. Der Unterschied zwischen uns ist nur, daß unsere Richtung richtig war und daß uns kleine Fehler eben nicht vom richtigen Kurs abgebracht haben.
Nur mit Klarheit und Stetigkeit läßt sich die Jahrhundertaufgabe der deutschen Einheit bewältigen.Die Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland ist sicherlich auch das zentrale Thema dieses Bundeshaushalts. Diese Angleichung ist wichtig. Aber einander besser zu verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist genauso wichtig. Niemand kann aus seiner Biographie aussteigen. Deshalb sind die Probleme nur durch menschliches Miteinander zu lösen. Wer eine gemeinsame Zukunft will, der muß auch den Mut haben, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Dazu gehört dann auch die SPD-Politik der Anpassung an die sogenannten Realitäten.Nun weiß jeder in Deutschland, daß der traurige Höhepunkt dieser Politik der Anpassung an die sogenannten Realitäten das gemeinsame Papier von SPD und SED war, in dem die älteste demokratische Partei Deutschlands Diktatoren Existenz- und Reformfähigkeit bescheinigte.
Der eigentliche aktuelle Skandal ist aber, daß dieser Text bis heute nicht aufgekündigt ist. Herr Vogel, stellvertretend für Ihren Nachfolger frage ich Sie: Da ja nun die PDS rechtlich die Nachfolgerin der SED ist, besteht eigentlich heute ein Vertrag zwischen SPD und PDS über die wechselseitige Anerkennung von Existenz- und Reformfähigkeit?
Diese Frage ist schon von erheblicher Bedeutung, weil sie nämlich genau das, was Sie hier anmahnen, an Ihrem eigenen Verhalten deutlich macht. Es geht um die Frage, ob Sie als SPD bereit sind, mit dieser Vergangenheit, die Sie in diesem Papier dokumentiert und die Sie zu tragen haben, dann auch umzugehen, oder ob es bei den traumatischen Erfahrungen bleibt, die Sie anscheinend haben und die eben nicht von selbst weggehen, sondern die aufgearbeitet werden müssen.
Nun haben wir es — Sie haben auch dazu Stellung genommen, Herr Vogel — aktuell mit einem besonders sumpfigen Gelände des DDR-Sozialismus namens „Kommerzielle Koordinierung" zu tun.
Eine besonders schillernde Figur ist ihr ehemaliger Chef Alexander Schalck-Golodkowski.
Es gab einen Konsens in diesem Hause, daß wir im Untersuchungsausschuß Licht in das Dunkel dieser mafiaähnlichen Organisation bringen.
Ich kündige Ihnen an, daß die Koalition in der morgigen Sitzung beantragen wird, daß Schalck-Golodkowski noch im Oktober vor den Ausschuß geladen wird.Unser Ziel bei der Debatte um die Einsetzung war, einen Beitrag dazu zu leisten, daß es keinen Grabenkampf-West, sondern eine Aufarbeitung-Ost gibt. Das war der Konsens am Beginn unserer Arbeit.Die SPD will diesen Konsens jetzt offenbar aufgeben. Ich sage persönlich, daß der Vorwurf des Herrn von Bülow, Franz Josef Strauß sei ein Spion der DDR gewesen, für mich eine widerliche Aussage ist.
Franz Josef Strauß war über Jahrzehnte gezielten Hetztiraden der kommunistischen Führung in OstBerlin ausgesetzt. Die Kommunisten haben ihn als Kriegstreiber, als Revanchisten und als Reaktionär diffamiert. Im Bundestagswahlkampf 1980 — Herr Vogel, hören Sie genau zu — hat die SED alles unternommen, um der SPD unter die Arme zu greifen und um dem Kanzlerkandidaten Strauß zu schaden.
Es ist Schlichtweg abenteuerlich, Franz Josef Strauß heute als Handlanger der Kommunisten darzustellen. Würde er noch leben, hätte sich Herr von Bülow wohl kaum aus der Deckung getraut.
Ich finde es wirklich traurig, Herr Vogel, daß Sie sich dem heute mehr oder weniger inhaltlich angeschlossen haben.
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3062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Jürgen RüttgersSchalck-Golodkowski ist vom damaligen DDR-Regime mit den Kontakten zur Bundesrepublik Deutschland beauftragt worden. Kein deutscher Politiker konnte sich in den Jahren der Teilung seinen Gesprächspartner aussuchen, wenn es galt, menschliche Erleichterungen zu erreichen. Das galt vor und nach dem Regierungswechsel 1982. Das galt für die Regierung Helmut Schmidt genauso wie für die jetzige. Aber es gab zwei Unterschiede: Wir waren zu keinem Zeitpunkt bereit, Statusfragen zur Diskussion zu stellen, sondern für uns waren Leistung und Gegenleistung der wichtige Punkt.
Danach haben wir gehandelt, und damit haben wir Erfolg gehabt.
Das war der Grund für den Milliardenkredit: Geld gegen menschliche Erleichterungen, Geld gegen Ausreise.
Ich weiß nicht, warum Sie hier herumschreien und warum es daran irgend etwas zu kritisieren gibt.
Diese Politik war richtig. Sie hat die Wiedervereinigung vorbereitet. Das muß man in dem Zusammenhang auch einmal sagen, weil das ja auch wieder gestreut wird: Diese Politik — gerade im Hinblick auf den Milliardenkredit — hat den deutschen Steuerzahler keinen Pfennig gekostet.
Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit ist ein wichtiger Beitrag zur inneren Einheit unseres Landes. Man muß mit sich selbst ins reine kommen, wenn man die Zukunft gestalten will.Das gilt auch für die SPD und ihr Bekenntnis zu Europa. Wer keine Mehrwertsteuererhöhung will, verhindert die Wirtschafts- und Währungsunion. Wer keine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes will, verhindert ein gemeinsames europäisches Asylrecht. Wer keine Teilnahme an friedenssichernden Aktionen will, verhindert die Sicherheitsunion und damit die Politische Union in Europa. Angesichts dieser Politik sind die Bekenntnisse der SPD zu Europa, heute morgen von Herrn Engholm abgegeben, nicht das Papier wert, auf dem sie stehen.
Die SPD hat sich in Godesberg 1959 vom Marxismus verabschiedet. Ich meine, es ist jetzt an der Zeit, mit dem Abschied von sozialistischen Experimenten und außenpolitischen Unsicherheiten endlich zu beginnen.
Erst heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Rückblick auf die turbulente Entwicklung der vergangenen Jahre, läßt sich die historische Bedeutung des Regierungswechsels von 1982 richtig einschätzen. Ohne eine solide Finanzpolitik, ohne eine Wirtschaftspolitik nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und ohne eine berechenbare Außenpolitik könnten wir die Zukunft nicht bewältigen.Das historische Verdienst des Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung ist nicht nur, die Chancen der Einheit zum richtigen Zeitpunkt mit der notwendigen Entschlossenheit genutzt zu haben, sondern das historische Verdienst liegt auch in der soliden Politik seit 1982. Es wäre in der Tat im Interesse unseres Landes, wenn es der SPD jetzt gelingen würde, die innere Wende zu einer klaren Linie in der Politik für unser Vaterland zu schaffen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Otto Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Als Franz Josef Strauß 1978 bayerischer Ministerpräsident wurde — ich war damals Wirtschaftsminister —, habe ich ihm einen Brief geschrieben, in dem ich schrieb, es tue mir leid, ihn als Kombattanten im Deutschen Bundestag zu verlieren. Ich habe ihm ansonsten Glück gewünscht. Er antwortete mir, es sei doch besser, wenn wir beide gemeinsam gegen den Sozialismus kämpften.
Ich habe angesichts der Auseinandersetzungen mit Franz Josef Strauß in vielen Jahren, in denen gelegentlich auch mit harten Bandagen gekämpft wurde, sicherlich keinen Nachholbedarf. Aber ich kämpfe mit Lebendigen und nicht mit Toten.
Das hier, Herr Vogel, war ein unangenehmer Auftritt im Deutschen Bundestag.Ich frage mich überhaupt bei mancher unserer Debatten, was die Menschen im Lande — nicht nur die in den neuen Bundesländern, sondern auch die in den alten Bundesländern — von uns erwarten: Zukunftsgewandte, sicherlich auch gegenwartsbezogene Betrachtung und Problemlösung oder fortgesetzt rückwärtsgewandte Streitereien, als stünden wir unmittelbar vor einem Wahlkampf, und Auseinandersetzungen, die man in den Wolken über den katalaunischen Feldern pflegte, aber doch nicht bei der Lösung und Beantwortung der Fragen, die uns gestellt sind?Herr Vogel, Sie haben mit diesem Ausflug im übrigen etwas den Eindruck beeinträchtigt, den Sie anfangs gemacht haben. Das erinnerte mich an ein Zusammentreffen mit meinem Kollegen Bangemann am Wochenende. Er ist, wie Sie wissen, mein Vorgänger im Parteivorsitz. Er saß neben mir in Bremen und sagte: Wissen Sie, immer wenn ich die Zeitungen lese und dort „Lambsdorff " steht, dann stelle ich mir vor,
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Dr. Otto Graf Lambsdorffdort stünde immer noch „Bangemann" ; dann bin ich froh, daß dort jetzt „Lambsdorff" steht.Ich habe gedacht, ein gewesener Parteivorsitzender spricht richtig locker, gelöst und leicht. Und so war das im ersten Teil Ihrer Rede auch. Ich habe Verständnis dafür. Vielleicht haben Sie auch Verständnis für mich, daß ich es trotzdem noch einmal werden will. Mal sehen, wie es ausgeht. Ich will es nicht zuletzt deswegen werden — und das ist ein Stichwort, das Sie angesprochen haben —, weil es gerade in der Freien Demokratischen Partei darum geht, Ost und West zusammenzuführen. Dazu gehört das Thema „alte Seilschaften". Dazu gehört das Thema „frühere Parteien in der früheren DDR".Den Ausdruck „Blockflöten" werden Sie von mir nicht hören;
denn für mich entscheidet sich die Frage
— seien Sie vorsichtig, was bei Ihnen alles noch passiert —
erstens nach dem Willen, jetzt beim demokratischen Aufbau mitzuarbeiten, und zweitens danach, ob jemand etwas getan hat, wodurch andere Menschen zu Schaden gekommen sind. Das ist der entscheidende Punkt
und nicht die verbalen rednerischen Brandopfer, die dieses Regime von jedermann verlangt hat, der etwas werden wollte oder etwas bleiben wollte. Wir haben leicht urteilen darüber.
Wenn wir später einmal auf diese Tage und Jahre zurückblicken, werden wir uns vielleicht an die Standardfrage fast aller Unterhaltungen erinnern. Wo immer sich heute in Deutschland die Menschen über die Zeitläufte unterhalten, heißt es: Hättest du vor zwei Jahren, hättest du vor zwei Monaten dir vorstellen können, daß . . .? Und dann kommt alles.Wer hätte denn noch vor vier Wochen daran gedacht, daß die einstmals so mächtige 16-MillionenPartei KPdSU aufgelöst würde? Wer hätte erwartet, daß die baltischen Republiken so schnell ihre staatliche Unabhängigkeit erreichen würden?Es war deutsche Pflicht, bei der Beseitigung dieses Unrechts zu helfen. Deutsche hatten es mit begangen. Die FDP dankt der Bundesregierung für die Hilfe auf diesem Wege. Die Liberalen — aber nicht nur die Liberalen, denke ich — überall in der Welt freuen sich über dieses Ergebnis.
In unseren Tagen fließt wirklich alles. Wie oft sehen wir um uns herum altvertraute Positionen und Strukturen wanken. Zum Glück wanken zumeist dieschlechten, die unerfreulichen Tatbestände. Aber auch an sie hatten wir uns ja gewöhnt;
nicht im Sinne von Billigung, sondern als feste Bezugspunkte und Rechengrößen. Neues verwirrt, stellt Fragen, schafft Probleme, auch wenn es gutes Neues ist. Mehr individuelle Freiheit in der Welt und in Deutschland ist gut; dennoch ist der Gewöhnungsprozeß an die Verantwortung, die die Freiheit untrennbar begleitet, schwierig. Wir erleben es täglich in den fünf neuen Bundesländern. Wie soll es erst in der so viel größeren, so viel länger diktatorisch regierten Sowjetunion werden?Die Bürger in Moskau und die Bürger in — bald wieder — Sankt Petersburg haben ihre neugewonnene Freiheit heldenhaft verteidigt. Jetzt kommt die große Durststrecke — da bin ich mit Herrn Engholm einig — in der Bewährungsprobe eines problembeladenen Alltags. Dabei ist unsere Hilfe unerläßlich. Die westliche Welt und Japan müssen dafür sorgen, daß nicht der Hunger der Begleiter der Menschen im kommenden Winter wird.Es ist auch sinnvoll, der Sowjetunion — oder vielleicht besser: den Republiken; denn die sind inzwischen Eigentümer — bei der Erneuerung ihrer Erdgas- und Erdölförderung zu helfen. Das Land braucht Deviseneinnahmen.Verbesserte Sicherheit der Kernkraftwerke ist dringlich. Sie stellen heute ein akuteres Risiko dar als die nuklearen Waffen. Bei letzteren unterstreicht die FDP: Weg mit allen nuklearen Kurzstreckenwaffen.
Die Republiken der Sowjetunion brauchen dringend eine tiefgreifende Wirtschaftsreform. Das Erbe der letzten fünf Jahre ist eine Mischung aus Resten von Planwirtschaft und Anfängen von Marktwirtschaft; das ist die schlechteste aller Welten. Werden die Reformentscheidungen nun endlich kommen? Ohne sie sind westliche Finanzhilfen vergeudetes Geld.Aber es geht nicht nur um Geld. Für den Wandel der sowjetischen Wirtschaft sind Beratung, Know-how, Expertise mindestens so wichtig. Dafür bedarf es der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds, der OECD und der Weltbank. Auch das geht nicht ohne Mitwirkung der Sowjetunion selbst. Bis heute verfügt keine der genannten Organisationen über authentisches Datenmaterial aus der Sowjetunion.Marktwirtschaft heißt: Erstens: Anerkennung von Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln. Zweitens: freie Preise, ohne die es eine sparsame Allokation der Ressourcen, eine Verwendung der Reserven, der Einsatzmöglichkeiten eines Landes nicht gibt. Drittens: Wettbewerb, also Abbau der Staatsmonopole. Viertens: Kursnehmen auf eine konvertible Währung, ohne die es keine Einbindung in die Weltwirtschaft gibt. Fünftens: solide Geld- und Haushaltspolitik.Werden diese Reformentscheidungen endlich getroffen, dann muß, wie der Außenminister richtig be-
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3064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Otto Graf Lambsdorfftont hat, die Welt helfen, nicht immer nur die Deutschen. Kein Geld ohne Reformen, aber auch keine Reformen ohne Geld. Ohne Zahlungsbilanzbeistand kann die Sowjetunion den Weg zum konvertiblen Rubel nicht schaffen, und das ist nur ein Beispiel.Deutschland ist aus vielen Gründen an einer gedeihlichen Entwicklung bei unserem großen Nachbarn im Osten interessiert. Wir wagen nicht, an die Folgen zu denken — das ist heute hier schon ausgesprochen worden —, wäre es in Moskau in der vorletzten Woche anders ausgegangen. Würden wir noch über Abrüstung sprechen, oder wie würde es aussehen?Wir können im Herzen Europas auch nicht tatenlos der Gefahr einer Welle von Armutsflüchtlingen entgegensehen. Deshalb sind wirtschaftliche Maßnahmen zur Überwindung des so groß gewordenen Wohlstandsgefälles unerläßlich. Es hat immer einen Abstand zwischen unserem Teil Europas und dem europäischen Osten gegeben, aber so klaftertief, wie er heute ist, darf er nicht bleiben. Hier sind die Westeuropäer insgesamt gefordert. Wenn Hunger und Elend das Leben östlich unserer Grenzen bestimmen, dann hilft uns kein Grundgesetz, keine Abschiebepraxis und kein Bundesgrenzschutz.
Für die FDP unterschreiche ich mit Nachdruck: Dem Mißbrauch des Aslyrechts muß Einhalt geboten werden, mit allen Mitteln, die unserem Rechtsstaat zur Verfügung stehen.
Es ist ungerecht und unnötig, alle, die die Grenze passieren, auf die Städte und Gemeinden zu verteilen und sie dort ihre Verfahren abwarten zu lassen. Wir fordern die Länder noch einmal auf, zentrale Unterkünfte auszubauen, dort die Asylentscheidungen zu treffen und Bewerber mit offensichtlich nicht begründeten Anträgen aus Nicht-Verfolgerstaaten von dort aus unverzüglich abzuschieben.
Diese können dann durchaus den Rechtsweg beschreiten, aber bitte von Prag, Warschau oder Budapest aus. Dort verfolgt sie niemand in diesen Ländern wegen eines solchen Verfahrens.Zentrale Unterkünfte sind am Ende billiger als die Duldung Unberechtigter. Einem berechtigten Asylbewerber ist ein kurzer Aufenthalt in diesen Einrichtungen zuzumuten. Die Verfahren können beschleunigt werden, und die Stichworte heißen: kurze Klagefristen, eine Instanz, Einzelrichter, keine aufschiebende Wirkung des Prozeßkostenhilfeverfahrens. Das sind — wir wissen es — rigorose Schritte. Sie gehen hart an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen, aber sie gehen nicht darüber hinaus. Sie dienen dem Schutz unserer Bürger vor Überforderung, sie dienen aber auch dazu, für wirklich Verfolgte das Asylrecht zu erhalten. Das bleibt liberale Grundposition.
Es ist weniger als 50 Jahre her, daß sich in Deutschland Verfolgte an der Grenze zur Schweiz den Kopf einrannten und dann in deutschen Konzentrationslagern umgebracht wurden. Die FDP begrüßt die Bemühungen der Bundesregierung, für ein einheitliches Asylrecht in der Europäischen Gemeinschaft zu sorgen. Die Gemeinschaft sollte die erforderlichen Maßnahmen auf der Grundlage der in den Mitgliedstaaten geltenden rechtlichen Garantien zugunsten politisch Verfolgter erlassen. Dabei müssen die sich aus dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 8. Juli 1951 ergebenden Verpflichtungen beachtet werden. Das könnte im Interesse einer einheitlichen europäischen Regelung, die wir besonders in einem Europa ohne nationale Grenzen brauchen, auch die deutsche Verfassungslage berühren. Ich warne aber davor, aus Brüssel schnelle Lösungen zu erhoffen. Das wäre wohl das erste Mal, daß es von daher ganz schnell geht.Eine europäische Regelung des Asylrechts erfordert Einstimmigkeit im Ministerrat, und das kann dauern. Deswegen sage ich für die Freie Demokratische Partei mit dem gebotenen Nachdruck: Debatten über Verfassungsänderungen oder Europalösungen helfen keinem geplagten Bürgermeister vor Ort im Herbst 1991.
Wenn Herr Engholm heute den Versuch macht — und das tat er in seinen letzten Worten — , die Problematik auf den Bund abzuschieben, und wenn Herr Dregger sagt, wir sollten hier abstimmen, so hilft das in keinem praktischen Fall.
Bund und Länder müssen handeln, statt zu diskutieren.Wir sind davon überzeugt, daß unsere Vorschläge schnell Erleichterung schaffen, wenn sie schnell umgesetzt werden. Ich appelliere an die Länderinnenminister, sich dieser Verantwortung gerade in der jetzigen Situation voll bewußt zu werden.
Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gerster?
Nein. Ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu. Wir haben genug Spezialdebatten gehabt. Ich trage hier vor, wie meine Partei dieses Problem sieht, und daß wir zu allen Gesprächen, zu einer Lösung bereit sind. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Gerster.Es hat keinen Sinn, daß wir zwischen Bund und Ländern das Problem wie eine heiße Kartoffel hin und her reichen. Das geht nicht.Ich begrüße auch die Bemühungen des Bundesinnenministers, die Länderinnenminister an einen Tisch zu bringen und den Versuch zu machen, alles zu tun, was in den gebotenen Grenzen getan werden kann.
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Dr. Otto Graf LambsdorffDie wichtigste innenpolitische Aufgabe der nächsten Jahre kann ich kurz zusammenfassen: erstens den Menschen in den fünf neuen Bundesländern die Überzeugung durch Fakten zu vermitteln, daß sie den Anschluß an Lebensstandard und Einkommensniveau der alten Bundesrepublik in überschaubarer Zeit erreichen, und zweitens die Belastung der Menschen in den alten Bundesländern auf diesem Weg erträglich und zumutbar zu halten. Das ist leicht gesagt und schwer getan.Die konfuse Diskussion über Fragen der Steuer- und Finanzpolitik erleichtert die Aufgabe nicht. Solidarität mit den Landsleuten in Ostdeutschland kann ich nicht entdecken, wenn immer neue Ausgabenwünsche für das alte Bundesgebiet oder für die gesamte Bundesrepublik angemeldet werden.
Müßte es denn jetzt nicht um Konzentration auf die neuen Bundesländer gehen? Hat der scheidende Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl mit seiner Berner-kung in der Paulskirche recht, die Deutschen wollten zwar die Wiedervereinigung, aber zahlen wollten sie nicht dafür? Er hat diesen Hinweis mit dem Ausgabeverhalten der öffentlichen Hände und den Tarifabschlüssen dieses Jahres begründet. Jedes Wort zu den Tarifabschlüssen habe ich in allen Darlegungen der sozialdemokratischen Redner heute natürlich vermissen müssen.Die FDP hat zu Beginn der Sommerpause — Herr Vogel hat das ja freundlicherweise zitiert; er hat behauptet, wir hätten dabei aus meinem alten Papier abgeschrieben; aber so bequem machen wir uns das Leben nun doch nicht — mit Nachdruck auf die Probleme unserer finanzpolitischen Lage hingewiesen. Der Bundesfinanzminister hat wohl nicht so recht gewußt, ob wir ihn damit tadeln oder unterstützen wollten.
Letzteres ist der Fall. Eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme war nötig. Sie zeigt, daß viele Schlüsselzahlen ähnlich problematisch sind wie 1982. Das Staatsdefizit 1991, die Staatsquote, die Steuern- und Abgabenquote sprechen eine deutliche Sprache.Die Gründe dafür — und da liegt der Unterschied auch zu dem, was Herr Engholm heute vorgetragen hat — sind aber völlig andere als 1982.
Auch die gesamtwirtschaftliche Lage ist völlig anders als 1982. Unsere Wirtschaft im Westen wächst; ihre Dynamik ist immer noch beachtlich; nach neun Jahren Aufschwung ist ihre Struktur gefestigt.Trotzdem sage ich: Vorsicht ist angesagt. Es ist erfahrungsgemäß so, daß bei sich verlangsamender Konjunktur die Stimmung länger besser bleibt, als es die Lage noch rechtfertigt. Übrigens, wenn es aufwärtsgeht, ist es entsprechend; da bleibt die Stimmung länger schlecht, als es die Lage noch rechtfertigt.
Risiken im Außenhandel übersehen wir nicht. Auch das ist ein Grund, die Bundesregierung aufzufordern, mehr als bisher zu einem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde des GATT beizutragen.Außerdem empfehle ich der Bundesregierung, etwas weniger Einfallsreichtum bei der bürokratischen Behinderung des deutschen Exports zu entwickeln.
Die deutsche Einheit hat uns zu großen finanziellen Anstrengungen veranlaßt. Die FDP hat sie mitgetragen. Sie steht zu diesen Entscheidungen. Aber ökonomische Entwicklungen machen sich selbständig. Wenn die Umkehr ausbleibt, wird die Entwicklung der Zinsen und der Wechselkurse die Gefahr der Stagflation heraufbeschören. Wir haben das vor zehn bis zwölf Jahren schmerzhaft erlebt.Es ist deshalb Rückkehr geboten zu einer Politik der Konsolidierung und der äußersten Sparsamkeit; sonst geht nichts mehr.
Das gilt nicht nur für den Bundeshaushalt, den wir heute beraten, sondern auch für die vielen anderen Risiken. Es gilt — ich füge das ausdrücklich hinzu, obwohl dort das Problembewußtsein bisher offensichtlich nicht vorhanden ist — auch für die Länderhaushalte und für die kommunale Ebene. Es gibt nur eine öffentliche Hand; das sind sie alle. Es gibt auch nur einen Kapitalmarkt, der von ihnen allen beansprucht werden kann.
Von den vielen anderen Risiken nenne ich nur den Fonds Deutsche Einheit, die Treuhandanstalt, die Sondervermögen Bundesbahn und Reichsbahn, gar nicht zu reden von internationalen Verpflichtungen. Sowjetunion ist ein Stichwort. Wird Jugoslawien ein zweites? Brauchen die Balten unsere Hilfe? Mit Verwunderung hören wir von einer 10-Milliarden-Forderung Israels.Der Ausgabenlawine steht die schon jetzt zu hohe Belastung der deutschen Wirtschaft gegenüber. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat in der letzten Woche die Bundesregierung mit ungewohnter Schärfe kritisiert. Wir nehmen diese Kritik ernst. Die mittelständische Wirtschaft und das Handwerk machen einen wesentlichen Teil unserer Wirtschaft und Gesellschaft aus. Gerade sie sind auf Stetigkeit und Verläßlichkeit in der Wirtschafts- und Finanzpolitik angewiesen. Die FDP unterstützt deshalb die Forderung des Handwerks nach einer verläßlichen, vertrauenerzeugenden Finanzpolitik. Sparsamkeit muß das oberste Gebot sein.Die Risiken für die Geldwertstabilität, für Wachstum und Beschäftigung sind zu beachten. Eine recht großzügige Geldmengenpolitik der letzten Jahre — auch die Bundesbank hatte das Produktionspotential der ehemaligen DDR überschätzt — hat dazu geführt, daß Preiserhöhungen heute zu leicht durchsetzbar sind. Der Anstieg der Verbraucherpreise zeigt es nur zu deutlich. Er ist besorgniserregend.
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3066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Otto Graf LambsdorffNichts ist für Sparer und Rentner so unsozial wie die Inflation. Insbesondere den neuen Bundesländern dürfen wir nicht zumuten, daß die stabile Währung, die wir bei ihnen vor kurzem eingeführt haben, nun von der Inflation angenagt wird.
Deshalb waren die von der Bundesbank getroffenen Entscheidungen zur Verteidigung des Geldwerts nötig. Die kleinen und mittleren Unternehmen werden durch die Tarifabschlüsse, die der Produktivität weit vorauseilen, besonders hart belastet. Diese betreffen darüber hinaus die gesamte Volkswirtschaft.Besondere Probleme bereiten die Tarifabschlüsse in den neuen Bundesländern. Das Dilemma ist bekannt: Um der befürchteten Abwanderung in den Westen zu begegnen, werden hohe Arbeitsentgelte vereinbart, die sich vor allem im produzierenden Gewerbe — im Dienstleistungsgewerbe sieht das etwas anders aus — sehr weit von der Produktivität entfernen. Das führt zu Betriebsschließungen und dadurch noch stärker zum Abwandern oder Pendeln.Hier helfen nur von den Tarifparteien vereinbarte Öffnungsklauseln, die es den Betrieben erlauben, sich mit ihren Belegschaften zeitlich befristet und individuell zu einigen. Zum Glück geschieht das vielerorts ohne große Umstände und ohne großes Nachfragen. Man schert sich nicht um die Verträge.Wer in solcher Lage am sogenannten Günstigkeitsprinzip des Tarifvertragsrechts festhalten wollte, hielte in Wirklichkeit am Prinzip Arbeitslosigkeit fest.
Auch der Investivlohn sollte genutzt werden. Ich stimme Ihnen zu, Herr Vogel: Auch die Kapitalbeteiligung für die Arbeitnehmer in den fünf neuen Bundesländern ist ein Weg. Sie haben einige Gewerkschaften zu Recht gelobt; ich schließe mich dem an. Einige Gewerkschaften — vor allem die Deutsche Angestellten- Gewerkschaft — versuchen, diese Idee aufzugreifen.Der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein und Parteivorsitzende der SPD hat heute morgen— Herr Kollege Solms hat darauf hingewiesen — eine wohlpolierte, gut geschliffene und eigentlich kaum angreifbare und deswegen auch unangreifbare Rede gehalten. Herr Engholm ist nicht da.
— Ich weiß nicht, wo er ist.
— Das ist das intellektuelle Vergnügen, dem er nachgeht; ich weiß.
— Ich beanstande das auch nicht. Er war zu dem Teil der Debatte, zu dem er hätte hiersein müssen, anwesend. Aber man wird ja darauf eingehen und dieFrage stellen können, warum Herr Engholm eigentlich, wenn er draußen im Lande spricht, konkreter und detaillierter ist als dann, wenn er hier in den Bundestag kommt. Was er gestern in Leipzig über Industriepolitik, über gleiches Lohnniveau in Ost und West gesagt hat, war sehr viel konkreter. Darüber ließe sich mit ihm debattieren. Beide Rezepte führen in die Irre. Aber wenn er nicht hier ist, brauchen wir darauf nicht einzugehen.
Ein Sonderproblem in den neuen Bundesländern ist die Einstufung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in die Gehaltsstufen des BAT, des BundesAngestelltentarifvertrags. Bekanntlich wurde ein Entgelt von 60 % der Bezüge vergleichbarer Tätigkeit im Westen zugesagt. Die teilweise Nichtanerkennung von Berufsjahren führt aber dazu, daß im Endergebnis oft weniger als 50 % der Westbezüge bezahlt werden. Darüber sind die Menschen verbittert. Die FDP teilt ihre Kritik und versteht ihre Verbitterung. Wenn das Geld nicht reicht, dann hätte man ihnen eben sagen müssen, es kann nur 50 % geben, aber keine 60 % versprechen dürfen. Das wäre, wenn auch knurrend, vielleicht hingenommen worden. Aber so fühlt man sich hinter die Fichte geführt. So fühlt man sich betrogen.
Besonders toll treibt es hier die Gewerkschaft ÖTV im Pflegebereich. Sie hat zuerst einen Tarifvertrag mit dieser unehrlichen Einstufung verabredet und läßt nun gegen diesen Tarifvertrag demonstrieren und Warnstreiks organisieren. Das ist der Gipfel der Heuchelei.
Die Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern sind glücklicherweise niedriger geblieben als erwartet und befürchtet. Allerdings wissen wir, daß sich diese Zahlen noch erhöhen werden. Zweifellos haben Beschäftigungsgesellschaften und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorübergehend geholfen. Sie sind schmerzstillende Mittel. Heilen können sie das Problem nicht. Dazu brauchen wir rentable Arbeitsplätze als Folge privater Investitionen. Herr Vogel hat natürlich recht, daß die Eigentumsfrage dabei Probleme aufwirft. Nur haben wir inzwischen eines längst gelernt: daß die Frage, ob Rückgabe oder Entschädigung Vorrang haben soll, das eigentliche Problem überhaupt nicht kennzeichnet. Das sagt Ihnen heute jeder, der in den fünf neuen Bundesländern mit diesem Problem befaßt ist. Wie immer die Formel aussieht, sie hätte die vielfältigen Eigentumsverletzungen nicht vermeiden können.Ich weise auf eine besondere Schwierigkeit hin, wo wir uns einig sind, daß, welche Formel auch immer gewählt wird, Entschädigung nicht vor Rückgabe gehen kann: Das sind die enteigneten jüdischen Vermögen in der Zeit vor 1945. Herr Vogel, daran hängt vieles, nicht nur in Berlin, sondern auch in Leipzig und an vielen anderen Plätzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3067
Dr. Otto Graf LambsdorffDie ABM-Gelder sind im Verlauf des Jahres 1991 schneller abgeflossen als erwartet. Die FDP hält es für richtig, daß Vollbremsung vermieden wird, daß also weiterhin Arbeitsplätze durch ABM-Mittel geschaffen werden können. Es ist aber nicht nur finanziell nötig, sondern auch sachlich dringend erforderlich, ABM anders, d. h. weniger großzügig, auszustatten. Wer soll denn noch daran interessiert sein, in ein normales Arbeitsverhältnis überzuwechseln, meine Damen und Herren, wenn er über ABM genausoviel verdient, vielleicht sogar noch mehr? Es muß uns doch zu denken geben, daß neu entstandene Unternehmen trotz der hohen Arbeitslosigkeit Probleme haben, Arbeitskräfte zu finden. Sie sehen sich in Polen und in der Tschechoslowakei danach um. ABM-Maßnahmen dürfen unter keinen Umständen den neu entstehenden kleinen und mittleren Unternehmen noch mehr Konkurrenz machen, der diese nicht begegnen können.
Deshalb begrüßen wir es, daß ABM nur noch für ein Jahr und im Regelfall nur in Höhe von 90 % gewährt wird. Diese 90 % können bei frei vereinbarten Einkünften schon mehr als das Einkommen in einem Betrieb sein. Wir begrüßen es, daß die Übernahme von Sachkosten halbiert wird. Ich habe die Beschwerdebriefe des Gewerbes aus Gotha auf dem Tisch liegen, in denen gesagt wird: Jetzt kann die Gemeinde nicht nur die Maler bezahlen, jetzt können sie auch noch Pinsel und Farbe kaufen und nehmen uns sämtliche Aufträge weg; wir kommen überhaupt nicht auf die Beine. — Wir begrüßen es, daß die Kommunen verpflichtet werden, die Vergabe von ABM-finanzierten Maßnahmen nur nach Abstimmung mit den örtlichen Handwerksorganisationen vorzunehmen.Bei einer Fortsetzung der bisherigen Handhabung bestünde die ernsthafte Gefahr, daß der Mittelstand in den fünf neuen Bundesländern nicht auf die Beine kommt. Das wäre verheerend. Der Aufbau einer Marktwirtschaft ohne kleine und mittlere Unternehmen kann und wird nicht gelingen.
Um das zu schaffen, bedarf es nicht in erster Linie Subventionen und Fördermaßnahmen, wohl aber einer Wettbewerbssituation, die diesen Unternehmen ihre Chance läßt.Ganz generell, für Ost- und Westdeutschland, muß mit großem Ernst auf die ständig steigende Abgabenlast der Unternehmen und Bürger hingewiesen werden. Das darf so nicht weitergehen. Wir ersticken sonst die Investitionsbereitschaft der Unternehmen und die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als hätten die jüngsten Steuer- und Abgabenerhöhungen eine Sperre in den Köpfen auch solcher Menschen beseitigt, die doch genau wissen, wie schädlich eine Fortsetzung solcher Politik wäre.Was ist in der Sommerpause nicht alles herumgereicht worden: die Fahrradsteuer, Notopfer für neue Bundesländer, die alte „Neidsteuer" für Besserverdienende, Beibehaltung der höheren Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, Verlängerung der 7,5 %igen Ergänzungsabgabe, 16 % Mehrwertsteuer,
Beiträge zur Pflegeversicherung als Lohnzusatzkosten — und immer so fort.Die FDP akzeptiert die aus europäischer Sicht notwendige Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 15 %. Es müssen aber größte Anstrengungen unternommen werden, darüber nicht hinauszugehen. Steuererhöhungen und höhere Lohnzusatzkosten sind volkswirtschaftlich schädlich. Wir müssen uns wirklich bemühen, mit dem vorhandenen Geld unter Einhaltung der Verschuldungsgrenze auszukommen.Herr Engholm hat nun nach dem langen Streit in der SPD über die Frage „16 % — ja oder nein" vorgestern mitgeteilt — —
— Frau Matthäus-Maier, daß Herr Schleußer Ihnen etwas anderes gesagt hat, als Sie es hören wollten, ist doch wohl unbestritten. Ich komme aber auf Herrn Schleußer noch zurück.
— Ich bin diese Art der Debatte langsam wirklich herzlich leid.
Ich will ja auch nur feststellen, daß Herr Engholm gesagt hat, weitestgehend sei man sich in der SPD jetzt einig. „Weitestgehend" heißt natürlich: Man ist sich nicht einig. Das ist nun einmal so. Wenn man sich einig ist, braucht man kein Adverb dazuzusetzen.Die FDP hält mit der Bundesregierung an der beabsichtigten Unternehmensteuerreform fest.
— Wie bitte?
— Wir halten an der beabsichtigten Unternehmensteuerreform fest. Ich habe von „weitestgehend" nichts gesagt und überlasse die weitere Entwicklung Ihrer Weitsicht, Herr Conradi.
— Wenn Herr Conradi über seine Baugruben und Bauvorhaben noch den Überblick hat, dann wird er auch hier den entsprechenden Weitblick haben.
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3068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Otto Graf Lambsdorff— Er kriegt jetzt ein neues Arbeitsgebiet in Berlin; da ist er für die nächsten Jahre beschäftigt.
Meine Damen und Herren, wir dürfen unsere Betrachtung nicht auf die Gegenwart verengen. Der gemeinsame Binnenmarkt kommt bestimmt, und zwar am 1. Januar 1993. Unsere europäischen Wettbewerber bereiten sich intensiv darauf vor. Sie machen ihre Wirtschaften durch Steuersenkungen fit. Der Standort Deutschland ist in den letzten Jahren nicht schlechter geworden. Aber andere sind besser geworden; sie holen auf. Wir brauchen unsere Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit nicht zuletzt wegen des Aufbaus in den fünf neuen Bundesländern.Es macht wirklich keinen Sinn, die unnütze Steuerdebatte des Jahres 1983 zu wiederholen. Hat Herr Geißler nicht gemerkt, daß die Steuersenkungen auch sozialpolitisch segensreich waren? Ebensowenig macht es Sinn, wenn die Opposition immer noch das Lied von der unsozialen Mehrwertsteuer singt. Mein Himmel! Frühere Finanzminister, jedenfalls Hans Apel und Herr Matthöfer, hatten doch längst begriffen, daß es auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern und auf die sogenannte Steuermerklichkeit für den Bürger ankommt
und daß dieses Argument der unsozialen Mehrwertsteuer per se und per definitionem aus der Klamottenkiste veralteter Betrachtung stammt. Sie können das heute übrigens in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" noch einmal bestätigt sehen.Die FDP, meine Damen und Herren, will die Absicherung des Pflegerisikos.
— Nein, ich glaube, so verengt ist ihr Weltbild noch nicht.
Die FDP will die Absicherung des Pflegerisikos. Aber wir wollen nicht den teuersten und unwirtschaftlichsten Weg, den es dazu gibt, und das ist die Krankenkassenlösung. Das ist der Weg über die Erhöhung der Lohnzusatzkosten, über die wir sowieso nicht mehr hinwegschauen können. Insbesondere sehen wir aus den Erfahrungen unserer Nachbarländer, daß dann die Abgabesätze kontinuierlich steigen. Wir wenden uns auch gegen eine unzumutbare Belastung der nach uns kommenden Generation. Wir haben Vorschläge für eine Lösung des Problems gemacht. Wir werden sie in die Koalitionsverhandlungen und in die Gesetzgebungsberatungen einbringen.
Diese Koalition, meine Damen und Herren, hat von 1982 bis 1990 bewiesen, wie erfolgreich eine Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung, der Haushaltskonsolidierung und der gleichzeitigen Steuersenkung sein kann.
