Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges Mitglied, Professor Dr. Ernst Schellenberg. Er ist gestern, am 6. Juni 1984, in seiner Geburts- und Heimatstadt Berlin im Alter von 77 Jahren nach längerer Krankheit verstorben.
Ernst Schellenberg wurde am 20. Februar 1907 in Berlin geboren, war dort zunächst in der privaten Fürsorge tätig, legte dann eine Hochbegabtenprüfung ab und studierte Volkswirtschaft. Er war lange Jahre im Versicherungswesen tätig, erhielt später einen Lehrauftrag und wurde 1946 an die Humboldt-Universität als Professor für Sozialpolitik und Versicherungswesen berufen. 1948 trat er der SPD bei.
Noch im Laufe der 1. Wahlperiode, 1952, wurde er als Vertreter Berlins in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er rund ein Vierteljahrhundert, bis zum Ende der 7. Wahlperiode im Dezember 1976, angehörte. Ab 1967 war er Mitglied des SPD-Fraktionsvorstandes, und 1969 wurde er stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Er war auch lange Jahre Mitglied des Parteivorstandes der SPD. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit lag im Ausschuß für Sozialpolitik. — Wenn ich so sagen darf: sein Herz gehörte der Sozialpolitik. In diesem Ausschuß hat er hervorragend gearbeitet. Schellenberg war als Kenner des Sozialversicherungswesens maßgeblich an der Beratung aller großen und wichtigen Sozialgesetze aus diesem Zeitraum beteiligt. Er besaß überragende Fachkenntnisse und vereinte in sich ein tiefes und leidenschaftliches sozialpolitisches Engagement mit außerordentlicher Arbeits- und Leistungskraft sowie einer hervorragenden rednerischen Begabung. Er verstand es, hier im Parlament eine scharfe Klinge zu führen. Zugleich war er im persönlichen Umgang ein Kollege von liebenswürdiger Herzlichkeit. Ich habe beides ganz persönlich erfahren dürfen.
Den Angehörigen, seiner Frau und seinen Kindern habe ich die Teilnahme des Deutschen Bundestages ausgesprochen. Wir fühlen uns ihnen in Trauer verbunden.
Der Deutsche Bundestag wird seinem ehemaligen Mitglied Ernst Schellenberg ein dankbares und ehrendes Gedenken bewahren.
Ich danke Ihnen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksachen 10/1538, 10/1553 —
Zunächst rufe ich die Dringliche Frage auf Drucksache 10/1553 des Abgeordneten Jäger zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf:
Welche neuen Informationen hat die Bundesregierung über Aufenthaltsort und Befinden des Menschen- und Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow in der Sowjetunion, und was geschieht seitens der Bundesregierung auf der Grundlage der jüngsten Entschließung des Deutschen Bundestages, um Leben und Gesundheit Sacharows und seiner Ehefrau zu retten und ihre Ausreiseerlaubnis von den sowjetischen Behörden zu erwirken?
Das Wort zur Beantwortung hat Herr Bundesminister Genscher.
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist nicht bekannt, wo und in welchem Zustand sich Akademiemitglied Sacharow und Frau Bonner befinden. Die Bundesregierung bemüht sich weiter, darüber Auskunft von der sowjetischen Seite zu erhalten. Sie steht diesbezüglich auch in engem Kontakt mit befreundeten Regierungen.Die Bundesregierung hat sich für die Anliegen des Ehepaars Sacharow/Bonner mit großem Nachdruck von sich aus bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegenüber der sowjetischen Führung eingesetzt. Das wird die Bundesregierung weiterhin tun. Sie wird dabei jeden Weg prüfen, der sich zur Förderung des Anliegens des Ehepaars Sacharow eignet.Herr Abgeordneter, die Tatsache, daß Sie diese Frage stellen müssen, und die Tatsache, daß die Bundesregierung Ihnen über das Schicksal des Ehepaars Sacharow nicht mehr sagen kann, macht, glaube ich, hinreichend deutlich, wie schlimm die Situation dieser in aller Welt geachteten Menschen ist.
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5320 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Eine Zusatzfrage. Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Bundesminister, muß nach den Erkenntnissen der Bundesregierung nach wie vor damit gerechnet werden, daß sich Sacharow und seine Frau Jelena Bonner in akuter Lebensgefahr befinden und auf eine wirksame ärztliche Behandlung angewiesen sind, wenn ihr Leben gerettet werden soll?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung möchte sich nicht an Mutmaßungen beteiligen. Für die Bundesregierung ist es schlimm genug, daß wir keine Gewißheit über das Schicksal dieser beiden Menschen haben.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger .
Herr Bundesminister, geht die Bundesregierung mit mir davon aus, daß die Frage nach dem Befinden und nach dem Aufenthalt von Andrej Sacharow heute eine Frage von weltweitem akutem Interesse aller freiheitlich gesinnten Menschen ist, weshalb keine Ruhe gegeben werden darf, bis sie von den Behörden der UdSSR befriedigend beantwortet ist?
Genscher, Bundesminister: Ja, Herr Abgeordneter.
Herr Abgeordneter Würtz.
Herr Bundesminister, welche Schritte hat der deutsche Botschafter in Moskau unternommen, um Klarheit und Gewißheit zu bekommen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, nicht nur der deutsche Botschafter, sondern auch der Bundeskanzler, ich und andere Mitglieder der Bundesregierung haben bei jeder sich bietenden Gelegenheit über das Schicksal des Ehepaars Sacharow gesprochen, natürlich auch auf dem normalen diplomatischen Wege. Aber das allein wäre für die Bundesregierung nicht ausreichend gewesen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gerster.
Herr Bundesaußenminister, ist der Bundesregierung bekannt, mit welchen Argumenten die sowjetischen Behörden Frau Bonner die Ausreise aus der UdSSR zum Zwecke der Behandlung ihres schweren Herzleidens im westlichen Ausland verweigern?
Genscher, Bundesminister: Es gibt eine der Bundesregierung bekanntgewordene Erklärung, die dahin geht, daß eine ausreichende ärztliche Versorgung in der Sowjetunion sichergestellt sei. Ich habe dazu in einer Pressekonferenz in Moskau gesagt, daß es für uns auch zu den elementaren Menschenrechten gehört, daß sich jeder Mensch an den Arzt wenden kann, der sein Vertrauen hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Repnik.
Herr Bundesminister, in welcher Weise haben die Delegationen der Teilnehmerstaaten der KVAE in Stockholm auf den Hilferuf von Andrej Sacharow, den er an sie gerichtet hat, reagiert, wie ist dieser Hilferuf von der Konferenz aufgenommen worden, und ist dieser Hilferuf bei den Beratungen dort überhaupt eingegangen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, auch diese Konferenz wird genutzt, um sich für das Schicksal des Ehepaars Sacharow einzusetzen. Aber das haben wir auch bei anderen Gelegenheiten getan und auch in der Weise, wie ich das auf die früheren Fragen gesagt habe.
Erlauben Sie mir bitte, Herr Abgeordneter, eine zusätzliche Bemerkung zu machen. In meiner Tischrede in Moskau habe ich auf das Schicksal der bekannten und der nicht bekannten Menschen hingewiesen, die unsere Anteilnahme und Hilfe brauchen. Ich erwähne das auch in diesem Zusammenhang, weil ich dem Eindruck entgegentreten möchte, daß nur das Ehepaar Sacharow auf unsere Hilfe angewiesen ist.
Wir sollten das niemals vergessen, wenn wir uns zu Recht mit solchem Nachdruck für das Schicksal dieser beiden Menschen einsetzen.
Es gibt viele andere unbekannte Menschen, die in kommunistischen Staaten für Bürgerrechte eintreten, und es gibt viele sowjetische Bürger deutscher Nationalität, die gerne bei uns leben möchten und denen die Ausreise bisher nicht ermöglicht worden ist.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Minister, gibt es innerhalb der EPZ, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, irgendwelche Überlegungen, ob nicht die Vertretungen aller EG-Staaten in gleicher Form in Moskau demarchieren sollten, um Aufschluß über den Zustand des Ehepaars Sacharow zu erhalten, und können Sie uns hierüber vielleicht etwas sagen? Denn unter Umständen könnte nur die gemeinsame Aktion auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.Genscher, Bundesminister: Frau Kollegin, als ich in Moskau war, konnte ich auf eine Demarche der französischen Präsidentschaft im Namen aller zehn Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in dieser Frage zurückgreifen. Ich bin sicher, daß bei dem nächsten Zusammentreffen der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft diese Frage erneut erörtert wird. Sollte es sich als notwendig erweisen, kann das auch schon vorher geschehen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5321
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dolata.
Herr Bundesaußenminister, ist der Bundesregierung bekannt, mit welcher Begründung die sowjetischen Behörden Andrej Sacharow von seinem Wohnsitz fernhalten, ohne daß bisher ein strafrechtliches Verfahren gegen ihn eingeleitet, geschweige denn eine Strafe gegen ihn verhängt wurde?
Genscher, Bundesminister: Es wird auf geltendes sowjetisches Recht verwiesen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Hoffmann.
Herr Bundesminister, gibt es Angebote von Spezialärzten westlicher Universitätskliniken oder Krankenhäuser, in die Sowjetunion zu reisen und Sacharow und seine Frau zu behandeln?
Genscher, Bundesminister: Ich kann diese Frage in diesem Augenblick nicht beantworten, Frau Kollegin. Aber ich habe keinen Zweifel, daß es solche Angebote dann geben würde, wenn damit sichergestellt werden könnte, daß eine Behandlung von Frau Bonner, falls sie das wünscht, in diesem Fall und in dieser Form vorgenommen werden kann.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Horacek.
Herr Außenminister, sind Überlegungen — ich brauche keine präzise Antwort, weil das, was ich frage, ziemlich delikat ist; womit ich auf einen Zwischenruf antworte, — —
Sie sind mit einer Frage dran, Herr Horacek.
Ich habe das gesagt, um das verständlich zu machen.
Gibt es auf der westlichen Seite Überlegungen, die Frage Andrej Sacharow/Jelena Bonner auch so zu lösen, wie damals der vergleichbare Fall Bukowski/Corvalan gelöst worden ist?
Genscher, Bundesminister: Kein Weg sollte ausgeschlossen werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schulze .
Herr Bundesminister, wird die Bundesregierung die Forderung des Schwiegersohns an die sowjetischen Behörden nachdrücklich unterstützen, daß Sacharow erlaubt wird, seinem Schwiegersohn telefonisch seine gegenwärtige Lage und seinen Aufenthaltsort zu schildern?
Genscher, Bundesminister: Ja, Herr Abgeordneter.
Vielen Dank, Herr Außenminister. Das waren die Fragen zur Dringlichkeitsfrage.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung zurück, der bereits gestern aufgerufen war.
Zunächst rufe ich die Frage 34 des Herrn Abgeordneten von Schmude auf:
Wieviel Einsprüche gegen die festgesetzte Tauglichkeitsstufe sind anhängig, und ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch der Prozentsatz bei denjenigen Wehrpflichtigen ist, die nach abgelehnten Einsprüchen gegen die Tauglichkeit als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden wollen?
Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Würzbach zur Verfügung. Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Herr Kollege von Schmude, von den im Jahre 1981 eingelegten 34 786 Widersprüchen waren 11 278, also 32,4 %, gegen den Tauglichkeitsgrad gerichtet. Erkenntnisse darüber, wie viele Widersprüche zur Zeit gegen den Tauglichkeitsgrad anhängig sind, liegen nicht vor. Das gleiche gilt für den Prozentsatz der Wehrpflichtigen, die nach Ablehnung ihres Widerspruchs gegen den Tauglichkeitsgrad einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt haben. Entsprechende Statistiken werden bei uns nicht geführt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten von Schmude.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wird im Prüfungsverfahren über die Gewissensentscheidung der Frage nachgegangen, warum zunächst Einspruch gegen den Tauglichkeitsbescheid eingelegt wurde und bei Ablehnung dann das Gewissen entdeckt wird?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, aus der Logik des Abtastens der wirklichen Begründung, bezogen auf das Gewissen, ergibt sich dies. Ich kann hier keine authentische, statistisch nachweisbare Antwort geben. Sie wissen aus der Antwort auf Ihre erste Frage gestern, die durch den Ablauf der Sitzung unterbrochen werden mußte, daß es unser Ziel ist, insgesamt die Zahl der Tauglichen spürbar zu erhöhen. Wir hoffen, durch Änderung der genannten Bestimmungen von den 21 Untauglichen auf eine Zahl von maximal 15 % zu kommen. Dadurch reduziert sich natürlich auch der Kreis, nach dem Sie jetzt fragen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr von Schmude.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die Verfahren in den Fällen zu verkürzen, in denen zunächst eine Beschwerde im Tauglichkeitsverfahren eingelegt wurde und dann eine Gewissensentscheidung vorgebracht wird, so daß wir mehr Wehrgerechtigkeit bekommen und auch eine Beschleunigung im Hinblick auf die Abwicklung der Verfahren insgesamt eintritt?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Sie haben gestern aus den Antworten gehört, daß die Bundesregie-
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5322 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Parl. Staatssekretär Würzbachrung alles tut, um die Wehrgerechtigkeit ausgeglichener, gerechter herzustellen. Dazu zählt eine Verkürzung der soeben genannten Verfahren.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Tauglichkeitsprüfung, der sich jeder Wehrpflichtige unterziehen muß, auch bisher schon vor dem Verfahren lag, ob eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt wird, so daß die Vermutung, man gehe erst gegen die Tauglichkeit an und entdecke dann erst sein Gewissen, nicht zutrifft?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die Tauglichkeitsprüfung liegt vor dem möglichen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Daraus ergibt sich überhaupt die Logik, den Antrag stellen zu können.
Die Frage 35 soll auf Wunsch der Fragestellerin, der Abgeordneten Frau Simonis, schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 36 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski soll ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 37 des Abgeordneten Dreßler auf:
Sind zum Transport der Druckexemplare der Protokolle des Stuttgarter Parteitages der CDU von der Druckerei nach Stuttgart im Eigentum der Bundesregierung stehende Transportmittel benutzt worden, insbesondere Flugzeuge?
Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, der von Ihnen angesprochene Transport von Druckmaterial ist nicht durch Transportmittel der Bundesregierung durchgeführt worden.
Zusatzfrage? Dreßler : Nein, danke.
Dann rufe ich die Frage 38 des Abgeordneten Dreßler auf:
Wenn ja, durch wen ist die Inanspruchnahme dieser Transportmittel veranlaßt worden?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, die Antwort auf die Frage erübrigt sich, weil es eine Nachfrage zu der vorhergehenden Frage ist.
Ich darf aber die Gelegenheit wahrnehmen, Herr Kollege, bei aller Bedeutung der Rede- und natürlich auch Fragefreiheit eines jeden Abgeordneten und bei allem Respekt davor — dies darf ich, versehen mit einem doppelten Ausrufungszeichen, ausdrücklich vorweg sagen —, hier zum Ausdruck zu bringen, daß die Bundesregierung über diese Frage ein wenig verwundert ist.
Man lernt hier nie aus. Ich habe auch lernen müssen, daß das eine Folgefrage war, die automatisch weggefallen ist.
Wir kommen nun zur Frage 39 des Abgeordneten Hedrich.
— Ich bitte um Entschuldigung. Sie haben jetzt eine Zusatzfrage zu Frage 38?
— Dazu haben Sie das Recht.
Herr Staatssekretär, ich frage Sie, ob Sie mich mit Ihrer soeben gegebenen Antwort als Abgeordneten rügen wollten.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, absolutes Nein. Ich darf in Erinnerung rufen, daß ich, als ich die Verwunderung der Bundesregierung vorsichtig angesprochen habe, ausdrücklich auf das volle, uneingeschränkte, von uns zu respektierende Rede- wie Fragerecht hingewiesen habe.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Herr Staatssekretär, warum haben Sie denn dann nach dem Bekenntnis zum vollen Rede- und Fragerecht diesen Halbsatz hinzugefügt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, weil mir daran lag, deutlich zu machen, daß wir darüber verwundert sind, daß Sie überhaupt zu einer solchen — in Frageform gekleideten — Vermutung haben kommen können.
So geht's leider nicht weiter, weil die Rechte erschöpft sind.
Ich rufe nunmehr die Frage 39 des Abgeordneten Hedrich auf:
Welche Möglichkeiten sieht das Bundesministerium der Verteidigung, die Bemühungen der Bundesregierung zur Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit zu unterstützen?
Herr Staatssekretär.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hedrich, der Bundesminister der Verteidigung hat als Beitrag zur Beseitigung der Jungendarbeitslosigkeit bereits im letzten Jahr das Ausbildungsplatzangebot nochmals gesteigert. Im Jahre 1984 wird er wiederum 950 auszubildende Lehrlinge zusätzlich einstellen. Damit stehen im Ausbildungsjahr 1984/85 insgesamt 5 300 Jugendliche als Lehrlinge in der Berufsausbildung bei der Bundeswehr. Dies ist weit mehr als das Doppelte des eigenen Bedarfs.
Zusatzfrage? — Nein.Dann rufe ich die Frage 40 des Abgeordneten Hedrich auf:Sind die bisher im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung bereitgestellten Ausbildungsplätze durch Kürzung der Haushaltsmittelansätze und gegebenenfalls andere Sparmaßnahmen gefährdet?Herr Staatssekretär.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5323
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die bereitgestellten Ausbildungsplätze sind aus der Sicht des Bundesministers der Verteidigung nicht gefährdet. Fraktion, Kabinett — ich bin sicher: das ganze Parlament — sehen hier — wie der Bundesminister der Verteidigung — eine ganz wichtige Hilfsmöglichkeit. Im Gegenteil: Für das Jahr 1985 ist bereits jetzt nochmals eine weitere Steigerung um 550 Lehrlingsplätze vorgesehen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hedrich.
Herr Staatssekretär, ist mit der Bereitstellung der bisherigen Ausbildungsplätze das gesamte Potential an Ausbildungsmöglichkeiten im militärischen und zivilen Bereich des Bundesministers der Verteidigung ausgeschöpft, oder ist eine Steigerung möglich, und wenn j a, unter welchen Voraussetzungen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Sie haben, Herr Kollege, die Zahl gehört, die wir in diesem Jahr noch draufsetzen. Auch die Zahl, um die wir im nächsten Jahr die Zahl der Ausbildungsplätze erhöhen wollen, habe ich hier genannt.
Ich will Ihnen sehr deutlich sagen, daß fast mit jeder einzelnen zivilen wie militärischen Dienststelle intensive Gespräche geführt werden müssen. Wir wollen nicht zusätzliches Ausbilderpersonal einstellen, müssen also auf die vorhandenen Kräfte zurückgreifen, die j a einen militärischen Auftrag haben und die Ausbildung der Lehrlinge nebenbei zu absolvieren haben. Es bedarf hier — teilweise in geringem Umfang — des Austausches von Personal sowie — teilweise in erheblichem Umfang — des Austausches von Material, weil wir dies nicht erweitern können.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Hedrich.
Herr Staatssekretär, können Sie uns eine Auskunft darüber geben, in welchen Bereichen die Bundeswehr ausbildet?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, hier übersende ich Ihnen gerne eine sehr umfangreiche Aufstellung der Berufe. Die reichen vom Elektroniker, Hydrauliker, Kfz-Schlosser über den Koch bis zum Verwaltungsangestellten. Und das geht regional quer durch die ganze Bundesrepublik, fast durch alle Standorte.
Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Steinhauer.
Herr Staatssekretär, die Bundeswehr bildet ja auch im Rahmen des Berufsausbildungsgesetzes in gewerblich-technischen und auch in Verwaltungs- und kaufmännischen Berufen aus. Werden auch im entsprechenden Umfange Mädchen ausgebildet, und sind insbesondere die Einwände, die im vorigen Jahr und vor zwei Jahren noch eine Rolle gespielt haben — hinsichtlich sanitärer Ausstattung usw. —, inzwischen bereinigt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, es werden auch Mädchen ausgebildet. Ich übersende Ihnen gerne eine genaue Aufstellung, in welchen Berufen wieviel Prozent der Auszubildenden Mädchen sind. Und da wir sie ausbilden, gehen wir, glaube ich, mit Recht beide davon aus, daß die Voraussetzungen dafür in jeder Hinsicht vorher geschaffen worden sind.
