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    Plenarprotokoll 12/37 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 37. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage und Entwicklung in der Sowjetunion und Jugoslawien Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3015 B Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan- des Schleswig-Holstein 3020 A Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 3025 D Dr. Hermann Otto Solms FDP 3031 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3035 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 3038 C Ortwin Lowack fraktionslos 3041 D Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 3043 A Hans Koschnick SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3046 D Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der a) ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) (Drucksache 12/1000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 (Drucksache 12/1001) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 3047 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 3057 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 3058C, 3100B, 3104 C Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 3062 C Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3068 D Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 3070 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3072 B Peter Conradi SPD 3082 B Dr. Lutz G. Stavenhagen CDU/CSU . . 3082 C Christel Hanewinckel SPD 3082 D Dr. Burkhard Hirsch FDP 3085 D Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 3086A Dr. Willfried Penner SPD 3087 A Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3089D, 3106A Dr. Sigrid Hoth FDP 3089 D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 3091 D Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 3092 B Dr. Paul Laufs CDU/CSU 3093 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3095 B Dr. Willfried Penner SPD 3097 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 3102A Karl Deres CDU/CSU 3104A Dr. Hans de With SPD 3108 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 3109A Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) CDU/CSU 3110D Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . . 3112D Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 3115D Nächste Sitzung 3117D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3119* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 — Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 — (Michael von Schmude CDU/CSU) . . . . 3119* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3015 37. Sitzung Bonn, den 4. September 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 04. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 04. 09. 91 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 04. 09. 91 * Erler, Gernot SPD 04. 09. 91 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 04. 09. 91 * Francke (Hamburg), CDU/CSU 04. 09. 91 Klaus Hilsberg, Stephan SPD 04. 09. 91 Koltzsch, Rolf SPD 04. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 04. 09. 91 Karl-Hans Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 04. 09. 91 Marten, Günter CDU/CSU 04. 09. 91 * Michels, Meinolf CDU/CSU 04. 09. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 04. 09. 91 Müller (Düsseldorf), SPD 04. 09. 91 Michael Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 04. 09. 91 Pfuhl, Albert SPD 04. 09. 91 * Rempe, Walter SPD 04. 09. 91 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 04. 09. 91 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 04. 09. 91 * Schmidt-Zadel, Regina SPD 04. 09. 91 Sielaff, Horst SPD 04. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 04. 09. 91 * Dr. Sperling, Dietrich SPD 04. 09. 91 Dr. Sprung, Rudolf CDU/CSU 04. 09. 91 * Verheugen, Günter SPD 04. 09. 91 Vosen, Josef SPD 04. 09. 91 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 04. 09. 91 Gert Welt, Hans-Joachim SPD 04. 09. 91 Wieczorek-Zeul, SPD 04.09.91 Heidemarie Zierer, Benno CDU/CSU 04. 09. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 - Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 - Michael von Schmude (CDU/CSU): Diese erste Lesung des Haushalts 1992 gibt uns willkommenen Anlaß zu einer Bestandsaufnahme, nämlich: wie weit sind wir beim Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates in den neuen Bundesländern vorangekommen, wo stehen wir, was muß noch getan werden? Anlagen zum Stenographischen Bericht Uns ist allen bewußt, daß die Glaubwürdigkeit der Justiz und das damit verbundene Vertrauen in den Rechtsstaat unabdingbare Voraussetzung für das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West sind. Die Verwirklichung der Einheit auf dem Gebiet des Rechts ist eine Mammutaufgabe und braucht demzufolge auch Zeit. Dennoch gehöre auch ich zu jenen, die ungeduldig sind, und in der Tat könnte und müßte das eine oder andere zügiger verwirklicht werden. Das Justizwesen der früheren DDR war Werkzeug des Unterdrückerstaates und muß deshalb mehr als jede andere Verwaltung auch personell von Grund auf erneuert werden. Das bedeutet, daß Richter und Staatsanwälte nur in einem geringen Umfang übernommen werden können. Um eine Richterdichte wie in den alten Bundesländern herzustellen, benötigen wir etwa 4 500 Richter, 1 000 Staatsanwälte und 2 000 Rechtspfleger. Letztere waren in der früheren DDR überhaupt nicht vorhanden. Die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte, die bereits in der ehemaligen DDR tätig waren, wird intensiv betrieben (von 2 600 = 1990 sind jetzt noch 1 300 im Amt). Unabhängig davon sollten jene Juristen, die sich schuldig gemacht haben, nicht erst auf das Ergebnis ihrer Überprüfung warten, sondern durch freiwilliges Ausscheiden ein Zeichen der Einsicht und damit einen Beitrag zum Neubeginn leisten. Gleiches gilt auch für diejenigen Juristen, die sich noch kurz vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als Rechtsanwälte niedergelassen haben, obwohl sie auf Grund ihrer Vergangenheit dieses besser hätten unterbleiben lassen sollen. Überprüfungen sind notwendig, wobei erforderlichenfalls die bisherigen gesetzlichen Grundlagen ergänzt werden müssen. Auch hier gilt: Jeder Einzelfall muß auf die persönliche Verantwortung hin untersucht werden, Pauschalverurteilungen sind fehl am Platze. Unser 1991 beschlossenes dreijähriges Hilfsprogramm zum Aufbau des Rechtsstaates im Beitrittsgebiet sieht die Entsendung von insgesamt 2 300 Juristen und Rechtspflegern vor. Dabei handelt es sich um 1 000 Richter und Staatsanwälte, von denen bis Ende Juni etwa die Hälfte abgeordnet waren. Die Länder haben erneut versprochen, die angestrebte Zahl per Ende dieses Jahres annähernd sicherzustellen. Ein größeres Defizit tut sich bei den Rechtspflegern auf. Zwischen Bund und Ländern war vereinbart, in diesem Jahr 500 Rechtspfleger abzuordnen. Per Ende August lag diese Zahl mit 211 weit zurück. Angesichts des großen Arbeitsanfalls bei den Grundbuchämtern - bekanntlich liegen über 1 Million Ansprüche auf Rückübertragung vor - ist dieser Zustand besonders bedauerlich. Am Geld kann es nicht liegen, denn im Rahmen des gesamten Hilfsprogramms von 120 Millionen sind für diesen Bereich der Abordnung allein 65,4 Millionen DM vorgesehen. Die neuen Bundesländer machen von dem finanziellen Hilfsangebot des Bundes zur Einstellung von bis zu 300 Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern regen Gebrauch. Hier sind kurzfristig bereits 200 Stellen besetzt worden. 3120* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Außerordentlich unbefriedigend und schleppend verläuft dagegen die Ausschöpfung unseres sog. Seniorenmodells. Hier waren Haushaltsmittel in Höhe von 17,5 Millionen DM im Haushalt 1991 vorgesehen zur Entsendung von 500 pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern. Mehr als 100 Interessenten haben sich bei den Justizministern der alten Bundesländer beworben und ganze drei sind inzwischen erst tätig: ein Richter in Sachsen und jeweils ein Richter und ein Rechtspfleger in Thüringen. Diesem Mißstand muß durch den Bundesjustizminister dringend nachgegangen werden. Sollten die alten Bundesländer mit dieser Aufgabe der Bewerberauswahl überfordert sein, so wäre dringend eine Übertragung auf ein anderes Gremium erforderlich. Insgesamt bleibt ohnehin festzuhalten, daß einige Bundesländer sehr vorbildlich den Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern unterstützen, andere hingegen, oft entgegen großer Ankündigungen, nur sehr halbherzig. Ein negatives Beispiel ist dafür leider auch Herr Engholm, der 1990 ganze vier Richter nach Mecklenburg-Vorpommern abgeordnet hat und die ohnehin knappen Ressourcen an Richtern durch die parteipolitisch motivierte Entscheidung zur Einrichtung eines neuen Oberverwaltungsgerichts weiter einengt. So sehen manche Solidarbeiträge aus! Die Vereinbarung des Bundesjustizministers mit seinen Länderkollegen zur Entsendung von 60 Staatsanwälten zur Aufdeckung der Regierungskriminalität in der früheren DDR ist von den Ländern bisher erst mit 10 Juristen teilerfüllt worden. Natürlich ist kein Schleswig-Holstein dabei. Zur Aufarbeitung der früheren SED-Diktatur hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Bereinigung von SED-Unrecht vorgelegt. Damit sollen die Aufhebung von Unrechts-Urteilen und die Entschädigungsregulierung beschleunigt werden. Wir müssen an diesen Komplex mit einem besonderen Augenmaß herangehen: In den mehr als 20 000 anstehenden Rehabilitierungsverfahren stecken erschütternde Einzelschicksale. Den Betroffenen muß Gerechtigkeit widerfahren. Allerdings müssen wir auch die Grenzen unserer Möglichkeiten erkennen, die einfach darin bestehen, daß geschehenes Unrecht weder finanziell noch sonst voll ausgeglichen werden kann. Bei den Finanzen ist zu berücksichtigen, daß dieses Gesetz mit etwa 1,5 Milliarden DM Kosten an die Grenzen unserer Möglichkeit heranführt. Mit einem noch zu beratenden Gesetz über die sogenannte Verwaltungsrehabilitation müssen Willkürakte der DDR-Organe im Verwaltungsbereich aufgearbeitet werden. Hier muß eine Möglichkeit geschaffen werden, auch abgeschlossene Verfahren wieder aufzugreifen. Besonders gilt dies hinsichtlich der sogenannten Zwangsumsiedlungen. So wurden u. a. im ehemaligen Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze — auch direkt angrenzend an meinen Wahlkreis in Mecklenburg — Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Hab und Gut gegen ein Trinkgeld dem Staat zu übereignen. Für die Vergangenheitsbewältigung des SED-Schnüffler- und Spitzelstaates brauchen wir weitere juristische Grundlagen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ermöglicht uns entsprechende Informationen im Interesse betroffener Opfer. In Verbindung mit der Erfassungsstelle Salzgitter kann dann hoffentlich ein Großteil politisch motivierter Straftaten aus der DDR-Zeit verfolgt und gesühnt werden. In diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, daß einige SPD-regierte Bundesländer einen Läuterungsprozeß durchlaufen haben und sich wieder an den Kosten der Erfassungsstelle Salzgitter beteiligen. Es war schon beschämend, wie man hier in der Vergangenheit aus einer Gefälligkeitspolitik heraus sich aus der politischen Verantwortung davongestohlen hat. Ein ganz besonders negatives Beispiel gibt wiederum die schleswig-holsteinische Landesregierung unter Ministerpräsident Engholm, die sofort nach der Regierungsübernahme 1987 ihren Anteil von nur 10 000 DM verweigerte. Der bisherige Aufbau der rechtsstaatlichen Justiz im Osten Deutschlands verdient Dank und Respekt vor allem gegenüber den neuen Bundesländern, denn der Alltag zeigt, daß inzwischen auch hier und da bereits Rückstände bei Gerichten und Grundbuchämtern abgearbeitet werden können. Allen Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums möchte ich an dieser Stelle ebenfalls meinen Dank für die von ihnen geleistete vorbildliche Arbeit sagen.
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    Rede von Dr. Alfred Dregger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Danke, Frau Präsidentin. — Henry Kissinger hofft, daß die jetzt entstehende Ordnung — ich zitiere ihn — „weniger militaristisch, lose konföderiert und weniger expansionistisch" sein wird als die alte Ordnung der Zaren und der kommunistischen Generalsekretäre. Das wäre in der Tat ein Segen für die ganze Menschheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auch wir bekunden unseren Respekt vor Michail Gorbatschow, der mit ungeheurem Mut die Befreiung vom Joch des Sozialismus und Imperialismus eingeleitet hat, und vor Boris Jelzin, dem gewählten Präsidenten der Republik Rußland, der in einer gefährlichen Krise entschlossen, umsichtig und wirksam gehandelt hat. Jelzin hat sich als einer der ersten von der kommunistischen Partei getrennt. Er hat sie verboten und ihr Vermögen eingezogen. Er hat als einer der ersten die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der Präsident des litauischen Parlaments, Landsbergis, hat den Westen kritisiert, daß er erst nach Jelzin diese Anerkennung vorgenommen hat. Ich finde das im Hinblick auf den Präsidenten der Republik Rußland bemerkenswert. Er hat seinem Volk seine alten Nationalfarben zurückgegeben, und er hat die Verfolgung der Kirchen beendet. Bei aller Kritik an der russisch-orthodoxen Kirche wird man doch sagen müssen: Ohne sie hätte das russische Volk weder die Tatarenstürme noch den Angriff Hitler-Deutschlands, noch den Kommunismus überleben können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir Deutsche wissen, daß wir in Mittel- und Westeuropa nicht in Frieden und Wohlstand leben können, wenn Osteuropa in Chaos und Armut versinken würde. Deshalb haben wir als erste in Ost- und Mitteleuropa geholfen, obwohl wir durch unsere Aufgaben in den neuen Bundesländern mehr als andere belastet sind.
    Das erlaubt es uns, heute an unsere Freunde und Verbündeten im Westen zu appellieren, den neuen Demokratien in Osteuropa mit uns gemeinsam beizustehen, d. h. Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Dabei wissen wir, daß die Selbsthilfe das Entscheidende ist.
    Die Hilfe des Marshallplans nach dem Kriege war erfolgreich, weil Staat und Wirtschaft bei uns — obwohl weitgehend zerstört und demontiert — in ihrer Arbeitsweise intakt, leistungsbereit und leistungsfähig waren. Solche Voraussetzungen müssen auch in den Staaten der Sowjetunion geschaffen werden, damit die Hilfe des Westens Nutzen stiften kann.
    Meine Damen und Herren, wenn sich Ost und West jetzt zu einem Gemeinschaftswerk zur Überwindung der Folgen des Kommunismus verbinden, wäre es absurd, wenn sie sich weiterhin hochgerüstet einander gegenüberstünden.
    Ich beglückwünsche die Republik Ukraine zu dem von ihr erklärten Verzicht auf atomare Waffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Das sollte für alle Republiken der Sowjetunion beispielhaft sein, die unabhängig werden wollen. Sie alle



