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    Plenarprotokoll 12/37 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 37. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage und Entwicklung in der Sowjetunion und Jugoslawien Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3015 B Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan- des Schleswig-Holstein 3020 A Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 3025 D Dr. Hermann Otto Solms FDP 3031 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3035 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 3038 C Ortwin Lowack fraktionslos 3041 D Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 3043 A Hans Koschnick SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3046 D Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der a) ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) (Drucksache 12/1000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 (Drucksache 12/1001) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 3047 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 3057 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 3058C, 3100B, 3104 C Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 3062 C Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3068 D Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 3070 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3072 B Peter Conradi SPD 3082 B Dr. Lutz G. Stavenhagen CDU/CSU . . 3082 C Christel Hanewinckel SPD 3082 D Dr. Burkhard Hirsch FDP 3085 D Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 3086A Dr. Willfried Penner SPD 3087 A Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3089D, 3106A Dr. Sigrid Hoth FDP 3089 D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 3091 D Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 3092 B Dr. Paul Laufs CDU/CSU 3093 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3095 B Dr. Willfried Penner SPD 3097 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 3102A Karl Deres CDU/CSU 3104A Dr. Hans de With SPD 3108 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 3109A Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) CDU/CSU 3110D Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . . 3112D Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 3115D Nächste Sitzung 3117D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3119* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 — Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 — (Michael von Schmude CDU/CSU) . . . . 3119* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3015 37. Sitzung Bonn, den 4. September 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 04. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 04. 09. 91 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 04. 09. 91 * Erler, Gernot SPD 04. 09. 91 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 04. 09. 91 * Francke (Hamburg), CDU/CSU 04. 09. 91 Klaus Hilsberg, Stephan SPD 04. 09. 91 Koltzsch, Rolf SPD 04. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 04. 09. 91 Karl-Hans Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 04. 09. 91 Marten, Günter CDU/CSU 04. 09. 91 * Michels, Meinolf CDU/CSU 04. 09. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 04. 09. 91 Müller (Düsseldorf), SPD 04. 09. 91 Michael Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 04. 09. 91 Pfuhl, Albert SPD 04. 09. 91 * Rempe, Walter SPD 04. 09. 91 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 04. 09. 91 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 04. 09. 91 * Schmidt-Zadel, Regina SPD 04. 09. 91 Sielaff, Horst SPD 04. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 04. 09. 91 * Dr. Sperling, Dietrich SPD 04. 09. 91 Dr. Sprung, Rudolf CDU/CSU 04. 09. 91 * Verheugen, Günter SPD 04. 09. 91 Vosen, Josef SPD 04. 09. 91 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 04. 09. 91 Gert Welt, Hans-Joachim SPD 04. 09. 91 Wieczorek-Zeul, SPD 04.09.91 Heidemarie Zierer, Benno CDU/CSU 04. 09. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 - Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 - Michael von Schmude (CDU/CSU): Diese erste Lesung des Haushalts 1992 gibt uns willkommenen Anlaß zu einer Bestandsaufnahme, nämlich: wie weit sind wir beim Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates in den neuen Bundesländern vorangekommen, wo stehen wir, was muß noch getan werden? Anlagen zum Stenographischen Bericht Uns ist allen bewußt, daß die Glaubwürdigkeit der Justiz und das damit verbundene Vertrauen in den Rechtsstaat unabdingbare Voraussetzung für das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West sind. Die Verwirklichung der Einheit auf dem Gebiet des Rechts ist eine Mammutaufgabe und braucht demzufolge auch Zeit. Dennoch gehöre auch ich zu jenen, die ungeduldig sind, und in der Tat könnte und müßte das eine oder andere zügiger verwirklicht werden. Das Justizwesen der früheren DDR war Werkzeug des Unterdrückerstaates und muß deshalb mehr als jede andere Verwaltung auch personell von Grund auf erneuert werden. Das bedeutet, daß Richter und Staatsanwälte nur in einem geringen Umfang übernommen werden können. Um eine Richterdichte wie in den alten Bundesländern herzustellen, benötigen wir etwa 4 500 Richter, 1 000 Staatsanwälte und 2 000 Rechtspfleger. Letztere waren in der früheren DDR überhaupt nicht vorhanden. Die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte, die bereits in der ehemaligen DDR tätig waren, wird intensiv betrieben (von 2 600 = 1990 sind jetzt noch 1 300 im Amt). Unabhängig davon sollten jene Juristen, die sich schuldig gemacht haben, nicht erst auf das Ergebnis ihrer Überprüfung warten, sondern durch freiwilliges Ausscheiden ein Zeichen der Einsicht und damit einen Beitrag zum Neubeginn leisten. Gleiches gilt auch für diejenigen Juristen, die sich noch kurz vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als Rechtsanwälte niedergelassen haben, obwohl sie auf Grund ihrer Vergangenheit dieses besser hätten unterbleiben lassen sollen. Überprüfungen sind notwendig, wobei erforderlichenfalls die bisherigen gesetzlichen Grundlagen ergänzt werden müssen. Auch hier gilt: Jeder Einzelfall muß auf die persönliche Verantwortung hin untersucht werden, Pauschalverurteilungen sind fehl am Platze. Unser 1991 beschlossenes dreijähriges Hilfsprogramm zum Aufbau des Rechtsstaates im Beitrittsgebiet sieht die Entsendung von insgesamt 2 300 Juristen und Rechtspflegern vor. Dabei handelt es sich um 1 000 Richter und Staatsanwälte, von denen bis Ende Juni etwa die Hälfte abgeordnet waren. Die Länder haben erneut versprochen, die angestrebte Zahl per Ende dieses Jahres annähernd sicherzustellen. Ein größeres Defizit tut sich bei den Rechtspflegern auf. Zwischen Bund und Ländern war vereinbart, in diesem Jahr 500 Rechtspfleger abzuordnen. Per Ende August lag diese Zahl mit 211 weit zurück. Angesichts des großen Arbeitsanfalls bei den Grundbuchämtern - bekanntlich liegen über 1 Million Ansprüche auf Rückübertragung vor - ist dieser Zustand besonders bedauerlich. Am Geld kann es nicht liegen, denn im Rahmen des gesamten Hilfsprogramms von 120 Millionen sind für diesen Bereich der Abordnung allein 65,4 Millionen DM vorgesehen. Die neuen Bundesländer machen von dem finanziellen Hilfsangebot des Bundes zur Einstellung von bis zu 300 Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern regen Gebrauch. Hier sind kurzfristig bereits 200 Stellen besetzt worden. 3120* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Außerordentlich unbefriedigend und schleppend verläuft dagegen die Ausschöpfung unseres sog. Seniorenmodells. Hier waren Haushaltsmittel in Höhe von 17,5 Millionen DM im Haushalt 1991 vorgesehen zur Entsendung von 500 pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern. Mehr als 100 Interessenten haben sich bei den Justizministern der alten Bundesländer beworben und ganze drei sind inzwischen erst tätig: ein Richter in Sachsen und jeweils ein Richter und ein Rechtspfleger in Thüringen. Diesem Mißstand muß durch den Bundesjustizminister dringend nachgegangen werden. Sollten die alten Bundesländer mit dieser Aufgabe der Bewerberauswahl überfordert sein, so wäre dringend eine Übertragung auf ein anderes Gremium erforderlich. Insgesamt bleibt ohnehin festzuhalten, daß einige Bundesländer sehr vorbildlich den Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern unterstützen, andere hingegen, oft entgegen großer Ankündigungen, nur sehr halbherzig. Ein negatives Beispiel ist dafür leider auch Herr Engholm, der 1990 ganze vier Richter nach Mecklenburg-Vorpommern abgeordnet hat und die ohnehin knappen Ressourcen an Richtern durch die parteipolitisch motivierte Entscheidung zur Einrichtung eines neuen Oberverwaltungsgerichts weiter einengt. So sehen manche Solidarbeiträge aus! Die Vereinbarung des Bundesjustizministers mit seinen Länderkollegen zur Entsendung von 60 Staatsanwälten zur Aufdeckung der Regierungskriminalität in der früheren DDR ist von den Ländern bisher erst mit 10 Juristen teilerfüllt worden. Natürlich ist kein Schleswig-Holstein dabei. Zur Aufarbeitung der früheren SED-Diktatur hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Bereinigung von SED-Unrecht vorgelegt. Damit sollen die Aufhebung von Unrechts-Urteilen und die Entschädigungsregulierung beschleunigt werden. Wir müssen an diesen Komplex mit einem besonderen Augenmaß herangehen: In den mehr als 20 000 anstehenden Rehabilitierungsverfahren stecken erschütternde Einzelschicksale. Den Betroffenen muß Gerechtigkeit widerfahren. Allerdings müssen wir auch die Grenzen unserer Möglichkeiten erkennen, die einfach darin bestehen, daß geschehenes Unrecht weder finanziell noch sonst voll ausgeglichen werden kann. Bei den Finanzen ist zu berücksichtigen, daß dieses Gesetz mit etwa 1,5 Milliarden DM Kosten an die Grenzen unserer Möglichkeit heranführt. Mit einem noch zu beratenden Gesetz über die sogenannte Verwaltungsrehabilitation müssen Willkürakte der DDR-Organe im Verwaltungsbereich aufgearbeitet werden. Hier muß eine Möglichkeit geschaffen werden, auch abgeschlossene Verfahren wieder aufzugreifen. Besonders gilt dies hinsichtlich der sogenannten Zwangsumsiedlungen. So wurden u. a. im ehemaligen Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze — auch direkt angrenzend an meinen Wahlkreis in Mecklenburg — Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Hab und Gut gegen ein Trinkgeld dem Staat zu übereignen. Für die Vergangenheitsbewältigung des SED-Schnüffler- und Spitzelstaates brauchen wir weitere juristische Grundlagen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ermöglicht uns entsprechende Informationen im Interesse betroffener Opfer. In Verbindung mit der Erfassungsstelle Salzgitter kann dann hoffentlich ein Großteil politisch motivierter Straftaten aus der DDR-Zeit verfolgt und gesühnt werden. In diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, daß einige SPD-regierte Bundesländer einen Läuterungsprozeß durchlaufen haben und sich wieder an den Kosten der Erfassungsstelle Salzgitter beteiligen. Es war schon beschämend, wie man hier in der Vergangenheit aus einer Gefälligkeitspolitik heraus sich aus der politischen Verantwortung davongestohlen hat. Ein ganz besonders negatives Beispiel gibt wiederum die schleswig-holsteinische Landesregierung unter Ministerpräsident Engholm, die sofort nach der Regierungsübernahme 1987 ihren Anteil von nur 10 000 DM verweigerte. Der bisherige Aufbau der rechtsstaatlichen Justiz im Osten Deutschlands verdient Dank und Respekt vor allem gegenüber den neuen Bundesländern, denn der Alltag zeigt, daß inzwischen auch hier und da bereits Rückstände bei Gerichten und Grundbuchämtern abgearbeitet werden können. Allen Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums möchte ich an dieser Stelle ebenfalls meinen Dank für die von ihnen geleistete vorbildliche Arbeit sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die parlamentarischen Beratungen in dieser Woche fallen in eine Zeit außergewöhnlicher — ja historischer — Ereignisse. Wir stehen gemeinsam vor Herausforderungen in der internationalen Politik, die sich auch auf unser Land ganz unmittelbar auswirken.
    Führen wir uns doch noch einmal die dramatischen Ereignisse in der Sowjetunion vor zwei Wochen vor Augen.
    Am 21. August haben die Bürger von Moskau, Leningrad und anderen Städten der Sowjetunion einen großen Sieg für Demokratie, für Freiheit und Recht errungen. Ihr entschlossener Widerstand ließ den Putsch scheitern.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Meine Damen und Herren, dies geschah auf den Tag genau 23 Jahre, nachdem die Freiheit in Prag von Panzern niedergewalzt worden war. So ist dieser 21. August 1991 auch ein später Triumph für die Menschen, die sich damals den Panzern entgegengestellt haben.
    Ich bin sicher, der Sieg der demokratischen Idee in der Sowjetunion wird später in den Geschichtsbüchern als „August-Revolution'' gewürdigt werden.
    Damit ist in der Sowjetunion nicht nur Stalin überwunden, sondern seit dem 21. August auch die Staatsdoktrin von Marx und Lenin. Mit dem Sturz des Denkmals von Felix Dserschinski endet hoffentlich auch endgültig der allgegenwärtige Terror des KGB.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Welches Ereignis könnte uns diesen historischen Umbruch deutlicher vor Augen führen als der rapide Niedergang der KPdSU? Es ist eine Epoche zu Ende gegangen!
    Die Menschen in Moskau, Leningrad — dem alten und neuen Sankt Petersburg — und in vielen anderen Städten und Regionen der Sowjetunion verdienen unsere Hochachtung für Mut und Standfestigkeit.
    Wir haben besonders zu danken und unseren Respekt zu bezeugen dem Präsidenten der Russischen Republik, Boris Jelzin.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD, dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Ohne dessen Mut und ohne dessen Engagement wäre dieser Putsch kaum so schnell gescheitert.
    Die einhellige Verurteilung des Putsches durch die freiheitlichen Demokratien des Westens hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dem Widerstand den Rücken zu stärken und damit die Putschisten zur Aufgabe zu zwingen.
    Präsident Jelzin hat mir in einem Telefongespräch am 21. August für die Unterstützung gedankt und darauf hingewiesen, daß die Unterstützung der freien Welt ihm sehr viel geholfen habe. Er hat, wie Sie wissen, meine Einladung zum Besuch nach Deutschland angenommen, und ich hoffe, daß es schon in sehr kurzer Zeit gelingt, einen Termin zu vereinbaren, denn seine enorme Arbeitsbelastung zu Hause schränkt seine Terminmöglichkeiten verständlicherweise ein.
    Ich glaube, wir alle sind uns einig: Es war ein großer und bewegender Augenblick, als Michail Gorbatschow und seine Familie am 22. August nach Moskau zurückkehren konnten. Für mich persönlich war es eine besondere Freude, ihn wohlbehalten zu sehen, denn ich habe mich in diesen für ihn ganz besonders schweren Tagen vor allem daran erinnert, wie sehr wir, die Deutschen, ihm zu Dank verpflichtet sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD, dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)