Eine weitere Frage kann ich leider nicht zulassen. Das können Sie nachher mit dem Staatssekretär direkt besprechen.
Auf die Fragen 41 bis 44 sind von den Fragestellern, der Frau Abgeordneten Dr. Czempiel und dem Herrn Abgeordneten Immer , schriftliche Antworten erbeten worden, so daß ich diese Fragen nicht aufzurufen brauche. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Reents auf:
Hält die Bundesregierung die folgenden von ihr vertretenen Angaben über die Anzahl der stationierten sowjetischen Mittelstreckenraketen vom Typ SS 20 weiterhin für gesichert
a) 351 SS 20 im März 1983 ;
b) Bundesverteidigungsminister Wörner am 15. Juni 1983: „Jetzt hat die Sowjetunion 351 SS 20." ;
c) „Im September 1983 verfügte die Sowjetunion über 39 Stellungen mit 351 einsatzbereiten SS 20-Raketen" ;
d) Bundesverteidigungsminister Wörner am 22. November 1983: Es sei eine „Tatsache, daß die Sowjets während der Verhandlungen — im übrigen: bis zum heutigen Tage — jede Woche eineinhalb Raketen in Stellung gebracht haben" ;
und welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die gegenwärtig stationierte Anzahl sowjetischer SS 20 vorliegen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich antworte mit Ja.
Die Bundesregierung hält diese Zahlen für gesichert. Gegenwärtig verfügt die Sowjetunion über 378 stationierte SS 20.
Zusatzfrage des Abgeordneten Reents.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie diese vorherigen Äußerungen noch einmal bestätigt haben, darf ich Sie fragen, ob Sie mir nicht doch einmal den Widerspruch in diesen Äußerungen erklären können, da sich einige dieser Äußerungen aus bis März 1983 zurückliegender Zeit auf
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5324 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Reentsdie Zahl von 351 SS 20 beziehen, diese Zahl dann wiederholt wurde, es aber im November eine Aussage gegeben hat, daß nach wie vor, bis zum heutigen Tage — so wörtlich vom Bundesverteidigungsminister Wörner —, wöchentlich anderthalb Raketen stationiert würden.Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen den Widerspruch nicht erklären, weil ich hierin keinen Widerspruch sehe.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Reents.
Darf ich Sie zweitens fragen, ob Sie mitteilen können, ob sich die Anzahl der im europäischen Teil der Sowjetunion stationierten SS 20 vor und nach dem Beginn der Raketenstationierung in der Bundesrepublik erhöht hat, die Zahl, die seinerzeit von der Bundesregierung mit 243 angegeben worden war?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Diese Zahl hat sich erhöht, Herr Kollege.
Ich will Ihnen gerne sagen, wie das Ergebnis zustande kommt. 153 Raketen geteilt durch 104 Wochen gleich 1,47 Raketen pro Woche. Und wenn der Minister von „anderthalb" sprach, dann ist dies genau das Ergebnis dieser Rechnung. Ich wiederhole noch einmal 153 : 104 = 1,47. Und es ist überall, nicht nur in der Mathematik, üblich, daß man 1,47 auf 1,5, sprich anderthalb, aufrundet.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Reents auf:
Kann die Bundesregierung die Meldung der „International Herald Tribune" vom 28. Mai 1984 bestätigen, die sich auf offizielle Quellen aus den Verteidigungsministerien der USA und der Bundesrepublik Deutschland beruft, wonach künftig keine Ankündigungen weiterer Raketenstationierungen von Pershing II und Cruise Missiles in der Bundesrepublik Deutschland mehr gemacht werden sollen, um einen öffentlichen Protest dagegen zu vermeiden; und wenn ja: soll sich diese Geheimhaltung dann auch auf die endgültig beabsichtigte Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Pershing II und Cruise Missiles erstrecken?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat bereits früher bekanntgegeben, daß gegen die existierende und sich ständig vergrößernde Bedrohung durch die sowjetische SS 20-Rakete in der Bundesrepublik Deutschland entsprechend dem NATO-Doppelbeschluß 108 Pershing II und 96 Marschflugkörper stationiert werden sollen. Diese Zahl stellt eine feste absolute Obergrenze dar. Sie kann sich — und es ist Wunsch der Bundesregierung, sie möge sich — bei von uns gewünschten und weiterhin angebotenen Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion verringern. Leider zeigt die Sowjetunion einseitig zu diesen Verhandlungen bisher keine Bereitschaft.
Zusatzfrage des Abgeordneten Reents.
Herr Staatssekretär, da ich in Ihrer Antwort vermißt habe, daß Sie auf den ersten Teil meiner Frage eingegangen sind, möchte ich Sie noch einmal bitten, zu sagen, ob Sie die Meldung der „International Herald Tribune" bestätigen können, daß es in der Bundesrepublik keine Ankündigungen über weitere Stationierungen von Pershing II und Cruise Missiles geben solle, um einen öffentlichen Protest dagegen zu vermeiden.
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Diese Meldung bestätige ich nicht. Die Bundesregierung bleibt — wie die vorherige — bei dem üblichen, hier mehrfach in Fragestunden und Debatten dargestellten Verfahren, keine Angaben, die über die bereits bekannten hinausgehen, zu machen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Darf ich diese Antwort von Ihnen dann doch so verstehen, daß die Bundesregierung keine Ankündigungen über den Zeitpunkt weiterer Stationierungen machen will und dies dann eben doch eine Bestätigung dieser Meldung der „International Herald Tribune" ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Dies ist keine Bestätigung der Meldung, in der ja eine Menge Dinge mehr enthalten sind. Die Bundesregierung bleibt fest bei den verabredeten Obergrenzen — mit dem Wunsch, diese möglichst zu reduzieren. Die Bundesregierung bleibt dabei, solange der Osten nicht zeitgleich mit uns mitzieht, die Stationierungsorte nicht bekanntzugeben. Die Bundesregierung bleibt bei dem Stationierungsplan, wie er damals im Rahmen der Debatte hier im November — was Zeit, was Ort, was Zulauf angeht — beschlossen wurde.
Für die Fragen 47 und 48 hat der Fragesteller, Herr Abgeordneter Jungmann, schriftliche Beantwortung erbeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Verteidigung. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schulte zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 49 des Abgeordneten Breuer auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den Bedarf für eine überregionale Straßenverkehrsverbindung zwischen dem Autobahnkreuz Olpe-Süd und Hattenbach , nachdem sich sowohl die nordrhein-westfälische als auch die hessische Landesregierung gegen einen Weiterbau der Bundesautobahn 4 ausgesprochen haben?
Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, der Bedarfsplan 1980 enthält in seinem Aufdruck den gesetzlichen Auftrag, zehn seinerzeit nicht entscheidungsreife Projekte — darunter auch die Verkehrsbeziehung Krombach—Hattenbach — dahin gehend zu untersuchen, inwieweit in den Bedarfsplan die bisherigen Autobahnplanungen oder Alternativplanungen, vor allem der Ausbau des vorhandenen Straßennetzes, aufgenommen werden können. Für die Ver-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5325
Parl. Staatssekretär Dr. Schultekehrsverbindung Krombach-Hattenbach wie für die neun anderen Relationen wurde 1980 der Ausbaubedarf anerkannt. Diese Untersuchungen, die verkehrliche, raumordnerische, regionalwirtschaftliche und ökologische Sachverhalte umfassen, sind für die Verkehrsbeziehung Krombach-Hattenbach noch nicht abgeschlossen.Der Untersuchungsauftrag enthält auch den Netzfall „Aufgabe der ehemaligen A-4-Konzeption". Auf der Grundlage dieser Untersuchungsergebnisse wird der Deutsche Bundestag darüber entscheiden, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsbeziehung in Betracht kommen und in den Bedarfsplan aufgenommen werden können. Die Ergebnisse werden rechtzeitig zur nächsten Fortschreibung des Bedarfsplanes im Jahre 1985 vorliegen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Breuer.
Herr Staatssekretär, wie bewertet Ihrer Meinung nach die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, die ja jüngst einen Weiterbau der A 4 abgelehnt hat, den Bedarf an einer solchen überregionalen Verkehrsverbindung?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Wir sind noch in der Prüfung. Was das Land Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen hat, ist in bezug auf das, was ursprünglich einmal Planung war, sehr wenig. Wir müssen überprüfen, ob damit ein Bedarf erfüllt werden kann.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Steinhauer.
Herr Staatssekretär, ist in die Untersuchungen eventuell auch eine kreuzungsfreie Schnellstraße außerhalb des bisher vorhandenen Bundesstraßennetzes mit einbezogen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Nach meiner Kenntnis: j a.
Ich rufe nun die Frage 50 des Abgeordneten Breuer auf:
Würde die Bundesregierung auf Vorschlag des Landes Nordrhein-Westfalen bei der Fortschreibung des Bedarfsplanes für Bundesfernstraßen im Bereich des Kreises SiegenWittgenstein als Ersatz für einen Weiterbau der Bundesautobahn 4 einer reinen Verbesserung der bestehenden innerregionalen Straßenverkehrswege, also einer faktischen Nulllösung bezüglich der überregionalen Straßenverkehrsverbindungen zustimmen können?
Herr Staatssekretär.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ob allein Verbesserungen der bestehenden Straßen ausreichen, um dem festgestellten Verkehrsbedarf gerecht zu werden, läßt sich erst nach Abschluß der mit der Antwort zu Frage 49 angesprochenen Untersuchungen sagen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Breuer.
Herr Staatssekretär, ich hatte in meiner Frage von der faktischen Null-Lösung gesprochen und meinte damit eine reine Verbesserung des bestehenden Verkehrsnetzes. Wäre Ihrer Meinung nach eine reine Verbesserung des bestehenden Binnenverkehrsnetzes dazu geeignet, den Bedarf an einer überregionalen Verkehrsverbindung zu erfüllen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es müßte untersucht werden, ob eine Verbesserung des Binnennetzes nicht auch eine Verbesserung des Fernstraßennetzes darstellen könnte. Sollte man aber zu dem Ergebnis kommen, daß eine Verbesserung des Fernstraßennetzes damit nicht erreicht würde, dann wäre eine Verbesserung des Binnennetzes sicherlich eine Null-Lösung, wie Sie dies angesprochen haben; und von einer Nulldiät würden wir beide nicht satt werden.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Breuer.
Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß bei Bewertung des Bedarfs einer überregionalen Verkehrsverbindung in dem angesprochenen Raum, die ja eingeräumt worden ist im Zusammenhang mit der zuerst gestellten Frage, eine faktische Null-Lösung nach Meinung der Bundesregierung nicht anwendbar wäre?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Wenn das, was vorgeschlagen wird, wirklich eine Null-Lösung wäre, wäre der Bedarf, den der Deutsche Bundestag anerkannt hat, nicht erfüllt.
Frau Steinhauer zu einer weiteren Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es möglich, daß der Ausbau der bisherigen Bundesstraßen einen größeren Schaden in der Ökologie verursacht als eine neue Autobahn oder Schnellstraße?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es gab bereits in der Vergangenheit solche Fälle. Wir überprüfen im Augenblick, ob dies auch für diese Verkehrsbeziehung gilt.
Wir kommen zur Frage 51 des Abgeordneten Saurin. — Er ist nicht im Saal. Dann wird die Frage der Geschäftsordnung gemäß behandelt.Wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Verkehr. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Der Herr Minister persönlich steht zur Beantwortung zur Verfügung.Ich rufe die Frage 52 von Frau Dr. Hamm-Brücher auf:Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, in wieviel Fällen in den letzten zwei Jahren Anträge von Bürgern der Bundesrepublik Deutschland für Einreisevisa nach Südafrika seitens der südafrikanischen Regierung abgelehnt wurden?
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5326 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Frau Kollegin, die Bundesregierung ist in der Zeit von Juni 1982 bis Juni 1984 mit 13 konkreten Fällen unmittelbar befaßt worden, in denen Anträge von Bürgern der Bundesrepublik Deutschland auf Einreisevisa für Südafrika von der südafrikanischen Regierung abgelehnt wurden. Dazu gehören auch die Fälle, in denen Journalisten und Wissenschaftler trotz frühzeitiger Antragstellung bis zuletzt im unklaren gelassen wurden und dann die beabsichtigte Reise verschieben oder ganz ausfallen lassen mußten. Da nicht alle von Einreiseverweigerungen Betroffenen sich an das Auswärtige Amt gewandt haben, gibt es eine hohe Dunkelziffer. Die Botschaft Südafrikas hat allein für die Zeit von Januar bis Oktober 1983 die Zahl der verweigerten Visa mit 33 angegeben, wobei Fälle dilatorischer Vorenthaltung nicht erfaßt sind.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Minister, können Sie uns Gründe angeben, mit denen solche Einreisevisa abgelehnt werden?
Genscher, Bundesminister: Sicherheitsgründe. Frau Dr. Hamm-Brücher : Sonst nichts?
Genscher, Bundesminister: Nein. Das entspricht dem dortigen Sicherheitsverständnis. — Wenn ich das so lapidar wiedergebe, Frau Kollegin, dann nicht deshalb, weil ich mir diese Gründe zu eigen mache, sondern deshalb, weil ich Ihnen das sagen möchte, was ich von der südafrikanischen Seite dazu gehört habe.
Es bringt mich in Schwierigkeiten, aber ich gebe Ihnen noch eine Zusatzfrage.
Ach, weil ich einmal nachgehakt habe. — Danke, Herr Präsident.
Herr Bundesminister, in welcher Weise versucht dann das Auswärtige Amt zu intervenieren, wenn solche Visen abgelehnt werden?
Genscher, Bundesminister: Frau Kollegin, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, auch, unabhängig von aktuellen Fällen, bei Begegnungen, wie wir sie vorgestern hatten, und bei dem letzten Besuch des südafrikanischen Außenministers, auch durch Einbestellung des südafrikanischen Botschafters, weil wir es für eine Diskriminierung nicht nur der Betroffenen, sondern auch der Bürger unseres Staates halten, wenn ein anderes Land Einreiseverweigerungen vornimmt, obwohl wir völlige Freiheit vom Visumzwang haben.
Zusatzfrage des Abgeordneten Bindig.
Herr Außenminister, wenn Sie hier referieren, daß die südafrikanische Regierung Sicherheitsgründe angibt: Hat denn die Bundesregierung auch eine Meinung dazu, ob es sich hier objektiv gesehen um Sicherheitsgründe handelt oder nur aus der subjektiven Perspektive des Landes Südafrika?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, es handelt sich um Sicherheitsgründe, die sich die Bundesregierung nicht zu eigen machen kann.
Wir kommen zur Frage 53 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher:
Erwägt die Bundesregierung ihrerseits die Einführung von Einreisevisa für Südafrikaner, falls die restriktive Haltung Südafrikas sich nicht ändert, und welche anderen Konsequenzen erwägt die Bundesregierung?
Bitte schön, Herr Minister.
Genscher, Bundesminister: Frau Kollegin, die Bundesregierung möchte die Einführung des Sichtvermerkzwangs für Südafrikaner möglichst vermeiden. Damit würden wir die südafrikanische Praxis am Ende nur bestätigen und möglicherweise sogar legitimieren. Für die Bundesrepublik Deutschland wäre es auf Grund der Verfassungsordnung eines liberalen und pluralistischen Staates ohnehin nicht denkbar, Reisenden nur wegen ihrer politischen Einstellung die Einreise zu verweigern, auch wenn das in Sicherheitsgründe verkleidet wird. Visumzwang für Südafrikaner würde auch für jene Südafrikaner eine zusätzliche bürokratische Belastung darstellen, die in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, um hier bei gesellschaftlich relevanten Gruppen wie den Kirchen, den Gewerkschaften, den Medien für ihre Kritik an der südafrikanischen Innenpolitik Resonanz zu finden. Die Bundesregierung hat zu dieser Frage in ihrer Antwort vom 20. Dezember 1983 auf die Große Anfrage der SPD eingehend Stellung genommen und ihre Haltung seitdem nicht geändert.
Zusatzfrage, Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Bundesminister, Sie haben den zweiten Teil meiner Frage nicht beantwortet: Welche anderen Konsequenzen erwägt die Bundesregierung, wenn Sie, was ich für richtig halte, keinen Visumzwang beabsichtigt?Genscher, Bundesminister: Frau Abgeordnete, auch diese Haltung der südafrikanischen Regierung beeinträchtigt natürlich die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Südafrika. Weitergehende Konsequenzen sind schwer denkbar, es sei denn, man würde an die einzig denkbare Retorsionsmaßnahme der Einführung des Visazwanges denken; aber hier teilen Sie ja unsere Auffassung, daß das nicht sinnvoll wäre.Ich will auch sagen, warum es nicht sinnvoll wäre. Erstens widerspricht es unserer Grundhaltung. Wir möchten möglichst große Freiheit der Bewegung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir durch die Einführung eines Zwanges für ein Visum erreichen würden, daß die Praxis der südafrikanischen Regierung verändert wird. Wir würden damit nur Menschen belasten, die für diese Praxis keine Verantwortung tragen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5327
Zusatzfrage von Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Bundesminister, nachdem Sie es vorhin in sehr starken Worten als eine Diskriminierung deutscher Bürger bezeichnet haben, wenn solch eine Visumverweigerung erfolgt, möchte ich Sie jetzt fragen: Haben Sie den gleichen Ausdruck auch gegenüber dem Außenminister Botha gebraucht?
Genscher, Bundesminister: Ich habe nicht nur das Wort „Diskriminierung" verwendet, sondern habe gesagt, daß die Verweigerung eines Visums mit dieser Begründung die Würde jedes einzelnen Deutschen verletzt, unabhängig davon, ob er selbst einen solchen Antrag gestellt hat.
Für die Fragen 54 und 55 des Abgeordneten Dr. Scheer ist schriftliche Beantwortung erbeten worden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 56 des Abgeordneten Dr. Czaja:
Bleibt ein Hauptziel unserer Außenpolitik die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas durch friedlichen Wandel?
Herr Minister, bitte.
Genscher, Bundesminister: Ja, Herr Abgeordneter.
Herr Dr. Czaja, Zusatzfrage.
Mit dem Dank für die klare Antwort frage ich, ob im „Signal von Washington" dies im Vergleich zum früheren Wortlaut des Harmel-Berichts in unverkürzter Form und in welcher Formulierung als Inhalt realistischer Entspannungsbemühungen zum Ausdruck kommt.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, in Punkt 7 der von den Außenministern auf der Tagung des Nordatlantikrates in Washington am 31. Mai 1984 herausgegebenen Erklärung über die West-Ost-Beziehungen heißt es:
Die Bündnispartner werden sich auch weiterhin von dem Bewußtsein der gemeinsamen Geschichte und Traditionen aller Völker Europas leiten lassen. Angesichts der fortbestehenden Teilung Europas und insbesondere Deutschlands unterstützt das Bündnis nach wie vor das politische Ziel der Bundesrepublik Deutschland, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Bundesaußenminister, gehören bei allen Beziehungen, auch solchen wirtschaftlicher und finanzieller Art, zu den zu beachtenden Voraussetzungen „des gegenseitigen Vorteils im umfassenden Sinn", die auch im „Signal von Washington" enthalten sind, auch angemessene Fortschritte zu diesem langfristigen, aber nicht in endlose Ferne zu vertagenden Ziel?
Genscher, Bundesminister: Herr Kollege, wir hatten gestern im Zusammenhang mit der Aussprache im Deutschen Bundestag über den Besuch des Premierministers von Südafrika Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß wir die wirtschaftlichen Beziehungen nicht für ein taugliches Mittel halten, in Form von Sanktionen, Embargomaßnahmen oder anderem eingesetzt zu werden. Gleiches gilt natürlich auch für die Beziehungen mit anderen Staaten in dieser Welt. Das ist eine generelle Haltung der Bundesregierung.
