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    Plenarprotokoll 12/37 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 37. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage und Entwicklung in der Sowjetunion und Jugoslawien Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3015 B Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan- des Schleswig-Holstein 3020 A Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 3025 D Dr. Hermann Otto Solms FDP 3031 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3035 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 3038 C Ortwin Lowack fraktionslos 3041 D Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 3043 A Hans Koschnick SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3046 D Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der a) ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) (Drucksache 12/1000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 (Drucksache 12/1001) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 3047 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 3057 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 3058C, 3100B, 3104 C Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 3062 C Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3068 D Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 3070 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3072 B Peter Conradi SPD 3082 B Dr. Lutz G. Stavenhagen CDU/CSU . . 3082 C Christel Hanewinckel SPD 3082 D Dr. Burkhard Hirsch FDP 3085 D Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 3086A Dr. Willfried Penner SPD 3087 A Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3089D, 3106A Dr. Sigrid Hoth FDP 3089 D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 3091 D Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 3092 B Dr. Paul Laufs CDU/CSU 3093 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3095 B Dr. Willfried Penner SPD 3097 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 3102A Karl Deres CDU/CSU 3104A Dr. Hans de With SPD 3108 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 3109A Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) CDU/CSU 3110D Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . . 3112D Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 3115D Nächste Sitzung 3117D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3119* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 — Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 — (Michael von Schmude CDU/CSU) . . . . 3119* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3015 37. Sitzung Bonn, den 4. September 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 04. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 04. 09. 91 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 04. 09. 91 * Erler, Gernot SPD 04. 09. 91 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 04. 09. 91 * Francke (Hamburg), CDU/CSU 04. 09. 91 Klaus Hilsberg, Stephan SPD 04. 09. 91 Koltzsch, Rolf SPD 04. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 04. 09. 91 Karl-Hans Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 04. 09. 91 Marten, Günter CDU/CSU 04. 09. 91 * Michels, Meinolf CDU/CSU 04. 09. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 04. 09. 91 Müller (Düsseldorf), SPD 04. 09. 91 Michael Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 04. 09. 91 Pfuhl, Albert SPD 04. 09. 91 * Rempe, Walter SPD 04. 09. 91 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 04. 09. 91 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 04. 09. 91 * Schmidt-Zadel, Regina SPD 04. 09. 91 Sielaff, Horst SPD 04. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 04. 09. 91 * Dr. Sperling, Dietrich SPD 04. 09. 91 Dr. Sprung, Rudolf CDU/CSU 04. 09. 91 * Verheugen, Günter SPD 04. 09. 91 Vosen, Josef SPD 04. 09. 91 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 04. 09. 91 Gert Welt, Hans-Joachim SPD 04. 09. 91 Wieczorek-Zeul, SPD 04.09.91 Heidemarie Zierer, Benno CDU/CSU 04. 09. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 - Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 - Michael von Schmude (CDU/CSU): Diese erste Lesung des Haushalts 1992 gibt uns willkommenen Anlaß zu einer Bestandsaufnahme, nämlich: wie weit sind wir beim Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates in den neuen Bundesländern vorangekommen, wo stehen wir, was muß noch getan werden? Anlagen zum Stenographischen Bericht Uns ist allen bewußt, daß die Glaubwürdigkeit der Justiz und das damit verbundene Vertrauen in den Rechtsstaat unabdingbare Voraussetzung für das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West sind. Die Verwirklichung der Einheit auf dem Gebiet des Rechts ist eine Mammutaufgabe und braucht demzufolge auch Zeit. Dennoch gehöre auch ich zu jenen, die ungeduldig sind, und in der Tat könnte und müßte das eine oder andere zügiger verwirklicht werden. Das Justizwesen der früheren DDR war Werkzeug des Unterdrückerstaates und muß deshalb mehr als jede andere Verwaltung auch personell von Grund auf erneuert werden. Das bedeutet, daß Richter und Staatsanwälte nur in einem geringen Umfang übernommen werden können. Um eine Richterdichte wie in den alten Bundesländern herzustellen, benötigen wir etwa 4 500 Richter, 1 000 Staatsanwälte und 2 000 Rechtspfleger. Letztere waren in der früheren DDR überhaupt nicht vorhanden. Die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte, die bereits in der ehemaligen DDR tätig waren, wird intensiv betrieben (von 2 600 = 1990 sind jetzt noch 1 300 im Amt). Unabhängig davon sollten jene Juristen, die sich schuldig gemacht haben, nicht erst auf das Ergebnis ihrer Überprüfung warten, sondern durch freiwilliges Ausscheiden ein Zeichen der Einsicht und damit einen Beitrag zum Neubeginn leisten. Gleiches gilt auch für diejenigen Juristen, die sich noch kurz vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als Rechtsanwälte niedergelassen haben, obwohl sie auf Grund ihrer Vergangenheit dieses besser hätten unterbleiben lassen sollen. Überprüfungen sind notwendig, wobei erforderlichenfalls die bisherigen gesetzlichen Grundlagen ergänzt werden müssen. Auch hier gilt: Jeder Einzelfall muß auf die persönliche Verantwortung hin untersucht werden, Pauschalverurteilungen sind fehl am Platze. Unser 1991 beschlossenes dreijähriges Hilfsprogramm zum Aufbau des Rechtsstaates im Beitrittsgebiet sieht die Entsendung von insgesamt 2 300 Juristen und Rechtspflegern vor. Dabei handelt es sich um 1 000 Richter und Staatsanwälte, von denen bis Ende Juni etwa die Hälfte abgeordnet waren. Die Länder haben erneut versprochen, die angestrebte Zahl per Ende dieses Jahres annähernd sicherzustellen. Ein größeres Defizit tut sich bei den Rechtspflegern auf. Zwischen Bund und Ländern war vereinbart, in diesem Jahr 500 Rechtspfleger abzuordnen. Per Ende August lag diese Zahl mit 211 weit zurück. Angesichts des großen Arbeitsanfalls bei den Grundbuchämtern - bekanntlich liegen über 1 Million Ansprüche auf Rückübertragung vor - ist dieser Zustand besonders bedauerlich. Am Geld kann es nicht liegen, denn im Rahmen des gesamten Hilfsprogramms von 120 Millionen sind für diesen Bereich der Abordnung allein 65,4 Millionen DM vorgesehen. Die neuen Bundesländer machen von dem finanziellen Hilfsangebot des Bundes zur Einstellung von bis zu 300 Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern regen Gebrauch. Hier sind kurzfristig bereits 200 Stellen besetzt worden. 3120* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Außerordentlich unbefriedigend und schleppend verläuft dagegen die Ausschöpfung unseres sog. Seniorenmodells. Hier waren Haushaltsmittel in Höhe von 17,5 Millionen DM im Haushalt 1991 vorgesehen zur Entsendung von 500 pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern. Mehr als 100 Interessenten haben sich bei den Justizministern der alten Bundesländer beworben und ganze drei sind inzwischen erst tätig: ein Richter in Sachsen und jeweils ein Richter und ein Rechtspfleger in Thüringen. Diesem Mißstand muß durch den Bundesjustizminister dringend nachgegangen werden. Sollten die alten Bundesländer mit dieser Aufgabe der Bewerberauswahl überfordert sein, so wäre dringend eine Übertragung auf ein anderes Gremium erforderlich. Insgesamt bleibt ohnehin festzuhalten, daß einige Bundesländer sehr vorbildlich den Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern unterstützen, andere hingegen, oft entgegen großer Ankündigungen, nur sehr halbherzig. Ein negatives Beispiel ist dafür leider auch Herr Engholm, der 1990 ganze vier Richter nach Mecklenburg-Vorpommern abgeordnet hat und die ohnehin knappen Ressourcen an Richtern durch die parteipolitisch motivierte Entscheidung zur Einrichtung eines neuen Oberverwaltungsgerichts weiter einengt. So sehen manche Solidarbeiträge aus! Die Vereinbarung des Bundesjustizministers mit seinen Länderkollegen zur Entsendung von 60 Staatsanwälten zur Aufdeckung der Regierungskriminalität in der