    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Ich füge hinzu, daß ich mit einem erheblichen Mißbehagen in diesen Tagen manches vorschnelle Urteil über diesen Mann zur Kenntnis genommen habe. Ich finde, man soll hier auf das Urteil der Geschichte vertrauen, und das wird anders aussehen als mancher dieser Kommentare.
    Wir wünschen all denen, die in der Sowjetunion und den Republiken Verantwortung tragen, Erfolg bei den großen Anstrengungen, die Union zusammenzuhalten, um diese gemeinsam als Verbund selbständiger Republiken zu erneuern.
    Der Erfolg der freiheitlich-demokratischen Bewegung hat trotz vieler jetzt noch offener Fragen die Chance vergrößert, daß die grundlegenden Reformen nun tatsächlich verwirklicht werden. Die Weichen sind in Richtung auf eine umfassende demokratische Erneuerung gestellt. Damit ist auch das Bekenntnis der Charta von Paris vom November 1990 zur Demokratie als einziger Regierungsform der Nationen Europas eindrucksvoll bestätigt worden. Diese Charta muß Richtschnur europäischer Politik sein, einer Politik des friedlichen Ausgleichs, der Freiheit und der Menschenrechte.
    Auch in den drei baltischen Republiken haben wir in diesen Tagen historische Veränderungen erlebt. Die auf Grund des Hitler-Stalin-Pakts zwangsannektierten baltischen Republiken gewinnen ihre Freiheit und Selbständigkeit zurück. Estland, Lettland und Litauen sind gemäß dem erklärten Willen ihrer Völker nunmehr wieder unabhängig.
    Es war für mich — und ich denke, für uns alle — ein bewegender Augenblick, als die drei Außenminister der baltischen Republiken am 28. August zusammen mit dem Bundesaußenminister die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen hier in Bonn durch ihre Unterschrift besiegelten.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Es wird nunmehr darauf ankommen, daß in den Verhandlungen zwischen Tallin, Riga, Wilna und Moskau die noch offenen Fragen bald gelöst werden. Wir, die Bundesrepublik Deutschland und unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft, wollen mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen an eine Zeit des friedlichen Miteinanders anknüpfen. Insbesondere wir Deutschen können auf eine seit der Zeit der Hanse gewachsene Tradition des friedlichen Handels im Ostseeraum zurückblicken, und wir wollen mit reger kultureller Zusammenarbeit an einen in Jahrhunderten gewachsenen geistigen Austausch anknüpfen. Ein wichtiges Forum sollte und muß dabei auch der Europarat sein.
    Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Partner in der Europäischen Gemeinschaft sollten mit den baltischen Staaten, wenn diese das wünschen, möglichst bald Verhandlungen über Assoziierungsverträge aufnehmen. Wir wollen damit auch den unvermeidlichen Anpassungsprozeß an marktwirtschaftliche Verhältnisse nach besten Kräften erleichtern.
    Den drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen gelten auch heute von dieser Stelle aus
    auf ihrem schwierigen Weg unsere ganz besonders guten Wünsche und unsere Solidarität.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Meine Damen und Herren, wir können bei aller Freude und Genugtuung über diesen historischen Sieg von Freiheit und Demokratie in der Sowjetunion jetzt natürlich nicht zur Tagesordnung übergehen. Das sind wir vor allem auch jenen schuldig, die in diesen historischen Tagen dort ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben.
    Gefordert ist jetzt, daß der Westen gemeinsam, rasch und umfassend bei der demokratischen und marktwirtschaftlichen Zukunft der Sowjetunion und aller Reformstaaten hilft. Der Erfolg des großen Reformwerks in der Sowjetunion — wie auch in den Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas — liegt in unserem gemeinsamen Interesse. Und auch in unserem eigenen Land sollte mehr als bisher begriffen werden, daß jede Entwicklung dort zu Frieden, Freiheit und rechtsstaatlicher Ordnung nicht zuletzt den Deutschen dient.
    Die Sowjetunion befindet sich jetzt in einem tiefgreifenden Prozeß der staatlichen Neuordnung. Dabei stehen Entscheidungen an, die die Völker der Sowjetunion allein treffen müssen — auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts, der Gleichberechtigung aller Völker sowie in voller Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte. Wir, die Deutschen, hoffen dabei auf fühlbare Verbesserungen auch für die Rußlanddeutschen. Wir sind unsererseits bereit, dazu beizutragen, ihre Lebensumstände zu erleichtern, damit sie für sich und ihre Kinder in der angestammten Heimat eine Zukunft sehen.
    Meine Damen und Herren, das jetzt dem Kongreß der Volksdeputierten von Präsident Gorbatschow und zehn Republikpräsidenten vorgelegte Programm zielt in Richtung einer neuen Einheit in Vielfalt. Der föderale Ansatz gibt den Bürgern eine bewährte Möglichkeit, am politischen Geschehen in ihrer Heimat teilzunehmen. Selbstverständlich wird es auch in Zukunft nötig sein, eine Reihe von Aufgaben einheitlich und gemeinsam zu erfüllen.
    Dazu gehört nicht zuletzt die Außen- und die Sicherheitspolitik. Die Streitkräfte müssen einheitlich geführt werden. Waffen, insbesondere Nuklearwaffen, müssen auch künftig einer zentralen Verfügungsgewalt unterstellt werden. Wir begrüßen ausdrücklich die Zusicherungen, die beim Besuch von Premierminister John Major in Moskau im Blick auf die Kontrolle über die Nuklearwaffen gerade gemacht wurden — Zusicherungen, die sowohl von Präsident Gorbatschow als auch von Präsident Jelzin gegeben wurden.
    Gleichfalls begrüßen wir, daß die Erklärung des Präsidenten der Sowjetunion und der zehn Republikpräsidenten die strikte Einhaltung aller internationalen Abkommen und Verpflichtungen vorsieht, die von der Sowjetunion abgeschlossen oder übernommen wurden, einschließlich der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie — das ist auch für uns wichtig — der außenwirtschaftlichen Verpflichtungen. Wir gehen dabei davon aus, daß der Vertrag über den



