Rede:
ID1203704500

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 8
    1. Das: 1
    2. Wort: 1
    3. hat: 1
    4. der: 1
    5. Herr: 1
    6. Bundeskanzler,: 1
    7. Helmut: 1
    8. Kohl.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/37 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 37. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage und Entwicklung in der Sowjetunion und Jugoslawien Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3015 B Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan- des Schleswig-Holstein 3020 A Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 3025 D Dr. Hermann Otto Solms FDP 3031 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3035 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 3038 C Ortwin Lowack fraktionslos 3041 D Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 3043 A Hans Koschnick SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3046 D Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der a) ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) (Drucksache 12/1000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 (Drucksache 12/1001) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 3047 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 3057 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 3058C, 3100B, 3104 C Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 3062 C Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3068 D Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 3070 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3072 B Peter Conradi SPD 3082 B Dr. Lutz G. Stavenhagen CDU/CSU . . 3082 C Christel Hanewinckel SPD 3082 D Dr. Burkhard Hirsch FDP 3085 D Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 3086A Dr. Willfried Penner SPD 3087 A Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3089D, 3106A Dr. Sigrid Hoth FDP 3089 D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 3091 D Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 3092 B Dr. Paul Laufs CDU/CSU 3093 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3095 B Dr. Willfried Penner SPD 3097 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 3102A Karl Deres CDU/CSU 3104A Dr. Hans de With SPD 3108 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 3109A Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) CDU/CSU 3110D Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . . 3112D Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 3115D Nächste Sitzung 3117D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3119* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 — Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 — (Michael von Schmude CDU/CSU) . . . . 3119* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3015 37. Sitzung Bonn, den 4. September 1991 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 04. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 04. 09. 91 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 04. 09. 91 * Erler, Gernot SPD 04. 09. 91 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 04. 09. 91 * Francke (Hamburg), CDU/CSU 04. 09. 91 Klaus Hilsberg, Stephan SPD 04. 09. 91 Koltzsch, Rolf SPD 04. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 04. 09. 91 Karl-Hans Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 04. 09. 91 Marten, Günter CDU/CSU 04. 09. 91 * Michels, Meinolf CDU/CSU 04. 09. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 04. 09. 91 Müller (Düsseldorf), SPD 04. 09. 91 Michael Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 04. 09. 91 Pfuhl, Albert SPD 04. 09. 91 * Rempe, Walter SPD 04. 09. 91 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 04. 09. 91 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 04. 09. 91 * Schmidt-Zadel, Regina SPD 04. 09. 91 Sielaff, Horst SPD 04. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 04. 09. 91 * Dr. Sperling, Dietrich SPD 04. 09. 91 Dr. Sprung, Rudolf CDU/CSU 04. 09. 91 * Verheugen, Günter SPD 04. 09. 91 Vosen, Josef SPD 04. 09. 91 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 04. 09. 91 Gert Welt, Hans-Joachim SPD 04. 09. 91 Wieczorek-Zeul, SPD 04.09.91 Heidemarie Zierer, Benno CDU/CSU 04. 09. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 - Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 - Michael von Schmude (CDU/CSU): Diese erste Lesung des Haushalts 1992 gibt uns willkommenen Anlaß zu einer Bestandsaufnahme, nämlich: wie weit sind wir beim Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates in den neuen Bundesländern vorangekommen, wo stehen wir, was muß noch getan werden? Anlagen zum Stenographischen Bericht Uns ist allen bewußt, daß die Glaubwürdigkeit der Justiz und das damit verbundene Vertrauen in den Rechtsstaat unabdingbare Voraussetzung für das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West sind. Die Verwirklichung der Einheit auf dem Gebiet des Rechts ist eine Mammutaufgabe und braucht demzufolge auch Zeit. Dennoch gehöre auch ich zu jenen, die ungeduldig sind, und in der Tat könnte und müßte das eine oder andere zügiger verwirklicht werden. Das Justizwesen der früheren DDR war Werkzeug des Unterdrückerstaates und muß deshalb mehr als jede andere Verwaltung auch personell von Grund auf erneuert werden. Das bedeutet, daß Richter und Staatsanwälte nur in einem geringen Umfang übernommen werden können. Um eine Richterdichte wie in den alten Bundesländern herzustellen, benötigen wir etwa 4 500 Richter, 1 000 Staatsanwälte und 2 000 Rechtspfleger. Letztere waren in der früheren DDR überhaupt nicht vorhanden. Die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte, die bereits in der ehemaligen DDR tätig waren, wird intensiv betrieben (von 2 600 = 1990 sind jetzt noch 1 300 im Amt). Unabhängig davon sollten jene Juristen, die sich schuldig gemacht haben, nicht erst auf das Ergebnis ihrer Überprüfung warten, sondern durch freiwilliges Ausscheiden ein Zeichen der Einsicht und damit einen Beitrag zum Neubeginn leisten. Gleiches gilt auch für diejenigen Juristen, die sich noch kurz vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als Rechtsanwälte niedergelassen haben, obwohl sie auf Grund ihrer Vergangenheit dieses besser hätten unterbleiben lassen sollen. Überprüfungen sind notwendig, wobei erforderlichenfalls die bisherigen gesetzlichen Grundlagen ergänzt werden müssen. Auch hier gilt: Jeder Einzelfall muß auf die persönliche Verantwortung hin untersucht werden, Pauschalverurteilungen sind fehl am Platze. Unser 1991 beschlossenes dreijähriges Hilfsprogramm zum Aufbau des Rechtsstaates im Beitrittsgebiet sieht die Entsendung von insgesamt 2 300 Juristen und Rechtspflegern vor. Dabei handelt es sich um 1 000 Richter und Staatsanwälte, von denen bis Ende Juni etwa die Hälfte abgeordnet waren. Die Länder haben erneut versprochen, die angestrebte Zahl per Ende dieses Jahres annähernd sicherzustellen. Ein größeres Defizit tut sich bei den Rechtspflegern auf. Zwischen Bund und Ländern war vereinbart, in diesem Jahr 500 Rechtspfleger abzuordnen. Per Ende August lag diese Zahl mit 211 weit zurück. Angesichts des großen Arbeitsanfalls bei den Grundbuchämtern - bekanntlich liegen über 1 Million Ansprüche auf Rückübertragung vor - ist dieser Zustand besonders bedauerlich. Am Geld kann es nicht liegen, denn im Rahmen des gesamten Hilfsprogramms von 120 Millionen sind für diesen Bereich der Abordnung allein 65,4 Millionen DM vorgesehen. Die neuen Bundesländer machen von dem finanziellen Hilfsangebot des Bundes zur Einstellung von bis zu 300 Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern regen Gebrauch. Hier sind kurzfristig bereits 200 Stellen besetzt worden. 3120* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Außerordentlich unbefriedigend und schleppend verläuft dagegen die Ausschöpfung unseres sog. Seniorenmodells. Hier waren Haushaltsmittel in Höhe von 17,5 Millionen DM im Haushalt 1991 vorgesehen zur Entsendung von 500 pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern. Mehr als 100 Interessenten haben sich bei den Justizministern der alten Bundesländer beworben und ganze drei sind inzwischen erst tätig: ein Richter in Sachsen und jeweils ein Richter und ein Rechtspfleger in Thüringen. Diesem Mißstand muß durch den Bundesjustizminister dringend nachgegangen werden. Sollten die alten Bundesländer mit dieser Aufgabe der Bewerberauswahl überfordert sein, so wäre dringend eine Übertragung auf ein anderes Gremium erforderlich. Insgesamt bleibt ohnehin festzuhalten, daß einige Bundesländer sehr vorbildlich den Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern unterstützen, andere hingegen, oft entgegen großer Ankündigungen, nur sehr halbherzig. Ein negatives Beispiel ist dafür leider auch Herr Engholm, der 1990 ganze vier Richter nach Mecklenburg-Vorpommern abgeordnet hat und die ohnehin knappen Ressourcen an Richtern durch die parteipolitisch motivierte Entscheidung zur Einrichtung eines neuen Oberverwaltungsgerichts weiter einengt. So sehen manche Solidarbeiträge aus! Die Vereinbarung des Bundesjustizministers mit seinen Länderkollegen zur Entsendung von 60 Staatsanwälten zur Aufdeckung der Regierungskriminalität in der früheren DDR ist von den Ländern bisher erst mit 10 Juristen teilerfüllt worden. Natürlich ist kein Schleswig-Holstein dabei. Zur Aufarbeitung der früheren SED-Diktatur hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Bereinigung von SED-Unrecht vorgelegt. Damit sollen die Aufhebung von Unrechts-Urteilen und die Entschädigungsregulierung beschleunigt werden. Wir müssen an diesen Komplex mit einem besonderen Augenmaß herangehen: In den mehr als 20 000 anstehenden Rehabilitierungsverfahren stecken erschütternde Einzelschicksale. Den Betroffenen muß Gerechtigkeit widerfahren. Allerdings müssen wir auch die Grenzen unserer Möglichkeiten erkennen, die einfach darin bestehen, daß geschehenes Unrecht weder finanziell noch sonst voll ausgeglichen werden kann. Bei den Finanzen ist zu berücksichtigen, daß dieses Gesetz mit etwa 1,5 Milliarden DM Kosten an die Grenzen unserer Möglichkeit heranführt. Mit einem noch zu beratenden Gesetz über die sogenannte Verwaltungsrehabilitation müssen Willkürakte der DDR-Organe im Verwaltungsbereich aufgearbeitet werden. Hier muß eine Möglichkeit geschaffen werden, auch abgeschlossene Verfahren wieder aufzugreifen. Besonders gilt dies hinsichtlich der sogenannten Zwangsumsiedlungen. So wurden u. a. im ehemaligen Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze — auch direkt angrenzend an meinen Wahlkreis in Mecklenburg — Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Hab und Gut gegen ein Trinkgeld dem Staat zu übereignen. Für die Vergangenheitsbewältigung des SED-Schnüffler- und Spitzelstaates brauchen wir weitere juristische Grundlagen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ermöglicht uns entsprechende Informationen im Interesse betroffener Opfer. In Verbindung mit der Erfassungsstelle Salzgitter kann dann hoffentlich ein Großteil politisch motivierter Straftaten aus der DDR-Zeit verfolgt und gesühnt werden. In diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, daß einige SPD-regierte Bundesländer einen Läuterungsprozeß durchlaufen haben und sich wieder an den Kosten der Erfassungsstelle Salzgitter beteiligen. Es war schon beschämend, wie man hier in der Vergangenheit aus einer Gefälligkeitspolitik heraus sich aus der politischen Verantwortung davongestohlen hat. Ein ganz besonders negatives Beispiel gibt wiederum die schleswig-holsteinische Landesregierung unter Ministerpräsident Engholm, die sofort nach der Regierungsübernahme 1987 ihren Anteil von nur 10 000 DM verweigerte. Der bisherige Aufbau der rechtsstaatlichen Justiz im Osten Deutschlands verdient Dank und Respekt vor allem gegenüber den neuen Bundesländern, denn der Alltag zeigt, daß inzwischen auch hier und da bereits Rückstände bei Gerichten und Grundbuchämtern abgearbeitet werden können. Allen Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums möchte ich an dieser Stelle ebenfalls meinen Dank für die von ihnen geleistete vorbildliche Arbeit sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Ulla Jelpke