Die FDP empfiehlt uns allen, an diesem Erfolgsrezept festzuhalten. Alle unsere Anstrengungen müssen wir jetzt auf die fünf neuen Bundesländer richten. Manche Wünsche im Westen müssen vertagt werden. Für uns Liberale heißt die Devise: Die alte Bundesrepublik ist wahrlich schön; jetzt können wir für einige Jahre darauf verzichten, sie noch schöner zu machen. — Ich finde mich in Übereinstimmung mit dem Ihrer Partei angehörenden Finanzminister in Nordrhein-Westfalen. Er hat gestern wörtlich gesagt, für Nordrhein-Westfalen gelte, daß der Leistungsstandard bereits hoch sei, so daß ein Moratorium für einige Jahre zumutbar sei, und er hat einen Aufschub bei Leistungsgesetzen gefordert.
Wenn solche finanzpolitische Einsicht jemandes, der auf der Kasse sitzt, und nicht jemandes, der die Kasse nur von außen betrachtet, auch bei Ihnen Einzug hielte, wären wir einen guten Schritt weiter auch für die Beratungen in diesem Hause und brauchten nicht immer die alten, abgeleierten Argumente auszutauschen. Ich muß wirklich sagen, gestern war es so.
Jetzt, meine Damen und Herren, ist der Teil unseres Landes dran, dem 40 Jahre Kommunismus mehr geschadet haben als der Zweite Weltkrieg.
Deshalb unterstützt die FDP die Absicht, die Mittel des Strukturhilfegesetzes in die neuen Länder umzuleiten.Zum Glück gibt es viele Zeichen dafür, daß der Aufschwung beginnt. In Dresden hörte ich neulich: „Die schlechten Nachrichten über uns kommen immer aus dem Westen und nicht von uns. " — Eine Haushaltsdebatte sollte diese Tendenz nicht verstärken.Ich bedanke mich.
Das Wort hat Frau Kollegin Ingrid Köppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Wochen sind neue Tatsachen über den Schalck-Skandal bekanntgeworden und von der Öffentlichkeit mit großer Empörung aufgenommen worden. Der Kanzler hat angekündigt, sich heute und hier dazu noch zu äußern. Als wir vor zwei Wochen gefordert haben, Helmut Kohl möge sich zu den ungeheuerlichen Aktivitäten des BND zum Schutz von Schalck-Golodkowski äußern, schwieg er. Wir wollten damals wissen, ob die Rund-um-die-Uhr-Betreuung des Ehepaars Schalck durch den BND mit Wissen der Bundesregierung und des Kanzlers stattgefunden hat.
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Ingrid KöppeEigentlich gibt es ja nur zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Entweder die Bundesregierung wußte davon nichts. Dann hätte sich wieder einmal ein Geheimdienst verselbständigt, ein Staat im Staate. Solche Erfahrungen haben wir schon gemacht. Oder aber dies alles geschah mit Wissen der Bundesregierung, auf Weisung der Bundesregierung. Seit kurzem wissen wir nun, daß es so war. Der ehemalige BND- Präsident hat sich geäußert. Er sagt: Über die Angelegenheit Schalck-Golodkowski ist auf hoher Ebene und in kleinem Kreis von Januar bis März 1990 ausführlich gesprochen worden.Der Kanzler sagt, er werde seinen alten Männerfreund Franz Josef Strauß gegen die angebliche Diffamierungskampagne im Zusammenhang mit der Schalck-Affäre heute noch in Schutz nehmen. Der von Strauß eingefädelte Milliardenkredit sei doch „ein wesentlicher Grund für den Anfang vom Ende der DDR" gewesen. Er sehe gar nicht ein, „daß man sich dafür entschuldigen muß". Bald müsse man sich wohl „auch noch dafür entschuldigen, daß wir Häftlinge freigekauft haben".Diese Argumente und auch die vorhin hier von Herrn Rüttgers genannten gehen doch an den eigentlichen Vorwürfen und an der Sache völlig vorbei. Die Fragen werden ganz anders gestellt. Die Frage Nummer eins im Zusammenhang mit den Aktivitäten von Strauß und wohl auch von Bundeskanzler Kohl zum Milliardenkredit lautet: Haben Strauß und andere westdeutsche Politiker für ihre Vermittlungstätigkeit Provision
bzw. Schmiergelder erhalten?
Haben sie auch für andere Aktivitäten mit SchalckGolodkowski schmutziges Geld bekommen?
Die zweite Frage lautet: Haben westdeutsche Politiker wie Strauß und Kohl über Schalck-Golodkowski illegale Waffengeschäfte, z. B. mit Südafrika, abgewickelt?Die Frage Nummer drei lautet: Wieviel Heuchelei und Unverschämtheit bringen Politiker eigentlich auf, die öffentlich das ehemalige DDR-Regime als Hort des Bösen und Üblen angeprangert und inoffiziell und geheim Geschäfte mit der DDR machten und sich bei Honecker, Mielke und Schalck anbiederten, wo immer es ging.
Lassen Sie mich diese drei Fragen im Zusammenhang mit Schalck, Strauß und Kohl im einzelnen vorläufig beantworten. Die Untersuchungsausschußarbeit steht ja noch am Anfang. Deshalb können das nur vorläufige Antworten sein.Zu Frage eins — Haben Strauß und andere Schmiergelder bekommen? — : Diese Frage wird im Mittelpunkt der Aufklärungsarbeit stehen. Die Hinweise werden immer zahlreicher. Von Schalck stammt die Notiz, daß die Firma März die verdeckte Finanzquelle der CSU war. Der verstorbene Joseph März hat — laut Schalck — 1982 die Bedingung für seine politische Vermittlertätigkeit formuliert: Wenn seine Fleischfirma weiterhin privilegiert von der DDR Aufträge bekomme, würde das — wörtliches Zitat —„völlig ausreichen, um seine und die Interessen seiner Freunde politisch zu befriedigen" .
Das sind alles Zitate aus den Schalck-Briefen, die der Strauß-Sohn Max Strauß nach Lektüre jetzt als authentisch und zutreffend bezeichnet hat.Auch Bundeskanzler Kohl war seit 1976 mit Joseph März befreundet. Über März wurde Helmut Kohl immer wieder in die Schalck-Connection hineingebracht. Wir wollen jetzt wissen, ob März und Schalck westdeutsche Politiker bestochen haben.
Es ist an der Zeit, die diesbezüglichen Firmenunterlagen zu beschlagnahmen.Warum nehmen Politiker wie Schäuble, Kohl und andere Schalck jetzt politisch in Schutz, obwohl klar ist, daß KoKo unter anderem an sehr schmutzigen Waffengeschäften beteiligt war und die Befehle hierfür von Schalck kamen? Hängt das alles mit dem von Wolfgang Schäuble am 2. Dezember 1989 Schalck angeblich gegebenen Versprechen zusammen? Interessant dabei ist, daß dieser Termin in einer Terminliste mit Angaben, wann denn Kontakte stattfanden, die dem Ausschuß übersandt wurde, zunächst nicht auftauchte und sich Herr Schäuble erst an diesen Termin erinnern kann, nachdem der Termin in der Presse genannt wird.
— Es ist eine Tatsache, daß sich Herr Schäuble erst danach plötzlich erinnern konnte. Solche Gedächtnislücken sind doch zumindest verdächtig.
Die Frage ist: Setzt Schalck die Bundesregierung erfolgreich unter Druck?
Eine weitere Frage ist natürlich: Welche Kontakte gibt es denn eigentlich heute, zum jetzigen Zeitpunkt?
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3070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Ingrid KöppeSind — und wenn ja: welche? — BND-Mitarbeiter heute zu Gesprächen mit Schalck unterwegs? Welche Kontakte existieren heute zwischen Politikern der Regierung und Schalck?Zu Frage zwei, den illegalen Waffengeschäften: Es fällt auf, daß die zuständige Oberfinanzdirektion Kiel noch immer nicht von dem Verdacht unterrichtet wurde, daß das U-Boot-Geschäft mit Südafrika über KoKo gelaufen sein könnte. Zuständig für die Oberfinanzdirektion Kiel war Ex-Finanzminister Stoltenberg und ist jetzt Finanzminister Waigel. Beide sind tief ins U-Boot-Geschäft verstrickt und haben mit den Firmen HDW und IKL einschlägige Verhandlungen geführt.Seit 1985 verschleppt die Bundesregierung mit allen Tricks die Ermittlungen der Kieler Behörde. Seit sechs Jahren wird der U-Boot-Skandal vertuscht. Auch bei diesem Skandal soll es um Schmiergeldzahlungen an die CSU und westdeutsche Politiker gegangen sein. Das U-Boot-Geschäft wurde zwischen 1982 und 1987 abgewickelt. Im gleichen Zeitraum liefen die Kontakte von Schalck zur CSU und zur Bundesregierung auf Hochtouren. Besteht hier möglicherweise mehr als ein zeitlicher Zusammenhang?
Zur dritten Frage; auch hierauf ist der Kanzler bisher ja noch nicht eingegangen: Der politische Skandal liegt doch darin, daß Strauß nach außen die DDR immer scharf angegriffen und so zu einer Gefährdung der Entspannungspolitik beigetragen hat, intern jedoch mit den Machthabern paktiert hat,
und zwar auf Kosten der DDR-Opposition und auf Kosten der Opposition in anderen Ländern, z. B. in Polen.
Schalck notierte in einem Geheimvermerk:Am 4. 2. 1988 fand ein Gespräch mit Joseph März statt. März übermittelte beste Grüße von Franz Josef Strauß und Bundeskanzler Kohl. März bat darum, wie bereits vor längerer Zeit mitgeteilt, seine persönlichen Verbindungen zu Helmut Kohl sehr vertraulich zu behandeln. Zur gegenwärtigen Entwicklung in der DDR — das werden Sie ja gespürt haben — hält sich die CDU/CSU besonders zurück. Sicherlich brachte März nicht nur seine persönliche Meinung zum Ausdruck,— alles Zitat Schalck —daß er sehr einverstanden ist mit der Zurückweisung von GRÜNEN und anderen Politikern der linken Szene bei Einreisen in die DDR zur Kontaktaufnahme mit oppositionellen Gruppen.Jetzt wieder Zitat:Von den Bahros, den Biermanns, den Krawczyks und Kliers haben wir in der BRD schon genug.Bei seinem Polenbesuch 1983 sicherte er dem besorgten Armeegeneral Jaruzelski ausdrücklich zu, daß er selbstverständlich nicht mit den Führern illegaler Gruppen zusammentreffen werde.
Dieses widerwärtige Paktieren mit den damals in der DDR und dem Warschauer Pakt Herrschenden, das ist es, Herr Bundeskanzler, was die Menschen jetzt so sehr aufregt, und zwar ganz zu Recht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es steht mir als Präsidentin nicht zu, die Bundesregierung zu rügen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es in diesem Hause nicht üblich ist, von der Regierungsbank her Zwischenrufe zu machen.
Als nächste hat Frau Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde zur Innenpolitik sprechen, und ich beginne deshalb mit Ausländern und Ausländerinnen. Genausogut könnte ich aber auch zur Außenpolitik sprechen und dabei über die Deutschen im Ausland reden. Beides behandelt nur verschiedene Seiten derselben Medaille: die sicherheitspolitische Absicherung der neudeutschen Politik nach innen und außen.Für die einen gibt es 200 Millionen DM, deutschsprachige Radio- und Fernsehsendungen im Ausland und anderes mehr von der Bundesregierung zur Unterstützung — Zitat — „aller Initiativen in den Aussiedlungsgebieten, die die Autonomie und Selbstverwaltungsmöglichkeiten der deutschen Minderheiten stärken" . — So wird es genannt, von der Oder bis Sibirien.Für die anderen gibt es Bundesgrenzschutz, patroullierende Hubschrauber, neu eingerichtete Sammellager — versehen mit privaten Wachdiensten —, die Forderung nach Schnellrichtern, Einschränkung der medizinischen Versorgung, dafür aber Ausbau der datenmäßigen Erfassung und massenhafte Abschiebungen. Das ist für die Nichtdeutschen im Inland.Beides zusammen ist deutsche Politik nach all den historischen Stunden seit 1990.Die Medien waren und sind willige Begleiter dieser Politik. Grundrechte, die eigentlich dazu da sind, daß Demokratie und Menschenrechte immer umfassender verwirklicht werden können, werden heute beispielsweise in der Zeitung „Die Welt" nur noch als „Diktat" empfunden. Die „Frankfurter Allgemeine " vom 2. 8. 1991 sagt es offen — ich zitiere — :Das im Grundgesetz schrankenlos niedergeschriebene Asylrecht stimmt seit langem nicht mehr mit der Realität überein. Es handelt sich um ein Versprechen, das der Grundgesetzgeber 1949
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Ulla Jelpkeabgegeben hat in der sicheren Annahme, daß es folgenlos sei.Und sagen Sie nicht, daß es nur die Medien sind! Die Stichworte werden von der Politik geliefert.Diesem so empfundenen „Diktat" des Grundgesetzes mögen sich auch große Teile der SPD nicht beugen. Sein zweifelhaftes Rechtsempfinden offenbarte z. B. der sozialdemokratische Bremer Senat, der pro Woche nur noch 300 Asylanträge entgegennehmen wollte und bei allen anderen Anträgen eine Antragsannahme schlichtweg verfassungswidrig verweigerte. Für eine Asylrechtsänderung hat sich der SPD-Innensenator von Hamburg, Hackelmann, ausgesprochen. Zu erwarten ist, daß auch weitere Innenminister der SPD-geführten Länder diesem folgen.Meine Damen und Herren, in der sicheren Annahme, daß es für die Bundesrepublik nur Positives bringen werde, hat man mit Versprechen von Freiheit und Freizügigkeit gegenüber den Ostblockstaaten einschließlich der DDR gelockt. Jetzt stellen Sie, Herr Gerster, nach einer Klausurtagung der Innenpolitiker der CDU, Ihrer Fraktion, fest — ich zitiere — :Eine Entwicklung, nach der das Mehr an Freizügigkeit faktisch zu einem Niederlassungsrecht im Land seiner Wahl führt, wäre ... für unser Gemeinwesen auch nicht ansatzweise verkraftbar.Wieviel Mauer darf es dann sein für Ihre Festung Europa, Herr Gerster?
— Das können Sie in Ihrer Presseerklärung nachlesen.
Ihnen ging es doch nie um die Menschen in diesen Ländern. Freizügigkeit für diese Menschen, wie z. B. Reisefreiheit, erleben Sie doch heute als massive Bedrohung.Ich meine, daß das Asylrecht und selbstverständlich seine notwendigen materiellen und sozialen Voraussetzungen in diesem Land umfassend erhalten bleiben und geschaffen werden müssen. Es geht nicht nur um das Recht, formal einen Antrag stellen zu dürfen. Wir wehren uns auch gegen die polizeiliche, paramilitärische, bürokratische Aushebelung des Asylrechts. Dies führt zu unmenschlichen Aussonderungsmaßnahmen nicht erst an den deutschen Grenzen, sondern schon an den Grenzen der Nachbarstaaten. Das anvisierte Abkommen der polnischen Regierung gegen rumänische Flüchtlinge ist nur ein Beispiel für diesen Mechanismus.Bezeichnend ist, wie investiert wird, um die lückenlose Abschottung gegen Asylsuchende und Flüchtlinge zu verwirklichen, und wie wenig bleibt, um die materiellen Bedingungen zu schaffen, damit das Grundrecht auf Asyl auch realisiert werden kann.Niemand braucht sich zu wundern, wenn im Fahrwasser dieser Propaganda neofaschistische Gruppen neuen Zulauf bekommen, können sie sich doch berufen fühlen, die wahren Vollstrecker dieser nationalistischen und rassistischen Politik zu sein. Niemand möge sich täuschen: Das Zentrum dieser Aktivitäten liegt nicht auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Westdeutsche Neonaziführer sind es, die ihre Zentralen dorthin verlegen, in der Hoffnung, hier durch die soziale Kahlschlagpolitik einen guten Nährboden für ihre Rezepte zu finden.Aber nicht nur das Grundrecht auf Asyl wird so blockiert. Auch andere Verfassungsgrundsätze wie z. B. die strikte Trennung von Polizei- und nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist offensichtlich nicht mehr zeitgemäß. Die Gründung einer Justiz, Polizei und Nachrichtendienste übergreifende Koordinierungsgruppe zur Terrorismusbekämpfung ist der aktuelle Höhepunkt einer Politik, die die Barrieren des Nach45er-Geistes beseitigt. Wie das Asylrecht heute wurde die strikte Trennung der verschiedenen Organe der inneren Sicherheit immer als Hindernis begriffen, vor allem wenn sich Demokratie im Umgang mit politischen Gegnern, mit Problemen der Jugendlichen und mit sozialen Konflikten bewähren sollte.An allen parlamentarischen Gremien vorbei, unter Mißachtung aller föderalen Grundsätze wurde diese Koordinierungsgruppe eingerichtet. Die Öffentlichkeit wurde über diese Koordinierungsgruppe gezielt desinformiert. Es gibt also wenig gute Gründe, auf die hier praktizierte Meinungsfreiheit stolz zu sein.Bevor in den neuen Bundesländern die Sozialämter funktionierten, war die Einheit oder richtiger: die Vorherrschaft der bundesdeutschen Polizei hergestellt. Bevor die Gefangenen in den DDR-Haftanstalten das neue Strafvollzugsgesetz kennenlernen konnten, tingelte der Verfassungsschutz mit einer Ausstellung durch die Länder.Während die Wirtschaft in den neuen Ländern gezielt fertiggemacht worden ist, reduziert sich der Ostaufschwung fast ausschließlich auf den Aufbau des Sicherheits- und Verwaltungsapparats von oben. Hier fließen die Gelder, sei es für die materielle Ausstattung oder sei es für hochdotierte Posten von Westbeamten. 14 000 sind es, und keiner von ihnen dürfte als einfacher Sachbearbeiter arbeiten.Ihre Aufgabe ist die Umsetzung bundesdeutscher Bürokratie- und Sicherheitsstandards. „Buschgeld" nennen sie ihre Zulagen und machen damit deutlich, daß sie in kolonialen Traditionen fühlen.
— Das ist ein Zitat, Herr Gerster. „Buschgeld" kommt nicht von uns, sondern so nennen das die Leute selbst.Meine Damen und Herren, kein Betroffener aus der DDR konnte bisher in seine Stasi-Unterlagen einsehen. Dieses Privileg hatten bisher ausschließlich bundesdeutsche Sicherheitsbehörden und dadurch auch die mit der BRD befreundeten westlichen Geheimdienste und natürlich die Überprüfungskommissionen der Landtage.
Der vor wenigen Tagen bekanntgewordene Maulkorb für den Sonderbeauftragten der Bundesregierung hat gezeigt, daß das Interesse der Bundesregie-
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3072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Ulla Jelpkerung nur in eine Richtung geht: Sicherstellen der Daten und Informationen für eigene Zwecke. Die Einschränkung der Aussagegenehmigung für Herrn Gauck, ausgerechnet vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß zu den Machenschaften von Schalck-Golodkowski, zeigt, daß die Bundesregierung kein Interesse an der historisch-politischen Aufarbeitung gerade einer der wichtigsten Abteilungen des MfS hat.
— Ja, das muß gerade ich sagen!
Wen wundert's, war da doch die KoKo die am besten funktionierende gemeinsame Einrichtung, hochkarätig besetzt aus den Bereichen Politik, Geheimdienste und Wirtschaft.„Buschgeld" und der Umgang mit dem Stasi-Erbe, das sind die Eckpunkte der sicherheitspolitischen Vereinigung. Sie bringen zum Ausdruck, daß die Menschen in den neuen Ländern auch in Zukunft von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen werden sollen. Der feste Wille der Regierung, auch in diesem Haushalt keine wesentlichen Änderungen am Vorrang der inneren Sicherheit vorzunehmen, zeigt, daß die sich anbahnenden sozialen und politischen Konflikte bundes- und europaweit sicherheitspolitisch eingedämmt werden sollen.
Eine Lösung der Probleme ist so nicht zu erwarten, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler, Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Verständnis dafür, daß Herr Ministerpräsident Engholm nicht hier sein kann. Deswegen will ich nur einige ganz kurze Bemerkungen zu seinen heutigen Ausführungen machen. Daß diese Ausführungen nichts Neues enthielten, hat jeder, der sie gehört hat, mitbekommen. Das braucht man nicht zu kommentieren.Ich will nur noch einmal mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, daß er seine Erklärung im Rahmen einer Debatte über die Außenpolitik abgegeben und dabei zur Außenpolitik der SPD nichts gesagt hat.
Was ich heute hier von ihm gehört habe, waren nichts als Platitüden. — Wir alle treten für mehr Rechte des Europäischen Parlaments ein. Ich kenne niemanden hier, der das nicht tut. Ich kann nur sagen: Unter den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gibt es nicht eine, die auch nur vergleichsweise mit der gleichen Intensität für eine Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments eintritt wie die von mir geführte Bundesregierung.
Was er zu den wichtigen, entscheidenden Themenbereichen der beiden Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion gesagt hat, das haben wir — ich als Bundeskanzler, aber auch der Bundesaußenminister, die Sprecher der Koalitionsfraktionen — in Dutzenden von Regierungserklärungen und Reden immer wieder gesagt. Gefehlt hat eigentlich, daß er ganz einfach feststellt: Diese Politik ist gut, und wir unterstützen sie. — Aber davon habe ich kein Wort gehört.
Da sind noch zwei Punkte, die nicht unwidersprochen stehenbleiben können. — Herr Engholm weiß es entweder nicht — ich nehme das zu seinen Gunsten an — , oder er baut hier an einer Legende, die für das Land schädlich ist. Er hat gesagt, daß die Polen-Verträge im Hickhack steckengeblieben seien. Dies ist schlicht die Unwahrheit.Da ein Großteil der Verhandlungen seit meinem Besuch damals in Warschau — an dem Tag, bevor die Mauer fiel — weitgehend auch von mir mit beeinflußt und mitbestimmt worden ist, kenne ich den Ablauf der Ereignisse genau. Jeder, der die Verhältnisse in Polen etwas kennt — immerhin: das sollte doch auch ein Parteivorsitzender der SPD —, weiß, daß wir in diesen Jahren, also zwischen Ende 1989 und heute, auch in der Republik Polen im Zusammenhang mit Regierungsneubildungen und Wahlen — denken Sie an die Präsidentenwahl — erhebliche Probleme hatten und einfach gar nicht schneller vorankommen konnten.Im übrigen haben wir — mehr oder minder das ganze Haus, mit ganz wenigen Ausnahmen — zu einem breiten Konsens über die Ziele der Vertragsverhandlungen mit Polen gefunden.Da Sie davon sprachen, hätte ich eigentlich erwartet, daß Herr Engholm, bevor er hier derartige Dinge sagt, doch ein Wort für jene findet, die die große innenpolitische Leistung mitvollbracht haben, daß — im Gegensatz zu mancher Auseinandersetzung der letzten 30 Jahre — hier ein Votum zustande kam, das doch quer durch die Fraktionen mit riesigen Mehrheiten unterstützt wurde. Ich halte die Abstimmungen, speziell jene über den Grenzvertrag, für eine der großen innenpolitischen Leistungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Wenn man nichts, aber auch gar nichts — wie Herr Engholm — dazu beigetragen hat, steht es einem auch nicht zu, daran herumzumäkeln.
Ich füge gleich hinzu: Es hätte ihm auch gut angestanden, zu sagen, was es angesichts dieser Grenzziehung und des Verlustes eines großen Teils des früheren Reichsgebiets bedeutet,
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohldaß gerade viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Lager derer, die unmittelbar betroffen waren und sind, weil sie ihre Heimat verloren haben, hier ihr Ja zu einer gemeinsamen friedlichen europäischen Zukunft gegeben haben. Das ist die Wahrheit in der Bundesrepublik, nicht aber solch schäbige Äußerungen.
Noch viel törichter — ich muß das Wort gebrauchen — sind die Äußerungen über den Ablauf der Vertragsverhandlungen mit der CSFR. Dabei geht es um wirklich schwierige völkerrechtliche Zusammenhänge. Hier geht es um Fragen, die übrigens auch im Blick auf die Staatskasse enorme Wirkungen haben. Hier geht es um ein Stück deutscher und europäischer Geschichte jener schrecklichen Zeit der Nazi-Barbarei. Das kann man doch nicht in kürzester Zeit, gewissermaßen in Husarenart, vom Tisch bringen, nur weil man gerade eine, wie man glaubt, intelligente Bemerkung dazu machen kann.Es mag sein, daß Herr Engholm schneller als der damalige CDU-Vorsitzende — also kürzere Zeit nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden — im Deutschen Bundestag gesprochen hat. Aber wenn das seine einzige Qualifikation ist, scheint mir das ziemlich dürftig zu sein.
Dann gibt es ein Zweites, was hier angesprochen werden muß, obgleich ich vorweg sagen möchte, daß die Bundesregierung und ich selbst — ich sage das auch für meine Partei und für meine Fraktion — natürlich jedes Interesse haben, daß im Untersuchungsausschuß Dinge geklärt werden, die ungeklärt sind. Ich muß aber hinzufügen: Das, was ich hier vor allem in der letzten Dreiviertelstunde gehört habe, gehört mit zum Schäbigsten, was ich in meinem ganzen politischen Leben je erlebt habe.
Bei allem, was ich gleich noch zum Kollegen Vogel und zu seinen Äußerungen zu sagen habe, möchte ich hier einen deutlichen Unterschied in der Bewertung des Auftritts einer Abgeordneten machen, die vom Bündnis 90 gesprochen hat. Das ist der Geist — ich will es sehr vorsichtig formulieren —,
der mir aus totalitären Regimen ziemlich vertraut erscheint: wie man mit der Ehre von Menschen umgeht, wie man versucht, mit Fragen, die in einem Millionenpublikum den Eindruck erwecken müssen, als gehe es um erwiesene Tatsachen, zu diffamieren, wie man wirklich die Ehre des anderen herabwürdigt, ohne überhaupt ein einziges Mal die Chance wahrgenommen zu haben, mit ihm darüber zu sprechen.
Frau Abgeordnete Köppe, diese letzte Stunde wird auch in der Auseinandersetzung kommender Jahre mit Ihrer Gruppe von großer Bedeutung sein. Denn das zeigt, daß Sie ein Stück politischen Auseinandersetzungsstils eingeführt haben, der Gott sei Dank invielen Jahrzehnten im Deutschen Bundestag so nicht möglich war.
Meine Damen und Herren, ich will zu diesem Thema einfach sagen: Ich habe großes Interesse daran, daß im Untersuchungsausschuß — und zwar nicht mit einer Verschleppungstaktik, wie ich das in einem anderen Untersuchungsausschuß über Monate erlebt habe — in klaren Worten so bald wie möglich über die Einzelheiten gesprochen wird. Dabei wird sich sehr rasch herausstellen, daß das, was hier im Gange ist, vor allem eine gigantische Rache- und Diffamierungskampagne ist.
Herr Kollege Vogel, Sie sagen zu Recht und nehmen das für sich in Anspruch — Sie haben in Ihrem Leben wichtige Funktionen im Justizbereich innegehabt —, daß Zurückhaltung geboten ist, wenn man über solche Themen spricht. Sie haben das dauernd gesagt. Aber hier hat nicht der Abgeordnete Vogel gesprochen, sondern der Fraktionsvorsitzende. Das erste, was ich von Ihnen erwartet hätte und noch erwarte, ist, daß Sie hier erklären, was Sie zu den ungeheuerlichen Formulierungen Ihres Fraktionskollegen Bülow in der deutschen Öffentlichkeit sagen.
Meine Damen und Herren, das Ganze ist eine zutiefst schäbige Aktion.
— Ich habe nicht die Absicht, hier eine Zwischenfrage zu beantworten.Es ist widerlich, weil man deutlich die Rachegefühle für mancherlei Demütigungen in vielen Jahren, nicht zuletzt in Bayern, Herr Kollege Vogel, spürt.
Weil dies so ist, finde ich, ist es wichtig, noch einmal zu sagen, wie Sie von Franz Josef Strauß Abschied genommen haben. Heute muß das einmal angesprochen werden. Damals schrieb Herr Engholm den Kindern:Ihr Vater hat, wie nur wenige andere, die Geschichte und das Gesicht unseres Staates von seinen Anfängen an entscheidend mitgeprägt. Wir nehmen Abschied von einem überzeugten Demokraten und einem Mann, der seinen Überzeugungen immer unbeirrbar treu blieb und für sie stand; dies ist eine große Tugend, deren die Demokratie bedarf, wenn sie lebendig sein soll.Wissen Sie, Herr Vogel: Man kann nicht solche Briefe schreiben, und dann heute hier so reden.
— Herr Vogel, Sie waren doch dabei.
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3074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl— Jetzt tun Sie doch nicht so, als wäre das, was jetzt in den Zeitungen steht, Ihr Anlaß. Ihr Anlaß ist -- ich sage es Ihnen ganz knapp — , daß Sie das Jahr 1990, in dem Sie den Mantel der Geschichte an keinem Tag erkannt haben — und zwar auf Grund Ihres Festhaltens an alten Strukturen, weil Sie nicht begriffen hatten, was in der Welt vonstatten ging — , ungeschehen machen wollen.
So erleben wir — ich komme noch auf andere Beispiele — Tag für Tag Ihre Art, Politik zu machen. Was haben Sie für Angstkomplexe im Frühjahr unter die Menschen in den neuen Bundesländern zu bringen versucht.
Es war doch Ihre Erwartung, daß die Sommerpause ähnlich wie das Frühjahr — vor allem während der Osterferien — mit ökonomischen Problemen zusätzlich belastet würde.Meine Damen und Herren, man kann nun wirklich sagen: Franz Josef Strauß war ein Mann, an dem sich die Meinungen teilten. Es gibt wenige in diesem Saal, die dies aus eigenem Erleben und manchen Auseinandersetzungen überzeugender sagen können, als ich das tue. Nur, es verbietet doch der Respekt vor der Lebensleistung eines Mannes — gleichgültig, ob man immer seine Meinung geteilt hat oder nicht — , daß man so mit seinem Andenken umgeht, vor allem dann, wenn er sich selbst nicht wehren kann. Ich finde das schändlich, um es mit einem Wort zu sagen.
Das ist besonders schändlich, weil bei allem, was man kontrovers diskutieren kann, es in diesem Saale doch ganz unstreitig war, daß der Milliardenkredit eine wichtige Entscheidung zugunsten zukünftiger Entwicklungen in Deutschland war. Als Bundeskanzler und als Vorsitzender der CDU erkläre ich: Wenn Franz Josef Strauß damals diesen Vorschlag nicht unterstützt hätte, hätte ich Probleme gehabt, dies in der eigenen Partei im Gesamtzusammenhang deutscher Politik durchzusetzen. Ich bin ihm dankbar für seine Unterstützung.Ihm sind viele Millionen Menschen, die dies heute hören, dankbar, weil er zusammen mit mir und anderen damals diesen Schritt getan hat, einen Schritt, der dazu führte, daß aus Zehntausenden erst Hunderttausende und dann Millionen von Besuchern aus der damaligen DDR in den westlichen Bundesländern wurden.Wenn die Geschichte der letzten zehn Jahre geschrieben wird, wird klar erkennbar sein: Der Anfang vom Ende des Honecker-Regimes begann vor allem auch damit, daß die Feindpropaganda gegen die Landsleute in der damaligen Bundesrepublik auf Seiten der DDR so nicht mehr möglich war.
Dazu stehen Ihnen alle Unterlagen, soweit ich als Bundeskanzler darüber verfügen kann, gerne zur Verfügung.Die Verdachtsmomente, die hier in den Raum gestellt werden, sollen doch nur von dem anderen Thema ablenken, das ich eben nannte, nämlich davon, daß Sie nicht mit der historischen Tatsache fertig werden, daß Sie in der Stunde der Einheit versagt haben.
Herr Kollege Vogel, Sie haben sich heute beschwert, daß ich im vergangenen Jahr Ihre Ratschläge nicht akzeptiert hätte. Wo wäre ich denn seit dem 1. Oktober 1982 geblieben, wenn ich Ihre Ratschläge befolgt hätte?
Wo wären wir denn geblieben in Sachen Zusammenbruch des Weltkommunismus, wenn damals die NATO Ihrem Rat gefolgt wäre und wir damals die Stationierung nicht vorgenommen hätten?
Es geht doch im wesentlichen darum, Herr Kollege Vogel, daß Sie jetzt so tun, als hätten Sie damals nicht jene Positionen vertreten, die Sie in Tat und Wahrheit vertreten haben.Man muß sich einmal folgendes vorstellen: Noch am 24. August 1987 — das ist gerade vier Jahre her — schrieb der Ministerpräsident des Saarlandes:Die DDR ... ist unter Erich Honecker ein wirtschaftlich leistungsfähiger, innenpolitisch stabiler und außenpolitisch selbstbewußter Staat geworden, was der Sicherheit in Europa zugute kommt.Meine Damen und Herren aus den neuen Bundesländern, die Sie hier sitzen, Sie müssen doch wissen, aus welchem Geist Sozialdemokraten damals Politik gemacht haben.
Natürlich hat mein Freund und Kollege, der eben für die Unionsfraktion sprach, hier die Frage ironisch gestellt, ob Sie jetzt mit Herrn Gysi und seinen Damen und Herren die Besprechungen von damals fortsetzen wollen. Selbst wenn Sie es wollten, könnten Sie es nicht; denn Herr Gysi hat sich längst in die Büsche geschlagen. Auch das ist doch für jedermann erkennbar.Aber wahr ist doch, daß Sie ein gemeinsames Positionspapier auf den Tisch gebracht haben, das alle Voraussetzungen für die deutsche Einheit verraten hat.
Nun, Herr Kollege Vogel, Sie haben — das war zu erwarten; das ist auch ganz in Ordnung — mich auch noch auf die Diskussion angesprochen, die wir jetzt innerhalb der CDU haben. Sie haben von der schwe-
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlren Krise gesprochen und davon, wie das alles so weitergeht. Meine Damen und Herren, ich finde es ziemlich abwegig, wenn wir uns gegenseitig unsere Probleme vorhalten.
Ich muß bloß sagen: Als ich hier hereinkam — ich habe es nicht herausgesucht —, hatte ich gerade im Pressespiegel gelesen, daß Herr Farthmann, ein mächtiger Mann in der SPD, wie Sie wissen, gestern oder vorgestern bei der ersten Fraktionssitzung nach der Sommerpause laut NRZ gesagt hat:Wenn die SPD ab '94 den Bundeskanzler stellen wolle . . ., dann müsse sie „auf die drängenden Fragen schlüssigere Antworten geben". Ohne Namensnennung wies Farthmann auf unterschiedlichste Äußerungen von SPD-Prominenz hin, die sich zuletzt zur Steuer- und Asylantenpolitik verbreiteten. Der Bürger brauche Klarheit.Ich kann dem Mann nur recht geben, meine Damen und Herren; das ist wahr.
Wir wollen gleich in der Rangordnung noch weiter nach oben gehen. Während der Sommerpause hat ein Mann, der in der SPD immerhin nicht irgendeine Rolle spielt, der stellvertretender Parteivorsitzender ist, der Kanzlerkandidat war und der jetzt als Kandidat für andere wichtige Ämter der Republik genannt wird, nämlich Johannes Rau, laut „Rheinischer Post" gesagt:Ich behaupte, diejenigen, die alle Punkte unseres— er meinte die SPD —Programms nachzubuchstabieren bereit sind, das sind nicht mehr als 33 %. Die SPD dürfe deshalb den Menschen ihre Programme nicht einfach „überstülpen", sondern müsse sie stärker davon überzeugen, daß sie vernünftige Lösungen anstrebe.Also, wenn Sie Volker Rühe zitieren — das ist der Generalsekretär — , dann zitiere ich jetzt im Gegenzug den stellvertretenden Parteivorsitzenden. Dann sind wir quitt, denke ich, meine Damen und Herren.
— Herr Vogel, lenken Sie doch nicht ab; Sie kennen ja die Probleme.
Dann hat jedenfalls Herr Stolpe gesagt, was 1994 eintreten wird.
— Nein, das ist nicht unser Rettungsring.
— Ja, aber weil es doch wahr ist.
Herr Vogel, jetzt seien Sie doch ein bißchen human. Wenn Sie ein solches Zitat aus den Reihen der CDU gehabt hätten, würden wir dies morgens, mittags und abends hören, und Ihre publizistischen Helfer würden es den Menschen noch nachts um 12 Uhr nahebringen.Ich will nur sagen: Ich habe keinen Grund — ich tue es auch nicht; ich habe nur repliziert —, die Probleme demokratischer Parteien in einer sich dramatisch verändernden Gesellschaft zu verniedlichen. Ich sage das auch im Blick auf die FDP; sie tut es vornehmer, aber ab und zu dringt es dort ebenfalls schrill hervor. Jeder von uns hat mit diesen Fragen zu tun. Es geht etwa um das Problem, daß immer weniger Menschen bereit sind, sich auf längere Sicht zu binden, daß viele aber sehr wohl bereit sind, sich ganz konkret in einem Einzelfall zu engagieren. Wir alle kennen das ja nicht nur aus den Parteien; im Bereich des Sports und anderswo kann man die gleiche Beobachtung machen.Wir haben zu all den Problemen, die wir sowieso haben, natürlich die Schwierigkeit, die sich aus dem Zusammenschluß der früheren CDU-Ost mit der CDU der Bundesrepublik ergibt. Die Freien Demokraten haben eine solche Schwierigkeit auch; Sie in der SPD werden in einer anderen Weise ebenfalls Probleme bekommen. Sehen Sie, meine Damen und Herren, das letzte, das uns dabei weiterhilft, ist ein selbstgerechtes Gerede.Ich habe für mich persönlich eine sehr einfache Position — diese gilt dann natürlich auch in meinem Amt — : Ich hatte das Glück, in meiner Heimatstadt Ludwigshafen zu Weihnachten 1946 im Alter von 16 Jahren Mitglied der CDU zu werden. Die Stadt lag damals in der französischen Besatzungszone. Der westliche Teil Deutschlands hatte eine freiheitliche Entwicklung vor sich. Wenn ich in jenen Tagen in Leipzig gelebt hätte, wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit auf Grund meiner Herkunft ebenfalls zur CDU gegangen.
— Ich habe die Absicht, das hier darzulegen, was ich zu sagen habe. Herr Kollege Vogel, Sie sind nicht derjenige, der mir vorschreiben kann, was ich sagen soll.