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    befristeten Aufenthalt und den planmäßigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte fristgerecht erfüllt wird. Ich will bei dieser Gelegenheit gerne sagen: Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß dies auch die klare Absicht der sowjetischen Führung ist.
    Meine Damen und Herren, wir haben gemäß der Zusage in der Regierungserklärung von 1982, den Frieden mit weniger Waffen zu verbürgen, gemeinsam mit unseren Verbündeten in den letzten Jahren großartige Erfolge in der Abrüstungspolitik erzielt. Für die Fortsetzung dieser Politik brauchen wir eine erneuerte Sowjetunion als Partner.
    Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa schließt künftig raumgreifende Offensiven auf unserem Kontinent aus. Der Vertrag wird dem Deutschen Bundestag noch in diesem Herbst vorliegen.
    In den weiteren Verhandlungen wollen wir bis zum nächsten KSZE-Gipfel im Frühjahr 1992 eine Vereinbarung über die Begrenzung auch der Truppenstärken erreichen. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, damit Massenvernichtungswaffen nicht noch weiter verbreitet werden und nicht in die Hände von verantwortungslosen Machthabern gelangen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie des Abg. Werner Schulz [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE])

    Das heißt für uns ganz konkret, daß sich kein weiterer Staat den Besitz von Kernwaffen verschafft. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, daß alle Staaten unserer Erde endlich dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen beitreten und sich den Kontrollen unterwerfen.
    Ebenso setzen wir uns mit aller Energie dafür ein, daß die chemischen Waffen endlich durch einen wirksamen Verbotsvertrag weltweit geächtet werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD, dem Bündnis 90/GRÜNE sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])

    Im Rückblick auf manche Debatte hierzulande will ich noch einmal feststellen, daß ich ganz besonders froh darüber bin, daß sämtliche Chemiewaffen von deutschem Boden abgezogen sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Auch im Bereich der nuklearen Abrüstung gab es eindrucksvolle Erfolge:
    Im Mai dieses Jahres wurden gemäß dem INF-Vertrag die letzten sowjetischen und amerikanischen Mittelstreckenflugkörper zerstört.
    Ende Juli haben die USA und die Sowjetunion den START-Vertrag über den Abbau ihrer strategischen Nuklearwaffen unterzeichnet. Wir alle haben dies gemeinsam begrüßt. Ich sehe im Erfolg bei START einen Ansporn für weitere Anstrengungen bei der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Ich will mich mit Nachdruck dafür einsetzen, daß amerikanischsowjetische Verhandlungen über landgestützte Nuklearsysteme kürzerer Reichweite bald zustande kommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und des Abg. Dr. Peter Struck [SPD])