    Dr. Alfred Dregger
    sollten darüber hinaus erklären, daß sie dem atomaren Nichtverbreitungsvertrag beitreten. In Verhandlungen über die Anerkennung der Unabhängigkeit dieser Republiken sollte der Westen dieses Thema zum Gesprächsgegenstand machen.
    Abrüsten, meine Damen und Herren, müssen vor allem die Atommächte selbst. Sie haben ihre im Nichtverbreitungsvertrag festgelegten Abrüstungsverpflichtungen bisher nicht erfüllt. Die im START-Vertrag von den USA und der Sowjetunion vereinbarten Reduzierungen um etwa ein Drittel sind unzureichend. Die Vernichtung der Welt — und das wäre mit diesem atomaren Potential möglich — kann nicht Gegenstand militärischer Strategie sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Zunächst und vor allem sollten die atomaren Kurzstreckenwaffen weltweit und total beseitigt werden. Diese Waffen sind schwer kontrollierbar, haben nur geringe Abschreckungswirkung auf einen potentiellen Angreifer, gefährden aber gerade deshalb um so mehr die von ihnen bedrohte Zivilbevölkerung. Das beste wäre eine baldige Vereinbarung über einen Totalverzicht, der dann schrittweise verwirklicht werden könnte.
    Meine Damen und Herren, das Scheitern des Putsches in Moskau hat den baltischen Staaten den Weg in die Unabhängigkeit geebnet, die sie infolge des schrecklichen Hitler-Stalin-Paktes im Zweiten Weltkrieg verloren hatten. Nach 52 Jahren unfreiwilliger Zugehörigkeit zur Sowjetunion kehren Estland, Lettland und Litauen in das alte Europa zurück, zu dem sie immer gehört haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Auf Grund der jahrhundertealten Beziehungen zwischen Deutschen und Balten freuen wir Deutsche uns ganz besonders über diese Veränderung. Selbstverständlich werden wir dafür eintreten, daß die baltischen Staaten genauso wie Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen wirtschaftspolitischen und sicherheitspolitischen Rückhalt in der Europäischen Gemeinschaft — und später vielleicht auch einmal in der Westeuropäischen Union — finden.
    Der sterbende Kommunismus hat uns in Europa eine andere schwere Krise hinterlassen: den Krieg in Jugoslawien. Die Staatsidee Jugoslawiens, nämlich das friedliche Zusammenleben der südslawischen Völker, wurde von Anbeginn durch serbisches Streben nach Vorherrschaft beeinträchtigt. Hinzu kam die kommunistische Ideologie, die mit diesem Streben der Serben ein Bündnis eingegangen ist. Heute gibt es in Jugoslawien keine Staatsgewalt mehr, die Recht, Ordnung und inneren Frieden für alle durchsetzen könnte.
    Deshalb sage ich: Die Selbstbestimmung der Slowenen und Kroaten, die in demokratisch einwandfreier Weise geltend gemacht worden ist, darf nicht weiter im Blutvergießen erstickt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Ich begrüße die Erklärung der europäischen Außenminister, keine Grenzveränderung in Zukunft anerkennen zu wollen, die durch Kampfhandlungen herbeigeführt wurde. Die EG hätte nach meiner Ansicht mehr tun müssen, um diesen Krieg zu verhindern bzw. zu beenden. Einige EG-Partner haben sich aus Sorge um ihre Minderheiten und Volksgruppen allzulange geweigert, die europäische Jugoslawienpolitik unter das Gesetz des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu stellen. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist in der Charta von Paris verankert und damit auch für die EG- Staaten verbindlich. Es entspricht im übrigen europäischen Grundwerten, ohne deren Beachtung europäische Politik unglaubwürdig und wirkungslos ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Meine Damen und Herren, Europa muß eine politische Union werden, um seiner gestiegenen Verantwortung gerecht werden zu können. Diese Verantwortung ergibt sich aus der Tatsache, daß Europa neben Japan und den USA eines der drei großen Kraftzentren der Erde ist. Die USA werden uns diese Verantwortungslast nicht auf Dauer abnehmen, Japan schon gar nicht. Die politische Union Europas ist daher ein zwingendes Gebot der Stunde. Dazu muß eine europäische Verfassung geschaffen werden, die über den ökonomischen Bereich hinaus klare Kompetenzen für Europa festlegt. Auch und insbesondere die Sicherheitspolitik gehört dazu. Nur so, meine ich, meine Damen und Herren, kann Europa das werden, was es angesichts weltweiter Herausforderungen sein muß: ein Subjekt der Weltpolitik.
    Wir wollen keinen europäischen Einheitsstaat, der die Nationalstaaten mit ihren nationalen Kulturen gleichmachen würde. In Europa aufzugehen, das ist ein Gedanke, den ich außerhalb Deutschlands noch nie gehört habe und dem ich daher, von meinen eigenen Gefühlen abgesehen, nur eine äußerst geringe Chance der Verwirklichung einräume. Aber Europa muß sich politisch formieren. Dazu braucht es außer der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion auch eine Sicherheitsunion auf der Grundlage des bereits existierenden, aber mit Leben zu erfüllenden Vertrages über die Westeuropäische Union aus dem Jahre 1954.
    Eine europäische Sicherheitsunion ist allerdings kein Ersatz für das Atlantische Bündnis. Im Golfkrieg haben wir erfahren, daß nur die USA die Fähigkeit zum weltweiten Handeln haben. Deshalb bleibt das transatlantische Bündnis mit den USA der Sicherheitsanker für das freie Europa.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die europäische Sicherheitsunion, die Atlantische Allianz und eine gesamteuropäische Friedensordnung auf der Grundlage der KSZE, der unsere transatlantischen Verbündeten USA und Kanada ebenso angehören wie die Sowjetunion und ihre etwaigen Nachfol-



