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    Plenarprotokoll 12/37 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 37. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage und Entwicklung in der Sowjetunion und Jugoslawien Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3015 B Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan- des Schleswig-Holstein 3020 A Dr. Alfred Dregger CDU/CSU 3025 D Dr. Hermann Otto Solms FDP 3031 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3035 C Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 3038 C Ortwin Lowack fraktionslos 3041 D Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 3043 A Hans Koschnick SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3046 D Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der a) ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) (Drucksache 12/1000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 (Drucksache 12/1001) Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 3047 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 3057 B Dr. Burkhard Hirsch FDP 3058C, 3100B, 3104 C Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 3062 C Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3068 D Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 3070 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 3072 B Peter Conradi SPD 3082 B Dr. Lutz G. Stavenhagen CDU/CSU . . 3082 C Christel Hanewinckel SPD 3082 D Dr. Burkhard Hirsch FDP 3085 D Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 3086A Dr. Willfried Penner SPD 3087 A Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3089D, 3106A Dr. Sigrid Hoth FDP 3089 D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 3091 D Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 3092 B Dr. Paul Laufs CDU/CSU 3093 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 3095 B Dr. Willfried Penner SPD 3097 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 3102A Karl Deres CDU/CSU 3104A Dr. Hans de With SPD 3108 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 3109A Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) CDU/CSU 3110D Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . . 3112D Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 3115D Nächste Sitzung 3117D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3119* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 — Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 — (Michael von Schmude CDU/CSU) . . . . 3119* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 3015 37. Sitzung Bonn, den 4. September 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 04. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 04. 09. 91 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 04. 09. 91 * Erler, Gernot SPD 04. 09. 91 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 04. 09. 91 * Francke (Hamburg), CDU/CSU 04. 09. 91 Klaus Hilsberg, Stephan SPD 04. 09. 91 Koltzsch, Rolf SPD 04. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 04. 09. 91 Karl-Hans Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 04. 09. 91 Marten, Günter CDU/CSU 04. 09. 91 * Michels, Meinolf CDU/CSU 04. 09. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 04. 09. 91 Müller (Düsseldorf), SPD 04. 09. 91 Michael Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 04. 09. 91 Pfuhl, Albert SPD 04. 09. 91 * Rempe, Walter SPD 04. 09. 91 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 04. 09. 91 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 04. 09. 91 * Schmidt-Zadel, Regina SPD 04. 09. 91 Sielaff, Horst SPD 04. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 04. 09. 91 * Dr. Sperling, Dietrich SPD 04. 09. 91 Dr. Sprung, Rudolf CDU/CSU 04. 09. 91 * Verheugen, Günter SPD 04. 09. 91 Vosen, Josef SPD 04. 09. 91 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 04. 09. 91 Gert Welt, Hans-Joachim SPD 04. 09. 91 Wieczorek-Zeul, SPD 04.09.91 Heidemarie Zierer, Benno CDU/CSU 04. 09. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 1 - Haushaltsgesetz und Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 - Michael von Schmude (CDU/CSU): Diese erste Lesung des Haushalts 1992 gibt uns willkommenen Anlaß zu einer Bestandsaufnahme, nämlich: wie weit sind wir beim Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates in den neuen Bundesländern vorangekommen, wo stehen wir, was muß noch getan werden? Anlagen zum Stenographischen Bericht Uns ist allen bewußt, daß die Glaubwürdigkeit der Justiz und das damit verbundene Vertrauen in den Rechtsstaat unabdingbare Voraussetzung für das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West sind. Die Verwirklichung der Einheit auf dem Gebiet des Rechts ist eine Mammutaufgabe und braucht demzufolge auch Zeit. Dennoch gehöre auch ich zu jenen, die ungeduldig sind, und in der Tat könnte und müßte das eine oder andere zügiger verwirklicht werden. Das Justizwesen der früheren DDR war Werkzeug des Unterdrückerstaates und muß deshalb mehr als jede andere Verwaltung auch personell von Grund auf erneuert werden. Das bedeutet, daß Richter und Staatsanwälte nur in einem geringen Umfang übernommen werden können. Um eine Richterdichte wie in den alten Bundesländern herzustellen, benötigen wir etwa 4 500 Richter, 1 000 Staatsanwälte und 2 000 Rechtspfleger. Letztere waren in der früheren DDR überhaupt nicht vorhanden. Die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte, die bereits in der ehemaligen DDR tätig waren, wird intensiv betrieben (von 2 600 = 1990 sind jetzt noch 1 300 im Amt). Unabhängig davon sollten jene Juristen, die sich schuldig gemacht haben, nicht erst auf das Ergebnis ihrer Überprüfung warten, sondern durch freiwilliges Ausscheiden ein Zeichen der Einsicht und damit einen Beitrag zum Neubeginn leisten. Gleiches gilt auch für diejenigen Juristen, die sich noch kurz vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als Rechtsanwälte niedergelassen haben, obwohl sie auf Grund ihrer Vergangenheit dieses besser hätten unterbleiben lassen sollen. Überprüfungen sind notwendig, wobei erforderlichenfalls die bisherigen gesetzlichen Grundlagen ergänzt werden müssen. Auch hier gilt: Jeder Einzelfall muß auf die persönliche Verantwortung hin untersucht werden, Pauschalverurteilungen sind fehl am Platze. Unser 1991 beschlossenes dreijähriges Hilfsprogramm zum Aufbau des Rechtsstaates im Beitrittsgebiet sieht die Entsendung von insgesamt 2 300 Juristen und Rechtspflegern vor. Dabei handelt es sich um 1 000 Richter und Staatsanwälte, von denen bis Ende Juni etwa die Hälfte abgeordnet waren. Die Länder haben erneut versprochen, die angestrebte Zahl per Ende dieses Jahres annähernd sicherzustellen. Ein größeres Defizit tut sich bei den Rechtspflegern auf. Zwischen Bund und Ländern war vereinbart, in diesem Jahr 500 Rechtspfleger abzuordnen. Per Ende August lag diese Zahl mit 211 weit zurück. Angesichts des großen Arbeitsanfalls bei den Grundbuchämtern - bekanntlich liegen über 1 Million Ansprüche auf Rückübertragung vor - ist dieser Zustand besonders bedauerlich. Am Geld kann es nicht liegen, denn im Rahmen des gesamten Hilfsprogramms von 120 Millionen sind für diesen Bereich der Abordnung allein 65,4 Millionen DM vorgesehen. Die neuen Bundesländer machen von dem finanziellen Hilfsangebot des Bundes zur Einstellung von bis zu 300 Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern regen Gebrauch. Hier sind kurzfristig bereits 200 Stellen besetzt worden. 3120* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 37. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. September 1991 Außerordentlich unbefriedigend und schleppend verläuft dagegen die Ausschöpfung unseres sog. Seniorenmodells. Hier waren Haushaltsmittel in Höhe von 17,5 Millionen DM im Haushalt 1991 vorgesehen zur Entsendung von 500 pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern. Mehr als 100 Interessenten haben sich bei den Justizministern der alten Bundesländer beworben und ganze drei sind inzwischen erst tätig: ein Richter in Sachsen und jeweils ein Richter und ein Rechtspfleger in Thüringen. Diesem Mißstand muß durch den Bundesjustizminister dringend nachgegangen werden. Sollten die alten Bundesländer mit dieser Aufgabe der Bewerberauswahl überfordert sein, so wäre dringend eine Übertragung auf ein anderes Gremium erforderlich. Insgesamt bleibt ohnehin festzuhalten, daß einige Bundesländer sehr vorbildlich den Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern unterstützen, andere hingegen, oft entgegen großer Ankündigungen, nur sehr halbherzig. Ein negatives Beispiel ist dafür leider auch Herr Engholm, der 1990 ganze vier Richter nach Mecklenburg-Vorpommern abgeordnet hat und die ohnehin knappen Ressourcen an Richtern durch die parteipolitisch motivierte Entscheidung zur Einrichtung eines neuen Oberverwaltungsgerichts weiter einengt. So sehen manche Solidarbeiträge aus! Die Vereinbarung des Bundesjustizministers mit seinen Länderkollegen zur Entsendung von 60 Staatsanwälten zur Aufdeckung der Regierungskriminalität in der früheren DDR ist von den Ländern bisher erst mit 10 Juristen teilerfüllt worden. Natürlich ist kein Schleswig-Holstein dabei. Zur Aufarbeitung der früheren SED-Diktatur hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Bereinigung von SED-Unrecht vorgelegt. Damit sollen die Aufhebung von Unrechts-Urteilen und die Entschädigungsregulierung beschleunigt werden. Wir müssen an diesen Komplex mit einem besonderen Augenmaß herangehen: In den mehr als 20 000 anstehenden Rehabilitierungsverfahren stecken erschütternde Einzelschicksale. Den Betroffenen muß Gerechtigkeit widerfahren. Allerdings müssen wir auch die Grenzen unserer Möglichkeiten erkennen, die einfach darin bestehen, daß geschehenes Unrecht weder finanziell noch sonst voll ausgeglichen werden kann. Bei den Finanzen ist zu berücksichtigen, daß dieses Gesetz mit etwa 1,5 Milliarden DM Kosten an die Grenzen unserer Möglichkeit heranführt. Mit einem noch zu beratenden Gesetz über die sogenannte Verwaltungsrehabilitation müssen Willkürakte der DDR-Organe im Verwaltungsbereich aufgearbeitet werden. Hier muß eine Möglichkeit geschaffen werden, auch abgeschlossene Verfahren wieder aufzugreifen. Besonders gilt dies hinsichtlich der sogenannten Zwangsumsiedlungen. So wurden u. a. im ehemaligen Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze — auch direkt angrenzend an meinen Wahlkreis in Mecklenburg — Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Hab und Gut gegen ein Trinkgeld dem Staat zu übereignen. Für die Vergangenheitsbewältigung des SED-Schnüffler- und Spitzelstaates brauchen wir weitere juristische Grundlagen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ermöglicht uns entsprechende Informationen im Interesse betroffener Opfer. In Verbindung mit der Erfassungsstelle Salzgitter kann dann hoffentlich ein Großteil politisch motivierter Straftaten aus der DDR-Zeit verfolgt und gesühnt werden. In diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, daß einige SPD-regierte Bundesländer einen Läuterungsprozeß durchlaufen haben und sich wieder an den Kosten der Erfassungsstelle Salzgitter beteiligen. Es war schon beschämend, wie man hier in der Vergangenheit aus einer Gefälligkeitspolitik heraus sich aus der politischen Verantwortung davongestohlen hat. Ein ganz besonders negatives Beispiel gibt wiederum die schleswig-holsteinische Landesregierung unter Ministerpräsident Engholm, die sofort nach der Regierungsübernahme 1987 ihren Anteil von nur 10 000 DM verweigerte. Der bisherige Aufbau der rechtsstaatlichen Justiz im Osten Deutschlands verdient Dank und Respekt vor allem gegenüber den neuen Bundesländern, denn der Alltag zeigt, daß inzwischen auch hier und da bereits Rückstände bei Gerichten und Grundbuchämtern abgearbeitet werden können. Allen Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums möchte ich an dieser Stelle ebenfalls meinen Dank für die von ihnen geleistete vorbildliche Arbeit sagen.
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    Rede von Dr. Hermann Otto Solms