    Mit einem Wort: Wir alle haben ein elementares Interesse an weiteren Fortschritten im Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Durch die jetzt stattfindende staatliche Neugestaltung in der Sowjetunion können sich, so glaube ich, auch hier ganz neue Chancen ergeben, und wir sollten sie ergreifen.
    Ich würdige ausdrücklich den konstruktiven Beitrag, den die Sowjetunion in letzter Zeit gegenüber der Dritten Welt geleistet hat. Die Sowjetunion beteiligt sich inzwischen — oft gemeinsam mit dem Westen — aktiv an den Aufgaben der Friedenssicherung und der Wiederherstellung des Friedens in verschiedenen Regionen der Dritten Welt.
    In Afrika konnten auf diese Weise die Namibia- und die Angola-Frage friedlich gelöst, der Bürgerkrieg in Äthiopien beendet und die Friedenschancen für Mozambique verbessert werden.
    Im Nahen und im Mittleren Osten sind die USA in Abstimmung mit der Sowjetunion um friedliche Konfliktlösungen bemüht. Wir alle hoffen auf weitere Schritte zum Frieden in naher Zukunft in dieser so heimgesuchten Region.
    In Lateinamerika können linksradikale Bewegungen nicht mehr wie früher mit sowjetischer Waffenhilfe rechnen. Die letzte Bastion des Kommunismus in der westlichen Hemisphäre, Kuba, gerät immer mehr in ideologische Bedrängnis.
    Durch die konstruktive Mitarbeit der Sowjetunion im Sicherheitsrat hat nicht zuletzt die Friedensarbeit der Vereinten Nationen eine Stärkung erfahren.
    Meine Damen und Herren, was den Bereich der Wirtschaftspolitik angeht, so wissen wir aus der Erfahrung des Aufbaus der Europäischen Gemeinschaft, daß der Schlüssel zum Erfolg in der Schaffung eines großen und einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraums liegt und nicht in Zersplitterung. Ein entsprechendes Programm, nach dem die Republiken eine Wirtschaftsunion mit dem Ziel der Zusammenarbeit im Rahmen eines einheitlichen, freien Wirtschaftsraums bilden sollen, wird derzeit im Kongreß der Volksdeputierten in Moskau diskutiert. Wir Deutschen können diese Entwicklung nur begrüßen.
    Die sich jetzt neu entwickelnde Union und die Republiken müssen nun ein in sich geschlossenes Wirtschaftsprogramm entwickeln und mit dessen Umsetzung beginnen. Nur so kann ein verläßlicher Rahmen für wirksames und zusätzliches westliches Engagement gesetzt werden. Ich kann nicht oft genug betonen, daß ich eine Wirtschaftshilfe an eine sich in voneinander abgeschottete Republiken auflösende Sowjetunion für wenig aussichtsreich hielte. Der Dialog des Westens mit der Sowjetunion und die möglichen Hilfen werden natürlich der neuen Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Republiken Rechnung tragen müssen. Wir wollen, daß Projekte vor Ort beschlossen und durchgeführt werden, damit die Hilfen den Menschen auch unmittelbar zugute kommen.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Der diesjährige Weltwirtschaftsgipfel in London hat der Sowjetunion bereits das Tor zur Integration in die Weltwirtschaft geöffnet. In London begann ein Dialog zwischen den großen westlichen Industrienationen und der Sowjetunion. Der Westen muß jetzt — wir werden darauf drängen — die Vereinbarungen des Londoner Gipfels zügig umsetzen.
    Das gilt vor allem in den Bereichen, die für eine verstärkte technische und projektbezogene Zusammenarbeit besonders hervorgehoben worden waren wie z. B. im Energiesektor, im Transportwesen, in der Landwirtschaft und im Bereich der Sicherheit von Kernkraftwerken.
    Der britische Premierminister John Major hat gerade auch in seiner Eigenschaft als derzeitiger Vorsitzender der G 7 hierüber Anfang der Woche in Moskau mit Präsident Gorbatschow und Präsident Jelzin gesprochen. Er hat in Moskau die Zusage erhalten, daß dort schnellstens die Voraussetzungen für die Aufnahme dieser breiten Zusammenarbeit geschaffen werden.
    Wie Sie wissen, meine Damen und Herren, übernimmt die Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar den Vorsitz in der G 7. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, daß der Dialog mit der Sowjetunion auch unter unserem Vorsitz alsbald zu ganz konkreten Ergebnissen führt.
    Bereits in allernächster Zeit, in diesem Monat noch, wird Bundesminister Theo Waigel nach Moskau fahren. In dieser Woche sind dort sein französischer und sein amerikanischer Amtskollege.
    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat bei den Hilfen für die Sowjetunion und die Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas immer wieder auf eine faire internationale Lastenteilung gedrungen. Diese große Aufgabe kann nicht allein uns Deutschen oder allein den Europäern überlassen bleiben. Die Demokratisierung in den Reformstaaten und ihre wirtschaftliche Neuorientierung liegen im Interesse des ganzen Westens. Es gilt daher, vorhandene Ansätze zu gemeinsamen westlichen Hilfsmaßnahmen beschleunigt auszubauen. Ich denke, jedes Land — ich betone: jedes Land — muß dabei entsprechend seiner Leistungsfähigkeit einen fairen Anteil an dieser gemeinsamen Verantwortung tragen; denn es geht dabei um unsere gemeinsamen Chancen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Wir Deutschen sind schon bisher an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit gegangen. Wir haben den Reformprozeß seit 1989 mit über 90 Milliarden DM unterstützt, davon allein mehr als 60 Milliarden DM für die Sowjetunion. Wir leisten damit nach Angaben der EG-Kommission 56 % aller westlichen Hilfen an die Sowjetunion und 32 % der westlichen Hilfen an die Staaten Mittel- und Osteuropas. Gleichwohl — bei allen Schwierigkeiten im eigenen Land — werden wir uns auch in Zukunft an multilateralen Anstrengungen beteiligen.
    Bei alldem — dies will ich unterstreichen, meine Damen und Herren — kann es nur um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Deswegen ist es eben mit finanzieller Unterstützung von außen allein nicht getan. Aussicht auf durchgreifenden Erfolg haben wir nur, wenn wir eine neue umfassende Wirtschaftspartnerschaft in die Tat umsetzen, unsere Märkte für diese Staaten noch weiter öffnen und unsere östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten bei der Neuordnung ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung intensiv mit Beratung und technischer Hilfe unterstützen.
    Eine erfolgreiche Umgestaltung der Sowjetunion als Ganzes sowie der einzelnen Republiken ist jedoch allein mit staatlich-administrativen Hilfen von außen nicht zu schaffen. Falls es notwendig werden sollte, werde ich mich in dem vor uns liegenden Winter genauso wie im letzten Jahr wieder für gezielte Lebensmittelhilfe und humanitäre Unterstützung für die Menschen in der Sowjetunion einsetzen. Die großen Hilfsaktionen, die unsere Bürger im letzten Jahr für die Sowjetunion geleistet haben, waren ein großartiges Zeichen der Mitmenschlichkeit und des persönlichen Engagements für die deutsch-sowjetische Verständigung.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Ich will in diesem Zusammenhang jenen Familien besonders danken, die in diesen Sommerferien Kinder aus der Region Tschernobyl gastfreundlich bei uns in Deutschland aufgenommen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Meine Damen und Herren, ganz besondere Sorge bereitet uns in diesen Tagen der Konflikt in Jugoslawien. Uns allen stehen die Bilder vor Augen — Bilder von demonstrierenden Müttern in europäischen Hauptstädten, und aus Jugoslawien kommen Bilder des Schreckens und des Terrors auf die Fernsehschirme. Vor allem diejenigen in Deutschland, die noch eine persönliche Erinnerung an die Schrecken des Krieges haben, sind davon ganz besonders bewegt.
    Angesichts der massiven militärischen Einsätze der letzten Wochen und Tage — nach den jüngsten Berichten kann man vielleicht sogar sagen: und Stunden — geht es darum, daß sofort und uneingeschränkt auf jede Gewaltanwendung verzichtet wird. Dies gilt für die jugoslawische Volksarmee wie für alle anderen bewaffneten Verbände.
    Die Europäische Gemeinschaft hat auf der außerordentlichen Sitzung der Außenminister am 27. August erklärt — ich zitiere — :
    Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten werden niemals eine Politik der vollendeten Tatsachen akzeptieren. Sie sind entschlossen, durch Gewalt herbeigeführte Grenzänderungen nicht anzuerkennen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Gestern haben sich die Außenminister der Gemeinschaft darauf geeinigt, bereits für den kommenden Samstag eine Friedenskonferenz nach Den Haag einzuberufen. An dieser Konferenz sollen alle Konfliktparteien in Jugoslawien zusammen mit den Gemeinschaftsländern teilnehmen. Ich begrüße es ganz be-



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    sonders, daß mit Lord Carrington ein Mann als Koordinator vorgeschlagen wurde, dessen große internationale Erfahrung allseits geschätzt wird.
    Meine Damen und Herren, nunmehr sind auch die Voraussetzungen geschaffen, daß die europäische Beobachtermission die Einhaltung des Waffenstillstands auch in Kroatien überwachen kann. Ich will von dieser Stelle aus noch einmal alle Verantwortlichen in Jugoslawien aufrufen, der Mission ihre Tätigkeit zu erleichtern. Hinter den europäischen Friedensbemühungen stehen alle KSZE-Staaten.
    Dennoch, so glaube ich, ist es wichtig, daß wir in dieser Stunde noch einmal deutlich machen: Wer glaubt, jetzt immer noch auf Gewalt setzen zu können, muß mit einer entschiedenen Antwort aller Europäer rechnen.

    (Beifall bei der CDU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Dies gilt auch und nicht zuletzt für die Bundesrepublik Deutschland, namentlich im Blick auf die daraus zu ziehenden Konsequenzen.
    Wenn Dialog, wenn friedliches Miteinander nicht mehr möglich sind, dann stellt sich für uns, auch und gerade aus unserem Verständnis von Selbstbestimmungsrecht, die Frage, diejenigen Republiken, die nicht mehr zu Jugoslawien gehören wollen, völkerrechtlich anzuerkennen.