    Dr. Alfred Dregger
    gestaaten, das ist ein Gesamtsystem, dem auch diejenigen zustimmen können, die diesen Einheitsbestrebungen bisher mit sehr großer Skepsis gegenüberstanden.
    Ich nenne das Vereinigte Königreich, dessen Parlamentarier in einer solchen Gesamtordnung nicht zu fürchten brauchen, die Eurokraten in Brüssel könnten einen heimtückischen Anschlag auf die britische Souveränität planen, die man auf der Insel seit der Schlacht von Hastings im Jahre 1066 doch in so wirksamer Weise verteidigt hat.
    Ich nenne Frankreich, weil die enge Bindung zwischen Frankreich und Deutschland durch die Integration auch auf dem Felde der Sicherheitspolitik gewährleisten würde, daß nicht Deutschland — auf Grund seiner geographischen Mittellage — allein, sondern nur Frankreich und Deutschland gemeinsam die politische Mitte Europas bleiben werden.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ja!)

    Ich glaube, es ist eine der großen Besorgnisse unserer französischen Verbündeten, daß das anders sein könnte.
    Ich nenne die USA, weil diese in einer solchen Gesamtordnung nicht zur „Außenmacht" Europas würden, wie Helmut Sonnenfeldt kürzlich manche amerikanischen Befürchtungen formuliert hat.
    Auf diese Weise könnten wir eine gesamteuropäische Friedensordnung schaffen, zu der drei große Unionen gehören würden: die Sowjetunion — in welcher Gestalt auch immer — im Osten, die USA im Westen und die sich zwischen diesen beiden Großmächten bildende politische Union Europas. Dieses Europa wäre auf Grund seiner dezentralen Struktur zwar defensivfähig, aber nicht offensivfähig. Es wäre geeignet und berufen, zur friedenserhaltenden Mitte zwischen Ost und West zu werden. Das ist eine Perspektive, an der weiter zu arbeiten wir die Bundesregierung auffordern.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, diese Perspektive, auf die noch vor wenigen Jahren nur wenige zu hoffen wagten, die heute aber auf konkreten Grundlagen beruht, ist uns nicht in den Schoß gefallen. Sie ist das Ergebnis von Politik und auch glücklicher Fügung. Das 1945 völlig ruinierte, geteilte und zum Schauplatz des Ringens zwischen Ost und West gewordene Deutschland hat zur Vorbereitung und Konkretisierung dieser Perspektive entscheidende Beiträge geleistet.