Wir kommen zur Frage 57 des Abgeordneten Dr. Czaja:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß eine langfristige Entfaltung der Ost-West-Beziehungen nicht die sowjetische Auffassung von der „friedlichen Koexistenz", wie sie im Sinne ihrer ständigen Auslegung auch vor kurzem Außenminister Gromyko zum 114. Geburtstag Lenins öffentlich darlegte, zur Grundlage haben kann, und hält sie die Zeit für reif zu substantiellen Gesprächen über die Gestaltung langfristiger Ost-West-Beziehungen?
Herr Minister.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Zeit reif ist, neue Anstrengungen für eine breit angelegte und langfristig ausgerichtete Verständigung zwischen West und Ost über ein konstruktives, stabiles und gleichberechtigtes Verhältnis zu unternehmen. Dabei ist die Bundesregierung der Auffassung, daß eine langfristige Entfaltung der West-OstBeziehungen nicht das sowjetische Verständnis des Begriffs der friedlichen Koexistenz zur Grundlage haben kann.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Bundesaußenminister, sind Sie der Meinung, daß sich vor den Präsidentenwahlen in den USA etwas in Richtung Abmachungen über langfristige Beziehungen bewegen kann, und teilen Sie die Meinung, daß technische Abkommen mit der Sowjetunion leichter zu schließen sind als einzuhaltende politische Abmachungen auf lange Frist?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich möchte versuchen, Ihre Frage zu präzisieren.
Wenn Sie damit gemeint haben sollten, ob mit bilateralen Vereinbarungen Fortschritte möglich sind, so habe ich nach meinen Gesprächen in Moskau den Eindruck, daß ein solcher Fortschritt z. B. bei den Verhandlungen über das wissenschaftlich-tech-
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5328 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Bundesminister Genschernische Abkommen möglich sein könnte, und zwar unabhängig von dem Wahltag in den Vereinigten Staaten.Ich kann eine gleich günstige Prognose für die Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses in seiner Allgemeinheit nicht geben. Die Frage, wie schwierig oder wie einfach es ist, mit der Sowjetunion Verträge abzuschließen, führt natürlich zu der allgemeinen Feststellung hin, daß jeweils die Substanz einer Vertragsmaterie darüber entscheidet, ob man leicht oder nur mit Problemen zu einer Einigung kommen kann.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Dr. Czaja.
Herr Bundesaußenminister, nach Ihrer klaren Antwort zur Grundlage der „friedlichen Koexistenz" frage ich noch, ob in allen westlichen politischen Kreisen zur Genüge bekannt ist, daß das ein absolut einheitliches Handeln des Ostblocks zur Durchsetzung des Marxismus-Leninismus in allen Staaten, mit denen man Beziehungen hat, gebietet — unter Umständen auch durch revolutionäre Akte, allerdings ohne den Einsatz nuklearer Waffen.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, das Verständnis der friedlichen Koexistenz — eines in der Sowjetunion geprägten Begriffes — hat sich auch in der Sowjetunion und im Warschauer Pakt gewandelt. Aber ganz sicher ist, daß in den verantwortlichen Kreisen der mit uns verbündeten Staaten Einigkeit darüber besteht, daß unser Verständnis guter, stabiler und gleichberechtigter Beziehungen mit den Staaten des Warschauer Pakts nicht deckungsgleich ist mit dem Verständnis, das diese Länder vom Begriff der friedlichen Koexistenz haben. Deshalb verwenden wir diesen Begriff auch nicht: weil wir nicht durch unterschiedliche Auslegungen zu Mißverständnissen beitragen möchten.
Wir kommen zur Frage 58 des Abgeordneten Voigt :
Trifft es zu, daß Mitglieder der Bundesregierung eine Petition der „Schlesischen Jugend" unterzeichnet haben, in der die Wiederbelebung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen von der Einräumung von Minderheitsrechten für die Deutschen in „Schlesien und anderen Teilen Ostdeutschlands" abhängig gemacht wird, und trifft es weiter zu, daß diese Petition vom Staatsminister im Bundeskanzleramt, Vogel, nicht nur entgegengenommen worden ist, sondern daß von ihm darüber eine Presseerklärung herausgegeben und über den Informationsfunk des Bundespresseamtes an alle Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland verbreitet worden ist, in der ebenfalls die Formulierung „in Schlesien und anderen Teilen Ostdeutschlands" verwendet wurde?
Herr Minister, bitte.
Genscher, Bundesminister: Entschuldigen Sie bitte, Herr Präsident.
— Ich danke Ihnen, Herr Abgeordneter. Das Maß Ihrer Nachsicht zeigt schon fast liberale Toleranz.
Herr Minister, derjenige, der am meisten Nachsicht üben mußte, war ich!
Genscher, Bundesminister: Herr Präsident, ich bitte um Genehmigung, daß ich die Beantwortung der Fragen 58 bis 66, die in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, auch zusammen vornehme.
Dann rufe ich auch die Fragen 59 bis 66 auf:Trifft es zu, daß das Auswärtige Amt in einer späteren Ausgabe des Informationsfunks die Presseerklärung von Staatsminister Vogel dadurch korrigiert hat, daß es die Worte „in Schlesien und anderen Teilen Ostdeutschlands" durch die Worte ersetzt hat „in Schlesien und anderen Teilen Mittel- und Osteuropas", und wie hat der Bundeskanzler auf den Protest reagiert, der gegen diese „Korrektur" des Auswärtigen Amtes bei ihm eingelegt worden ist?Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die von Mitgliedern der Bundesregierung unterschriebene und vom Bundeskanzleramt nicht nur entgegengenommene, sondern auch verbreitete Petition der „Schlesischen Jugend" mit der Formulierung „in Schlesien und anderen Teilen Ostdeutschlands" im Widerspruch zu Buchstaben und Geist des Warschauer Vertrages vom 7. Dezember 1970 steht?Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die angeführte Formulierung von unseren polnischen Nachbarn als Provokation verstanden wird, und was hat der Bundeskanzler unternommen, um dem entgegenzutreten und Zweifel an der Vertragstreue der derzeitigen Bundesregierung auszuräumen?Ist die Bundesregierung bereit, an der Politik des Ausgleichs und der Fortentwicklung der Beziehungen nach dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenwärtigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 gemäß Sinn und Wortlaut unbeirrt festzuhalten?Ist die Bundesregierung bereit, die uneingeschränkte Gültigkeit des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenwärtigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 zu bekräftigen?Kann die Bundesregierung aus dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenwärtigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 insbesondere die Bestimmungen des Artikels I Abs. 1 „Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen stellen übereinstimmend fest, daß die bestehende Grenzlinie, deren Verlauf im Kap. IX der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der Lausitzer Neiße und der Lausitzer Neiße entlang bis zur Grenze mit der Tschechoslowakei festgelegt worden ist, die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet" als absolut gültig bestimmen?Kann die Bundesregierung wegen aktueller Äußerungen polnischer und deutscher Politiker den Absatz 2 des Artikels I des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenwärtigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 „Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität" als jederzeit gültig unterstreichen?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5329
Vizepräsident WestphalIst die Bundesregierung bereit, den Absatz 3 des Artikels I des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenwärtigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 „Sie erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden" jetzt und in Zukunft als Bestandteil deutscher Politik besonders hervorzuheben?
Genscher, Bundesminister: Sie können ja durch Nachfragen die Trennung bewirken.Dem Herrn Staatsminister Vogel wurden von der „Schlesischen Jugend" am 23. Mai 1984 drei Schriftstücke übergeben. Nur in einem davon ist von einem Junktim die Rede, indem die Wiederbelebung der wirtschaftlichen Beziehungen mit der Volksrepublik Polen von der Einräumung von Minderheitenrechten für die Deutschen abhängig gemacht wird.Es trifft zu, daß das Bundespresseamt am 23. Mai eine Pressemitteilung über den Besuch der Delegation der „Schlesischen Jugend" beim Staatsminister beim Bundeskanzler, Vogel, herausgegeben hat, in die versehentliche Bezeichnungen hineingeraten waren. Staatsminister Vogel hat von sich aus die Korrektur unverzüglich veranlaßt, nachdem er die Redaktion des Textes bemerkt hatte. Die Pressemitteilung wie die Korrektur sind im üblichen routinemäßigen Verfahren am 24. Mai über den Informationsfunk des Bundespresseamts den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland zugegangen. Proteste der in den Fragen erwähnten Art hat es nicht gegeben.Zu den gestellten Anfragen im einzelnen ist festzustellen: Die Bundesrepublik Deutschland hat in Art. I des Warschauer Vertrags vom 7. Dezember 1970 einvernehmlich mit der Volksrepublik Polen festgestellt, daß die Oder-Neisse-Linie die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Die Bundesrepublik Deutschland hält sich jetzt und in Zukunft daran gebunden. Sie hat in den Vertragsverhandlungen mit der Volksrepublik Polen ebenso wie im parlamentarischen Zustimmungsverfahren erklärt, daß sie damit sich selbst, nicht aber ein später wiedervereinigtes Deutschland völkerrechtlich verpflichtet.In jedem völkerrechtlichen Vertrag, so auch im Warschauer Vertrag, gelten alle Bestandteile gleichmäßig. Der Warschauer Vertrag hat die Rechtsstandpunkte beider Seiten berücksichtigt und eine Balance zwischen den nationalen Anliegen beider Seiten hergestellt.Die Bundesregierung hat ebenso wie ihre Vorgängerin klargestellt: Der Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 in allen seinen Teilen ist und bleibt die Grundlage für unser Verhältnis zu Polen. Wir stehen auch zu den politischen Zielen des Vertrags. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 zu Polen u. a. festgestellt:Geschlossene Verträge gelten. Wir wollen sienutzen zum Ausbau unserer Beziehungen.Ich habe in einem Namensartikel vom 30. März 1984 erklärt:Gegenüber Polen wollen wir den Prozeß der• Versöhnung zwischen den Völkern und der Normalisierung zwischen beiden Staaten auf der festen Grundlage des Vertrags vom 7. 12. 1970 fortsetzen, der von uns weder dem Worte noch dem Sinne nach in Frage gestellt wird. Dies hat Bedeutung für beide Seiten.Wir messen einer positiven Entwicklung der Beziehungen zu Polen neben den Beziehungen zur DDR und zur Sowjetunion eine zentrale Bedeutung für die Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses und den Aufbau einer stabilen Ordnung des Friedens in Europa bei. Das hat der Bundeskanzler in seinem Brief an General Jaruzelski vom Dezember 1983 und das habe ich in den Gesprächen, die ich in den letzten Monaten bei mehreren Gelegenheiten mit dem polnischen Außenminister Olszowski geführt habe, in aller Deutlichkeit bekräftigt.Unser Verständnis der Bestimmungen des Vertrags, insbesondere des Art. IV, war der polnischen Seite von vornherein bekannt. Es hat sich daran nichts geändert. Gemäß den Bestimmungen des Vertrags bleibt es dabei, daß die Bundesrepublik Deutschland keinerlei Gebietsansprüche gegenüber der Volksrepublik Polen erhebt und solche auch in Zukunft nicht erheben wird.
Jetzt hat zunächst der Abgeordnete Voigt vier Zusatzfragen. Die erste Frage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Bundesaußenminister, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland geschlossenen Verträge Mitglieder der Bundesregierung in ihrem Handeln und in ihren Aussagen insofern binden, als sie diese verpflichten, in ihren Stellungnahmen und in ihrem Handeln deutlich zu machen, daß die Bundesrepublik Deutschland keine Gebietsansprüche gegenüber der Volksrepublik Polen hat und auch keine erheben wird und daß die polnische Westgrenze die Oder-Neisse-Linie ist?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich habe den genauen Text ja hier vorgetragen. Nicht nur die Mitglieder der Bundesregierung, sondern, so denke ich, alle Deutschen sollten sich entsprechend dem Inhalt und dem Geist des deutschpolnischen Vertrages verhalten und auch öffentlich äußern.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Bundesaußenminister, unbeschadet der Tatsache, daß die Bundesregierung selbstverständlich nicht für ein künftiges wiedervereinigtes Deutschland sprechen kann, frage ich Sie: Entspricht es nicht unseren Interessen, so klar und deutlich wie möglich zu machen, daß wir politisch die Westgrenze Polens für genauso endgültig halten wie die Ostgrenze Frankreichs?Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die europäische Geschichte ist immer wieder be-
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5330 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Bundesminister Genscherstimmt gewesen — und zwar negativ bestimmt gewesen — durch die Ausübung von Unrecht und Gegenunrecht.Wir alle sind uns bewußt, daß das polnische Volk nicht nur das erste Opfer des von Hitler 1939 begonnenen Krieges war, sondern auch in besonderer Weise unter diesem Krieg und unter der Besetzung hat leiden müssen.Wir alle sind uns auch der Tatsache bewußt, daß viele unserer deutschen Mitbürger aus den Ostgebieten durch den Tatbestand der Vertreibung Unrecht für sich haben erleiden müssen.Ich habe es immer als die historische Bedeutung des deutsch-polnischen Vertrages betrachtet, daß — vielleicht zum erstenmal in der europäischen Geschichte — der Teufelskreis der Aufrechnung des einen Unrechts gegen das andere durchbrochen wurde.
Dieses Bewußtsein, das heute das Bewußtsein eigentlich aller unserer Bürger ist, sollte unser Verhalten und auch unsere zukünftige Einstellung zur polnischen Westgrenze bestimmen.Ich glaube, daß gerade die von dem Unrecht der Vertreibung Betroffenen einen besonderen Beitrag zu diesem Geist in unserem Lande geleistet haben. Als ich in Moskau war, hatte ich mich j a auch mit dem Vorwurf des Revanchismus auseinanderzusetzen, der angeblich bei uns erneut sein Haupt erhebt. Dabei wurden auch die Vertriebenen und die Vertriebenenverbände genannt. Ich habe dort gesagt: Unrecht zu erleiden ist für jeden eine schwere Sache, die Heimat zu verlieren auch; die Tatsache, daß aus den Vertriebenen in unserem Lande nicht rachsüchtige Revanchisten, sondern gute Europäer mit dem Willen zur Versöhnung mit dem polnischen Volk geworden sind, ist die große Friedensleistung der Vertriebenen in unserem Lande.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Außenminister, nachdem ich Ihre allgemeinen Erklärungen dem Inhalt nach durchaus unterschreiben kann, darf ich Sie trotzdem auf meine Frage aufmerksam machen und möchte sie noch einmal aufgreifen.
Genscher, Bundesminister: Ich habe Ihre Frage damit positiv beantwortet, Herr Abgeordneter.
Ich danke dafür und möchte deshalb die weitere Frage stellen, ob der Bundesregierung klar ist, daß die Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten, ganz zu schweigen von der Überwindung der deutschen Spaltung, nur möglich sein wird, wenn alle in der Volksrepublik Polen — das betrifft nicht nur die Regierung, sondern genauso Kirche und Opposition in Polen — sicher sein können, daß eine Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten oder möglicherweise sogar eine Überwindung der Spaltung nicht ihre nationalen Interessen beeinträchtigen würde.
Genscher, Bundesminister: Ganz sicher ja, Herr Abgeordneter.
Erlauben Sie mir, daß ich dem Ja etwas hinzufüge: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es nicht nur die deutsche Vertreibung gegeben, auch polnische Staatsangehörige sind nach dem Zweiten Weltkrieg ein zweites Mal vertrieben worden. Das mag in besonderer Weise erklären, warum die Bürger der Volksrepublik Polen ungeachtet ihrer politischen Haltung im übrigen in der Frage, daß sie Sicherheit über ihre Grenzen haben möchten, völlig einer Meinung sind. Da gibt es keine Auffassungsunterschiede zwischen denen, die der dortigen kommunistischen Partei, der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei, angehören, denen, die sich als Katholiken bekennen, und denen, die in den Reihen von Solidarnosc für mehr gewerkschaftliche Rechte eintreten. Das müssen wir immer im Auge haben.
Wenn wir eine zweite positive Entwicklung als Lehre aus der europäischen Geschichte feststellen können, dann ist es die — der Brief zur deutschen Einheit macht das deutlich —, daß wir heute Deutschlandpolitik als europäische Friedenspolitik betrachten und daß wir deshalb nicht, wie es oft in der Vergangenheit war, wollen, daß wir unsere nationalen Interessen im Gegensatz zu den Interessen unserer Nachbarn verfolgen, sondern daß wir unser nationales Schicksal in das Schicksal Europas einbetten, weil wir wissen, daß nur die Überwindung der Spaltung Europas auch die Überwindung der Teilung unseres Landes möglich machen kann. Schon das allein erklärt, warum wir unseren eigenen nationalen Interessen zuwiderhandeln würden, wenn wir unsere nationalen Ziele auf Kosten irgendeines europäischen Nachbarn durchsetzen wollten.
Sie haben noch eine Zusatzfrage zu Ihren ersten zwei Fragen.
Interpretiere ich Sie zusammenfassend richtig, daß Sie damit sagen, daß jeder, der in Wort, Schrift oder Tat die Endgültigkeit der polnischen Westgrenze im politischen Sinne in Frage stellt, nicht nur friedenspolitischen Zielsetzungen, sondern auch nationalen deutschen Interessen widerspricht?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, Sie dürfen meine Antwort so verstehen, wie ich sie soeben gegeben habe. Es handelt sich hier um eine sehr diffizile, tief in die Gefühle der Menschen hineinreichende Frage. Ich warne hier vor dem Versuch, durch Vereinfachungen möglicherweise auch zu Konfrontationen zu kommen.
Ich glaube, das, was ich vorher gesagt habe, wird jeder in diesem Hause bejahen können, und dabei sollten wir es belassen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Ehmke.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5331
Herr Außenminister, verstehe ich Sie dahin richtig, daß die zuerst vom Staatsminister im Kanzleramt, Vogel, verwendete und dann korrigierte Bezeichnung „Schlesien und anderen Teilen Ostdeutschlands" auch nach Meinung der Bundesregierung unvereinbar ist mit den völkerrechtlichen Bindungen, die die Bundesrepublik im Warschauer Vertrag eingegangen ist?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Tatsache, daß sich der Herr Staatsminister von sich aus dazu entschieden hat, diese Auffassung zu ändern, bringt zum Ausdruck, daß er diese Formulierung gerade wegen der vertraglichen Bindung für sich nicht — jedenfalls von ihm aus gesehen — akzeptabel hielt, und diese Auffassung des Herrn Staatsministers wird von der Bundesregierung in ihrer Gesamtheit geteilt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Hupka.
Herr Außenminister, können Sie mir darin zustimmen, daß Annexion und Vertreibung Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das Völkerrecht sind und daß durch Unrecht kein neues Recht entstehen kann?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich sprach vom Unrecht der Vertreibung, das dem Unrecht gefolgt ist, das vorher gegenüber dem polnischen Volk begangen wurde. Ich möchte noch einmal sagen: Das eine Unrecht kann das andere nicht rechtfertigen, aber der Frieden Europas wird dadurch geschaffen, daß wir den Teufelskreis durchbrechen müssen, daß das eine Unrecht mit dem anderen begründet und damit neues Unrecht geboren wird.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lowack.
Herr Bundesaußenminister, welche Bedenken bestehen eigentlich gegen die Formulierung „Ostdeutschland", nachdem es im Potsdamer Abkommen ausdrücklich heißt:
Die Häupter der drei Regierungen bekräftigen ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz
— die noch nicht stattgefunden hat — zurückgestellt werden soll,
und nachdem es in Art. 7 Abs. 1 des Deutschlandvertrages heißt:
Die Unterzeichnerstaaten sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß.