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Ja, aber gestatten Sie mir bitte, noch zwei Sätze zu sagen. — Meine Damen und Herren, nutzen wir die deutsche Einheit für ein gemeinsames freiheitliches und demokratisches Europa.
    Vielen Dank.

    (Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von Hans Klein
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gregor Gysi


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Putsch in der Sowjetunion ist gescheitert und mußte scheitern, weil im 20. und 21. Jahrhundert letztlich jeder Versuch scheitern wird, irgendeine gesellschaftliche Ordnung gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Lange genug haben Sie es versucht! Auch das war im 20. Jahrhundert! — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Deswegen weiß er so genau Bescheid!)

    Aber, ich finde, bei der Aufzählung der Opfer des Stalinismus hat Herr Engholm natürlich zwei Gruppen vergessen. Nicht wenige Sozialistinnen und Sozialisten und sogar sehr viele Kommunistinnen und Kommunisten sind in der Stalin-Zeit selber Opfer des Stalinismus geworden, bis hin zur Ermordung. Ich finde es unredlich, so zu tun, als ob das nicht geschehen wäre.
    Das signalisiert meines Erachtens das Ende dessen, was man „real existierenden Sozialismus" nannte, zumindest in Europa, und ich gehe davon aus, daß die stalinistischen und poststalinistischen Kräfte für immer abgewirtschaftet haben.

    (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Auch die kommunistischen!)

    Aber das ist nicht das Ende der Kräfte, die für einen demokratischen Sozialismus auf demokratische Weise streiten; denn bei der notwendigen Lösung der globalen Probleme der menschlichen Zivilisation sind wir keinen einzigen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil, sie spitzen sich täglich zu und verlangen nach Veränderung.
    Ich habe in den letzten Tagen — das ist ja nicht so üblich — auch einmal versucht, selbstkritisch die eigene Gedankenwelt im Laufe der verschiedenen Jahre und Jahrzehnte zu überprüfen. Dabei ist mir aufgefallen, daß ich im politischen Denken mit einem Begriff aufgewachsen bin, dem Begriff Status quo. Ich glaube, daß viele, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, davon ausgingen, daß die Erhaltung des Status quo eine Voraussetzung für den Frieden in Europa sei.

    (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie sind aber der Status quo ante!)

    So ist es über Jahre und Jahrzehnte verkündet worden. Das war auch immer Ausdruck eines sogenannten Stabilitätsdenkens. Ich habe den Eindruck, das ist vielleicht alles mögliche, aber mit Sicherheit kein linkes Denken; denn linkes Denken geht eigentlich immer in Richtung Veränderung, nicht in Richtung Erhaltung der bisherigen Zustände.
    Das führt andererseits dazu, daß man eben das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen wirklich ernst nehmen muß, d. h. wirklich respektieren muß. Das bedeutet, daß man es nicht aufwiegen kann mit Stabilitäts- oder Status-quo-Gedanken. Wenn eben Völker selbst bestimmen können, heißt das, daß man auch damit leben muß, daß sie Verän-



    Dr. Gregor Gysi
    derungen bestimmen, und heißt es darüber hinaus, daß man auch zu respektieren hat, daß sie solche Veränderungen wünschen, die einem möglicherweise selbst nicht gefallen. Nur scheint mir wichtig zu sein, daß man dann in dieser Haltung auch konsequent ist.
    Da geht es gegenwärtig in erster Linie um die Frage des Rechts zur Lostrennung von Republiken aus Bündnissen, aus Bündnisstaaten. Das sehen wir in der Sowjetunion, und das sehen wir bei Kroatien und Slowenien in Jugoslawien. Es gibt, glaube ich, niemanden mehr, der dieses Recht hier im Hause bestreiten würde. Aber was würde eigentlich passieren, wenn, sagen wir einmal, ein Bundesstaat der USA einen solchen Wunsch äußerte? Wären dann die meisten im Hause zur gleichen Konsequenz bereit? Was wäre, wenn die Korsen ihr Selbstbestimmungsrecht verwirklicht sehen wollen oder Basken oder Nordiren oder vor allem die Palästinenser?
    Ich glaube, wir müssen einfach akzeptieren, daß es ein unteilbares Selbstbestimmungsrecht von Völkern und Nationen gibt und daß wir uns dafür einzusetzen haben, unabhängig davon, ob es der jeweiligen eigenen Vorstellung der Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt entspricht oder nicht entspricht. Ich befürchte, daß wir davon noch weit entfernt sind, sondern daß das Selbstbestimmungsrecht nach wie vor abhängig ist von den jeweils eigenen politischen Vorstellungen zur Veränderung dieser Welt.
    Es ist schon darauf hingewiesen worden, welche Veränderungen in der Sowjetunion eintreten werden, ob es sie in Zukunft so überhaupt noch geben wird, welche Sorgen damit verbunden sind hinsichtlich der zentralen Verfügungsbefugnis, wie es so schön heißt, über Atomwaffen. Ich wünsche mir natürlich, daß es solche Verfügungsbefugnis gar nicht mehr gibt, indem man sie einfach abschafft. Ich finde, daß gerade die Auflösung der Sowjetunion am deutlichsten zeigt, daß der Zeitpunkt gekommen ist, sich endgültig von Massenvernichtungswaffen auf dieser Welt zu verabschieden. Sie können jetzt mit Sicherheit nicht mehr zur Stabilität, sondern höchstens zur Instabilität beitragen.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)