    (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Die erste Weichenstellung war die Entscheidung für den Westen: Europäische Gemeinschaft, Nordatlantische Allianz — das Werk vor allem Konrad Adenauers. Die deutsche Linke, solange sie die deutsche Wiedervereinigung überhaupt noch wollte, hat gerade in der Westbindung das entscheidende Hindernis für die deutsche Einheit gesehen. Das war, meine Damen und Herren — die Geschichte hat es erwiesen —, ein Fehlurteil.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das Gegenteil ist richtig: Ohne Westbindung wäre es nicht zur Wiedervereinigung gekommen. Warum? — Deutschland ist zu schwach zur Hegemonie. Das war es immer. Deutschland muß ein wertvoller Verbündeter sein, dessen Verbündete die berechtigten Anliegen Deutschlands im eigenen Interesse unterstützen. Mit Rückhalt dieser Verbündeten war und ist es dann auch möglich, durch eine kluge, ausgleichende Politik für die deutsche Einheit die Zustimmung auch der nichtverbündeten Nachbarn im Osten zu gewinnen.
    Heute ist Deutschland der Verbündete des Westens und zugleich der bevorzugte Partner des Ostens. Das ist für ein Land in der Mitte — und das sind wir — eine Traumkonstellation, die dem Bismarckreich sowohl in der kaiserlichen Zeit wie in der Zeit der Weimarer Republik nie vergönnt war. Nur diese Konstellation hat die Wiedervereinigung möglich gemacht.
    Helmut Kohl war dabei weit mehr als ein Vollstrekker Adenauerscher Politik. Er hat blitzschnell und richtig gehandelt, als mit dem Fall der Mauer die Lage da war.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das kann man nicht bestreiten! Das stimmt!)

    Deutschland hat seine Einheit mit Zustimmung der vier Siegermächte und aller seiner Nachbarn erreicht. Der größte Erfolg in der Kette Ihrer Erfolge, Herr Bundeskanzler, war der 16. Juli 1990. An diesem Tage erlangten Sie die Zustimmung von Präsident Michail Gorbatschow zur Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands — ungeteilt! — in der Allianz!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das war die Voraussetzung für die Einheit und für die Sicherheit Deutschlands — einer der größten außenpolitischen Erfolge, die es je gegeben hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Noch im Dezember 1989 war es für Herrn Lafontaine — ich zitiere ihn — „historischer Schwachsinn, sich ein vereintes Deutschland in der nordatlantischen Allianz vorzustellen. " — Meine Damen und Herren, was wäre aus Deutschland geworden und was wäre aus der NATO geworden, wenn am 2. Dezember der falsche Mann, nämlich Lafontaine, gewählt worden wäre?

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Lafontaine stand nicht allein; dafür drei Beispiele.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was hat Herr Waigel über die Währungsunion im Januar gesagt?)

    — Nachher können Sie gern Fragen stellen.

    (Zurufe von der SPD)

    — Das hören Sie nicht gern, aber das ist noch gar nicht so lange her, und das beeinflußt natürlich die Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Egon Bahr sagte noch am 2. Oktober 1989 in der „Süddeutschen Zeitung" — ich zitiere ihn —, man solle aufhören, im Sinne der Staatlichkeit über die



    Dr. Alfred Dregger
    deutsche Einheit zu reden; es gehe nicht um die Einheit, sondern um die Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Staaten. — Welch ein grandioser Irrtum, kann ich nur sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    An der Jahreswende 1989/90 — die Mauer war schon offen — unterschrieben fünf Bremer Senatoren der SPD, unter ihnen Henning Scherf, eine sogenannte Bremer Initiative, die 727 Milliarden DM an die DDR zu zahlen vorschlug, um dort einen Wirtschaftsboom auszulösen.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Ja, meine Damen und Herren, man faßt sich an den Kopf! Dieser absurde Vorschlag führender Sozialdemokraten läßt nicht nur Ihre wirtschaftspolitische Inkompetenz erkennen; er zeigt auch, daß Ihnen nichts zu teuer war, um die Eigenständigkeit des sozialistischen Modells in Deutschland zu retten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch des Abg. Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD])

    — Wollen Sie sich von Ihren Senatoren in Bremen distanzieren, Herr Vogel? Das sind doch sehr bekannte Persönlichkeiten.

    (Norbert Gansel [SPD]: Welcher Schalk reizte Sie denn da, Herr Dregger? — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wer hat die Milliarde vermittelt, auch die Sozialdemokraten? — Hören Sie mit diesem Hin und Her auf!)

    Jetzt das dritte Beispiel: Im Januar 1990, also noch später, unterschrieben sechs Bundestagsabgeordnete der SPD, unter ihnen die Kollegen Hans Koschnick, Büchler und Kuhlwein, einen Aufruf der Zeitschrift „Wiener", in dem — ich zitiere — ohne Wenn und Aber die Anerkennung der DDR gefordert wurde — im Januar 1990! Begründet wurde das mit der Behauptung, die Forderung nach Wiedervereinigung gefährde die Entspannung zwischen Ost und West.

    (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Das gibt es doch nicht!)

    Meine Damen und Herren, daß auch das eine Fehleinschätzung war — um es höflich auszudrücken — , hat die Geschichte erwiesen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Teilungslüge!)

    Ich kann nur sagen: Wie gut für Deutschland, daß bei der Bundestagswahl am 2. Dezember wir gewonnen haben und nicht Sie!

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Und jetzt?)

    Meine Damen und Herren, diese drei Beispiele, denen ich weitere anfügen könnte, sind immer noch aktuell; denn sie erklären vieles vom heutigen Verhalten der SPD. Natürlich: Wer die Einheit nicht so recht wollte, der hat heute seine Schwierigkeiten, wenn diese Einheit doch gelingt,

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Richtig!)

    und zwar nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch und ökologisch und sozial, und daran kann doch gar kein Zweifel bestehen.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: De Maizière gelingt alles! — Gegenruf von der CDU/ CSU: Wer von der CDU hat gegen den Einigungsvertrag gestimmt?)

    Meine Damen und Herren, die Geschichte ist über sie hinweggegangen.

    (Norbert Gansel [SPD]: Über wen?)

    — Über sie, die SPD-Vorschläge. Über Sie, ja wen denn sonst?!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Frau Brigitte Seebacher-Brandt hat in ihrem Essay „Die Linke und die Einheit" auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die — ich zitiere — die Linke im Umgang mit der Wirklichkeit immer schon gehabt habe.
    — Ende des Zitats.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich stimme ihr zu. Auch ich glaube, daß es vor allem der fehlende Sinn für die Wirklichkeit war, der die SPD in den 70er Jahren veranlaßte, das Ziel der deutschen staatlichen Einheit aufzugeben und sich sogar zu einer gewissen Kumpanei mit der SED zu entschließen.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Da müßt ihr reden! — Zurufe von der SPD: Unerhört!)

    Eine von der SPD zusammen mit der SED eingesetzte Kommission, Herr Vogel, hat sogar das „gemeinsame humanistische Erbe" — ich zitiere — beider Parteien für den künftigen Umgang miteinander bemüht. Diese famose Kommission wurde niemals aufgelöst.

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Die gibt's noch! — Zurufe von der SPD)

    Wer weiß, vielleicht schlägt Herr Gysi demnächst ihre Reaktivierung vor; das kann man ja nicht ausschließen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Meine Damen und Herren, was bedeutet: Verlust der Wirklichkeit? — Wer in der Politik die Wirklichkeit verkennt, kann nicht rational handeln. Schlimmer noch: Er ist nicht kalkulierbar. Ist es nicht gerade das, was manche im Ausland, Freunde und andere, den Deutschen nachsagen? Muß sich die SPD nicht fragen, ob sie durch ihre Deutschlandpolitik diesem schlimmen Urteil bzw. Vorurteil über die Deutschen Vorschub geleistet hat?