früheren DDR ist von den Ländern bisher erst mit 10 Juristen teilerfüllt worden. Natürlich ist kein Schleswig-Holstein dabei. Zur Aufarbeitung der früheren SED-Diktatur hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Bereinigung von SED-Unrecht vorgelegt. Damit sollen die Aufhebung von Unrechts-Urteilen und die Entschädigungsregulierung beschleunigt werden. Wir müssen an diesen Komplex mit einem besonderen Augenmaß herangehen: In den mehr als 20 000 anstehenden Rehabilitierungsverfahren stecken erschütternde Einzelschicksale. Den Betroffenen muß Gerechtigkeit widerfahren. Allerdings müssen wir auch die Grenzen unserer Möglichkeiten erkennen, die einfach darin bestehen, daß geschehenes Unrecht weder finanziell noch sonst voll ausgeglichen werden kann. Bei den Finanzen ist zu berücksichtigen, daß dieses Gesetz mit etwa 1,5 Milliarden DM Kosten an die Grenzen unserer Möglichkeit heranführt. Mit einem noch zu beratenden Gesetz über die sogenannte Verwaltungsrehabilitation müssen Willkürakte der DDR-Organe im Verwaltungsbereich aufgearbeitet werden. Hier muß eine Möglichkeit geschaffen werden, auch abgeschlossene Verfahren wieder aufzugreifen. Besonders gilt dies hinsichtlich der sogenannten Zwangsumsiedlungen. So wurden u. a. im ehemaligen Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze — auch direkt angrenzend an meinen Wahlkreis in Mecklenburg — Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Hab und Gut gegen ein Trinkgeld dem Staat zu übereignen. Für die Vergangenheitsbewältigung des SED-Schnüffler- und Spitzelstaates brauchen wir weitere juristische Grundlagen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ermöglicht uns entsprechende Informationen im Interesse betroffener Opfer. In Verbindung mit der Erfassungsstelle Salzgitter kann dann hoffentlich ein Großteil politisch motivierter Straftaten aus der DDR-Zeit verfolgt und gesühnt werden. In diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, daß einige SPD-regierte Bundesländer einen Läuterungsprozeß durchlaufen haben und sich wieder an den Kosten der Erfassungsstelle Salzgitter beteiligen. Es war schon beschämend, wie man hier in der Vergangenheit aus einer Gefälligkeitspolitik heraus sich aus der politischen Verantwortung davongestohlen hat. Ein ganz besonders negatives Beispiel gibt wiederum die schleswig-holsteinische Landesregierung unter Ministerpräsident Engholm, die sofort nach der Regierungsübernahme 1987 ihren Anteil von nur 10 000 DM verweigerte. Der bisherige Aufbau der rechtsstaatlichen Justiz im Osten Deutschlands verdient Dank und Respekt vor allem gegenüber den neuen Bundesländern, denn der Alltag zeigt, daß inzwischen auch hier und da bereits Rückstände bei Gerichten und Grundbuchämtern abgearbeitet werden können. Allen Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums möchte ich an dieser Stelle ebenfalls meinen Dank für die von ihnen geleistete vorbildliche Arbeit sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Willfried Penner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Hirsch, Ihnen wird nicht entgangen sein, daß ich, soweit es sich um die allgemeine Kriminalität gehandelt hat, sehr wohl vermieden haben, eine direkte Beziehung zum Bundesinnenminister herzustellen.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Wo ich aber die Katalogstraftaten des BKA-Gesetzes angesprochen habe, habe ich hingegen sehr wohl die direkte Verantwortung des Bundesinnenministers eingefordert.
    Gleichwohl will ich Ihnen eine allgemeine politische Antwort nicht schuldig bleiben. Wer sich in Angelegenheiten der inneren Sicherheit so stark gemacht hat, wer praktisch die Garantieerklärung abgegeben hat, wenn es nur zu einem Wechsel in Bonn käme, würden sich die Verhältnisse der inneren Sicherheit schlagartig ändern, der muß sich auch gefallen lassen, an diesen Vorgaben der 70er Jahre gemessen zu werden.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Wir waren beim Personenschutz stehengeblieben. Ich glaube, daß er auch deswegen nicht möglich ist, weil er für besonders gefährdete Personen um so unzumutbarer wird, je dichter er wird.
    Auch die Sucht der Vergangenheit, kritische Intellektuelle als angebliche Sympathisanten der Terrorszene zu brandmarken, hat zu nichts geführt. Sie sind an unwiderleglichen Tatsachen gescheitert.
    Im übrigen fällt auf, wie gewunden, wie zaudernd und wie zaghaft Politik der inneren Sicherheit der CDU/CSU namentlich dann ausfällt, wenn es darum geht, Waffenhändlern das Handwerk zu legen.