    (Beifall bei der CDU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Meine Damen und Herren, die Völkergemeinschaft und insbesondere die Europäer werden weiterhin für eine friedliche Lösung auf der Grundlage der KSZE- Dokumente und insbesondere der Charta von Paris für ein neues Europa arbeiten. Dabei gilt es, das Gleichgewicht aller Prinzipien zu wahren: Freiheit und Selbstbestimmung, Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten, Unverletzlichkeit der Grenzen und nicht zuletzt Gewaltverzicht und Achtung der Rechte und Sicherheitsinteressen anderer.
    Am Anfang muß — ich kann es nicht oft genug wiederholen angesichts der Schreckensbilder, die wir täglich übermittelt bekommen — eine strikte Einhaltung des Waffenstillstands stehen. Die Bundesregierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, damit die uns in Freundschaft verbundenen Völker Jugoslawiens Aussicht auf eine Zukunft haben, die besser ist als die leiderfüllte Gegenwart.
    Meine Damen und Herren, seit dem KSZE-Gipfel im November 1990 und der Unterzeichnung der Charta von Paris für ein neues Europa wird die KSZE zu einem immer festeren Stützpfeiler für die gesamteuropäische Friedensordnung. Die erste Ratssitzung der Außenminister, die ich am 19. Juni in Berlin eröffnet habe, war dabei ein richtungweisender Anfang. Mit dem „Rat der Außenminister" und dem neugeschaffenen Krisenmechanismus sind Instrumente geschaffen worden, die die politische Handlungsfähigkeit der KSZE stärken.
    Zur gesamteuropäischen Friedensordnung gehört eine langfristig angelegte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den Reformstaaten Mittel-, Ost- und
    Südosteuropas. Dies ist eine wichtige Investition in eine gemeinsame friedliche Zukunft, und gerade wir Deutsche profitieren davon. Jedes Land ist dabei gefordert, dazu seinen Beitrag zu leisten.
    Wir haben unser Verhältnis zur Republik Polen durch den Grenzvertrag und den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit auf eine zukunftsgewandte Grundlage gestellt. Übermorgen werden wir in diesem Haus Gelegenheit haben, über diese Verträge und über die Perspektiven des deutsch-polnischen Verhältnisses zu debattieren.
    Wir stehen in Gesprächen und Verhandlungen mit der CSFR und kommen dabei voran. Wir hoffen, bald einen ähnlichen Vertrag abschließen zu können, der auch mit diesem Land gute Nachbarschaft im zusammenwachsenden Europa besiegelt. Auch mit Ungarn, Bulgarien und Rumänien haben wir Verhandlungen über umfassende Verträge aufgenommen.
    Zukunft hat in Europa und weltweit nur eine Politik, die vom Willen zum Frieden, zur Freiheit, zum Ausgleich und zur Zusammenarbeit bestimmt ist. Gerade in den Ereignissen der letzten Tage und Wochen ist erneut deutlich geworden: Freiheit und Selbstbestimmung sind stärker als Mauern und Panzer.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Die Erfahrung der Geschichte zeigt bis in unsere Tage hinein — und dies soll man in Belgrad nicht vergessen — , daß man einen Staat nicht mit Panzern zusammenhalten kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Gegen den Willen der Menschen läßt sich eine staatliche Ordnung, die auf Zwang und Unterdrückung setzt, nicht durchhalten. Andere europäische Völker, insbesondere unsere Nachbarn in Polen, Ungarn und der CSFR, haben diese Erfahrung neuer Freiheit mit uns geteilt.
    Von der Freiheitsbewegung in Europa können und müssen Hoffnung und Zuversicht für die Menschen und Völker in aller Welt ausgehen, die nach Freiheit streben.
    Das vereinte, das souveräne Deutschland steht jetzt in der Pflicht, alles daranzusetzen, gemeinsam die innere Einheit Deutschlands in Stabilität und Solidarität zu vollenden. Wir sind aufgefordert, die Einigung ganz Europas voranzubringen und in der Völkergemeinschaft die auf uns zukommende größere Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir uns dieser Verantwortung stellen, leisten wir einen unerläßlichen Beitrag zu einer neuen Epoche, zu einem neuen Europa des Friedens, der Freiheit und der guten Nachbarschaft.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich erteile jetzt das Wort dem Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Herrn Engholm.




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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Universität in Königsberg hat dieser Tage beschlossen, ihr 650jähriges Bestehen Immanuel Kant, dem großen Sohn dieser Stadt, zu widmen. Was könnte eigentlich den tiefen Umbruch in diesen Wochen besser zeigen als die Planung eines Festes durch Russen für einen deutschen Philosophen der Aufklärung in einer Stadt, die Kaliningrad — Königsberg — heißt?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Noch!)

    — Die Zwischenrufe werden wir mit Vergnügen im Protokoll nachlesen.
    Kants praktischer Imperativ von 1786 liest sich wie das ganze Programm für die Umwälzungen von heute: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden Anderen zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. " In dieser Verpflichtung steht auch dieses Parlament in diesen Tagen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Seit den letzten Augusttagen ist in Europa nichts mehr, wie es vorher war. Ein neues Zeitalter hat begonnen. Aber bei aller Freude, die wir über die Ereignisse im Osten Europas gemeinschaftlich empfinden
    — Voreilige seien gewarnt: Hier hat nicht schlicht der Westen über den Osten triumphiert. Es ist nicht damit getan, zu sagen, hier habe einfach ein System das andere abgelöst; das auch. Hier haben vor allen Dingen mutige Menschen auf der Straße die Diktatur besiegt.

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Hier haben Bürger Panzern getrotzt, Bergarbeiter gestreikt und Soldaten sich geweigert, auf das eigene Volk zu schießen.
    Zwei Männer, deren bleibende Verdienste in diesen Tagen manchmal unangemessen gegeneinander ausgespielt werden, verdienen unseren Dank: der eine, der — vor seinem Volk — den Völkern Mittel- und Osteuropas den Weg in die Freiheit geebnet und uns die Einheit ermöglicht hat; der andere, der sich entschlossen gegen eine neue Eiszeit gestemmt hat. Insbesondere wir Deutsche stehen in der Schuld von beiden, von Boris Jelzin und Michail Gorbatschow.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Wir haben allen Anlaß, Dank und Respekt auch einem Dritten zu bekunden, dem amerikanischen Präsidenten George Bush, der im richtigen Moment unglaubliche Besonnenheit und Weitblick gezeigt hat.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP — Volker Rühe [CDU/CSU]: Beifall von der eigenen Fraktion! — Gegenruf des Abg. Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Jetzt seid ihr überrascht! — Lachen bei der CDU/CSU)

    — Ich sehe mit großer, innerer Freude, daß immer, wenn Schleswig-Holsteiner hier reden, Freude im
    ganzen Hause angesagt ist. Ich werde Sie damit, Herr Rühe, in der Zukunft häufiger beglücken müssen.

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Okay!)

    Meine Damen und Herren, bevor ich den Blick nach vorn richte, gestatten Sie mir einige Bemerkungen zur Vergangenheit. Der schreckliche Mißbrauch der Ideale des Sozialismus hat tragische Folgen in der Geschichte gehabt. Unendlich Viele wurden verfemt und verfolgt, weil sie sich nicht vor Stalin und seinen Epigonen verbeugen wollten. Viele aus vielen Ländern, die den Nazis entkamen, starben später in sowjetischen Lagern. Es waren ebenso Konservative wie Liberale, Christen wie Juden und sehr viele Männer und Frauen der europäischen Sozialdemokratie. Sie alle haben an das geglaubt, was jetzt in der Sowjetunion bewiesen wurde: Der Wille zur Freiheit ist letztlich stärker als jedes System und jede Diktatur.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU, der FDP und der PDS/Linke Liste)

    Wir wollen allesamt dem endgültigen Zusammenbruch eines Systems, dessen Errungenschaften nicht einmal auf dem Papier standen oder als Kulisse existierten, keine Träne nachweinen.

    (Volker Rühe [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Es liegt wohl in der menschlichen Natur, aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Kurzsichtigkeit, vielleicht aus Angst vor dem Unbekannten eher mit dem Status quo zu rechnen und auf den Status quo zu setzen, als an das Neue zu glauben. Wenn wir uns erinnern: Niemand kann sich und seine Partei völlig von dieser verengten Denkungsart ausnehmen

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Aber Unterschiede gab es schon! — Gegenruf des Abg. Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Na! Na!)

    — Manche Ereignisse dieser Tage, denke ich, lassen Nachsicht auf allen Bänken und in allen Reihen dieses Hauses zu.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Weiß Gott!)