    (Zurufe der Abgeordneten Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD] und Detlev von Larcher [SPD])

    Ich glaube, daß Sie, Herr Vogel, und Sie, Herr Engholm, Anlaß hätten, darüber einmal sehr eingehend nachzudenken und Schlußfolgerungen für Ihre künftige Politik daraus zu ziehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU, haben nicht nur gegen erhebliche Widerstände aus der



    Dr. Alfred Dregger
    SPD die Wiedervereinigung durchgesetzt und zunächst das westliche Deutschland und dann das vereinte Deutschland zum Verbündeten des Westens und zugleich zum bevorzugten Partner des Ostens gemacht, wir haben mit Ludwig Erhard auch das Weltmodell der Sozialen Marktwirtschaft geschaffen. Von Karl Marx redet niemand mehr. Die Ideen Ludwig Erhards bewegen die Welt.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, Sozialismus kann man durch Gesetz einführen, mit der Sozialen Marktwirtschaft geht das nicht. Für sie müssen auch außerhalb des ökonomischen Bereichs Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Freiheit für den einzelnen gewährleisten, Rechtstaatlichkeit für jeden, eine Garantie des Privateigentums und andere Menschenrechte. Soziale Marktwirtschaft setzt auch die Bereitschaft voraus, den Tüchtigen den Lohn ihrer Leistung nicht zu verweigern. Nur wenn die Tüchtigen und die besonders Tüchtigen Ungewöhnliches leisten, wird ein Ertrag erwirtschaftet, der mit Hilfe staatlicher Ausgleichssysteme auch den Hilfsbedürftigen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Unser System aber ist komplizierter — wie das Leben selbst, dem es gerecht wird. Ich werde nie die Aussage des damaligen Gorbatschow-Beraters Jakowlew vergessen, der mir bei unserer ersten Begegnung sagte — ich zitiere — : Es ist im kommunistischen System leichter, 3 000 Panzer in Auftrag zu geben, als 3 000 Menschen in einem Dorf zu versorgen. — Das ist so; deswegen haben wir den Panzerkommunismus als letzte Einheit gehabt.
    Meine Damen und Herren, die unternehmerische Gesellschaft, die Wettbewerbswirtschaft, die freiheitliche und soziale Gesellschaft ist leistungsfähiger, aber eben auch komplizierter als die sozialistische. Sie setzt Initiative, Entfaltung und Verantwortungsbereitschaft nicht nur weniger Menschen auf der Kommandobrücke, sondern möglichst aller Menschen voraus.
    Das zu erreichen ist in den Ländern, in denen 40 oder sogar 70 Jahre lang jede freiheitliche Regung unterdrückt wurde, nicht einfach. Selbst den Deutschen, die in Sachsen, Thüringen und in anderen Teilen Mitteldeutschlands vor dem Kriege in der Produktivität ihrer Wirtschaft der Wirtschaft des Westens überlegen waren, fällt es schwer, der Anschluß zu finden.
    Meine Damen und Herren, aber wir sind — ich glaube, das kann man heute mit allgemeiner Zustimmung sagen — auf dem Weg. Wer sollte es schaffen, wenn nicht wir?

    (Lachen bei Abgeordneten der SPD)

    — Wir haben auf Grund erbrachter Leistungen ein gesundes Selbstbewußtsein.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir haben in den Jahren 1990 und 1991 ein Hilfsprogramm für die neuen Bundesländer aufgelegt, für
    das es in seinem Ausmaß und seiner Wirkung kein geschichtliches Beispiel gibt.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Insbesondere für die Staatsverschuldung!)

    Diese ungewöhnliche Leistung ist nur möglich, weil diese Regierung und diese Koalition von 1983 bis 1989 durch Ausgabenbeschränkungen,

    (Zuruf von der SPD: Ha, ha, ha, ha! — Gegenruf von der CDU/CSU: Keine Ahnung!)

    durch Steuersenkungen um 50 Milliarden DM je Jahr und durch das dadurch geförderte Wirtschaftswachstum in der alten Bundesrepublik Deutschland dafür die Voraussetzungen geschaffen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wäre die Wiedervereinigung 1982 gekommen, nachdem Sie abgetreten waren, dann wäre sie nicht zu finanzieren gewesen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Zurufe von der SPD)

    Die einzige Antwort der SPD besteht in Schwarzmalen und Miesmachen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, dieses Verhalten ist, gemessen an der historischen Aufgabe, vor der wir stehen, nicht nur erbärmlich, sondern auch schädlich.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Miesmacher, typischer Miesmacher, Lambsdorff übler Miesmacher!)

    Sie motivieren nicht, Sie verbreiten Pessimismus und Verzagtheit. Schlimmer noch: Sie bringen die Menschen in Deutschland gegeneinander auf.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Der Lambsdorff! — Ingrid MatthäusMaier [SPD]: Gleich sind Sie dran!)

    Ressentiments und Zorn auf beiden Seiten sind die Folgen.
    Es ist leider wahr: Seit dem Nein Lafontaines zur deutschen Wirtschafts- und Währungsunion hat sich an der negativen Haltung der SPD nichts Wesentliches geändert.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Es ist wirklich zum Erbarmen!)

    Die von Ihnen, Herr Engholm, erwartete Kurskorrektur ist heute morgen nicht sichtbar geworden.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Besser zuhören!)

    Es war sehr nett, wie Sie gesprochen haben. Der „Münchner Merkur"

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das ist eine Zeitung!)

    schrieb unlängst über Herrn Ministerpräsidenten Engholm, sein Auftreten sei zwar umgänglicher

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Na!)

    als das seines Parteifreundes von der Saar, in der Sache, so das Blatt, zerredeten aber auch Sie gleicher-



    Dr. Alfred Dregger
    maßen die Aufwärtstendenzen, wo es nur möglich sei. — Meine Damen und Herren, ich meine, Deutschland braucht keine umgänglichen Miesmacher, sondern Deutschland braucht Mutmacher. Ob die dann umgänglich sind, ist weniger wichtig.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Ein Wort zur Asyldebatte. Asylgewährung für Ausländer in unserem Land ist etwas völlig anderes als Hilfe für andere Völker in ihrer Heimat,

    (Zuruf von der SPD: Richtig!)

    die wir in großem Umfang leisten müssen und auch tatsächlich leisten. Im Hinblick auf Osteuropa hat es der Bundeskanzler eben ausgeführt; ich habe es ergänzt.
    Hilfe in der Heimat verdient den Vorzug;

    (Zuruf von der SPD: Das ist wahr!)

    denn die Heimat mit ihren natürlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ist nur schwer zu ersetzen. Außerdem ist unser Land zu klein und zu übervölkert, als daß es in der Lage sein könnte, die Hilfe für andere Völker hier bei uns in Deutschland zu leisten.

    (Beifall bei der CDU/CSU) Das kann nur die Ausnahme sein.

    Unser Grundgesetz kennt da nur eine einzige Ausnahme. Sie wird gemacht für — ich zitiere — „politisch Verfolgte". Wer politisch Verfolgten auch in Zukunft helfen will, darf dieses Grundrecht auf Asyl jetzt nicht einem ungebremsten Massenmißbrauch aussetzen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Dringlichkeit dieses Problems ergibt sich auch aus folgenden Zahlen: 1990 stellten bei uns in Deutschland 193 000 Asylbewerber einen Antrag auf Asyl — 1991, 1992 werden es weit über 200 000 sein —, von denen, wie wir auch wissen, nur ganz wenige anerkannt werden. Bei uns waren es also 193 000, in Frankreich — auch ein Rechtsstaat und auch ein wohlhabendes Land — waren es nicht 193 000, sondern 56 000, in Großbritannien — von diesem Land möchte ich das gleiche sagen wie von Frankreich — waren es 25 000 und in Italien 4 700.
    Unsere geltende rechtliche Regelung ermöglicht es auch solchen, die offenkundig nicht politisch verfolgt sind, bei uns Aufnahme zu finden.

    (Detlev von Larcher [SPD]: Es geht doch um das Verfahren!)