Das war damals die Partei des Andreas Hermes, des ersten Vorsitzenden des Reichsverbandes Christlicher Demokraten, der, unmittelbar nachdem er aus der Todeszelle von Plötzensee herausgekommen war, im Juni 1945 zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Das war — wenige Monate nach seiner Absetzung durch die sowjetische Besatzungsmacht — die Partei von Jakob Kaiser und Ernst Lemmer. In jener Zeit sind, wie wir ja wissen, Hunderttausende in die CDU eingetreten. Viele von ihnen haben die Partei später verlassen. Nicht wenige sind wegen ihrer politischen Überzeugung geflohen. Aber ein beachtlicher Teil von ihnen
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlist in der sowjetischen Besatzungszone, später der DDR, und in der CDU geblieben.Ich wehre mich leidenschaftlich dagegen, daß diejenigen, die damals den Weg zur Union fanden und geblieben sind — das gilt genauso für jene in der früheren LDPD, inzwischen vereinigt mit der FDP —, pauschal als „Blockflöten" diffamiert werden.
— Natürlich tun Sie das!
— Natürlich tun Sie das!Jetzt geht es darum, daß wir — ich sage dies an meine eigene Partei gerichtet — , in den Orts-, Kreis-, Bezirks- und Landesverbänden der neuen Bundesländer, das tun, was notwendig ist, d. h. daß wir das fortführen, was wir seit dem Jahre 1990 nach der Vereinigung der beiden Parteien begonnen haben, daß man nämlich vor Ort darüber diskutiert, was der einzelne damals getan hat, und ob man ihm empfehlen soll, Ämter wahrzunehmen oder abzugeben. Hierbei hat jeder Anspruch auf eine faire Betrachtung seines individuellen Lebenswegs und seiner Persönlichkeit.Meine Damen und Herren, ich bin strikt dagegen,— ich sage das als Vorsitzender der CDU Deutschlands — , unsere Parteifreunde in den neuen Bundesländern dabei zu bevormunden, aber es ist ein notwendiger Prozeß. Ich erinnere mich sehr wohl daran, wie wir — deswegen haben wir doppelten Grund, mit einem vorschnellen Urteil zurückhaltend zu sein — in der Zeit nach 1945, also in der Zeit, die ich soeben ansprach und in der ich Schüler und Student war, in der alten Bundesrepublik im Blick auf Mitgliedschaft in der NSDAP verfahren sind. Auch da gab es große individuelle Unterschiede. Ich habe mich immer leidenschaftlich dagegen gewehrt, daß man dies in einer pauschalen Weise wertet.Wenn ich Äußerungen eines so klugen Mannes wie Kurt Schumachers zu diesem Thema nachlese, dann ist das auch im Hinblick auf die heutige Situation sehr bedenkenswert. Natürlich kann man historische Tatsachen nicht einfach vergleichen, aber eine Belastung war es auch damals. Nur, für unsere Landsleute in den neuen Bundesländern ist die Belastung in gewisser Hinsicht viel größer gewesen, denn sie lebten ja nicht zwölf, sondern über 40 Jahre unter einem diktatorischen Regime. Sie konnten nicht — wie viele 1943, nach Stalingrad — voraussehen, daß es zu Ende geht. Sie haben vielmehr über 40 Jahre kommunistischer Herrschaft hinter sich.Meine Damen und Herren, das muß jetzt auch gesagt werden: Wer im Frühjahr 1989 oder an Weihnachten 1988 in die Weltöffentlichkeit hineinhorchte, und zwar rund um Deutschland herum, aber auch bei uns in der Bundesrepublik, konnte nicht erkennen, daß dort eine ungeheuer dynamische Kraft am Werk war, um möglichst rasch die Wiedervereinigung herbeizuführen. Es war doch sowohl in Ost als auch in West — ich sage: auch in West — davon die Rede, daß der damalige Zustand eine Sache auf Dauer sei oder, wie Herr Honecker meinte, auf Ewigkeit.Deswegen rate ich uns im Umgang miteinander — das ist sozusagen exemplarisch für den Umgang der Deutschen miteinander auch auf anderen Feldern — , aufeinander zuzugehen, zur Mitmenschlichkeit fähig zu sein und dem anderen nicht von vornherein mit vorgefaßten Meinungen zu begegnen.Ich habe nie einen Zweifel daran gehabt, daß wir die ökonomischen und sozialen Probleme in Deutschland, wie ich sagte — ich bleibe dabei; Herr Stolpe hat mich ja bestätigt — , in drei, vier, fünf Jahren bewältigen werden. Aber wir brauchen für das menschliche Miteinander eine sehr viel längere Zeit. Wir brauchen vor allem die Fähigkeit zur Geduld. Wer — woher er politisch auch immer kommen mag — aus seiner Überzeugung als Christ oder aus seiner Überzeugung als Humanist heraus an Fragen dieser Art herangeht, trägt auch eine menschliche Verpflichtung. Diese ernstzunehmen, darum bitte ich Sie ganz herzlich, und zwar in allen politischen Lagern.Meine Damen und Herren, wir beraten den Bundeshaushalt 1992. Er ist ein Beweis für die erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung. Die Zahlen sind bekannt. Im westlichen Teil Deutschlands liegt die Zahl der Beschäftigten heute um 2,9 Millionen über dem Stand von 1983. Die D-Mark ist nach dem Dollar die wichtigste Reservewährung der Welt. Ich könnte die Liste solcher Beispiele beliebig weiterführen.Wir alle wissen, daß wir Probleme zu lösen haben. Aber wir wissen auch, daß sich viele Dinge schon verbessert haben. Das Ifo-Institut schrieb in diesen Tagen im Blick auf die Arbeitnehmerhaushalte in den neuen Bundesländern:Gegenüber dem Jahr 1989 wird die reale Kaufkraft voraussichtlich um mehr als ein Viertel gestiegen sein.Das ist das genaue Gegenteil von jenem Krisengemälde, das Sie hier immer wieder entworfen haben.Herr Kollege Vogel, natürlich haben sich für die große Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern die Lebensverhältnisse gebessert. Sie erfahren jetzt nach der bitteren Erfahrung von über 40 Jahren, in denen sie hart arbeiteten und um die Früchte ihres Fleißes betrogen wurden, daß sie jetzt die Chance haben, diese Früchte selbst zu ernten. Dies gilt vor allem auch im Blick auf unsere besondere moralische Verpflichtung für Rentner und Rentnerinnen, die ihr ganzes Erwerbsleben unter einer sozialistischen Mißwirtschaft verbringen mußten. Für sie gibt es seit dem 1. Juli 1990 bereits eine Rente, die sich an der allgemeinen Einkommensentwicklung orientiert.Meine Damen und Herren, jetzt, zum 1. Januar 1992, gibt es weitere erhebliche Verbesserungen, z. B. im Bereich der Invaliden- und Witwenrenten. Deswegen, Herr Kollege Vogel, finde ich, hätten Sie heute einmal auf eine Ihrer früheren Reden an diesem Pult eingehen müssen. Ich zitiere Äußerungen von Ihnen vom 13. März. Das war der Höhepunkt jener Kampagne, die Sie mitinszeniert hatten. Sie sagten damals im Blick auf die Menschen in den neuen Bundesländern:
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Bundeskanzler Dr. Helmut KohlSie ... gehen von neuem in wachsender Zahl auf die Straße und protestieren, ... gegen die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, mit der die Steigerung der Einkommen nicht Schritt hält, und dagegen, daß der wirtschaftliche Aufschwung nicht in Gang kommt.Eines ist bemerkenswert.
— Ja, natürlich. Aber Sie hätten ihnen doch sagen können, daß es ein Zustand ist, der sich in sehr kurzer Zeit ändern wird. Sie haben das aber nicht gesagt, sondern den Leuten noch zusätzlich Angst gemacht.
Meine Damen und Herren, weil wir gerade bei der Geschichte waren: Sie haben nichts aus der Geschichte gelernt. Das ist heute schon richtig gesagt worden;
denn die gleiche Art Polemik haben Sie 1950 gegen Ludwig Erhard betrieben. Dies habe ich noch in bester Erinnerung.
Ich bin sicher, daß die Menschen in den neuen Bundesländern in ihrer riesigen Mehrheit fest entschlossen sind, ihr Schicksal selbst zu gestalten, selbst in die Hand zu nehmen. Sie können dies heute tun in der Gesellschaft der Freiheit, der Sozialen Marktwirtschaft. Was sie brauchen, ist neben den materiellen Zuwendungen, daß sie Ermutigung erfahren, daß wir die Probleme nicht wegreden, sondern sagen, daß wir mit ihnen gemeinsam auch Geduld und Ausdauer haben. Wir müssen immer wieder sagen: Auch der Wohlstand der alten Bundesrepublik ist nicht zwischen 1948 und 1950 entstanden, sondern wir haben Jahre gebraucht, um auf den Standard zu kommen, der dann später mit Recht gerühmt wurde.
Wir haben mit dem Regierungswechsel 1982 die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung gebracht. Kein einziges Wort ist gestern aus dem Munde der Sprecherin der SPD zu dieser Tatsache gebracht worden. Wir sind in den 18 Monaten von Mitte 1990 bis Ende dieses Jahres in der Lage, über 100 Milliarden DM für den Aufbau in den neuen Bundesländern bereitzustellen. Für 1992 sind es weitere 74 Milliarden DM. Wir haben gleichzeitig dabei ganz Wesentliches im Bereich der Familien- und der Sozialpolitik getan, wobei — das will ich noch gerne nachtragen, Herr Kollege Vogel — ich es erstaunlich fand, daß Sie vorhin mit Drohgebärde das Schicksal des armen Norbert Blüm beschrieben haben, wenn er scheitere. Ja, lieber Herr Vogel, er ist überhaupt der erste Arbeitsminister, der sich dem Thema „Pflegeversicherung" zuwendet.Warum haben Sie es denn zwischen 1969 und 1982 nicht getan?
Daß die alte Bundesrepublik schon seit längerem auf dem Wege der Überalterung ist — die Frage der Kinderzahlen, die Fragen der Demographie — , das ist doch nicht erst jetzt vom Himmel gefallen, sondern das ist eine Entwicklung, die sich seit Jahrzehnten abzeichnet. Sie haben nichts, aber auch gar nichts auf diesem Gebiet getan. Deswegen, das muß ich Ihnen sagen, ist es mir ziemlich gleichgültig, ob Sie Ihre Vorlage im September oder im Oktober einbringen. Wir haben gesagt, daß wir zum Ende dieses Jahres die Vorlage der Koalition einbringen — wenn es nach mir geht, noch im Oktober — und daß sie dann zur Beratung ansteht.
Dafür brauchen wir aber doch nicht die Nachhilfe der Sozialdemokraten. Sie haben auch diese Herausforderung schlicht verschlafen und versäumt.
Ich will noch einmal, wie auch der Finanzminister gestern, die OECD zitieren, weil es wichtig ist, diese unabhängige Stimme zu hören. In der jetzigen dramatischen Entwicklung auch der Weltwirtschaft bescheinigt sie uns — ich zitiere — , „daß die Bundesrepublik in einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne ein beachtliches Volumen an finanziellen und menschlichen Ressourcen zur Unterstützung der wirtschaftlichen Integration der beiden Teile Deutschlands mobilisiert hat". Das ist die erste Feststellung.Die zweite Feststellung: „Dieser Prozeß vollzog sich ohne Gefährdung für die gesamtwirtschaftliche Stabilität in Westdeutschland. "Jetzt kommt die dritte Feststellung, die wahrscheinlich aktuell die wichtigste ist. Hiernach — das hört auch nicht jeder in meiner eigenen Fraktion gern — ist eine Neuverschuldung in der Höhe dieses Jahres selbst bei der derzeitigen außergewöhnlichen Aufgabe des Aufbaus in der ehemaligen DDR auf Dauer nicht akzeptabel. Dies ist wahr, und das ist die Maxime unserer Politik, weil die D-Mark-Stabilität davon abhängt. Der politische Einfluß unserer Republik in der Welt hängt entscheidend von der Stabilität der D-Mark ab. Das muß jeder bei noch so vernünftig begründbaren Vorschlägen und Vorstellungen einsehen. Mir fällt selbst sehr viel ein, aber wir müssen die Notwendigkeiten klar erkennen und Prioritäten setzen.Herr Kollege Vogel, zu den Anmerkungen zur Schuldenentwicklung will ich folgendes sagen: Diese Bundesregierung hat mit dem 1. Oktober 1982 bei ihrer Amtsübernahme einen Schuldenstand aller öffentlichen Haushalte in Höhe von 606 Milliarden DM vorgefunden, davon 308 Milliarden DM beim Bund. Verzinst man diesen Schuldenstand, den diese Bundesregierung so nicht verursacht hat, sondern eben als Erblast übernommen hat, mit 7 %, dann ergibt sich rechnerisch
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3078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl— hören Sie sich doch einmal die Zahlen an, Frau Matthäus-Maier — für Ende 1991 eine Verschuldung aller öffentlichen Haushalte in Höhe von 1,114 Milliarden DM, d. h. für den Bund von 566 Milliarden DM. Damit zu vergleichen ist der für Ende 1991 geschätzte tatsächliche Schuldenstand. Er beträgt 1 176 Milliarden DM für alle öffentlichen Haushalte und für den Bund 608 Milliarden DM. Diese Zahlen können Sie nicht bestreiten. Das bedeutet, die Höhe des heutigen Schuldenstands der öffentlichen Haushalte bzw. des Bundes ist nahezu vollständig die Konsequenz eines Schuldenberges, den wir bereits 1982 vorgefunden haben.
Wir haben — Finanzminister Waigel hat das gestern dargelegt — in den Jahren nach 1982 unseren klaren Kurs konsequent durchgehalten. Wir werden das auch weiter tun. Durch strikte Sparsamkeit sollen die Ausgaben des Bundes durchschnittlich um weniger als 2,5 % jährlich steigen. Die Zuwachsrate des Bundessozialprodukts wird voraussichtlich in den kommenden Jahren doppelt so hoch sein. Das entspricht auch den Stabilitätsvorgaben, die uns, wie Sie wissen, die Bundesbank vorschlägt. Ich kann nur noch einmal sagen, daß die Frage der Preisstabilität für die Bundesregierung von allergrößter Bedeutung ist. Ich nehme alle Mahnungen, egal, von welcher Seite, nicht zuletzt und vor allem die von der Bundesbank, in diesem Zusammenhang sehr ernst.Wir müssen gemeinsam daran arbeiten — das gilt aber nicht nur etwa für die Politik im Verantwortungsbereich von Bund, Ländern und Gemeinden, sondern auch für Tarifpartner, für Gewerkschaften wie Unternehmer —, daß wir der Inflationsbegrenzung und Inflationsbekämpfung den notwendigen Vorrang einräumen.
Sie kennen die Beschlüsse zum Thema Mehrwertsteuer. Wir haben hierzu einen klaren Kabinettsbeschluß gefaßt. Etwas anderes, Herr Kollege Vogel, habe ich nicht gesagt.Ich habe allerdings darauf hingewiesen, daß es andere Stimmen gibt, die gesagt haben, statt der Erhöhung auf 15 % müssen wir auf 16 % gehen. Ich finde es völlig in Ordnung, daß etwa aus den Bundesländern, und zwar, wenn ich es richtig sehe, nicht nur aus einem einzigen politischen Lager, diese und jene Überlegung diskutiert wird. Was ist das eigentlich für eine eigenartige Politik, wenn solche Fragen in einer laufenden Diskussion überhaupt nicht mehr eingebracht werden dürfen? Entscheidend ist doch, daß diese Koalition und diese Bundesregierung ihren Vorschlag eingebracht haben. Das ist die Basis, von der wir ausgehen.
Sehen Sie, Herr Kollege Vogel: Jetzt kommt ein Zeitabschnitt, in dem ich viel Mitgefühl für Sie habe; denn ich habe in einer Situation, die der Ihren vergleichbar ist, selber gestanden. Damals gab es eine Mehrheit der Union im Bundesrat und SPD/FDP- Mehrheit hier im Bundestag.Ich habe heute bei den Ausführungen des Herrn Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein kein Wort davon gehört, wie er beim Thema „Mehrwertsteuer" im Bundesrat abstimmen wird.Aber ich sage Ihnen voraus, wie Sie abstimmen werden, und ich nehme Wetten darauf an: Sie werden hier— im Bundestag dagegenstimmen — in der bekannten Annahme, daß im Bundesrat dafür gestimmt wird. So wird Ihre politische Linie sein. Das ist eine klare politische Linie — damit es jedermann auch richtig versteht —; eine ganz klare politische Linie.
— Aber Sie wissen doch, daß es so ist.
— Ja; natürlich. Aber ich sage das im übrigen ja gar nicht abwertend. Es ist doch ein großer Unterschied, ob Sie, Herr Kollege, wie Sie hier sitzen, mit lauter, volltönender und angenehmer Stimme Zwischenrufe machen oder ob Sie als Ministerpräsident eines Bundeslandes, das große Schwierigkeiten bei der Finanzierung seiner Aufgaben hat, über Ausgaben reden. Sie sind da besser dran.
Lieber Herr Kollege, weil meine Lebensschule mich in die verschiedensten Funktionen geführt hat, verstehe ich das.
Ich weiß, wie ich mich als Oppositionsführer geärgert habe, wenn sich die CDU/CSU-Ministerpräsidenten nachts um drei mit dem Kollegen Schmidt und dem jeweiligen Finanzminister der damaligen Koalition geeinigt haben. Ich will versuchen, daß es nicht nachts um drei wird, Herr Kollege Vogel.
Aber es wird so werden. Sie können sich jetzt schon darauf einrichten.
— Frau Matthäus-Maier, wenn Sie mir widersprechen, gehen Sie doch hierher ans Pult, und sagen Sie: Sie haben unrecht; wir werden im Bundestag und im Bundesrat dagegenstimmen. Dann bin ich bereit, meine Vermutungen zurückzunehmen.
Die heute veröffentlichten Arbeitslosenzahlen zeigen natürlich, daß der Beschäftigungsabbau in Ostdeutschland keineswegs beendet ist. Aber ich glaube, diese Zahlen lassen auch erkennen, daß unsere Arbeitsmarktpolitik greift. Rund 2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse, darunter 30 % in neugegründeten Betrieben, machen deutlich, daß der Strukturwandel vorankommt. Alle Institute, die wir kennen, sagen das Entsprechende voraus.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3079
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlHerr Kollege Lambsdorff, ich glaube, es ist wichtig, daß wir auch hier unsere Übereinstimmung deutlich machen.Wir haben — das war ein ziemlicher Kraftakt; ich will das klar sagen — in den vergangenen Tagen den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit um 5 Milliarden DM nochmals aufgestockt, weil dies angesichts der konkreten Situation in den neuen Bundesländern zwingend notwendig war. Wir haben das getan — ich unterstreiche, was Sie gesagt haben — in der Erwartung, daß das, was jetzt bei den ABM geschieht, selbstverständlich nicht den Aufbau zukunftsfähiger wirtschaftlicher Strukturen, nicht zuletzt beim Mittelstand, erschwert.Nur — meine Damen und Herren, Sie kennen meine Meinung aus unseren Gesprächen — , dies ist nicht die Stunde der reinen Lehre. Mit den AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern schaffen wir jetzt Übergangslösungen. Das kann aber keine Dauerentscheidung sein.
Herr Vogel, ich wäre sehr dankbar gewesen, wenn Sie zur Frage der Lehrstellen ein Wort gesagt hätten, weil Sie da aus früherer Zeit noch einen Nachholbedarf haben. Im Frühjahr hörte ich: Es gibt katastrophale Verhältnisse bei der Ausbildung junger Leute in den neuen Bundesländern. Das habe ich übrigens ähnlich schon einmal gehört. Damals haben Sie zwar keine Ergänzungsabgabe, aber eine Ausbildungsabgabe vorgeschlagen. Das war 1985.Ich habe das damals abgelehnt. Wir haben an Handwerk, Mittelstand, freie Berufe, an die Unternehmen und alle, die guten Willens waren, appelliert. So haben wir die jungen Leute von der Straße gebracht. Das war eine der ganz großen Leistungen der alten Bundesrepublik.
Meine Damen und Herren, ich bin sicher: Wir sind heute auf einem ähnlich guten Weg. Natürlich haben wir es diesmal mit ganz anderen Landschaften und Strukturen zu tun. Es wird nicht überall so laufen, wie es damals hier in der alten Bundesrepublik gelaufen ist. Ich bin vorsichtig, aber nach den sich jetzt abzeichnenden Zahlen kann man heute, glaube ich, die Behauptung wagen, daß der allergrößte Teil derer, die können und wollen — beides gehört dazu —,
auch die Chance eines Ausbildungsplatzes bekommen.Man muß sich einmal vergegenwärtigen, was in diesen paar Monaten geschehen ist, was es etwa heißt, daß in den neuen Bundesländern bis Ende 1991 500 000 neue Telefonanschlüsse verlegt werden. Nach dem jetzt laufenden Programm sollen es bis 1997 9 Millionen Anschlüsse sein. Das ist fünfmal soviel, wie das SED-Regime in den ganzen 40 Jahren geschafft hat. Da kann doch niemand sagen: Auf diesem Gebiet passiert überhaupt nichts.Natürlich gibt es da jetzt auch Ärger. Als keiner ein Telefon hatte, haben sich die Leute damit abgefunden. Wenn aber in einem Wohnblock zwei oder drei Mieter ein Telefon haben, wollen alle eins haben, und es kann auf einmal nicht schnell genug gehen. Auch diese Erfahrung machen wir natürlich.Die Investitionen im Verkehrsbereich werden von 1992 bis 1995 gegenüber dem bisherigen Ansatz um 30 Milliarden DM erhöht. Sie brauchen nur durch die neuen Bundesländer zu fahren, um die Wirkung zu sehen. In ein paar Monaten wird die Wirkung noch sehr viel stärker sein. Wenn Sie diese Zahlen sehen, wissen Sie, daß wir auf einem guten Weg sind. Es bleibt viel zu tun. Wir haben noch viel Grund zur Sorge. Aber wir sind auf einem guten Weg!Die Erfahrungen der letzten Monate zeigen uns auch — das bekunde ich noch einmal als den gemeinsamen Willen der Koalitionsparteien —, daß wir dabei nicht nur auf den Staat und die öffentliche Hand vertrauen dürfen. Die Inanspruchnahme privatwirtschaftlicher Initiativen bei Planung, Finanzierung, Bau und Betrieb von Infrastrukturprojekten ist von allergrößter Bedeutung. Ich könnte mir sogar vorstellen, meine Damen und Herren, daß wir bei der Beseitigung mancher verkrusteter Strukturen in der alten Bundesrepublik durch positive Erfahrungen auf diesem Gebiet in den neuen Bundesländern ein großes Stück vorankommen können.
Ich leugne keines der Probleme. Aber ich weiß — ich begegne täglich vielen, die ihre Erfahrungen machen; sie kommen aus dem Ausland oder aus dem Inland, sie kommen aus den neuen Bundesländern und aus den alten Bundesländern —, daß wir — ich sage es noch einmal — auf einem guten Weg sind und daß es jetzt darum geht, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten. Es geht darum, den Menschen Zuversicht zu vermitteln und ihnen zu helfen.Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, hier stünde in einer vergleichbaren Lage mein Vorgänger mit der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Sprachgewalt, und er könnte vorlesen, was im britischen „Economist" vom August dieses Jahres steht: „Es wird noch viele Anstrengungen im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung erfordern. Aber — trotz aller Ängste — " — Herr Vogel —„sind die Aussichten besser als die Untergangs-Propheten zur Zeit glauben. "
Herr Vogel, Sie haben dort ja auch Probleme mit dem Mitgliederzuwachs, aber wenn Sie dieses Zitat in den neuen Bundesländern auf die Plakate drucken, dann werden Sie, da bin ich ganz sicher, erfolgreich sein.
Meine Damen und Herren, in der alten Bundesrepublik zeigt sich für dieses Jahr wiederum eine alles in allem bemerkenswerte Entwicklung. Natürlich wissen wir, daß sich die ökonomischen Verhältnisse im Weltmaßstab verändert haben. Es ist aber festzuhalten — und das ist nicht zuletzt ein Ergebnis der deutschen Einheit — , daß es in der alten Bundesrepublik nach den Vorhersagen der Experten für dieses Jahr ein Wachstum von über 3 % geben wird.
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3080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlIch nehme einen Gedanken auf, mit dem der Kollege Lambsdorff vorhin den nordrhein-westfälischen Finanzminister zitiert hat. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Wir in den alten Bundesländern waren in einer besonderen Weise ökonomische Nutznießer der deutschen Wiedervereinigung.
Ohne diesen Nutzen wären wir in der alten Bundesrepublik in den letzten zwei Jahren ökonomisch nicht so erfolgreich gewesen. Es ist ein Akt einfachster Gerechtigkeit, diesen — ich nenne ihn einmal so — Gewinn an die neuen Bundesländer abzugeben.
Herr Kollege Vogel, es war nicht anders zu erwarten, als daß Sie bei dem Thema Unternehmensbesteuerung die alte Platte laufen ließen.
— Ich mache Ihnen ein konkretes Angebot.
— Ja, ich werde Sie in die glückliche Lage bringen— das ist jedenfalls meine entschiedene Absicht —, wenige Wochen vor Vollendung des europäischen Binnenmarktes am 31. Dezember 1992 zu einer ganz grundsätzlichen Abstimmung über dieses Thema zu kommen. Wir müssen dem Arbeitnehmer bei BASF in Ludwigshafen, dem Arbeitnehmer bei Siemens in Erlangen oder in München, dem Arbeitnehmer in den Betrieben der neuen Bundesländer — denken Sie an das Chemiedreieck in Sachsen-Anhalt, das wir über die Runden und in zukunftsfähige neue Strukturen bringen wollen — , klarmachen, daß sein Unternehmen im Weltmaßstab einer härteren Konkurrenz ausgesetzt sein wird und daß es hier nicht um Geld für die Reichen geht, sondern um die Erhaltung von Arbeitsplätzen.
Meine Damen und Herren, ich sage das jetzt ohne jeden Vorwurf gegen irgend jemanden: Wenn Sie sich diesen Haushalt als Ganzes anschauen — das gilt für alle Haushalte, auch für die Landeshaushalte —, müssen Sie doch einfach zugeben: Wir in den alten Bundesländern beschäftigen uns in unseren Diskussionen überwiegend mit Aufgaben des Tages und von gestern. Die Frage, inwieweit wir in die Zukunft investieren, ist keine parteipolitische Frage, ist keine Frage der Gewerkschaften oder der Unternehmer. Es ist eine Frage, die wir gemeinsam angehen müssen.Niemand soll glauben, daß die Volkswirtschaft der USA, die aus einer Reihe von Gründen, auch aus Etatgründen, eine Schwächeperiode hat, so bleibt, wie sie ist. Die Deutschen haben sich schon zweimal in der Kraft dieses Kontinents getäuscht. Ich sage Ihnen voraus: Bis zum Jahre 2000 werden die Amerikaner auch im Blick auf die Japaner und auf das, was in Ostasien geschieht, ihre Muskeln im Ökonomischen anspannen.Wenn die Amerikaner durch Abrüstung und Entspannung in die Lage kommen, einen beachtlichenTeil ihrer finanziellen Ressourcen vom militärischen Bereich in den ökonomischen und in den Forschungsbereich umzulenken, dann müssen wir uns die Frage stellen: Was tun wir?
— Ich spreche gerade darüber. Ich werde in absehbarer Zeit hier mit einer Regierungserklärung den Versuch unternehmen, eine Debatte herbeizuführen, in der wir uns darüber unterhalten — und zwar jenseits von Parteipolitik — : Was ist für die Zukunft unseres Landes wirklich notwendig? Ich will hier keine japanischen Verhältnisse einführen. Keiner von uns kann die Arbeits- und Sozialverhältnisse Japans hier übernehmen. Wir müssen aber jetzt zur Vorsorge für die Jahre nach 2000 fähig sein. Das ist von meinem Alter aus betrachtet eine Perspektive für die eigenen Kinder. Wenn wir beispielsweise in einer so wichtigen sozialen Frage wie der Pflegeversicherung, über die jetzt diskutiert wird, längerfristig denken, müßten wir konsequenterweise auch fähig sein, in der Industriepolitik längerfristig zu denken. Ich glaube, das ist nur vernünftig, und das sollte man tun.
Wenn wir das tun, steht das nicht im Gegensatz zu anderen sozialen Fragen, beispielsweise der Familienpolitik, die für mich besonders wichtig ist. Ich will hier ein paar Zahlen in Erinnerung rufen: Im Jahre 1982 waren dafür im Bundeshaushalt insgesamt 23 Milliarden DM ausgewiesen. Im Haushalt 1992 sind es 47 Milliarden DM. Das ist eine gewaltige Steigerung in nur ein paar Jahren.Ich schließe mich Ihrem Wunsch ausdrücklich an, Herr Kollege Vogel: Bei den Fragen zum Themenbereich § 218 wünsche ich mir, daß wir in einer Weise miteinander diskutieren, die dem Thema angemessen ist. Ich kann das nur unterstreichen. Bei einem Thema, das eine Gewissensentscheidung verlangt, ist es, finde ich, notwendig, daß wir uns — bei allen Gegensätzen — darum bemühen, daß dies in einer Form geschieht, die auch — wie immer dann am Ende die Abstimmung ausgeht — das Leben miteinander in dieser Frage möglich macht.Meine Damen und Herren, ich habe in den letzten Wochen vor der Sommerpause nach dem Gipfel in Luxemburg hier ausgiebig über die Europapolitik gesprochen. Ich will heute nur folgendes sagen: Ich glaube, daß es seit dem Golfkrieg und jetzt durch die täglichen schrecklichen Ereignisse in Jugoslawien— Sie alle kennen die Nachrichten — auch dem letzten klar sein müßte, daß die Zukunft dem politisch geeinten Europa gehört.Ich finde es nicht gerecht, wenn ich jetzt zum Teil höre: Ihr in der EG müßt handeln. Meine Damen und Herren, wir haben ja gar kein Instrumentarium auf diesem Feld. Wenn wir als Außenminister oder als Regierungschefs zusammenkommen, können wir uns, miteinander diskutierend, vielleicht verständigen. Auf dem EG-Gipfel in Luxemburg Ende Juni gab es— ich kann das heute ja sagen — etwa in der Frage, wie das Selbstbestimmungsrecht für die Völker Jugoslawiens praktiziert werden könnte, überhaupt kein Einvernehmen. Ich sage das ohne Vorwurf.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3081
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlWenn ich in einer vergleichbaren Lage wie von mir hochgeschätzte Kollegen gewesen wäre — ich denke an Felipe Gonzalez und andere — und deren innerstaatliche Probleme hätte, wäre ich möglicherweise auch zurückhaltender gewesen.Was wir jetzt in Angriff nehmen, in Angriff nehmen müssen, ist ein mühsamer Prozeß der Meinungsbildung, zunächst unter den zwölf Mitgliedstaaten der EG. Wenn bis zum Jahre 2000 Schweden, Österreich und möglicherweise — ich greife den Entscheidungen dort wirklich nicht vor — Finnland oder Norwegen im Gefolge der Entscheidung Schwedens hinzukommen,
wenn wir um die Jahrhundertwende — ich bin jetzt sehr optimistisch, Herr Kollege Dregger — mitten in Beitrittsverhandlungen mit Ungarn, mit Polen und der CSFR stehen sollten — das ist ja unser, wie ich denke, gemeinsamer Wunsch —, dann ist das ein Europa von weit über 400 Millionen Einwohnern. Es muß darüber hinaus aber auch ein Europa sein, das seine eigene Identität im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, im Bereich des globalen Umweltschutzes, im Bereich der Dritte-Welt-Politik hat. Es hat doch keinen Sinn, daß die einen für das Frankophone zuständig sind, während die anderen aus der englischen Tradition heraus und wir zum Teil mit Komplexen aus der kaiserlichen Zeit — ich will das einmal so freundlich formulieren — die Dinge betrachten. Vielmehr müssen wir versuchen, Europa, das ja anderen Kontinenten einmal als Abendland gegenübertrat, wieder als Ganzes zum Sprechen zu bringen.Auch die anderen wichtigen Fragen können wir nur gemeinsam lösen. Ich halte es für ausgeschlossen— und ich hoffe sehr, daß wir in ein paar Wochen in Maastricht auf diesem Gebiet weiterkommen — , daß wir die ungeheure Herausforderung der Drogenmafia national abwehren können. Ich bin bestürzt darüber, wie wenig öffentliches Interesse dieses Thema findet, obwohl doch jeder bei uns spürt, daß es auch in Deutschland längst virulent geworden ist.Ein anderes Thema, das hier eine Rolle spielt, möchte ich hier wenigstens mit einem Stichwort ansprechen. Ich glaube nicht daran, daß wir die Asylfragen in der nationalen Dimension lösen können. Dabei gilt — das will ich noch einmal betonen — natürlich der Satz: So, wie wir das Asylrecht verstehen, gilt es für jeden, der wirklich aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt ist. Für uns Deutsche mit unserer Geschichte muß dies ein heiliges Recht sein. Ich sage das bewußt und betont so.
Aber, meine Damen und Herren, weder mit Blick auf die europäische noch mit Blick auf die deutsche Dimension kommen Sie dabei unterhalb der Schwelle der Verfassungsänderung aus. Sie sehen doch selbst— ich sage das jetzt wirklich werbend; verstehen Sie es bitte so — : Wenn Sie heute eine Tagung Ihrer Kommunalpolitiker haben, Herr Kollege Vogel, dann unterscheidet sich deren Meinung von meiner — nicht weil sie von mir überzeugt sind, sondern weil sie denSachverhalt im Alltag genau kennen — nicht wesentlich. Und weil sie diesen Sachverhalt des Alltags kennen, wollen sie auch in diesem Sinne handeln.Der Kollege Genscher hat vorhin schon über Abrüstung und Entspannung gesprochen. Ich kann mich dem anschließen. Ich brauche das nicht noch einmal besonders zu betonen und will nur sagen: In diesen Jahren sind viele Träume in Erfüllung gegangen, aber wenn wir uns jetzt auf die in ein paar Wochen in Rom stattfindende NATO-Konferenz vorbereiten und uns überlegen, was wir jetzt alles verändern können und müssen, um die NATO an die Entwicklung anzupassen, dann wird uns bewußt: Es ist eine unvorstellbare Distanz, die wir in kurzer Zeit zurückgelegt haben. Ich sage das in aller Dankbarkeit.Dazu gehört — auch dieses Stichwort soll wenigstens angesprochen werden; ich sagte das schon kurz — , daß ich uns gemeinsam dringend ermahnen möchte, ungeachtet der nationalen Probleme, die wir mit der Finanzierung des Aufbaus in den neuen Bundesländern haben, und ungeachtet unserer Verpflichtungen in bezug auf die Reformstaaten Mittel-, Ost-und Südosteuropas — wir haben mehr getan als alle anderen; ich habe heute früh darauf hingewiesen —, die Not in der Welt, die Not in Lateinamerika, Afrika und Asien, nicht zu vergessen.In den nächsten Monaten müssen wir — das ist eine schwierige Entscheidung für die deutsche Politik — das wohlverstandene Eigeninteresse, auch unserer Bauern, bei der GATT-Runde mit einbringen, dabei aber auch sehen, daß die Deutschen neben anderen Gründen zwei vor allem haben, alles zu tun, damit die GATT-Runde erfolgreich ist: erstens weil wir immer noch die größte oder zweitgrößte — das ist nicht so wichtig — Exportnation der Welt sind und zweitens— was häufig unterschlagen wird — weil es eine absurde Entwicklung ist, daß wir unsere Märkte nicht für Produkte aus den Entwicklungsländern genügend öffnen. Es ist doch ein Teufelskreis, daß wir Kredite an Länder geben, daß diese Kredite dann dazu benutzt werden, bei uns Maschinen, Chemikalien oder anderes zu kaufen, und daß wir dann nach ein paar Jahren diese Länder wieder entschulden müssen, weil sie ihre Kredite nicht zurückzahlen können. Ich meine also, in der GATT-Runde sei eine der wichtigsten Entscheidungen fällig, und die wird nicht nur Freude machen. Aber wir müssen hier die Zukunft im Gesamtkontext vor uns sehen.
Meine Damen und Herren, wer in diesem September 1991 die deutsche Politik, die Entwicklung in Europa und in der Welt betrachtet, der spürt, daß wir— ich bin sonst in der Anwendung dieses Begriffes zurückhaltend — mitten in einer Zeitenwende stehen. In der Geschichtsschreibung kommender Zeiten wird die Zeit vom Ende der 80er bis zum Beginn der 90er Jahre mit diesem Begriff bedacht werden. Die dramatischen Entwicklungen in Moskau, die Nachricht, daß darüber gesprochen wird, wo Lenin endgültig beigesetzt werden soll, all das — man kann das ja an den kleinen Beispielen am besten ermessen — legt davon Zeugnis ab. Ich finde, wir sollten bei allen Sorgen, die wir auch haben, uns vor allem sagen: Wir leben in einer phantastischen und großartigen Zeit. Wir haben
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Bundeskanzler Dr. Helmut KohlChancen wie nie zuvor eine Generation in diesem Jahrhundert.
Mit dem Umbruch in der Sowjetunion geht das Zeitalter des Totalitarismus auf unserem Kontinent endgültig zu Ende. Ich bin sicher, daß — auch wenn es manche noch verhindern wollen — auch für die Völker Jugoslawiens der Tag nicht mehr fern ist, an dem sie in Frieden und in freier Selbstbestimmung den Weg zurück nach Europa finden.Ich glaube, das ganze Ausmaß dieses wahrhaft revolutionären Wandels wird uns bewußt, wenn wir einen Moment innehalten und uns daran erinnern, was am 1. August 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der damalige britische Außenminister Edward Grey prophezeit hatte: „Die Lampen gehen in ganz Europa aus, wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen. " In der Tat, zwei Weltkriege, die Diktaturen des Kommunismus und des Nationalsozialismus, haben ihm zunächst recht gegeben. Am Wegrand dieser Jahrzehnte gab es Millionen Tote, Vertreibung, Not, Konzentrationslager, Massenmord. Welch ein Kontrast zu den Erfahrungen, die wir heute machen: In ganz Europa gehen jetzt, am Ende dieses Jahrhunderts, die Lichter wieder an. Für mich war es ein bewegender, ein unvergeßlicher Augenblick, als der estnische Außenminister Meri vor ein paar Tagen, anläßlich der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen Deutschlands mit den drei baltischen Republiken, auch im Namen seiner beiden Amtskollegen in Bonn sagte: „Heute sind die letzten Folgen des Zweiten Weltkrieges beseitigt worden. Unsere Blicke sind in die Zukunft gewandt — mit Hoffnung und mit Zuversicht." Dazu haben wir in der Tat allen Grund.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Conradi das Wort. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Bundeskanzler, seit 14 Tagen wissen wir, daß die Bundesregierung meine Frage vom letzten Jahr nach den Hilfen des BND für den ehemaligen Staatssekretär der DDR, Schalck-Golodkowski, falsch beantwortet hat. Seit heute wissen wir, daß die Bundesregierung diese Frage in voller Kenntnis der Hilfen, die der BND Schalck-Golodkowski gewährt hat, falsch beantwortet hat.