Deswegen meine Frage und Bitte: Was bestehen eigentlich für Bedenken, wenn ein Staatsminister den Teil, den wir bisher immer als Ostdeutschland begriffen haben und der es nach den Verträgen auch ist, nicht mehr als Ostdeutschland bezeichnen sollte?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen die Bedenken des Herrn Staatsministers Vogel nicht wiedergeben, die ihn dazu veranlaßt haben, die Formulierung zu beseitigen, die ihm fälschlicherweise in den Mund gelegt worden war. Ich kann Ihnen nur sagen, warum ich eine solche Auffassung nicht als von mir gesagt hätte im Raum stehen lassen wollen. Es ist sicher nach dem Geist, aber auch nach der historischen Entwicklung nicht das Ziel der Politik der Bundesrepublik Deutschland, die Grenzen erneut zu verändern. Und weil es das nicht ist, sollten wir auch nicht den Eindruck erwecken, als sei das unser Ziel.
So, jetzt muß ich mich korrigieren, denn ich habe nicht richtig gehandelt.
— Okay. Aber es hatte sich der Abgeordnete
Dr. Hupka zu seiner zweiten Zusatzfrage gemeldet.
Und er hat das Recht auf seine zweite Zusatzfrage.
Herr Bundesaußenminister, es ist Ihnen bekannt, daß in der DDR der Begriff Mitteldeutsche als Verlags- und als Zeitungsname erscheint. Was spricht nun dagegen, daß wir die Schlesier, die Ostpreußen, die Pommern unter den Begriff Ostdeutsche subsumieren, da es OstDeutschland gibt, ausgehend vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 mit dem Satz: Das Deutsche Reich existiert fort?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, Sie wissen, daß meine Frau Schlesierin ist. Sie betrachtet sich deshalb als Ostdeutsche, weil auch die Vertreibung den Tatbestand nicht ungeschehen machen kann, daß sie in dem deutschen Kreis Liegnitz geboren wurde, auch wenn inzwischen eine Veränderung stattgefunden hat; so wie ich, ein im Saalkreis Geborener, mich als Mitteldeutschen betrachte. Das ist doch ganz selbstverständlich. Das hat nichts damit zu tun, was die Ziele — die heutigen und die künftigen Ziele — der Bundesrepublik Deutschland sind. Das eine ist etwas, was seine Berechtigung aus der Vergangenheit herleitet. Das andere ist die Frage, wie wir unsere nationalen Interessen in einem Europa des Friedens, der Zusammenarbeit und der Versöhnung am besten verwirklichen können.
Zusatzfrage des Abgeordneten Sauer.
Herr Bundesaußenminister, handelt die Schlesische Jugend denn gegen unsere Verfassung, wenn sie in ihrer Arbeit
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5332 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Sauer
davon ausgeht, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit dem Inkrafttreten der Ostverträge aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland nicht entlassen und der Souveränität, sowohl der territorialen wie der personalen Hoheitsgewalt der Sowjetunion und Polens nicht endgültig unterstellt worden sind?Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, wir haben alle — und das gilt auch für die Schlesische Jugend — im Sinne, nach dem Buchstaben und dem Geist des Warschauer Vertrages zu handeln.
Das hat etwas mit der Frage zu tun, was wir in Frage stellen und was wir nicht in Frage stellen. Wir haben in der Frage rechtlicher Interpretationen, Fortbestehen von Verträgen, von Verantwortung der Vier Mächte — — All das ist j a Gegenstand des Vertragswerks, genauso wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Realität ist. Das steht auf einem anderen Blatt Papier. Ich möchte noch einmal sagen, Herr Abgeordneter: Wenn wir alle — —
— Bitte?
— Herr Abgeordneter, wir haben zu unterscheiden zwischen dem, was rechtlich festgestellt ist und Gültigkeit hat,
— ja, ja; aber ich muß das aufnehmen — und dem, was unsere politischen Ziele sind. Und ich habe verstanden, daß unsere politischen Ziele sind: zu einer Friedensordnung in Europa beizutragen.
Wenn es dem Geist dieser Friedensordnung entspricht, daß wir begangenes Unrecht, auch an Deutschen begangenes Unrecht, nicht zum Anlaß nehmen, neu Fragen aufzuwerfen, die andere Menschen als Unrecht empfinden, dann, glaube ich, handeln wir richtig, wenn wir die polnische Westgrenze nicht in Frage stellen.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Sauer.
Herr Bundesaußenminister, ich frage Sie wegen der Angriffe von einer bestimmten Seite dieses Hauses auf die Schlesische Jugend dennoch, ob die Schlesische Jugend nicht wiederum im Sinne der Verfassung und damit auch in der Interpretation dieses Warschauer Vertrages in ihrer Arbeit davon ausgehen kann, daß die Verträge eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorwegnehmen und keine Rechtsgrundlage für bestehende Grenzen geschaffen worden ist.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, solange sich ein Bürger unseres Landes, wer immer es ist, auf das Bundesverfassungsgericht und seine Interpretation beruft, kann er nicht gegen das Grundgesetz verstoßen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Bundesminister, Sie sprachen vorhin von Empfindlichkeiten. Können Sie verstehen, daß polnische Bürger sehr empfindlich reagieren, wenn einerseits gesagt wird: Die Grenzen sind unverletzlich; das steht im Vertrag! Und andererseits in einer Petition oder in einer Unterschriftensammlung von Abgeordneten dieses Hauses einschließlich eines Parlamentarischen Staatssekretärs dieser Bundesregierung Begriffe gebraucht werden, wonach nicht zu schließen ist, daß die Grenzen eigentlich so bestehen, wie sie im Warschauer Vertrag beschrieben sind?Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich kann jetzt den Inhalt dieser Erklärung, die unterzeichnet worden ist, in diesem Moment nicht so werten, daß ich Ihre Frage mit Ja oder Nein beantworten kann. Aber ich glaube, daß wir etwas anderes beachten sollten. Wenn wir uns bewußt sind, welche Empfindlichkeit das deutsch-polnische Verhältnis unverändert bestimmt, und zwar nicht nur auf einer Seite,
dann sollten wir auch bei dem, was wir sagen und was wir tun, eher zur Zurückhaltung neigen denn zu überscharfen, scharfen oder pointierten oder mindestens mißverständlichen Formulierungen.
Ich sage das in beide Richtungen. Denn ich glaube, daß viele der kritischen Äußerungen an uns, an die Vertriebenen, die aus Polen kommen, auch ein hohes Maß an Unempfindlichkeit gegenüber den Gefühlen unserer Vertriebenen zeigen. Ich sage das bewußt in beide Richtungen, weil ich der Meinung bin, daß das, was sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschen und Polen entwickelt hat, daß der Prozeß der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen zu den kostbarsten Gütern der deutschen Nachkriegspolitik gehört.
Diese Kostbarkeit sollte von keiner Seite gefährdet werden, nicht von unserer Seite, aber auch nicht von der polnischen Seite. Es gibt eine Menge, worüber wir uns auseinandersetzen können.Ich sage das übrigens auch für das Zusammenleben unter den demokratischen Parteien hier. Auch hier sollten wir versuchen, einen so empfindlichen Bereich wie das deutsch-polnische Verhältnis so weit wie möglich aus der innenpolitischen Auseinandersetzung herauszuhalten. Es ist nun einmal so, daß der deutsch-polnische Vertrag ein Vertrag war,
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Bundesminister Genscherder mit vielen Gefühlen belastet war, als er verabschiedet wurde, der damals auch im Deutschen Bundestag gegensätzlich behandelt wurde. Aber gehört es nicht zu den großen Fortschritten der deutschen Politik, daß es heute in unserem Lande keinen ernsthaften Menschen mehr gibt, der diesen Vertrag nach Sinn und Geist in Frage stellt? Das ist unser deutscher Beitrag zu einer Friedensordnung in Europa.
Herr Abgeordnete Waltemathe, eine Zusatzfrage.
Herr Minister, ich möchte Ihnen für die soeben gegebene Antwort ausdrücklich danken
und möchte Sie als Außenminister der Bundesrepublik Deutschland fragen, ob es nicht objektiv oder faktisch zutrifft, daß die überreichte Petition, die Erklärungen, die dazu abgeben worden sind, und die Unterschriftensammlung von Abgeordneten dieses Hauses auf polnischer Seite jedenfalls zu einer Verschlechterung des Klimas zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen geführt haben?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich glaube, daß mein Hinweis auf die Empfindlichkeit des deutsch-polnischen Verhältnisses eigentlich keiner Ergänzung bedarf. Sie veranlassen mich mit Ihrer zusätzlichen Frage, doch etwas zu der Art zu sagen, wie wir auch Angriffe aus der Volksrepublik Polen ertragen müssen. Da werden Sie sofort feststellen, daß da zwischen den verschiedenen Parteien, die hier im Deutschen Bundestag vertreten sind, nichts mehr zu trennen ist. Ich habe hier ein Zitat aus einer polnischen Zeitung, und dort schreibt ein nicht unbedeutender Mann:
Sie hat sich
— nämlich eine bestimmte Grundstimmung bei uns —
schließlich nicht erst in den letzten Jahren herausgebildet. Versetzen wir uns einmal in die Epoche der Regierungen von Brandt und Schmidt! Damals wurde doch das juristische Gewebe des Revisionismus geschaffen.
Dann heißt es an anderer Stelle weiter:
Die gegenwärtige christlich-liberale Regierung Kohls beruft sich lediglich darauf.
Ich glaube, daß diese Form der Kritik an der Politik der Bundesregierung weder den Absichten noch der moralischen Verantwortung der Regierungen Brandt, Schmidt oder Kohl gerecht wird. Das sollten wir gemeinsam zurückweisen können.
Ich kann den Fragestellern einen Überblick geben, was uns hier bevorsteht. Wir sind noch bei den ersten zwei Fragen des Abgeordneten Voigt mit Zusatzfragen.
Durch die Art, wie der Minister geantwortet hat, kam es dazu, daß jeder von Ihnen zwei Zusatzfragen hat. In meiner Liste habe ich jetzt allein noch acht Abgeordnete mit weiteren Zusatzfragen. Ich bitte, daran zu denken, daß danach einige Kollegen kommen, die darauf warten, ihre eigene Frage beantwortet zu bekommen. Ich darf zu überlegen geben, daß der eine oder andere nicht unbedingt darauf bestehen muß, schon bei den ersten zwei Fragen dranzukommen.
Eine Zusatzfrage, Frau Huber, bitte.
Ich habe nur eine Zusatzfrage, Herr Präsident.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben soeben an mehreren Punkten Beifall des ganzen Hauses bekommen. Ich möchte Sie fragen, ob das Auswärtige Amt nach dem 23. Mai, nämlich der Übergabe der Petition der Schlesischen Jugend und der unglückseligen Presseerklärung, die wie immer zustande gekommen ist, Gelegenheit genommen hat, sich bei der polnischen Seite zu entschuldigen.
Genscher, Bundesminister: Die Klarstellung ist die beste Entschuldigung, Frau Kollegin.
Jetzt kommt eine Zusatzfrage von Frau Hoffmann.
Herr Bundesaußenminister, hat nicht das Bundesverfassungsgericht in seinem in allen Teilen verbindlichen Urteil von 1973 allen Staatsorganen eingeschärft, daß der freie Teil Deutschlands als vorerst unabtrennbarer Teil ganz Deutschlands dies nach innen wach erhalten und nach außen beharrlich vertreten muß, so wie ganz Deutschland neben den Vier Mächten die Mitverantwortung für diese Positionen trägt?
Genscher, Bundesminister: Frau Abgeordnete, es ist weder die Aufgabe noch das Recht der Bundesregierung, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu interpretieren. Diese Urteile sprechen für sich selbst.
Sie wollen eine weitere Zusatzfrage stellen? Frau Hoffmann, bitte schön.
Herr Außenminister, hat nicht auch die Regierung Schmidt/ Genscher am 20. Juli 1981 auf eine Große Anfrage der CDU/CSU zu den Grundlagen der Deutschlandpolitik in der Antwort auf Frage 15 erklärt, daß das Deutsche Reich nicht untergegangen ist und die endgültige Festlegung Deutschlands in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 — ich zitiere — „bis zu einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland aufgeschoben ist"?Genscher, Bundesminister: Frau Abgeordnete, die damalige Bundesregierung hat die Auskunft gegeben, die jede deutsche Regierung, die sich an Recht und Gesetz hält, zu geben hätte.
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5334 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke .
Herr Bundesaußenminister, so sehr ich Ihre klaren Worte hier begrüße, habe ich doch Zweifel, ob Sie für die Regierung im ganzen sprechen. Ich frage Sie daher: Wie kommt es bei dieser klaren Aussage des Auswärtigen Amtes dazu, daß immer wieder Äußerungen von Regierungsmitgliedern aus der Union Zweifel an der Vertragstreue der Bundesregierung geweckt haben? Ich nenne nur die Äußerung von Bundesinnenminister Zimmermann, die sogar zu einer offiziellen Demarche der polnischen Regierung geführt hat. Ich nenne die — ich darf das höflich formulieren — Mißverständnisse, die durch eine Äußerung des von mir sehr verehrten Kollegen Mertes entstanden sind. Jetzt mußte sich Herr Vogel selbst korrigieren. Die Reise der Delegation der Union mit den Herren Rühe und Klein, die das nun weiterbringen sollte, endete mit einem Eklat. Können Sie mir sagen, wie es möglich ist, daß dies bei dieser klaren Aussage immer wieder geschieht? Liegt das vielleicht daran, daß der Bundeskanzler als CDU-Vorsitzender oder aber Herr Strauß als CSU-Vorsitzender die Auffassung, die Sie hier vertreten haben, nicht vertreten?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, Sie wissen doch aus eigener Erfahrung, daß immer dann, wenn ich für die Bundesregierung spreche, ich für die Bundesregierung, der ich angehöre, spreche.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stahl.
Herr Bundesaußenminister, da Sie für die gesamte Bundesregierung sprechen, darf ich einmal bescheiden fragen, ob Sie es für politisch geschmackvoll halten, daß ein Mitglied der Bundesregierung eine derartige Petition unterschreibt und anschließend im Kanzleramt entgegennimmt, bezogen auf das, was Sie hier für die gesamte Bundesregierung — die jetzige Bundesregierung und die vormaligen Bundesregierungen — bezüglich der Polenverträge dargestellt haben.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich glaube, daß die Auffassung der Bundesregierung, die ich hier zum Ausdruck gebracht habe, sehr klar und eindeutig ist. Es gibt kein Mitglied der Bundesregierung, das in dieser Frage anders denkt.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Stahl.
Herr Bundesaußenminister, da ich selbst in Polen geboren worden bin und bis 1949 in einem Internierungslager war, darf ich
Sie fragen: Wie hoch ist das Durchschnittsalter dieser Schlesischen Jugend, die derartige Unterschriften und Petitionen sammelt, um sie dem Bundeskanzleramt zur Verfügung zu stellen, und damit eventuell die deutsch-polnischen Verträge belastet?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich kenne das Durchschnittsalter der Schlesischen Jugend nicht.
Jetzt kommt eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weyel.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben soeben auf die Frage des Kollegen Waltemathe geäußert, daß Sie glauben, daß niemand in der Bundesrepublik die durch die Warschauer Verträge getroffenen Regelungen mehr in Zweifel zieht. Haben Sie angesichts einiger der Fragen, die Sie soeben gehört haben, nicht Zweifel an dieser Ihrer Auffassung bekommen?
Genscher, Bundesminister: Nein, Frau Abgeordnete, die habe ich nicht bekommen.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weyel.
Ich darf — es sind hier ja Zitate aus Verträgen sehr unterschiedlicher Zeit gebracht worden — noch eine zweite Frage anschließen: Können Sie die Auffassung bekräftigen, daß ein Vertrag, der 25 Jahre nach einer anderen Äußerung geschlossen worden ist, für die heutige Politik vielleicht doch größere Bedeutung hat?
Genscher, Bundesminister: Frau Abgeordnete, das Verhältnis der verschiedenen Rechtspositionen und Verträge zueinander ist in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts untersucht worden und für alle staatliche Gewalt bei uns verbindlich beantwortet. Im übrigen verweise ich auf das, was ich über die Bedeutung der deutsch-polnischen Versöhnung und die sich daraus ergebende gebotene Zurückhaltung gesagt habe.
Jetzt kommt eine Zusatzfrage des Abgeordneten Czaja.
Herr Bundesaußenminister, da zu dem absolut zu bejahenden gerechten politischen Ausgleich, den Sie angesprochen haben, unbedingt aber auch gehört, von der Rechtslage auszugehen, frage ich Sie im Hinblick auf Ihr Beispiel von den beiden Blättern, ob nicht einerseits die Bundesregierung durch die vom Kollegen Sauer und der Kollegin Hoffmann zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden, verpflichtet ist und es andererseits weiterhin zutrifft, was Ihr Vorgänger, Herr Scheel, zu den Ostverträgen am 9. Februar 1972 im Bundesrat mit großer Emphase festgestellt hat, daß es im operativen Teil beider Ostverträge keine Grenzanerkennungsfor-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5335
Dr. Czajamulierung gebe, die Verträge nirgendwo von Anerkennung sprächen und die Kritiker, die etwas anderes behaupteten, ihm nachweisen müßten, wo das in den Verträgen eigentlich stehe, und ob auch die Auffassung der Vertreter der Siegermacht Sowjetunion zu den Ostverträgen vom 29. Juli 1970 zutrifft: Wir sind Ihnen in der Grenzfrage entgegengekommen, als wir den Begriff „Grenzanerkennung" fallengelassen haben.Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Interpretationen, die der Bundesminister des Auswärtigen dem Vertragswerk damals gegeben hat, haben heute die gleiche Gültigkeit.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schmitt .
Herr Bundesaußenminister, wenn Sie sich hier für die Bundesregierung zur Kontinuität des Warschauer Vertrages bekennen, frage ich Sie: Was hat den Bundeskanzler veranlaßt, in Abstimmung mit Ihnen Abgeordnete des Hohen Hauses gerade in diesen Tagen zu Vorträgen in Polen zu veranlassen oder dafür zu beraten, in denen die Offenhaltung der Grenzfrage — in einem Vortrag in Warschau — in den Mittelpunkt gestellt wird und in denen seitens dieser Vertreter der CDU/CSU nichts Konkretes über die Weiterentwicklung der Beziehungen der Bundesrepublik zu Polen gesagt wird?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, dazu sind zwei Feststellungen zu treffen.
Die erste lautet, daß der Herr Bundeskanzler ganz sicher nicht die Verantwortung für Vorträge trägt, die Mitglieder des Deutschen Bundestages im In- oder Ausland halten.
Zweitens. Einer der Kollegen, der einen dieser Vorträge gehalten hat, deren Inhalt ich selbst nicht kenne und die ich deshalb nicht beurteilen kann, hat mir gesagt, daß er seine Ausführungen im Geiste und nach dem Inhalt des deutsch-polnischen Vertrages gemacht habe. Ich habe keinen Anlaß, an dieser Feststellung zu zweifeln.
— Herr Abgeordneter, wenn mir ein Mitglied des Deutschen Bundestages sagt, er habe seine Ausführungen dem Geist und dem Inhalt des deutsch-polnischen Vertrages entsprechend gemacht, habe ich keinen Anlaß, daran zu zweifeln.
— Ich stehe dem Leninismus nicht so nahe wie Sie, Herr Abgeordneter. Deshalb habe ich mir mehr Vertrauensbasis bewahrt.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Schmitt .
Herr Bundesaußenminister, wären Sie bereit, dieses Manuskript noch einmal zu lesen, um sich eine abschließende Meinung bilden zu können, und ist das Auswärtige Amt an der Vorbereitung dieser Vortragsreise beteiligt worden?
Genscher, Bundesminister: Die zweite Frage kann ich im Augenblick nicht beantworten.
Zur ersten kann ich Ihnen sagen: Die Tatsache, daß Sie in Ihrer Frage auf diese Vorträge hingewiesen haben, hat bei mir ein hohes Interesse an der Lektüre dieser Vorträge geweckt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Außenminister, Sie haben vorhin erklärt, Sie würden das Durchschnittsalter der Schlesischen Jugend nicht kennen. Ist es möglich, daß Sie wie ich annehmen, daß die meisten, die zur Schlesischen Jugend gezählt werden, nicht in Schlesien, sondern in der Bundesrepublik geboren sind?