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde zur Innenpolitik sprechen, und ich beginne deshalb mit Ausländern und Ausländerinnen. Genausogut könnte ich aber auch zur Außenpolitik sprechen und dabei über die Deutschen im Ausland reden. Beides behandelt nur verschiedene Seiten derselben Medaille: die sicherheitspolitische Absicherung der neudeutschen Politik nach innen und außen.
    Für die einen gibt es 200 Millionen DM, deutschsprachige Radio- und Fernsehsendungen im Ausland und anderes mehr von der Bundesregierung zur Unterstützung — Zitat — „aller Initiativen in den Aussiedlungsgebieten, die die Autonomie und Selbstverwaltungsmöglichkeiten der deutschen Minderheiten stärken" . — So wird es genannt, von der Oder bis Sibirien.
    Für die anderen gibt es Bundesgrenzschutz, patroullierende Hubschrauber, neu eingerichtete Sammellager — versehen mit privaten Wachdiensten —, die Forderung nach Schnellrichtern, Einschränkung der medizinischen Versorgung, dafür aber Ausbau der datenmäßigen Erfassung und massenhafte Abschiebungen. Das ist für die Nichtdeutschen im Inland.
    Beides zusammen ist deutsche Politik nach all den historischen Stunden seit 1990.
    Die Medien waren und sind willige Begleiter dieser Politik. Grundrechte, die eigentlich dazu da sind, daß Demokratie und Menschenrechte immer umfassender verwirklicht werden können, werden heute beispielsweise in der Zeitung „Die Welt" nur noch als „Diktat" empfunden. Die „Frankfurter Allgemeine " vom 2. 8. 1991 sagt es offen — ich zitiere — :
    Das im Grundgesetz schrankenlos niedergeschriebene Asylrecht stimmt seit langem nicht mehr mit der Realität überein. Es handelt sich um ein Versprechen, das der Grundgesetzgeber 1949



    Ulla Jelpke
    abgegeben hat in der sicheren Annahme, daß es folgenlos sei.
    Und sagen Sie nicht, daß es nur die Medien sind! Die Stichworte werden von der Politik geliefert.
    Diesem so empfundenen „Diktat" des Grundgesetzes mögen sich auch große Teile der SPD nicht beugen. Sein zweifelhaftes Rechtsempfinden offenbarte z. B. der sozialdemokratische Bremer Senat, der pro Woche nur noch 300 Asylanträge entgegennehmen wollte und bei allen anderen Anträgen eine Antragsannahme schlichtweg verfassungswidrig verweigerte. Für eine Asylrechtsänderung hat sich der SPD-Innensenator von Hamburg, Hackelmann, ausgesprochen. Zu erwarten ist, daß auch weitere Innenminister der SPD-geführten Länder diesem folgen.
    Meine Damen und Herren, in der sicheren Annahme, daß es für die Bundesrepublik nur Positives bringen werde, hat man mit Versprechen von Freiheit und Freizügigkeit gegenüber den Ostblockstaaten einschließlich der DDR gelockt. Jetzt stellen Sie, Herr Gerster, nach einer Klausurtagung der Innenpolitiker der CDU, Ihrer Fraktion, fest — ich zitiere — :
    Eine Entwicklung, nach der das Mehr an Freizügigkeit faktisch zu einem Niederlassungsrecht im Land seiner Wahl führt, wäre ... für unser Gemeinwesen auch nicht ansatzweise verkraftbar.
    Wieviel Mauer darf es dann sein für Ihre Festung Europa, Herr Gerster?

    (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist eine bösartige Unterstellung, was Sie machen! Das wissen Sie genau!)

    — Das können Sie in Ihrer Presseerklärung nachlesen.

    (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ihre Wertung ist eine Unterstellung!)

    Ihnen ging es doch nie um die Menschen in diesen Ländern. Freizügigkeit für diese Menschen, wie z. B. Reisefreiheit, erleben Sie doch heute als massive Bedrohung.
    Ich meine, daß das Asylrecht und selbstverständlich seine notwendigen materiellen und sozialen Voraussetzungen in diesem Land umfassend erhalten bleiben und geschaffen werden müssen. Es geht nicht nur um das Recht, formal einen Antrag stellen zu dürfen. Wir wehren uns auch gegen die polizeiliche, paramilitärische, bürokratische Aushebelung des Asylrechts. Dies führt zu unmenschlichen Aussonderungsmaßnahmen nicht erst an den deutschen Grenzen, sondern schon an den Grenzen der Nachbarstaaten. Das anvisierte Abkommen der polnischen Regierung gegen rumänische Flüchtlinge ist nur ein Beispiel für diesen Mechanismus.
    Bezeichnend ist, wie investiert wird, um die lückenlose Abschottung gegen Asylsuchende und Flüchtlinge zu verwirklichen, und wie wenig bleibt, um die materiellen Bedingungen zu schaffen, damit das Grundrecht auf Asyl auch realisiert werden kann.
    Niemand braucht sich zu wundern, wenn im Fahrwasser dieser Propaganda neofaschistische Gruppen neuen Zulauf bekommen, können sie sich doch berufen fühlen, die wahren Vollstrecker dieser nationalistischen und rassistischen Politik zu sein. Niemand möge sich täuschen: Das Zentrum dieser Aktivitäten liegt nicht auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Westdeutsche Neonaziführer sind es, die ihre Zentralen dorthin verlegen, in der Hoffnung, hier durch die soziale Kahlschlagpolitik einen guten Nährboden für ihre Rezepte zu finden.
    Aber nicht nur das Grundrecht auf Asyl wird so blockiert. Auch andere Verfassungsgrundsätze wie z. B. die strikte Trennung von Polizei- und nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist offensichtlich nicht mehr zeitgemäß. Die Gründung einer Justiz, Polizei und Nachrichtendienste übergreifende Koordinierungsgruppe zur Terrorismusbekämpfung ist der aktuelle Höhepunkt einer Politik, die die Barrieren des Nach45er-Geistes beseitigt. Wie das Asylrecht heute wurde die strikte Trennung der verschiedenen Organe der inneren Sicherheit immer als Hindernis begriffen, vor allem wenn sich Demokratie im Umgang mit politischen Gegnern, mit Problemen der Jugendlichen und mit sozialen Konflikten bewähren sollte.
    An allen parlamentarischen Gremien vorbei, unter Mißachtung aller föderalen Grundsätze wurde diese Koordinierungsgruppe eingerichtet. Die Öffentlichkeit wurde über diese Koordinierungsgruppe gezielt desinformiert. Es gibt also wenig gute Gründe, auf die hier praktizierte Meinungsfreiheit stolz zu sein.
    Bevor in den neuen Bundesländern die Sozialämter funktionierten, war die Einheit oder richtiger: die Vorherrschaft der bundesdeutschen Polizei hergestellt. Bevor die Gefangenen in den DDR-Haftanstalten das neue Strafvollzugsgesetz kennenlernen konnten, tingelte der Verfassungsschutz mit einer Ausstellung durch die Länder.
    Während die Wirtschaft in den neuen Ländern gezielt fertiggemacht worden ist, reduziert sich der Ostaufschwung fast ausschließlich auf den Aufbau des Sicherheits- und Verwaltungsapparats von oben. Hier fließen die Gelder, sei es für die materielle Ausstattung oder sei es für hochdotierte Posten von Westbeamten. 14 000 sind es, und keiner von ihnen dürfte als einfacher Sachbearbeiter arbeiten.
    Ihre Aufgabe ist die Umsetzung bundesdeutscher Bürokratie- und Sicherheitsstandards. „Buschgeld" nennen sie ihre Zulagen und machen damit deutlich, daß sie in kolonialen Traditionen fühlen.

    (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ach du liebe Zeit!)

    — Das ist ein Zitat, Herr Gerster. „Buschgeld" kommt nicht von uns, sondern so nennen das die Leute selbst.
    Meine Damen und Herren, kein Betroffener aus der DDR konnte bisher in seine Stasi-Unterlagen einsehen. Dieses Privileg hatten bisher ausschließlich bundesdeutsche Sicherheitsbehörden und dadurch auch die mit der BRD befreundeten westlichen Geheimdienste und natürlich die Überprüfungskommissionen der Landtage.

    (Zurufe von der CDU/CSU: BRD?)

    Der vor wenigen Tagen bekanntgewordene Maulkorb für den Sonderbeauftragten der Bundesregierung hat gezeigt, daß das Interesse der Bundesregie-



    Ulla Jelpke
    rung nur in eine Richtung geht: Sicherstellen der Daten und Informationen für eigene Zwecke. Die Einschränkung der Aussagegenehmigung für Herrn Gauck, ausgerechnet vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß zu den Machenschaften von Schalck-Golodkowski, zeigt, daß die Bundesregierung kein Interesse an der historisch-politischen Aufarbeitung gerade einer der wichtigsten Abteilungen des MfS hat.

    (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Das müssen gerade Sie sagen!)

    — Ja, das muß gerade ich sagen!

    (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Wo waren die Befehlsgeber? Die Befehlsgeber der Stasi sind noch in Ihren Reihen! Daß Sie es überhaupt wagen, hier zu reden!)