Herr Bundeskanzler, ich habe in den 14 Tagen auf eine Erklärung Ihrer Regierung zu diesem Vorgang gewartet. Halten Sie es für normal, daß die Bundesregierung im Parlament einen Abgeordneten belügt, ihn in Kenntnis des tatsächlichen Sachverhalts falsch informiert?
Sie, Herr Bundeskanzler, haben als Vorsitzender der Opposition in der Debatte über den MAD und den damaligen Bundesverteidigungsminister Leber das Verhalten der Bundesregierung gegenüber dem Parlament als „einer Bananenrepublik" würdig bezeichnet. So haben Sie es damals ausgedrückt. Ich frage
Sie: Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus, daß das Parlament hier belogen wird?
Ich sage für uns Parlamentarier: Wenn wir es zulassen, daß die Bundesregierung das Parlament hier belügt, dann können wir das Parlament zumachen.
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Stavenhagen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, daß ich dem Abgeordneten Conradi am 13. März 1990 auf seine Frage nach bestem Wissen und Gewissen eine Auskunft gegeben habe,
— nein, das bestreitet er nicht —,
die aber objektiv nicht zutraf.
Richtig ist, daß der Bundesnachrichtendienst Herrn Schalck-Golodkowski für sechs Wochen falsche Papiere gegeben hat, mich darüber aber nicht im vorhinein, sondern — wie der Bundesnachrichtendienst am Montag auch öffentlich erklärt hat — später unterrichtet hat, so daß ich am 13. März diese Auskunft nicht anders geben konnte.
Die Aktenlage, die sich auch aus den Akten des Untersuchungsausschusses ergibt, bestätigt eindeutig, daß in den Gesprächen, die geführt wurden, über eine legale Namensänderung gesprochen worden ist und daß dabei von mir gesagt worden ist: Das ist ausschließlich Sache der bayerischen Behörden. — Über die vorübergehende Zurverfügungstellung falscher Papiere ist nicht gesprochen worden.
Dies geht aus der Aktenlage und auch aus der Auskunft des Bundesnachrichtendienstes eindeutig hervor.
Nun hat die Abgeordnete Frau Hanewinckel das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, niemand von der SPD-Fraktion bestreitet Ihnen, daß Sie Ihren Anteil an der Schaffung der deutschen Einheit haben. Aber ich bin immer wieder überrascht über Ihre Sichtweise. Die ist so rosarot, daß ich als ehemalige Bürgerin der DDR und jetzt als Parlamentarierin aus einem neuen Bundesland im Deutschen Bundestag mich darin nicht wiederfinde.
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Christel HanewinckelIch muß auch sagen, daß ich hier für viele der Männer und Frauen sprechen kann, die in den neuen Bundesländern leben. Sie fühlen sich von Ihnen nicht ernst genommen, wenn Sie nicht bereit sind, die Realität anzuerkennen. Dazu gehört, genau hinzusehen und zu sagen „So ist es" und nicht immer nur davon zu reden, daß es ja schon wieder hell wird. Ich denke, die Menschen sind erwachsen und verantwortlich. Sie sind in der Lage und bereit, den Anforderungen gerecht zu werden, aber nur dann, wenn ihnen wirklich offen gesagt wird, wie es ist, und wenn ihnen nicht mit Geschichten und Lügen vorgemacht wird, wie es nach Ihren Wünschen wahrscheinlich sein sollte.
Ich bin auch überrascht von der Art und Weise, in der Sie hier reagiert haben. Ich hatte immer die Vorstellung, daß ein Bundeskanzler auch souveräner antworten und reagieren kann.
Mir fiel zwischendurch das Sprichwort ein, daß getroffene Hunde bellen.
Vielleicht ist es in dem Zusammenhang auch so, daß Sie an manchen Stellen so reagieren müssen, weil Sie keine anderen Antworten haben. Ich wünschte mir, daß wir wirklich offener und reeller miteinander umgehen könnten und uns von falschen Ratgebern nicht so beeinflussen ließen.14 Monate sind seit der Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vergangen. 11 Monate sind seit der Vollendung der staatlichen und juristischen Einheit vergangen. Viele Milliarden sind seitdem von West nach Ost geflossen, aber es sind seitdem auch viele Menschen von Ost nach West gegangen, und sie gehen noch immer. In Halle an der Saale, woher ich komme, gehen jeden Monat noch immer 500 Bürgerinnen und Bürger in die alten Bundesländer. Westliches Know-how, Strukturen, Rechtsformen usw. sind von West nach Ost gegangen, unabhängig davon, ob sie in die Landschaft passen oder nicht. Die Wirtschaft im Westen boomt, im Osten ist es die Arbeitslosigkeit.14 Monate Währungsunion, was heißt das? Das heißt: Wir in den neuen Bundesländern zahlen inzwischen mit dem gleichen Geld, aber nicht mit gleicher Münze. Wirtschafts- und Sozialunion — da liegen zwischen den alten und den neuen Bundesländern noch Welten.Den Menschen in Ost und West ist mit der Union vieles aufgebürdet worden, und von ihnen ist auch vieles gefordert worden. Vieles haben die Menschen verstanden, und sie haben begriffen, daß die Einheit nicht zum Nulltarif zu haben ist. Sie wußten das eher als Sie, Herr Bundeskanzler, und die Koalition, die offenbar nicht in der Lage war und ist, die Bürgerinnen und Bürger des Landes als erwachsene und verantwortliche Menschen zu sehen.
— So ist es doch!
— Was ist eine Zumutung?
Inzwischen kommt in Ost und West Bitterkeit auf, bei den Menschen im Westen, weil ihnen finanziell viel zugemutet worden ist und weil ihnen nicht die Wahrheit gesagt worden ist, bei den Menschen im Osten, weil es soziale und wirtschaftliche Unzulänglichkeiten gibt, vor allem aber, weil die Menschen im Osten immer weniger wert zu sein scheinen.Ein Beispiel dafür: Eine Krankenschwester mit 25jähriger Berufserfahrung, die in einem der neuen Länder arbeitet, wird jetzt wie eine Anfängerin eingestuft. Geht dieselbe Krankenschwester 100 Kilometer weiter nach Westen, dann wird sie ihrer Berufs- und Lebenserfahrung entsprechend bewertet und so bezahlt. Wenn es gutgeht, kriegt sie noch einen Bonus von 15 000 DM dazu.
Das heißt im Klartext, daß die Menschen in den neuen Bundesländern scheinbar nichts mehr wert sind.Mir geht es hier weniger um das Geld, sondern um die Erfahrung vieler, daß sie und das, was sie bisher geleistet haben, nichts mehr wert sind. Ich denke, es ist mit eine der schmerzlichsten Erfahrungen, die Menschen machen können, daß das, was ihr Leben ausgemacht hat, plötzlich vom Tisch gewischt wird.Mit viel Engagement und Geld ist versucht worden, uns zu helfen.
Das ist gut so und in Ordnung; das hat bisher niemand abgestritten, auch ich tue das nicht. Ich kritisiere die Art und Weise, wie es passiert, und daß offenbar andere besser wissen, was für die Menschen, die es real betrifft, gut ist.Ich denke, die Bundesregierung übertrifft da alles. Sie weiß scheinbar alles am besten. Ich wünschte ihr, daß sie ihre Ohren wirklich bei dem hat, was die Leute zu sagen haben, oder, wie man mit Luther sagen könnte: daß sie dem Volk wirklich aufs Maul schaut.
Scheinbar sind es aber immer die falschen Ratgeber, die hier gehört werden.Ich denke, wenn die Bundesregierung und die Koalition in der Lage gewesen wären, die Wirklichkeit
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Christel Hanewinckelwahrzunehmen, dann hätte sie nicht so viel Porzellan zerschlagen, wie es passiert ist.
— O ja, es gab eine ganze Menge. Sie sind ein Beispiel dafür, daß Sie nicht in der Lage und bereit sind, hinzugucken und hinzuhören, was eigentlich gewesen ist.Ich denke, Sie hätten unterscheiden können, was wirklich gut und brauchbar ist und was nicht. Vielleicht hätten Sie auch noch entdecken können, daß es Stücke gab, die wertvoll waren. Ich denke an das poliklinische Modell, an das Modell der medizinischpsychologischen Beratungsstellen oder Dispensairebetreuung, an die volle Gewährleistung der Berufstätigkeit, an das flächendeckende Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen und, als letztes Beispiel, an das System der Altstoffannahme und -verwertung, das selbst von den Amerikanern mit als das beste der Welt bezeichnet worden ist.
Nur, im Moment ist davon nichts mehr da. Ich denke, das geht mit auf Ihre Rechnung.Die finanzielle Seite ist die eine, die emotional-mentale Seite ist die andere. Nach meinen Erfahrungen und nach meinem Wissen wird diese immer weniger bedacht. Besonders deutlich wird das — ich habe es schon gesagt — am Wertgefühl der Menschen in den neuen Bundesländern. Wir vom Osten und Sie vom Westen müssen füreinander um Verständnis werben, aufklären und begreifen lernen, was den jeweils anderen bewegt; denn noch sind wir unterschiedlich. Wir haben ein gemeinsames Interesse: daß wir wirklich ein Staat werden,
in dem im Laufe der Jahre — das wird noch Zeit brauchen — die Menschen ihre Unterschiede aufgeben. Es wird aber auch in dieser Generation, denke ich, immer noch dabei bleiben, daß wir unterschiedliche Vergangenheiten und Wurzeln haben.Ich denke an ein indianisches Sprichwort; Sie kennen es vermutlich auch: Man sollte mindestens drei Wochen in den Mokassins des anderen gehen, um ihn zu begreifen. — Das, was bisher geschehen ist, macht deutlich, daß dieses Interesse und dieses Engagement nicht da sind.Besonders deutlich wird das, wenn wir uns den Einzelplan 17, den Haushalt für Frauen und Jugend, angucken. Berichte und Analysen aus den neuen Bundesländern besagen, daß der Anschluß der neuen Bundesländer grundlegende Veränderungen in den Erziehungs- und Lebensbedingungen bewirkt hat, besonders für Kinder und Jugendliche.Einige Ambivalenzen möchte ich kurz aufzählen: auf der einen Seite Hoffnung auf ein gutes Miteinander im vereinten Deutschland, auf der anderen Seitedie frustrierende Erfahrung einer demütigenden Marginalisierung als Ostbürger; einerseits ein europäischer und weltweiter Horizont, andererseits der schockartige Zusammenbruch eines ideologischen Hauses und einer Gesellschaft;
einerseits internationale Erfahrungen und Möglichkeiten, gleichzeitig aber die Abwehr und die Angst vor Ausländern und Asylsuchenden im eigenen Land; Verunsicherung der Schüler durch die übernommenen Lehrer und die noch nicht abgeschlossene Umstrukturierung des Bildungswesens, Verunsicherung der Eltern durch Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Identitätsproblematik und daß sie sich für ihre Kinder kaum noch Zeit nehmen können, für Jugendliche die scheinbare Wahl der Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten, aber die nicht ausreichende Kapazität von Ausbildungsplätzen und, wenn sie eine Lehrstelle haben, die Angst, keine Anschlußverträge zu bekommen.In dieser Gesamtsituation geraten Kinder und Jugendliche in ein Niemandsland. Angst und Unsicherheit beherrschen sie.
— Ich denke, das ist überall so. Das ist doch jetzt kein Vorwurf, sondern es ist der Versuch, die Realität zu analysieren und darauf entsprechend zu reagieren.
— Für die Kinder und Jugendlichen ist es im Moment so. Wenn Sie sich mit den sogenannten rechtsextremistischen Erscheinungen im Lande befaßt haben, dann wissen Sie, daß das mit — —
— Das sage ich auch nicht. Es ist ein Teil der Kinder und Jugendlichen, dem es so geht.
Deshalb ist es wichtig, darauf zu reagieren.Meine Frage und auch der entsprechende Vorwurf an die Bundesregierung — ich kann es nicht anders sagen — lautet, ob sie diese Entwicklung nicht zur Kenntnis genommen hat. Sonst hätte sie diesen Haushalt nicht um ein Drittel kürzen können, wenn sie die Realität so wahrnimmt, wie sie ist. Das verstehe ich überhaupt nicht.
— Natürlich ist es eine Frage des Geldes. Ich werde Ihnen das gleich an den einzelnen Punkten aufzeigen.Für Kinderbetreuungseinrichtungen sind im neuen Haushalt 0 DM vorgesehen, obwohl schon jetzt deut-
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Christel Hanewinckellich ist, daß in den neuen Ländern die Eltern die oftsehr hohen Betriebskosten nicht aufbringen können.Die Mitfinanzierung von Frauenhäusern ist nicht mehr vorgesehen, obwohl die Gewalt gegen Frauen und Kinder zunimmt.
— Das ist genauso schlimm. Ich denke, hier muß das genauso mitfinanziert werden.
— Ja, ich habe auch noch einen Vorschlag.Das Schärfste ist, daß für den Bundesjugendplan statt wie bisher 50 Millionen DM nur noch 23 Millionen DM vorgesehen sind, obwohl die Zahl der Aufgaben gewachsen ist, und zwar durch die neuen Länder, weil dort eine plurale Jugendarbeit aufgebaut werden muß. Da frage ich Sie: Wie soll das gehen, wenn nicht einmal mehr die Hälfte der Mittel zur Verfügung steht, obwohl fast noch einmal soviel Arbeit auf die Jugendverbände zukommt?
— Das werden wir tun. Wir werden einen Antrag auf Erhöhung stellen, und zwar zu diesem Haushalt, der um ein Drittel gekürzt werden soll. Können Sie sich vorstellen, daß der Verteidigungshaushalt um ein Drittel gekürzt wird?
— Das ist für Sie ein kleiner Unterschied. Für mich in der Tat auch, weil ich nämlich an dieser Stelle wesentlich wichtigere Aufgaben im vereinten Deutschland sehe als im Verteidigungshaushalt.
Soweit ich es mitbekommen habe, ist die Gefahr aus dem Osten doch wohl gebannt. Dafür brauchen wir nicht weiterhin — —
— Ja, Sie haben recht, das ist nicht zu vergleichen. Eben deshalb plädiere ich dafür, daß der Verteidigungshaushalt gekürzt wird, und zwar zumindest um den gleichen Anteil wie der Haushalt für Frauen und Jugend, damit wir, wenn, wie es der Bundeskanzler sagt, die Jugend unsere Zukunft ist, auch finanziell etwas dafür tun können.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt anführen, der mich sehr irritiert, auch wenn der Betrag, der hier eingesetzt ist, nur minimal ist. — Es gibt in diesem Haushalt einen Sondertopf für die Bundesministerin Frau Merkel, über den sie verfügt. Ich bin an der Stelle irritiert und verwundert und muß sie fragen — jetzt istsie leider nicht mehr hier — , ob sie hier etwas ähnliches einführen will, wie wir es aus der DDR kannten, nämlich einen neuen Zentralismus, das heißt, daß Jugendverbände, die für autonome Projekte kein Geld mehr haben, in bestimmten Fällen bei der Ministerin nachfragen müssen, ob sie dieses oder jenes im Lande tun können. Das ist für mich eine neue Art. Es wäre dann abhängig von der Ideologie der Ministerin, wofür sie wo ihr Geld ausgibt. Es kann doch wohl nicht angehen, daß wir so mit dem Geld umgehen!An anderer Stelle wird für mein Empfinden Geld zum Fenster hinausgeschmissen; für Frauen und Jugendliche, für die es bitter nötig ist, fehlt das Geld. Ich denke, wir sind uns einig, daß wir für die Jugendlichen und die Kinder unser Bestes geben wollen, wie es immer so schön heißt. Ich habe aber den Eindruck, daß hier nicht das Beste, sondern nur der letzte Rest gegeben wird, daß es eigentlich nur Almosen sind.
Ich hoffe sehr, daß dieser Haushalt so nicht durchkommt.
Bevor ich dem Abgeordneten Hirsch das Wort zu einer Kurzintervention gebe, möchte ich ihn darauf aufmerksam machen, daß der Sinn und Zweck einer Kurzintervention die Reaktion auf einen unmittelbar vorher geleisteten Debattenbeitrag ist und daß mit einer Kurzintervention nicht auf eine Kurzintervention geantwortet werden soll. Das ist die Geschäftsordnungslage. Da ich befürchte, daß die Kurzintervention nicht eine Reaktion auf den Debattenbeitrag der Abgeordneten Hanewinckel sein wird — —
— Entschuldigung, ich habe angenommen, daß Herr Dr. Stavenhagen mit seinen Ausführungen sozusagen im Auftrag der Bundesregierung Ihre Frage beantwortet hat.
— Auch das ist, wie der geschäftsordnungskundige Abgeordnete Conradi weiß, von ihm sogar immer gewünscht worden. Das ist also nicht daran geknüpft, daß die Antwort von der Regierungsbank gegeben wird. Darauf mache ich nur aufmerksam.
Wenn das nicht zutrifft, erteile ich dem Abgeordneten Hirsch das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident, Sie haben vollkommen recht. Ich hatte hier eigentlich nur ausführen wollen, daß wir in der Parlamentarischen Kontrollkommission den Vertreter der Bundesregierung gebeten hatten, uns in der nächsten Sitzung die Frage der Verantwortlichkeit zu klären und darzustellen, welche disziplinarischen Maßnahmen ergriffen worden sind.Da Sie aber recht haben, daß ich das hier nicht ausführen kann, möchte ich nicht versuchen, das durch
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Dr. Burkhard Hirscheinen rhetorischen Trick zu machen. Darum verzichte ich auf meine Intervention.
Nunmehr erteile ich dem Bundesinnenminister Dr. Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Hanewinckel, Frau Merkel wird im weiteren Verlauf der Debatte sicherlich Gelegenheit nehmen, zu Ihren Fragen Stellung zu nehmen. Ich finde, bei der Präsenz des Hauses insgesamt sollten wir uns Anmerkungen, wer im Augenblick nicht da ist, ersparen.Ich möchte aber zu den von Ihnen aufgeworfenen Haushaltsfragen von mir aus, in meiner nachwirkenden Verantwortung als einer, der mit dem Einigungsvertrag zu tun hatte, doch die Bemerkung machen, daß Sie im wesentlichen von Länderaufgaben gesprochen haben. Mit einer zunehmenden finanziellen Ausstattung der fünf neuen Bundesländer müssen natürlich die Mittel, die wir übergangsweise im Haushalt 1991 zur Verfügung stellen mußten, im Bundeshaushalt 1992 zurückgefahren werden.
— Aber die schönsten Übergangszeiten gehen irgendwann zu Ende. Je besser die finanzielle Ausstattung der neuen Länder, desto eher müssen sie zu Ende gehen.Das bringt mich aber zu der zweiten Bemerkung, die ich machen möchte. Der Kollege Vogel hat in seiner Rede heute vormittag davon gesprochen, daß sich die Regierung an Positionen der SPD annähere, was er grundsätzlich nicht kritisiert hat. Er hat aber als ein Beispiel genannt, daß wir uns in der Frage der finanziellen Ausstattung der neuen Länder an die Position der SPD angenähert hätten. Meine Damen und Herren, da habe ich mich nun wirklich gefragt, ob ich noch in der richtigen Veranstaltung bin.
— Doch, das hat er gesagt, Frau Matthäus-Maier, lesen Sie es nach! Ich habe mich in den langen Jahren, die ich hier bin, bemüht, das genaue Zuhören zu lernen. Er hat es gesagt. Ich erinnere daran, daß wir bei der Frage der finanziellen Ausstattung der fünf neuen Länder bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag im vergangenen Jahr an der klaren und massiven Position der von Herrn Lafontaine, dem damaligen Kanzlerkandidaten, geführten Mehrheit der SPD- Länder mit jeder weitergehenden Ausstattung im Einigungsvertrag gescheitert sind. Davon sind sie heute Gott sei Dank alle weg. Auch die unionsgeführten Länder waren damals nicht vorbildlich. Wir sind heute miteinander ein Stück weiter. Aber in so kurzer Zeit sollte man die Geschichte nicht so verfälschen.
Die Sprecherin der Gruppe Bündnis 90 hat ihren Beitrag in der Debatte, in der es um die Grundfragen der deutschen Politik geht — das ist ja wohl die Aussprache in der ersten Lesung des Haushalts an diesem Tag — , ausschließlich dazu benutzt, eine Reihe von Verdächtigungen, die einen verunglimpfenden und verleumderischen Charakter haben sollten, in die Debatte einzubringen. Ich hoffe, verehrte Kollegen Ullmann und Weiß, daß sich der Beitrag des Bündnisses 90 zu den Grundfragen der deutschen Politik und auch zur Vollendung der inneren Einheit nicht darauf beschränken wird. Es wäre wirklich eine Schande, wenn es dabei bliebe.
Ich möchte die Gelegenheit doch nutzen, zunächst einmal darauf hinzuweisen, daß der Sachverhalt — das, was sie mir da ans Bein kleben will, daß mir nämlich etwas eingefallen sei — völlig eindeutig ist. Ich bin vom Untersuchungsausschuß nach meinen Kontakten mit Schalck-Golodkowski außerhalb meiner Zeit im Kanzleramt bisher überhaupt nicht gefragt worden. Danach ist das Kanzleramt gefragt worden und hat aus den Akten die Antworten für diese Zeit erteilt. Nach meinen sonstigen Kontakten mit Herrn Schalck-Golodkowski bin ich bisher gar nicht gefragt worden.Ich habe von mir aus berichtet — übrigens schon im Frühjahr; das war in Presseorganen veröffentlicht —, daß ich mit Schalck-Golodkowski vor und nach seinem Wechsel aus der damaligen DDR in die damalige Bundesrepublik Kontakt hatte. Ich hatte auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß ich Schalck-Golodkowski, der in Sorge war, es würden verbrecherische Anschläge auf ihn aus der damaligen DDR geplant — ob das begründet war oder nicht, lasse ich völlig dahingestellt — , gesagt habe: Wenn Sie in die Bundesrepublik Deutschland kommen, was Ihnen ja freisteht, weil wir — gegen den Widerstand, Forderungen und manche Stimmen aus der SPD — daran festgehalten haben, daß es nur eine deutsche Staatsangehörigkeit gibt,
dann genießen Sie wie jeder andere Deutsche den Schutz der zuständigen Organe — nicht mehr und nicht weniger.Ich habe ferner — auch das ist öffentlich bekanntgeworden — in dem Augenblick, in dem die zuständige Staatsanwaltschaft Berlin das Zulieferungsersuchen der damaligen DDR aufgreifen wollte, Herrn Schalck-Golodkowski über den Präsidenten des Diakonischen Werks, Herrn Neukamp, meinen dringenden Rat übermittelt, sich sofort und unverzüglich den zuständigen Behörden zu stellen, was er bekanntlich getan hat und woraufhin er in Untersuchungshaft kam, aus der er dann wegen der entsprechenden Entscheidungen der zuständigen Staatsanwaltschaft in Berlin freigelassen wurde. Das ist meine Rolle gewesen.
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble— Entschuldigung, ich bin nicht Staatsantwalt in Berlin, Herr Conradi. Sie sind es auch nicht. Ich möchte bei der Wahrheit bleiben, und ich möchte von Ihnen nicht irgendwelche Dinge wahrheitswidrig ans Bein gebunden bekommen. Das muß wirklich nicht sein.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Penner zu beantworten?
Ja, bitte sehr.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Penner.
Ich hätte gar nicht gedacht, daß dieses Thema heute eine Rolle spielt.
Aber da es nun eine Rolle spielt, sehe ich mich veranlaßt, daß ein bißchen zu vertiefen.
Herr Bundesminister, es nimmt Ihnen ja niemand übel — jedenfalls ich nicht — , daß Sie notwendige Kontakte, notwendige Begegnungen mit Schalck-Golodkowski hatten. Es ist lächerlich, wenn man das negativ bewertet. Aber es geht hier um etwas ganz anderes. Es geht darum, daß im Zusammenhang mit der Ausstellung eines Passes auf einen falschen Namen Unsicherheit entstanden ist, wer das denn zu veranlassen hat. Es geht konkret darum, ob der Kollege Conradi durch eine entsprechende Auskunft der Bundesregierung auf seine Anfrage hin belogen worden ist.
Sie hatten viel mit Schalck-Golodkowski zu tun. Sie haben davon berichtet, daß er möglicherweise bedroht werden könnte. Jetzt frage ich Sie: Sind Sie es etwa gewesen, der dem BND geraten hat, angesichts der Gefährdungslage etwas zu tun, was die Identität SchalckGolodkowskis verhüllen könnte?
Die Antwort lautet nein, Herr Kollege Penner.
Ich denke, daß wir die Fragen im übrigen wirklich im Untersuchungsausschuß in wahrscheinlich epischer Breite erörtern werden.
Darüber hinaus hat Ihnen, Herr Conradi, der Herr Kollege Stavenhagen soeben in der, wie ich glaube, angemessenen Form geantwortet.
— Ja, gut. Aber in der für diese Debatte angemessenen Form.
Ich habe ja den dringenden Wunsch, daß bald Gelegenheit besteht, vor dem Untersuchungsausschuß auszusagen, weil ich nicht meine, daß wir in diesem Spiel von Verdächtigungen, mit denen in Wahrheit schon Hinrichtungen vorgenommen werden, die Debatte weiterführen sollten.
Deswegen war die Reaktion, Frau Kollegin Hanewinckel, des Herrn Bundeskanzlers angemessen.Wir wissen spätestens seit Joseph Goebbels, daß an solchen Behauptungen immer etwas hängenbleibt. Deswegen sollte man zu diesen Methoden nicht greifen, und deswegen muß man dem sofort entgegentreten.
— Ich bin auch vorsichtig gewesen, wie Sie gesehen haben. Ich habe gesagt: Wir wissen es spätestens seit Joseph Goebbels, daß man solche Methoden brandmarken muß, damit sie nicht fortgesetzt werden. Ich hoffe, Herr Duve, daß Sie da an meiner Seite sind.
Ich möchte gerne eine zweite Bemerkung machen, weil ich die Sorge habe, daß das, was wir in den deutsch-deutschen Beziehungen zwischen 1982 und 1989 erfolgreich für die Menschen im geteilten Deutschland und für das Ziel der Einheit Deutschlands getan haben, ins Zwielicht gezogen werden soll. Warum hat Schalck-Golodkowski in der Zeit, in der Helmut Kohl Bundeskanzler war, eine so zentrale Rolle in den Beziehungen gehabt? Letztlich deswegen, weil mit dieser Bundesregierung für die damalige DDR ein Ausgleich von Interessen auf dem Gebiet politischer Forderungen nicht zu erreichen war.Wir hatten seit dem 13. Oktober 1980 die Geraer Forderungen Honeckers: die Anerkennung einer geteilten Staatsangehörigkeit — was wäre denn aus der deutschen Einheit im Oktober 1989 geworden, wenn wir darauf eingegangen wären? —,
die Abschaffung der zentralen Erfassungsstelle für Unrecht in der DDR in Salzgitter, die Veränderung der Elbgrenze und die Veränderung des Status der Ständigen Vertretung.Die Sozialdemokraten waren sehr wohl bereit, über die Geraer Forderungen mit der DDR zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Alle sozialdemokratisch regierten Länder haben seit Jahren die Zahlungen für die Erfassungsstelle in Salzgitter eingestellt. Davon wollen Sie heute nicht mehr reden, wenn es um das Unrecht geht.
Als ich dabei war, mit Schalck-Golodkowski unter Nutzung wirtschaftlicher Interessen der DDR darüber zu verhandeln, daß der Reise- und Besucherverkehr für jüngere Menschen in der damaligen DDR erweitert werde, hat Herr Lafontaine zum selben Zeitpunkt
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3088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäublein der DDR eine Pressekonferenz gehalten, in der er sinngemäß gesagt hat, man müsse die eigene Staatsangehörigkeit der DDR anerkennen, damit die DDR im Reise- und Besucherverkehr Gegenleistungen zeigen könne; anders sei das für die DDR nicht möglich. Er ist uns damals in den Rücken gefallen.Als ich dabei war, mit Schalck-Golodkowski unter Ausnutzung des massiven wirtschaftlichen Interesses der DDR in Sachen Transitpauschale eine Vereinbarung zustande zu bringen, daß wir die Elbverschmutzung gemeinsam bekämpfen, ohne in der Frage der Elbgrenze nachzugeben, da war es u. a. der heutige niedersächsische Ministerpräsident Schröder, der gesagt hat, man müsse in Sachen Elbgrenze nachgeben. Er ist uns damit in den Rücken gefallen.
Ich könnte die Geschichte wirklich unendlich verlängern.Weil nun die Frage von Asyl schon damals und auch im Zusammenhang mit Wahlkämpfen in der Bundesrepublik eine Rolle gespielt hat, will ich Ihnen folgende Geschichte nicht vorenthalten: Es ist wahr, im Jahre 1985 mußten wir den innerdeutschen Überziehungskredit — Swing hieß er — im Zahlungsverkehr verlängern und im Volumen ausweiten. Ich habe damals die Verhandlungen über den Swing zum Anlaß genommen, Herrn Schalck zu sagen, daß ich eine Vereinbarung über den Swing nicht abschließen könne und würde, wenn sie nicht einen ersten Schritt zur Bekämpfung des Skandals täten, daß wir bei der Zuwanderung von Asylbewerbern über Schönefeld und Ost-Berlin nach West-Berlin ein offenes Loch hatten.Sie wissen, wie uns das damals geplagt hat. Sie wissen, daß es Forderungen gab, wir müßten an der Mauer in Berlin unsererseits Kontrollen einführen. Ich habe das alles abgelehnt. 1985, 14 Tage, nachdem die Swing-Vereinbarung veröffentlicht war, ist es gelungen, daß die damalige DDR den Zugang von Tamilen über Schönefeld gestoppt hat.1986 gab es wieder das Problem mit Asylbewerbern aus anderen Ländern. Auch da haben wir gesagt: Ihr habt im Zusammenhang mit den Tamilen bewiesen, daß ihr den Zugang stoppen könnt; ihr müßt jetzt auch dieses Loch stopfen.Dann geschah das völlig Überraschende: Im September 1986 hat Herr Rau — er war damals, wenn ich mich richtig erinnere, Kanzlerkandidat der SPD —
— im Januar 1987 war die Wahl, lieber Willfried Penner; 1986 war Wahlkampf — der staunenden deutschen Öffentlichkeit die Mitteilung von Herrn Honekker überbracht — sie ist Herrn Rau über Herrn Bahr übermittelt worden — , daß die DDR generell den Zugang von Asylbewerbern über Schönefeld verschließen werde.Wir haben das damals respektiert. Das Problem war gelöst; es ist durch die Bemühungen der Bundesregierung gelöst worden. Die damalige DDR hat dem Kanzlerkandidaten Rau die Mitteilung überlassen. Jetzt frage ich einmal: Wem hat wohl die damalige SED-Führung im Wahlkampf helfen wollen? Viel genützt hat es ja Gott sei Dank nicht.
Also, lassen Sie die Verdächtigungen, und lassen Sie Franz Josef Strauß in diesem Zusammenhang in Ruhe. Denn er hat einen entscheidenden Anteil daran, daß diese Politik so erfolgreich geführt werden konnten. Ich finde nun wirklich, daß wir es, nachdem wir die deutsche Einheit errungen haben, miteinander nicht mehr nötig haben sollten, das Andenken Verstorbener nachträglich noch in einer so diffamierenden Weise in den Schmutz zu ziehen.
Weil ich, Herr Präsident, meine Damen und Herren, nun schon beim Thema Asyl war und diese Debatte heute auch innenpolitischen Schwerpunkten gewidmet werden soll, will ich obwohl ich nicht über Gebühr lange sprechen möchte, doch wenigstens einige Bemerkungen zum Thema Asyl heute noch zu diesem Zeitpunkt in der Debatte machen.Wir wissen, daß das ein besonders schwieriges Thema ist, bei dem wir darauf achten müssen, daß wir das friedliche und freundliche Zusammenleben von Deutschen und über 4,5 Millionen ausländischen Mitbürgern in der Bundesrepublik Deutschland nicht gefährden. Die Zahl der Asylbewerber ist in den letzten Monaten so angestiegen, daß jeder, der nicht handelt, die Verantwortung auf sich lädt, wenn hinterher die Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zunehmen würde. Die Diskussion in den letzten Monaten hat sich so zugespitzt, daß die Menschen zunehmend besorgt werden.Was soll denn eigentlich ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland davon halten, wenn ein veritabler Regierungschef eines — zugegeben — kleinen Bundeslandes, Herr Wedemeier, öffentlich verkündet, er halte sich jetzt nicht mehr an das, was nach Verfassung und Gesetz die Pflicht seines Amtes ist, er halte sich nicht mehr an das Grundgesetz, er nehme in Bremen keine Asylbewerber mehr auf? Wo kommen wir denn hin, wenn Regierungschefs von Bundesländern einen solchen Umgang mit der Verfassung hier predigen? Das hat Herr Wedemeier im Sommer getan, und das muß er sich zurechnen lassen. Sie als sozialdemokratische Bundestagsfraktion sollten sich davon distanzieren.Was sollen denn eigentlich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland davon halten, wenn Herr Engholm, Ministerpräsident eines anderen Bundeslandes und Vorsitzender der SPD, in dieser Sommerpause sagt, man müsse Quoten einführen, und natürlich in dieser Diskussion den Menschen damit suggeriert: Folgt man Engholm, wird in Zukunft Jahr für Jahr festgelegt, wie viele kommen, und wer über die Quote hinaus kommen will, der kann nicht kommen? Wenn man ihn dann fragt: Herr Engholm, wollen Sie das Grundgesetz ändern, wollen Sie das
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Bundesminister Dr. Wolfgang SchäubleRecht auf Asyl abschaffen?, dann sagt er: nein. Damit täuscht er die Menschen.
— Aber, Frau Matthäus-Maier, „unabhängig davon" heißt: Es bleibt beim jetzigen Zustand. Es gab 28 272 Asylbewerber im Monat August, und Herrn Engholms Quote kommt hinzu. Das hat aber Herr Engholm nicht gemeint, als er sich mit seinem Quotenvorschlag um die Luftherrschaft über Stammtischen bemüht hat. Er hat etwas ganz anderes gemeint. Deswegen täuscht er, und deswegen muß er mit dem Gebot der Wahrhaftigkeit sehr viel vorsichtiger sein.Ich bin dafür, daß wir in aller Verantwortlichkeit, aber auch in aller Dringlichkeit jetzt das Notwendige tun. Ich glaube, wir sollten drei Dinge wirklich ändern.Erstens. Wir sollten Menschen, die aus Ländern kommen, über die der Bundesaußenminister dem Bundesjustizminister geschrieben hat, daß es dort keine politische Verfolgung geben könne — z. B. in Polen gibt es ja wohl heute Gott sei Dank keine politische Verfolgung mehr — , wenn wir sie in das Asylverfahren aufnehmen, nicht so lange in der Bundesrepublik Deutschland belassen. Wir sollten vielmehr eine Möglichkeit schaffen, daß sie vorher die Bundesrepublik Deutschland verlassen und daß sie ihr Asylverfahren notfalls von zu Hause betreiben.
Herr Conradi, das sollten wir heute einführen. Ich bin dafür, daß wir darüber reden.Wir sollten zweitens einführen, daß Menschen, die in anderen Ländern sicheren Schutz vor Verfolgung gefunden haben, nicht mehr Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland finden müssen.Wir sollten drittens — Graf Lambsdorff hat es gesagt — europäische Lösungen ermöglichen. Wir werden in Europa im Sinne der notwendigen gemeinsamen Asylpolitik nicht vorankommen, wenn wir nicht gemeinsam Asylentscheidungen — für und gegen — mit Wirkung für alle Mitgliedsländer in der Europäischen Gemeinschaft schaffen.Das sind die drei Punkte, von denen ich meine, daß wir sie einführen müssen.
Herr Conradi, wenn wir uns in der Sache darüber verständigen, dann werden die Verfassungsjuristen hinterher Frau und Manns genug sein zu entscheiden, ob das Grundgesetz dazu geändert werden muß oder nicht.
Meine Überzeugung ist: Man muß das Grundgesetz ändern. Wenn mir jemand einen Weg zeigt, daß es auch ohne Grundgesetzänderung möglich ist, dann werden wir das prüfen; dann bin ich dafür. Aber in derSache müssen wir handeln. Dem Gerede von Herrn Wedemeier, Herrn Engholm und anderen in der Sommerpause müssen jetzt Taten folgen, weil sich in der Bundesrepublik Deutschland sonst etwas fortsetzen würde, was ich nicht möchte: daß wir wegen der mißbräuchlichen Inanspruchnahme eines Grundrechts zunehmend in Gefahr geraten, wirklich politisch Verfolgten nicht mehr Zuflucht gewähren zu können, was wir auch in Zukunft wollen, daß wir in Gefahr geraten, unsere Bürger in ihrem Vertrauen in die Handlungsfähigkeit derjenigen zu enttäuschen, die für diesen Staat in Bund und Ländern Verantwortung tragen, und weil Ausländerfeindlichkeit wachsen würde.Wir haben inzwischen jeden Tag Anschläge auf Asylantenwohnheime zu verzeichnen, und zwar nicht nur in den neuen Ländern, sondern auch in den alten Ländern.Weil ich dies alles nicht möchte, meine verehrten Damen und Herren, ist es Zeit, daß wir nun gemeinsam handeln. Der Bund alleine kann es nicht. Die Länder sind stärker in der Verantwortung als der Bund. Sie müssen miteinander handeln. Wer das Grundgesetz ändern will, braucht Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Deswegen hat der Bundeskanzler zu Gesprächen eingeladen. Ich appelliere an die Sozialdemokratie in Bund und Ländern, sich jetzt ihrer Verantwortung zu stellen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Weiß das Wort.
Herr Kollege Schäuble! Herr Kollege Kohl! Sie wissen, daß ich seit langem und vielleicht als einer der ersten einen Schalck-Untersuchungsausschuß und eine Auseinandersetzung mit diesen Problemen gefordert habe. Ich muß Ihnen aber auch sagen, daß ich die Art und Weise, in der meine Kollegin Ingrid Köppe hier heute mit diffamierenden Unterstellungen ihre Fragen gestellt hat, aufs tiefste mißbillige und mich dafür entschuldige.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hoth.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem meiner Ansicht nach unsachlichen Schlagabtausch zum Thema Schalck-Golodkowski möchte ich versuchen, zu einer sachlicheren Auseinandersetzung mit den Problemen der deutschen Einheit beizutragen.Am 3. Oktober wurden die bis dahin bestehenden beiden deutschen Staaten vereint. Die Vorgänge in der Sowjetunion müssen jetzt jedem bestätigt haben, daß das von der Bundesregierung vorgelegte Tempo die einzig richtige Gangart gewesen ist. Die Entwicklung belegt nochmals die enorme Leistung, die die Regierungsparteien mit der Erstellung des Einigungsvertrages vollbracht haben. Dabei dürfen die Verdienste der Staaten, die den Weg zur deutschen
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3090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Sigrid HothEinheit ebnen halfen und von denen heute einige vor enormen Problemen stehen, nicht vergessen werden.Seit der Vereinigung ist fast ein Jahr vergangen, und es wird deutlich, daß in einigen Teilen der Bevölkerung an die Stelle anfänglicher Begeisterung Ernüchterung und Zurückhaltung getreten sind. Eine der großen Herausforderungen der Bundesregierung wird es daher sein, deutlich zu machen, daß die Bundesrepublik die Aufgabe der Vereinigung erfolgreich bewältigen kann, und zwar auch in den Köpfen der Menschen.