    Gibt es schon bei der Verhinderung von Straftaten schwerster Art böse Defizite, so fällt erst recht die zunehmende Erfolglosigkeit bei der Aufklärung von Verbrechen mit terroristischem Hintergrund auf. Die Aufklärung von terroristischen Verbrechen, für die der Bund — Herr Hirsch, hören Sie zu — eine besondere Zuständigkeit hat, geht seit Jahren gegen null. Die Morde an Detlev Karsten Rohwedder, an Alfred Herrhausen, an Beckurts, an Zimmermann und an von Braunmühl sind bis heute unaufgeklärt. Zu dem geplanten Anschlag auf Bundesminister Kiechle und zu den Anschlägen auf die Staatssekretäre Neusel und Tietmeyer ist eines festzustellen: Täter unbekannt.
    Was haben Sie in den letzten neun Jahren nicht alles an Gesetzesänderungen verlangt und produziert? Sie haben das Paßrecht geändert. Sie haben die Kronzeugenregelung eingeführt. Sie haben die Vermummung unter Strafe gestellt, die passive Bewaffnung dazu. Sie haben ferner den Tatbestand des Landfriedensbruchs in völlig verunglückter Fassung beschlossen. Allesamt wurden diese Änderungen angeblich dafür benötigt, den Sumpf des Terrorismus auszutrocknen. Was ist geschehen? Nichts.
    Es hat auch nichts genutzt, daß die Strafverfolgungsbehörden des Bundes Jahr für Jahr reichlich mit



    Dr. Willfried Penner
    Mitteln für Technik und Personal bedient worden sind.
    Nun glaubt die Union, das Allheilmittel in der Figur des verdeckten Ermittlers der Polizei gefunden zu haben, der auch milieuentsprechende Straftaten verüben darf, um die Aufklärung von Verbrechen zu erleichtern. Ich sage einmal ganz nüchtern: Das Ganze taugt schon vom Ansatz her nicht. Kein Sachkenner verschwendet auch nur einen Gedanken daran, zu glauben, daß einfacher Diebstahl oder eine leichte Sachbeschädigung etwa das Eintrittsticket in schwere kriminelle Gangs bedeuten würde. Mord und Totschlag werden Sie im Zusammenhang mit dieser kriminalpolitischen Wahnvorstellung kaum meinen und rechtfertigen wollen. Aber auch so bleibt Schlimmes zurück.
    Ein freiheitlicher Rechtsstaat kann nicht damit leben, daß die Polizei als berufene Hüterin des Rechts in eine legitimierte Verbrecherrolle hineingedrängt wird.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Die Bürger vertrauen darauf, daß die Polizei auf der Seite des Rechts steht und sich nicht im Dschungel des Verbrechens verheddert.

    (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Aber das Verbrechen auch wirksam bekämpft!)

    Wer dieses Vertrauen untergräbt, muß wissen, daß er die Axt an die Wurzel des Rechtsstaats legt. Das machen wir nicht mit.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Wir können auch nach den rechtsextremistischen Gewalttaten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Ich denke dabei nicht alleine an Brandanschläge, vornehmlich auf Asylantenwohnheime und Wohn-
    bzw. Geschäftsräume ausländischer Mitbürger in den alten Bundesländern. Geradezu erschreckend, ja alarmierend ist die Entwicklung des militanten Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Nach neuesten Angaben soll die Zahl der aktiven Neonazis dort mindestens 15 000 — bei stetig wachsendem Zulauf — betragen.
    Wir von der Sozialdemokratie machen uns nicht anheischig, Verbrechen total zu verhindern oder aufklären zu können. Wer könnte das auch? Sie aber von der Union haben Erwartungen geweckt, an denen Sie gemessen werden müssen. Aber selbst wenn man von den Großsprechereien der Vergangenheit absieht: Auch so sind Sie Ihrer politischen Einstandspflicht für die innere Sicherheit in diesem Land nicht gerecht geworden.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein Wort noch zum öffentlichen Dienst. Der öffentliche Dienst in den alten Bundesländern ist leistungsfähig. Das kann allerdings den Gesetzgeber nicht davor bewahren, darüber nachzudenken, wie er den öffentlichen Dienst neuen Entwicklungen und sich wandelnden Aufgaben anpassen sollte.