    Jetzt ist die Politik der kleinen Schritte von den Hoffnungen und den Taten der Menschen überholt worden. Damit kommt die eigentliche Bewährungsprobe auf uns zu. Früher hatten wir die Aufgabe, dem Kommunismus gegenüber zu bestehen. Das ist, wenngleich mit Opfern, gelungen. Heute haben wir vor den Augen der Menschen in ganz Osteuropa zu bestehen, ihre Bedürfnisse auf- und ernst zu nehmen und zu helfen, sie zu befriedigen. Das muß erst noch gelingen. Ich denke, damit kommen die eigentlichen Aufgaben erst auf uns zu.
    Die Charta von Paris ist die Grundlage jeder künftigen deutschen Außenpolitik. Sie ist das Ergebnis des KSZE-Prozesses, der von Willy Brandt und Helmut Schmidt erfolgreich begonnen worden ist.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

    Ich ziehe daraus folgende Schlußfolgerungen: Unser Verhältnis zu den Staaten und Republiken, die sich als selbständig erklären, muß eindeutig geklärt



    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    werden. Niemand wird bei der Lösung dieser Aufgabe die Gefahren übersehen, die von nationalistischen Übertreibungen ausgehen. Rassismus, Nationalismus, der Haß auf Minderheiten dürfen in unserem neuen Europa nie wieder irgendeine Chance bekommen.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Aber in mancher Befürchtung bei der Beurteilung des Wunsches der Völker auf neue Selbständigkeit klingt manchmal so etwas wie eine heimliche Sehnsucht nach der scheinbar guten alten bipolaren, kalkulierbaren Welt wider. Ich warne Neugierige: Wer damit kokettiert, vergißt, welchen Preis die Völker im Osten für ihre jahrzehntelange Kasernierung haben bezahlen müssen.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

    Ich setze dagegen: Wer in der Vergangenheit mit Leidenschaft für die Unabhängigkeit von Völkern der Dritten Welt gestritten hat, der kann heute bei dem Wunsch der Völker des Baltikums oder Jugoslawiens auf eigene Selbstbestimmung den Kopf nicht in den Sand stecken.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Für die SPD gilt deshalb: Wir stehen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, auch zu jenem Weg der Selbstbestimmung, der zur Selbständigkeit dieser Völker führt. Wir können anderen nicht das verwehren, was wir jüngst für unser Volks selber erfolgreich in Anspruch genommen haben.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

    Das galt gerade gestern für die baltischen Republiken; es gilt heute für die Slowenen und Kroaten, und es mag morgen für manche anderen gelten.
    In der Jugoslawien-Krise hat die Bundesregierung und hat die Gemeinschaft lange keine rühmliche Rolle gespielt. Mit der Formel, daß nur einem geeinten Jugoslawien der Weg in die Europäische Gemeinschaft offenstehen würde, fanden diejenigen Bestätigung, die den jugoslawischen Staatsverband mit Gewalt zusammenhalten wollten. Das war die falsche Aussage der Politik.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich erinnere daran, daß Ende Mai die sozialdemokratische Bundestagsfraktion eindringlich vor der Gefahr eines Bürgerkrieges gewarnt hat und die Gefahr der Libanonisierung des Balkan beschworen hat. An vorausschauendem Krisenmanagement, auch bei der Bundesregierung, hat es zu jener Zeit gefehlt.

    (Beifall bei der SPD)

    „Jetzt rächen sich die außenpolitischen Versäumnisse gegenüber dem Vielvölkerstaat Jugoslawien" — Originalzitat Horst Teltschik, jüngst in der „Bild am Sonntag".

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Aber das ist im Juni schon korrigiert worden!)

    Mit Sorge beobachten wir, daß das berechtigte Verlangen der Völker Jugoslawiens nach Selbstbestimmung von zunehmend bösartigem Nationalismus überdeckt wird. Auch heute nacht ist wieder geschossen worden. Auch heute nacht hat die unselige Auseinandersetzung wieder Tote gekostet. Ich glaube, es ist höchste Zeit, konkret ins Auge zu fassen, daß Sanktionen politischer und wirtschaftlicher Art gegen die Verantwortlichen ins Feld geführt werden.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)

    Ein Zeichen von ganz großer symbolischer und weit darüber hinausreichender Bedeutung ist, glaube ich, der mutige Protest der Mütter von Zagreb und Belgrad, die sich auf den Marsch machten, um ihre Söhne davor zu bewahren, in einem sinnlosen Krieg verheizt zu werden.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Die Völkergemeinschaft kann und muß verlangen, daß das Recht auf Selbstbestimmung in Verantwortung für den Frieden und im Geist guter Nachbarschaft wahrgenommen wird, d. h. demokratisch legitimiert, mit friedlichen Mitteln und unter Beachtung des Rechtes nationaler Minderheiten und mit Respekt vor der gemeinsamen Sicherheit in Europa. Bevor vagabundierende Atomwaffen neue Risiken schaffen, müssen sie nach meiner Auffassung zum Thema der Vereinten Nationen gemacht werden.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Wer diese Prinzipien verletzt, wer gar mit Gewalt Grenzen umstoßen will, der sperrt sich selbst aus der freien Gemeinschaft der europäischen Völker aus und muß mit wirtschaftlicher und politischer Isolierung rechnen.
    Aus den Fehlern in der Jugoslawien-Krise ist zu lernen. Ich schlage eine dringliche Sitzung der KSZE vor, die die baltischen Staaten als ordentliche Mitglieder aufnimmt und auf der sich die Republiken der Sowjetunion unbeschadet ihres völkerrechtlichen Status auf die Charta von Paris verständigen und entsprechende Vereinbarungen treffen. Ich glaube, daß eine solche Sitzung von hohem Sinn ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Für die Integration und für die Reform der Europäischen Gemeinschaft muß der Kurs heißen: Jetzt erst recht und hoffentlich mit mehr Mut und mehr Geschwindigkeit, als die Staaten der Gemeinschaft den Prozeß bisher vorangetrieben haben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wer jetzt das Ziel der Europäischen Union verzögerte oder gar aufgäbe, der erwiese ganz Europa einen Bärendienst.

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Originalton Helmut Kohl!)

    Wir würden in kleinstaatliche Kabinettspolitik der Zwischenkriegszeit mit all den furchtbaren Folgen zurückfallen.



    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    Für meine Partei gilt deshalb: Wir wollen kein schwaches Europa mit einem übermächtig starken Deutschland in der Mitte; wir wollen ein starkes Europa, in das das größer gewordene Deutschland seine ganze Kraft zugunsten der Gemeinschaft einbringt.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wir brauchen eine tiefgreifende Reform der EG; ich werde heute das Vergnügen haben, darüber mit Jacques Delors zu reden.

    (Oh-Rufe von der CDU/CSU)

    — Ihre Reaktion klang, mit Verlaub, ein wenig neidvoll.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Bewundernd war es!)

    Wer Jacques Delors kennt, der weiß, daß es in der Tat ein intellektuelles Vergnügen ist, mit diesem weitsichtigen Menschen Gedanken austauschen zu dürfen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir brauchen eine größere Effektivität der Institutionen, und wir brauchen stärkere Rechte des Europäischen Parlaments. Daß sich dieses Parlament eher auf dem Status des kaiserlichen Reichstages befindet, was seine Rechte angeht, das hat keine Zukunft.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der PDS/Linke Liste)

    Wir wollen eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion und ebenso eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
    Es ist zugleich höchste Zeit für eine gemeinsame Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle, d. h. für gemeinsame Kontrollen des Waffenhandels und für gemeinsame Initiativen zur Reform der Vereinten Nationen. Die Europäer müssen dafür sorgen, daß die Weltorganisation mehr Macht und auch mehr Geld im Kampf gegen die Rüstung und gegen die Ursachen von Konflikten weltweit bekommt.

    (Beifall bei der SPD)

    Niemand wird die Illusion haben dürfen, daß von Wladiwostok bis Lissabon, vom Nordkap bis zur Türkei alle Staaten Mitglied einer integrierten Europäischen Gemeinschaft sein könnten. Die historische und die kulturelle Vielfalt Osteuropas und die verschiedenartigsten Völker der Sowjetunion lassen sich nicht in eine Mega-EG pressen.
    Dennoch sage ich mit Nachdruck: Die Europäische Gemeinschaft muß offener werden als bisher, offener für neue Mitgliedstaaten und offener für die Zusammenarbeit mit Staaten, die auf Grund ihrer Strukturen jetzt noch nicht für eine Mitgliedschaft zur Verfügung stehen.

    (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Welche?)

    Deshalb wollen wir jetzt das Abkommen über den europäischen Wirtschaftsraum mit einer großen Initiative im Herbst über die Bühne bringen. Deshalb
    bin ich nachdrücklich für den schnellen Beitritt Schwedens und Österreichs und weiterer EFTA-Staaten, die sich in absehbarer Zeit zu einem Beitritt entschließen werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb bin ich nachdrücklich für weitreichende Handels-, Kooperations- und Assoziierungsabkommen, die den baltischen Republiken, aber ebenso den anderen Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas die Heimkehr nach Europa endlich erleichtern und ermöglichen.
    Jetzt ist eine große Gemeinschaftsanstrengung des Westens notwendig, um den Völkern des Ostens beim Umbau ihrer Gesellschaften tatkräftig zu helfen. Die europäischen Lagerhäuser sind voll, um hohe Preise zu garantieren, was wiederum Kosten verursacht, die auch das deutsche Volk mit gezahlt hat. Lassen Sie uns die Lagerhäuser zugunsten der in diesem Winter Hungernden im Osten Europas öffnen!