Die Bundesregierung kann mit Recht für sich in Anspruch nehmen, den gesamtwirtschaftlichen Rahmen geschaffen zu haben, der es den Unternehmen erlaubt, in den neuen Bundesländern für die Zukunft Deutschlands zu investieren. Ich erwarte, daß der nun vorliegende Entwurf für den Gesamthaushalt 1992 einen soliden Rahmen für die weitere Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse der Menschen in Deutschland darstellt.Der Haushalt 1992 weist ein Volumen von 422,5 Milliarden DM auf, wovon allein auf die neuen Bundesländer etwa knapp 110 Milliarden DM entfallen. Dieser Finanzrahmen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, muß für die Bewältigung aller anstehenden Aufgaben ausreichen. Das schließt auch die möglichen Verpflichtungen ein, die durch Geschehnisse außerhalb unserer Grenzen auf uns zukommen können und die zur Zeit niemand quantifizieren kann. Unser Ziel in den Haushaltsberatungen muß es deshalb sein, durch Einsparungen in möglichst großem Umfang finanzielle Möglichkeiten und politische Notwendigkeiten auch zukünftig weitgehend in Übereinstimmung zu bringen.Die Verantwortung für das Gelingen der deutschen Einheit liegt jedoch nur zum Teil beim Bund. Die Länder könnten über den Länderfinanzausgleich einen weitaus größeren Beitrag zum Aufbau der neuen Bundesländer leisten.
Da die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs jedoch erst 1995 erfolgen soll und nicht, wie von der FDP gefordert, sofort, ist angesichts der strukturellen Schwächen der neuen Bundesländer eine Weitergewährung von Strukturhilfen im bisherigen Umfang an die alten Bundesländer mit dem föderativen Gleichbehandlungsgrundsatz wohl kaum in Einklang zu bringen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die durch den Finanzminister geplante Umschichtung der Strukturmittel.
Zur Verbesserung der Finanzausstattung der neuen Länder könnte somit für das Jahr 1992 eine Aufstokkung des Fonds Deutsche Einheit um das bisherige Volumen der Strukturhilfe von 2,45 Milliarden DM sowie eine zusätzliche Bundesleistung in Höhe von — jährlich — 3,4 Milliarden DM erfolgen. Der Gesamtrahmen der den neuen Bundesländern und ihren Gemeinden zufließenden Leistungen würde sich damit um rund 5,9 Milliarden DM erhöhen.Neben den Fragen der in diesem Jahr auf uns zukommenden Kosten für die Fortführung der Vollendung der deutschen Einheit, die insbesondere von der SPD stark diskutiert werden, wird die aktuelle innenpolitische Diskussion durch die Debatte über das Asylrecht geprägt, genauer gesagt, über seine zukünftige Umsetzung und Ausgestaltung. In Art. 16 des Grundgesetzes steht, daß politisch Verfolgte Asyl genießen. Bei der politischen Auseinandersetzung darf es nicht um die Einschränkung dieses Grundrechts gehen.
Durch die einfache grundsätzliche Formulierung des Artikels entstehen allerdings Meinungsverschiedenheiten über seine Handhabung. Im Interesse der Bürger der Bundesrepublik, aber auch im Interesse der wirklich politisches Asyl suchenden Menschen muß die Diskussion deshalb so schnell wie möglich zum Abschluß gebracht werden. Wir dürfen nicht zulassen, daß durch den massiven Mißbrauch des Asylrechts die Akzeptanz dieses Grundrechts in der Bevölkerung weiter schwindet.
Mit dem Wegfall der Grenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft kann die Regelung des Asylverfahrens jedoch nicht mehr einzelstaatlich erfolgen. Es ist somit Aufgabe der Bundesregierung, hier schnellstmöglich eine EG-weite Harmonisierung zu erreichen.Mehr noch als die Asylproblematik belastet vor allem in den neuen Bundesländern die ausstehende Vergangenheitsbewältigung das innere Klima. Die bisherige Debatte bewies das. Auch die Möglichkeit, daß im derzeitigen Bundestag immer noch Abgeordnete vertreten sein können, die zuvor für das Ministerium für Staatssicherheit tätig gewesen sind, macht eine lückenlose und endgültige Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten notwendig.
— Ich freue mich über den Zuruf von links. Ich konnte leider nicht sehen, wer es war.
— Aus der PDS. Wie erfreulich!Es wäre eine groteske Vorstellung und ein unhaltbarer Zustand, wenn Mitglieder des Deutschen Bundestages heute als Vertreter des Volkes aufträten, das sie noch vor kurzer Zeit bespitzelt, ja schikaniert haben.
Für die Glaubwürdigkeit der Demokratie, vor allem aber für die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen in den neuen Bundesländern müssen sämtliche Zweifel an der Integrität aller Bundestagsabgeordneten ausgeräumt werden.
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Dr. Sigrid HothAus diesem Grund hat die FDP-Fraktion gestern auf meinen Antrag hin einen Beschluß gefaßt, der zur unverzüglichen Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auffordert.
Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Gerster möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Ich möchte den Gedanken jetzt erst zu Ende führen.
In Ordnung.
Die weitere Vorgehensweise dieser Untersuchung soll im Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität geklärt werden. Ich möchte von dieser Stelle aus an alle Parlamentarier appellieren, sich einer Überprüfung durch die Gauck-Behörde so schnell wie möglich zu stellen, damit wir uns endlich unserer eigentlichen Arbeit zuwenden können und nicht durch immer neue Stasi-Gerüchte erhebliche Unruhe in die Bevölkerung und in die Parteien getragen wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, daß sich als Folge des gemeinsamen StasiAkten-Gesetzentwurfs der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD die Zahl der monatlichen Anfragen und Einsichtsanträge an die Gauck-Behörde von derzeit 30 000 auf wahrscheinlich 70 000 erhöhen wird. Das verlangt natürlich eine personelle Aufstockung der Behörde des Sonderbeauftragten. Doch in welchem Umfang und über welchen Zeitraum diese erfolgen soll, ist eine Frage, die auch unter den Haushältern noch umstritten ist. Denn trotz der besonderen Umstände der Bearbeitung der Stasi-Akten dürfen die personalwirtschaftlichen Beschlüsse des Haushaltsausschusses nicht einfach konterkariert werden.
Auch der nationalen Angleichung des § 218 kommt innenpolitisch ein hoher Stellenwert zu. Entsprechend den Grundprinzipien liberaler Politik sollte nach erfolgter Pflichtberatung die eigenverantwortliche Entscheidung der Frau im Mittelpunkt einer Neuregelung stehen. Die Aufgabe des Staates muß es sein, die Maßnahmen zu treffen, die der Frau die Entscheidung für das Kind erleichtern. So sollte auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Kind hingearbeitet werden. Hierzu zählt auch der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, die Erweiterung des Erziehungsgeldes und Ausdehnung des Erziehungsurlaubs auf drei Jahre mit anschließender Beschäftigungsgarantie.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auf die Gefahr hinweisen, die besteht, wenn es bei einer Abstimmung dazu kommt, daß alle vorliegenden Gesetzentwürfe abgelehnt werden. Dies könnte zur Folge haben, daß die jetzt bestehende Regelung des § 218 einfach auf die neuen Bundesländer ausgedehnt wird. Meine Damen und Herren Abgeordneten, dies kann
doch nicht das Ziel und Ergebnis unserer Arbeit zur Novellierung des § 218 gewesen sein. Deshalb meine dringliche Bitte an alle Abgeordneten, insbesondere an die weiblichen Abgeordneten aller Fraktionen: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf der FDP zu!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Anfang meiner Rede sprach ich von der Notwendigkeit, die Einheit auch in den Köpfen der Menschen zu vollziehen. Dabei darf die Bedeutung der materiellen Sicherheit des einzelnen für den gesellschaftlichen Frieden nicht unterschätzt werden. Die Bundesregierung muß mit ihrer Haushaltspolitik dafür Sorge tragen, daß die Kosten der Einheit auch langfristig überschaubar und finanzierbar sind, um so das Vertrauen des Einzelnen in eine gesicherte wirtschaftliche Zukunft zu erhalten. Der Bund kann jedoch die Probleme im Zusammenhang mit der Einheit nicht im Alleingang lösen, und dies ist auch nicht seine Aufgabe. Die Länder müssen sich ihrer Verantwortung noch viel stärker als bisher bewußt werden,
die Kommunen noch sparsamer sein, und die Bürger in den neuen Bundesländern müssen auch akzeptieren, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse nicht von heute auf morgen zu erreichen ist. Hier ist mehr Geduld gefordert. Die Bürger in den alten Bundesländern sollten sich daran erinnern, daß zu ihrem beispielhaften Fleiß auch ausländisches Kapital, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang, zum Wiederaufbau der damaligen Bundesrepublik notwendig war. Wir dürfen nicht zulassen, daß durch übertriebenes Anspruchsdenken und falschen Perfektionismus die riesigen Chancen der deutschen Einheit kaputtgeredet werden. Statt dessen sollten wir uns immer vor Augen führen, daß die sogenannten Kosten der deutschen Einheit eine Investition in die bessere Zukunft der Bürger in den neuen und alten Bundesländern darstellen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Parlament" heißt „sprechen" , und unter diesem Gesichtspunkt lege ich jetzt meine Rede zum Rehabilitierungsgesetz und dem Berliner Prozeß zur Seite und gehe auf das ein, was von dem Herrn Bundesinnenminister und dem Herrn Bundeskanzler in Richtung auf die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN soeben gesagt worden ist. Wir nehmen das sehr ernst, wie die Intervention von Konrad Weiß gezeigt hat. Darum meine ich auch, hierauf reagieren zu müssen. Wir wollen miteinander reden.Herr Bundesinnenminister, ich kenne wie Sie die Akten. Darum werde ich mich jetzt etwas anders als Konrad Weiß äußern.
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3092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Wolfgang UllmannIch bedauere zunächst Ihren Goebbels-Vergleich. In diesem Kontext konnte er sich nur auf Frau Köppe beziehen. Ich bedauere, daß Sie das gesagt haben.Zweitens scheinen Sie bei allem Plausiblen, was Sie über die uns allen ja bekannten Kontakte zu SchalckGolodkowski gesagt haben, eines überhaupt nicht zu berücksichtigen: Herr Dr. Alexander Schalck-Golodkowski war ein hoher Stasi-Offizier und die zentrale Figur eines riesigen Unternehmens, das ich bis auf weiteres für kriminell halte. Alles zugestanden, was Sie uns gesagt haben; aber spüren Sie gar nicht, was das für uns ehemalige DDR-Bürger für ein erhebliches Problem ist,
Sie in dieser Gesellschaft zu sehen? Wir haben uns als einen der Grundimpulse, vor allem von meiner Seite, am Runden Tisch die Aufklärung dieses Komplexes am 7. Dezember 1989 vorgenommen. Wir werden davon nicht ablassen.Wir hatten doch niemals die Absicht, Sie — gerade ich nicht, der ich Sie hoch respektiere — und den Herrn Bundeskanzler in Mißkredit zu bringen. Das ist die Aktenlage. Ich hoffe, der Untersuchungsausschuß kann alle Schatten beseitigen, über die wir uns heute aufgeregt haben. Aber das hat nicht Bündnis 90/DIE GRÜNEN erfunden. Wir wollten dies nur auflösen. Das ist eine Konsequenz unseres Beschlusses: Das MfS/AfNS ist aufzulösen. Das steckt dahinter; nichts anderes. Ich wehre mich gegen die Verdächtigungen gegen Frau Köppe.
Herr Abgeordneter Dr. Ullmann, Herr Gerster würde gern eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie die zu?
Ja; bitte.
Bitte sehr.
Herr Kollege Ullmann, Ihnen ist ja bekannt, daß vor allem die Mitglieder der CDU/CSU in den 60er und 70er Jahren sehr oft als Revanchisten, Kalte Krieger usw. verteufelt wurden, weil wir immer wieder auf die Gefahren durch die damals in der DDR Herrschenden und auf die Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrükkung, die es dort gab, hingewiesen haben. Können Sie sich nicht vorstellen, daß verantwortliche Politiker, auch meiner Fraktion, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in den 70er Jahren sehr wohl abwägen mußten und angesichts von Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden von Anträgen und Bitten um humanitäre Hilfe, etwa durch Familienzusammenführung und Reisefreiheit, vor der Frage standen: Halten wir es so, daß wir mit diesen Menschen, die wir wegen der von ihnen begangenen Unterdrückung ablehnen, nicht reden; oder müssen wir halt mit denen, die da sind, reden, weil wir keine anderen haben, um in Hunderttausenden von Fällen der Humanität zum Sieg zu verhelfen? Wollen Sie es wirklich negativ beurteilen, ausgerechnet Sie aus der damaligen DDR, daß wir über unseren eigenen Schatten gesprungen sind
und mit Leuten verhandelt haben, die wir sonst niemals — —
Herr Abgeordneter Gerster, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Ihre Frage nicht länger als die Rede des Herrn Abgeordneten Ullmann würde. Das wäre hilfreich.
Vielen Dank. — Die Frage ist aber wohl eindeutig. Ich hätte ganz gern eine Antwort auf diese Frage, Herr Ullmann.
Die Antwort lautet: Daß jemand humanitär helfen will, verstehe gerade ich als einer, der da in der Evangelischen Kirche tätig gewesen ist. Aber eine ganz andere Frage ist die, die ich an den Herrn Bundesinnenminister gestellt habe.Im übrigen — erlauben Sie mir, daß ich das sage — : Wir von den Bürgerbewegungen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR sind gänzlich uninteressiert an irgendwelchen parteipolitischen Schuldzuweisungen. Das liegt uns völlig fern. Ich sagte Ihnen ja schon soeben: Wenn gerade die CSU, die hier belastet ist, am Ende aus dem Ganzen rehabilitiert hervorgeht, bin ich am allerwenigsten böse darüber.
Ich gestehe gern zu, daß man in vieler Hinsicht zu wenig deutlich in diesen Jahren auf die Menschenrechtsverletzungen eingegangen ist. Das ist völlig zutreffend. Darüber brauchen wir gar nicht zu streiten.
Aber das entkräftet überhaupt nicht das, was ich vorhin gesagt habe. Das ist meine Antwort darauf.Nun möchte ich gern noch auf das eingehen, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat. Ich akzeptiere sofort — unter Christen ist das ohnehin selbstverständlich — , daß man, ehe man einander öffentlich angreift, miteinander redet. Aber hier besteht für mich als Politiker ein ganz großes Problem, gerade gegenüber dem Herrn Bundeskanzler.Ich gehöre zu denjenigen, die in den Novembertagen 1989 verzweifelt versucht haben, Kontakt zur Bundesregierung herzustellen, Herr Bundesinnenminister. Wir hatten keinerlei Diskreditierungsabsichten, weder gegen die CDU/CSU noch gegen irgend jemanden sonst.Aber wenn ich gewußt hätte, daß der Herr Bundeskanzler damals so intensive Kontakte zu Herrn Schalck-Golodkowski gehabt hat, wie es die Akten ausweisen, und daß er ein so langes Telefongespräch just mit Egon Krenz geführt hat, hätte ich mir natürlich von vornherein sagen können: Es hat gar keinen Zweck, dort irgendeinen Kontakt zu suchen.Ich denke, diese Lage hat sich jetzt geändert. Wenn der Herr Bundeskanzler mit uns anders redet als in
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Dr. Wolfgang Ullmanndem drohenden Tone, in dem er das heute getan hat,
wird die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN die letzte sein, die sich dem Gespräch verweigert.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aufarbeitung der Vergangenheit im ehemaligen SED-Staat lastet schwer auf uns. Es ist eines der glücklichsten Ereignisse deutscher Geschichte, daß der Stasi-Terror im Osten Deutschlands zusammengebrochen ist. Wir wollen nicht, daß sich die Stasi-Krake nun ausbreitet und auch in diese Säle kriecht, mit allem Unrat und Schmutz der Lüge, der Verdächtigung und der Diffamierung.
Wir sind frei gewählte Abgeordnete und nicht potentielle Geheimdienstagenten. Wir sollten uns darauf verständigen, daß in erster Linie die unsägliche Stasi-Hinterlassenschaft überprüft werden muß. Aber wenn ein konkreter Verdacht vorliegt, gibt es selbstverständlich eine Prüfung und Strafverfolgung für jeden, auch hier in diesem Hause.Die Fraktionen sind dabei, nun in der Überprüfungsfrage eine einvernehmliche Lösung zu finden; es ist wichtig, daß wir sie einvernehmlich finden. Wir werden anstreben, daß — abweichend von der bisherigen Regelung — jedem Mitglied des Deutschen Bundestages die Möglichkeit eröffnet wird, die Überprüfung einzuleiten. Es besteht ferner die Tendenz, daß bei konkretem Verdacht eine Überprüfung auch ohne Zustimmung des Abgeordneten durchgeführt werden kann.Meine Damen und Herren, eine wichtige Aufgabe, vor der wir stehen, ist die Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechts. Sie ist eine große moralische Pflicht, obwohl Bundesrepublik Deutschland nicht Rechtsnachfolger des Unrechtsstaates DDR ist.Die Bundesregierung hat ein Erstes Unrechtsbereinigungsgesetz vorgelegt, das den am schwersten betroffenen politischen Häftlingen Genugtuung und Ausgleich für erlittenes Unrecht gewähren soll. Wir begrüßen dies nachdrücklich.Bei der parlamentarischen Beratung dieses Gesetzes werden wir vorschlagen, den Kreis der Personen, deren politisch motivierte Verurteilung aufgehoben und entschädigt wird, noch etwas zu erweitern. Auch die Menschen, die wegen Spionage für die Bundesrepublik Deutschland in der DDR verurteilt wurden, sollten rehabilitiert werden. Sie waren im Auftrag der Bundesregierung nachrichtendienstlich tätig, was nach dem Recht der Bundesrepublik niemals strafbar war. Diese Menschen haben ihre Freiheit und ihre Existenz für diesen Staat eingesetzt, für dessen verfassungsmäßige Rechtsordnung, auch mit dem Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser Staat hat die politisch-moralische Pflicht, auch hier DDR-Urteile aufzuheben.Meine Damen und Herren, die Bereinigung von Unrecht und Willkür der kommunistischen Gewaltherrschaft auf deutschem Boden umfaßt auch die Jahre vor der Gründung der DDR. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Opfer der Bodenreform von 1945 bis 1949 lenken, deren Erwartungen durch den Einigungsvertrag und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April dieses Jahres bitter enttäuscht worden sind. Die Enteignungen in den Jahren 1945 bis 1949 sind ohne ausgleichende Entschädigung nicht hinnehmbar. Unrechtsgehalt und ausgeübte Willkür waren keinesfalls geringer als bei den späteren Enteignungen durch das SED-Regime. Die adligen Großgrundbesitzer sind damals um ihre Güter gebracht worden, aber nicht nur sie. Über zehntausend bäuerliche Familien, deren Betriebe teils kleiner, teils größer als 100 Hektar waren, wurden brutal von ihrem Land gejagt. Das waren keine Fürsten, Grafen oder Barone. Das waren Bauern, die Neumann, Meier, Schulz oder Schröder hießen und ihren Boden hart und ehrlich bewirtschaftet hatten. Sie wurden meistens nachts aus den Betten heraus verhaftet, mit Frauen, Kindern, alten Leuten. Sie durften nicht mehr mitnehmen, als sie tragen konnten. „Junkerland in Bauernhand" hieß die Parole. Eine Lüge der Kommunisten auch dies, wie wir heute wissen. Fast zwei Drittel der damals enteigneten landwirtschaftlichen Nutzfläche ist noch heute in der Hand des Staates, nunmehr bei der Treuhandanstalt.Der Kollege Konrad Weiß von der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE hat diese Bodenreform in der DDR im Fragebogen des FAZ-Magazins im April 1991 als die Reform bezeichnet, die er am meisten bewundert. Wir haben das mit Befremden und Unverständnis gelesen. Wir tun uns oft schwer miteinander. Es gibt innere Barrieren. Wir müssen feststellen: Die Eigentumsfragen belasten die deutschen Befindlichkeiten sehr.Die Enteignungen 1945 bis 1949 genießen verfassungsmäßigen Bestandsschutz. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir den Alteigentümern in erster Linie den Rückerwerb ihres enteigneten Gutes als Ausgleich für das erlittene Unrecht ermöglichen können. Meine Damen und Herren, es ist nicht Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, Großgrundbesitzer zu sein und Millionen Hektar Land zu verwalten und zu bewirtschaften.
Die verfügbaren Flächen — es sind noch etwa 1,6 Millionen Hektar Bodenreformland — sollten möglichst zügig so reprivatisiert werden, daß gesunde gesellschaftliche Strukturen entstehen und die erforderlichen Investitionen getätigt werden. Es gibt keine besseren Hände, in die wir das Land geben könnten, als die ehemaligen Eigentümer und ihre Familien. Sie sollten ein Rückerwerbsrecht und ein faires Kaufangebot erhalten.
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3094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Paul LaufsDas Rückerwerbsrecht sollte zeitlich befristet sein und mit Bewirtschaftungs- und Investitionsauflagen versehen werden. Aber es muß fair und darf nicht prohibitiv sein. Dafür setzen wir uns ein. Es kann nicht im Interesse gesunder ländlicher Strukturen sein, wenn Land, das der sechsfachen Fläche des Saarlandes entspricht, über ausländische Konzerne oder Bankenkonsortien meistbietend verwertet wird.
Der Aufbau einer leistungsfähigen privaten Eigentumsordnung ist für die Zukunft der neuen Bundesländer von allergrößter Bedeutung. Niemand sollte das unterschätzen.Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit hat uns nicht nur alte Lasten der DDR-Strafjustiz, sondern auch die Aufgabe der Umweltsanierung aufgebürdet. Sofortmaßnahmen zum Umweltschutz waren vordringlich und zeigen erste Erfolge. Ein Großteil der im Jahre 1990 ausgegebenen 500 Millionen DM ist vorrangig für den Gewässerschutz investiert worden. Unmittelbare Gesundheitsgefahren bei der Trinkwasserversorgung der Bevölkerung konnten abgewehrt werden. Sorge macht uns die sehr zähe und schleppende Durchführung wichtiger kommunaler Umweltschutzmaßnahmen. Enorme Schwierigkeiten gibt es immer dann, wenn lokale Planungen in Konflikt mit den Strukturen der alten Wasser- und Abwasserbetriebe der DDR geraten, die heute noch existieren und sich vor allem in den Landkreisen ihren bestimmenden Einfluß erhalten wollen. Diese alten Strukturen sind zentralistisch orientiert und wettbewerbsfeindlich. Sie begünstigen Großanlagen, z. B. Großklärwerke mit riesigen Kanalnetzen, die teuer und ökologisch keineswegs optimal sind.Hier geht es aber nicht nur um den Umweltschutz, sondern hier geht es auch um kommunale Eigenständigkeit, um Selbstverantwortung und Vielfalt. Was man an Blockaden und Verzögerungstaktik alter SED-Seilschaften heute noch erlebt, ist unerträglich.
Das alte System im neuen Kleid ist nicht das, was wir brauchen.Das Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost" wird nicht ohne rasche Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur vorankommen. Wir haben nicht die Zeit für Planungsverfahren, die 10 und 20 Jahre dauern, wie dies in den westlichen Bundesländern der Fall ist.
Der Bundesverkehrsminister hat uns ein Beschleunigungsgesetz für Verkehrsplanungen vorgelegt, das Fristen verkürzt, Zuständigkeiten konzentriert, mehrfache Durchführung gleicher Verwaltungsschritte vermeidet und das verwaltungsgerichtliche Streitverfahren auf eine Instanz beschränkt. Dieses für die neuen Bundesländer eingeführte Planungsrecht soll bis Ende 1995 befristet werden.
Wir in der CDU/CSU unterstützen dieses Vorhaben des Bundesverkehrsministers nachdrücklich, auch wirUmweltpolitiker. Die SPD ist gegen ein Beschleunigungsgesetz.
— Ja, gegen dieses Beschleunigungsgesetz.
Sie haben gesagt, sein Preis sei zu hoch, der politische Schaden zu groß.
Meine Damen und Herren von der SPD, sehen Sie denn nicht das Chaos auf den Straßen, die erschrekkend hohe Zahl der Verkehrstoten, die Engpässe im Schienenverkehr? Das alles schreit doch nach sofortiger Abhilfe. Sie beklagen die Einschränkungen des Raumordnungsverfahrens, der Umweltverträglichkeitsprüfung, der Fristen bei der Bürgeranhörung. Sehen Sie nicht, daß die Zustände auf den Verkehrswegen katastrophal sind, daß wir keine Zeit mehr haben?
Wer sich wie die SPD verhält, setzt sich dem Verdacht aus, den Aufbau im Osten gar nicht zu wollen.
Offenbar kann sie den Erfolg der Regierungspolitik aus politischen Gründen grundsätzlich nicht wollen.
Die Politik der SPD zeigt hier auf jeden Fall keine Linie. Was Sie machen, ist nichts anderes, als Gruppen und Grüppchen von Unzufriedenen um sich zu scharen
und die Politik des Aufbaus im Osten stimmungsmäßig zu belasten.
Meine Damen und Herren, bei dem weiteren Ausbau der Umweltpolitik in den kommenden Jahren werden wir die Marktkräfte weit stärker als bisher in den Dienst des Umweltschutzes stellen. Erste Erfolge in diese Richtung konnten wir bereits erzielen. Mit der Verpackungsverordnung haben wir Neuland betreten und zum erstenmal eine Verwertungsregelung für Massenabfälle erlassen.Durch die Einrichtung des dualen Systems wird die für den Abfallbesitzer neuartige Möglichkeit geschaffen, sich von ordnungsrechtlichen Verpflichtungen durch Übertragung der Entsorgungspflichten auf Dritte zu dispensieren. Darin liegt die schlagkräftige
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3095
Dr. Paul LaufsVerbindung von Ordnungsrecht und wirtschaftspolitischem Ansatz, den wir gerade im Bereich der Abfallwirtschaftspolitik so dringend brauchen.Die Sozialdemokraten haben kartellrechtliche Bedenken gegen das duale System thematisiert und damit gezeigt, daß ihnen jeder Einwand recht ist, um das System selbst und damit mittelbar auch die Verpakkungsverordnung zu demontieren.
Aber auch dies ist nicht gelungen. — Haben Sie nicht gelesen, was Sie in diesen Tagen sehr lautstark nach draußen getragen haben? Inzwischen sieht es natürlich anders aus; denn das Bundeskartellamt hat grünes Licht gegeben.Wir haben bereits 1986 aus dem Abfallgesetz ansatzweise ein Abfallwirtschaftsgesetz gemacht, das durch die Grundsätze zur Abfallvermeidung und zur Abfallverwertung der Abfallpolitik eine neue Richtung gegeben hat. Diesen Kurs werden wir verstärkt fortsetzen und Produzenten und Konsumenten in die Pflicht nehmen. Aber ich warne vor der Illusion, daß die Errichtung weiterer Beseitigungsanlagen durch Abfallvermeidung und Abfallverwertung, die wir sehr verstärken wollen, unnötig werden könnte. Länder, Kreise und Gemeinden sind aufgerufen, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um dem drohenden Entsorgungsinfarkt vorzubeugen, etwa indem sie endlich die erforderlichen Standorte ausweisen.Diese moderne Abfallwirtschaftspolitik werden wir durch die Erhebung einer Abfallabgabe noch besser in unsere marktwirtschaftliche Ordnung einpassen. Die Vorarbeiten hierzu sind angelaufen. Teile des Aufkommens müssen den neuen Ländern zufließen, damit dort die dringendsten Notstände rasch beseitigt werden können.Ich bitte Sie alle, daran mitzuwirken, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist erstaunlich, aber bei uns können die gleichen Personen sogar zu mehreren Themen sprechen. Das halte ich für eine gewisse Errungenschaft.Der Herr Kanzler hat heute festgestellt, daß ich mich längst „in die Büsche geschlagen" habe.
Ich muß einräumen, damit ist es ihm das erste Mal gelungen, mich intellektuell einfach zu überfordern. Ich habe das nicht verstanden. Ich kann das nicht einordnen. Aber ich kann immerhin vermuten, was er damit meint. Dann könnte ich nur sagen, daß zwei Gründe ganz und gar dagegen sprechen, daß ich mich in die Büsche schlage. Der erste Grund besteht darin, daß ich gar nicht genau weiß, wen ich da treffe, weder aus seiner Partei noch aus seiner Regierung. Derzweite Grund ist, daß ich schon finde, daß eine Opposition, auch von der PDS, im Interesse der Anschlußopfer dringend geboten ist, und zwar der Anschlußopfer in Ost und West.
— Ja. Ich will versuchen, Ihnen das auch zu begründen.Das ist eine der wichtigsten Fragen, die heute hier zur Diskussion standen, denn es geht doch letztlich um Aufrichtigkeit. Ich glaube, daß gerade in diesem Einigungsprozeß Aufrichtigkeit dringend erforderlich ist. In kaum einem anderen Gremium habe ich festgestellt, daß sowenig selbstkritische Einstellung und sowenig Nachdenklichkeit herrscht wie hier bei den Vorträgen.Aufrichtig ist es z. B. nicht, wenn der Kanzler die Frage der Staatsverschuldung hier wie eine Milchmädchenrechnung vorführt und damit doch über die eigentlichen Probleme auch für künftige Generationen hinwegtäuscht. Aufrichtig sind auch nicht die Stellungnahmen zu Schalck-Golodkowski, und aufrichtig ist es auch nicht, wenn man mit der Einheit zu begründen versucht, daß es einen Rechtsabbau geben muß. Denn darum geht es doch bei diesem Beschleunigungsgesetz für Verkehrsplanungen, daß die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger zurückgedrängt wird und, so behaupte ich, zunächst in den neuen Bundesländern zurückgedrängt wird.
Denn es ist doch ganz klar, daß die alten Länder irgendwann sagen werden: „Es kann doch nicht sein, daß das bei denen so schnell geht, was bei uns so lange dauert. Wir fordern hier eine Rechtsangleichung. " Dann wird der gleiche Abbau auch in den alten Bundesländern stattfinden.
— Sehen Sie, Sie streben es jetzt schon an. Dann sagen Sie aber auch gleich, daß Sie es auch für die alten Bundesländer wollen. Dann wäre es immerhin aufrichtig.
Zu dieser Aufrichtigkeit würde auch gehören, daß man klipp und klar sagt, wie die Situation in den neuen Bundesländern aussieht, und sie nicht permanent schönfärbt. Davon hat niemand etwas. Ich bestreite sogar, daß die Bundesregierung etwas davon hat. Es wäre viel günstiger, wir würden uns mit den enormen ökonomischen und sozialen Problemen beschäftigen.
Das ist auch nicht auf Dauer mit Ausreden zu machen.In der Zeitschrift „Wirtschaftswoche", der man vieles nachsagen kann, aber nicht gerade PDS-Nähe
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Dr. Gregor Gysi— das werden Sie einräumen —, stand jetzt zu lesen
— das leuchtet auch Ihnen ein — , daß natürlich die gegenwärtige ökonomische Situation in den neuen Bundesländern gar nicht mehr auf die ehemalige zentralistische Kommandowirtschaft zurückzuführen ist und auch nicht auf das System der Marktwirtschaft, sondern auf die verfehlte Wirtschaftspolitik. Dem würde ich zustimmen, denn sie hat einfach das Gegebene nicht beachtet, sondern ist davon ausgegangen: Wenn man irgend etwas, was man hat, überstülpt, dann wird es schon funktionieren, weil es irgendwo anders einmal funktioniert hat.
Dann wird man halt auch Opfer seiner eigenen Propaganda.
— Sehen Sie, das ist es: Da drückt die Ideologie durch. Die Ideologie kommt schon dadurch durch, daß Sie in den neuen Bundesländern jede Identität zerstören wollen. Das ist für die Menschen dort ziemlich verheerend. Ob das Orchester, Akademien oder Hochschuleinrichtungen sind, die geschlossen werden, oder was auch immer Sie ihnen mit irgendeiner ökonomischen oder sonstigen Begründung wegnehmen — das alles zerstört Identität, was überhaupt nicht erforderlich wäre, wenn man einen Einigungsprozeß und nicht einen Anschlußprozeß vollziehen würde.Die Massenarbeitslosigkeit wäre so nie erforderlich gewesen, wenn man eine aktive Wirtschaftspolitik betrieben hätte. Sie können auch nicht einfach sagen: Es gibt doch Aufschwung bei den Dienstleistungen, beim Bau, im Handwerk und Gewerbe, wenn man verschweigt, daß der natürlich nicht anhalten kann, wenn der Industriestandort zerstört wird. Denn dann wird es in diesen Bereichen keine Aufträge mehr geben. Auf Dauer können das die Bürger und Bürgerinnen und die Kommunen alleine nicht bezahlen.Dann will ich hier noch etwas zum Schalck-Untersuchungsausschuß sagen. Ich könnte als Obmann meiner Abgeordnetengruppe das Thema „neue Bundesländer" bequem fortsetzen. Doch auch das ist eine hochinteressante Arbeit, unter anderem aus folgendem Grund: Was die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR an dem KoKo-Bereich immer besonders interessiert hat, war die Tatsache, daß die SED- Führung dazu nie wirklich stand. Das war ein unglaublich geheimnisumwobener Bereich, und zwar nicht nur in den Bereichen, die jetzt rauskommen, Waffenexporte etc. — wo man sich sagt: darüber konnten sie ja nicht reden — , sondern auch in den Bereichen, wo es um scheinbar normale Geschäftstätigkeiten ging. Der Grund ist ganz einfach: Sie hätten nämlich einräumen müssen, daß ihr eigenes Wirtschaftssystem überhaupt nicht funktioniert. Denn sie waren praktisch darauf angewiesen, nebenbei ein rein kapitalistisches Wirtschaftsimperium aufzubauen.Aber nun kommt etwas heraus, was, so finde ich, die Schwierigkeiten der CDU/CSU und auch anderer Parteien ausmacht. Es geht da z. B. um Scheinfirmen, um Briefkastenfirmen, um irgendwelche Holdings, wo weiß ich wie viele Schachtelfirmen dahinterstehen. Man kann ja nun über den realexistierenden Sozialismus sagen, was man will, aber das sind alles nicht seine Erfindungen. Das sind alles Erfindungen — und zwar legale Erfindungen — des kapitalistischen Systems.
— Aber es ist so. — So wird dabei eine Kritik an diesen Methoden herauskommen. Wie man aus den Unterlagen eindeutig entnehmen kann, kommt jetzt noch etwas dazu: Das gesamte Wirken dieses KoKo-Imperiums war den Behörden der Bundesregierung seit Jahren bekannt, ohne daß etwas dagegen unternommen worden ist. Es muß schon begründet werden, worin das Interesse bestand, daß dieses Imperium so wirkte. Dafür muß es eine politische und eine ökonomische Erklärung geben.
Inzwischen wissen wir auch, daß der Bundesverfassungsschutz in diesen Betrieben viele Quellen hatte.
Das führt mich zu der Schlußfolgerung, daß es sich bei KoKo um das erste — und leider funktionierende — gesamtdeutsche Geheimdienst- und Wirtschaftsunternehmen handelte. Deshalb ist dieser Ausschuß keine alleinige Angelegenheit der neuen Bundesländer, sondern er sagt sehr viel über die Beziehungen der beiden deutschen Staaten zueinander. Um diese Wahrheit geht es, und zu dieser Aufrichtigkeit ist hier heute, wie ich finde, wenig beigetragen worden.Ich bin über zwanzig Jahre Rechtsanwalt. Deshalb billige ich jedem z. B. das Recht auf Verteidigung zu. Wenn sich der Kanzler durch Fragestellungen angegriffen fühlt, billige ich ihm sofort zu, daß er sich verteidigt und dagegen wehrt. Das ist das Grundrecht eines jeden Menschen; das kann man weder ihm noch irgendeinem anderen absprechen. Das ist absolut korrekt.Aber die Ausführungen mit einer Drohung zu beenden, halte ich doch für sehr bedenklich.
— Er hat gesagt: Wenn ich das alles ernstnehme, dann müssen wir Schlußfolgerungen ziehen, wie wir in den nächsten Jahren mit dieser Gruppe umgehen. Das klang ausgesprochen bedrohlich und lief darauf hinaus, daß mit ihr in etwa so umgegangen werden soll wie mit uns.
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Dr. Gregor GysiDavor kann ich dann tatsächlich nur warnen; denn angenehm ist es nicht.
— Das können Sie gerne nachlesen. Es war als Drohung gemeint und auch so ausgesprochen.
— Ja eben. Deshalb sollte man nicht drohen. Das ist der Punkt. Deshalb sollte man auf Kritik mit Verteidigung antworten. Und außerdem: Demokratie schließt Selbstkritik und Nachdenklichkeit nicht aus. Das ist wirklich ein weit verbreiteter Irrtum.
— Ich glaube, damit habe ich öfter angefangen als Sie! Das steht nun wirklich fest.
— Mit beachtlichem Erfolg. Auf jeden Fall habe ich mich stärker entwickelt als Sie. Das steht fest.
— Ja, das ist wahrscheinlich auch einfacher, weil manche natürlich am Ende ihrer Entwicklung angekommen sind, und das in mehrfacher Hinsicht.
Lassen Sie mich noch einen Gedanken dazu sagen, weil dieses Imperium und dieses Zusammenwirken eben nicht nur aus politischen Gründen funktionierte.— Es ist eben schon wieder nicht aufrichtig, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: Es ging doch ausschließlich darum, Reiseerleichterungen in der DDR durchzusetzen. — Das ist nicht wahr! Das war auch ein wirtschaftliches Geschäft. Das haben natürlich sehr einflußreiche Leute gewußt, und daran haben auch sehr viele Leute, auch Unternehmen, verdient.Sehen Sie mal: KoKo konnte doch nicht in einem leeren Raum wirken. Die konnten doch nur Geschäfte machen, wenn mit ihnen Geschäfte gemacht wurden, und die wurden natürlich nur dann gemacht, wenn daran Leute verdient haben.
Das waren eben Freunde sehr einflußreicher Politiker in der Bundesrepublik. Daß diese sehr viel geredet haben — übrigens in dem Wissen um die Funktion von Herrn Schalck-Golodkowski; man wußte schon immer, daß er mit dem MfS sehr viel zutun hatte —, ist schon nachdenkenswert oder auch bedenklich, und da müssen wohl Fragen erlaubt sein, auch deutliche und scharfe Fragen erlaubt sein.