    Übrigens, wenn in dieser Situation keine Initiativen ergriffen werden, dann sage ich voraus, daß wir in gar nicht allzulanger Zeit erleben werden, daß viele sogenannte Entwicklungsländer erklären werden, daß der Besitz von Massenvernichtungsmitteln ein Ausdruck ihrer Souveränität ist. Wir werden die Weiterverbreitung der Kernwaffen und der anderen Massenvernichtungswaffen erleben, wenn wir jetzt nicht wirklich aktiv bei der Abschaffung so voranschreiten, daß deutlich wird: Massenvernichtungswaffen und Souveränität eines Staates haben überhaupt nichts miteinander gemein, im Gegenteil, sie gefährden die Souveränität eines jeden Landes und müssen schon deshalb als Großgefahr der Zivilisation beseitigt werden.
    Die Sowjetunion wird im Augenblick daran ein besonders großes Interesse haben, weil die Erosion stattfindet. Es käme jetzt darauf an, daß die anderen Atommächte ein gleiches Interesse an den Tag legen, insbesondere die USA.
    Dann gestatten Sie mir noch etwas, was mir hier gerade bei der Rede des Herrn Dr. Solms aufgefallen ist. Wenn man vom Selbstbestimmungsrecht eines Volkes spricht, kann man der Sowjetunion, der russischen Föderation oder den anderen Republiken von hier aus nicht ernsthaft eine Lektion erteilen, was sie jetzt alles an wirtschaftlichen Veränderungen durchzuführen hätten, damit eine Hilfe durch die Bundesrepublik Deutschland gewährleistet werden kann. Das ist nämlich genau die Negierung des Selbstbestimmungsrechts. Daß man in Gesprächen, in Verhandlungen über alles mögliche auch am Wirtschaftssystem sprechen kann, ist das eine. Daß man aber Bedingungen diktiert und hier sozusagen lehrmeisterhaft auftritt und sagt, was da alles zu verändern ist, damit weiterhin Hilfe kommt, ist die Negierung des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist dummes Zeug!)

    Meines Erachtens ist doch ganz klar, daß auf Jahrzehnte hin dort ein wirtschaftliches und politisches System existieren wird, das sich ganz wesentlich vom westlichen unterscheidet. Andere Vorstellungen sind meines Erachtens völlig unrealistisch.
    Hinsichtlich des Lostrennungsrechts von Staaten ist mir natürlich noch etwas aufgefallen. Interessanterweise gibt es nach meinem Überblick — Sie mögen mich eines Besseren belehren — ein solches verfassungsrechtlich komischerweise garantiertes Recht nur in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Nun war es, als es dort garantiert wurde, zunächst nicht den Fetzen Papier wert, auf dem es stand; das ist klar.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Kommunistenworte so an sich!)

    Selbst in der Stalinschen Verfassung stand dieses Lostrennungsrecht. Aber es stand immerhin darin. Darauf können sich die Völker jetzt stützen, nachdem eine neue Zeit begonnen hat. Es gibt solche Rechte nicht in der französischen Verfassung, nicht in der britischen. Und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, wenn ich das einmal sagen darf, kennt zwar den Beitritt, aber keinen Austritt. Kurzum, wir werden es hier in Zukunft noch mit einer Reihe von Fragen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen zu tun bekommen, die, glaube ich, noch nicht bis zum Ende durchdacht sind.
    Natürlich hoffen wir alle — ich will das an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen —, daß keine russische Dominanz im Vergleich zu den anderen Republiken eintritt, also sozusagen diesbezüglich ein Schritt zurückgemacht wird, sondern die Gleichberechtigung der Republiken und Nationen in der bisherigen Sowjetunion für die Zukunft wirklich garantiert wird.
    Lassen Sie mich zur Wirtschaftshilfe aus dem Westen noch etwas sagen. Sie kommt meines Erachtens viel zu spät. Die Demütigung von Gorbatschow bei dem G-7-Treffen in London hat die Putschisten mit motiviert.