Genscher, Bundesminister: Ja.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Sielaff.
Herr Bundesaußenminister, ich möchte im Anschluß an die Frage, die eben gestellt wurde, fragen, ob es nicht an der Zeit ist, die Vererbbarkeit des Vertriebenenstatus aufzugeben und damit Äußerungen wie die der Schlesischen Jugend — wenn man die Anzahl derer, die sich dort zusammenfinden, richtig bewertet — nicht überzubewerten.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich würde die Bedeutung der Aktivitäten der Schlesischen Jugend genauso wie der Vertriebenenverbände und Landsmannschaften nach ihrem Beitrag für die Versöhnung zwischen den Völkern Europas bewerten. Es gilt das, was ich anfangs gesagt habe: Ich halte die Tatsache, daß unsere vertriebenen Mitbürger hier in der Bundesrepublik Deutschland trotz erlittenen Unrechts einen Beitrag zu einem demokratischen Deutschland und zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung geleistet haben,
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5336 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Bundesminister Genscherfür die historische Leistung der Vertriebenen für den Frieden in Europa.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sielaff.
Herr Bundesaußenminister, ich möchte Sie als einer, der auch ein Vertriebener ist, ansprechen und Ihnen eine weitere Frage stellen: Steht die erneute Diskussion über die Westgrenze Polens nicht im Widerspruch zu den Äußerungen des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung, die Sie vorhin zitierten und in der es hieß: Wir wollen Aussöhnung und Verständigung mit Polen, wie sie in beispielhafter Form von beiden Kirchen eröffnet wurden. Geschlossene Verträge gelten. Wir nutzen sie zur Ausgestaltung unserer Beziehungen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, erlauben Sie mir eine freimütige Feststellung. Mir wäre es lieber, diese Fragestunde hätte sich nicht mit Grenzfragen, sondern mit der Frage befaßt, wie wir als Bundesrepublik Deutschland, wie wir, der Deutsche Bundestag, dazu beitragen können, daß z. B. das Landwirtschaftsprojekt der katholischen Kirche in Polen Wirklichkeit werden kann.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lowack.
Herr Bundesaußenminister, unabhängig von dem Problem, das Sie gerade angesprochen haben und das uns alle berührt und interessiert, darf ich doch auf Ihre Antwort auf die letzte Frage der Kollegin Hoffmann zurückkommen. Sie haben diese Frage in meinen Augen eher diplomatisch, man kann auch sagen: dilatorisch beantwortet. Ich möchte deswegen noch einmal konkret fragen: Wie steht die Bundesregierung zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1973 und 1975, daß für die Bundesregierung die Verpflichtung besteht, den Ostverträgen nicht die Wirkung beizumessen, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße aus der Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und fremder Souveränität endgültig unterstellt werden? Ist die Bundesregierung bereit, entsprechend diesen Urteilen diese Auffassung nach außen aktiv zu vertreten? Ich darf auf den ausdrücklichen Wortlaut der Entscheidung aus dem Jahre 1975 hinweisen.
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, mehr zu sagen, als zu erklären, daß die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes verbindlich für alle staatliche Gewalt sind, bedeutet, diese Urteile zu interpretieren und damit in ihrer Bedeutung zu mindern. Deshalb war meine Antwort weder diplomatisch noch in irgendeiner Weise umschreibend; sie enthielt vielmehr eine klare Feststellung. Jedes Wort mehr bedeutet weniger.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Horacek.
Herr Außenminister, die Grünen sind neu hier im Bundestag. Können Sie meinen Eindruck bestätigen, daß die Fragen und Antworten, die ich jetzt gehört habe, und das, was ich nachgelesen habe, eine Situation bestätigen, die in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien CDU und CSU einerseits und der damaligen Regierung von SPD und FDP andererseits um diese Verträge gegeben war? Wird diese Auseinandersetzung heute noch einmal geführt? Ich brauche die Antwort auf die Frage, ob ich richtig nachgelesen habe.
Genscher, Bundesminister: Nein, Herr Abgeordneter, diesen Eindruck habe ich nicht.
Wir kommen jetzt zu den Zusatzfragen des Abgeordneten Dr. Ehmke, zur Frage 61. Daran kann sich wieder so etwas anschließen, wie wir es gerade gehabt haben. Am liebsten würde ich dem Abgeordneten Becker als einzigem, der noch keine Zusatzfragen gestellt hat, aber zu den Fragestellern zu diesem Komplex gehört, auch noch das Wort geben. Dann ist die Fragestunde wahrscheinlich vorbei.
Darf ich meine Zusatzfrage stellen. Herr Außenminister, Sie haben in Rückgriff auf die Debatte, die wir gestern über Südafrika geführt haben, hier klargestellt, daß Sie auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu Polen nicht mit politischen Vorbedingungen zu belasten gedenken. Darf ich aus dieser Antwort entnehmen, daß die zwischen uns nach meiner Rückkehr aus Polen besprochene Frage einer Wiederaufnahme der deutsch-polnischen Gespräche auf wirtschaftlichem Gebiete auf gutem Wege sind?
Genscher, Bundesminister: Ja, Herr Abgeordneter.
Eine weitere Zusatzfrage? — Auch nicht zu Ihrer anderen Frage, Herr Abgeordneter Ehmke?
Dann komme ich zu der Frage 62 von Herrn Becker. Herr Abgeordneter Becker , Sie können jetzt Ihre Zusatzfragen stellen.
Herr Minister, treffen Pressemitteilungen zu, daß Sie in absehbarer Zeit nach Warschau fahren werden?
Genscher, Bundesminister: Ein solcher Besuch ist beabsichtigt, Herr Abgeordneter.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Minister, können wir davon ausgehen, daß bei der Gelegenheit dieses Besuchs alle Fragen im wissenschaftlichen Bereich, im kulturellen Bereich, im Bereich der Sport- und Wirtschaftsbeziehungen mit Schwerpunkt eine Rolle spielen werden?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5337
Genscher, Bundesminister: Ja, Herr Abgeordneter, wenngleich nicht alle Fragen Schwerpunkte sein können.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schmitt .
Herr Bundesaußenminister, nachdem Sie sich hier so positiv zu dem Landwirtschaftsprojekt der westeuropäischen Bischöfe geäußert haben: Wäre die Bundesrepublik gegebenenfalls bereit, wenn die katholischen Bischöfe an die Bundesregierung herantreten, auch von der Bundesregierung her dieses Projekt zu unterstützen?
Genscher, Bundesminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist bereit, das Projekt zu unterstützen. Sie wirbt bei anderen westlichen Regierungen für eine Unterstützung. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß die große Bereitschaft der deutschen Öffentlichkeit in den letzten Jahren, dem polnischen Volk zu helfen, durchaus auch in einer Unterstützung vieler Bürger für dieses Projekt der katholischen Kirche in Polen ihren Ausdruck finden könnte. Ich würde mich aber sehr freuen, wenn das Projekt der katholischen Kirche in Polen nicht nur die Unterstützung der katholischen Kirche bei uns, sondern auch der evangelischen Kirche fände. Das heißt, alle gesellschaftlichen Kräfte werden aufgerufen sein.
Ein erster Schritt ist getan worden durch die Verabschiedung der Stiftungsgesetzgebung im polnischen Parlament. Die katholische Kirche Polens steht im Augenblick in Verhandlungen mit der Regierung über die Stiftung selbst, für die das Gesetz nur eine Grundlage bieten kann. Wir haben die Erwartung und Hoffnung, daß diese Verhandlungen noch in diesem Jahr abgeschlossen werden können, weil dann eine westliche Hilfe möglich wäre, wobei wir auch daran denken, daß die Europäische Gemeinschaft zu dieser Stiftung beitragen sollte. Innerhalb der Kommission der Europäischen Gemeinschaft wird ein Mandat für Gespräche dieser Art derzeit auf Antrag der Bundesregierung vorbereitet.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde — durch Zeitablauf, nicht am Ende der Fragen. Da hätten wir noch eine ganze Menge. Ich danke dem Bundesminister des Auswärtigen für die Beantwortung der Fragen.
Das Wort zur Geschäftsordnung ist verlangt worden vom Abgeordneten Becker . Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir alle haben das Gefühl gehabt, daß der Herr Bundesaußenminister hier zu einer Reihe von Fragen deutliche und klare Antworten gegeben hat. Er hat auch noch einmal ausdrücklich betont, daß es gar keinen Zweifel daran geben kann, daß er für die Bundesregierung spricht. Wenn Sie in die Liste der Fragen für diese Fragestunde sehen, werden Sie feststellen, daß die eine oder andere Frage noch einer näheren Erörterung bedarf.
Deswegen beantrage ich im Namen der SPD- Bundestagsfraktion gemäß § 106 unserer Geschäftsordnung in Verbindung mit Anlage 5 I 1 b eine Aktuelle Stunde.
Sie müssen das Thema noch genauer beschreiben.
Falls es noch irgendeinen Zweifel geben sollte, meine Damen und Herren: zu den Fragen, die in der Drucksache für die Fragestunde hier noch nicht ausreichend erörtert worden sind.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 b der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu den Antworten der Bundesregierung auf die Mündlichen Anfragen, die wir gehört haben, beantragt. Ich darf das einmal zusammenfassen unter dem Stichwort „deutsch-polnische Beziehungen". Ich glaube, daß ich das nicht falsch gesagt habe. Die Aussprache muß nach 2 a der Richtlinien unmittelbar nach Schluß der Fragestunde durchgeführt werden.
Wir treten ein in die
Aktuelle Stunde Deutsch-polnische Beziehungen
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Dr. Ehmke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom Mai 1983 versichert, daß die Bundesregierung nicht nur die Ostverträge selbstverständlich einhalten wird, sondern daß sie Aussöhnung und Verständigung mit Polen will, wie sie in beispielhafter Form von den Kirchen eröffnet wurden. Diese Erklärung von Bundeskanzler Kohl entspricht dem Geist der Entspannungspolitik, deren Frucht der Warschauer Vertrag ist. Äußerungen von Bonner Regierungsmitgliedern haben aber seitdem, im Gegensatz zu dieser Regierungserklärung, Aussöhnung und Verständigung mit Polen nicht gefördert, sondern gestört, und der Herr Bundesaußenminister war nicht in der Lage, uns diesen Widerspruch zu erklären. Wir möchten daher den Hauptpunkt in dieser Aktuellen Stunde vertiefen, um der Bundesregierung eine zusätzliche Gelegenheit zu geben, aufgekommene Zweifel an ihrer Vertragstreue und ihrem Verständigungswillen auszuräumen.Wir haben in der Fragestunde über die Korrektur einer verfehlten Äußerung des Staatsministers im Kanzleramt, Vogel, gesprochen. Ich danke dem Bundesaußenminister für seine Stellungnahme dazu. Diese Korrektur ist zu Recht erfolgt; denn in Art. 1 des Warschauer Vertrages hat die Bundesrepublik die heutige westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen für sich anerkannt und erklärt,
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5338 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Dr. Ehmke
daß sie gegen Polen keinerlei Gebietsansprüche habe und solche auch in Zukunft nicht erheben werde.Der Herr Kollege Rühe hat in einem Vortrag während seines Besuches in Warschau den Art 1 unter Weglassung dieser Vertragsklausel auf eine bloße Gewaltverzichtserklärung zu reduzieren versucht. Ich kann einen solch leichtfertigen Umgang mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nur bedauern.
Die Bundesrepublik hat die Westgrenze Polens anerkannt. Sie konnte es — darin besteht Übereinstimmung — nur für sich tun. Denn einmal steht ein Friedensvertrag noch aus, zum anderen haben wir keinen Alleinvertretungsanspruch für Deutschland als Ganzes. Insofern muß — das ist vom Bundesverfassungsgericht für alle Staatsorgane der Bundesrepublik bindend festgestellt — von unserer Seite der Vorbehalt einer endgültigen Regelung durch einen Friedensvertrag gemacht werden, auch wenn das unsere polnischen Nachbarn stört.Der politische Vorgang ist aber doch der: Wer statt politischer Versöhnung und Verständigung auf der Basis des Warschauer Vertrages diesen historischen Rechtsvorbehalt in den Mittelpunkt unserer Politik gegenüber Polen rückt, der vergiftet nicht nur unser Verhältnis zu Polen, sondern der macht auch den Vertriebenen etwas vor.
Die Rechte und Verantwortlichkeiten für Deutschland als Ganzes und Berlin liegen bei den vier Siegermächten. Diese haben sich in 40 Jahren noch nicht einmal auf die Einberufung einer Friedenskonferenz einigen können. Aber selbst wenn eine solche Konferenz zustande käme, ist doch jedem klar, daß eine Friedensregelung für Europa auch der Zustimmung der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen und der DDR bedarf. Es ist also nicht nur realistischer, sondern auch ehrlicher, vor allem gegenüber den Vertriebenen ehrlicher, von dem durch den Hitler-Krieg in Europa geschaffenen Status quo auszugehen, um durch eine Politik der Versöhnung und Verständigung eine den alten Streit überwindende Friedensordnung in Europa zu schaffen, in der sich alle Europäer zu Hause fühlen können.Verehrte Kollegen von der Union und besonders aus den Vertriebenenverbänden, das ständige Pochen auf den Rechtsvorbehalt für Deutschland als Ganzes wirkt doch ganz falsch in den Osten hinein. Denn da dieses Pochen politisch gar nicht operabel ist — seit 40 Jahren nicht operabel ist —, ruft es in Polen und auch im übrigen Osteuropa den Eindruck einer revisionistischen Politik hervor, und in einer Situation zunehmender Konfrontation zwischen den Großmächten wohl auch Angst vor einer neuen Politik des „roll-back".
Wenn Sie sagen, dafür könnten Sie nichts, muß ichantworten: Dafür können Sie sehr wohl etwas,wenn Sie die Forcierung dieser Frage betreiben. Siesollten sich lieber einmal die Frage stellen, ob das nicht nur den falschen Leuten dient.
Ein kurzes Wort zu einem zweiten Punkt. Im dem Memorandum der Schlesischen Jugend wird gefordert, Umschuldung und wirtschaftliche Hilfe an Polen von einem bestimmten Verhalten der polnischen Regierung gegenüber den Deutschen in Polen abhängig zu machen. Ich danke dem Bundesaußenminister, daß er diesen Ratschlag abgelehnt hat.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
Wir bitten die Bundesregierung aber angesichts der Widersprüche zwischem dem, was der Bundesaußenminister gesagt hat, und dem, was in den letzten Wochen und Monaten von anderen Regierungsmitgliedern gesagt worden ist, auch in den Restfragen für völlige Klarheit zu sorgen.
Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner Regierungserklärung im Mai 1983 hat Bundeskanzler Kohl namens der Bundesregierung an die Adresse Polens gesagt: ,,Geschlossene Verträge gelten." Das ist eine gradlinige und unmißverständliche Aussage. Sie gibt zugleich auch die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion wieder.
Herr Ehmke, Sie sollten aufhören, daran Zweifel wecken zu wollen, und vielmehr zur Kenntnis nehmen,
was ich im Namen meiner Fraktion hier nur erneut wiederholen kann.Der Warschauer Vertrag mit der Volksrepublik Polen gilt vom ersten bis zum letzten Buchstaben uneingeschränkt. Es gilt die Grenzfeststellung des Art. I — so wie ich es auch in Polen gesagt habe —, es gilt die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, es gilt, daß keinerlei Gebietsansprüche erhoben werden, und es gilt natürlich auch der Gewaltverzicht des Art. II. Ebenso aber, lieber Herr Professor Ehmke, gilt die Unberührtheitsklausel des Art. IV. Sie betrifft z. B. auch Art. 7 des Deutschlandvertrages, der die entgültige Regelung der Grenzen Deutschlands einem Friedensvertrag vorbehält.
Mit dem Abschluß des Warschauer Vertrages hat die Bundesrepublik Deutschland das Mögliche und das Nötige getan, was sie im eigenen Namen tun konnte. Und das gilt uneingeschränkt. Sie wäre allerdings nicht in der Lage, auf Rechte zu verzichten, über die sie gar keine Verfügungsgewalt besitzt, nämlich die Rechtslage Deutschlands. Man muß diese beiden Bereiche sehr sorgfältig auseinander-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5339
Rühehalten, und man darf dabei, Herr Ehmke, weder vereinfachen noch verkürzen,
auch nicht dadurch, daß Sie meinen Vorschlag eben nicht in Gänze zur Kenntnis nehmen.
Im Unterschied zu Ihnen rede ich in Bonn genauso wie in Warschau und in Warschau genauso wie in Bonn.
Ich muß ihnen sagen: Uns ist von polnischen Gesprächspartnern nach meiner Rede gesagt worden, lieber Herr Ehmke — die im übrigen auch von offizieller polnischer Seite durchaus positiv aufgenommen worden ist —: Wir wissen, daß auch die Sozialdemokraten die gemeinsame Entschließung des Bundestages genauso wie Sie unterschrieben haben. Aber die Sozialdemokraten haben in Warschau davon nie oder nur sehr selten gesprochen. Sie reden jetzt auch in Warschau von dem, was Sie in Bonn beschlossen haben.Das ist eben das, was uns trennt. Ich sage: Es ist friedensstiftender, Herr Ehmke, wenn man das, was man in Bonn unterschreibt - Sie haben es noch einmal im Februar dieses Jahres gemacht —, auch in Warschau genauso vertritt.
Ich wiederhole: Der Fortbestand des Deutschen Reiches in seinen völkerrechtlich anerkannten Grenzen ist das eine; die Verpflichtungen, die die Bundesrepublik im Warschauer Vertrag auf sich genommen hat, sind das andere. Beides sind komplementäre Tatbestände, weil sie nur zusammen ein vollständiges Bild von der deutschen Frage vermitteln, die eben nach wie vor offen ist.
Ich meine, es ist allein schon ein Gebot der Redlichkeit, dieses in aller Offenheit anzusprechen. Wir wollen jedenfalls für jeden berechenbar sein. Deshalb setzen wir auf Ehrlichkeit, auf Klarheit und auf Wahrheit. Das ist gut für das deutsch-polnische Verhältnis.
Meine Damen und Herren, weder die polnische noch die deutsche Seite sind in der Lage, die deutsche Frage jetzt oder für die überschaubare Zukunft zu lösen. Deshalb sollten sich beide Seiten nach meiner Auffassung darauf verständigen, dieses derzeit unlösbare Problem nicht dauernd in den Mittelpunkt der gegenseitigen Beziehungen zu rükken.
Deshalb plädiere ich keineswegs dafür, die vorhandenen Meinungsunterschiede nun zu unterdrückenoder zu ignorieren; denn durch ihr Verschweigen oder Beschönigen können sie j a nicht behoben werden. Ich plädiere aber nachdrücklich dafür, mit diesen Meinungsunterschieden in einer Weise umzugehen, daß sie nicht als ständiges Störpotential in den gegenseitigen Beziehungen wirksam werden.
— Sie sollten sich einmal überlegen, ob man wirklich um erhoffter innenpolitischer Vorteile willen so mit dem deutsch-polnischen Verhältnis umgehen soll, wie Herr Ehmke das hier getan hat.