— Das habe ich ja nicht gesagt. Ich habe gesagt, daß man das Recht hat, sich dagegen zu wehren.Die Ziele dieses Untersuchungsausschusses müssen eben auch darin bestehen, solche Klarheit zu schaffen, damit hier Moral und Unmoral nicht einseitig nur von West nach Ost gesehen wird, sondern damit wir insgesamt zu einer moralischen Erneuerung kommen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Willfried Penner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu einigen Aspekten der Innenpolitik Stellung nehmen. — 1991 müssen wir voraussichtlich mit mehr als 200 000 Asylbewerbern rechnen. Das macht uns zu schaffen, und es stellt nicht nur die Verwaltungen von Städten und Gemeinden auf harte Belastungsproben. Auch auf unsere Bürger kommt einiges zu und ist schon einiges zugekommen.Machen wir uns nichts vor: Gerade denen, die unzureichende Wohnverhältnisse, fehlende Sozialeinrichtungen, Arbeitslosigkeit am eigenen Leib erleben, wird Zusätzliches zugemutet. In ihren Stadt- und Ortsteilen finden sich die Heime und Unterkünfte der Fremden. Sie müssen sich mit unterschiedlichen Lebensgewohnheiten anderer auseinandersetzen. Ihre Freizeitmöglichkeiten sind hin, wenn die Turnhalle mit Asylbewerbern belegt ist. Jeder von uns kennt diese Beispiele aus seinem Wahlkreis.Wer auf Kongressen, Tagungen und Seminaren großzügig für ein uneingeschränktes Zuzugsrecht eintritt, darf dabei nie vergessen, daß er dabei auch zu Lasten Dritter argumentiert,
in der Regel zu Lasten ohnehin schon bedrängter Einheimischer. Sie tragen die schwersten Lasten und nicht diejenigen in den besseren und besten Wohngegenden.Der Bundesinnenminister hat in der Kontinuität entsprechender politischer Vorstöße aus Bayern und Baden-Württemberg Anfang August das Thema Asylpolitik erneut aufgegriffen und in der besonders feierlichen Form des regierungsamtlichen Bulletins „Ausführungen zu Vorschlägen und Bemühungen zur Lösung der Asylproblematik" gemacht.Der analytische Teil seines Vorhabens ist recht hübsch gelungen. Die Auseinandersetzung mit tatsächlichen und vermeintlichen Ungereimtheiten der politischen Konkurrenz fehlt natürlich nicht. Allerdings reduzieren sich die pompös angekündigten Vorschläge seinerseits auf eine Änderung des Art. 16 und eine allgemeine Forderung nach Bekämpfung der Ursachen der Flüchtlingsbewegung, die der Bundesinnenminister „Hilfe gegen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit" nennt. Wie das aber im einzelnen genau aussehen soll, diese „Hilfe gegen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit" bleibt völlig im dunkeln. Anscheinend haben Sie wohl eher an ideelle Hilfe gedacht, weil — wie der Bundesinnenminister selbst ge-
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Dr. Wilfried Pennersagt hat — das Wirtschafts- und Wohlstandsgefälle nicht einmal mittelfristig abgebaut werden kann.So bleibt Kern der Positionserklärung des Bundesinnenministers die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes. Das ist nicht unsere Position.
Herr Minister, im übrigen wäre Ihnen kein Zacken aus der Krone gebrochen, wenn Sie in diesem Zusammenhang den ausländischen Mitbürgern zumindest ein paar freundliche Worte gegönnt hätten.
Deren Anteil am wirtschaftlichen Aufbau allein hätte das gerechtfertigt. Ich erinnere hier nur daran, daß wir genau vor 30 Jahren das Anwerbeabkommen mit der Türkei abgeschlossen haben. Mit anderen Worten: Wir haben vor 30 Jahren darum gebeten, daß die Türken ihre Arbeitnehmer zu uns schicken; es ist nicht umgekehrt gewesen.
Nicht zuletzt den Ausländern verdanken wir die große kulturelle Vielfalt in unserem Lande.Sie, Herr Minister, hätten an die Adresse gewisser Stammtische mit der Autorität des Ministeramtes auch ruhig einmal erklären können, daß Deutschland seit eh Schmelztiegel für viele gewesen ist,
nicht nur für die Bergarbeiter aus Polen um die Jahrhundertwende und später im Ruhrgebiet.
Wenn Sie denn schon eine Änderung des Art. 16 wollen, Herr Minister, frage ich Sie: Wann kommen Sie mit einer förmlichen Kabinettsvorlage herüber, die genau spezifiziert, was Sie wollen? Wenn Sie den Weg über das Kabinett scheuen, warum geht der designierte Fraktionsvorsitzende Schäuble nicht den Weg über eine entsprechende Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion?
Tatsache ist, Herr Minister: Sie gehen keinen dieser Wege. Sie sehen von beiden Möglichkeiten ab. Nicht nur aus meiner Sicht verdichtet sich der traurige Eindruck, daß — wie auch zu früheren Zeiten — die in der Sache höchst komplizierte und Menschenschicksal berührende Problematik des Asylrechts herhalten muß für Ziele, die mit den eigentlichen Fragestellungen überhaupt nichts zu tun haben.Ich nenne diese: Sie wollen mit dem Asylrecht von der Steuerlüge wegkommen,
und Sie wollen mit der Asylpolitik die SPD in die Ecke stellen.Mit Ihrer Position stehen Sie im übrigen in Widerspruch zu Ihrer wiederholten Beteuerung, daß der Schutz vor politischer Verfolgung — Sie haben es vorhin noch einmal betont — selbstverständlich gewährleistet bleiben müsse.
Ich sage Ihnen: Jede Aufweichung des Art. 16 bringt Sie in unlösbaren Widerspruch zu Ihren eigenen Schutzzielen.
In der Sache bin ich davon überzeugt, daß die Möglichkeiten der Innenpolitik weitestgehend ausgereizt sind. Die Innenpolitik kann nichts daran ändern, daß es eine Weltflüchtlingsfrage gibt, die immer bedrohlicher wird. Die deutsche Innenpolitik kann nichts daran ändern, daß es dafür vielfältige Ursachen gibt,
die von außen generell schwer zu beeinflussen sind. Die Ursachen der Flüchtlingsbewegungen in Afghanistan und Pakistan unterscheiden sich, um das Horn von Afrika und in Indochina sind sie wieder ganz anders als in Sri Lanka.Es ist auch unbestreitbar, daß Deutschland gerade für diese Gegenden der Not eine ähnliche Faszination ausübt wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika auf Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch daran wird deutsche Politik, im Besonderen die deutsche Innenpolitik, nichts ändern können und nichts ändern wollen.Bisher hat auch noch keiner gefordert, daß unsere Grenzen dichtgemacht werden müßten, denn dies wäre eine, wenn auch weitgehend überschätzte Voraussetzung dafür, um sich vor dem Weltflüchtlingsstrom abzuschotten. Das Gegenteil dessen ist seit Jahrzehnten praktizierte deutsche Politik. Nach Westen, zu Frankreich, zu Italien, zu Spanien, zu Benelux, zu Großbritannien, sind die Grenzen seit Jahren durchlässig. Das gerade von Bundeskanzler Kohl vorangetriebene Schengener Abkommen wird in allernächster Zeit die letzten, die allerletzten Reste von Grenzdenken innerhalb der EG beseitigen.
Aber auch zum Osten hin ist es seit Jahr und Tag erklärte deutsche Politik, die Grenzzäune niedrig zu halten. Freizügigkeit zwischen den Staaten und Völkern innerhalb ganz Europas steht als Überschrift über jenem KSZE-Prozeß, für den nicht zuletzt wir Deutsche uns besonders stark gemacht haben. Nach den Veränderungen in Osteuropa in Verbindung mit der deutschen Einheit hat deutsche Politik über Verträge und Einzelinitiativen sichergestellt, daß Gemeinsamkeit mit Polen, daß Gemeinsamkeit mit Ungarn und Bürgern der Sowjetunion auch ohne Hinder-
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Dr. Willfried Pennernisse, sprich: formulierten Wirrwarr bei Grenzüberschreitungen, stattfinden kann.Die Visafreiheit für Polen, die Visafreiheit für Ungarn, die Visafreiheit für die CSFR haben die Ostgrenzen insgesamt durchlässig gemacht. Das größer gewordene Deutschland mit langen Grenzen innerhalb des Kontinents, im Zentrum des Kontinents gelegen, ist neben diesen politischen Vorgaben der Öffnung und des Offenseins rein technisch nicht in der Lage, sich von der Weltflüchtlingsproblematik freizuhalten.Um es an einem Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit deutlich zu machen: Glaubt denn jemand allen Ernstes, Deutschland hätte sich vor einem Flüchtlingsstrom bewahren können, wenn der Putsch gegen Gorbatschow nicht gescheitert wäre? Ist es in diesem Zusammenhang verantwortlich, die mehr als 270 000 sowjetischen Soldaten auf deutschem Boden einfach zu vergessen?
Gibt es auch nur einen vernünftigen Grund anzunehmen, ein Bürgerkrieg auf dem Balkan würde Deutschland von Flüchtlingsströmen verschonen?Übrigens, auch unsere westlichen Nachbarn haben ihre Probleme mit den Wanderungsbewegungen. Im Vereinigten Königreich ist die Zuwanderung aus dem alten Empire zu verkraften, Frankreich macht die Einwanderung aus dem nördlichen Afrika zu schaffen, und in den Niederlanden gibt es Zuwanderungen aus Surinam und aus Indonesien.
Noch eines ist nicht zu übersehen: Schon deshalb, weil es Autos und Flugzeuge gibt, können wir uns nicht darauf verlassen, daß Flüchtlingsströme in Asien und in Afrika von heute auf morgen nicht auch unsere Angelegenheit werden könnten.
Auch an dieser Tatsache kommt Innenpolitik nicht vorbei. — Das ist aus meiner Sicht die Lage.Wem, wie der CDU — wie sie immer beteuert —, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und dem Bündnis 90, daran gelegen ist, den Schutz vor politischer Verfolgung zu bewahren, kann das materielle Recht auf Asylgewährung nicht ändern wollen.
Im Kern geht es denn auch um etwas völlig anderes. So richtig es ist, daß die Lösung des Weltflüchtlingsproblems ohne deutsche Beteiligung nicht stattfinden kann und wird, sowenig zu leugnen ist es, daß die Flüchtlingsfrage das Asylrecht zu ersticken droht.Die Verfahren bleiben zu lange in der Schwebe. Der Hochrangigkeit des Art. 16 entsprechend, müßte eine hochkarätige Instanz geschaffen werden, die alle Fälle — ich betone: alle Fälle — des Art. 16 und des Flüchtlingsrechts allgemein in erster und letzter Instanz zügig entscheidet. Unter diesen Voraussetzungen ließe es sich auch verantworten, die Antragssteller für diese Zeit in Sammellagern zusammenzuhalten; denn wenn feststeht, daß jemand nicht bei uns bleiben darf, dann muß eine solche Entscheidung durch Abschiebung auch besiegelt werden können.Andererseits müssen diejenigen, die bleiben dürfen, auch alle Chancen der Integration erhalten. Dazu gehört das kommunale Ausländerwahlrecht als Mindeststufe politischer Partizipation.
Übrigens ist es erst nach einer solchen Straffung des Asylverfahrensrechts konsequent, über ein Einwanderungsrecht nachzudenken, das mit einer Quotierung verbunden ist.Ein völlig anderes Problem stellt sich bei den Aussiedlern. Das sind Deutschstämmige nach Art. 116 in Verbindung mit den Vorschriften des Vertriebenen- und des Staatsangehörigkeitsrechts. Diese Rechtsmaterie, die unter den aktuellen Bezügen der 40er Jahre zustande gekommen ist, muß überarbeitet werden.Nach vorsichtigen Schätzungen gibt es allein in der Sowjetunion ca. 2 Millionen Menschen, die auf diese Rechte Anspruch erheben können. Was das auf dem Hintergrund der Gärungsprozesse in der Sowjetunion bedeutet, brauche ich nicht näher auszuführen. Wie der Innenminister dazu kommt, vor den Folgen einer möglichen Zuwanderung in diesem Ausmaß die Augen zu verschließen und sich mit teils absurden Ergebnissen eines überholten Vertriebenen- und Staatsangehörigkeitsrechts zufrieden zu geben, ist mir schleierhaft.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zum Stichwort Kontingentierung. Für das geltende Asylrecht scheidet das aus. Eine Kontingentierung kann nur über innerstaatliche Verteilungsregelungen stattfinden. Kontingentierung von Zuwanderung ist nur im Rahmen von Einwanderungspolitik möglich.Ich bleibe dabei: Die Regelung der Asyl- und Flüchtlingsfrage ist weitgehend nicht Sache innerstaatlicher Ordnungspolitik. Es ist nicht akzeptabel, daß Polizei- und Ordnungsrecht als Korrektive für die Folgen einer offenen Außenpolitik, für niedriger gewordene Grenzzäune, für Unzulänglichkeiten der Entwicklungspolitik, für offene Felder der Schwarzarbeit bei uns und die immer besser werdenden Möglichkeiten des Personenverkehrs herhalten.Allerdings werden wir uns an sinnvollen und verantwortbaren Initiativen zur Schließung etwaiger offener Lücken auch auf dem Gebiet innerstaatlichen Rechts beteiligen. Es wäre eigentlich zu erwarten, daß die doch sehr große Mehrheit von CDU/CSU und FDP im Parlament und auch die Bundesregierung verbindliche Vorschläge in Gesetzesform präsentieren, wenn sie es denn für nötig halten.
Noch so interessante Bulletins, noch so interessante Überlegungen an badischen Kaminen können Sie, Herr Minister, von dieser Pflicht nicht entbinden.
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3100 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Willfried PennerÜbrigens sage ich ganz freimütig — das nehme ich dann auf meine höchstpersönliche Kappe —, daß die Außenpolitik besonders darauf achten muß, nicht außer Sichtweite der Möglichkeiten der Innenpolitik zu geraten. Bei allen begrüßenswerten außenpolitischen Fortschritten darf nie vergessen werden, daß die Bürger mit den Folgen außenpolitischer Veränderungen auch zurechtkommen müssen.Die CDU/CSU stellt seit Jahren den Bundesinnenminister und ist damit in besonderer Weise für die innere Sicherheit verantwortlich. Um es vorsichtig zu sagen: Die Union ist ihrem eigenen Anspruch in Sachen innere Sicherheit nicht gerecht geworden. Die Zahlen weisen es aus. Gerade bei der Schwerkriminalität sind sie teilweise erschreckend gestiegen: Von 1989 auf 1990 ist die Zahl der Raubdelikte um sage und schreibe 4 959 Fälle auf 35 111 angestiegen. Geradezu dramatisch ist der Anstieg von Raubüberfällen auf Geldinstitute und Poststellen in Verbindung mit Geiselnahmen und erpresserischem Menschenraub: um sage und schreibe 16,4 % gegenüber dem Vorjahr.Noch deutlicher klaffen Anspruch und Wirklichkeit bei der Bekämpfung von Verbrechensfeldern auseinander, für die der Bundesinnenminister besonders gefragt ist. Ich nenne die Katalogstraftaten des BKA- Gesetzes. Fast 1 500 Rauschgifttote sind mehr als ein Alarmzeichen. Internationale Verbrecherbanden gehen immer ungenierter auch auf unserem Boden vor.Ihr Feldgeschrei, Ihr Wortgetöse und die unsinnigen Erwartungshorizonte der Union in Sachen innerer Sicherheit aus den 70er Jahren haben Sie eingeholt. Es ist nichts mit dem perfekten Personenschutz geworden, den durchzusetzen Sie sich stark gemacht haben.
Würden Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hirsch gestatten, Herr Kollege?
Nein. Herr Hirsch, jederzeit, aber — —
Es gibt den perfekten Personenschutz nicht, besonders nicht in einem freiheitlichen Staat wie Deutschland.
Die Frage wird auf Ihre Redezeit nicht angerechnet, Herr Kollege Penner.
Herr Kollege Hirsch.
Herr Kollege Penner, ich bitte wirklich vielmals um Entschuldigung, wenn ich Sie in Ihrem Redefluß unterbreche. Aber ich kann das Spiel mit der Kriminalitätsstatistik, das wir seit Jahren kennen, einfach nicht durchgehen lassen. Sie wissen doch — oder wissen Sie das nicht? — , daß die Kriminalitätsbekämpfung in erster Linie Ländersache ist. Nun frage ich Sie, ob die Zahlen, die Sie vorgelegt haben, einen signifikanten Unterschied dahin gehend aufweisen, ob der Innenminister der CDU, der CSU oder der SPD angehört.
Herr Hirsch, Ihnen wird nicht entgangen sein, daß ich, soweit es sich um die allgemeine Kriminalität gehandelt hat, sehr wohl vermieden haben, eine direkte Beziehung zum Bundesinnenminister herzustellen.
Wo ich aber die Katalogstraftaten des BKA-Gesetzes angesprochen habe, habe ich hingegen sehr wohl die direkte Verantwortung des Bundesinnenministers eingefordert.Gleichwohl will ich Ihnen eine allgemeine politische Antwort nicht schuldig bleiben. Wer sich in Angelegenheiten der inneren Sicherheit so stark gemacht hat, wer praktisch die Garantieerklärung abgegeben hat, wenn es nur zu einem Wechsel in Bonn käme, würden sich die Verhältnisse der inneren Sicherheit schlagartig ändern, der muß sich auch gefallen lassen, an diesen Vorgaben der 70er Jahre gemessen zu werden.
Wir waren beim Personenschutz stehengeblieben. Ich glaube, daß er auch deswegen nicht möglich ist, weil er für besonders gefährdete Personen um so unzumutbarer wird, je dichter er wird.Auch die Sucht der Vergangenheit, kritische Intellektuelle als angebliche Sympathisanten der Terrorszene zu brandmarken, hat zu nichts geführt. Sie sind an unwiderleglichen Tatsachen gescheitert.Im übrigen fällt auf, wie gewunden, wie zaudernd und wie zaghaft Politik der inneren Sicherheit der CDU/CSU namentlich dann ausfällt, wenn es darum geht, Waffenhändlern das Handwerk zu legen.Gibt es schon bei der Verhinderung von Straftaten schwerster Art böse Defizite, so fällt erst recht die zunehmende Erfolglosigkeit bei der Aufklärung von Verbrechen mit terroristischem Hintergrund auf. Die Aufklärung von terroristischen Verbrechen, für die der Bund — Herr Hirsch, hören Sie zu — eine besondere Zuständigkeit hat, geht seit Jahren gegen null. Die Morde an Detlev Karsten Rohwedder, an Alfred Herrhausen, an Beckurts, an Zimmermann und an von Braunmühl sind bis heute unaufgeklärt. Zu dem geplanten Anschlag auf Bundesminister Kiechle und zu den Anschlägen auf die Staatssekretäre Neusel und Tietmeyer ist eines festzustellen: Täter unbekannt.Was haben Sie in den letzten neun Jahren nicht alles an Gesetzesänderungen verlangt und produziert? Sie haben das Paßrecht geändert. Sie haben die Kronzeugenregelung eingeführt. Sie haben die Vermummung unter Strafe gestellt, die passive Bewaffnung dazu. Sie haben ferner den Tatbestand des Landfriedensbruchs in völlig verunglückter Fassung beschlossen. Allesamt wurden diese Änderungen angeblich dafür benötigt, den Sumpf des Terrorismus auszutrocknen. Was ist geschehen? Nichts.Es hat auch nichts genutzt, daß die Strafverfolgungsbehörden des Bundes Jahr für Jahr reichlich mit
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Dr. Willfried PennerMitteln für Technik und Personal bedient worden sind.Nun glaubt die Union, das Allheilmittel in der Figur des verdeckten Ermittlers der Polizei gefunden zu haben, der auch milieuentsprechende Straftaten verüben darf, um die Aufklärung von Verbrechen zu erleichtern. Ich sage einmal ganz nüchtern: Das Ganze taugt schon vom Ansatz her nicht. Kein Sachkenner verschwendet auch nur einen Gedanken daran, zu glauben, daß einfacher Diebstahl oder eine leichte Sachbeschädigung etwa das Eintrittsticket in schwere kriminelle Gangs bedeuten würde. Mord und Totschlag werden Sie im Zusammenhang mit dieser kriminalpolitischen Wahnvorstellung kaum meinen und rechtfertigen wollen. Aber auch so bleibt Schlimmes zurück.Ein freiheitlicher Rechtsstaat kann nicht damit leben, daß die Polizei als berufene Hüterin des Rechts in eine legitimierte Verbrecherrolle hineingedrängt wird.
Die Bürger vertrauen darauf, daß die Polizei auf der Seite des Rechts steht und sich nicht im Dschungel des Verbrechens verheddert.
Wer dieses Vertrauen untergräbt, muß wissen, daß er die Axt an die Wurzel des Rechtsstaats legt. Das machen wir nicht mit.
Wir können auch nach den rechtsextremistischen Gewalttaten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Ich denke dabei nicht alleine an Brandanschläge, vornehmlich auf Asylantenwohnheime und Wohn- bzw. Geschäftsräume ausländischer Mitbürger in den alten Bundesländern. Geradezu erschreckend, ja alarmierend ist die Entwicklung des militanten Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Nach neuesten Angaben soll die Zahl der aktiven Neonazis dort mindestens 15 000 — bei stetig wachsendem Zulauf — betragen.Wir von der Sozialdemokratie machen uns nicht anheischig, Verbrechen total zu verhindern oder aufklären zu können. Wer könnte das auch? Sie aber von der Union haben Erwartungen geweckt, an denen Sie gemessen werden müssen. Aber selbst wenn man von den Großsprechereien der Vergangenheit absieht: Auch so sind Sie Ihrer politischen Einstandspflicht für die innere Sicherheit in diesem Land nicht gerecht geworden.
Ein Wort noch zum öffentlichen Dienst. Der öffentliche Dienst in den alten Bundesländern ist leistungsfähig. Das kann allerdings den Gesetzgeber nicht davor bewahren, darüber nachzudenken, wie er den öffentlichen Dienst neuen Entwicklungen und sich wandelnden Aufgaben anpassen sollte.Allein für die Bundesregierung scheint dies kein Thema zu sein. Vor Jahren ist die Debatte um eineDienstrechtsreform beendet worden, das Bekenntnis zum Berufsbeamtentum zum Programm erhoben worden. Damit war die Sache beerdigt. Vor den Folgen stehen wir heute. In vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes gibt es einen Problemstau. Durch lähmende Untätigkeit fördert die Bundesregierung die ideologiegefärbte Privatisierungsdiskussion als Alternative zu der notwendigen Reform des öffentlichen Dienstes.
Wir müssen diese Reform endlich in Angriff nehmen. Ich nenne einige Beispiele. Erstens. Die Bezahlung und das Laufbahnrecht müssen funktionsgerecht reformiert werden.Zweitens. Die Verwendung von Beamten ist auf den hoheitlichen Kernbereich der Staatstätigkeit zu beschränken.Drittens. Wir werden uns nicht vor einer Aufgabenkritik drücken, die sich zum Ziel setzt, unter sorgfältiger Beachtung des Sozialstaatsgebots privatisierungsfähige Aufgaben auch privaten Trägern zu übertragen. Das heißt aber umgekehrt: An einem Palaver der Vorurteile gegen die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes werden wir uns nicht beteiligen.
Viertens. Schließlich muß im Rahmen der Freizügigkeitsregelungen des EG-Vertrages der Zugang zum Beamtenverhältnis auch Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht werden. Dazu muß das Beamtenrechtsrahmengesetz geändert werden.Ich rate auch zu mehr Rücksichtnahme auf unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in den fünf neuen Bundesländern. Für sie ist es völlig unverständlich, völlig unbegreiflich, daß Zeiten im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR nicht als Vordienstzeiten angerechnet werden.
Gewiß ist das nicht durchgängig möglich, aber eine generelle Ablehnung darf ebensowenig sein. Es wäre begrüßenswert, wenn es hier bald eine tarifvertragliche Korrektur gäbe, die dann auch in die beamtenrechtlichen Regelungen zu übertragen wäre.Der Aufbau leistungsfähiger öffentlicher Verwaltungen in den neuen Bundesländern und Kommunen bedarf noch großer Anstrengungen. Die notwendigen Hilfen durch den Bund, die alten Bundesländer und ihre Kommunen müssen fortgesetzt und ausgebaut werden.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird auch bei einem anstehenden Wechsel im Amt des Bundesinnenministers ihre Politik nicht ändern. Sie wird konstruktive Vorschläge bis hin zu eigenen Gesetzesvorschlägen machen. Sie wird aber auch nicht darauf verzichten, wie schon bisher die Regierung deutlich und unmißverständlich zu kontrollieren und zu kritisieren, wo immer das erforderlich sein wird.Der Bundesinnenminister will Vorsitzender einer großen Fraktion werden. Wir wünschen ihm dafür
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Dr. Willfried Pennernicht, daß er den 1994 fälligen Wechsel in den Mehrheiten verhindern kann. Aber Mut und Kraft für sein neues Amt wünschen wir ihm, wünsche ich ihm persönlich sehr wohl.Schönen Dank für die Geduld.
Das Wort hat nun der Herr Bundesminister der Justiz, Dr. Klaus Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Thematik Wiedervereinigung im Rahmen der Haushaltsdebatte gehört auch die Rechtsstaatsproblematik. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, zu einigen Problemen, die auch die Opposition, insbesondere die SPD, in besonderer Weise interessieren, etwas ausführlicher Stellung zu nehmen.Frau Däubler-Gmelin hat mich vorhin angerufen und mir gesagt, sie sei aus familiären Gründen gehindert, an der Debatte teilzunehmen. Sie muß nach Tübingen fahren. Das akzeptiere ich selbstverständlich. Ich möchte mich deshalb auf ein paar allgemeinere Bemerkungen beschränken, weil sie wohl vorhatte und präpariert war, hier zu sprechen.Der erste Prozeß gegen Mauerschützen vor dem Landgericht in Berlin, die heute schon vielfach erörterten Vorgänge um den früheren DDR-Staatssekretär Schalck-Golodkowski und die Bemühungen um die Rückführung von Herrn Honecker, damit er vor ein deutsches Gericht gestellt werden kann, zeigen meines Erachtens deutlich: Zwar haben wir in einem wesentlichen Teil der Wiedervereinigung, nämlich beim Aufbau des Rechtsstaats, die rechtliche Vereinigung mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, dem Einigungsvertrag und der außenpolitischen Zweiplus-Vier-Einbettung geschafft. Zwar kommt auch — ich sage: Gott sei Dank — offensichtlich die organisatorische Umsetzung dieser Verträge, nämlich der praktische Aufbau des Rechtsstaats, in den neuen Ländern ganz gut voran. Bei der moralisch-ethischen, die Täter-Opfer-Problematik und vor allem die Befindlichkeiten der Menschen betreffenden Bewältigung stehen wir aber — das müssen wir leider deutlich sagen — ganz am Anfang.Deshalb muß, wie ich meine, nun die inhaltliche Bewältigung des SED-Unrechts ganz in den Vordergrund gerückt werden. Die Vergangenheit muß — ob wir es wollen oder nicht — aufgearbeitet werden, um die Menschen für die Zukunft frei zu machen.Der ganze Umfang des Unrechts, seine ganze Wahrheit ist immer noch nicht auf dem Tisch. Erst jetzt haben wir und haben Sie von den unzulässigen Organentnahmen erfahren; erst heute wissen wir, daß in der früheren DDR noch weit mehr Menschen auf merkwürdige Weise — ich bezeichne es ganz vorsichtig und zurückhaltend — zu Tode gekommen sind, als wir bisher dachten.Diese spektakulären Nachrichten betreffen aber nur die Spitze des Unrechts. Der SED-Staat war ein Staat des leisen, des mählichen Terrors; so hat es kürzlich, wie ich finde, sehr treffend Herr Thierse bei dem von mir veranstalteten Forum zu dieser Thematik formuliert.Dieses oft gerade noch unter der Grenze des rechtlich Faßbaren liegende Unrecht ist eines unserer Hauptprobleme bei der Bewältigung. Aber es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen die Täter bestrafen — das ist nicht Siegerjustiz, Herr Gysi; das sind wir der Idee des Rechts, aber auch den Opfern schuldig —, und zwar alle, die Unrecht angeordnet und vollzogen haben, die SED-Oberen, die eigentlich Verantwortlichen, ebenso wie die Todesschützen an der Mauer.Diese Prozesse hängen nicht juristisch zusammen, wohl aber psychologisch und legitimatorisch. Nur wenn wir gegen die Großen vorgehen, können wir es auch gegen die Kleinen tun. Deshalb fordere ich erneut und nachdrücklich die möglichst rasche Rückführung von Herrn Honecker.
Gewiß, die vor uns liegenden Prozesse sind schwierig. Wir müssen sie aber — alternativlos — führen. Ich füge hinzu: Ich weiß und wir alle sollten wissen, nicht wenige dieser Prozesse werden unbefriedigend ausgehen. Viele Menschen — das habe ich in zahlreichen persönlichen Gesprächen mit den Opfern erfahren — verstehen nicht, daß der Rechtsstaat jetzt ausgerechnet denen zugute kommt, die das Recht bisher mit Füßen getreten haben. Aber so ist es: Der Rechtsstaat kennt nun einmal keine Unterschiede und behandelt jeden gleich. Auch die SED-Täter haben Anspruch auf ein faires, ordnungsgemäßes, eben rechtsstaatliches Verfahren.Wir sollten allerdings keine weiteren Hindernisse aufbauen. Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren. Die Entscheidung darüber liegt aber allein bei den Gerichten. Ich weise deshalb auch vor dem Deutschen Bundestag mit Nachdruck darauf hin: Ich habe großes Vertrauen zur Rechtsprechung. Ich muß deutlich und klar sagen: Der Gesetzgeber ist nicht in der Lage, und zwar aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Rückwirkungsproblems, tätig zu werden.Die Opfer müssen rehabilitiert werden, mehr noch: versöhnt werden. Versöhnung läßt sich nicht erzwingen. Für eine angemessene Rehabilitierung aber können und müssen wir schnell sorgen. Ich habe mich dieser Aufgabe besonders intensiv angenommen. Am 14. August hat das Kabinett den Gesetzentwurf eines Ersten Unrechtsbereinigungsgesetzes beschlossen. Ich bitte heute nachdrücklich den Deutschen Bundestag, daß wir diesen Entwurf hier im Parlament so schnell und zügig wie möglich beraten. Ich bin eigentlich sehr froh, daß sich gerade bei der Rehabilitierung doch eine große gesellschaftliche Übereinstimmung abzeichnet.Das Fundament für den Rechtsstaat in den neuen Ländern ist gelegt. Der Rechtsstaat ist aber noch nicht die „bergende Hütte" — so hat es mein sächsischer Kollege Heitmann genannt — , die er sein soll und die er für die Menschen in den alten Ländern der Bundesrepublik seit langem ist. Er kann es auch noch gar nicht sein. Das hat viele Gründe.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3103
Bundesminister Dr. Klaus KinkelDie Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht schafft gewaltige Unruhe. Die Menschen müssen sich auf neue Eigentums- und Besitzverhältnisse einstellen. Sie fürchten um ihre Datschen, sie fürchten um ihre Nutzungsrechte, sie fürchten um Eigentum. Diese Befürchtungen sind vom Grundansatz her unbegründet; denn wir haben ja bei dem, was wir rechtlich festgelegt haben, erklärt und auch festgeschrieben, daß redlich erworbene Rechte Bestand haben. Aber diese Befürchtungen bestehen, und zwar in weitem Umfang. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen.Die Aufarbeitung des SED-Unrechts zwingt die Menschen zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Sie müssen z. B. für die Rehabilitierung Anträge stellen, Unterlagen beibringen. Alte, inzwischen vernarbte Wunden reißen wieder auf. Die Menschen möchten aber verständlicherweise die alten Dinge nicht wieder aufrühren. Die Täter verteidigen sich — übrigens zu Recht — mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und suchen sich der Verantwortung zu entziehen.Ich meine aber, daß etwas anderes viel wichtiger ist: Der totale Vertrauensverlust, den das Recht, der Rechtsstaat bei den Menschen in der früheren DDR erlitten hat, ist das Entscheidende. Recht muß ja im Grunde Sicherheit und Geborgenheit geben. Das ist seine eigentliche Funktion. Nur dann entsteht Vertrauen, Vertrauen der Menschen zueinander, Vertrauen zum Staat, zum Rechtsstaat. Die Justiz stand in der früheren DDR eben in ganz besonderer Weise im Dienst der Partei und damit letztlich auch im Dienste des Unrechts. Das wußte jeder; das lag offen zutage.Noch schlimmer aber war die totale Durchdringung des gesamten Lebens der Menschen durch die Stasi. Den intimsten Dingen wurde nachgespürt. Der privateste Lebensraum lag im Zugriff des Staates. Die Verdrehung der Werte war total; man sprach z. B. von der nötigen Ehrlichkeit gegenüber der Staatssicherheit. Welche Entwertung des Begriffs der Ehrlichkeit!Das SED-Regime hat etwas erreicht, was in der Geschichte bisher für meine Begriffe einmalig war: die totale Bespitzelung, totales Mißtrauen. Die Menschen wurden gegeneinander aufgebracht. Den Freund, die Ehefrau, die Tochter, den Vater, den Großvater mußten sie bespitzeln. Wir hatten gestern abend ein Gespräch mit einigen Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, in dem auch von einem solchen wirklich bedrückenden Beispiel erzählt wurde.Dieses ungeheure Mißtrauen, das staatlicherseits aufgebaut wurde, dieser wirklich einmalige Schnüffelstaat macht es dem Rechtsstaat mit seinen Mitteln jetzt so ungeheuer schwer, das aufzuarbeiten, was an Unrecht geschehen ist. Die 180 bis 200 km Stasi-Akten — es werden ja immer mehr — stehen sozusagen wie eine Mauer zwischen den Menschen.Im absoluten Gegensatz zu dieser schrecklichen Praxis stand die herrschende Ideologie. Das System, angetreten unter dem Vorsatz, den anderen Teil Deutschlands unter dem Marxismus-Leninismus neu zu gestalten und nie mehr faschistische Strukturen aufkommen zu lassen, hatte sich den Mantel der absoluten Humanität umgehängt getreu dem Lenin-Zitat: „Uns ist alles erlaubt, denn unsere Humanität ist absolut." Die SED berief sich auf höhere Zwecke, gab sich antifaschistisch und zog daraus bis zum bitteren Ende die Legitimität, gegen ihre inneren Gegner mit brutaler Härte vorgehen zu dürfen. Ich muß deutlich sagen: Dieser Verführung durch diese Ideologie sind manche erlegen, auch bei uns im Westen.Was uns Honecker und seine Getreuen hinterlassen haben, waren Chaos, Unrecht und ein Staat, der in vielfacher Beziehung genauso unmenschlich war wie das, was man zu bekämpfen vorgab. Der Philosoph Lübbe hat es auf dem Forum, das ich ansprach, unter Bezugnahme auf Brecht so charakterisiert: „Versinke im Schmutz, aber ändere die Welt. "Um diesen paranoiden Zustand wirklich zu überwinden, um wirkliches Vertrauen in das ehrliche Funktionieren der staatlichen Institutionen herzustellen, bedarf es noch gewaltiger, wahrscheinlich jahrelanger Anstrengungen. Die Stasi muß entmystifiziert werden als bürokratischer Apparat, der zuletzt an sich selbst erstickte. Dazu bedarf es der Öffnung der Akten für die Opfer, um ihnen ihre Würde zurückzugeben und die Befriedung im privaten Bereich und gegenüber dem Staat zu erreichen.Die Stasi hat viel Macht gehabt, aber die Kraft, das SED-Regime zu retten, hatte sie nicht. Unser freiheitlicher Rechtsstaat ist viel offener, allerdings in gewisser Hinsicht schutzloser. Der Zusammenbruch des SED-Regimes hat aber gezeigt, daß in einer Demokratie, in dieser Offenheit die wirkliche Stärke liegt. Die Stasi hat die Macht über die Menschen verloren. Das sollte sich jeder klarmachen, der sich vielleicht noch fürchtet. Und es gibt solche, die sich noch fürchten.Ganz wichtig ist auch die Delegitimierung dieses Staates, des gesamten SED-Regimes. Hier helfen uns die aktuellen Ereignisse. Der Marxismus-Leninismus hat jede Anziehungskraft verloren. Er ist nicht nur in der DDR zusammengebrochen, nein in ganz Europa, im Baltikum und jetzt auch in der Sowjetunion. Keine auswärtige Macht war unmittelbar daran beteiligt oder hat gar Gewalt angewandt. Überall haben die Menschen selbst, von sich aus erkannt, daß dieses System keine Legitimation hat. Das SED-Regime ist total delegitimiert.Bei der deutschen Einheit gibt es keine Sieger und keine Besiegten, die sich zähneknirschend irgendwo in ihr Schicksal fügen müssen. Es gibt keine ideologischen Gräben in unserem Land. Der Marxismus-Leninismus hat abgedankt, und wirklich niemand weint ihm auch nur irgendeine Träne nach.
Ich komme zum Schluß. Dennoch, die Vollendung der inneren Einheit braucht ihre Zeit. Das Zurechtfinden im Rechtsstaat verlangt mehr Zeit als sein formaler Aufbau. Und es wird nicht — wie Antje Vollmer zu Recht gesagt hat — ohne Elitenwechsel abgehen, obwohl ich sehr genau weiß, daß man ein Volk nicht austauschen kann.Für den Neubeginn in den fünf Bundesländern brauchen wir Kraft, Verständnis und Solidarität. Ich warne vor Überheblichkeit, auf die die Menschen — ich habe es schon einmal hier gesagt — in den
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3104 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelneuen Ländern mit Recht empfindlich reagieren. Ich warne vor gönnerhafter, oft nur scheinbarer Überlegenheit.Es gibt aber — und das scheint mir entscheidend zu sein — keinen wirklichen Grund, am Rechtsstaat zu verzweifeln. Nur er kann zwangsläufig das aufarbeiten, was an Unrecht geschehen ist, und er kann es — und das scheint mir ganz wichtig zu sein — nur mit seinen eigenen Mitteln. Aber daß der Rechtsstaat funktioniert, ist Grundlage der gesamten praktischen und moralisch- ethischen Wiedervereinigung. Ohne Recht kein wirtschaftlicher Aufschwung, ohne Recht keine Versöhnung. Das Recht ist die Grundlage, um überhaupt mit den gewaltigen Problemen, die wir allerdings noch haben, fertig zu werden.
Herr Bundesminister, wären Sie Abgeordneter, hätte ich Ihnen vor ungefähr drei Minuten gesagt, daß ihre Redezeit zu Ende ist.
Nun hat das Wort der Kollege Karl Deres.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich wußte gar nicht, daß ich jetzt dran war. Aber jetzt bin ich froh darüber. Allerdings möchte ich dem Bundesjustizminister nicht direkt antworten, sondern lieber das Gespräch mit dem Bundesinnenminister als Berichterstatter des Einzelplans 06 führen.