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Ich teile die Auffassung, daß konkrete Projekte gefördert werden müssen, daß das Transferieren von Geld allein nicht reichen wird. Dabei wird Wissen ebenso wichtig sein wie das Geld als solches. Ich plädiere dafür, auch unkonventionelle Wege bei der Hilfestellung für den Osten zu gehen. Ich habe in der letzten Zeit mehrfach Vorschläge eines Managers der Deutschen Bank, Herrn Lebahn, gelesen, der eine Art von „Systemdolmetschung" anbietet, um das undurchdringliche Dickicht im Osten mit vernünftigen und tatkräftigen Methoden aufzuhellen und damit die Hilfen dort hinzubringen, wo die Menschen die Hilfen wirklich benötigen.
    Wir Deutschen — auch das will ich mit allem Nachdruck sagen — werden gegenwärtig mit einer zu großen Anforderung an deutsche Hilfen überfordert. Jetzt müssen Europa und Nordamerika großzügig und eng zusammenwirken. Hier könnte sich die Perspektive des amerikanischen Präsidenten Bush — Deutsche und Amerikaner als partners in leadership — auf eine ganz neue und faszinierende Art und Weise beweisen.

    (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Die Japaner aber auch!)

    Auch Japan, Herr Kollege Graf Lambsdorff, ist zur Mithilfe gebeten. Der japanische Beitrag zum neuen Europa kann nicht darin bestehen, immer neue Märkte zu erobern und sich ansonsten fein zurückzuhalten.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Aus der Föderalisierung der Sowjetunion ergibt sich zugleich, Herr Bundesratspräsident, eine besondere Aufgabe für die deutschen Länder. Ich glaube, je stärker die Föderalisierung im Osten Platz greift, desto mehr Chancen kleinteiliger Kooperationen gibt es auch für die föderativen Einheiten der Bundesrepublik Deutschland. Ich weiß um die Bemühungen meines Kollegen Voscherau, in diesem Bereich einer der Vorreiter zu sein. Ich bin sicher, alle Länder und alle Ministerpräsidenten werden die Chance der kleintei-



    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    ligen Abstimmung und Zusammenarbeit für die Zukunft intensiver denn je zuvor nutzen.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Schleswig-Holstein hat solche Möglichkeiten bereits vor längerer Zeit getestet. Wir haben sie lange vor der Unabhängigkeit der baltischen Staaten auch mit den Präsidenten Landsbergis und Rüütel beredet. Die Chance, einen überregionalen Ostseerat zu begründen mit Staaten, mit deren Zusammenarbeit man noch vor Jahresfrist nie hat rechnen können, ist eine unglaubliche Möglichkeit. Wir wollen die Gelegenheit beim Schopfe packen.

    (Zustimmung bei der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU])

    Die großen Aufgaben, die wir im Osten zu erledigen haben, dürfen nicht dazu führen, andere Konfliktherde in der Weltinnenpolitik zu vernachlässigen. Ich meine, wir dürfen nicht den Blick verstellen auf die Probleme und Sorgen der gesamten Mittelmeerregion, auf die des Nahen Ostens, und wir dürfen nicht vergessen, welche unendlichen Sorgen, Nöte und Probleme noch in der Nord-Süd-Politik bewältigt werden müssen, die jetzt schon so sträflich vernachlässigt wird. Alle diese Aufgaben sind gleich dringlich. Wir haben zu begreifen, daß sie auch mit dem qualifizierten Überleben des Kontinents Europa zu tun haben.
    Weder mit einer Armutsgrenze an Oder und Neiße noch mit einer zwischen Nord und Süd können wir Europäer dauerhaft und in Frieden existieren. Eine Völkerwanderung von Ost nach West, gar eine große Völkerwanderung von Süd nach Nord würde das Ende aller Hoffnungen auf diese faszinierende neue Weltordnung bedeuten. Deshalb sollen wir heute helfen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Die Frage stellt sich für uns, ob wir heute Solidarität wählen — sie wird uns etwas kosten — oder ob wir in absehbarer Zeit gezwungen sein werden, die Grenzen so dichtzumachen, daß das jeder Philosophie, die wir entwickelt haben, widerspricht. Ich bin dafür, Solidarität heute zu offerieren und tatkräftig zu helfen.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])

    Das geht, wie wir wissen, nicht ohne Einschnitte auch bei uns. Ich sage mit aller Zurückhaltung, aber allem Ernst: Wir müssen uns künftig mehr denn je überlegen, ob nicht jede einzelne D-Mark, die wir immer noch in fragwürdige Projekte — auch der Großrüstung — stecken, nicht hundertmal besser investiert ist in praktischer Solidarität den Völkern des Ostens gegenüber.

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Das gilt für die Handelsbeziehungen, bei denen sicher ist, daß wir ohne sogenannte asymmetrische Handelsbeziehungen die Zukunftsprobleme nicht werden bewältigen können. Das heißt, wer von Solidarität redet, der muß bereit sein, auch Produkte aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn dann auf
    unseren Markt zu lassen, wenn es eigenen Produzenten hier weh tut.

    (Zustimmung bei der SPD und der CDU/ CSU)

    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ruft nach Veränderungen im Osten, aber sie verschweigt uns die wirklichen Konsequenzen für den Westen. Auf vielen Feldern ist heute neues Denken erforderlich. Ich will dazu einige wenige Bemerkungen machen. Bis heute hat für mich die Sicherheitspolitik der Bundesregierung und der NATO aus der Charta von Paris kaum erkennbare Konsequenzen gezogen.

    (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

    Wir konnten vielleicht noch vor Monaten mit einigem Sinn über die Frage der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Tiefflügen reden. Aber ist es angesichts der Situation der letzten 14 Tage vertretbar, strategisch begründbar, daß nun auch die neuen Länder und ihre Bevölkerung mit der Segnung der Tiefflüge bedacht werden?

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Wenn heute die Ukraine oder Weißrußland atomwaffenfreie Zonen sind, dann gehört Deutschland an die Seite der Staaten, auf deren Boden es absolut keine einzige Atomwaffe mehr gibt.

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Was immer an Gerüchten dran sein mag, in den neuen Bundesländern müssen sich im Zweifel Inspekteure davon überzeugen können, daß alle sowjetischen Atomwaffen auch wirklich abgezogen sind.

    (Beifall des Abgeordneten Michael Glos [CDU/CSU])

    Es darf künftig keine neue NATO-Strategie beschlossen werden — das gehört zur Neuerung des Denkens —, ohne Moskau oder Warschau, ohne Kiew oder Riga vorher zu konsultieren. Das heißt nämlich künftig europäisch organisierte gemeinsame Sicherheit.

    (Beifall bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, eine Armee — und dies betrifft viele Armeen in Europa und ganz direkt die Bundeswehr — , die ihren potentiellen Gegner nicht mehr so fixieren kann wie immer zuvor, braucht ein erweitertes Selbstverständnis. Unsere Soldaten müssen wissen, wofür sie künftig stehen. Insbesondere die, die weiterhin zur Wehrpflicht eingezogen werden, — wofür ich votiere, weil ich gegen eine Berufsarmee bin — , müssen innerlich überzeugt sein, wofür sie ihre Tätigkeit leisten.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Das heißt, zu der traditionellen Aufgabe der Verteidigung werden weitere, neue Aufgaben hinzukommen. Ich schlage Ihnen vor, über eine Truppe von Grünhelmen für humanitäre Hilfen, für ökologische



    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    Einsätze und Katastrophenschutzeinsätze in der Welt miteinander zu reden. Hier könnte eine friedenstiftende Aufgabe unserer gut ausgerüsteten Soldaten in der Zukunft liegen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich biete Ihnen an, das Grundgesetz gemeinsam so zu ändern, daß Bundeswehreinheiten als Blauhelme für friedenserhaltende Missionen der UNO, also nicht für Kampfeinsätze, bereitgestellt werden können. Ich weiß, daß die Koalition mehr will, aber warum können wir uns eigentlich nicht auf das verständigen, was hier im ganzen Hause fast unumstritten ist?

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Sie müssen begründen, warum die anderen andere Einsätze haben!)

    Das Notwendige jetzt tun und über das andere strittig bleiben, wäre eine Aufgabe pragmatischer Politik, die Sie uns bisher vorenthalten haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Seit Willy Brandt damals das Prinzip der Nachbarschaft politisch-inhaltlich definiert hat, auch gegenüber einer Welt, die noch scharf von uns getrennt war, wissen wir, daß gute Nachbarschaft eines der elementarsten Instrumente von weltweiter Sicherheit ist. Aber ich sage es deutlich: Es ist blamabel, daß die deutsch-polnischen Verträge erst nach einem peinlichen Hickhack in der Koalition zur Ratifizierung vorgelegt worden sind.