Wenn beide Seiten den guten Willen haben — für uns trifft das jedenfalls zu —, dann muß es doch möglich sein, darin übereinzustimmen, daß man nicht in allem übereinstimmt, um sich sodann konstruktiven Themen zuzuwenden, die man zum beiderseitigen Nutzen regeln kann.Hierfür bietet Art. III des Warschauer Vertrags den geeigneten Ansatz; denn auf der festen Grundlage des Vertrags haben sich beide Seiten zur weiteren Normalisierung und Entwicklung der deutschpolnischen Beziehungen ebenso verpflichtet wie zu einer umfassenden Zusammenarbeit in allen Bereichen. Dieser Ansatz ist konstruktiv, weil er nach vorn weist anstatt nach rückwärts. Er ist vorteilhaft für beide Seiten, weil er Taten praktischer Politik zum Ziel hat. Er sollte daher zum Angelpunkt der deutsch-polnischen Beziehungen gemacht werden. Den Nutzen davon hätten die Menschen in beiden Staaten.Lassen Sie mich vor dem Hintergrund jüngster Irritationen abschließend noch einen Punkt aufgreifen, den man im deutsch-polnischen Verhältnis gar nicht hoch genug bewerten kann; ich meine den Umgang miteinander. Gerade weil unser gegenseitiges Verhältnis schwierig ist und schwierig bleiben wird, brauchen wir viel Vernunft und Gelassenheit miteinander. Emotionen sind kein Ersatz für eine besonnene und sachliche Politik, die allein zu praktischen Ergebnissen führen kann.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
Wir wollen Aussöhnung und Verständigung mit dem polnischen Volk, wir wollen die gegenseitigen Beziehungen qualitativ verbessern. Wir wollen praktische Hilfe leisten, wo sie am dringlichsten ist.
— Wir wollen gute Nachbarn sein, Herr Ehmke, und wir laden die Polen ein, uns dabei ein Partner zu sein.Schönen Dank.
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5340 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Das Wort hat der Abgeordnete Horacek.
Herr Präsident! Das politische Verhalten von Teilen der CDU/CSU, wie wir es jetzt gerade mitbekommen, brachte uns heute eine Aktuelle Stunde, in der, wie ich meine, die alten Gegensätze damals zwischen CDU/CSU auf der einen Seite und SPD/FDP auf der anderen Seite nicht noch einmal ausgetragen werden sollten. Aber angesichts der Fragen und auch der Antworten, die ich eben in der Fragestunde mitbekommen habe, möchte ich für die GRÜNEN im Bundestag in dieser Aktuellen Stunde unmißverständlich und in aller Deutlichkeit erklären, daß wir den Abschluß des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen für einen großen Fortschritt in den Beziehungen zwischen beiden Staaten und auch zwischen den beiden Völkern halten. Es war notwendig, wichtig und richtig, dies zu tun.
Wir wissen wohl, daß die neue Ostpolitik sehr gut in die ökonomischen Interessen der Herrschenden in Ost und West paßte und zu einem Schritt auf dem Weg der immensen Verschuldung Polens gegenüber den westlichen Banken wurde. Wir wissen auch, daß die neue Ostpolitik gut in das Konzept der beiden Supermächte paßte, die in zweiseitigen Geheimverhandlungen die zentralen Fragen der Rüstung über die Interessen der kleineren Staaten hinweg besprechen wollten,
und daß diese Geheimgespräche nicht mehr Abrüstung, wie versprochen, sondern Aufrüstung und noch mehr Aufrüstung brachten. Trotzdem sind die damaligen Ostverträge für uns die vertragliche Basis, von der eine Neuregelung unseres Verhältnisses zu den osteuropäischen Staaten und Völkern ausgehen muß. Die Anerkennung der Oder-NeißeGrenze half, gegenseitige Feindbilder abzubauen, und ist ein positiver Schritt gewesen.
Die CDU/CSU hat seit langem die Ostverträge faktisch als Grundlage ihrer Politik akzeptiert. Wenn sie aber trotzdem in ihren Reihen immer wieder Stimmen zuläßt, die vom „Offenhalten der Grenzfrage" sprechen, müssen wir das als eine Rückkehr zu einer schon früher falschen Politik der Stärke und als eine unehrliche Ausnutzung der leidvollen Erfahrungen der Heimatvertriebenen verurteilen. Übrigens geben solche Außerungen in Polen auch Anlaß, von den innenpolitischen Problemen abzulenken und revanchistische Kräfte in der BRD als große Gefahr aufzubauen.
Wir wissen, daß die beiden deutschen Staaten nach wie vor keinen Friedensvertrag haben und daß die staatlichen Regelungen in Europa nach 1945 unter Verletzung der Selbstbestimmung der Völker geschaffen wurden. Doch wird es Lösungen für diese offenen Fragen nicht auf dem Wege von Gebietsansprüchen und durch Bestehen auf moralisch nicht legitimierten Rechtspositionen geben.
Wir GRÜNEN streben ein Europa an, in dem die Grenzen zwischen den Völkern überflüssig werden und das Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalität in einer Region zu gegenseitiger kultureller Bereicherung und Befruchtung beiträgt. Eine solche Politik ist mit Gebietsansprüchen des einen Staates an den anderen in der gewachsenen historischen Situation Europas nicht vereinbar. Die Kräfte, die ein solches Europa mit uns formen wollen, sehen wir in den demokratischen Basisbewegungen in West- wie in Osteuropa, zu deren wichtigsten wir die heute verbotene „Solidarnosc" in Polen zählen.
Für eine solche Politik aber haben wir — auch in diesem Hause — nicht immer Verständnis gefunden; es sind immer wieder Politiker auch dieses Hauses nach Polen gefahren, haben aber keine Zeit oder keinen Mut gefunden, mit Mitgliedern der „Solidarnosc" und des KOR zu sprechen. Diesem Verhalten setzen wir unsere Überzeugung gegenüber, daß die notwendige vertragliche Regelung des Verhältnisses der Staaten zueinander leblos und im Interesse der Herrschenden manipulierbar bleibt, wenn sie sich nicht auf die Verständigung der Menschen untereinander und auf den Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften stützt, gleichgültig, ob sie verboten sind oder nicht, d. h. auch mit der „Solidarnosc".
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß sich all diejenigen, die an dieser gegenwärtigen Auseinandersetzung beteiligt sind, der Sensibilität des Themas, mit dem wir uns heute befassen, bewußt sind. Aber ich habe daran Zweifel. Ich denke dabei an das Wort, das der Herr Bundesaußenminister vorhin in einer Antwort auf eine Frage ausgesprochen hat: Mehr wäre weniger. Ich glaube, daß das, was der Bundesaußenminister zu den Fragen hier heute ausgeführt hat, so eindeutig und klar war, daß es eigentlich nicht einer Aktuellen Stunde bedurft hätte, um hier mehr auszusprechen, als bisher gesagt worden ist.
Dennoch sage ich Ihnen, meine Damen und Herren: Für einen Vertreter der FDP-Fraktion ist es leicht, sich zu der angesprochenen Frage zu äußern, denn ich stehe hier auf einem festen Grund der Kontinuität und des Durchhaltens einer konsequenten Haltung, die wir seit langem beziehen. Ich brauche hier nichts zu ändern!
Deswegen bitte ich Sie, wenn wir schon über dieses so sensible Thema sprechen, sich mit mir noch einmal an einen jener Ausgangspunkte zu erinnern, die u. a. zum Warschauer Vertrag geführt haben. Das war die Denkschrift der Kammer für öffentli-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5341
Ronneburgerche Verantwortung der evangelischen Kirche. Ich zitiere hier nur ganz wenige Sätze.An dieser Stelle — so heißt es —wird auch deutlich, daß der negative Begriff Verzicht eine ganz und gar unzulängliche Bezeichnung für den deutschen Beitrag zu einer Friedensregelung ist, die eine neue Partnerschaft zwischen Völkern begründen soll. Wenn die künftige Regelung der Gebietsfragen das Verhältnis zwischen den beteiligten Völkern stabilisieren soll, dann muß sie das Ergebnis eines wirklichen Dialogs und Ausdrucks des Willens zur Versöhnung sein.Um dies und um nichts anderes, meine Damen und Herren, geht es in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschland.Wenn wir von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt ausgehen und wenn wir noch einmal nachverfolgen, wie es dann zum Warschauer Vertrag gekommen ist, dann möchte ich Ihnen in der SPD- Fraktion gerade angesichts dieser Aktuellen Stunde noch einmal sagen, was Willy Brandt, der damalige Bundeskanzler, in seiner Erklärung am 20. November 1970 gesagt hat:Der Vertrag bedeutet selbstverständlich nicht, — so hat er ausgeführt —daß Unrecht nachträglich legitimiert wird.
Er bedeutet also auch keine Rechtfertigung der Vertreibung. Worum es geht, ist der ernste Versuch, ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg der Kette des Unrechts politisch ein Ende zu setzen.
Ich füge hinzu: Wenn das richtig ist — ,,... der Kette des Unrechts ein Ende zu setzen" —, dann bedeutet dies selbstverständlich auch eine Abkehr von allem zukünftigen oder heute geschehenden Unrecht. Damit ist eine Petition, die die Einklagung von Menschenrechten und ihre Durchsetzung zum Ziel hat, an sich noch keine Verletzung von Geist und Buchstaben dieses Vertrages.
Der Bundesaußenminister hat deutlich genug ausgeführt, daß diese Grundsätze für die Koalitionsfraktionen und die Regierungspolitik insgesamt gelten. Der Fehler in der Veröffentlichung — der Bundesaußenminister hat es gesagt — ist korrigiert worden. Wir wissen, wie genau unsere Nachbarn unsere Politik und unsere Aussagen verfolgen. Deswegen, meine ich, wäre die Korrektur dieses fehlerhaften Ausdrucks eigentlich genug gewesen, um Klarheit zu schaffen. Aber ich bin der Meinung, die Opposition sollte sich fragen lassen, ob sie ihrer Verantwortung als Opposition dieses Hauses und gegenüber der von ihr selbst damals betriebenen Regierungspolitik gerecht wird, wenn sie eine Aktuelle Stunde als Vehikel benutzt, um Zweifel in diePolitik der Bundesregierung gegenüber der Volksrepublik Polen zu säen
und Interpretationen des Vorganges zu liefern, die in Polen nicht Sicherheit und Vertrauen in die Verläßlichkeit der Bundesrepublik, sondern Mißtrauen wecken könnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fordere uns alle auf, von einer Politik des Zeitalters der Nationalstaaten abzugehen, in dem es das Ziel der Politik war, Grenzen zu verschieben. Wir sollten heute eine Politik betreiben, die Grenzen durchlässig macht, sie überwindet — im Interesse der Menschen auf beiden Seiten dieser Grenze.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wir, Herr Ronneburger, haben nach den Erklärungen, die der Bundeskanzler zur Einhaltung früherer Verträge hier abgegeben hat, eigentlich nicht erwartet, daß wir einmal in einer Aktuellen Stunde über territoriale Überlegungen reden müßten, die im Zusammenhang mit den Ostverträgen stehen und die eigentlich seit einem Dutzend Jahren aus der Diskussion waren. Wenn sich aber Abgeordnete aus dem Regierungslager an Unterschriftslisten beteiligen, die dann, wie wir heute erfahren, mit Texten zusammengebracht werden, die insgesamt unerträglich sind, so daß man sich nachher wieder von Teilen absetzen muß,
wenn wir von zweifelhaften Vorträgen hören,
wenn Staatsminister Petitionen unbesonnen kommentieren lassen,
dann erinnern wir uns natürlich auch an das, was Herr Zimmermann im Januar vor den Vertriebenen gesagt hat.
Das hat immerhin die polnische Regierung im Februar zu einer Demarche veranlaßt.
— Sie versuchen jetzt, meine fünf Minuten Redezeit durch Zwischenrufe zu stören. Aber ich sageIhnen: Wir können und wir werden hier nichts
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5342 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Frau Huberdurchgehen lassen; wir werden nichts durchgehen lassen!
— Das Thema ist viel zu ernst, meine Damen und Herren.Mit den Verträgen, die endlich ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg unter Führung der SPD einen Anfang gemacht haben, haben wir versucht, das Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn zu normalisieren. Das war nach der Aussöhnung mit Frankreich der bedeutendste Beitrag zum Frieden, der hier in Europa geleistet worden ist.
Und nun melden sich hier schon Gruppen. Die Aktion „Sühnezeichen" — gerade habe ich das in die Hand bekommen — warnt vor einer unbesonnenen Diskussion, aus der nur Böses wachsen kann.
Der Außenminister hat ja recht, wenn er zur Zurückhaltung mahnt. Aber, liebe Kollegen, in dieser Fragestunde war die Zurückhaltung, die er verlangt hat, auch nicht gerade sehr deutlich zu spüren. Das haben wir so empfunden.Im Polen-Vertrag haben wir uns unmißverständlich und ohne Vorbehalt zu den jetzigen Grenzen bekannt. Das haben wir nicht in leichtfertiger Freude darüber getan, daß unsere Ostgebiete verlorengegangen sind.
Das sagt Ihnen jemand, dessen Familie in Pommern wohnte und der in Pommern geboren ist. Der Verlust der Heimat hat wehgetan. Ich stehe überhaupt nicht an, das hier zu bekennen.Aber ich sage Ihnen ganz genauso, daß die neuen Grenzen das Ergebnis eines Krieges sind, den nicht die Polen verschuldet haben. Ich möchte nicht, daß wir durch solche Diskussionen einen neuen Streit aufreißen und eine Gefahr heraufbeschwören, in der schließlich mehr Menschen umkommen könnten, als in den Grenzen von 1937 gelebt haben.
Vielleicht würde ein solcher Krieg die Grenzfragen überflüssig machen, weil es nachher gar keine Leute mehr gäbe, die diese Grenzen brauchen könnten.
— Ja, wir unterscheiden uns von Ihnen, indem wir eine klare Sprache sprechen. Das muß hier mal gesagt werden.
Der Frieden hängt nicht immer nur von den anderen ab. Er hängt auch von einem selber ab.
Und da muß man, wenn man Verträge schließt, verläßlich und berechenbar bleiben. Und relativierende Textauslegung
oder simple Forderungen und, ich sage Ihnen, auch Wünsche, die immer wieder aus Ressentiments hochkommen, würden nur eine neue Generaldiskussion anzünden, die das Erreichte gefährden würde, statt es zu stärken. Der Frieden ist in der Welt gerade jetzt nicht so sicher, daß wir dies alles brauchen können.
Sie erweisen den Vertriebenen nach auch meiner Meinung einen schlechten Dienst — wie Herr Ehmke schon gesagt hat —, wenn Sie sie glauben machen, die Ostverträge seien ohne weiteres und ohne Gewaltanwendung einfach so zu haben. Ich sage Ihnen: Das ist nicht der Fall. Wir bekennen uns zu dem Vertrag. Und bezüglich Gewalt waren wir uns ja alle einig in der Ablehnung.Im übrigen reden wir hier ja nicht bloß über die Bundesrepublik und Polen. Dies registrieren alle Nachbarn im Osten mit großer Aufmerksamkeit.Meine Familie wurde durch den Krieg zerrissen. Vielleicht bei Ihnen nicht jede. Aber mein Bruder, der in der DDR lebt, hört auch, was wir zu diesem Thema sagen. Und sosehr ich mir wünsche und so schön es wäre, daß er und seine Familie mich häufiger besuchen könnten, so schlimm wäre es, wenn uns durch eine neue kriegerische Auseinandersetzung noch mehr passieren würde, als uns vor 40 Jahren schon passiert ist. Wir haben ein Stück Verantwortung für den Frieden auf dieser Welt, auch wenn wir uns die historischen Stunde — —
— Ich rede davon, daß die Äußerungen, die hier gefallen sind — —
— Ich unterstelle nicht dem ganzen Parlament und nicht der ganzen Regierung.
Ich unterstelle nicht der ganzen Regierung undnicht dem ganzen Parlament solche Absichten.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5343
Frau HuberAber ich warne vor all jenen Kollegen, die hier oder draußen vor Gruppen reden,
kein Feuer anzuzünden, das wir alle nicht mehr austreten können.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fragen betrafen Staats- und Völkerrecht. Aber, Herr Dr. Ehmke, Sie bezeichneten j a das Recht als inoperabel.
Wenn man Ihnen zuhörte, zeigte sich doch deutlich, daß es das politische Ziel ist, die Verträge teilweise im Widerspruch zu ihrem Wortlaut und Sinn und entgegen dem Grundgesetz auszuweiten.Ich stelle dem die klare Meinung entgegen, daß man von der Rechtslage ausgehen muß, wenn man einen geschichtlichen Ausgleich zugunsten unseres Volkes, der Nachbarn und des europäischen Gemeinwohls wirklich will. Ich erkläre dazu aber auch mit großem Ernst: Politisch darf dahinter natürlich nicht das Ziel stehen, andere zu unterdrücken, überheblich zu beherrschen, andere zu vertreiben oder zu verdrängen. Herr Ehmke, das habe ich von Jugend an vertreten. Vielleicht waren Sie früher einmal anderer Meinung. Das vertritt die Charta der deutschen Heimatvertriebenen.Ich meine, daß eine freiheitliche und föderale gesamteuropäische Ordnung der Staaten, Völker und Volksgruppen nicht ausgeschlossen ist; ausgeschlossen ist darin auch nicht eine tragbare Lösung, auch für die Folgen der Massenvertreibung, ausgehend vom Recht. Das ist möglich. Das war früher auch die Auffassung des Godesberger Programms, meine Damen und Herren.
Wer vom Recht völlig abweicht, Herr Ehmke, ist schon auf der Bahn des Unrechts.
Nach Völker- und Verfassungsrecht ist die deutsche Frage offen, einschließlich der Gebiete östlich von Oder und Neiße.
Die Sieger gingen 1944 in Art. 1 des Londoner Abkommens von Deutschland in den Grenzen von 1937 aus und lehnten in der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 jede Annexion vor friedensvertraglichen Regelungen ab, die auch das allgemeine Völkerrecht neuerdings nicht zuläßt.Der Deutschlandvertrag verpflichtet uns und den Westen seit 1952, daß die Grenzregelung bis zu frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelungen verschoben werden muß. Sie können, Herr Ehmke, darüber hinaus keinen völkerrechtlich gültigen Akt der Gebietsübertragung und Grenzanerkennung der Teilung Deutschlands nachweisen. Die zwei Staaten in Deutschland hatten dazu übrigens keine Kompetenz. Das wissen Sie.Die Viermächteverantwortung für ganz Deutschland besteht fort. Die Westmächte haben im August/November 1970 zu den Ostverträgen durch Notenwechsel auf der vollen Geltung des Londoner Abkommens von 1944 bestanden.
Polen hat in Art. IV des Warschauer Vertrags — das wissen Sie genau und sagen es hier nicht —
die Unberührtheit des vorerst Grenzverschiebungen ausschließenden Art. 7 Abs. 1 des Deutschlandvertrages ausdrücklich hingenommen, was leider die Führungsschicht dort verschweigt. Art. I des Warschauer Vertrages beschreibt eine Lage, anerkennt sie aber nicht. Sie beschreibt, was gegenwärtig die bestehende Grenzlinie bildet, sagt aber nicht, daß sie die Grenze ist. Bei Verträgen von politischer Natur verpflichtet nur der eindeutige Wortlaut zum Handeln. Eine Anerkennungsverpflichtung ist in der Beschreibung nicht enthalten,
wohl aber die Verpflichtung zum Unterlassen der Gewalt.
Gromyko, Herr Ehmke, Vertreter der sowjetischen Siegermacht, bestätigte den Deutschen am 29. Juli 1970: Die Ostverträge sind keine Grenzanerkennungsverträge, sondern konkretisierte Gewaltverzichtsverträge.
Scheel erklärte emphatisch am 9. Februar 1972 vor dem Bundesrat, niemand könne ihm aus dem Text eine Grenzanerkennung oder Gebietsübertragung beweisen. Herr Ehmke, es ist schlecht, wenn deutsche Politiker zum Schaden Deutschlands weitergehen als Gromyko
und sich gegen die Verbündeten stellen, die bei den Ostverträgen keinen Quadratmeter aus ihrer Siegerverantwortung ersatzlos preisgegeben haben.Aber das dürfen wir als Staatsorgane auch nicht. Regierung, Beamte, Amtsträger bis hin zum Bundespräsidenten sind auf das Grundgesetz vereidigt.