Nachdem die großen Bögen der Politik an den Himmel dieses Parlaments gezeichnet sind, möchte ich zu den kleinen Kreisen zurückkehren, mit denen sich die Haushälter als Ergebnis der ersten Lesung befassen müssen. Ich sage Ihnen: Es ist meine bittere Erfahrung aus dem Haushaltsausschuß, daß Geld und Stellen allein keine Probleme lösen. Dazu möchte ich Ihnen einige Beispiele nennen.
Nehmen Sie die Asylproblematik, die uns allen unter den Nägeln brennt. Mit dem Regierungsentwurf soll das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge um weitere 49 Planstellen und Stellen verstärkt werden. Das wäre seit Anfang 1990 ein Aufwuchs von 280 Stellen. Gewiß ist es richtig, das Bundesamt mit seinen 18 Außenstellen in die Lage zu versetzen, die in diesem Jahr zu erwartenden über 200 000 Asylbewerber rasch zu bescheiden; denn es kann niemanden gleichgültig lassen, wenn zur Jahresmitte fast 170 000 Asylbewerber noch nicht beschieden waren. Wenn sich aber das Personal des Bundesamtes in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht hat und wir dennoch immer wieder der Entwicklung hinterherhinken, so sind politische Lösungen gefragt.
Für die CDU/CSU-Fraktion begrüße ich es daher, daß der Bundesinnenminister nicht nachläßt, zu einem Konsens in der Zugangsproblematik zu kommen. Das würde uns auch die Arbeit erleichtern, und wir müßten nicht jede Mark zweimal herumdrehen. Da wir das sowieso nicht können, sondern immer direkt bei tausend anfangen, wird es immer etwas problematisch.
Herr Kollege Deres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Ja, bitte schön, Herr Kollege Hirsch.
Verehrter Herr Kollege, sind Ihnen auch die wirklich zahlreichen Fälle bekannt, in denen die Zustellungen ablehnender Entscheidungen des Bundesamtes, Zustellungen, die durch die Ausländerämter der Kommunen bewirkt werden müssen, sich monatelang verzögern, und zwar nicht weil der Asylbewerber etwa verschwunden wäre, sondern aus Personalmangel? Müssen wir nicht auch sagen, daß alle Verfahrensbeschleunigungen, auch alle personellen Verbesserungen beim Bund einfach nicht greifen, wenn an anderer Stelle diejenigen, die auch zuständig sind, nicht ebenso Konsequenzen ergreifen? Das ist wie bei einem Schlauch, auf dem einer steht.
Ich kann mir gut vorstellen, Herr Kollege Hirsch, daß sich da spiegelbildlich Probleme ergeben. Nur ziele ich in meiner Darstellung darauf ab, daß wir nicht jedes Jahr die Zahl der Planstellen und die Mittel erhöhen können und im letzten nicht die Problematik vom Tisch bekommen. Das ist unser Ziel als Haushälter.
Ein zweites Beispiel. Mit dem in der parlamentarischen Beratung befindlichen Gesetzentwurf über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes wird die erst seit einigen Monaten existierende Behörde des Sonderbeauftragten Gauck einer immensen Belastungsprobe ausgesetzt. Während die immerhin mit fast 1 000 Planstellen und Stellen ausgestattete Behörde bislang auf die Bearbeitung von rund 10 000 Auskunftsersuchen pro Monat angelegt war, rechnet Herr Gauck künftig mit bis zu 70 000 Anfragen pro Monat, wie das hier heute auch schon erwähnt wurde. Nach den Berechnungen des Bundesministers des Innern müßte die Gauck-Behörde in Berlin und ihren 14 Außenstellen für mehrere Jahre mit rund insgesamt 3 400 Mitarbeitern ausgestattet werden.
Ich möchte hier nicht den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf vorgreifen. Eines scheint mir aber klar zu sein: Ganz gleich, wie viele Stellen wir für den Sonderbeauftragten bewilligen und wie schnell sich der Sonderbeauftragte mit seinen Mitarbeitern auf den erwarteten Massenansturm einrichten kann, wir werden gerade unseren Mitbürgern in den neuen Ländern — das sollten wir jetzt in aller Offenheit sagen — in dieser Frage noch viel Geduld bei der Aufarbeitung dieser unseligen Hinterlassenschaft des DDR-Regimes abverlangen müssen. Das möchte ich aus der Sicht des Haushälters zu dieser Frage gesagt haben. Herr Gauck und seine Mitarbeiter können weder Stasi-Unrecht wiedergutmachen noch gar rächen. Seine Auskünfte haben genausowenig die Qualität moralischer Persilscheine. Es wird auf uns ankommen, den Argwohn allmählich abzulegen, Schuld zu bekennen und zu verzeihen. Das wäre der bessere Weg.
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Karl DeresDrittes Beispiel. Die Bundeszentrale für politische Bildung und das Bundesarchiv erfahren nach dem Regierungsentwurf erhebliche Verstärkungen. Die Mittel für die politische Bildungsarbeit werden gegenüber 1990 fast verdoppelt. Das Zusammenwachsen und das Verständnis der Menschen in den alten und neuen Ländern läßt sich gewiß mit den Mitteln der politischen Bildung und Öffentlichkeitsarbeit anregen. Um so schlimmer ist es aber, wenn gewisse Superzeitungsmacher meinen, mit billigen Vorurteilen ihre Auflagen in den neuen Ländern steigern zu können.Das Bundesarchiv soll um insgesamt 88 Planstellen und Stellen aus dem Ende dieses Jahres aufzulösenden Gesamtdeutschen Institut verstärkt werden. Ich hoffe, daß der dort vorgesehene Aufbaustab für ein Archiv der DDR möglichst bald die Verfügungsbefugnis über die Archive der SED erhält, damit die historische Wahrheit der 44 Jahre währenden kommunistischen Diktatur auf deutschem Boden lückenlos dokumentiert und erforscht werden kann.Viertens. Für den weiteren Aufbau der Verwaltungen in den neuen Ländern sind im Einzelplan 06 wieder insgesamt 250 Millionen DM an Personalkostenzuschüssen und für die Entsendung von Bundesbediensteten vorgesehen. Ich begrüße den Einsatz der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, der Fachhochschule des Bundes und des Bundesverwaltungsamts bei der Aus- und Fortbildung von Bediensteten der neuen Länder und Kommunen. Ich meine allerdings, daß dies kein Dauerzustand werden sollte und daß wir in absehbarer Zeit eine Erfolgskontrolle der verschiedenen Anreize vornehmen und dabei auch die weitere Steuerfreiheit der Aufwandsentschädigung für entsandte Bedienstete überprüfen sollten.Fünftens. Beim Bundeskriminalamt schlägt der Regierungsentwurf im Rahmen des mehrjährigen Konzepts zur Intensivierung der Bekämpfung von Rauschgiftkriminalität und organisierter Kriminalität eine weitere Verstärkung um 60 Mitarbeiter vor. Nachdem die Zahl der Drogentoten bei uns im ersten Halbjahr 1991 nochmals um über 50 % gestiegen ist und die Zahl der Erstkonsumenten z. B. von Heroin um weitere 30 % zugenommen hat, scheinen mir gegen Personalverstärkungen kaum Einwände möglich. Eines sollte aber klar sein: Wir hätten über den Haushalt das BKA — und zwar nahezu sämtliche Arbeitseinheiten — seit 1989 dann um 710 Planstellen und Stellen verstärkt.Jetzt müssen den Mitarbeitern des BKA und der Länder endlich wirksamere Ermittlungsmöglichkeiten gegenüber dem organisierten Verbrechen gegeben und der Zugriff auf Verbrechensgewinne und Geldwäsche ermöglicht werden. Der Bundesinnenminister und der Bundesjustizminister sollten sich für eine möglichst rasche Verabschiedung des jüngsten Bundesratsentwurfs einsetzen. Ich glaube, wir können im Haushaltsausschuß nicht auf Dauer eine Stellenvermehrung dieser Art jedes Jahr produzieren, ohne daß wir am Schluß Ergebnisse haben.Sechstens. Die substanzerhaltende Kulturförderung des Bundes für die neuen Länder soll nach dem Regierungsentwurf fortgeführt werden. Allerdingssollte sie ursprünglich von 900 Millionen DM auf 500 Millionen DM im Jahr 1992 zurückgeführt werden. Der Regierungsentwurf legt nun noch einmal 100 Millionen DM zu.Aus den neuen Ländern hören wir die dringende Forderung, den Bundeszuschuß zumindest auf der diesjährigen Höhe zu halten. Nun bin ich mir der Verpflichtung aus dem Einigungsvertrag zur Erhaltung der kulturellen Substanz sowie der Stärkung der kulturellen Infrastruktur in den neuen Ländern sehr wohl bewußt. Ich weiß, daß der Bund in diesem Jahr z. B. dort 150 Museen mit ca. 92 Millionen DM fördert und daß die dortige Theater- und Musiklandschaft bis heute nur dank des 900-Millionen-Programms überlebt.Föderalismus heißt auf kulturellem Gebiet aber aus gutem Grund Zuständigkeit der Länder und Kommunen.
Der Bund als der geldmächtige Kulturfinanzier, das kann nicht lange gutgehen, und das wollen wir nicht.Schon höre ich, wie sich in den Amtsstuben des BMI kluge und sicher wohlmeinende Beamte Gedanken darüber machen, daß etwa Mecklenburg-Vorpommern überproportional viel von dem Bundeszuschuß in seine Theater stecke, während z. B. Thüringen die Museen stark und die Musikschulen weniger mit Bundesgeld bediene; hier müsse der Bund doch bei der Zuschußgewährung eingreifen. So beginnt der Anfang vom Ende der Freiheit von Kunst und Kultur.Ich halte es deshalb im wohlverstandenen Interesse der neuen Länder und ihrer Bürger für sachgerecht, daß wir 1992 die Bundeszuschüsse auf 600 Millionen DM zurückfahren und 1993 ganz einstellen. Das ist für mich keineswegs eine rein fiskalische Frage. Vielmehr müssen sich die Länder, die Kommunen und nicht zuletzt die Bürger in den neuen Ländern zu ihrer Kultur, ihrem Theater, ihrem Orchester usw. bekennen und im vorhandenen Finanzrahmen Schwerpunkte setzen und selbstverständlich auch Strukturen bereinigen. Ich bin optimistisch, daß sich die Kultur in den neuen Ländern, soweit sie nicht eine künstliche von SED-Gnaden war, als lebens- und überlebensfähig erweisen wird.Siebentens. Wie für die Kultur, so halte ich für die Förderung des Sports das Prinzip der Subsidiarität gerade im vereinten Deutschland für ganz wesentlich. Für 1992 als olympisches Jahr halte ich es noch für vertretbar, den Hochleistungssport in den alten und den neuen Ländern mit etwa der gleichen Summe wie im vergangenen Jahr zu fördern. Der Sport und seine Spitzenverbände machen es sich aber zu einfach, wenn sie uns mit Blick auf die Besonderheiten in den neuen Ländern vorrechnen wollen, dies müsse sich bis auf kleinere Randkorrekturen im Jahr 1993 und in den Folgejahren so fortsetzen.
Kollege Deres, kommen Sie dann bitte zum Schluß.
Wir wollen gerade keinen Staatssport wie in der früheren DDR. Deswegen muß
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3106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Karl Deresder Anteil der Bundesförderung konsequent zurückgeführt werden. Der Anteil privater und kommunaler Förderung dagegen muß nachhaltig erhöht werden.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, für den vor wenigen Tagen verstorbenen, wohl von vielen Kollegen hochgeschätzten Pater Nell-Breuning, der heute schon einmal von Herrn Dr. Vogel zitiert wurde, waren Solidarität und Subsidiarität Grundprinzipien unserer Gesellschaft. Wir sollten uns bei den bevorstehenden Haushaltsverhandlungen an beiden orientieren.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen jährt sich zum zweitenmal der Gründungstag jener oppositionellen Bürgerbewegungen, die durch ihre Initialzündung den Weg zu Veränderungen in der DDR und damit zur deutschen Einheit ermöglicht haben. Wenn ich hier nun zur innenpolitischen Situation im vereinigten Deutschland zu sprechen habe, muß ich uns auch an den Zielen messen, die wir im Herbst 1989 gehabt haben.Die Wählerinnen und Wähler — ich sage das nicht ohne Bitterkeit — haben den Oppositionellen, Regimekritikern und Bürgerrechtlern des Herbstes 1989 nur einen bescheidenen Platz im Parlament des Jahres 1991 zugewiesen. Das entbindet mich allerdings auch von der Pflicht, die Aufzählung dessen auszuführen, was wir gemeinsam erreicht haben, und überträgt mir den Part, etwas von dem zu benennen, was uns gemeinsam Sorge machen sollte.Ich möchte zwei Dinge nennen. Zum einen ist das unser Umgang mit Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind; zum anderen ist das der politische Radikalismus. Der Linksradikalismus, meine Damen und Herren, ist in der alten Bundesrepublik seit langem nur noch ein Fetisch, der aber immerhin noch gut genug erscheint, um alle möglichen Anmaßungen des Staates zu begründen und zu entschuldigen. In Ostdeutschland hingegen hat er sich selbst durch 40jährige Mißherrschaft das Wasser endgültig abgegraben. Kommunisten, die gestern noch nicht einmal Lokführer sein durften, bevölkern heute die Bundeswehr, die Börse, die Beamtenstuben. Seit sich CDU und FDP frisches Blut aus den Ostparteien einverleibten, haben auch sie gestandene Linksradikale in ihren Reihen.Sollten wir den Verfassungsschutz, der dieses Land vor dem SED-Hausierer Schalck nicht schützen konnte oder wollte, nicht besser abschaffen? Das frage ich mich übrigens auch, wenn ich mir den soeben erschienenen Jahresbericht zum Verfassungsschutz anschaue. Das, was dort recherchiert wurde, kann man auch dem „Spiegel" überlassen; der macht es besser und billiger. Einen Satz wie den folgenden jedenfalls empfinde ich als eine Unverschämtheit: „Wegen des noch unvollständigen Informationsstandes" — so heißt es im Bericht über den Rechtsradikalismus auf Seite 47 — „können derzeit keine exakten Angaben über das Gewaltpotential neonationalsozialistischer Skinheads in Ostdeutschland gemacht werden."Dabei ist eben dieser Rechtsradikalismus eines der dringendsten Probleme in Ostdeutschland, das nur allzu augenfällig ist — und das nicht erst seit der Wende. Keine Woche vergeht, ohne daß schwere Ausschreitungen gemeldet werden. Der Tod unseres angolanischen Mitbürgers Antonio Amadeu, der im November 1990 in Eberswalde, einer Stadt in dem Gebiet, wo ich gewählt worden bin, von einer Gruppe von feigen Skinheads niedergeknüppelt und niedergetreten wurde, muß uns Mahnung sein, alles nur Mögliche zu tun, um den Rechtsradikalismus konsequent zu bekämpfen. In der Bevölkerung gibt es zunehmend eine stille Akzeptanz für rechte Brutalität. Es ist unerträglich zu wissen, daß in vielen Fällen die Polizei zugesehen und nicht eingegriffen hat. Wenn rechtsradikale Straftäter festgenommen werden, dann ist das zumeist nur vorübergehend.Ich weiß um die schwierige Situation der Polizei und der Gerichte in den östlichen Bundesländern. Doch ich frage hier auch die Ministerpräsidenten in Brandenburg und in Sachsen, ob sie wirklich die lasche Politik ihrer Innenminister gegenüber rechtsradikalen Verbrechern weiterhin decken wollen.Ich unterstütze nachdrücklich die Forderung des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, nach wirksamen polizeilichen Maßnahmen und schnellen Gerichtsverfahren, für die es doch hinreichend gesetzliche Grundlagen gibt.Bei all dem weiß ich natürlich, daß mit Verfassungsschutz, Polizei und Gerichten unsere freiheitliche demokratische Verfassung nicht wirklich geschützt werden kann. Politische Bildung, Sinngebung, soziale Sicherheit sind der wirksamere Verfassungsschutz. Um den Rechtsradikalismus dauernd und wirksam zu bekämpfen, muß man die Wurzeln des Übels freilegen. In Ostdeutschland gehören hierzu die durch und durch autoritären Strukturen des SED-Staates, der Sinnverlust vieler junger Menschen nach der Wende, die plötzlich erkennen mußten, daß ihre Eltern und Lehrer Heuchler und Lügner waren, die zwei Gesichter hatten: ein privates und ein sozialistisches. Die Ideale, mit denen sie aufwuchsen, erwiesen sich als trügerisch. Nicht zufällig kommen überdurchschnittlich viele Rechtsradikale aus Stasi- und SED-Familien. Sie haben sich dem zugewandt, mit dem sie der elterlichen und der staatlichen Autorität am meisten Schmerz zufügen. Sie waren dem Umbruch der DDR-Gesellschaft am wenigsten gewachsen. Sie waren mehr angepaßt und konnten sich nur in die Abhängigkeit von neuen Autoritäten flüchten. Sie sind in ihrem Sozialverhalten tief gestört, sind schwache Persönlichkeiten, die zur Selbstbestätigung die Anonymität der Masse brauchen. Einzeln sind sie hilflos, lebensuntüchtig und feige und leiden zugleich unter dem Gefühl der Minderwertigkeit.Dieser Befund trifft vermutlich auf viele junge Menschen in Ostdeutschland zu. Das zeigt, denke ich, daß sozialtherapeutische Maßnahmen dringend erforderlich sind. Rechtsradikalismus, auch der in den westlichen Bundesländern, ist ein sozialer Defekt. Eine wirkliche Veränderung kann es nur durch eine Veränderung des sozialen Umfeldes geben. Soziale Si-
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cherheit, ein Ausbildungs- und Arbeitsplatz, eine Perspektive für die persönliche Lebensplanung und Sinnfindung, das sind die besten Therapeutika. Dafür die Bedingungen zu schaffen ist die gemeinsame Aufgabe von Parlament und Regierung in Bund und Ländern.Dennoch: Wir werden uns damit abzufinden haben, nicht mehr alle jungen Menschen, die zum Rechtsradikalismus verführt sind, zu erreichen. Das gilt für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen. Um so wichtiger ist es, künftig die demokratische Kultur und Fähigkeit zur Toleranz möglichst breit und tief auszubilden, damit unser Gemeinwesen einen wirksamen Widerstand leisten kann. Wir werden auch nachzudenken haben, ob die Schwelle zur Akzeptanz von Gewalt in der Gesellschaft und in den Medien nicht zu niedrig geworden ist und dadurch in unverantwortlichem Maße zur Brutalisierung junger Menschen beiträgt.Besonders in den östlichen Bundesländern gibt es jenseits des politischen Rechtsradikalismus und der verübten Gewalt eine dumpfe, unreflektierte Ausländerfeindlichkeit, die gleichfalls das Erbe einer vierzigjährigen ideologischen Indoktrination ist. Die strikte Isolierung der DDR-Bürger und der verlogene Internationalismus haben dazu geführt, daß es politische Flüchtlinge, Asylbewerber und Ausländer schlechthin vielerorts in den östlichen Bundesländern schwer haben. Die schwierige wirtschaftliche Situation trägt das ihre zu dieser latenten Ausländerfeindlichkeit bei. Insgesamt — das zeigt auch die verworrene Asyldebatte dieses Sommers — ist die Ausländerpolitik in Deutschland in eine Sackgasse geraten. In vielen Ländern der Welt zerstören Kriege, Bürgerkriege und die Verfolgung ethnischer Minderheiten und politischer Gegner die Lebensgrundlagen von Menschen und vertreiben sie aus ihrer Heimat. Besonders im Süden der Welt nimmt die Verarmung von Bevölkerungsmehrheiten zu. Immer mehr Menschen sind zur Flucht über Grenzen gezwungen. Auch im Osten und Südosten Europas treiben Verfolgung, Nationalitätenkämpfe und Verarmung Menschen zur Flucht. Gleichzeitig errichten die Staaten des Nordens immer höhere Zugangsbarrieren. De facto ist das Recht auf Asyl in Deutschland längst unzulässig eingeschränkt.,
Prüfen wir uns ehrlich: Sind Freizügigkeit und offene Grenzen, gemessen an der Realität, nicht nur Schlagworte in unserer Selbstdarstellung? Die Vormachtstellung des Nordens beruht darauf, daß wir weitgehend für unser Kapital, unsere Waren und Dienstleistungen, auch für uns selbst weltweit Freizügigkeit durchsetzen konnten. Als es noch einen Ostblock und eine Systemauseinandersetzung gab, waren die Verweigerung von Freizügigkeit und die unmenschlichen Grenzen gerade Signale für die Notwendigkeit einer Demokratisierung. Inzwischen errichten wir selbst Hindernisse gegen Menschen, die in Würde leben wollen und deshalb auf Freizügigkeit hoffen.Die Politik der Abschottung und ihrer Rechtfertigung hat unmenschliche Konsequenzen, für jene, die von uns ausgewiesen werden, ebenso wie für die bereits Zugewanderten. Ihre Anwesenheit erscheint der einheimischen Bevölkerung oder zumindest Teilen von ihr bedenklich. Feindbilder, die leichtfertig gebraucht werden, treffen auch große Gruppen der Einwanderinnen und Einwanderer und vertiefen Gräben zwischen diesen und den Einheimischen. Wenn Fragen der Flucht und des Zugangs für Flüchtlinge nur noch als Sicherheitsfragen, als Fragen des Schutzes vor Drogen, Terrorismus und Kriminalität diskutiert werden, beeinflußt das auch die einheimische Bevölkerung. Ihre Möglichkeit zur Information wird ebenso begrenzt wie die einer vorurteilsfreien Begegnung mit den Zuwanderinnen und Zuwandern.Die Diskriminierung, der Ausländer bei uns ausgesetzt sind, beginnt bei der Sprache, beginnt bei diesem Wort „Ausländer". Die Definition von Menschengruppen, die in Deutschland leben, ist konstruiert und in sich widersprüchlich: Deutsche sind nicht nur Einheimische, sondern auch Angehörige fremder Staaten, deren Vorfahren vor einigen Generationen ausgewandert sind. Der Begriff „Ausländer" — ein Begriff, der Nichtzugehörigkeit signalisiert — bezeichnet Menschen, die oft seit 20 oder 30 Jahren in Deutschland leben und arbeiten, ebenso wie ihre Kinder, die vielleicht hier geboren sind.Der Begriff „Asylant" schließlich hat mittlerweile einen durchaus diskriminierenden Klang und assoziiert größere Fremdheit und weniger Mitgefühl als der Begriff „Flüchtling", den wir in anderen Ländern finden und der menschlicher ist.Das Ausländergesetz des Jahres 1991 ist — zusammen mit weiteren Rechtsbestimmungen — so geartet, daß bereits Zugewanderte ebenso wie ihre Kinder in einem Status minderen Rechts festgehalten werden. Gesichtspunkt für weitere Zuwanderung ist allein das Staatsinteresse. Gerade das seit Januar 1991 gültige neue Gesetz macht Aufenthaltsgenehmigung und -verfestigung von der Erfüllung zusätzlicher Bedingungen abhängig und schränkt so eine Realisierung von Rechtsansprüchen faktisch weitgehend ein. Entscheidungen über weiteren Zuzug außerhalb des Familiennachzugs aber auch über Ausweisung sind zentral dem Ermessen der Exekutive übertragen. Nur wenige können demnach die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben und damit einen Anspruch auf volle ökonomische, soziale und politische Partizipation dort, wo ihr Lebensmittelpunkt ist.
Wer in Deutschland leben will, ist also in der Regel gezwungen, eine individuelle politische Verfolgung nachzuweisen.Die Behauptung, das Boot sei voll, wird regelmäßig mit dem Hinweis verbunden, effektiver und humaner sei eine Bekämpfung der Fluchtursachen. Dabei stehen jedoch Quantität und Qualität bisheriger Vorschläge hierzu in einer lächerlichen Disproportion zum globalen Flüchtlingsproblem. Generell ist es unredlich, so zu tun, als könnte die Politik der isolierten Bekämpfung der Fluchtursachen Erfolg haben, wenn
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3108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Konrad Weiß
sie nicht von einem grundsätzlich neuen Weltwirtschaftskonzept gestützt wird, das mehr Gerechtigkeit zwischen der Welt des Nordens und der des Südens schafft.Die Alternative, meine Damen und Herren, ergibt sich aus der Kritik: Gefordert ist eine aktive Politik gegenüber Zuwanderinnen, Zuwanderern und Zugewanderten; eine Politik, die Verantwortung für mitverursachtes Leiden in der Welt übernimmt; eine Politik, die die Bevölkerung durch Information und Formulierung von Handlungsalternativen in den Willensprozeß einbezieht und die Parlamente, nicht die Exekutive zur Entscheidungsinstanz macht; eine Politik, die Rechtsgleichheit unter Menschen schafft, deren — aktueller — Lebensmittelpunkt in Deutschland liegt; eine Politik, die Vertreterinnen und Vertreter der Zugewanderten in den Entscheidungsprozeß einbezieht; eine Politik, die nicht verschweigt, daß die Bundesrepublik in den kommenden Jahren gezwungen sein wird, nicht weniger, sondern mehr Zuwanderinnen und Zuwanderer aufzunehmen; eine Politik, die klarmacht, daß jegliche Abschottungspolitik nur um den Preis militärischer Aktionen an der Grenze und einer wachsenden Zahl von Illegalisierten im Innern zu haben ist.Bekämpfung von Fluchtursachen bedeutet also politische Arbeit auf eine gerechtere Weltordnung hin. Eine solche langfristige globale Politik befreit uns aber nicht von der Pflicht, die Zuwanderung und den Status der Zuwanderinnen und Zuwanderer im eigenen Haus so bald wie möglich in transparenter und demokratischer Weise zu regeln.Hierzu schlagen wir vor: ein Einwanderungsgesetz, das die Rechtsstellung aller Zuwanderinnen und Zuwanderer und ihre Rechtsangleichung an die Einheimischen, die für eine Integration nötigen Leistungen des Staates ebenso wie Verfahren und Kriterien einer Einwanderung auf Antrag regelt; ein Flüchtlingsgesetz, das eine uneingeschränkte Einlösung des individuellen Menschenrechts auf Asyl nach Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes sichert und durch ein novelliertes Kontingentflüchtlingsgesetz die Aufnahme von Armutsflüchtlingen gewährleistet; schließlich Grundsätze einer Antidiskriminierungspolitik als Querschnittsaufgabe der gesamten Innenpolitik.Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE wird als ersten Schritt dem Hohen Hause in Kürze den Entwurf zu einem Einwanderungsgesetz vorlegen. Deutschland ist de facto seit langen Jahren ein Einwanderungsland.
Um das unveräußerliche, aus der Erfahrung der deutschen Geschichte geschaffene Rechtsgut, das Asyl, zu bewahren, halte ich die deutliche und das heißt auch die ausschließende Anwendung des Art. 16 Abs. 2 für dringend notwendig. Ein Einwanderungsgesetz soll deshalb den Zugang nach Deutschland für all jene regeln, die für sich Art. 16 Abs. 2 nicht beanspruchen dürfen. Zugleich soll das konzipierte Einwanderungsgeseiz die Lebensbedingungen für all jene Einwanderinnen und Einwanderer regeln, die schon in Deutschland leben.Die Mehrheit in der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE ist sich darin einig, daß ein solches Gesetz nicht auf eine Quotierung verzichten kann. Eine Quotierung gilt selbstverständlich nicht — das muß ich betonen — für jene, die als Verfolgte nach Deutschland kommen und sich begründet um Asyl bewerben. Es ist uns bewußt, daß die Zulassung eines Menschen nach bestimmten Kriterien und damit auch die Zurückweisung anderer nur in eingeschränktem Sinne als „gerecht" bezeichnet werden kann. Doch nur mit derartigen Regelungen sind die Ziele — Öffnung der Grenzen, staatlich verantwortete Planung und Rechtssicherheit bei Integrationsleistungen — miteinander vereinbar.Die von uns vorgeschlagene Politik soll zur Öffnung unseres Landes beitragen. Wir wollen eine offene Bundesrepublik. Wir laden Sie ein, meine Damen und Herren, mit uns gemeinsam an Alternativen zum Status quo in der Ausländerpolitik zu arbeiten und mit uns gemeinsam das vorgeschlagene Gesetz einzubringen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Hans de With.
Herr Minister Kinkel, gestatten Sie, daß ich die den Sozialdemokraten verbliebene Zeit nutze, gewissermaßen in Form einer Kurzintervention auf Ihre Ausführungen zu antworten.Wir Sozialdemokraten unterstreichen mit großem Nachdruck, was Sie zum SED-Unrechtsstaat gesagt haben. Wir unterstreichen die Notwendigkeit des Aufbaus eines Rechtsstaates. Wobei einige lange Zeit gebraucht haben, um zu begreifen, daß ein Rechtsstaat notwendig ist, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wir haben Ihnen unsere Unterstützung zugesagt. Wir haben auch einen Forderungskatalog vorgelegt, um Ihnen etwas an die Hand zu geben.Nur: Dabei gibt es eine profane Kritik, die vielleicht nicht so sehr Sie in Person trifft, die aber angebracht werden muß. Auf Grund der Zuschriften und der Beschwernisse, die ich erhalten habe, gibt es Hunderte von Bewerbungen von tüchtigen jungen Staatsanwälten und Richtern, auch von selbstlosen Pensionären.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3109
Ich darf Sie um Ihr Einverständnis bitten, daß die Rede des Kollegen Michael von Schmude zu Protokoll gegeben wird. — Dagegen gibt es keinen Widerspruch.* )
Ich erteile nun dem Kollegen Dr. Heuer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Osten Deutschlands vollzieht sich gegenwärtig ein sehr komplizierter Prozeß. Massenarbeitslosigkeit mit hohem Frauenanteil, Abwicklung, Berufsverbote bestimmen das Schicksal von Millionen. Mit ungeheurer Geschwindigkeit verändert sich das Leben, sicherlich für viele zum Besseren, aber für viele auch zum Schlechteren, jedenfalls völlig Ungewohnten. Viele verlieren mit der Arbeit den Lebensinhalt. Der Bundesjustizminister sprach heute vom „Elitenwechsel" .Die Verantwortung für diesen Prozeß ist in diesem Haus heftig umstritten. Teilweise wird das immer noch von der Situation in der DDR abgeleitet, von ihrem Wirtschaftssystem, ihrer unstreitigen weitgehenden internationalen Isolierung — mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen — , auch von gravierenden Fehlentscheidungen ihrer Führung. Dennoch sind wir uns sicher einig, daß wir heute von unserer Verantwortung, von der Verantwortung der Bundesregierung, für diese Prozesse ausgehen müssen.Ich möchte zu einer Frage sprechen, die ich für sehr gewichtig für die richtige Bewältigung dieser Probleme halte, nämlich der moralisch-ideellen Begleitmusik der Strukturzerschlagung und der Entlassung in die Arbeitslosigkeit. Je mehr Arbeitslose es gibt, je mehr Professoren, Künstler, Lehrer, Ärzte, Leiter und Ingenieure entlassen werden, desto lauter werden die Stimmen, die sie alle zu Akademikern zweiter Klasse erklären und so den Elitenwechsel legitimieren.Wenn das Forschungs- und Entwicklungspotential im Osten in zwei Jahren von 132 000 auf 52 000 Personen zusammenschrumpfen soll, wenn allein an OstBerliner Hochschulen von 7 000 dort Beschäftigten 3 500 im Haushalt nicht mehr berücksichtigt werden, wenn die Institute der ehemaligen Akademie der Wissenschaften nach Empfehlung des Wissenschaftsrates von 19 000 auf 7 000 bis 10 000 heruntergefahren werden, wenn mit 20 000 arbeitslosen Wissenschaftlern allein in Ost-Berlin gerechnet wird, dann muß Herr Wurlitzer eben schreiben: Was ist aus den Gesellschaftswissenschaften geworden? Denn sie gibt es nicht mehr. Das Hochschulwesen hätte nicht die Kraft zur Erneuerung, speziell nicht in Leipzig als der ehemaligen Hochburg der stalinistischen Erziehung.* Anlage 2In Berlin gibt es drei Universitäten; eine soll verschwinden. Herr Arnulf Baring bewirbt sich mit der Forderung auf „Konzentration aller ernsthaften wissenschaftlichen Kräfte an einer leistungsfähigen freien Universität". „Die notwendigen Grausamkeiten", so die Überschrift eines Artikels von Herrn Bräutigam in der „Zeit" vom 28. Juni 1991, werden immer mit dem gleichen Schema begründet: mehr oder weniger schuldhafte Verstrickung mit dem alten politischen System, fachwissenschaftliche Zweitrangigkeit und schließlich — wenn alles nicht hilft — Geldmangel.Der erste Versuch war die Abwicklung. Als das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dem teilweise einen Riegel vorschob, wurden Bewerbungen verlangt; schließlich gab es dann ungenügend Geld. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Professor Simon, klagte nach getaner Arbeit: „Wir müssen Übergangslösungen schaffen und dabei die Leute drüben bei Laune halten. Der Wissenschaftsrat hat mit Abschluß der Evaluation seine Schuldigkeit getan ... Jetzt müssen die Politiker handeln ... Wenn sie versagen, dann sind wir rasch auf dem Weg zur wissenschaftlichen Bananenrepublik. " Dann liefen die Forscher fort „ — natürlich nicht der Altphilologe, der bleibt in Dresden oder in Leipzig, und wenn nichts für ihn getan wird, verhungert er halt. Aber der Informatiker oder der Biochemiker ..."Bei den Museen wird ein Konzept entwickelt, das das gesamte historisch gewachsene System zerstört. Auf der Ost-Berliner Museumsinsel sollen die archäologischen Sammlungen konzentriert werden. Das „Handelsblatt" vom 1. Februar 1991 sprach in diesem Zusammenhang von einer „gewissen KolonialherrenMentalität der Neuordner". Der Verteidiger des Konzepts hält dem natürlich Hoffnungen entgegen, nun würde auch hier — eben bei den Museen — mit den Vertretern des Honecker-Regimes abgerechnet.Es gibt in Berlin — noch — zwei Akademien der Künste: die eine 1950 unter Präsidentschaft von Arnold Zweig gegründet; die andere entstand als bewußte Gegengründung 1954. Die Ost-Berliner Akademie und ihre Zeitschrift „Sinn und Form" standen im Westen jahrzehntelang für Systemkritik in der DDR.Jetzt erklärt Walter Jens, Präsident der West-Berliner Akademie, seit 1986 auch korrespondierendes Mitglied der Ost-Berliner Konkurrenz: „Wir können unserem Mitglied Günter Kunert nicht zumuten, plötzlich neben einem alten SED-Hasen zu sitzen, der sich mit seinem Nachbarn über glorreiche Zeiten unterhält, als er bei Erich persönlich anrief".
„Von außen mußte es so aussehen", schrieb Zimmer in der „Zeit", Nr. 36/91, dazu, „als sei die Akademie im Westen nur scharf darauf, sich die wertvollen Sammlungen der Akademie Ost anzueignen".
Im Rundfunk läuft es nicht anders. Der Deutschland-Sender „Kultur" hat versucht, dem Regime
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3110 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Uwe-Jens HeuerHerrn Mühlfenzls zu widerstehen. Herr Mühlfenzl beorderte die Chefredakteure zu sich, erklärte ihnen, daß sie die Ghostwriter Eduard von Schnitzlers gewesen seien und ging wieder. Übrig bleibt jetzt eine Bitte der Regierungschefs der Länder an das ZDF, Mitarbeiter des Senders in Form von Einzelverträgen zu übernehmen.Nach dem Staatsvertrag, Artikel 38, sollte die Entscheidung darüber, wie die Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften fortgeführt wird, landesrechtlich getroffen werden. Trotz dieser eindeutigen Regelung hat der Senat von Berlin ein Gutachten von Herrn Werner Thieme aus Hamburg erbeten, das diese Gelehrtensozietät dadurch aus dem Weg räumen will, daß die alte preußische Akademie durch Senatsbeschluß wiederbelebt wird. — Heinemann, „Die Zeit", 30. August. — Dabei hat diese Akademie unzweifelhaft seit 1946 keine Mitglieder gehabt — ein für eine Körperschaft doch wohl wichtiges Faktum —, und niemand hat sich um sie gekümmert. Der Westberliner Senat hat 1955 einen Rechtsanwalt als Notvertreter zum Erteilen von Löschungsbewilligungen bestellt.In die Akademie sollen jetzt der Daimler-Chef Edzard Reuter und Markus Bierich von Bosch. Nichts, was einmal mit dem Kainszeichen „DDR" versehen war, darf nach den Worten des Präsidenten, Horst Klinkmann, das Reinheitsgebot politischen Vordenkens für wissenschaftliche Strukturen der größer gewordenen Bundesrepublik stören.
Preußische Leichen werden nicht nur nach Potsdam, sondern auch in die Berliner Otto-Nuschke-Straße überführt, ja sogar zum Leben erweckt.Professor Dieter Simon hatte keinen Zweifel an der ganz hervorragenden Qualität der medizinischen Forschung in der DDR gelassen. Aber auch hier wird jetzt aufgeräumt. Von einem Virus namens Angst sprach das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt" vom 23. August in bezug auf die traditionsreiche Charité in Ostberlin.
In den letzten Wochen, als die Überlegungen des Berliner Senats bekannt wurden, nur zwei der drei Universitätskliniken in der Bundeshauptstadt zu erhalten, lief eine Medienkampagne mit unverkennbaren Zügen einer Hexenjagd gegen die Charité. CharitéÄrzte, so konnten wir lesen, waren ideologisch belastet, Stasi-Spitzel, in schmutzige Geschäfte mit westdeutschen Pharmakonzernen verwickelt, dopten junge Sportlerinnen mit männlichen Hormonen.
Die „Bild"-Zeitung schrieb: Im Dienste der Stasi schnitten sie die Herzen gesunder Regimegegner heraus und pflanzten die Organe alternden Stasi-Bonzen ein. — Bei näherem Hinsehen dann: ein einziges gigantisches Gewebe von Lügen und Verdrehungen. Aber etwas bleibt immer hängen. Entscheidend sind die Wirkungen.Heute lese ich, daß Heide Simonis, Kieler Finanzminister,
die Nichtanerkennung von Dienstjahren im DDR-Gesundheitswesen mit der Verflechtung dieses Gesundheitswesens mit der Stasi begründete.Meine Damen und Herren, das alles ist nicht nur weltanschaulich bedingt, ist nicht nur ein Akt konservativer Revanche;
es ist in vielem auch einfacher Konkurrenz- und Verteilungskampf. Das gesamtdeutsche Wissenschafts- und Kulturboot ist übervoll, und die Ossis sollen über Bord gehen.Gerade deshalb ist politische Vernunft anzumahnen. Eine Voraussetzung vernünftiger, humaner Entscheidungen ist der Abbruch der unterschiedslosen — der unterschiedslosen! — moralischen Abwertung, ja Zerstörung, an der journalistische Verantwortungslosigkeit einen wesentlichen Anteil hat.Begonnen hat dieser Prozeß mit der Kampagne gegen Christa Wolf, wie sie Mitte vorigen Jahres in „Welt", „Spiegel" , „Bild" und „Zeit" geführt wurde. Es verlief immer nach demselben Schema: Aufdekkung von MfS-Beziehungen, Auflösung marxistischleninistischer Einrichtungen und schließlich der Kahlschlag. „Wer wird sich heute noch an der Charité operieren lassen?" fragte „Die Welt" . Es ist eigentlich nicht mehr von Bedeutung, was die Justiz später entscheidet, wenn der Rufmord bereits erfolgt ist.