    Allein für die Bundesregierung scheint dies kein Thema zu sein. Vor Jahren ist die Debatte um eine
    Dienstrechtsreform beendet worden, das Bekenntnis zum Berufsbeamtentum zum Programm erhoben worden. Damit war die Sache beerdigt. Vor den Folgen stehen wir heute. In vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes gibt es einen Problemstau. Durch lähmende Untätigkeit fördert die Bundesregierung die ideologiegefärbte Privatisierungsdiskussion als Alternative zu der notwendigen Reform des öffentlichen Dienstes.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir müssen diese Reform endlich in Angriff nehmen. Ich nenne einige Beispiele. Erstens. Die Bezahlung und das Laufbahnrecht müssen funktionsgerecht reformiert werden.
    Zweitens. Die Verwendung von Beamten ist auf den hoheitlichen Kernbereich der Staatstätigkeit zu beschränken.
    Drittens. Wir werden uns nicht vor einer Aufgabenkritik drücken, die sich zum Ziel setzt, unter sorgfältiger Beachtung des Sozialstaatsgebots privatisierungsfähige Aufgaben auch privaten Trägern zu übertragen. Das heißt aber umgekehrt: An einem Palaver der Vorurteile gegen die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes werden wir uns nicht beteiligen.

    (Beifall bei der SPD)

    Viertens. Schließlich muß im Rahmen der Freizügigkeitsregelungen des EG-Vertrages der Zugang zum Beamtenverhältnis auch Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht werden. Dazu muß das Beamtenrechtsrahmengesetz geändert werden.
    Ich rate auch zu mehr Rücksichtnahme auf unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in den fünf neuen Bundesländern. Für sie ist es völlig unverständlich, völlig unbegreiflich, daß Zeiten im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR nicht als Vordienstzeiten angerechnet werden.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Gewiß ist das nicht durchgängig möglich, aber eine generelle Ablehnung darf ebensowenig sein. Es wäre begrüßenswert, wenn es hier bald eine tarifvertragliche Korrektur gäbe, die dann auch in die beamtenrechtlichen Regelungen zu übertragen wäre.
    Der Aufbau leistungsfähiger öffentlicher Verwaltungen in den neuen Bundesländern und Kommunen bedarf noch großer Anstrengungen. Die notwendigen Hilfen durch den Bund, die alten Bundesländer und ihre Kommunen müssen fortgesetzt und ausgebaut werden.
    Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird auch bei einem anstehenden Wechsel im Amt des Bundesinnenministers ihre Politik nicht ändern. Sie wird konstruktive Vorschläge bis hin zu eigenen Gesetzesvorschlägen machen. Sie wird aber auch nicht darauf verzichten, wie schon bisher die Regierung deutlich und unmißverständlich zu kontrollieren und zu kritisieren, wo immer das erforderlich sein wird.
    Der Bundesinnenminister will Vorsitzender einer großen Fraktion werden. Wir wünschen ihm dafür



    Dr. Willfried Penner
    nicht, daß er den 1994 fälligen Wechsel in den Mehrheiten verhindern kann. Aber Mut und Kraft für sein neues Amt wünschen wir ihm, wünsche ich ihm persönlich sehr wohl.
    Schönen Dank für die Geduld.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)



Rede von Renate Schmidt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat nun der Herr Bundesminister der Justiz, Dr. Klaus Kinkel.

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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Thematik Wiedervereinigung im Rahmen der Haushaltsdebatte gehört auch die Rechtsstaatsproblematik. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, zu einigen Problemen, die auch die Opposition, insbesondere die SPD, in besonderer Weise interessieren, etwas ausführlicher Stellung zu nehmen.
    Frau Däubler-Gmelin hat mich vorhin angerufen und mir gesagt, sie sei aus familiären Gründen gehindert, an der Debatte teilzunehmen. Sie muß nach Tübingen fahren. Das akzeptiere ich selbstverständlich. Ich möchte mich deshalb auf ein paar allgemeinere Bemerkungen beschränken, weil sie wohl vorhatte und präpariert war, hier zu sprechen.