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5344 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Dr. CzajaDen Abgeordneten würde das vielleicht auch nicht schaden. Die Präambel des Grundgesetzes gebietet, die nationale und staatliche Einheit bis zu frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelungen und einer freien Entscheidung des ganzen deutschen Volkes zu wahren,
Art. 23, sich für alle anderen Teile Deutschlands offenzuhalten.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
Bei der Vertretung der deutschen Staatsangehörigkeit geht es nicht ohne Vertretung des territorialen Bezugs.
Aus der Mitverantwortung für ganz Deutschland darf sich niemand entfernen. Meine Damen und Herren, nicht von der Bundesrepublik Deutschland geht der Wille zur Unterdrückung des polnischen Volkes aus.
Danke.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Feststellung des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 gilt: Geschlossene Verträge gelten, wir wollen sie nutzen zum Ausbau unserer Beziehungen. Das bedeutet auch, daß wir keinen der geschlossenen Verträge, auch nicht den deutsch-polnischen Vertrag, in Frage stellen, weder dem Worte noch dem Sinne nach. Beide Vertragspartner haben damals erklärt, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche erheben und auch in Zukunft nicht erheben werden.
Meine Damen und Herren, an diesen Aussagen ist nichts zu deuteln.
Ich versuche, Herr Kollege, hier einen Beitrag dazu zu leisten, daß vielleicht in dieser Aktuellen Stunde doch noch das erhalten bleibt, was uns von Anfang an gemeinsam bewegt hat, wie immer wir zum deutsch-polnischen Vertrag am Anfang standen, nämlich daß die Aussöhnung mit dem polnischen Volk eine der großen Friedensaufgaben der Deutschen für die europäische Zukunft ist.
Deshalb wiederhole ich, was ich in der Fragestundegesagt habe: Das, was zwischen Deutschen und Polen nach dem Kriege geschehen ist, was durch diesen Vertrag im Bewußtsein der Völker geschaffen wurde, gehört zu den kostbarsten Ergebnissen deutscher Nachkriegspolitik.
Wir wollen sorgsam, wir wollen behutsam damit umgehen, wir wollen nichts tun, was Zweifel an der Ehrlichkeit unserer Absichten erheben kann.
Meine verehrten Kollegen, wir wollen auch nichts tun, was anderen Gelegenheit gibt, unter Berufung auf Erklärungen hier im Deutschen Bundestag Zweifel an der Aufrichtigkeit von Kollegen des Deutschen Bundestages zu hegen, die damals dem deutsch-polnischen Vertrag ihre Zustimmung nicht gegeben haben. Wir sollten auch nicht Mißtrauen säen; denn es eint uns doch alle: daß diese deutschpolnische Aussöhnung von niemandem in Frage gestellt werden darf.
Wir wissen, was es bedeutet hat, diesen Vertrag zu schließen, und wir wissen, was es bedeutet hat, dafür die politische und innere Zustimmung von Menschen zu bekommen, die als Ergebnis der Nachkriegsentwicklung ihre Heimat verloren haben.Lassen Sie mich auch hier wiederholen, was mich beim deutsch-polnischen Verhältnis bewegt. Wir Deutschen haben in der Vergangenheit so oft im Gegensatz zu unseren Nachbarn leben müssen und gelebt. Wir haben oft auch selber die Ursachen dafür gesetzt. Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg unsere nationalen Interessen in das europäische Schicksal eingebettet. Das ist unser Beitrag, und da ist nicht zwischen den Deutschen der Bundesrepublik und der DDR zu unterscheiden, und es nicht zwischen den Deutschen, die hier geboren sind, und denen zu unterscheiden, die als Vertriebene hierher gekommen sind. Deutsche Friedenspolitik ist die Friedenspolitik aller Bürger hier in der Bundesrepublik Deutschland.
Deshalb möchte ich an die Adresse derjenigen, die heute gegen unser Land erneut den Vorwurf des Revanchismus erheben, sagen: Es war eine historische Friedensleistung, es ist eine historische Friedensleistung, daß die Vertriebenen trotz des Verlustes ihrer Heimat hier nicht nur als gute Demokraten, sondern als Anwälte der deutsch-polnischen Aussöhnung leben, und das sollte niemand in Zweifel stellen.
Es ist die große Leistung der Politik der Aussöhnung, daß nach Jahrhunderten, in denen Deutsche und Polen fruchtbare Phasen ihrer Verbindungen und schreckliche Phasen hatten, ein Teufelskreis ein für allemal unterbrochen wurde, wo ein Unrecht mit dem anderen beantwortet und damit die Quelle
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5345
Bundesminister Genscherfür neues Unrecht gelegt wurde. Das ist unsere Friedenspolitik, die wir gemeinsam tragen.
Daran soll man uns messen, und wir wünschen, daran auch in Polen gemessen zu werden, damit dort nicht Mißtrauen gesät werden kann. Es ist wichtig, daß wir alle unsere Worte in dieser sehr empfindlichen Frage sehr wohl wägen.Leisten wir auch nicht denen Vorschub, die bei unseren Nachbarn erneut Mißtrauen gegen uns säen wollen.
Auf unserer Seite jedenfalls gibt es im deutsch-polnischen Verhältnis — und das nehmen wir für uns in Anspruch — keine Unterschiede in der Aufrichtigkeit des Willens zur Versöhnung. Es gibt aber auch keine unterschiedlichen politischen Auffassungen im polnischen Volk, unter den polnischen Menschen hinsichtlich der Notwendigkeit, in sicheren und unbestrittenen Grenzen leben zu können.
Meine Damen und Herren, ich möchte uns alle bitten, daß wir den Rest dieser Aktuellen Stunde dazu nutzen, den Blick nach vorne zu richten und zu sagen: Wir wollen auf der Grundlage der gültigen, unbestrittenen und unbestreitbaren Verträge
für das deutsch-polnische Verhältnis weiterarbeiten. Wir, der Deutsche Bundestag, und wir, die Bundesregierung, werden alles tun, daß der Wille zur Zusammenarbeit mit dem polnischen Volk auch darin seinen Ausdruck findet, daß wir die Absicht, die Bemühungen der katholischen Kirche in Polen, die polnische Landwirtschaft durch eine Stiftung zu entwickeln, zu modernisieren
und damit auch die Lebensverhältnisse der einzelnen Bürger in Polen zu verbessern, nachhaltig unterstützen.Tun wir alles, damit uns die Menschen in ganz Europa an unseren Worten, aber auch an unseren Taten messen können! Appellieren wir an andere, daß sie nicht ein Volk, das die Lehren aus seiner Geschichte gezogen hat, und daß sie nicht eine Gruppe in diesem Volk, die durch die Vertreibung selbst bitteres Unrecht erleiden mußte, in einen Zweifel ziehen, den sie nicht verdienen: weder die Deutschen insgesamt noch die Vertriebenen unter uns.Bleiben wir dabei: Unsere Politik der Wahrnehmung unserer nationalen Interessen wird nur dann Erfolg haben können, wenn wir sie immer und in jeder Frage als europäische Friedenspolitik verstehen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmitt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erklärung des Bundesaußenministers, die vorausgegangene Fragestunde und diese Aktuelle Stunde beweisen, wie notwendig und richtig es war, daß wir die Irritationen, die Zweifel, die durch Äußerungen aus den Kreisen der CDU/CSU entstanden sind, ausräumen,
ausräumen, meine Damen und Herren, im Sinne dessen, was auch heute — und dafür danken wir dem Bundesaußenminister Genscher ausdrücklich — als das große Friedenswerk anerkannt wurde, mit dem Willy Brandt in die Geschichte der Bundesrepublik und Europas eingegangen ist.
Mit diesem Friedenswerk, meine Damen und Herren, wurde die Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen eingeleitet. Dabei gab der deutschpolnische Vertrag von 1970 nur den rechtlichen Rahmen für das, was die beiden Kirchen in ihren Erklärungen 1965 vorbereitet hatten — ich möchte hier auch ausdrücklich den Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe aus dem Jahre 1965 erwähnen —, und für das, was sich in den Jahren nach dem Vertragsabschluß vollzogen hat.Für uns Sozialdemokraten ist der Warschauer Vertrag nicht einfach ein völkerrechtliches Paragraphenwerk, sondern ein Auftrag, Aussöhnung und Ausgleich hier in Europa zwischen den Völkern durchzusetzen.
Das, meine Damen und Herren, was in den letzten Jahren geschaffen werden konnte, nämlich Gräben der Vergangenheit zuzuschütten und zu überbrükken, war nicht nur ein Ergebnis der Politik von Willy Brandt, der Politik der Sozialdemokraten — ich denke an Herbert Wehner, der mit seiner großen Rede hier die Öffentlichkeit aufrüttelte —,
sondern ist auch die Folge davon, daß diese Politik, meine Damen und Herren, von den Menschen in unserem Lande getragen wird. Denken wir an die Paket-Aktionen in den schlimmen Zeiten der polnischen Krise!
Dies war ein eindeutiges Ja zu diesen deutsch-polnischen Verträgen, zu diesem Friedenswerk.Meine Damen und Herren, wir haben die Sorge — und ich muß sagen, der fehlende Beifall gegenüber dem, was der Bundesaußenminister hier vortrug, hat das doch unterstrichen —,
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5346 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Schmitt
daß aus Ihren Reihen, Herr Dr. Dregger, von, wie ich einmal sagen möchte, einigen Eisheiligen des Kalten Krieges Mißtrauen, Besorgnis und Unruhe gesät werden.
Wir haben auch heute wieder festzustellen, daß ein eklatanter Widerspruch zu dem besteht, was erfreulicherweise, dankenswerterweise der Bundesaußenminister für die Bundesregierung heute erklärt hat. Wir Sozialdemokraten sind in der deutsch-polnischen Politik für den Konsens. Wir sind für die Aussöhnung und für die Gemeinsamkeit der Parteien in dieser wichtigen europäischen Frage.
Deshalb müssen wir widersprechen und warnen, wenn Herr Sauer hier erklärt, daß die Hilfsaktion der westeuropäischen Bischöfe eine Stützaktion für die polnische Regierung sei, die letzten Endes abzulehnen sei. Solche Presseerklärungen haben wir zur Kenntnis nehmen müssen.
Wir müssen feststellen, meine Damen und Herren, daß mit der permanenten Wiederholung der Forderung nach Minderheitsrechten durch Herrn Czaja und andere letzten Endes nicht denen geholfen wird, denen wir gemeinsam helfen wollen, sondern daß damit neue Probleme geschaffen werden. Nehmen wir doch zur Kenntnis, meine Damen und Herren, daß Minderheiten — und es handelt sich hier um deutschstämmige polnische Staatsbürger —,
denen wir helfen wollen, am besten geholfen wird, wenn wir die zwischenstaatlichen Beziehungen ausbauen und verbessern.
Meine Damen und Herren, diese Aktuelle Stunde hat darum einen solchen Wert, weil wir es erreicht haben, daß sich die Bundesregierung durch den Bundesaußenminister klar zu diesen Verträgen bekannt hat.
Meine Damen und Herren, wir erwarten, daß man nicht nur Paragraphen zitiert, sondern daß diese Verträge auch 1985 und danach ausgefüllt werden und wir in Polen die Unsicherheit beseitigen, daß diese Wende in der Bundesrepublik auch eine Wende in der guten Entwicklung der deutschpolnischen Beziehungen bedeuten könnte. Wir brauchen nicht neue Konflikte, sondern ein klares Bekenntnis zur deutsch-polnischen Aussöhnung.
Das Wort hat der Abgeordnete von Heereman.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bedrückend, wenn in einer Aktuellen Stunde, wo über Aussöhnung und Verständigung mit dem polnischen Volk diskutiert werden soll, was wünschenswert ist, was wir unterstützen, Vokabeln gebraucht werden, die mit Aussöhnung und Verständigung nichts zu tun haben.
Herr Kollege Schmitt, ich finde es nicht gut, daß Sie, derweil wir uns bemühen, über ein Miteinander in den Aktivitäten, aber auch den Hilfeleistungen zu reden, Andeutungen machen, daß es „Kalte Krieger" bei uns gebe.
Daß Sie, verehrte Frau Kollegin Huber, hier von Auseinandersetzungen sprechen, die kriegerische Entwicklungen begünstigten, halte ich für ungeheuerlich. Ich muß Ihnen das einmal als jemand sagen,
der genauso ernst nimmt wie Sie, daß der Frieden von uns selber abhängt. Er hängt von uns ab.
Und wir bemühen uns darum. Wir sollten hier nicht über Verdrehungen und Unterstellungen, wie sie gerade wieder gegenüber den Koalitionsparteien vorgenommen worden sind, den Eindruck entstehen lassen, daß uns das überhaupt weiterbringt.
Aussöhnung und Verständigung, Umgang miteinander, Hilfen und Kontakte, die ohne irgendeine auch nur andeutungsweise Verletzung bestehender völkerrechtlicher, grundgesetzlicher und vertraglicher Rechte gepflogen und ausgebaut werden, dienen doch der Verbesserung der mitmenschlichen Beziehungen.Ich möchte daher das von den Kirchen initiierte Programm zur Hilfe für die Landwirtschaft hier als ein Stück aktiver Friedenspolitik, aktiver Aussöhnungspolitik herausstellen und auch um die aktive Unterstützung für dieses Programm bitten. Ich meine, daß ein derartiges Hilfsprogramm, initiiert von den Kirchen, unterstützt durch die Gemeinschaft, unterstützt auch durch die Vereinigten Staaten, eine gute Sache ist, um auch Vorurteile, Beklemmungen, Frustrationen, Vorbehalte abzubauen. Wir sind aufgerufen, das zu tun, anstatt über selbstherrliches Denken zu versuchen, hier etwas nicht wirksam werden zu lassen. Ich wäre sehr dankbar, wenn im Rahmen dieses Programms, das für eine Landwirtschaft durchgezogen werden soll, die noch zu 75 % von drei Millionen Privatbauern bewirtschaftet wird — davon bewirtschaften immerhin 1,8 Millionen weniger als 5 ha —, die Landwirtschaft, aber
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5347
Freiherr Heereman von Zuydtwyckauch landwirtschaftliche Strukturen weiterentwikkelt würden. Darum geht es.
— Sehr verehrte Frau Kollegin, Hauptsache, es läuft zunächst einmal an. Erst dann sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie es läuft.
— Ich bin sehr froh, daß wir eine Landwirtschaft zu vertreten haben, in der bäuerliche Familienbetriebe es verstanden haben, zuviel zu produzieren, in der sie die Chancen dazu haben, weil sie die Betriebsmittel bekommen haben. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Polen sind aus vielerlei Gründen — auch aus Systemgründen — nicht in der Lage, so wie unsere Betriebe zu produzieren. Deshalb sollten wir ihnen helfen und zeigen, daß wir durchaus in der Lage sind, über derartige Hilfen Verbesserungen auch im Bereich anderer Systeme zu bewirken. Dafür möchte ich heute eine Lanze brechen.Ich möchte bitten, zu erkennen, daß wir eine ganz große Chance haben. Die Kirchen, die Initiatoren auch dieses Programms, verdienen unsere volle Unterstützung.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weyel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte an das anknüpfen, was der Herr Bundesaußenminister vorhin gesagt hat, daß nämlich die Vertriebenen selbst einen sehr großen Teil dazu zu leisten haben, daß die Versöhnung mit Polen stattfinden kann. Das sehe ich für mich ganz persönlich, denn ich bin in Schlesien aufgewachsen und habe in Breslau meine Schulzeit erlebt.Deswegen meine ich, Herr Rühe, daß wir schon mit Emotionen an dieses Thema herangehen sollten, nämlich mit den Emotionen, das Geschehene als geschehen zu akzeptieren und für die Zukunft auf die Versöhnung hinzuarbeiten.
— Es gibt eben verschiedene Emotionen. Dann müssen Sie das genauer ausdrücken.Der Warschauer Vertrag ist rechtliche Grundlage für unser gegenwärtiges und zukünftiges Verhältnis zu Polen. Es geht darum, den Vertrag mit Leben zu erfüllen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch eine Aktion wie die Hilfe für die Landwirtschaft zu begrüßen. Wir sollten aber auch hier daran denken, daß es im Verhältnis zu Polen des angemessenen Taktes bedarf, um hier nicht als Besserwisser aufzutreten, sondern wirklich die Hilfe zu leisten, die gemeint ist.
Wir sind uns darin einig, daß wir den Frieden für Europa wollen. Europa ist aber mehr als die Europäische Gemeinschaft. Das wird bei dem derzeitigen Wahlkampf um das Europäische Parlament leicht vergessen. Ich habe mich auch in Schlesien durchaus als Europäer gefühlt.
Mit Frankreich ist die Aussöhnung gelungen, weil ein Strich unter die historische Entwicklung gezogen wurde und damit der Weg frei wurde für die gemeinsame Politik und die Begegnung zwischen den Menschen, zwischen den Deutschen und den Franzosen. Diese deutsch-französische Freundschaft wird gern und oft zitiert. Warum sollte die Versöhnung mit Polen in dieser Art nicht auch möglich sein?
— Die Entwicklung der letzten 40 Jahre, Herr Klein, ist die Realität, und die können und wollen wir nicht beiseite schieben.
Die Geschichte lehrt uns, daß gute Beziehungen zwischen Polen und Deutschen immer gut für Europa waren und sicherlich auch für die Zukunft Europas wichtig sind.
Viele der Menschen, die ehemals in den Städten und Dörfern des heutigen Staatsgebiets Polen ihre Heimat hatten, nutzen die Möglichkeit, als Touristen ihre frühere Heimat zu besuchen. Und sie finden dabei den Kontakt zu den Menschen, allen Menschen, die heute dort leben. Und es entstehen persönliche Freundschaften über die Grenzen hinweg. Diese Möglichkeit sollten wir erhalten und erweitern. Dazu ist es notwendig, daß Äußerungen unterbleiben, die der Verunsicherung der heute in Polen Lebenden Vorschub leisten.
Ich möchte noch ein Wort zur jüngeren Generation sagen, zu unseren Kindern. Unsere Kinder, die Kinder vieler der Vertriebenen, sind in der Bundesrepublik geboren und hier aufgewachsen. Sie haben die Bundesrepublik als ihre Heimat erlebt und erfahren.
Für sie ist das Land, in dem ihre Eltern und ihre Großeltern gelebt haben, ein Teil ihrer Familiengeschichte,
und die muß akzeptiert werden. Aber es ist nicht mehr ihr Erlebnisbereich des Heimatgefühls. Und diese jungen Leute, die heute hier in der Bundesrepublik als Kinder von Vertriebenen leben, wissen sehr wohl, daß inzwischen in Polen Gleichaltrige
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5348 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Frau Weyelleben, die dort geboren sind, dort aufgewachsen sind und für die Polen heute ihre Heimat ist.
Das müssen wir respektieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist hier davon gesprochen worden, in Warschau solle man genauso reden wie hier und umgekehrt. Ich teile diese Auffassung. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn man an beiden Stellen gleich redet, dann sind die Aufnahmebereitschaft und die Glaubwürdigkeit um so größer.
Man sollte an beiden Stellen, in Warschau wie hier, wenn man zu diesen Dingen spricht, die gleiche Sensibilität zeigen für die innenpolitische Wirkung dessen, was man sagt, dort wie hier. Da scheint es mir manchmal zu fehlen.
Ich bin der Überzeugung: Wenn diese Debatte einen Sinn gehabt haben soll, dann dürfen wir nichts tun, was diejenigen, die in Polen bewußt Zweifel in die Vertragstreue der Bundesrepublik Deutschland säen wollen, bestärkt, und wir dürfen nichts tun, was diesen Zweifel als berechtigt erscheinen läßt, weil das insgesamt für die deutschpolnische Politik nur noch schwieriger werden kann.
Denn es ist doch unbestreitbar, daß es auch in Polen unterschiedliche Betrachtungsweisen gerade in der heutigen Situation über die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses gibt.
Ein zweiter Punkt: Den Zweifel an der Vertragstreue zu zerstreuen, ist notwendig, wenn er entstanden ist. Man sollte ihn aber auch nicht pflegen und sich einreden lassen, wenn andere ihn politisch einsetzen wollen.
Auch dies bitte ich immer zu bedenken.