Die Medien sind bereits das Gericht.Die Freude über den Sieg sollte aber nicht den Blick für neues Unrecht trüben. Eine Entwürdigung Hunderttausender kann kein Weg für ein Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands sein. Man kann nicht einer ganzen Generation deutscher Intellektueller als einzige Alternative bieten, Wendehals oder unbelehrbarer Dogmatiker zu sein. Bestrafung von Unrecht — jawohl, aber gerechte Beurteilung dieser Zeit, gerechte Beurteilung unserer Arbeit, unseres Lebens können allein eine Bereicherung Deutschlands durch das Erbe, das Erbe beider Teile, gewährleisten.
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Conrad Schroeder.
Frau Präsidentin! Verehrte liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Matthäus-Maier gestern und Herr Engholm heute morgen haben herbe Kritik an der Wohnungsbaupolitik der Bundesregierung geübt. Sie befanden sich, wie auch in vielen anderen Fragen, in einer
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Dr. Conrad Schroeder
Schieflage. Hier muß nun eine deutliche Korrektur angebracht werden.
Der Haushalt des Ministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau garantiert auch in einer Zeit enger öffentlicher Kassen, daß Engpässe und Mängel in der Wohnraumversorgung und Probleme der Mietentwicklung in den westlichen und östlichen Bundesländern energisch und erfolgreich gelöst werden können.Während für den Gesamthaushalt eine Steigerung der Ausgaben um 3 % vorgesehen ist, soll der Einzelplan 25 des Bauministeriums um sage und schreibe 7,2 % auf ein Volumen von 8,7 Milliarden DM steigen. Der hohe Stellenwert der Wohnungspolitik innerhalb des Gesamthaushaltes wird hieraus deutlich. Wir sind der Bundesregierung sehr dankbar dafür.
In den westlichen Bundesländern, insbesondere in den Ballungsgebieten und neuerdings auch in den Mittelstädten und in den Universitätsstädten, fehlt infolge einer starken Zuwanderung und eines geänderten Wohnverhaltens Wohnraum. Aufgrund der guten Einkommenslage ist heute die persönliche Wohnfläche auf immerhin 37 Quadratmeter gestiegen. Die große Zahl von Singlehaushalten in Universitätsstädten und in vielen Ballungsgebieten — immerhin 50 % — kommt hier noch hinzu.Ich möchte auch auf das Asylantenproblem hinweisen. Das bringt unsere Städte zusätzlich in große Schwierigkeiten. Der Herr Bundeskanzler hat heute schon darauf hingewiesen, daß die SPD-Bürgermeister und -Gemeinderäte zwar vor Ort darüber reden, daß die Asylantenpraxis und der Mißbrauch so nicht hingenommen werden können, hier aber schweigt die SPD leider zu diesem Problem.
257 000 fertiggestellte Wohnungen im Jahre 1990, 400 000 Baugenehmigungen zeigen, daß das hochgesteckte Ziel von 1 000 000 neuen Wohnungen in den westlichen Bundesländern nicht zu hoch gegriffen und durchaus realistisch ist. Der unverändert hohe Verpflichtungsrahmen für den sozialen Wohnungsbau von 2,76 Milliarden DM sichert das Fundament für eine Verstetigung im Sozialen Wohnungsbau.Einige Sätze nun zu den neuen Bundesländern, wo sich die Situation völlig anders darstellt. Von den 7 000 000 Wohnungen weisen dort 25 % schwerste Bauschäden auf, 20 % müssen überhaupt als nicht mehr bewohnbar bezeichnet werden. Der zunehmende Verfall der Bausubstanz verlangt eine schnelle und umfassende Sanierung, Modernisierung und Instandsetzung.Der Bundeskanzler hat den Menschen in den neuen Bundesländern ein blühendes Land und eine gute Städtebau- und Wohnungspolitik versprochen. Abgesichert durch den Haushalt, wird die Regierung das ihre dazu tun, daß diese Ankündigung bald, in wenigen Jahren, realisiert werden wird.
Ein umfassendes Städtebau- und Wohnungsprogramm hat beim Aufbau der neuen Bundesländer eine Schlüsselrolle. Wenn Prioritäten gesetzt werden müssen, dann muß natürlich auch eine Umschichtung erfolgen; im Bereich der Städtebauförderung geschieht das.Ich verstehe, daß Bürgermeister in den westlichen Bundesländern etwas traurig darüber sind, daß sie in den nächsten Jahren vielleicht nicht mehr zusätzliche schöne Brunnen in der Fußgängerzone, mit Bundesmitteln finanziert, einweihen können. Es ist auch, wie manche Kollegen sagen, in den letzten Jahren mit Städtebauförderungsmitteln mancher Schnickschnack getätigt worden.Ich jedenfalls meine, daß im Zeichen der Solidarität, angesichts des Zustandes der Bausubstanz in den östlichen Bundesländern, eine Umschichtung gerade bei den Städtebauförderungsmitteln ein Ausdruck sichtbarer Solidarität mit den Menschen in den neuen Bundesländern ist.
Für Wohnungsbau, Modernisierung und Instandhaltung in den neuen Bundesländern sind für das kommende Jahr 1 Milliarde DM an Finanzhilfen aus dem Bundeshaushalt vorgesehen. Hinzu kommen 900 Millionen DM aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein besonderes Markenzeichen und das Kernstück der sozialen Wohnungs- und Mietenpolitik ist das Bundeswohngeld.
Im Bundeshaushalt sind für das nächste Jahr 4 Milliarden DM veranschlagt. Davon entfallen 2,5 Milliarden DM auf die alten Bundesländer und 1,5 Milliarden DM auf die neuen Bundesländer. Zusammen mit den Länderanteilen ergibt das 7,7 Milliarden DM. Ich bitte Sie, das Frau Matthäus-Maier und auch dem Herrn Ministerpräsidenten Engholm zu berichten. Was hier an sozialer Abfederung im Bundeshaushalt erfolgt, das kann sich wirklich sehen lassen.
Mit einem Wohngeldsondergesetz helfen wir unbürokratisch und mit zusätzlichen Leistungen gerade den Menschen in den neuen Bundesländern.Die Bundeshilfen für den Wohnungsbau in den neuen Bundesländern haben dazu beigetragen, daß auch die Bauwirtschaft dort bereits einen zielstrebigen Aufschwung hat. Im Handwerk wird berichtet, daß der Aufschwung Ost bereits gegriffen hat.
Vielerorts wird beklagt, daß Bauland fehlt. — Hier hat der Bund nun in besonders wertvoller Weise bei der Beseitigung von Defiziten geholfen. Die neuesten Richtlinien, um die wir, Herr Staatssekretär Carstens, im Haushaltsausschuß gekämpft haben, sind in der
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3112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991
Dr. Conrad Schroeder
Zwischenzeit das Feinste vom Feinen. Für meine Fraktion möchte ich der Bundesregierung ein besonderes Dankeschön dafür sagen, daß es nun möglich geworden ist, freiwerdende Militärgrundstücke den Gemeinden für den sozialen Wohnungsbau und für den studentischen Wohnungsbau — das spielt in meiner Heimatstadt Freiburg wie auch in vielen anderen Universitätsstädten eine zentrale Rolle — mit einem Rabatt von 50 % zu überlassen. Das sind mehr als leere Worte, das ist eine echte Hilfe vor Ort für unsere Gemeinden.
Die Städtebau- und Wohnungspolitik der Bundesregierung leistet damit auf breiter Front einen hervorragenden Beitrag für den Aufschwung Ost und ist auch auf dem richtigen Wege beim zügigen Abbau des Wohnungsdefizits in den alten Bundesländern. Ich meine, daß die Sprecher der SPD mit ihrer Kritik hier leider auf dem Holzweg waren.
Meine Herren, nicht alle auf einmal! Einer nach dem anderen!
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. — Es kommt ja jetzt auch bei der Schlußrede die Lampe, wie wir alle das kennen.
Vorhin ist durch einen Zuruf bereits laut geworden, daß ich im nächsten Monat in das Amt des Regierungspräsidenten in meiner Heimatstadt Freiburg berufen werde.
— Vielen Dank für diese Glückwünsche. — Ich möchte deshalb die Gelegenheit wahrnehmen, mich insbesondere bei meinen Mitberichterstattern in allen Fraktionen zu den verschiedenen Einzelplänen, Bauhaushalt, Bundesrechnungshof, EG-Titel, Bundesverfassungsbericht, ganz herzlich zu bedanken. Mein Dank gilt insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß.
— Auch die Einladung des Haushaltsausschusses nach Freiburg steht.
Da ich lange im Finanzausschuß tätig war, bedanke ich mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen in diesem Ausschuß für die langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Ich möchte mich auch bei den Häusern und den Ministern bedanken, mit denen ich auf Grund der Berichterstattung, aber auch außerhalb der Berichterstattung zu tun hatte, so dem Bundesfinanzministerium, hier vertreten durch den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Manfred Carstens. Ich sehe hier Herrn Professor Töpfer. Als Regierungspräsident werde ich nicht nur mit Wohnungsbau-, sondern auch mit Umweltfragen zu tun haben, wenn ich nur an Kehl und an die Sondermülldeponie denke, Herr Kollege Schäfer.
Ich möchte mich sehr herzlich für eine gute Zusammenarbeit mit meiner Fraktion, aber auch mit vielen Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen bedanken. Ich werde mich gern und dankbar an die gemeinsame Arbeit in diesem Hohen Haus erinnern.
Vielen Dank.
Dann wünsche ich Ihnen im Namen des Hauses viel Erfolg in Ihrem neuen Amt und rufe den Abgeordneten Schäfer auf.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schroeder, ich persönlich, aber auch für die Fraktion, wünsche Ihnen in Ihrem neuen verantwortungsvollen Amt alles Gute. Wir sind, wie Sie wissen, Nachbarn: Offenburg und Freiburg leben in der gemeinsamen Region SüdBaden. Es ist schon ganz gut, wenn Sie von Anfang an, wie Sie angedeutet haben, in Ihr Amt die Notwendigkeit einer auch bei uns ökologisch orientierten, grenzüberschreitenden Planung einbeziehen.Ich will hier, da wir gleichsam unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagen, zu Beginn ein kleines Geheimnis verraten, ein Geheimnis, unter dem Sie, wie ich weiß, zunächst gelitten hatten. — Kaum war er neu im Deutschen Bundestag, ist er von Kollegen meiner Fraktion stets, vor allem von hinten, als der Kollege Harald B. Schäfer angesprochen worden. Er ist jedesmal zusammengezuckt, weil ihm das doch zu weit ging. Er hat sich im Laufe der Zeit an die Verwechslung gut gewöhnt, und es ist für ihn immer mehr zur Auszeichnung geworden. Deswegen wollte ich Ihnen auch von daher alles Gute wünschen. Ich hoffe, daß Sie in Ihrem neuen Amt, zumindest was die politischen Inhalte angeht, gelegentlich weiterhin mit mir verwechselt werden, weil die Umwelt dann in guten Händen wäre.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den 90er Jahren steht die deutsche, aber auch die europäische Politik vor einer doppelten Herausforderung: Sie muß auf der einen
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Harald B. Schäfer
Seite die Länder Ost- und Mitteleuropas politisch und wirtschaftlich integrieren; auf der anderen Seite muß sie das marktwirtschaftliche System selber grundlegend ökologisch reformieren. Denn einerseits setzt sich — wir erleben das in den letzten Monaten in einem atemberaubendem Tempo — die Soziale Marktwirtschaft als das humanere, als das leistungsfähigere System durch. Andererseits wächst aber zunehmend die Erkenntnis, daß unsere Art zu produzieren und zu konsumieren, also unser Wirtschafts- und Wohlstandssystem, nicht auf die übrige Welt übertragbar ist. Wir leben also nicht in der besten aller denkbaren Welten. Auch wir in den westlichen Industrienationen müssen unser System grundlegend ökologisieren.Unsere Energieverschwendung, unser Rohstoffverbrauch, unsere Umweltverschmutzung, pro Kopf auf die Weltbevölkerung übertragen, würde nämlich — darüber besteht bei Fachkennern überhaupt kein Dissens und überhaupt keine unterschiedliche Bewertung — zum ökologischen Zusammenbruch unseres Planeten führen.Um ein Beispiel zu nennen: Würden wir z. B. den Motorisierungsgrad der Bundesrepublik Deutschland auf die derzeitige Weltbevölkerung übertragen, würde sich der Bestand an Personenkraftwagen von heute 400 Millionen weltweit auf rund 2,5 Milliarden versechsfachen.Wenn eine solche Entwicklung bei konstantem Energieverbrauch, bei konstanter technischer Ausstattung und bei konstanter Umweltbelastung erfolgte, müßte der durchschnittliche Verbrauch eines Autos um rund 85 % abgesenkt werden, d. h. von heute rund 101 pro 100 km auf 1,51 pro 100 km, wenn man die Umweltbelastung konstant halten wollte. Wir wissen aber, daß selbst bei konstanter Umweltbelastung eine Versechsfachung des heutigen Pkw-Umfangs beinahe wenn nicht direkt zum ökologischen Kollaps führen würde.Eine ökologische Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft ist darum in Wirklichkeit unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß sie sich weltweit erfolgreich durchsetzen kann. Mehr noch, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Eine ökologische Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft ist auch Voraussetzung für das Überleben der Menschheit.Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, wenn wir wegen der schwierigen und kostspieligen Aufgaben, die soziale und wirtschaftliche Einheit Deutschlands zu gestalten sowie den Wiederaufbau und die Integration Europas zu fördern, die ökologische Erneuerung zu einem nachrangigen Ziel der deutschen, der europäischen und der internationalen Politik erklären würden. Das neue Deutschland und das neue Europa werden nur als ökologisch-soziale Marktwirtschaft eine Zukunft haben. Wir dürfen die dringend notwendigen umweltpolitischen Aufgaben, die schnelle weitere Verringerung des Energieverbrauchs sowie die Förderung von umweltverträglichen Produkten und Produktionsverfahren weder verdrängen noch verschieben.Fast 20 Jahre auf den Tag genau nach der Veröffentlichung des ersten Berichtes des Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums" , am 18. September 1971 hat die Frage, wie wir die natürlichen Ressourcen langfristig schonen, erhalten und ihre Nutzung gerecht verteilen können, nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil: Sie stellt sich angesichts der drohenden Klimakatastrophe eher noch nachdrücklicher als zu Beginn der siebziger Jahre.Auch die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juli 1992 in Rio de Janeiro wird zeigen, welch gewaltige Aufgaben, welch gewaltige Anforderungen auf die Industrienationen zukommen. Wir, die Industrienationen, müssen nämlich unsere Anstrengungen erheblich verstärken, weniger energieintensiv und viel umweltverträglicher zu produzieren, als es gegenwärtig der Fall ist. Wir müssen den weniger entwickelten Ländern mit Geld und Wissen helfen, ihre wirtschaftliche Entwicklung umweltverträglich zu gestalten. Es sind nicht die Entwicklungsländer, von denen die großen Klimagefahren ausgehen. Wir, die Industrieländer, sind es, die 80 % der Schadstoffe ausstoßen und damit die Klimakatastrophe anheizen.Leider sind und — soweit gegenwärtig erkennbar — bleiben die Weichen bei uns falsch gestellt. Die Bundesregierung hat keines ihrer ohnehin bescheidenen ökologischen Reformprojekte vorangebracht. Der Umweltschutz droht bei uns gegenwärtig buchstäblich unter die Räder zu geraten. Die unsolide Finanzpolitik läßt den Spielraum für dringend notwendige Reformen angeblich schrumpfen. Die Bundesregierung hat vor den letzten Bundestagswahlen den Bürgern eine heile Welt vorgegaukelt. Jetzt fehlt ihr der Mut, zu sagen, daß nicht nur für die deutsche Einheit, sondern auch für die Erhaltung und für die Wiedergewinnung von Natur und Umwelt Opfer nötig sind.
Der finanzpolitische Sprecher Ihrer Fraktion — Faltlhauser heißt er — hat für die CDU/CSU bereits erklärt, daß er die CO2-Abgabe und auch andere Umweltabgaben ablehne. Die CDU/CSU gegen eine CO2-Abgabe! Die Koalitionsvereinbarung ist offenbar das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.Die Entscheidung der Bundesregierung vom November 1990, die CO2-Emissionen, den Ausstoß von Kohlendioxid, bis zum Jahre 2005 im Vergleich zum Basisjahr 1987 um 25 % zu reduzieren, ist ein richtiger Schritt. Wir haben ihn damals begrüßt. Es bleibt auch ein richtiger Schritt. Aber, so müssen wir fragen, wo bleiben ein Jahr später die konkreten Maßnahmen?Seit dem Bezugsjahr 1987 sind bereits vier Jahre vergangen, in denen de facto nichts gegen die drohenden Klimagefahren geschehen ist, in denen de facto nichts umgesetzt, eingeleitet und durchgesetzt worden ist, um das Ziel, bis zum Jahre 2005 die klimaschädlichen CO2-Emissionen um 25 % zu reduzieren, zu erreichen.Selbst wenn Sie sich jetzt, lieber Herr Schmidbauer und werter Herr Töpfer, zu Sofortmaßnahmen durchringen könnten, würden mindestens vier weitere Jahre vergehen, ehe die Maßnahmen wirksam wer-
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Harald B. Schäfer
den könnten. In dieser Zeit steigen Energieverbrauch und Kohlendioxidemissionen weiter an.Wundert es Sie da eigentlich noch, daß Ihnen niemand mehr im Lande und — was noch schlimmer ist, wie ich auf Grund von vielen Gesprächen auch mit Kollegen von Ihnen, Herr Töpfer, erfahren mußte — niemand international mehr glaubt, daß die Bundesrepublik das 25-%-Ziel bis zum Jahre 2005 auch tatsächlich erreichen wird?Wann legen Sie endlich die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes vor, wann endlich eine anspruchsvollere Wärmeschutzverordnung? Warum entschließen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sich nicht zu einem Crashprogramm zur Förderung von Energieeinsparung, von rationeller Energieverwendung und von erneuerbaren Energiequellen? Das sind Maßnahmen, die gerade in den neuen Ländern gleichzeitig die Natur entlasten, das Baugewerbe ankurbeln und der Umwelt zu ihrem Recht verhelfen würden sowie zudem noch jede Menge Arbeitsplätze schaffen würden.
— Wenn Sie es mir nicht glauben, lesen Sie den Bericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre". Dort können Sie das genauso klug finden, wie eben formuliert.Wo bleibt — der Verkehrsminister ist nicht da, was auch typisch ist — Ihr Konzept gegen die ab 1992 drohende Verkehrslawine und die damit verbundenen Umweltbelastungen? Die Antwort kann doch im Ernst nicht darin liegen, daß wir weitermachen wie bisher und vorrangig in den Bau von neuen Straßen investieren wollen, wie es Herr Krause vorhat. Darum sollte sich der Verkehrsminister Krause kümmern, nicht um das dumme Gequatsche von Herrn Rühe. Das ist seine eigentliche Aufgabe.
Ich frage Sie: Haben Sie wirklich den Ernst der Umweltbedrohung erkannt, wenn Sie sich gleichzeitig soviel Zeit mit längst überfälligen Maßnahmen lassen? Ist so viel kleinkarierter Streit darüber innerhalb der Bundesregierung nicht gerade erschreckend angesichts der Dimension des Problems?Eines der größten Investitionshemmnisse und drängendsten Probleme in den neuen Bundesländern bleibt nach wie vor die Altlastensanierung. Wenn ich mir die Papiere aus Ihrem Hause vorhalte und sie kritisch bewerte, dann kann ich nur sagen, Herr Töpfer, da kann man zu 90 % zustimmen. Freilich frage ich: Wo ist das umfassende Konzept zur Altlastensanierung? Wo ist das Konzept? Ich habe mir Ihren Haushalt daraufhin kritisch angeschaut. Wo ist das Konzept zur Sanierung der schwierigen militärischen Altflächen?Sie, Herr Töpfer, haben zur Finanzierung der Altlastenregelung eine Abfallabgabe angekündigt. Diesen Ansatz unterstützen wir grundlegend. Er ist, was die Sonderabfallabgabe angeht, aus unserem Programm „Fortschritt 90" in das Regierungsprogramm übernommen worden. Das können wir nur gutheißen. Aber wo bleibt der bereits für März angekündigte Gesetzentwurf? Er sollte schon lange diesem Parlament vorgelegt sein. Ehe also aus dieser Abgabe Mittel für die Altlastensanierung fließen, werden noch einige Jahre ins Land gehen.Wenn Sie nicht mehr den Mut haben — nicht Sie, Herr Töpfer; den Mut haben Sie vielleicht, aber an der Durchsetzungskraft mangelt es —, wenn Sie von der Koalition nicht mehr den Mut haben, die Abgabe einzuführen, dann sagen Sie es wenigstens, damit die Menschen wissen, woran sie mit Ihnen sind. Die Zeit der leeren, hohlen Ankündigungen müßte doch endlich auch in Ihren Augen vorbei sein.
Ich nehme mich sehr zurück, daß ich nicht zu Ihrem stupiden Nein — das ist ein kleines Beispiel für Ihr Denken von gestern — zu dem auch dem letzten immer notwendiger erscheinenden Schritt hin zu einer Geschwindigkeitsbegrenzung etwas sage. Sie ist energiepolitisch, sie ist umweltpolitisch, sie ist aus Gründen der Verkehrssicherheitspolitik unabdingbar. Die einzige Geschwindigkeitsbegrenzung, die Sie offenbar akzeptieren und auch praktizieren können, ist die Begrenzung der Geschwindigkeit, mit der sie an umweltpolitischen Vorhaben arbeiten. Das ist im Grunde das Dilemma, das uns bedrückt.
Sie wollen Beispiele, Herr Kollege Schroeder und Herr Kollege von Schmude; wir bleiben freundlich zueinander. Ich nenne Ihnen gleich eines. Das Gesagte gilt beispielsweise für die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes. Diese Novelle war bereits für die vorletzte und die letzte Legislaturperiode angekündigt. Das Projekt schlummert aber immer noch in den Bonner Amtsstuben. Dabei ist eine Novellierung zumindest aus drei Gründen dringend erforderlich.Die Landwirtschaft muß gesetzlich zu einer umweltverträglicheren Produktionsweise verpflichtet werden.
Auch hierüber besteht unter den Sachkundigen in diesem Hause Übereinstimmung. Mindestens 10 % der Fläche der Bundesrepublik müssen zu einem Biotopverbundsystem verknüpft und entsprechend geschützt werden. Darüber gibt es unter denen, die sich mit ökologischen Fragen und mit Fragen von Landschafts- und Naturschutzsystemen und ihrer notwendigen Einrichtung auseinandersetzen, keinen Streit.Schließlich, meine Damen und Herren, muß das Naturkapital, das die neuen Bundesländer im Zuge der deutschen Einheit mit ihren Naturschutzgebieten und Biosphärenreservaten in das neue Deutschland eingebracht haben, erhalten und gepflegt werden.
Auch in der Energiepolitik mahlen die Regierungsmühlen schrecklich langsam, zu langsam.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3115
Harald B. Schäfer
Vom groß angekündigten energiepolitischen Konzept sind nicht einmal Umrisse erkennbar.Herr Friedrich, ich empfehle Ihnen, den Entwurf eines Umweltgrundsatzprogramms, das aus den Reihen der CSU stammt, zu lesen. Darin werden Sie viele Bekannte finden, gegen die Sie hier von diesem Pult aus polemisiert haben. Auch bei Ihnen sollte umweltpolitisches Nachdenken einsetzen und in die Wirklichkeit umgesetzt werden, bevor es zu spät ist.
Wenn Sie es nicht gelesen haben, kommen Sie nachher mit in mein Büro; dann gebe ich es Ihnen.Der Bundeswirtschaftsminister, der sich mit großem Getöse in die energiepolitische Diskussion gestürzt hat, scheint zwischenzeitlich — für ihn völlig überraschend und verwunderlich — eine Art energiepolitisches Schweigsamkeitsgelübde abgelegt zu haben. Die aus Umweltschutzgründen notwendigen Energieeinsparungen werden aber nur in einer nationalen Kraftanstrengung unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen erreichbar sein. Die Bundesregierung muß endlich die Initiative dazu ergreifen. Ich sage noch einmal: Bei der Umsetzung eines vernünftigen gesamtenergiepolitischen Konzepts, das dem Energieeinsparen und der Förderung erneuerbarer Energieträger wirklich den Vorrang gibt, werden Sie unsere Unterstützung haben, auch dann, wenn es nicht überall auf den ersten Blick populär zu sein scheint.Meine Damen und Herren, Energie ist bei uns immer noch zu billig. Dies schreibt auch die Bundesregierung in ihre Papiere. Es steht sogar in den Papieren des Wirtschaftsministers und des Umweltministers. Aber sie sagt es nicht öffentlich.Lassen Sie uns doch gemeinam versuchen, die Einkommensteuer zu senken und die Sozialleistungen zu verbessern und dafür die Energiesteuern anzuheben. Also, runter mit der Besteuerung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit; hoch mit der Besteuerung des Produktionsfaktors Natur! Machen Sie mit uns mit! Das ist doch eine Maßnahme, damit es sich für den einzelnen Unternehmer betriebswirtschaftlich rentiert, umweltfreundlich zu produzieren.
Zusammen mit einer Entfernungspauschale und einer erhöhten Kilometerpauschale für Fernpendler ergäbe dies ein sozial ausgewogenes Paket von Anreizen zum Energieeinsparen, zur Verkehrsvermeidung und Verkehrsverlagerung.Aber Sie, meine Damen und Herren — dies ist die bittere Wahrheit, auch für Ökologiepolitiker der Opposition —, haben durch die Steuerlüge und durch das schamlose Hintergehen des Wählers so viel an Glaubwürdigkeit, an Kredit bei den Bürgern verloren, daß mit Ihnen eine ökologische Steuerreform wohl nicht mehr zu machen ist.
Es tut zwar weh; aber die Wahrheit ist so. Bei Tische unter vier Augen geben Sie es doch selber zu.Meine Damen und Herren, ich will hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages auch kein Hehl aus meiner persönlichen Meinung zur aktuellen Steuerdiskussion machen. Sollte sich nach Ausschöpfung aller vertretbaren, aber notwendigen Einsparungsmöglichkeiten und nach dem Verzicht auf die Senkung der Vermögen- und Unternehmensteuern eine weitere Steuererhöhung als unvermeidlich erweisen, hielte ich persönlich dann eine weitere Erhöhung der Energiesteuern für besser als eine Mehrwertsteuererhöhung. Freilich müßte aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit die Kilometerpauschale für Fernpendler entsprechend aufgestockt werden.
Eine allgemeine Mehrwertsteuer entwickelt keine ökologische Lenkungswirkung. — Lieber Herr Kollege Struck, lieber Peter, ich sage meine Meinung. — Darüber hinaus tragen höhere Energiesteuern zur mittelfristigen Umorientierung hin zu energiesparenden Techniken bei.Warum, so frage ich Sie, die Finanz-, die Umwelt-, aber auch die Wirtschaftspolitiker bei Ihnen, sollten wir dann nicht das finanzpolitisch Notwendige mit dem ökologisch Sinnvollen verbinden?Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, für uns Sozialdemokraten muß die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen Leitziel der Politik in allen Bereichen sein. Wenn in diesen Tagen der neue Bericht des Club of Rome erscheint, wird er hoffentlich einen heilsamen Schock auslösen, einen Schock, der auch in der Bundesregierung den Elan erzeugt, den wir brauchen, wenn wir die ökologischen Probleme wirklich lösen wollen.Ich bedanke mich bei Ihnen für das Zuhören.
Nun erteile ich dem Bundesminister Dr. Töpfer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Übereinstimmung ist zunächst gefragt. Wir stimmen darin überein, Herr Kollege Schäfer, daß sich die Umweltpolitik, die wir zu betreiben haben, auf drei wesentliche Säulen zu beziehen hat: erstens auf das, was wir auch noch in der hochentwickelten Marktwirtschaft ökologisch zu gestalten haben, zweitens auf das, was wir an Sanierungsaufgaben angesichts der gewaltigen Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus in den neuen Bundesländern und zunehmend auch in den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas zu tun haben, und drittens darauf, daß wir eine weltweite Umweltpartnerschaft zu gestalten hab en, weil viele der Aufgaben, die vor uns stehen, und der Fragen, die zu lösen sind, nur in globalem Zusammenhang zu bewältigen sind. Dies ist sicher unstrittig. Daß darin gerade eine technologisch führende Nation mit einer, was Sie bei alldem, was Sie verteilen und anbieten, leider nicht dazusagen, auf Grund einer guten
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferWirtschafts- und Finanzpolitik stabilen Wirtschaft leisten kann, ist sicherlich mitentscheidend dafür.
Ich glaube, daß wir deswegen zunächst einmal festhalten müssen: Wir erweisen der Umweltpolitik sowohl in ihren internationalen Dimensionen als auch hier bei uns immer dann den schlechtesten Dienst, wenn wir die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft überstrapazieren und damit den Ast, auf dem wir sitzen, absägen. Hier gibt es keinen Widerspruch, sondern eine Harmonie zwischen der Umweltpolitik und einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung, die aber ökologisch begleitet werden muß.Ich konzentriere mich heute bewußt auf den zweiten von mir genannten Punkt, auf unsere Aufgaben in den neuen Bundesländern. Diese haben natürlich auch sehr viele Rückwirkungen auf den Bereich der alten Bundesrepublik Deutschland. Wenn ich mir die Zahlen ansehe, so haben wir umweltpolitisch bedeutsame Erfolge zu vermelden. Die Elbe enthält nicht mehr über 20 t Quecksilber pro Jahr, sondern deutlich unter 10 t. Die Emissionen bei Schwefeldioxid sind in den neuen Bundesländern um 26 % zurückgegangen, bei Staub um 39 %, bei Schwermetallen um 54 %; all diese Zahlen ergeben sich aus einem Vergleich mit 1989.
— Jawohl. — Dies sind die richtigerweise zu ziehenden Konsequenzen aus der Stillegung solcher Betriebe, die ökonomisch und ökologisch völlig unvertretbar produziert haben. Hier mußten wir aus ökologischen und gesundheitspolitischen Gründen handeln, um die Gesundheit der Menschen zu sichern.
Dies ist Faktum. Das werden wir uns nicht umweltpolitisch anrechnen, sondern das ist einer dieser Kombinationseffekte. Es geht jetzt ganz eindeutig darum, daß wir die Schaffung von Arbeitsplätzen mit einer gleichbleibend abgesenkten Belastung der Umwelt verbinden. Das ist die Herausforderung, um die es geht. Ich glaube, daß wir in diesem Bereich wirklich gehandelt haben.Sie fragen: Wo bleibt Ihr Altlastenprogramm?
Herr Kollege Schäfer, ich nutze gern die Gelegenheit, hier noch einmal folgendes deutlich zu machen: Für uns bestand die erste Schwerpunktaufgabe natürlich darin, die die menschliche Gesundheit aktuell gefährdenden Mißstände abzustellen. Deshalb haben wir 1990 erstmals 500 Millionen DM in über 600 kleinen Einzelprojekten eingesetzt, um Trinkwasser und Abwasser so zu verbessern, daß jeder die Sicherheit hat, dadurch keinen gesundheitlichen Gefahren mehr ausgesetzt zu sein. Daran arbeiten wir weiter.Ich muß Ihnen sagen — und ich sage das mit Respekt — : Greenpeace hat unsere Außenstelle in Berlin besetzt und gesagt, man werde erst gehen, wenn Töpfer die Trinkwasserdaten rausrücke. Vier Stunden später war die Besetzung zu Ende, weil wir nämlichnachprüfbar und nachweisbar mitteilen konnten, daß wir — Kollege Schmidbauer — das bereits in der Pressekonferenz Anfang August getan hatten. Und ich werde das so weitermachen; denn ich kann überhaupt kein Interesse daran haben, das, was für die Menschen in der ehemaligen DDR geradezu ein Zeichen der Unfreiheit gewesen ist, daß sie an Daten über die Belastungssituation in ihrer Heimat nicht herankamen, jetzt möglicherweise aus falschen Gründen weiterzuführen. Genau das Gegenteil machen wir: Information und Offenheit selbst dann, wenn wir noch nicht alle Ziele erreicht haben, ist die Gewähr dafür.
Wir haben das mit den 500 Millionen DM gemacht. Ich lade den Umweltausschuß wirklich herzlich gerne ein, daß wir einmal einzelne dieser Projekte in den neuen Bundesländern anfahren, um fernab jeder parteipolitischen Polemik und Diskussion zu fragen: War das richtig, oder war das nicht richtig, können wir das so weitermachen oder nicht?Wir machen das so weiter. Wir haben im Haushalt für 1991 und 1992 insgesamt 800 Millionen DM. Auch diese Mittel sind wiederum — und ich muß ein herzliches Dankeschön an meine Mitarbeiter sagen, die unglaublich daran gearbeitet haben — fast schon verausgabt. Ich sage das mit großem Stolz; denn da ist außerordentlich viel Kleinarbeit zu machen gewesen, und die ist hervorragend gemacht worden. Und ich lobe Mitarbeiter auch dafür, daß sie in der einen oder anderen Vergabe einer Maßnahme auch einmal ein Risiko eingehen, wenn in einer Maßnahme möglicherweise noch ein Problem drinsteckt. Wenn wir dies in einer solchen außergewöhnlichen Zeit nicht machten, würden wir uns fragen müssen, wofür wir eigentliche politische Legitimität verlangen wollen. Das müssen und wollen wir tun.
Auch hier bin ich sehr gern bereit, das in aller Breite vorzutragen. Wir haben für Investitionen zur Verminderung von Umweltbelastungen noch einmal 250 Millionen DM. Auch die gehen schwerpunktmäßig in die neuen Bundesländer.Jetzt kommt der wesentliche Sanierungseffekt hinzu. Wir haben — ich weiß, das wurde von vielen unterstützt — ein breites Programm der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unter der Federführung des Kollegen Blüm. Wir gehen jetzt über 300 000 AB-Maßnahmen hinaus, und es wird noch weiter gehen. Wir können nach all dem, was wir jetzt wissen, sagen, daß mindestens ein Drittel davon Sanierungsmaßnahmen im Umweltschutz sind. Das sind Sofortmaßnahmen der Altanlagensanierung.Herr Kollege Schäfer, wenn diese Bundesregierung erreicht hat, daß wir in weniger als Jahresfrist 100 000 Menschen in den neuen Bundesländern damit beschäftigen können, daß sie ihre Umwelt sanieren, dann ist das wirklich ein schnelles und konsequentes Handeln, das wir sicherlich fortführen sollten.
Dies ist ebenfalls nachvollziehbar.
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferIch rate Ihnen wirklich: Sprechen Sie z. B. doch einmal mit dem Kollegen Rappe.
— Ich muß schon sagen, der Kollege Schäfer hat heute seinen mir gegenüber besonders liebenswürdigen Tag. Werter Herr Kollege, „junger Freund" nehme ich natürlich gerne entgegen.
— Ich freue mich, daß ich die acht Tage noch für mich gelten lassen kann. Von daher gesehen wollen wir uns gerne auch darüber verständigen.Wir machen also genau dies. Nur eines ist doch völlig klar: Wenn wir die Altlasten weiter sanieren wollen, brauchen wir Anlagen dafür. Ich wäre herzlich dankbar, wenn wir uns auf allen Seiten dieses Hohen Hauses klar und einig darin wären, daß wir etwa zur Sanierung des Teersees in Altenburg nicht eine Schippe und einen Spaten brauchen, sondern eine Hochtemperaturverbrennungsanlage und daß wir nicht aus Gegnerschaften heraus Sanierungsmöglichkeiten überhaupt nicht erst möglich machen sollten. Das ist auch eine Frage der Gemeinsamkeit, in der wir ein Stück weiterkommen sollten.Ich hatte heute die Freude, die 5. Entsorga, die Abfallmesse in Essen, zu eröffnen.
— Ich kann nur sagen: Interessanterweise hat der Kollege Schäfer auch den ganzen Abfallbereich ausgelassen, was sonst seiner Übung nicht entspricht. Das kann ich auch verstehen, weil wir da wirklich gezeigt haben, daß wir nachhaltig gehandelt haben. Wenn Sie sich heute angehört hätten, was die Vertreter der Entsorgungswirtschaft und der kommunalen Entsorger dort zu Beginn dieser Messe gesagt haben, dann wüßten Sie, daß wir damit wirklich Neuland betreten haben, nämlich die Kombination von Ordnungsrecht und Marktwirtschaft im Interesse derer, die davon betroffen sind.Wir werden die nächste, die sechste Entsorga, die in drei Jahren ist, mit Sicherheit durch solche Unternehmen mit ergänzen können, die Demontagetechniken für Konsumgüter anbieten, denn das ist die nächste Ebene der Entsorgungswirtschaft, die wir brauchen.
— Ich kann natürlich verstehen, daß Sie wollen, daß ich zum Ende komme. Ich sehe daraus, Herr Kollege, daß Sie schon so weit überzeugt sind, daß die Umweltpolitik, die diese Bundesregierung macht, nicht eine Umweltpolitik ist, die an irgendeiner Stelle etwas nur ankündigt, sondern sagt, wohin sie will, und das verwirklicht. Dies werden wir weitermachen.Ich habe dafür zu danken, daß wir an vielen Stellen sehr gute Unterstützung auch in den neuen Bundesländern bei den Regierungen haben. Ich habe Respekt vor den dortigen Umweltministern, die im Aufbau einer Verwaltung gleichzeitig diese schwierige Bearbeitung zu bewältigen haben. Ich glaube, daß wir dort viel mehr überparteiliche Gemeinsamkeiten vorfinden, als wir das manchmal hier in der Auseinandersetzung sehen können.Insgesamt also: Wir werden diesen ökologischen Subventionsabbau, diese Überwälzung von Kosten unseres Wohlstands auf Natur und Umwelt, weiterführen. Ich bin ganz sicher, daß Ihre Meinung nicht zutrifft, daß wir damit nämlich Vorbild und ein Stück Vorreiter für viele sind, die diese Probleme der Industriegesellschaft noch nicht so bewältigt haben.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich kann also die Sitzung schließen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 5. September 1991, 9 Uhr ein.
Ich möchte es nicht versäumen, Ihnen einen erholsamen und angenehmen Abend zu wünschen.