    Wen wundert's, war da doch die KoKo die am besten funktionierende gemeinsame Einrichtung, hochkarätig besetzt aus den Bereichen Politik, Geheimdienste und Wirtschaft.
    „Buschgeld" und der Umgang mit dem Stasi-Erbe, das sind die Eckpunkte der sicherheitspolitischen Vereinigung. Sie bringen zum Ausdruck, daß die Menschen in den neuen Ländern auch in Zukunft von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen werden sollen. Der feste Wille der Regierung, auch in diesem Haushalt keine wesentlichen Änderungen am Vorrang der inneren Sicherheit vorzunehmen, zeigt, daß die sich anbahnenden sozialen und politischen Konflikte bundes- und europaweit sicherheitspolitisch eingedämmt werden sollen.

    (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Nehmen Sie sich ein Beispiel an der KPdSU, indem auch Sie sich auflösen! Das wäre am besten!)

    Eine Lösung der Probleme ist so nicht zu erwarten, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)



Rede von Renate Schmidt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler, Helmut Kohl.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Verständnis dafür, daß Herr Ministerpräsident Engholm nicht hier sein kann. Deswegen will ich nur einige ganz kurze Bemerkungen zu seinen heutigen Ausführungen machen. Daß diese Ausführungen nichts Neues enthielten, hat jeder, der sie gehört hat, mitbekommen. Das braucht man nicht zu kommentieren.
    Ich will nur noch einmal mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, daß er seine Erklärung im Rahmen einer Debatte über die Außenpolitik abgegeben und dabei zur Außenpolitik der SPD nichts gesagt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Was ich heute hier von ihm gehört habe, waren nichts als Platitüden. — Wir alle treten für mehr Rechte des Europäischen Parlaments ein. Ich kenne niemanden hier, der das nicht tut. Ich kann nur sagen: Unter den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gibt es nicht eine, die auch nur vergleichsweise mit der gleichen Intensität für eine Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments eintritt wie die von mir geführte Bundesregierung.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Was er zu den wichtigen, entscheidenden Themenbereichen der beiden Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion gesagt hat, das haben wir — ich als Bundeskanzler, aber auch der Bundesaußenminister, die Sprecher der Koalitionsfraktionen — in Dutzenden von Regierungserklärungen und Reden immer wieder gesagt. Gefehlt hat eigentlich, daß er ganz einfach feststellt: Diese Politik ist gut, und wir unterstützen sie. — Aber davon habe ich kein Wort gehört.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Da sind noch zwei Punkte, die nicht unwidersprochen stehenbleiben können. — Herr Engholm weiß es entweder nicht — ich nehme das zu seinen Gunsten an — , oder er baut hier an einer Legende, die für das Land schädlich ist. Er hat gesagt, daß die Polen-Verträge im Hickhack steckengeblieben seien. Dies ist schlicht die Unwahrheit.
    Da ein Großteil der Verhandlungen seit meinem Besuch damals in Warschau — an dem Tag, bevor die Mauer fiel — weitgehend auch von mir mit beeinflußt und mitbestimmt worden ist, kenne ich den Ablauf der Ereignisse genau. Jeder, der die Verhältnisse in Polen etwas kennt — immerhin: das sollte doch auch ein Parteivorsitzender der SPD —, weiß, daß wir in diesen Jahren, also zwischen Ende 1989 und heute, auch in der Republik Polen im Zusammenhang mit Regierungsneubildungen und Wahlen — denken Sie an die Präsidentenwahl — erhebliche Probleme hatten und einfach gar nicht schneller vorankommen konnten.
    Im übrigen haben wir — mehr oder minder das ganze Haus, mit ganz wenigen Ausnahmen — zu einem breiten Konsens über die Ziele der Vertragsverhandlungen mit Polen gefunden.
    Da Sie davon sprachen, hätte ich eigentlich erwartet, daß Herr Engholm, bevor er hier derartige Dinge sagt, doch ein Wort für jene findet, die die große innenpolitische Leistung mitvollbracht haben, daß — im Gegensatz zu mancher Auseinandersetzung der letzten 30 Jahre — hier ein Votum zustande kam, das doch quer durch die Fraktionen mit riesigen Mehrheiten unterstützt wurde. Ich halte die Abstimmungen, speziell jene über den Grenzvertrag, für eine der großen innenpolitischen Leistungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Wenn man nichts, aber auch gar nichts — wie Herr Engholm — dazu beigetragen hat, steht es einem auch nicht zu, daran herumzumäkeln.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich füge gleich hinzu: Es hätte ihm auch gut angestanden, zu sagen, was es angesichts dieser Grenzziehung und des Verlustes eines großen Teils des früheren Reichsgebiets bedeutet,

    (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Unseres Vaterlandes!)




    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    daß gerade viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Lager derer, die unmittelbar betroffen waren und sind, weil sie ihre Heimat verloren haben, hier ihr Ja zu einer gemeinsamen friedlichen europäischen Zukunft gegeben haben. Das ist die Wahrheit in der Bundesrepublik, nicht aber solch schäbige Äußerungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Noch viel törichter — ich muß das Wort gebrauchen — sind die Äußerungen über den Ablauf der Vertragsverhandlungen mit der CSFR. Dabei geht es um wirklich schwierige völkerrechtliche Zusammenhänge. Hier geht es um Fragen, die übrigens auch im Blick auf die Staatskasse enorme Wirkungen haben. Hier geht es um ein Stück deutscher und europäischer Geschichte jener schrecklichen Zeit der Nazi-Barbarei. Das kann man doch nicht in kürzester Zeit, gewissermaßen in Husarenart, vom Tisch bringen, nur weil man gerade eine, wie man glaubt, intelligente Bemerkung dazu machen kann.
    Es mag sein, daß Herr Engholm schneller als der damalige CDU-Vorsitzende — also kürzere Zeit nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden — im Deutschen Bundestag gesprochen hat. Aber wenn das seine einzige Qualifikation ist, scheint mir das ziemlich dürftig zu sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dann gibt es ein Zweites, was hier angesprochen werden muß, obgleich ich vorweg sagen möchte, daß die Bundesregierung und ich selbst — ich sage das auch für meine Partei und für meine Fraktion — natürlich jedes Interesse haben, daß im Untersuchungsausschuß Dinge geklärt werden, die ungeklärt sind. Ich muß aber hinzufügen: Das, was ich hier vor allem in der letzten Dreiviertelstunde gehört habe, gehört mit zum Schäbigsten, was ich in meinem ganzen politischen Leben je erlebt habe.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Bei allem, was ich gleich noch zum Kollegen Vogel und zu seinen Äußerungen zu sagen habe, möchte ich hier einen deutlichen Unterschied in der Bewertung des Auftritts einer Abgeordneten machen, die vom Bündnis 90 gesprochen hat. Das ist der Geist — ich will es sehr vorsichtig formulieren —,

    (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das ist der Geist der Bürgerbewegung!)

    der mir aus totalitären Regimen ziemlich vertraut erscheint: wie man mit der Ehre von Menschen umgeht, wie man versucht, mit Fragen, die in einem Millionenpublikum den Eindruck erwecken müssen, als gehe es um erwiesene Tatsachen, zu diffamieren, wie man wirklich die Ehre des anderen herabwürdigt, ohne überhaupt ein einziges Mal die Chance wahrgenommen zu haben, mit ihm darüber zu sprechen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Frau Abgeordnete Köppe, diese letzte Stunde wird auch in der Auseinandersetzung kommender Jahre mit Ihrer Gruppe von großer Bedeutung sein. Denn das zeigt, daß Sie ein Stück politischen Auseinandersetzungsstils eingeführt haben, der Gott sei Dank in
    vielen Jahrzehnten im Deutschen Bundestag so nicht möglich war.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, ich will zu diesem Thema einfach sagen: Ich habe großes Interesse daran, daß im Untersuchungsausschuß — und zwar nicht mit einer Verschleppungstaktik, wie ich das in einem anderen Untersuchungsausschuß über Monate erlebt habe — in klaren Worten so bald wie möglich über die Einzelheiten gesprochen wird. Dabei wird sich sehr rasch herausstellen, daß das, was hier im Gange ist, vor allem eine gigantische Rache- und Diffamierungskampagne ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, Sie sagen zu Recht und nehmen das für sich in Anspruch — Sie haben in Ihrem Leben wichtige Funktionen im Justizbereich innegehabt —, daß Zurückhaltung geboten ist, wenn man über solche Themen spricht. Sie haben das dauernd gesagt. Aber hier hat nicht der Abgeordnete Vogel gesprochen, sondern der Fraktionsvorsitzende. Das erste, was ich von Ihnen erwartet hätte und noch erwarte, ist, daß Sie hier erklären, was Sie zu den ungeheuerlichen Formulierungen Ihres Fraktionskollegen Bülow in der deutschen Öffentlichkeit sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, das Ganze ist eine zutiefst schäbige Aktion.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Peter Conradi [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Ich habe nicht die Absicht, hier eine Zwischenfrage zu beantworten.
    Es ist widerlich, weil man deutlich die Rachegefühle für mancherlei Demütigungen in vielen Jahren, nicht zuletzt in Bayern, Herr Kollege Vogel, spürt.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Unsinn!)

    Weil dies so ist, finde ich, ist es wichtig, noch einmal zu sagen, wie Sie von Franz Josef Strauß Abschied genommen haben. Heute muß das einmal angesprochen werden. Damals schrieb Herr Engholm den Kindern:
    Ihr Vater hat, wie nur wenige andere, die Geschichte und das Gesicht unseres Staates von seinen Anfängen an entscheidend mitgeprägt. Wir nehmen Abschied von einem überzeugten Demokraten und einem Mann, der seinen Überzeugungen immer unbeirrbar treu blieb und für sie stand; dies ist eine große Tugend, deren die Demokratie bedarf, wenn sie lebendig sein soll.
    Wissen Sie, Herr Vogel: Man kann nicht solche Briefe schreiben, und dann heute hier so reden.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: War dies damals bekannt?)

    — Herr Vogel, Sie waren doch dabei.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: War das bekannt?)