    Der erste Prozeß gegen Mauerschützen vor dem Landgericht in Berlin, die heute schon vielfach erörterten Vorgänge um den früheren DDR-Staatssekretär Schalck-Golodkowski und die Bemühungen um die Rückführung von Herrn Honecker, damit er vor ein deutsches Gericht gestellt werden kann, zeigen meines Erachtens deutlich: Zwar haben wir in einem wesentlichen Teil der Wiedervereinigung, nämlich beim Aufbau des Rechtsstaats, die rechtliche Vereinigung mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, dem Einigungsvertrag und der außenpolitischen Zweiplus-Vier-Einbettung geschafft. Zwar kommt auch — ich sage: Gott sei Dank — offensichtlich die organisatorische Umsetzung dieser Verträge, nämlich der praktische Aufbau des Rechtsstaats, in den neuen Ländern ganz gut voran. Bei der moralisch-ethischen, die Täter-Opfer-Problematik und vor allem die Befindlichkeiten der Menschen betreffenden Bewältigung stehen wir aber — das müssen wir leider deutlich sagen — ganz am Anfang.
    Deshalb muß, wie ich meine, nun die inhaltliche Bewältigung des SED-Unrechts ganz in den Vordergrund gerückt werden. Die Vergangenheit muß — ob wir es wollen oder nicht — aufgearbeitet werden, um die Menschen für die Zukunft frei zu machen.
    Der ganze Umfang des Unrechts, seine ganze Wahrheit ist immer noch nicht auf dem Tisch. Erst jetzt haben wir und haben Sie von den unzulässigen Organentnahmen erfahren; erst heute wissen wir, daß in der früheren DDR noch weit mehr Menschen auf merkwürdige Weise — ich bezeichne es ganz vorsichtig und zurückhaltend — zu Tode gekommen sind, als wir bisher dachten.
    Diese spektakulären Nachrichten betreffen aber nur die Spitze des Unrechts. Der SED-Staat war ein Staat des leisen, des mählichen Terrors; so hat es kürzlich, wie ich finde, sehr treffend Herr Thierse bei dem von mir veranstalteten Forum zu dieser Thematik formuliert.
    Dieses oft gerade noch unter der Grenze des rechtlich Faßbaren liegende Unrecht ist eines unserer Hauptprobleme bei der Bewältigung. Aber es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen die Täter bestrafen — das ist nicht Siegerjustiz, Herr Gysi; das sind wir der Idee des Rechts, aber auch den Opfern schuldig —, und zwar alle, die Unrecht angeordnet und vollzogen haben, die SED-Oberen, die eigentlich Verantwortlichen, ebenso wie die Todesschützen an der Mauer.
    Diese Prozesse hängen nicht juristisch zusammen, wohl aber psychologisch und legitimatorisch. Nur wenn wir gegen die Großen vorgehen, können wir es auch gegen die Kleinen tun. Deshalb fordere ich erneut und nachdrücklich die möglichst rasche Rückführung von Herrn Honecker.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Gewiß, die vor uns liegenden Prozesse sind schwierig. Wir müssen sie aber — alternativlos — führen. Ich füge hinzu: Ich weiß und wir alle sollten wissen, nicht wenige dieser Prozesse werden unbefriedigend ausgehen. Viele Menschen — das habe ich in zahlreichen persönlichen Gesprächen mit den Opfern erfahren — verstehen nicht, daß der Rechtsstaat jetzt ausgerechnet denen zugute kommt, die das Recht bisher mit Füßen getreten haben. Aber so ist es: Der Rechtsstaat kennt nun einmal keine Unterschiede und behandelt jeden gleich. Auch die SED-Täter haben Anspruch auf ein faires, ordnungsgemäßes, eben rechtsstaatliches Verfahren.
    Wir sollten allerdings keine weiteren Hindernisse aufbauen. Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren. Die Entscheidung darüber liegt aber allein bei den Gerichten. Ich weise deshalb auch vor dem Deutschen Bundestag mit Nachdruck darauf hin: Ich habe großes Vertrauen zur Rechtsprechung. Ich muß deutlich und klar sagen: Der Gesetzgeber ist nicht in der Lage, und zwar aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Rückwirkungsproblems, tätig zu werden.
    Die Opfer müssen rehabilitiert werden, mehr noch: versöhnt werden. Versöhnung läßt sich nicht erzwingen. Für eine angemessene Rehabilitierung aber können und müssen wir schnell sorgen. Ich habe mich dieser Aufgabe besonders intensiv angenommen. Am 14. August hat das Kabinett den Gesetzentwurf eines Ersten Unrechtsbereinigungsgesetzes beschlossen. Ich bitte heute nachdrücklich den Deutschen Bundestag, daß wir diesen Entwurf hier im Parlament so schnell und zügig wie möglich beraten. Ich bin eigentlich sehr froh, daß sich gerade bei der Rehabilitierung doch eine große gesellschaftliche Übereinstimmung abzeichnet.