    (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

    Es ist wahrhaft kein Ruhmesblatt für diese Regierung, daß der Vertrag mit der CSFR bis gestern durch deutsche Schadensersatzforderungen blockiert worden ist. Vaclav Havels großmütige und überzeugende Geste der Versöhnung auch gegenüber den Vertriebenen bedeutet für uns: Befreien wir uns endlich in unserem Verhältnis zu Tschechen und Slowaken von dem Ballast dieser bösen Vergangenheit.

    (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ GRÜNE, der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Meine Damen und Herren, über allem muß die Botschaft stehen, daß Sicherheit künftig nie wieder auf das Militärische allein reduziert werden darf. Die gleiche Kraft und die gleiche Phantasie, die Generationen vor uns und wir selbst immer noch in militärische Projekte gesteckt haben, sollten wir heute in Projekte der zivilen und sozialen Ordnung unserer Welt investieren. Damit würden wir dieser Welt den größten Gefallen tun.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Unsere Bereitschaft und unsere Fähigkeit zu guter Nachbarschaft wird nicht zuletzt daran gemessen werden, welches Verhältnis wir zu den bei uns lebenden Ausländern unterhalten. Ich sage hier nach Ereignissen, die tief bedrohlich sind: Lassen Sie uns alle der Versuchung widerstehen, aus den Vorurteilen gegen Menschen anderer Hautfarbe, Herkunft oder Rasse politisches Kapital zu schlagen.

    (Beifall bei der SPD, der FDP, dem Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste)

    Ich habe in meinem Landtag einmal gesagt: Die Lufthoheit an deutschen Stammtischen sollten wir anderen überlassen; sie ist kein Ersatz für eine humane Ausländerpolitik.

    (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Volker Rühe [CDU/CSU]: Aber der massenhafte Mißbrauch des Asyls ist doch ein ernsthaftes Problem!)

    Deshalb lassen Sie uns nicht, Herr Kollege Rühe, mit einer dramatischen Einschränkung des Art. 16 unserer Verfassung spekulieren. Was immer Sie auf diesem Gebiet vorhaben, eine Veränderung dieses subjektiv-öffentlichen Rechtes würde kein Problem lösen helfen, und sie wäre unserer eigenen Geschichte nicht würdig.

    (Beifall bei der SPD, der FDP, dem Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Was macht denn der Herr Wedemeier?)

    Ich sage Ihnen zu, daß die Sozialdemokraten an jeder rechtsstaatlich begründbaren Straffung der Verfahren mitwirken werden.

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Massenhafter Mißbrauch des Asylrechts wird von Ihnen toleriert!)

    Daß hier erhebliche Erleichterungen möglich sind, daß hier eine starke Eindämmung des Mißbrauchs dieses Artikels möglich ist, davon gehe ich aus.
    Wenn Sie als Regierende und Mehrheit dieses Hauses den Gemeinden und Kreisen in Deutschland einmal eine hilfreiche Hand bei der Bewältigung der realen Probleme vor Ort gegeben hätten, dann wäre das auch leichter gewesen.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber eine Regierung, die über Jahre so sträflich allein schon in der Bereitstellung von verfügbaren Wohnungen für Schwächere versagt hat,

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste] — Lachen bei der CDU/CSU)

    darf für sich nichts in Anspruch nehmen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich appelliere auch an uns alle und an die Regierung insbesondere: Lassen wir nicht zu, daß Aussiedler und Asylbewerber gegeneinander wegtariert werden.

    (Beifall bei der SPD — Friedrich Bohl [CDU/ CSU]: Sehr richtig! Sehr gut! Was für ein Eiertanz! — Volker Rühe [CDU/CSU]: Und was sagt der Lafontaine? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Allerdings kann Vertreibungsdruck bei Deutschstämmigen nicht auf ewig weitervererbt werden. Insoweit, denke ich, sollten wir den Versuch unterneh-



    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    men, eine Abschlußgesetzgebung zu Art. 116 unserer Verfassung möglich zu machen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Was soll denn darin stehen?)

    Schließlich: Diese Regierung sollte mehr tun zur Beseitigung der Fluchtursachen in der Welt. Die Freiheit in der Ukraine begrüßen, aber Staaten wie Zaire oder Niger oder Malawi unterstützen, das paßt nicht mehr zusammen. Auch die Entwicklungspolitik braucht in diesem Sinne die Überprüfung.

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste] — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Wen meinen Sie denn jetzt?)

    — Ich meine, Herr Kollege, daß es manchmal ratsam wäre, die Jahresberichte von amnesty international zu lesen, statt darauf zu hoffen, daß staatssekretärliche Umarmungen in Fernost irgendwelche Probleme lösen helfen.

    (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste] — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wo ist denn der Minister? Fehlt da schon wieder jemand?)

    Die Teilung Deutschlands und Europas durch Teilen überwinden, das ist eine Aufgabe für vermutlich mehr als ein Jahrzehnt. Deshalb teile ich die Auffassung, die gestern bei der Debatte mehrfach zum Ausdruck gekommen ist: Unser Volk hat ein Recht auf die ungeschminkte Wahrheit über das, was auf uns an Anforderungen zukommt, und auch über Wege, wie wir dieser Anforderungen Herr und Frau werden.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU — Volker Rühe [CDU/ CSU]: Habt ihr das nötig?)

    Ich wiederhole, was die Kollegin Matthäus-Maier und andere immer wieder mit Überzeugung zum Ausdruck gebracht haben: Wer die Mehrwertsteuer erhöhen will, um damit Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen, hat nicht begriffen, in welcher Welt wir heute leben.

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE — Volker Rühe [CDU/CSU]: Der Zusammenhang ist doch konstruiert! Vorsicht, der Schröder sitzt dort!)

    Nie wieder wegsehen! Das war in prägnanter Eindringlichkeit die Lehre, die Willy Brandt den Deutschen am 50. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht in das politische Stammbuch geschrieben hat. Diese Lehre gilt für uns heute uneingeschränkt.
    Es gibt keine kollektive Schuld der Deutschen. Aber es gibt auch keine kollektive Unschuld, etwa durch Berufung auf die „Gnade der späten Geburt".

    (Beifall bei der SPD — Rudolf Kraus [CDU/ CSU]: Schwachsinn!)

    Wir müssen, aus unserer Geschichte lernend, Mitverantwortung für die neue Weltinnenpolitik übernehmen, die unsere Erde so bitter nötig zum Überleben braucht. Die Auflösung des Ost-West-Konflikts, das Ende des Blockdenkens, der Zerfall des Sowjetimperiums, das ist eine unendlich große Chance für unsere gemeinsame Welt. Jetzt werden Regierungen gebraucht, die diese Chance nutzen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben die Chance genutzt!)

    Bei unserem letzten Zusammentreffen in diesem Hohen Haus hat der Herr Bundeskanzler an seine erste Rede nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden erinnert. Ich muß am Rande bemerken: Diese Jungfernrede von Herrn Dr. Kohl als Parteivorsitzender fand am 13. März 1975 statt. Damals war Herr Dr. Kohl schon 700 Tage im Amt; meine erste Rede fand sieben Tage nach Übernahme des neuen Amtes statt.

    (Beifall bei der SPD — Friedrich Bohl [CDU/ CSU]: Sie hätten warten sollen! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das war auch entsprechend!)

    Ich will daraus keine Vergleichbarkeiten zwischen Oggersheimern und Lübeckern ableiten.
    Damals hat der Parteivorsitzende Dr. Kohl gesagt: Wir brauchen eine starke Regierung, die Mut hat und handelt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    — Ich war mir sicher, daß Sie dieser meiner Forderung an diese Bundesregierung uneingeschränkt zustimmen würden.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Michael Glos [CDU/CSU]: Könnten Sie uns einmal den Gag erläutern?)

    Meine Damen und Herren, der Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher, ein Ideologieforscher von hohem Rang, hat immer wieder eindrucksvoll beschrieben, wie sehr totalitäre Verführung es dem Menschen erschwert, „Politik selbst zu denken und mitzugestalten, um der Unterwerfung unter den Alleinanspruch politischen Glaubens entgegenzuwirken" . Der Siegeszug der Demokratien im Osten Europas hat die Chance für Menschen und Völker, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, so erhöht wie nie zuvor. Darin, glaube ich, liegt am Ende das größte Glück dieses Jahrhunderts.

    (Langanhaltender Beifall bei der SPD und Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)