    Sie können über Jahre hinweg ihren offensichtlich unbegründeten Anspruch vor Gericht verfolgen. Die Kosten von all dem trägt der Steuerzahler. Das gibt es nirgendwo sonst, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Unterschiede in der Asylpraxis der europäischen Rechtsstaaten und die Unfähigkeit des Deutschen Bundestages, den Massenmißbrauch des deutschen Asylrechts zu verhindern, enttäuschen unsere
    Mitbürger und veranlassen sie zu berechtigter Kritik, der ich mich ausdrücklich anschließe.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich frage die verehrten Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion: Was wollen Sie Ihren Kommunalpolitikern, die mit den Folgen Ihrer Verweigerungshaltung fertig werden müssen, noch alles zumuten?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir wollen das Asylrecht schützen, indem wir seinen Massenmißbrauch verhindern. Soweit dazu eine Grundgesetzänderung notwendig ist, muß sie beschlossen werden. Das ist selbstverständlich. Es wäre auch nicht die erste Grundgesetzänderung. Es ist doch nicht der Sinn unseres Grundgesetzes, Mißbräuche zu schützen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es kann doch nicht unsere, des Deutschen Bundestags, Aufgabe sein, dem durch Untätigkeit noch Vorschub zu leisten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Zu diesem Thema finden intensive Gespräche statt, wie schon so häufig in früheren Jahren. Der Bundeskanzler hat dazu auch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden eingeladen. Ich hoffe, daß diese Gespräche diesmal Erfolg haben werden. Sollten sie scheitern, dann, so meine ich, muß im Deutschen Bundestag abgestimmt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Probleme müssen gelöst, sie können nicht unbegrenzt lange verschoben werden. Wir stehen in der Pflicht unserer Wähler. Diese Wähler wollen ganz überwiegend, daß wir den politisch Verfolgten Asyl gewähren. Das werden wir auch tun. Daran wird sich nichts ändern.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Wir müssen aber gleichzeitig auch umgehend den Massenmißbrauch beenden. Das sind die vernünftigen Wünsche unserer Wähler.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir, die CDU/CSU, werden entschlossen das uns Mögliche tun, um diesen Wählerwillen zu verwirklichen.
    Danke.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat jetzt Herr Dr. Solms.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hermann Otto Solms


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nur ein Wort zur Asylproblematik: Die FDP-Bundestagsfraktion hat gestern einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung der Asylverfahren beschlossen, den sie in die Verhandlungen innerhalb der Koalition und mit der Opposition einbringen wird.

    (Beifall bei der FDP)




    Dr. Hermann Otto Solms
    Sie wird sich natürlich auch an den Gesprächen zur Vereinheitlichung eines europäischen Asylrechts beteiligen. Das schließt möglicherweise auch die Änderung des Grundgesetzes mit ein, was ich ganz offen sagen will.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber es hat nur Sinn, Vorschläge zu diskutieren, die dazu beitragen können, konkret die Probleme zu bekämpfen oder zu bewältigen. Vorschläge, die offensichtlich nicht in der Lage sind, dies zu tun, sollte man dann füglich fallenlassen.

    (Beifall bei der SPD)

    Zum Thema: Mit großer Genugtuung können wir feststellen, daß sich liberale und demokratische Ziele und Werte in der Sowjetunion zum ersten Mal in ihrer Geschichte durchgesetzt haben: persönliche Freiheit, Menschenrechte und Demokratie. Wir können mit großer Genugtuung — das sage ich für die FDP-Bundestagsfraktion — feststellen, daß es offensichtlich so ist, daß jedenfalls die Fraktionen dieses Hauses, die klassischen demokratischen Parteien in Deutschland, in der Beurteilung dieser Situation und dessen, was da zu tun ist, übereinstimmen. Ich glaube, dies ist gut, nachdem es in der Zeit, als es um die deutsche Einigung ging, deutlich unterschiedliche Betrachtungen und Handlungsvorschläge gegeben hat. Für die jetzt gefundene Übereinstimmung, Herr Engholm, danken wir.
    Allerdings darf nicht der Eindruck entstehen, den es jedenfalls bei mir gegeben hat, daß es der Führer der größten Oppositionspartei damit bewenden lassen will, der Regierungsaußenpolitik sozusagen den letzten Feinschliff zu erteilen. Ich habe in einer Zeitung gelesen, Sie wollten heute Ihre außenpolitische Visitenkarte in Bonn abgeben.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Hat er doch!)

    Ich meine, es hätte in diesem Falle genügt, die Visitenkarte Herrn Genscher zu schicken mit der Bemerkung: Kompliment für die Arbeit! Nur weiter so! Engholm.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Die anderen schicken noch nicht einmal eine Visitenkarte!)

    Allerdings, eine Differenzierung ist mir aufgefallen, nämlich die Differenzierung in der Beurteilung von Sozialismus und Sozialdemokratie. Es würde mich doch sehr interessieren, ob es allgemeine Überzeugung in der Sozialdemokratischen Partei sein wird, daß hier, nämlich zwischen Sozialismus und Sozialdemokratie, die Grenze zu ziehen ist

    (Detlev von Larcher [SPD]: Darüber müssen gerade Sie uns belehren!)

    und daß der alte, traditionelle Spagat, den viele in der SPD mit der Formulierung „demokratischer Sozialismus" gemacht haben, ad acta gelegt wird.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Denn in dieser Frage wird sich die Führungskraft eines Parteivorsitzenden erweisen, nicht darin, daß er
    der Bundesregierung in ihrer Politik folgt. Das ist gut
    und sinnvoll; aber das wird in der Partei wohl nicht die notwendige Führungskraft demonstrieren können.
    Meine Damen und Herren, die zweite Phase einer demokratischen Revolution hat in der Sowjetunion begonnen. An ihrer Spitze stehen Persönlichkeiten, die bereits durch Wahlen legitimiert sind und dadurch natürlich viel mehr Einfluß haben. Sie haben die Rückkehr zu alten Machtstrukturen, zum kommunistischen Klassenstaat verhindert. Der Stalinismus hat nun endgültig ausgedient. Die Auflösung der KPdSU ist hierfür ein augenfälliges Symbol.
    Gleichzeitig befindet sich das letzte von Europa ausgehende imperiale Reich in einem Prozeß der Erosion. Die alten Strukturen sind zusammengebrochen, die neuen sind noch nicht gefunden. Die Welt hält den Atem an. Wird aus dem Chaos des Zerfalls wieder eine stabile Ordnung mit strikter Kontrolle der Atomwaffen entstehen? Das ist die zentrale Frage, die sich uns stellt.
    Die baltischen Staaten haben den Schritt in die Freiheit geschafft, die ihnen durch den räuberischen Pakt von Hitler und Stalin im Jahre 1939 geraubt worden ist. Das Scheitern des Putsches befreit nicht nur die Völker der Sowjetunion, sondern auch Europa und die ganze Welt von dem Alptraum, daß Geschichte rückgängig gemacht werden könnte und der Sieg von Recht und Demokratie aufzuhalten wäre.
    Die Menschen in der Sowjetunion, denen manche zu Unrecht die Fähigkeit zu Demokratie absprechen, haben sich mit größtem Mut gegen Panzer und Gewehre gestellt. Sie haben mit gewaltlosem Widerstand die Vollendung dieses Staatsstreiches verhindert. Es ist die entscheidende Erneuerung, daß die Initiative und die Kraft dieses Widerstandes von den Menschen ausging. Das hatten viele den Russen nicht zugetraut.
    Boris Jelzin, der Präsident der Russischen Republik, hat in der Stunde äußerster Bedrohung die Nerven behalten und den Mut aufgebracht, Widerstand zu leisten. Er wurde so zur Symbolfigur und zum Hoffnungsträger für das Volk. Die Soldaten haben sich im Gewissenskonflikt für die verfassungsmäßige Ordnung entschieden. Sie handelten — in diesem Falle wörtlich — als Bürger in Uniform. Ich frage mich, ob eine Berufsarmee — das frage ich mich auch im Hinblick auf die Diskussion hier bei uns — ebenso dem Rufe des Volkes gefolgt wäre.