    Das Fundament für den Rechtsstaat in den neuen Ländern ist gelegt. Der Rechtsstaat ist aber noch nicht die „bergende Hütte" — so hat es mein sächsischer Kollege Heitmann genannt — , die er sein soll und die er für die Menschen in den alten Ländern der Bundesrepublik seit langem ist. Er kann es auch noch gar nicht sein. Das hat viele Gründe.



    Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
    Die Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht schafft gewaltige Unruhe. Die Menschen müssen sich auf neue Eigentums- und Besitzverhältnisse einstellen. Sie fürchten um ihre Datschen, sie fürchten um ihre Nutzungsrechte, sie fürchten um Eigentum. Diese Befürchtungen sind vom Grundansatz her unbegründet; denn wir haben ja bei dem, was wir rechtlich festgelegt haben, erklärt und auch festgeschrieben, daß redlich erworbene Rechte Bestand haben. Aber diese Befürchtungen bestehen, und zwar in weitem Umfang. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen.
    Die Aufarbeitung des SED-Unrechts zwingt die Menschen zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Sie müssen z. B. für die Rehabilitierung Anträge stellen, Unterlagen beibringen. Alte, inzwischen vernarbte Wunden reißen wieder auf. Die Menschen möchten aber verständlicherweise die alten Dinge nicht wieder aufrühren. Die Täter verteidigen sich — übrigens zu Recht — mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und suchen sich der Verantwortung zu entziehen.
    Ich meine aber, daß etwas anderes viel wichtiger ist: Der totale Vertrauensverlust, den das Recht, der Rechtsstaat bei den Menschen in der früheren DDR erlitten hat, ist das Entscheidende. Recht muß ja im Grunde Sicherheit und Geborgenheit geben. Das ist seine eigentliche Funktion. Nur dann entsteht Vertrauen, Vertrauen der Menschen zueinander, Vertrauen zum Staat, zum Rechtsstaat. Die Justiz stand in der früheren DDR eben in ganz besonderer Weise im Dienst der Partei und damit letztlich auch im Dienste des Unrechts. Das wußte jeder; das lag offen zutage.
    Noch schlimmer aber war die totale Durchdringung des gesamten Lebens der Menschen durch die Stasi. Den intimsten Dingen wurde nachgespürt. Der privateste Lebensraum lag im Zugriff des Staates. Die Verdrehung der Werte war total; man sprach z. B. von der nötigen Ehrlichkeit gegenüber der Staatssicherheit. Welche Entwertung des Begriffs der Ehrlichkeit!
    Das SED-Regime hat etwas erreicht, was in der Geschichte bisher für meine Begriffe einmalig war: die totale Bespitzelung, totales Mißtrauen. Die Menschen wurden gegeneinander aufgebracht. Den Freund, die Ehefrau, die Tochter, den Vater, den Großvater mußten sie bespitzeln. Wir hatten gestern abend ein Gespräch mit einigen Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, in dem auch von einem solchen wirklich bedrückenden Beispiel erzählt wurde.
    Dieses ungeheure Mißtrauen, das staatlicherseits aufgebaut wurde, dieser wirklich einmalige Schnüffelstaat macht es dem Rechtsstaat mit seinen Mitteln jetzt so ungeheuer schwer, das aufzuarbeiten, was an Unrecht geschehen ist. Die 180 bis 200 km Stasi-Akten — es werden ja immer mehr — stehen sozusagen wie eine Mauer zwischen den Menschen.
    Im absoluten Gegensatz zu dieser schrecklichen Praxis stand die herrschende Ideologie. Das System, angetreten unter dem Vorsatz, den anderen Teil Deutschlands unter dem Marxismus-Leninismus neu zu gestalten und nie mehr faschistische Strukturen aufkommen zu lassen, hatte sich den Mantel der absoluten Humanität umgehängt getreu dem Lenin-Zitat: „Uns ist alles erlaubt, denn unsere Humanität ist absolut." Die SED berief sich auf höhere Zwecke, gab sich antifaschistisch und zog daraus bis zum bitteren Ende die Legitimität, gegen ihre inneren Gegner mit brutaler Härte vorgehen zu dürfen. Ich muß deutlich sagen: Dieser Verführung durch diese Ideologie sind manche erlegen, auch bei uns im Westen.