    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    — Jetzt tun Sie doch nicht so, als wäre das, was jetzt in den Zeitungen steht, Ihr Anlaß. Ihr Anlaß ist -- ich sage es Ihnen ganz knapp — , daß Sie das Jahr 1990, in dem Sie den Mantel der Geschichte an keinem Tag erkannt haben — und zwar auf Grund Ihres Festhaltens an alten Strukturen, weil Sie nicht begriffen hatten, was in der Welt vonstatten ging — , ungeschehen machen wollen.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das ist nicht in Ordnung!)

    So erleben wir — ich komme noch auf andere Beispiele — Tag für Tag Ihre Art, Politik zu machen. Was haben Sie für Angstkomplexe im Frühjahr unter die Menschen in den neuen Bundesländern zu bringen versucht.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es war doch Ihre Erwartung, daß die Sommerpause ähnlich wie das Frühjahr — vor allem während der Osterferien — mit ökonomischen Problemen zusätzlich belastet würde.
    Meine Damen und Herren, man kann nun wirklich sagen: Franz Josef Strauß war ein Mann, an dem sich die Meinungen teilten. Es gibt wenige in diesem Saal, die dies aus eigenem Erleben und manchen Auseinandersetzungen überzeugender sagen können, als ich das tue. Nur, es verbietet doch der Respekt vor der Lebensleistung eines Mannes — gleichgültig, ob man immer seine Meinung geteilt hat oder nicht — , daß man so mit seinem Andenken umgeht, vor allem dann, wenn er sich selbst nicht wehren kann. Ich finde das schändlich, um es mit einem Wort zu sagen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das ist besonders schändlich, weil bei allem, was man kontrovers diskutieren kann, es in diesem Saale doch ganz unstreitig war, daß der Milliardenkredit eine wichtige Entscheidung zugunsten zukünftiger Entwicklungen in Deutschland war. Als Bundeskanzler und als Vorsitzender der CDU erkläre ich: Wenn Franz Josef Strauß damals diesen Vorschlag nicht unterstützt hätte, hätte ich Probleme gehabt, dies in der eigenen Partei im Gesamtzusammenhang deutscher Politik durchzusetzen. Ich bin ihm dankbar für seine Unterstützung.
    Ihm sind viele Millionen Menschen, die dies heute hören, dankbar, weil er zusammen mit mir und anderen damals diesen Schritt getan hat, einen Schritt, der dazu führte, daß aus Zehntausenden erst Hunderttausende und dann Millionen von Besuchern aus der damaligen DDR in den westlichen Bundesländern wurden.
    Wenn die Geschichte der letzten zehn Jahre geschrieben wird, wird klar erkennbar sein: Der Anfang vom Ende des Honecker-Regimes begann vor allem auch damit, daß die Feindpropaganda gegen die Landsleute in der damaligen Bundesrepublik auf Seiten der DDR so nicht mehr möglich war.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dazu stehen Ihnen alle Unterlagen, soweit ich als Bundeskanzler darüber verfügen kann, gerne zur Verfügung.
    Die Verdachtsmomente, die hier in den Raum gestellt werden, sollen doch nur von dem anderen Thema ablenken, das ich eben nannte, nämlich davon, daß Sie nicht mit der historischen Tatsache fertig werden, daß Sie in der Stunde der Einheit versagt haben.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, Sie haben sich heute beschwert, daß ich im vergangenen Jahr Ihre Ratschläge nicht akzeptiert hätte. Wo wäre ich denn seit dem 1. Oktober 1982 geblieben, wenn ich Ihre Ratschläge befolgt hätte?

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Na, na, na! Langsam!)

    Wo wären wir denn geblieben in Sachen Zusammenbruch des Weltkommunismus, wenn damals die NATO Ihrem Rat gefolgt wäre und wir damals die Stationierung nicht vorgenommen hätten?

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)

    Es geht doch im wesentlichen darum, Herr Kollege Vogel, daß Sie jetzt so tun, als hätten Sie damals nicht jene Positionen vertreten, die Sie in Tat und Wahrheit vertreten haben.
    Man muß sich einmal folgendes vorstellen: Noch am 24. August 1987 — das ist gerade vier Jahre her — schrieb der Ministerpräsident des Saarlandes:
    Die DDR ... ist unter Erich Honecker ein wirtschaftlich leistungsfähiger, innenpolitisch stabiler und außenpolitisch selbstbewußter Staat geworden, was der Sicherheit in Europa zugute kommt.
    Meine Damen und Herren aus den neuen Bundesländern, die Sie hier sitzen, Sie müssen doch wissen, aus welchem Geist Sozialdemokraten damals Politik gemacht haben.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)

    Natürlich hat mein Freund und Kollege, der eben für die Unionsfraktion sprach, hier die Frage ironisch gestellt, ob Sie jetzt mit Herrn Gysi und seinen Damen und Herren die Besprechungen von damals fortsetzen wollen. Selbst wenn Sie es wollten, könnten Sie es nicht; denn Herr Gysi hat sich längst in die Büsche geschlagen. Auch das ist doch für jedermann erkennbar.
    Aber wahr ist doch, daß Sie ein gemeinsames Positionspapier auf den Tisch gebracht haben, das alle Voraussetzungen für die deutsche Einheit verraten hat.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Nun, Herr Kollege Vogel, Sie haben — das war zu erwarten; das ist auch ganz in Ordnung — mich auch noch auf die Diskussion angesprochen, die wir jetzt innerhalb der CDU haben. Sie haben von der schwe-



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    ren Krise gesprochen und davon, wie das alles so weitergeht. Meine Damen und Herren, ich finde es ziemlich abwegig, wenn wir uns gegenseitig unsere Probleme vorhalten.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ach, was tun Sie denn zur Zeit?)

    Ich muß bloß sagen: Als ich hier hereinkam — ich habe es nicht herausgesucht —, hatte ich gerade im Pressespiegel gelesen, daß Herr Farthmann, ein mächtiger Mann in der SPD, wie Sie wissen, gestern oder vorgestern bei der ersten Fraktionssitzung nach der Sommerpause laut NRZ gesagt hat:
    Wenn die SPD ab '94 den Bundeskanzler stellen wolle . . ., dann müsse sie „auf die drängenden Fragen schlüssigere Antworten geben". Ohne Namensnennung wies Farthmann auf unterschiedlichste Äußerungen von SPD-Prominenz hin, die sich zuletzt zur Steuer- und Asylantenpolitik verbreiteten. Der Bürger brauche Klarheit.
    Ich kann dem Mann nur recht geben, meine Damen und Herren; das ist wahr.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wenn Sie das tröstet!)

    Wir wollen gleich in der Rangordnung noch weiter nach oben gehen. Während der Sommerpause hat ein Mann, der in der SPD immerhin nicht irgendeine Rolle spielt, der stellvertretender Parteivorsitzender ist, der Kanzlerkandidat war und der jetzt als Kandidat für andere wichtige Ämter der Republik genannt wird, nämlich Johannes Rau, laut „Rheinischer Post" gesagt:
    Ich behaupte, diejenigen, die alle Punkte unseres
    — er meinte die SPD —
    Programms nachzubuchstabieren bereit sind, das sind nicht mehr als 33 %. Die SPD dürfe deshalb den Menschen ihre Programme nicht einfach „überstülpen", sondern müsse sie stärker davon überzeugen, daß sie vernünftige Lösungen anstrebe.
    Also, wenn Sie Volker Rühe zitieren — das ist der Generalsekretär — , dann zitiere ich jetzt im Gegenzug den stellvertretenden Parteivorsitzenden. Dann sind wir quitt, denke ich, meine Damen und Herren.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Tröstlich! Weiter so!)

    — Herr Vogel, lenken Sie doch nicht ab; Sie kennen ja die Probleme.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: „Dummes Gequatsche" hat aber jedenfalls noch niemand gesagt!)

    Dann hat jedenfalls Herr Stolpe gesagt, was 1994 eintreten wird.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das ist Ihr Rettungsanker!)

    — Nein, das ist nicht unser Rettungsring.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Sie sind der vierte, der ihn zitiert!)

    — Ja, aber weil es doch wahr ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Herr Vogel, jetzt seien Sie doch ein bißchen human. Wenn Sie ein solches Zitat aus den Reihen der CDU gehabt hätten, würden wir dies morgens, mittags und abends hören, und Ihre publizistischen Helfer würden es den Menschen noch nachts um 12 Uhr nahebringen.
    Ich will nur sagen: Ich habe keinen Grund — ich tue es auch nicht; ich habe nur repliziert —, die Probleme demokratischer Parteien in einer sich dramatisch verändernden Gesellschaft zu verniedlichen. Ich sage das auch im Blick auf die FDP; sie tut es vornehmer, aber ab und zu dringt es dort ebenfalls schrill hervor. Jeder von uns hat mit diesen Fragen zu tun. Es geht etwa um das Problem, daß immer weniger Menschen bereit sind, sich auf längere Sicht zu binden, daß viele aber sehr wohl bereit sind, sich ganz konkret in einem Einzelfall zu engagieren. Wir alle kennen das ja nicht nur aus den Parteien; im Bereich des Sports und anderswo kann man die gleiche Beobachtung machen.
    Wir haben zu all den Problemen, die wir sowieso haben, natürlich die Schwierigkeit, die sich aus dem Zusammenschluß der früheren CDU-Ost mit der CDU der Bundesrepublik ergibt. Die Freien Demokraten haben eine solche Schwierigkeit auch; Sie in der SPD werden in einer anderen Weise ebenfalls Probleme bekommen. Sehen Sie, meine Damen und Herren, das letzte, das uns dabei weiterhilft, ist ein selbstgerechtes Gerede.
    Ich habe für mich persönlich eine sehr einfache Position — diese gilt dann natürlich auch in meinem Amt — : Ich hatte das Glück, in meiner Heimatstadt Ludwigshafen zu Weihnachten 1946 im Alter von 16 Jahren Mitglied der CDU zu werden. Die Stadt lag damals in der französischen Besatzungszone. Der westliche Teil Deutschlands hatte eine freiheitliche Entwicklung vor sich. Wenn ich in jenen Tagen in Leipzig gelebt hätte, wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit auf Grund meiner Herkunft ebenfalls zur CDU gegangen.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das ist doch nicht der Punkt!)