    (Beifall bei der FDP)

    Am 21. August 1991 haben die Panzer mit der russischen Trikolore in Moskau gezeigt, daß die sowjetische Armee eine andere geworden ist. Sie ist insbesondere eine andere als diejenige geworden, die vor 23 Jahren — der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen — unter Hammer und Sichel den „Prager Frühling" niedergewalzt hat.
    Das Scheitern des Putsches wäre ohne die Person des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow und die Voraussetzungen, die seine seit sechs Jahren verfolgte Politik von Glasnost und Perestroika schuf, undenkbar gewesen. Denn dadurch wurde in Wirklichkeit erreicht, daß die Menschen nach Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten der Unterdrückung erste



    Dr. Hermann Otto Solms
    Ansätze eines Lebens in Freiheit und Demokratie erlernen konnten.
    Erstmalig in seiner Geschichte — das ist besonders bemerkenswert — hat nun das russische Volk die Chance, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Die Politik Gorbatschows hat der Sowjetunion ein neues Ansehen in der Welt verschafft. Wir Deutschen wissen, daß wir die Deutsche Einheit der Person Gorbatschows und seiner Politik ganz persönlich verdanken.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Noch ist völlig offen, wie die Neuverteilung der politischen Macht in der Sowjetunion aussehen wird. Zur Zeit gibt es mehr Fragen als Antworten. Ohne den Aufbau einer föderalen Struktur und die Lösung des Minderheitenproblems wird es keine stabilen Verhältnisse geben. Lösungen mit Waffengewalt, wie sie in Jugoslawien gesucht werden, führen niemals zu einer dauerhaften Befriedung.
    Hoffen wir, daß die vorläufigen Abmachungen zwischen Rußland einerseits, der Ukraine und Kasachstan andererseits positive Präzedenzwirkungen haben. Hoffen wir, daß die Vereinbarungen von zehn Republiken mit der Zentralgewalt unter Gorbatschow, die gestern getroffen wurden, zu dauerhafter Stabilität führen.
    Wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen vorerst wohl nur die Russische Republik und die Ukraine. Selbst die baltischen Staaten hängen, was Energie- und Rohstoffversorgung anbetrifft, noch weitgehend am Tropf des bisherigen großen Bruders.
    Unabhängig und demokratisch zu sein heißt noch lange nicht, daß der Traum vom Leben in Würde, aber auch vom Wohlstand erfüllt ist oder erfüllbar wäre. Nicht klar ist vor allen Dingen, welche Kräfte in Zukunft den Finger am Abzugshahn der 27 000 noch vorhandenen Atomsprengköpfe haben werden.
    Die Selbstverpflichtung der Ukraine zur atomwaffenfreien Zone sowie Erklärungen aus Moskau, daß die nukleare Verfügungsgewalt weiterhin zentralisiert bleiben soll, sind zunächst eine bloße Beruhigung. Der Zerfall einer Atommacht in eine Vielzahl miteinander möglicherweise auch noch zerstrittener Atommächte ist eine Vorstellung, die uns allen den Schlaf rauben kann. Hier geht es darum, daß die zentrale Verfügung über die Atomwaffen gesichert werden muß.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Es muß deshalb geklärt werden, wer die Kontrolle über die Atomwaffen erhält, wer die Völkerrechtsnachfolge des bisherigen sowjetischen Vertragspartners in den Abrüstungsvereinbarungen vertritt und wer in Zukunft mit welchen Befugnissen bei Verhandlungen am Tische sitzen wird.
    Bundesaußenminister Genscher weist mit Recht darauf hin, daß jetzt die nuklearen Kurzstreckenwaffen, die atomare Artillerie, weitere Truppenreduzierungen sowie ein erfolgreicher Abschluß der Chemiewaffenverhandlungen dringend auf die Tagesordnung gehören.

    (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Weltinnenpolitik besagt, daß uns allen daran gelegen sein muß, die politischen Prozesse in der Sowjetunion und den Republiken in ein überschaubares Fahrwasser zu lenken, sie mittelfristig zu unterstützen und zu stabilisieren. Dazu muß die westliche Welt einen spürbaren Beitrag leisten. Es ist im eigenen Interesse des Westens, die politischen Prozesse der bisherigen Sowjetunion gerade auch durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterstützung voranzutreiben und damit dazu beizutragen, daß diese Stabilisierung eintreten kann.
    Es ist unabdingbar, daß die Hilfe über das bisherige Maß hinaus gesteigert wird. Um das Dringlichste voranzustellen: Angesichts der massiven Transport- und Logistikprobleme in der Sowjetunion muß eine humanitäre Hilfsaktion jetzt und aus unserer Mitte heraus beginnen, um den Armutsschichten, den Rentnern, den Kranken und den sonstigen Unterversorgten im kommenden Winter das Nötigste bereitzustellen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Viele Menschen sind dort nicht in das Verteilungssystem für elementare Lebensgüter einbezogen. Meine Damen und Herren, es wäre eine schlimme Vorstellung, wenn für die Menschen dort Freiheit und Demokratie gleich zu Beginn dieser Entwicklung mit Hunger und Elend verbunden wären.
    Dem müssen wir alle entgegenwirken.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Eine andere Frage ist es, ob man weiterhin in eine nicht hinreichend reformierte Wirtschaft wie in ein Faß ohne Boden Milliarden an Finanzhilfe hineinschütten sollte. Hier ergeben sich gerade für die Bundesrepublik, die bisher weit Überdurchschnittliches geleistet hat, objektive Grenzen. Unsere Ressourcen für Großaktionen dieser Art sind so gut wie erschöpft. Wir dürfen auch unsere Volkswirtschaft nicht überfordern.
    Seit 1989 hat Bonn Verpflichtungen in Höhe von rund 60 Milliarden DM übernommen, und zwar nur für die Sowjetunion. Das sind nach Berechnungen der EG-Kommission 56 % der Gesamtleistungen der EG- Staaten. Im Verhältnis zu den Verpflichtungen, die die Vereinigten Staaten und die Japaner übernommen haben, ist dies noch stärker hervorzuheben. Die Japaner haben sich ja nur mit einem Beitrag von 0,3 der westlichen Hilfszusagen beteiligt.

    (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Das ist außerordentlich ärmlich!)

    Ich meine, das ist für eine wirtschaftliche Weltmacht ein armseliges Ergebnis.
    Nunmehr ist die internationale Staatengemeinschaft in weit größerem Umfang als bisher gefordert. Es muß eine internationale Lastenteilung stattfinden. Was die Bundesrepublik schon bisher getan hat, geht an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Jetzt kommt es darauf an, daß dies in einen internationalen Prozeß



    Dr. Hermann Otto Solms
    eingebettet wird. Es ist daher zu begrüßen, daß sich die G-7-Staaten schnell zusammengefunden haben, um dieses Problem zu erörtern und gemeinsam das Notwendige zu veranlassen.
    Die Bereitstellung finanzieller Ressourcen wird allerdings nur dann Sinn machen, meine Damen und Herren, wenn die notwendigen inneren Reformen in der Sowjetunion durchgeführt werden. Es geht insbesondere darum, die zentralen Entscheidungen für die Wende hin zu einem marktwirtschaftlichen System zu treffen,