    (Zuruf: Woher wissen Sie das?)




    Dr. Gregor Gysi
    — Weil sie in ihrer Erklärung darauf z. B. direkt Bezug genommen haben. — Daraus hat man zu lernen, daß Hilfe uneigennützig zu gewähren ist und genau nicht an Bedingungen zu knüpfen ist und daß man in einer solchen sensiblen Situation, in der sich die Sowjetunion zu dieser Zeit befand, auf jede Demütigung verzichten müßte.
    Gestatten Sie mir noch etwas zur Reaktion des Westens zu sagen. Ich verfolge in diesem Zusammenhang alle Diskussionen über das Asylrecht, über die Änderung des Grundgesetzes, über die Frage, Einwanderungsland ja oder nein, und bin schockiert. Ich bin deshalb schockiert, weil die Veränderungen im Osten offensichtlich dazu führen, daß sich hier immer stärker ein Abschottungsdenken durchsetzt. Ich sage Ihnen: Ein Abschottungsdenken ist gefährlich.

    (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie wissen doch gar nicht, worüber Sie reden! Sie sind die Inkarnation der Abschottung!)

    Wer die Einheit dieses Europa und letztlich auch der Welt will und in ihrer Ganzheit begreifen will, wird über Visabestimmungen die Probleme nicht lösen.
    Es ist und bleibt eine Tatsache, daß der reiche Westen einschließlich der Bundesrepublik Deutschland in nicht unbeachtlichem Umfang auf Kosten der Dritten und der Vierten Welt lebt.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)

    Gleichzeitig zu sagen, wir machen für sie die Türen zu, ist nicht nur amoralisch, sondern auch höchst kurzsichtig, weil das letztlich niemals Erfolg hat. Das kann ich Ihnen garantieren; ich komme aus einem Land, in dem es extreme Abschottungspolitik gab.

    (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die Mauer! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ausnahmsweise ist es gelungen!)

    — Ja — um es vorsichtig zu formulieren —. Das will ich ja durchaus respektieren.

    (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Nur hat er die Richtung verwechselt! Da wollte doch gar keiner hin!)

    Ich will Ihnen noch etwas sagen. Neues Denken fehlt auch in allen Fragen der Rüstung und der Nato. Der Ministerpräsident Engholm hat bereits darauf hingewiesen. In einer Zeit, in der man radikal abrüsten und über neue Sicherheitsstrukturen nachdenken könnte, wird hier im Westen diesbezüglich weitergemacht, als ob nichts wäre. Schlimmer noch: Es findet eine Ausweitung z. B. auf die neuen Bundesländer statt, und es wird sogar mit Tiefflügen und ähnlichen Maßnahmen begonnen, um deutlich zu zeigen, daß es im Militär so weitergeht wie bisher.

    (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Das ist doch unerhört!)

    Eine Begründung dafür ist von der Bundesregierung nicht geliefert worden. Sie kann auch nicht geliefert werden. Das beweist, daß das neue Denken hier im Westen bisher am wenigsten fruchtet.
    Gorbatschow war bekanntlich mit dem Ziel neuen Denkens angetreten. Das können Sie ihm nicht abstreiten.

    (Zuruf des Abg. Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU])

    — Wissen Sie: ich habe hier heute Herrn Dr. Dregger gehört. Nun frage ich Sie im Ernst, welche Wirkung das neue Denken seit Gorbatschow auf ihn gehabt hat. Ich habe keine Ergebnisse verspürt.

    (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Das ist doch unerhört! — Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Vielleicht kommt es morgen! — Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU] — Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Laßt den doch reden!)

    Für mich ist das alles altes Denken, wie man es seit Jahren und Jahrzehnten kennt.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Das hätte selbst Ihnen auffallen müssen.