    — Ich habe die Absicht, das hier darzulegen, was ich zu sagen habe. Herr Kollege Vogel, Sie sind nicht derjenige, der mir vorschreiben kann, was ich sagen soll.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das war damals die Partei des Andreas Hermes, des ersten Vorsitzenden des Reichsverbandes Christlicher Demokraten, der, unmittelbar nachdem er aus der Todeszelle von Plötzensee herausgekommen war, im Juni 1945 zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Das war — wenige Monate nach seiner Absetzung durch die sowjetische Besatzungsmacht — die Partei von Jakob Kaiser und Ernst Lemmer. In jener Zeit sind, wie wir ja wissen, Hunderttausende in die CDU eingetreten. Viele von ihnen haben die Partei später verlassen. Nicht wenige sind wegen ihrer politischen Überzeugung geflohen. Aber ein beachtlicher Teil von ihnen



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    ist in der sowjetischen Besatzungszone, später der DDR, und in der CDU geblieben.
    Ich wehre mich leidenschaftlich dagegen, daß diejenigen, die damals den Weg zur Union fanden und geblieben sind — das gilt genauso für jene in der früheren LDPD, inzwischen vereinigt mit der FDP —, pauschal als „Blockflöten" diffamiert werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ja, wer tut denn das?)

    — Natürlich tun Sie das! (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wer denn?)

    — Natürlich tun Sie das!
    Jetzt geht es darum, daß wir — ich sage dies an meine eigene Partei gerichtet — , in den Orts-, Kreis-, Bezirks- und Landesverbänden der neuen Bundesländer, das tun, was notwendig ist, d. h. daß wir das fortführen, was wir seit dem Jahre 1990 nach der Vereinigung der beiden Parteien begonnen haben, daß man nämlich vor Ort darüber diskutiert, was der einzelne damals getan hat, und ob man ihm empfehlen soll, Ämter wahrzunehmen oder abzugeben. Hierbei hat jeder Anspruch auf eine faire Betrachtung seines individuellen Lebenswegs und seiner Persönlichkeit.
    Meine Damen und Herren, ich bin strikt dagegen,
    — ich sage das als Vorsitzender der CDU Deutschlands — , unsere Parteifreunde in den neuen Bundesländern dabei zu bevormunden, aber es ist ein notwendiger Prozeß. Ich erinnere mich sehr wohl daran, wie wir — deswegen haben wir doppelten Grund, mit einem vorschnellen Urteil zurückhaltend zu sein — in der Zeit nach 1945, also in der Zeit, die ich soeben ansprach und in der ich Schüler und Student war, in der alten Bundesrepublik im Blick auf Mitgliedschaft in der NSDAP verfahren sind. Auch da gab es große individuelle Unterschiede. Ich habe mich immer leidenschaftlich dagegen gewehrt, daß man dies in einer pauschalen Weise wertet.
    Wenn ich Äußerungen eines so klugen Mannes wie Kurt Schumachers zu diesem Thema nachlese, dann ist das auch im Hinblick auf die heutige Situation sehr bedenkenswert. Natürlich kann man historische Tatsachen nicht einfach vergleichen, aber eine Belastung war es auch damals. Nur, für unsere Landsleute in den neuen Bundesländern ist die Belastung in gewisser Hinsicht viel größer gewesen, denn sie lebten ja nicht zwölf, sondern über 40 Jahre unter einem diktatorischen Regime. Sie konnten nicht — wie viele 1943, nach Stalingrad — voraussehen, daß es zu Ende geht. Sie haben vielmehr über 40 Jahre kommunistischer Herrschaft hinter sich.
    Meine Damen und Herren, das muß jetzt auch gesagt werden: Wer im Frühjahr 1989 oder an Weihnachten 1988 in die Weltöffentlichkeit hineinhorchte, und zwar rund um Deutschland herum, aber auch bei uns in der Bundesrepublik, konnte nicht erkennen, daß dort eine ungeheuer dynamische Kraft am Werk war, um möglichst rasch die Wiedervereinigung herbeizuführen. Es war doch sowohl in Ost als auch in West — ich sage: auch in West — davon die Rede, daß der damalige Zustand eine Sache auf Dauer sei oder, wie Herr Honecker meinte, auf Ewigkeit.
    Deswegen rate ich uns im Umgang miteinander — das ist sozusagen exemplarisch für den Umgang der Deutschen miteinander auch auf anderen Feldern — , aufeinander zuzugehen, zur Mitmenschlichkeit fähig zu sein und dem anderen nicht von vornherein mit vorgefaßten Meinungen zu begegnen.
    Ich habe nie einen Zweifel daran gehabt, daß wir die ökonomischen und sozialen Probleme in Deutschland, wie ich sagte — ich bleibe dabei; Herr Stolpe hat mich ja bestätigt — , in drei, vier, fünf Jahren bewältigen werden. Aber wir brauchen für das menschliche Miteinander eine sehr viel längere Zeit. Wir brauchen vor allem die Fähigkeit zur Geduld. Wer — woher er politisch auch immer kommen mag — aus seiner Überzeugung als Christ oder aus seiner Überzeugung als Humanist heraus an Fragen dieser Art herangeht, trägt auch eine menschliche Verpflichtung. Diese ernstzunehmen, darum bitte ich Sie ganz herzlich, und zwar in allen politischen Lagern.
    Meine Damen und Herren, wir beraten den Bundeshaushalt 1992. Er ist ein Beweis für die erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung. Die Zahlen sind bekannt. Im westlichen Teil Deutschlands liegt die Zahl der Beschäftigten heute um 2,9 Millionen über dem Stand von 1983. Die D-Mark ist nach dem Dollar die wichtigste Reservewährung der Welt. Ich könnte die Liste solcher Beispiele beliebig weiterführen.
    Wir alle wissen, daß wir Probleme zu lösen haben. Aber wir wissen auch, daß sich viele Dinge schon verbessert haben. Das Ifo-Institut schrieb in diesen Tagen im Blick auf die Arbeitnehmerhaushalte in den neuen Bundesländern:
    Gegenüber dem Jahr 1989 wird die reale Kaufkraft (im Oktober 1991) voraussichtlich um mehr als ein Viertel gestiegen sein.
    Das ist das genaue Gegenteil von jenem Krisengemälde, das Sie hier immer wieder entworfen haben.
    Herr Kollege Vogel, natürlich haben sich für die große Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern die Lebensverhältnisse gebessert. Sie erfahren jetzt nach der bitteren Erfahrung von über 40 Jahren, in denen sie hart arbeiteten und um die Früchte ihres Fleißes betrogen wurden, daß sie jetzt die Chance haben, diese Früchte selbst zu ernten. Dies gilt vor allem auch im Blick auf unsere besondere moralische Verpflichtung für Rentner und Rentnerinnen, die ihr ganzes Erwerbsleben unter einer sozialistischen Mißwirtschaft verbringen mußten. Für sie gibt es seit dem 1. Juli 1990 bereits eine Rente, die sich an der allgemeinen Einkommensentwicklung orientiert.
    Meine Damen und Herren, jetzt, zum 1. Januar 1992, gibt es weitere erhebliche Verbesserungen, z. B. im Bereich der Invaliden- und Witwenrenten. Deswegen, Herr Kollege Vogel, finde ich, hätten Sie heute einmal auf eine Ihrer früheren Reden an diesem Pult eingehen müssen. Ich zitiere Äußerungen von Ihnen vom 13. März. Das war der Höhepunkt jener Kampagne, die Sie mitinszeniert hatten. Sie sagten damals im Blick auf die Menschen in den neuen Bundesländern:



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Sie ... gehen von neuem in wachsender Zahl auf die Straße und protestieren, ... gegen die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, mit der die Steigerung der Einkommen nicht Schritt hält, und dagegen, daß der wirtschaftliche Aufschwung nicht in Gang kommt.
    Eines ist bemerkenswert.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das haben die Menschen doch getan!)

    — Ja, natürlich. Aber Sie hätten ihnen doch sagen können, daß es ein Zustand ist, der sich in sehr kurzer Zeit ändern wird. Sie haben das aber nicht gesagt, sondern den Leuten noch zusätzlich Angst gemacht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Das Gegenteil ist wahr!)

    Meine Damen und Herren, weil wir gerade bei der Geschichte waren: Sie haben nichts aus der Geschichte gelernt. Das ist heute schon richtig gesagt worden;

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Unglaublich!)

    denn die gleiche Art Polemik haben Sie 1950 gegen Ludwig Erhard betrieben. Dies habe ich noch in bester Erinnerung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Unsinn!)

    Ich bin sicher, daß die Menschen in den neuen Bundesländern in ihrer riesigen Mehrheit fest entschlossen sind, ihr Schicksal selbst zu gestalten, selbst in die Hand zu nehmen. Sie können dies heute tun in der Gesellschaft der Freiheit, der Sozialen Marktwirtschaft. Was sie brauchen, ist neben den materiellen Zuwendungen, daß sie Ermutigung erfahren, daß wir die Probleme nicht wegreden, sondern sagen, daß wir mit ihnen gemeinsam auch Geduld und Ausdauer haben. Wir müssen immer wieder sagen: Auch der Wohlstand der alten Bundesrepublik ist nicht zwischen 1948 und 1950 entstanden, sondern wir haben Jahre gebraucht, um auf den Standard zu kommen, der dann später mit Recht gerühmt wurde.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben mit dem Regierungswechsel 1982 die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung gebracht. Kein einziges Wort ist gestern aus dem Munde der Sprecherin der SPD zu dieser Tatsache gebracht worden. Wir sind in den 18 Monaten von Mitte 1990 bis Ende dieses Jahres in der Lage, über 100 Milliarden DM für den Aufbau in den neuen Bundesländern bereitzustellen. Für 1992 sind es weitere 74 Milliarden DM. Wir haben gleichzeitig dabei ganz Wesentliches im Bereich der Familien- und der Sozialpolitik getan, wobei — das will ich noch gerne nachtragen, Herr Kollege Vogel — ich es erstaunlich fand, daß Sie vorhin mit Drohgebärde das Schicksal des armen Norbert Blüm beschrieben haben, wenn er scheitere. Ja, lieber Herr Vogel, er ist überhaupt der erste Arbeitsminister, der sich dem Thema „Pflegeversicherung" zuwendet.
    Warum haben Sie es denn zwischen 1969 und 1982 nicht getan?