    Was uns Honecker und seine Getreuen hinterlassen haben, waren Chaos, Unrecht und ein Staat, der in vielfacher Beziehung genauso unmenschlich war wie das, was man zu bekämpfen vorgab. Der Philosoph Lübbe hat es auf dem Forum, das ich ansprach, unter Bezugnahme auf Brecht so charakterisiert: „Versinke im Schmutz, aber ändere die Welt. "
    Um diesen paranoiden Zustand wirklich zu überwinden, um wirkliches Vertrauen in das ehrliche Funktionieren der staatlichen Institutionen herzustellen, bedarf es noch gewaltiger, wahrscheinlich jahrelanger Anstrengungen. Die Stasi muß entmystifiziert werden als bürokratischer Apparat, der zuletzt an sich selbst erstickte. Dazu bedarf es der Öffnung der Akten für die Opfer, um ihnen ihre Würde zurückzugeben und die Befriedung im privaten Bereich und gegenüber dem Staat zu erreichen.
    Die Stasi hat viel Macht gehabt, aber die Kraft, das SED-Regime zu retten, hatte sie nicht. Unser freiheitlicher Rechtsstaat ist viel offener, allerdings in gewisser Hinsicht schutzloser. Der Zusammenbruch des SED-Regimes hat aber gezeigt, daß in einer Demokratie, in dieser Offenheit die wirkliche Stärke liegt. Die Stasi hat die Macht über die Menschen verloren. Das sollte sich jeder klarmachen, der sich vielleicht noch fürchtet. Und es gibt solche, die sich noch fürchten.
    Ganz wichtig ist auch die Delegitimierung dieses Staates, des gesamten SED-Regimes. Hier helfen uns die aktuellen Ereignisse. Der Marxismus-Leninismus hat jede Anziehungskraft verloren. Er ist nicht nur in der DDR zusammengebrochen, nein in ganz Europa, im Baltikum und jetzt auch in der Sowjetunion. Keine auswärtige Macht war unmittelbar daran beteiligt oder hat gar Gewalt angewandt. Überall haben die Menschen selbst, von sich aus erkannt, daß dieses System keine Legitimation hat. Das SED-Regime ist total delegitimiert.
    Bei der deutschen Einheit gibt es keine Sieger und keine Besiegten, die sich zähneknirschend irgendwo in ihr Schicksal fügen müssen. Es gibt keine ideologischen Gräben in unserem Land. Der Marxismus-Leninismus hat abgedankt, und wirklich niemand weint ihm auch nur irgendeine Träne nach.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Ich komme zum Schluß. Dennoch, die Vollendung der inneren Einheit braucht ihre Zeit. Das Zurechtfinden im Rechtsstaat verlangt mehr Zeit als sein formaler Aufbau. Und es wird nicht — wie Antje Vollmer zu Recht gesagt hat — ohne Elitenwechsel abgehen, obwohl ich sehr genau weiß, daß man ein Volk nicht austauschen kann.
    Für den Neubeginn in den fünf Bundesländern brauchen wir Kraft, Verständnis und Solidarität. Ich warne vor Überheblichkeit, auf die die Menschen — ich habe es schon einmal hier gesagt — in den



    Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
    neuen Ländern mit Recht empfindlich reagieren. Ich warne vor gönnerhafter, oft nur scheinbarer Überlegenheit.
    Es gibt aber — und das scheint mir entscheidend zu sein — keinen wirklichen Grund, am Rechtsstaat zu verzweifeln. Nur er kann zwangsläufig das aufarbeiten, was an Unrecht geschehen ist, und er kann es — und das scheint mir ganz wichtig zu sein — nur mit seinen eigenen Mitteln. Aber daß der Rechtsstaat funktioniert, ist Grundlage der gesamten praktischen und moralisch- ethischen Wiedervereinigung. Ohne Recht kein wirtschaftlicher Aufschwung, ohne Recht keine Versöhnung. Das Recht ist die Grundlage, um überhaupt mit den gewaltigen Problemen, die wir allerdings noch haben, fertig zu werden.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Bündnis 90/GRÜNE)