    Ich will Ihnen noch etwas sagen. Wer den europäischen Einigungsprozeß wirklich wünscht, muß ja zur Kenntnis nehmen, daß es unterschiedliche Tendenzen gibt: einerseits die Bildung neuer Nationalstaaten, andererseits die engere Verflechtung. Hier hätte die Bundesrepublik Deutschland natürlich eine große Aufgabe gehabt, nämlich an Hand der Vereinigung mit den neuen Bundesländern ein Beispiel auch europäischer Einigung zu setzen, das überzeugend ist. Aber dieses Beispiel ist weder ökonomisch noch sozial überzeugend. Wir haben es mit Berufsverboten zu tun. Kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen werden „abgewickelt" . Ich erinnere nur an die jüngsten Verleumdungen — wie sich nun zu einem beachtlichen Teil herausgestellt hat — der Charité. Es findet eine juristische Abwicklung in der Form statt, daß sich Siegermentalität immer mehr durchsetzt.
    Genau diese Beispiele braucht dieses Europa nicht, wenn man eine Einigung in Europa anstrebt und wenn man unter Europa nicht nur die Europäische Gemeinschaft, sondern wirklich ganz Europa, d. h. auch Osteuropa, versteht.
    Es ist hier etwas zu der Frage der Abschaffung der Wehrpflicht gesagt worden. Es ist von allen Fraktionen bisher vor den Gefahren einer Berufsarmee gewarnt worden.
    Erstens gibt es eine ganze Menge Berufsarmeen, und zweitens kommt es ja wohl auf die Zielstellung an. Wenn man davon ausgeht, Schritt für Schritt Armee überhaupt abzuschaffen, stellt die Abschaffung der Wehrpflicht eben den ersten Schritt dazu dar. Meines Erachtens sind jetzt, zum Ende des 20. Jahrhunderts, die Voraussetzungen dafür sehr wohl gegeben, da der Ost-West-Konflikt praktisch nicht mehr existiert und auch ein gegenseitiges Rüsten nicht mehr existiert, vielmehr das Rüsten immer einseitiger wird, wenn die Welt immer westlicher wird.
    Ich habe vorhin gesagt, daß zwar das Ende der orthodoxen stalinistischen Kräfte — wie ich meine: völlig zu Recht — gekommen ist, daß es aber demokratische Sozialistinnen und Sozialisten auch in Zukunft geben wird, weil die globalen Probleme nach



    Dr. Gregor Gysi
    wie vor nicht nur ungelöst sind, sondern sich zuspitzen. Ich habe darauf hingewiesen, daß die rechten und die konservativen Kräfte dafür nicht einmal den Ansatz einer Konzeption haben. Der Abstand zwischen der Ersten Welt einerseits und der Dritten und der Vierten Welt andererseits wächst täglich. Wo ist denn das Konzept, um diese Unterschiede Schritt für Schritt abzubauen und damit übrigens auch die Voraussetzung zu schaffen, daß die Menschen in ihren eigenen Ländern leben wollen?
    In der Frage der Gleichstellung der Geschlechter befürchte ich sogar einen Rückschritt, wenn sich die Vorstellungen der CDU/CSU zum § 218 durchsetzen.
    In der Frage der sozialen Unterschiede im eigenen Land gibt es keine Entwicklung derart, daß man sehen könnte, sie werden abgebaut. Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger in ganz Deutschland nimmt täglich zu. Die sozialen Unterschiede wachsen.

    (Volker Rühe [CDU/CSU]: Unsinn!)

    — Das ist eine Tatsache. Das können Sie jeder Statistik entnehmen!
    Diese Bundesrepublik Deutschland, die sich Sozialstaat nennt,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist ein Sozialstaat!)

    hat es bis heute noch nicht einmal geschafft, eine Mindestrente oder eine Mindestsicherung einzuführen. Das wäre in einer 40jährigen Entwicklung doch wohl das mindeste gewesen.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU — Volker Rühe [CDU/CSU]: Die größten sozialen Unterschiede gab es im Sozialismus, und zwar zwischen den Funktionsträgern und der übrigen Bevölkerung!)

    Die monopolistische imperiale Macht der transnationalen Konzerne besteht weiterhin. Der ökologische Umbau hat nicht begonnen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Unverschämtheit!)

    — Wissen Sie, gerade die Triumphe dieser Konzerne, die Triumphe der Rüstungspolitik, die Triumphe einer antisozialen Politik sind es ja, die die Welt so gefährlich machen.