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Daß die alte Bundesrepublik schon seit längerem auf dem Wege der Überalterung ist — die Frage der Kinderzahlen, die Fragen der Demographie — , das ist doch nicht erst jetzt vom Himmel gefallen, sondern das ist eine Entwicklung, die sich seit Jahrzehnten abzeichnet. Sie haben nichts, aber auch gar nichts auf diesem Gebiet getan. Deswegen, das muß ich Ihnen sagen, ist es mir ziemlich gleichgültig, ob Sie Ihre Vorlage im September oder im Oktober einbringen. Wir haben gesagt, daß wir zum Ende dieses Jahres die Vorlage der Koalition einbringen — wenn es nach mir geht, noch im Oktober — und daß sie dann zur Beratung ansteht.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Mal los!)

    Dafür brauchen wir aber doch nicht die Nachhilfe der Sozialdemokraten. Sie haben auch diese Herausforderung schlicht verschlafen und versäumt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich will noch einmal, wie auch der Finanzminister gestern, die OECD zitieren, weil es wichtig ist, diese unabhängige Stimme zu hören. In der jetzigen dramatischen Entwicklung auch der Weltwirtschaft bescheinigt sie uns — ich zitiere — , „daß die Bundesrepublik in einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne ein beachtliches Volumen an finanziellen und menschlichen Ressourcen zur Unterstützung der wirtschaftlichen Integration der beiden Teile Deutschlands mobilisiert hat". Das ist die erste Feststellung.
    Die zweite Feststellung: „Dieser Prozeß vollzog sich ohne Gefährdung für die gesamtwirtschaftliche Stabilität in Westdeutschland. "
    Jetzt kommt die dritte Feststellung, die wahrscheinlich aktuell die wichtigste ist. Hiernach — das hört auch nicht jeder in meiner eigenen Fraktion gern — ist eine Neuverschuldung in der Höhe dieses Jahres selbst bei der derzeitigen außergewöhnlichen Aufgabe des Aufbaus in der ehemaligen DDR auf Dauer nicht akzeptabel. Dies ist wahr, und das ist die Maxime unserer Politik, weil die D-Mark-Stabilität davon abhängt. Der politische Einfluß unserer Republik in der Welt hängt entscheidend von der Stabilität der D-Mark ab. Das muß jeder bei noch so vernünftig begründbaren Vorschlägen und Vorstellungen einsehen. Mir fällt selbst sehr viel ein, aber wir müssen die Notwendigkeiten klar erkennen und Prioritäten setzen.
    Herr Kollege Vogel, zu den Anmerkungen zur Schuldenentwicklung will ich folgendes sagen: Diese Bundesregierung hat mit dem 1. Oktober 1982 bei ihrer Amtsübernahme einen Schuldenstand aller öffentlichen Haushalte in Höhe von 606 Milliarden DM vorgefunden, davon 308 Milliarden DM beim Bund. Verzinst man diesen Schuldenstand, den diese Bundesregierung so nicht verursacht hat, sondern eben als Erblast übernommen hat, mit 7 %, dann ergibt sich rechnerisch

    (Zurufe von der SPD)




    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    — hören Sie sich doch einmal die Zahlen an, Frau Matthäus-Maier — für Ende 1991 eine Verschuldung aller öffentlichen Haushalte in Höhe von 1,114 Milliarden DM, d. h. für den Bund von 566 Milliarden DM. Damit zu vergleichen ist der für Ende 1991 geschätzte tatsächliche Schuldenstand. Er beträgt 1 176 Milliarden DM für alle öffentlichen Haushalte und für den Bund 608 Milliarden DM. Diese Zahlen können Sie nicht bestreiten. Das bedeutet, die Höhe des heutigen Schuldenstands der öffentlichen Haushalte bzw. des Bundes ist nahezu vollständig die Konsequenz eines Schuldenberges, den wir bereits 1982 vorgefunden haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Wir haben — Finanzminister Waigel hat das gestern dargelegt — in den Jahren nach 1982 unseren klaren Kurs konsequent durchgehalten. Wir werden das auch weiter tun. Durch strikte Sparsamkeit sollen die Ausgaben des Bundes durchschnittlich um weniger als 2,5 % jährlich steigen. Die Zuwachsrate des Bundessozialprodukts wird voraussichtlich in den kommenden Jahren doppelt so hoch sein. Das entspricht auch den Stabilitätsvorgaben, die uns, wie Sie wissen, die Bundesbank vorschlägt. Ich kann nur noch einmal sagen, daß die Frage der Preisstabilität für die Bundesregierung von allergrößter Bedeutung ist. Ich nehme alle Mahnungen, egal, von welcher Seite, nicht zuletzt und vor allem die von der Bundesbank, in diesem Zusammenhang sehr ernst.
    Wir müssen gemeinsam daran arbeiten — das gilt aber nicht nur etwa für die Politik im Verantwortungsbereich von Bund, Ländern und Gemeinden, sondern auch für Tarifpartner, für Gewerkschaften wie Unternehmer —, daß wir der Inflationsbegrenzung und Inflationsbekämpfung den notwendigen Vorrang einräumen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie kennen die Beschlüsse zum Thema Mehrwertsteuer. Wir haben hierzu einen klaren Kabinettsbeschluß gefaßt. Etwas anderes, Herr Kollege Vogel, habe ich nicht gesagt.
    Ich habe allerdings darauf hingewiesen, daß es andere Stimmen gibt, die gesagt haben, statt der Erhöhung auf 15 % müssen wir auf 16 % gehen. Ich finde es völlig in Ordnung, daß etwa aus den Bundesländern, und zwar, wenn ich es richtig sehe, nicht nur aus einem einzigen politischen Lager, diese und jene Überlegung diskutiert wird. Was ist das eigentlich für eine eigenartige Politik, wenn solche Fragen in einer laufenden Diskussion überhaupt nicht mehr eingebracht werden dürfen? Entscheidend ist doch, daß diese Koalition und diese Bundesregierung ihren Vorschlag eingebracht haben. Das ist die Basis, von der wir ausgehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sehen Sie, Herr Kollege Vogel: Jetzt kommt ein Zeitabschnitt, in dem ich viel Mitgefühl für Sie habe; denn ich habe in einer Situation, die der Ihren vergleichbar ist, selber gestanden. Damals gab es eine Mehrheit der Union im Bundesrat und SPD/FDP-
    Mehrheit hier im Bundestag.
    Ich habe heute bei den Ausführungen des Herrn Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein kein Wort davon gehört, wie er beim Thema „Mehrwertsteuer" im Bundesrat abstimmen wird.
    Aber ich sage Ihnen voraus, wie Sie abstimmen werden, und ich nehme Wetten darauf an: Sie werden hier
    — im Bundestag dagegenstimmen — in der bekannten Annahme, daß im Bundesrat dafür gestimmt wird. So wird Ihre politische Linie sein. Das ist eine klare politische Linie — damit es jedermann auch richtig versteht —; eine ganz klare politische Linie.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

    — Aber Sie wissen doch, daß es so ist. (Freimut Duve [SPD]: Aus Erfahrung!)

    — Ja; natürlich. Aber ich sage das im übrigen ja gar nicht abwertend. Es ist doch ein großer Unterschied, ob Sie, Herr Kollege, wie Sie hier sitzen, mit lauter, volltönender und angenehmer Stimme Zwischenrufe machen oder ob Sie als Ministerpräsident eines Bundeslandes, das große Schwierigkeiten bei der Finanzierung seiner Aufgaben hat, über Ausgaben reden. Sie sind da besser dran.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Lieber Herr Kollege, weil meine Lebensschule mich in die verschiedensten Funktionen geführt hat, verstehe ich das.

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Aber den nimmt keiner!)

    Ich weiß, wie ich mich als Oppositionsführer geärgert habe, wenn sich die CDU/CSU-Ministerpräsidenten nachts um drei mit dem Kollegen Schmidt und dem jeweiligen Finanzminister der damaligen Koalition geeinigt haben. Ich will versuchen, daß es nicht nachts um drei wird, Herr Kollege Vogel.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Aber es wird so werden. Sie können sich jetzt schon darauf einrichten.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    — Frau Matthäus-Maier, wenn Sie mir widersprechen, gehen Sie doch hierher ans Pult, und sagen Sie: Sie haben unrecht; wir werden im Bundestag und im Bundesrat dagegenstimmen. Dann bin ich bereit, meine Vermutungen zurückzunehmen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    Die heute veröffentlichten Arbeitslosenzahlen zeigen natürlich, daß der Beschäftigungsabbau in Ostdeutschland keineswegs beendet ist. Aber ich glaube, diese Zahlen lassen auch erkennen, daß unsere Arbeitsmarktpolitik greift. Rund 2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse, darunter 30 % in neugegründeten Betrieben, machen deutlich, daß der Strukturwandel vorankommt. Alle Institute, die wir kennen, sagen das Entsprechende voraus.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Herr Kollege Lambsdorff, ich glaube, es ist wichtig, daß wir auch hier unsere Übereinstimmung deutlich machen.
    Wir haben — das war ein ziemlicher Kraftakt; ich will das klar sagen — in den vergangenen Tagen den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit um 5 Milliarden DM nochmals aufgestockt, weil dies angesichts der konkreten Situation in den neuen Bundesländern zwingend notwendig war. Wir haben das getan — ich unterstreiche, was Sie gesagt haben — in der Erwartung, daß das, was jetzt bei den ABM geschieht, selbstverständlich nicht den Aufbau zukunftsfähiger wirtschaftlicher Strukturen, nicht zuletzt beim Mittelstand, erschwert.
    Nur — meine Damen und Herren, Sie kennen meine Meinung aus unseren Gesprächen — , dies ist nicht die Stunde der reinen Lehre. Mit den AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern schaffen wir jetzt Übergangslösungen. Das kann aber keine Dauerentscheidung sein.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Vogel, ich wäre sehr dankbar gewesen, wenn Sie zur Frage der Lehrstellen ein Wort gesagt hätten, weil Sie da aus früherer Zeit noch einen Nachholbedarf haben. Im Frühjahr hörte ich: Es gibt katastrophale Verhältnisse bei der Ausbildung junger Leute in den neuen Bundesländern. Das habe ich übrigens ähnlich schon einmal gehört. Damals haben Sie zwar keine Ergänzungsabgabe, aber eine Ausbildungsabgabe vorgeschlagen. Das war 1985.
    Ich habe das damals abgelehnt. Wir haben an Handwerk, Mittelstand, freie Berufe, an die Unternehmen und alle, die guten Willens waren, appelliert. So haben wir die jungen Leute von der Straße gebracht. Das war eine der ganz großen Leistungen der alten Bundesrepublik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, ich bin sicher: Wir sind heute auf einem ähnlich guten Weg. Natürlich haben wir es diesmal mit ganz anderen Landschaften und Strukturen zu tun. Es wird nicht überall so laufen, wie es damals hier in der alten Bundesrepublik gelaufen ist. Ich bin vorsichtig, aber nach den sich jetzt abzeichnenden Zahlen kann man heute, glaube ich, die Behauptung wagen, daß der allergrößte Teil derer, die können und wollen — beides gehört dazu —,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