    (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    obwohl wir wissen, daß mit diesen Entscheidungen die Probleme nicht sofort gelöst sein werden, sondern daß sie erst dann offen zutage treten. Das zeigt uns ja die Entwicklung in den neuen Bundesländern. Zunächst einmal werden die Probleme aufgedeckt, die in dem alten System geschlummert haben. Dies bedeutet zunächst hohe Arbeitslosigkeit und schwere Verwerfungen in der Wirtschaft. Aber das ist die Voraussetzung dafür, daß eine gesunde Basis für die Zukunft geschaffen werden kann.
    Wichtige Voraussetzungen dabei sind eine stabile konvertible Währung, privates Eigentum an Produktionsmitteln und an Grund und Boden — das ist ein Thema, um das sich Herr Gorbatschow bisher herumgedrückt hat — , die Zerschlagung und Privatisierung der Kombinate, eine freie Preisbildung, ein freier Außenhandel, die Gewerbefreiheit, die allgemeine Freizügigkeit und die notwendige soziale Absicherung, damit die Entwicklung nicht zunächst in ein Chaos ausufert.
    Zur Zeit ist das Land ein ökonomischer Zwitter, eine Gemengelage aus Resten der Planwirtschaft und Anfängen von Marktwirtschaft, aus wirtschaftlicher Sicht die schlimmste aller Welten. Dies muß jetzt beschleunigt überwunden werden. Erst wenn durchgreifende Reformen geschehen, wie es auf dem Weltwirtschaftsgipfel gefordert worden ist, kann die Hilfe wirkungsvoll eingesetzt werden.
    Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, hieran anknüpfend, ein Wort zum auswärtigen Dienst, dessen Haushalt heute nachmittag zur Beratung ansteht. Das Augenmerk ist jetzt insbesondere auch auf die Probleme in Osteuropa und in der sich wandelnden Sowjetunion zu richten. So werden sich die neu eröffneten Konsulate in vielen Städten dort insbesondere der deutschen Minderheit anzunehmen haben. In einem organisatorischen Meisterstück ist es gelungen — dafür muß man den Beamten im Auswärtigen Amt ein Kompliment aussprechen — , drei diplomatische Vertretungen in den baltischen Staaten buchstäblich aus dem Boden zu stampfen.

    (Beifall bei der FDP und CDU/CSU)

    Am Montag dieser Woche haben die Botschafter dort ihren Dienst angetreten und ihre Beglaubigungsschreiben überreicht. Es ist nicht dabei geblieben, daß man nur ein Schild aufgehängt hat; vielmehr ist der Dienst aktiv angetreten worden. In Vollzug der historischen Verpflichtung ging es darum, schnell ein Signal zu setzen, daß wir Estland, Lettland und Litauen
    die Hand zur Versöhnung und zum Neuaufbau reichen.
    Meine Damen und Herren, eine Bemerkung zur Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft. Es ist in meinen Augen nicht zu bestreiten, daß es einen Widerspruch zwischen den beiden Zielen der Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft, d. h. der Weiterentwicklung bis hin zur politischen Union, und der Verbreiterung der Europäischen Gemeinschaft, d. h. der Aufnahme von neuen Mitgliedern, gibt. Persönlich glaube ich, nach der Schaffung des gemeinsamen Marktes 1993 werden die Fragen Priorität gewinnen müssen, die mit der Aufnahme bzw. vorläufigen Assoziierung neuer Mitglieder verbunden sind.

    (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Wir müssen den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie des Baltikums reale Perspektiven dafür geben, daß sie Mitglieder der europäischen Wohlstandsgemeinschaft werden können. Sonst gibt es dort keine stabilen Verhältnisse; sonst lassen sich die Wanderungsprozesse von Ost nach West nicht eindämmen. Wir haben keine Wahl. Die zuletzt beigetretenen drei EG-Mitglieder waren vor noch gar nicht langer Zeit selbst von Diktaturen geknebelt. Es war auch die Aussicht auf eine Mitgliedschaft im Kreise der Demokratien Westeuropas, die den Umgestaltungsprozeß entscheidend in Schwung brachte, die half, die Demokratisierung in diesen Ländern fest zu verwurzeln. Lassen wir die jüngsten Demokratien Europas nun nicht in der Kälte stehen. Manche Region Westeuropas, die heute aus dem Strukturfonds der EG unterstützt wird, lebt im Verhältnis zu diesen Ländern in einem echten Wohlstandsgebiet. Hier müssen wir uns also neu besinnen.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Einige Bemerkungen zu Jugoslawien. Die EG, die Bundesrepublik Deutschland und ihre Außenminister wurden in der letzten Zeit vielfach gescholten, daß sie sich nicht entschiedener für eine Befriedung in Jugoslawien eingesetzt hätten.

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Zeitweilig war das auch richtig!)

    Die Frage ist nur: Was hätten sie tun können? Wichtig war, daß wir keinen deutschen Alleingang versucht haben,

    (Zustimmung bei der FDP)

    sondern versucht haben, den Prozeß in die Europäische Gemeinschaft und in die KSZE einzubinden.
    Die im westlichen Ausland vielfach unterbewertete KSZE, die ja teilweise als Steckenpferd des Genscherismus bezeichnet wird, hat einen Krisenmechanismus entwickelt, der vielversprechend und zukunftsweisend ist, nicht zuletzt unter Aufweichung der schwerfälligen Konsensregel.
    Die EG hat sich — das ist deutlich hervorzuheben — unter dem formalen Mandat der KSZE nicht ohne Erfolg um Streitschlichtung bemüht und dabei etwas durchaus Neues zuwege gebracht, nämlich das Institut der neutralen Beobachter. Wir können nur hoffen, daß die Völker und die Verantwortlichen in Jugosla-



    Dr. Hermann Otto Solms
    wien — auch unter Androhung von Boykott- und Anerkennungsmaßnahmen — zur Besinnung kommen; denn in Wirklichkeit können nur sie selbst die Lösungen bewerkstelligen, allerdings nicht mit Waffengewalt, sondern nur über Gespräche und friedliche Maßnahmen.

    (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, es zeigt sich heute, daß der traditionelle Nationalstaat ein immer weniger geeignetes Instrument ist, Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu geben. Das Zeitalter, in dem sich nationale Interessen in Einflußsphären oder machtstaatlichem Dominanzstreben niederschlugen, ist vorbei. Niemand will die Bedeutung nationalen Selbstbewußtseins leugnen. Die Ereignisse in Jugoslawien und in der Sowjetunion haben sich natürlich auch bei uns tief eingeprägt. Doch in einer enger werdenden Welt kann keine Nation ihre eigenen Interessen zu Lasten anderer Nationen vertreten oder durchsetzen. Die wachsende Interdependenz moderner Gesellschaften zwingt in immer engerer Abstimmung und Harmonisierung zu gemeinsamem Handeln.
    Lassen Sie mich abschließend hinzufügen: Während der Stunden und Tage des letztlich fehlgeschlagenen Putsches in Moskau mag manchen der Gedanke beschlichen haben, was geschehen wäre, wenn wir zu diesem Zeitpunkt noch von einer Zustimmung der sowjetischen Seite zur deutschen Einheit abhängig gewesen wären. In der Rückschau hat sich damit wohl endgültig erwiesen, daß es von großer Klugheit war, die historische Stunde des letzten Jahres nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, um die deutsche Einheit schnellstens zu vollenden.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wenn der Putschversuch in der Sowjetunion nun fehlgeschlagen ist, dann um so besser. Uns allen wurde jedoch noch einmal drastisch vor Augen geführt, daß alles auch hätte anders kommen können. Es stand im wahrsten Sinne des Wortes auf des Messers Schneide.
    Die Gefahr weltweiter militärischer Konflikte scheint zurückzugehen. Neue Herausforderungen in Europa und weltweit kommen auf uns zu. Mit der internationalen Zustimmung zum deutschen Einigungsprozeß ist uns ein Vertrauensvorschuß entgegengebracht worden, den wir durch die Übernahme gewachsener internationaler Verantwortung honorieren müssen.