    auch die Chance eines Ausbildungsplatzes bekommen.
    Man muß sich einmal vergegenwärtigen, was in diesen paar Monaten geschehen ist, was es etwa heißt, daß in den neuen Bundesländern bis Ende 1991 500 000 neue Telefonanschlüsse verlegt werden. Nach dem jetzt laufenden Programm sollen es bis 1997 9 Millionen Anschlüsse sein. Das ist fünfmal soviel, wie das SED-Regime in den ganzen 40 Jahren geschafft hat. Da kann doch niemand sagen: Auf diesem Gebiet passiert überhaupt nichts.
    Natürlich gibt es da jetzt auch Ärger. Als keiner ein Telefon hatte, haben sich die Leute damit abgefunden. Wenn aber in einem Wohnblock zwei oder drei Mieter ein Telefon haben, wollen alle eins haben, und es kann auf einmal nicht schnell genug gehen. Auch diese Erfahrung machen wir natürlich.
    Die Investitionen im Verkehrsbereich werden von 1992 bis 1995 gegenüber dem bisherigen Ansatz um 30 Milliarden DM erhöht. Sie brauchen nur durch die neuen Bundesländer zu fahren, um die Wirkung zu sehen. In ein paar Monaten wird die Wirkung noch sehr viel stärker sein. Wenn Sie diese Zahlen sehen, wissen Sie, daß wir auf einem guten Weg sind. Es bleibt viel zu tun. Wir haben noch viel Grund zur Sorge. Aber wir sind auf einem guten Weg!
    Die Erfahrungen der letzten Monate zeigen uns auch — das bekunde ich noch einmal als den gemeinsamen Willen der Koalitionsparteien —, daß wir dabei nicht nur auf den Staat und die öffentliche Hand vertrauen dürfen. Die Inanspruchnahme privatwirtschaftlicher Initiativen bei Planung, Finanzierung, Bau und Betrieb von Infrastrukturprojekten ist von allergrößter Bedeutung. Ich könnte mir sogar vorstellen, meine Damen und Herren, daß wir bei der Beseitigung mancher verkrusteter Strukturen in der alten Bundesrepublik durch positive Erfahrungen auf diesem Gebiet in den neuen Bundesländern ein großes Stück vorankommen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich leugne keines der Probleme. Aber ich weiß — ich begegne täglich vielen, die ihre Erfahrungen machen; sie kommen aus dem Ausland oder aus dem Inland, sie kommen aus den neuen Bundesländern und aus den alten Bundesländern —, daß wir — ich sage es noch einmal — auf einem guten Weg sind und daß es jetzt darum geht, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten. Es geht darum, den Menschen Zuversicht zu vermitteln und ihnen zu helfen.
    Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, hier stünde in einer vergleichbaren Lage mein Vorgänger mit der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Sprachgewalt, und er könnte vorlesen, was im britischen „Economist" vom August dieses Jahres steht: „Es wird noch viele Anstrengungen im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung erfordern. Aber — trotz aller Ängste — " — Herr Vogel —„sind die Aussichten besser als die Untergangs-Propheten zur Zeit glauben. "

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Vogel, Sie haben dort ja auch Probleme mit dem Mitgliederzuwachs, aber wenn Sie dieses Zitat in den neuen Bundesländern auf die Plakate drucken, dann werden Sie, da bin ich ganz sicher, erfolgreich sein.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, in der alten Bundesrepublik zeigt sich für dieses Jahr wiederum eine alles in allem bemerkenswerte Entwicklung. Natürlich wissen wir, daß sich die ökonomischen Verhältnisse im Weltmaßstab verändert haben. Es ist aber festzuhalten — und das ist nicht zuletzt ein Ergebnis der deutschen Einheit — , daß es in der alten Bundesrepublik nach den Vorhersagen der Experten für dieses Jahr ein Wachstum von über 3 % geben wird.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Ich nehme einen Gedanken auf, mit dem der Kollege Lambsdorff vorhin den nordrhein-westfälischen Finanzminister zitiert hat. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Wir in den alten Bundesländern waren in einer besonderen Weise ökonomische Nutznießer der deutschen Wiedervereinigung.

    (Peter Conradi [SPD]: Nicht alle!)

    Ohne diesen Nutzen wären wir in der alten Bundesrepublik in den letzten zwei Jahren ökonomisch nicht so erfolgreich gewesen. Es ist ein Akt einfachster Gerechtigkeit, diesen — ich nenne ihn einmal so — Gewinn an die neuen Bundesländer abzugeben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, es war nicht anders zu erwarten, als daß Sie bei dem Thema Unternehmensbesteuerung die alte Platte laufen ließen.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das tun Sie doch auch bei jeder Gelegenheit!)

    — Ich mache Ihnen ein konkretes Angebot.

    (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Haben Sie neue Platten?)

    — Ja, ich werde Sie in die glückliche Lage bringen
    — das ist jedenfalls meine entschiedene Absicht —, wenige Wochen vor Vollendung des europäischen Binnenmarktes am 31. Dezember 1992 zu einer ganz grundsätzlichen Abstimmung über dieses Thema zu kommen. Wir müssen dem Arbeitnehmer bei BASF in Ludwigshafen, dem Arbeitnehmer bei Siemens in Erlangen oder in München, dem Arbeitnehmer in den Betrieben der neuen Bundesländer — denken Sie an das Chemiedreieck in Sachsen-Anhalt, das wir über die Runden und in zukunftsfähige neue Strukturen bringen wollen — , klarmachen, daß sein Unternehmen im Weltmaßstab einer härteren Konkurrenz ausgesetzt sein wird und daß es hier nicht um Geld für die Reichen geht, sondern um die Erhaltung von Arbeitsplätzen.

    (Peter Conradi [SPD]: Jetzt sind wir bei der Vermögensteuer!)

    Meine Damen und Herren, ich sage das jetzt ohne jeden Vorwurf gegen irgend jemanden: Wenn Sie sich diesen Haushalt als Ganzes anschauen — das gilt für alle Haushalte, auch für die Landeshaushalte —, müssen Sie doch einfach zugeben: Wir in den alten Bundesländern beschäftigen uns in unseren Diskussionen überwiegend mit Aufgaben des Tages und von gestern. Die Frage, inwieweit wir in die Zukunft investieren, ist keine parteipolitische Frage, ist keine Frage der Gewerkschaften oder der Unternehmer. Es ist eine Frage, die wir gemeinsam angehen müssen.
    Niemand soll glauben, daß die Volkswirtschaft der USA, die aus einer Reihe von Gründen, auch aus Etatgründen, eine Schwächeperiode hat, so bleibt, wie sie ist. Die Deutschen haben sich schon zweimal in der Kraft dieses Kontinents getäuscht. Ich sage Ihnen voraus: Bis zum Jahre 2000 werden die Amerikaner auch im Blick auf die Japaner und auf das, was in Ostasien geschieht, ihre Muskeln im Ökonomischen anspannen.
    Wenn die Amerikaner durch Abrüstung und Entspannung in die Lage kommen, einen beachtlichen
    Teil ihrer finanziellen Ressourcen vom militärischen Bereich in den ökonomischen und in den Forschungsbereich umzulenken, dann müssen wir uns die Frage stellen: Was tun wir?

    (Zurufe von der SPD: Abrüsten! — Freimut Duve [SPD]: Gute Frage! Sehr gute Frage!)

    — Ich spreche gerade darüber. Ich werde in absehbarer Zeit hier mit einer Regierungserklärung den Versuch unternehmen, eine Debatte herbeizuführen, in der wir uns darüber unterhalten — und zwar jenseits von Parteipolitik — : Was ist für die Zukunft unseres Landes wirklich notwendig? Ich will hier keine japanischen Verhältnisse einführen. Keiner von uns kann die Arbeits- und Sozialverhältnisse Japans hier übernehmen. Wir müssen aber jetzt zur Vorsorge für die Jahre nach 2000 fähig sein. Das ist von meinem Alter aus betrachtet eine Perspektive für die eigenen Kinder. Wenn wir beispielsweise in einer so wichtigen sozialen Frage wie der Pflegeversicherung, über die jetzt diskutiert wird, längerfristig denken, müßten wir konsequenterweise auch fähig sein, in der Industriepolitik längerfristig zu denken. Ich glaube, das ist nur vernünftig, und das sollte man tun.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn wir das tun, steht das nicht im Gegensatz zu anderen sozialen Fragen, beispielsweise der Familienpolitik, die für mich besonders wichtig ist. Ich will hier ein paar Zahlen in Erinnerung rufen: Im Jahre 1982 waren dafür im Bundeshaushalt insgesamt 23 Milliarden DM ausgewiesen. Im Haushalt 1992 sind es 47 Milliarden DM. Das ist eine gewaltige Steigerung in nur ein paar Jahren.
    Ich schließe mich Ihrem Wunsch ausdrücklich an, Herr Kollege Vogel: Bei den Fragen zum Themenbereich § 218 wünsche ich mir, daß wir in einer Weise miteinander diskutieren, die dem Thema angemessen ist. Ich kann das nur unterstreichen. Bei einem Thema, das eine Gewissensentscheidung verlangt, ist es, finde ich, notwendig, daß wir uns — bei allen Gegensätzen — darum bemühen, daß dies in einer Form geschieht, die auch — wie immer dann am Ende die Abstimmung ausgeht — das Leben miteinander in dieser Frage möglich macht.
    Meine Damen und Herren, ich habe in den letzten Wochen vor der Sommerpause nach dem Gipfel in Luxemburg hier ausgiebig über die Europapolitik gesprochen. Ich will heute nur folgendes sagen: Ich glaube, daß es seit dem Golfkrieg und jetzt durch die täglichen schrecklichen Ereignisse in Jugoslawien
    — Sie alle kennen die Nachrichten — auch dem letzten klar sein müßte, daß die Zukunft dem politisch geeinten Europa gehört.
    Ich finde es nicht gerecht, wenn ich jetzt zum Teil höre: Ihr in der EG müßt handeln. Meine Damen und Herren, wir haben ja gar kein Instrumentarium auf diesem Feld. Wenn wir als Außenminister oder als Regierungschefs zusammenkommen, können wir uns, miteinander diskutierend, vielleicht verständigen. Auf dem EG-Gipfel in Luxemburg Ende Juni gab es
    — ich kann das heute ja sagen — etwa in der Frage, wie das Selbstbestimmungsrecht für die Völker Jugoslawiens praktiziert werden könnte, überhaupt kein Einvernehmen. Ich sage das ohne Vorwurf.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Wenn ich in einer vergleichbaren Lage wie von mir hochgeschätzte Kollegen gewesen wäre — ich denke an Felipe Gonzalez und andere — und deren innerstaatliche Probleme hätte, wäre ich möglicherweise auch zurückhaltender gewesen.
    Was wir jetzt in Angriff nehmen, in Angriff nehmen müssen, ist ein mühsamer Prozeß der Meinungsbildung, zunächst unter den zwölf Mitgliedstaaten der EG. Wenn bis zum Jahre 2000 Schweden, Österreich und möglicherweise — ich greife den Entscheidungen dort wirklich nicht vor — Finnland oder Norwegen im Gefolge der Entscheidung Schwedens hinzukommen,

    (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Ungarn!)

    wenn wir um die Jahrhundertwende — ich bin jetzt sehr optimistisch, Herr Kollege Dregger — mitten in Beitrittsverhandlungen mit Ungarn, mit Polen und der CSFR stehen sollten — das ist ja unser, wie ich denke, gemeinsamer Wunsch —, dann ist das ein Europa von weit über 400 Millionen Einwohnern. Es muß darüber hinaus aber auch ein Europa sein, das seine eigene Identität im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, im Bereich des globalen Umweltschutzes, im Bereich der Dritte-Welt-Politik hat. Es hat doch keinen Sinn, daß die einen für das Frankophone zuständig sind, während die anderen aus der englischen Tradition heraus und wir zum Teil mit Komplexen aus der kaiserlichen Zeit — ich will das einmal so freundlich formulieren — die Dinge betrachten. Vielmehr müssen wir versuchen, Europa, das ja anderen Kontinenten einmal als Abendland gegenübertrat, wieder als Ganzes zum Sprechen zu bringen.
    Auch die anderen wichtigen Fragen können wir nur gemeinsam lösen. Ich halte es für ausgeschlossen
    — und ich hoffe sehr, daß wir in ein paar Wochen in Maastricht auf diesem Gebiet weiterkommen — , daß wir die ungeheure Herausforderung der Drogenmafia national abwehren können. Ich bin bestürzt darüber, wie wenig öffentliches Interesse dieses Thema findet, obwohl doch jeder bei uns spürt, daß es auch in Deutschland längst virulent geworden ist.
    Ein anderes Thema, das hier eine Rolle spielt, möchte ich hier wenigstens mit einem Stichwort ansprechen. Ich glaube nicht daran, daß wir die Asylfragen in der nationalen Dimension lösen können. Dabei gilt — das will ich noch einmal betonen — natürlich der Satz: So, wie wir das Asylrecht verstehen, gilt es für jeden, der wirklich aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt ist. Für uns Deutsche mit unserer Geschichte muß dies ein heiliges Recht sein. Ich sage das bewußt und betont so.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Aber, meine Damen und Herren, weder mit Blick auf die europäische noch mit Blick auf die deutsche Dimension kommen Sie dabei unterhalb der Schwelle der Verfassungsänderung aus. Sie sehen doch selbst
    — ich sage das jetzt wirklich werbend; verstehen Sie es bitte so — : Wenn Sie heute eine Tagung Ihrer Kommunalpolitiker haben, Herr Kollege Vogel, dann unterscheidet sich deren Meinung von meiner — nicht weil sie von mir überzeugt sind, sondern weil sie den
    Sachverhalt im Alltag genau kennen — nicht wesentlich. Und weil sie diesen Sachverhalt des Alltags kennen, wollen sie auch in diesem Sinne handeln.
    Der Kollege Genscher hat vorhin schon über Abrüstung und Entspannung gesprochen. Ich kann mich dem anschließen. Ich brauche das nicht noch einmal besonders zu betonen und will nur sagen: In diesen Jahren sind viele Träume in Erfüllung gegangen, aber wenn wir uns jetzt auf die in ein paar Wochen in Rom stattfindende NATO-Konferenz vorbereiten und uns überlegen, was wir jetzt alles verändern können und müssen, um die NATO an die Entwicklung anzupassen, dann wird uns bewußt: Es ist eine unvorstellbare Distanz, die wir in kurzer Zeit zurückgelegt haben. Ich sage das in aller Dankbarkeit.
    Dazu gehört — auch dieses Stichwort soll wenigstens angesprochen werden; ich sagte das schon kurz — , daß ich uns gemeinsam dringend ermahnen möchte, ungeachtet der nationalen Probleme, die wir mit der Finanzierung des Aufbaus in den neuen Bundesländern haben, und ungeachtet unserer Verpflichtungen in bezug auf die Reformstaaten Mittel-, Ost-und Südosteuropas — wir haben mehr getan als alle anderen; ich habe heute früh darauf hingewiesen —, die Not in der Welt, die Not in Lateinamerika, Afrika und Asien, nicht zu vergessen.
    In den nächsten Monaten müssen wir — das ist eine schwierige Entscheidung für die deutsche Politik — das wohlverstandene Eigeninteresse, auch unserer Bauern, bei der GATT-Runde mit einbringen, dabei aber auch sehen, daß die Deutschen neben anderen Gründen zwei vor allem haben, alles zu tun, damit die GATT-Runde erfolgreich ist: erstens weil wir immer noch die größte oder zweitgrößte — das ist nicht so wichtig — Exportnation der Welt sind und zweitens
    — was häufig unterschlagen wird — weil es eine absurde Entwicklung ist, daß wir unsere Märkte nicht für Produkte aus den Entwicklungsländern genügend öffnen. Es ist doch ein Teufelskreis, daß wir Kredite an Länder geben, daß diese Kredite dann dazu benutzt werden, bei uns Maschinen, Chemikalien oder anderes zu kaufen, und daß wir dann nach ein paar Jahren diese Länder wieder entschulden müssen, weil sie ihre Kredite nicht zurückzahlen können. Ich meine also, in der GATT-Runde sei eine der wichtigsten Entscheidungen fällig, und die wird nicht nur Freude machen. Aber wir müssen hier die Zukunft im Gesamtkontext vor uns sehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wer in diesem September 1991 die deutsche Politik, die Entwicklung in Europa und in der Welt betrachtet, der spürt, daß wir
    — ich bin sonst in der Anwendung dieses Begriffes zurückhaltend — mitten in einer Zeitenwende stehen. In der Geschichtsschreibung kommender Zeiten wird die Zeit vom Ende der 80er bis zum Beginn der 90er Jahre mit diesem Begriff bedacht werden. Die dramatischen Entwicklungen in Moskau, die Nachricht, daß darüber gesprochen wird, wo Lenin endgültig beigesetzt werden soll, all das — man kann das ja an den kleinen Beispielen am besten ermessen — legt davon Zeugnis ab. Ich finde, wir sollten bei allen Sorgen, die wir auch haben, uns vor allem sagen: Wir leben in einer phantastischen und großartigen Zeit. Wir haben



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Chancen wie nie zuvor eine Generation in diesem Jahrhundert.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Mit dem Umbruch in der Sowjetunion geht das Zeitalter des Totalitarismus auf unserem Kontinent endgültig zu Ende. Ich bin sicher, daß — auch wenn es manche noch verhindern wollen — auch für die Völker Jugoslawiens der Tag nicht mehr fern ist, an dem sie in Frieden und in freier Selbstbestimmung den Weg zurück nach Europa finden.
    Ich glaube, das ganze Ausmaß dieses wahrhaft revolutionären Wandels wird uns bewußt, wenn wir einen Moment innehalten und uns daran erinnern, was am 1. August 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der damalige britische Außenminister Edward Grey prophezeit hatte: „Die Lampen gehen in ganz Europa aus, wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen. " In der Tat, zwei Weltkriege, die Diktaturen des Kommunismus und des Nationalsozialismus, haben ihm zunächst recht gegeben. Am Wegrand dieser Jahrzehnte gab es Millionen Tote, Vertreibung, Not, Konzentrationslager, Massenmord. Welch ein Kontrast zu den Erfahrungen, die wir heute machen: In ganz Europa gehen jetzt, am Ende dieses Jahrhunderts, die Lichter wieder an. Für mich war es ein bewegender, ein unvergeßlicher Augenblick, als der estnische Außenminister Meri vor ein paar Tagen, anläßlich der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen Deutschlands mit den drei baltischen Republiken, auch im Namen seiner beiden Amtskollegen in Bonn sagte: „Heute sind die letzten Folgen des Zweiten Weltkrieges beseitigt worden. Unsere Blicke sind in die Zukunft gewandt — mit Hoffnung und mit Zuversicht." Dazu haben wir in der Tat allen Grund.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)