Eine letzte Bemerkung: Es ist viel von der Stiftung gesprochen worden, von den Initiativen der Bischöfe, von der Unterstützung der Landwirtschaft. Ich verfolge immer mit großer Bewunderung, wie zwischen polnischer Regierung und dem Episkopat in den verschiedensten Fragen zu verschiedensten Zeiten schwierigste Probleme schließlich doch zu einer Lösung gebracht werden, von der dann beide meinen, sie sei im Interesse des polnischen Volkes. Es wäre manchmal gut, wenn man vor der Beurteilung oder Verurteilung von Überlegungen dies intensiver durchleuchten würde, weil nämlich hier sehr viel praktische Erkenntnis für uns mit drinstecken kann. Dies kann nicht heißen, daß ich da, wo ich überzeugt bin, daß Unrecht geschieht — im Sinne: gegen die Menschenrechte —, dies nicht in aller Offenheit und Deutlichkeit sage, ich aber immer daran denke, daß das deutschpolnische Verhältnis für die Gesamtsituation in Mitteleuropa ein Schlüsselverhältnis ist. Dies sollten wir nie vergessen.
Das Wort hat der Abgeordnete Klein .
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Weyel, Sie haben eine ganze Reihe von Feststellungen getroffen, denen ich mich anschließen kann. Sie haben auch die Frage gestellt: Warum können wir mit den Polen nicht in der gleichen Weise zu einer Aussöhnung finden, wie wir das mit Frankreich gefunden haben? Die Antwort heißt leider, daß das den Polen nicht gestattet ist.
Und weil Sie die Europa-Wahl angesprochen haben: Mir ist bei unserem Besuch in Polen bei den Gesprächen häufig der Gedanke gekommen, wenn wir hier über die Wahlbeteiligung reden, wie gern die Menschen in Polen oder in Rumänien oder in Ungarn mitwählen würden, wenn es um ein vereinigtes Europa geht.
— Herr Kollege, ich würde jetzt keine so unqualifizierten Zwischenrufe machen. Lassen Sie mich mal den Gedanken zu Ende führen. Man muß sich ja nicht über alles streiten.Herr Kollege Ehmke, wir haben, bevor wir nach Polen gereist sind, weil wir interessiert waren und weil wir die Sache sachlich aufziehen wollten, Sie herzlich gebeten und eingeladen — Sie haben dieser Einladung Folge geleistet —, uns Ihre Erfahrungen zu berichten. Ich wünschte, Herr Kollege Ehmke, Sie hätten, bevor Sie diese Debatte vom Zaun gebrochen haben, uns gebeten, zu erzählen, was da eigentlich gelaufen ist.
Wir haben — und ich glaube, die ganze künstliche Aufregung, bei der Sie sich fragen müssen, ob Sie dem vom Kollegen Ronneburger als sensibel bezeichneten deutsch-polnischen Verhältnis heute einen Dienst erwiesen haben —, verehrter Herr Kollege Ehmke,
einfach und nüchtern die Rechtslage, wie sie ist, unter dem Satz „Pacta sunt servanda" in Polen dargestellt. Genau das haben wir getan. Es waren die Polen, die uns gesagt haben — und ich darf mir den Hinweis erlauben —, auch unter Bezugnahme auf
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5349
Klein
Sie, daß Sie natürlich in Warschau die Akzente immer ein bißchen anders gesetzt hätten.
Es hat doch keinen Sinn, wenn wir Akzente hier so und Akzente dort so setzen. Es gibt eine Rechtslage, und es gibt die allgemeine Auffassung,
von der ich z. B. sagen kann, daß sie von einem Mann wie Herbert Czaja oder Herbert Hupka oder Helmut Sauer oder wie unsere Vertriebenenkollegen alle heißen, voll unterstützt wird, nämlich daß von diesem Land und von diesem Volk nie wieder eine Gefahr für Polen ausgehen soll. Wer diese Haltung in Zweifel zieht, handelt doch böswillig.
Über die Rechtslage ist in der Fragestunde und jetzt in der Aktuellen Stunde sehr viel gesprochen worden. Lassen Sie mich ganz kurz ein Thema anschneiden, das bei unserem Besuch eine Rolle gespielt hat und das auch der Ausgangspunkt dieser Debatte war, nämlich diese Petition, die sich mit den Deutschen in Polen befaßt. Wir haben versucht, unseren polnischen Gesprächspartnern zu sagen: Explodieren Sie doch bitte nicht gleich bei der Erwähnung des Wortes deutsche Minderheit. Wir können ja darüber streiten, ob es 30 000, 300 000 oder 1 Million sind. Aber lassen Sie uns darüber reden. Wir wollen den Menschen auch keinen Rat geben, ob sie gehen oder bleiben sollen. Wenn sie bleiben wollen — das ist unser Petitum —: Gewährt ihnen bitte dieses bißchen kulturelle Eigenständigkeit, das zur Menschenwürde gehört!
Wenn sie gehen wollen, setzt sie nicht vorher unter Druck, denunziert sie nicht als Wirtschaftsflüchtlinge!Das ist natürlich eines der sehr schwierigen Themen zwischen den Polen und uns.Sie erinnern dann an die Irredenta. Die Polen leben in ihrer Geschichte. Aber es gehört auch zu unserer Aufgabe als verantwortliche Politiker, vorzubeugen, damit diese Geschichte, soweit sie auch uns betrifft, nicht nur in einer einseitigen Interpretation dargestellt wird.
Also muß man doch miteinander reden. Und dieses Miteinander-Reden wird wirklich nicht erleichtert, sondern erschwert, wenn jemand jede Gelegenheit nutzt, daraus billiges innenpolitisches Kapital zu schlagen.
Gehen Sie davon aus, daß wir klar zur Rechtslage stehen. Da gilt alles. Der Bundesaußenminister hat das korrekt beschrieben. Was der Bundesinnenminister dazu gesagt hat, war lediglich eine Feststellung der Rechtsposition. Er hat es auch nicht wiederholt. Wir gehen damit auch nicht pausenlos hausieren.
Herr Kollege, ich muß Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Wenn wir mit unseren polnischen Partnern sprechen, müssen Klarheit und Wahrheit herrschen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Wir haben die heutige Debatte gewünscht, weil wir im Sinne unseres Wächteramtes als Opposition
darüber wachen und Auskunft haben wollten, ob die Bundesregierung an Geist, Wort und Substanz der Ostpolitik und insbesondere der deutsch-polnischen Verträge festhält.Von Bundesaußenminister Genscher haben wir im Namen der Regierung in diesem Punkte Klarheit erhalten. Das ist für die deutsch-polnischen Beziehungen wichtig und positiv. Dafür danken wir.
Für alle Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion besteht diese Klarheit nicht. Aus Teilen der CDU/ CSU-Fraktion kamen Heckenschützen gegen die deutsch-polnische Verständigungspolitik. Ich erwähne nur den Kollegen Sauer, aber auch andere.
Andere haben in bemerkenswerter Weise vermieden, in der Grenzfrage Klarheit zu schaffen. „Pacta sunt servanda" löst nicht die Frage, ob man meint und daran festhält, daß die deutsch-polnische Grenze, die polnische Westgrenze durch unsere Politik genauso fest und dauerhaft ist und bleiben muß wie die französische Ostgrenze. Nur wenn das klar ist, d. h. nur auf dieser Grundlage öffnet sich der Weg für eine konstruktive Versöhnungspolitik, für Wirtschaftsbeziehungen, für Kulturbeziehungen, für eine europäische Friedensordnung und für eine Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten.
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5350 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Voigt
Diese Klarheit haben wir von der Regierung. Leider gilt das nicht für die gesamte Regierungskoalition.Danke.
Meine Damen und Herren, ich bitte, den Präsidenten nicht zu kritisieren, solange er die Sitzung leitet.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Punkte 26 bis 30 der Tagesordnung auf:
26. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Steger, Roth, Catenhusen, Fischer , Grunenberg, Nagel, Stahl (Kempen), Stockleben, Vahlberg, Vosen und der Fraktion der SPD Unterstützung des französischen EG-Memorandums „Eine neue Stufe Europas: ein gemeinsamer Raum für Industrie und Forschung" durch die Bundesregierung
— Drucksache 10/1305 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für Wirtschaft
27. a) Beratung des Ersten Berichts und der Empfehlung der Europakommission zur Frage der Personenkontrolle im innergemeinschaftlichen Grenzverkehr und zur Einführung des Europa-Passes
— Drucksache 10/1126 —
b) Beratung des Zweiten Berichts und der Empfehlung der Europa-Kommission zur Herstellung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes
— Drucksache 10/1221 —
c) Beratung des Dritten Berichts und der Empfehlung der Europa-Kommission zur Frage der parlamentarischen Behandlung des Entwurfs eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union — Drucksache 10/1261 —28. Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Entwurf eines Vertrags
zur Gründung der Europäischen Union
— Drucksache 10/1423 —
Überweisungsvorschlag des Ältestensrates: Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen Ausschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
29. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag eines Beschlusses des Rates über die Entsprechung der beruflichen Befähigungsnachweise zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft
— Drucksache 10/546 Nr. 23, 10/1422 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski Büchner
30. Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Notwendigkeit der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes
— Drucksache 10/1357 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Es handelt sich um eine Reihe von Vorlagen zur Europapolitik. Die einzelnen Punkte entnehmen Sie bitte der Tagesordnung.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist vorgesehen, über diese Punkte eine Aussprache von zweieinhalb Stunden zu führen. — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei einer Umfrage in Frankreich — Frage: wer sind die besten Freunde Frankreichs? — haben 70 % der Franzosen geantwortet: Die besten Freunde Frankreichs sind die Deutschen.
Warum sollte eine Umfrage in Polen nicht auch einmal ein solches Ergebnis haben?
Ich bin fest davon überzeugt, daß das möglich ist.
Es fehlt doch nicht am Versöhnungswillen. Als Polen in den letzten Jahren in Versorgungsschwierigkeiten war, haben die Deutschen allein mehr Hilfe an Polen geleistet als alle anderen Völker Europas zusammengenommen. Aus meinem Wahlkreis hat ein Bürgermeister, der in Oberschlesien geboren wurde, sieben Lkws mit Bekleidung und Lebensmitteln vollgepackt und ist in seine Geburtsgemeinde in Oberschlesien gefahren, aus der er vertrieben wurde, in die Gemeinde, in der sein Vater und Großvater Bürgermeister gewesen sind.
Er hat den jetzt dort lebenden Menschen Hilfe gebracht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5351
Dr. DreggerMeine Damen und Herren, ist das eigentlich noch zu übertreffen an Versöhnungsbereitschaft,
daß deutsche Oberschlesier, die vertrieben wurden, in dieser Weise Hilfe leisten?Deswegen bedauere ich die eben abgelaufene Aktuelle Stunde; denn wenn man Zitate bringt und sie in bestimmter Weise auswertet, wenn man, wie der letzte Redner der SPD, auch noch Angriffe startet — der Kollege Heereman hat vorhin darauf hingewiesen —, dann ist das sehr geeignet, nicht Versöhnungswillen, sondern Angst- und Rachegefühle zu wecken. Daran können wir doch nicht interessiert sein; das liegt weder im Interesse der Deutschen noch der Polen noch des Friedens, meine Damen und Herren.
Wir begrüßen den Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments zur Gründung einer Europäischen Union. Meine Damen und Herren, unsere Zielsetzung geht weiter: Wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa.
Für uns kann die Union nur ein Zwischenschritt sein. Diese Vereinigten Staaten von Europa sind politisch notwendig, sie sind technisch-ökonomisch notwendig, und sie werden immer mehr zu einem Herzensanliegen der Europäer.Die Vereinigten Staaten von Europa sind politisch notwendig. Die beiden Weltkriege, die vor allem europäische Bruderkriege gewesen sind, haben die Lage Europas grundlegend verändert, und zwar verschlechtert. Ihr Ergebnis: Deutschland und Europa sind geteilt; Europa ist ohne Mitte; Wien und Berlin haben ihre alte Funktion verloren. Ost- und Teile Mitteleuropas sind die Opfer. Sie sind gezwungen, gegen ihren Willen unter sowjetischer Herrschaft zu leben. Die Vormacht des Ostens — heute die Sowjetunion — steht als ideologische Offensivmacht und militärische Weltmacht schon im Frieden mitten in Deutschland.All das ist in der über tausendjährigen Geschichte Europas ohne Beispiel. In dieser Lage können die freien Völker, die freigebliebenen Völker Europas ihre freiheitliche Existenz nur gemeinsam organisieren.Die Christlichen Demokraten Europas waren die ersten, die aus dieser völlig veränderten Lage Konsequenzen zu ziehen bereit und fähig waren. Dabei kommt uns zugute, daß unsere geistige Tradition hinter den Nationalstaat zurückreicht. Ich frage mich heute: War es Gnade oder Zufall, auf jeden Fall war es eine glückliche Fügung, daß Männer dieser geistigen Dimension zur gleichen Zeit Regierungschefs in Deutschland, in Frankreich und in Italien gewesen sind.
Ich meine Konrad Adenauer aus Köln, RobertSchumann aus Metz und Alcide de Gasperi ausTrient. Ich bin überzeugt: Wenn es diese Konstellation nicht gegeben hätte, wären wahrscheinlich die europäischen Vereinigungen nicht zustande gekommen.Meine Damen und Herren, Nationalisten und auch viele Sozialisten
waren, Herr Kollege Vogel, die Bremser bei der Entwicklung zu einem Vereinigten Europa.
Die CDU/CSU mußte, wie Sie wissen, alle entscheidenden Schritte zu den Gründungsverträgen Europas gegen den Widerstand der SPD durchsetzen.
Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sollte nach der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der zweite Schritt zu den Vereinigten Staaten von Europa werden. Diese Europäische Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 in der Nationalversammlung in Paris. Der Nationalfranzose de Gaulle entschied sich für ein rein nationales Verteidigungskonzept.
Immerhin gab er seine Zustimmung zu einer wichtigen Bestimmung im Elysée-Vertrag von 1963. Sie blieb bis heute unerfüllt. Bundeskanzler Helmut Kohl und der jetzige Staatspräsident François Mitterrand haben ihre Außen- und Verteidigungsminister beauftragt, diese Bestimmung des Elyseé-Vertrages von 1963 jetzt endlich mit Leben zu erfüllen.
Darin wurde vereinbart, Frankreich und Deutschland wollen ihre Taktik und Strategie derart einander anpassen, daß daraus ein gemeinsames Verteidigungskonzept entsteht. Ein gemeinsames Verteidigungskonzept ist mehr als eine Freundschaftsbeteuerung, ist mehr als eine Rüstungskooperation, ist mehr als die Belebung der parlamentarischen Zusammenarbeit in der Westeuropäischen Union. Gemeinsames Verteidigungskonzept, das bedeutet nach meiner Meinung, daß sich jeder mit dem Schicksal des anderen identifiziert, daß jeder dem anderen beisteht, daß sich jeder auf die Strategie des anderen einstellt.Meine Damen und Herren, nationaler Egoismus, der die Existenzinteressen des anderen nicht voll einbezieht, ist kein Fundament für ein einiges Europa.
Nicht Handel und Verkehr, sondern Sicherheit konstituiert eine Staatengemeinschaft. Das ist der große politische Rang dieser Frage.Wir, die Union, werden daher weiterhin, unbeirrt von Widerständen, für dieses gemeinsame Sicherheitskonzept der freien Völker Europas eintreten. Wir tun das in dem Bewußtsein, daß eben das der
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5352 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Dr. DreggerWunsch der europäischen Völker ist, wie alle Umfragen beweisen, auch in Frankreich.Unsere Perspektive ist: Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika muß erhalten bleiben, aber Europa muß seine eigene Rolle finden — als eigenständiger Partner der USA. Zu erreichen ist das nicht durch Geschimpfe und Protest gegen die USA, auch nicht durch nationale Alleingänge, sondern nur durch Weckung und Zusammenfassung der Kräfte Europas.
Ich hatte gesagt, die Vereinigten Staaten von Europa sind nicht nur politisch, sondern auch technisch-ökonomisch notwendig. Moderne Technik verlangt große Produktserien, und diese verlangen große Märkte. Europa ist ein großer Markt. Er wird zum größten Binnenmarkt der Erde werden, wenn es uns gelingt, die Hindernisse abzubauen, die noch dem freien Personen-, Waren-, Güter- und Dienstleistungsverkehr entgegenstehen. Die Grenzkontrollen müssen abgebaut, vertragswidrige Subventionen — z. B. in der Stahlindustrie — und sonstige Praktiken des Protektionismus müssen abgewehrt, die Harmonisierungsrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft müssen verwirklicht, und die öffentlichen Beschaffungsmärkte müssen geöffnet werden.Wir unterstützen daher die darauf gerichteten Entschließungen des Europäischen Parlaments und die Empfehlungen unserer Europa-Kommission, die unter dem Vorsitz von Frau Dr. Hellwig tatkräftig arbeitet.
Wir beglückwünschen Staatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl zu ihrer Absprache von Rambouillet, die Grenzkontrollen im Personenverkehr zwischen unseren Ländern — ich sage vorsichtig — abzubauen; denn um sie abzuschaffen sind viele Voraussetzungen notwendig, die geschaffen werden müssen. Aber das Ziel, Herr Kollege Vogel, ist sicherlich richtig.
Meine Damen und Herren, was die Europäische Gemeinschaft als größter Binnenmarkt der Erde bedeutet, zeigen folgende Zahlen: Schon heute hat die Europäische Gemeinschaft mehr Einwohner als die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion. Die USA haben 221 Millionen Einwohner, die Sowjetunion hat 267 Millionen Einwohner, die Europäische Gemeinschaft 271 Millionen Einwohner, und wenn Portugal und Spanien beigetreten sein werden, sogar 318 Millionen Einwohner.Wir treten für den Beitritt Spaniens und Portugals ein. Sie wissen, wir machen unsere Bereitschaft zur Anhebung von finanziellen Beiträgen an die Europäische Gemeinschaft davon abhängig, daß auch die anderen dem Beitritt Spaniens und Portugals zustimmen. Mit diesen beiden Ländern gewinnt Europa eine zusätzliche Beziehung zu Lateinamerika und zu großen Teilen Afrikas und Asiens. Spanien hat nur 37,4 Millionen Einwohner, aber 210Millionen Menschen sprechen Spanisch als erste und weitere 250 Millionen Spanisch als zweite Sprache. Portugal hat nur 9,9 Millionen Einwohner, aber 115 Millionen Menschen sprechen Portugiesisch als Muttersprache und weitere 148 Millionen als Zweitsprache.Vom größten Binnenmarkt der Erde und seinen Ausstrahlungen in die Welt profitieren alle Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, nicht zuletzt wir Deutsche. Als zweite Welthandelsnation und als größter Exporteur von Industriegütern in der Welt sind wir mehr als andere auf freie Märkte angewiesen. Die Hälfte unserer Exporte geht in die Länder der Europäischen Gemeinschaft. Sie sind in den hinter uns liegenden Jahren doppelt so stark gewachsen wie die Exporte in die anderen Länder der Welt.Wie sehr die Europäische Gemeinschaft schon heute die Grundlage der Wohlfahrt Europas ist, zeigt das stürmische Wachstum des Bruttosozialprodukts in Europa. Das Bruttosozialprodukt der USA war 1958 noch 2,5 mal größer als das der Europäischen Gemeinschaft. Schon 1980 hat die Europäische Gemeinschaft mit einem Bruttosozialprodukt von 2008 Milliarden Dollar die USA um 8 % überrundet, schon 1980! Wer weiß das? Ich glaube, nur wenige, und wenn man es nicht weiß, kann man dafür auch nicht dankbar sein.Sind wir Deutschen die Zahlmeister Europas? Dann wären die Baden-Württemberger die Zahlmeister Deutschlands, denn im Finanzausgleich leisten heute die Baden-Württemberger das meiste. Herr Späth weist ja immer darauf hin. Wie glücklich wären die Nordrhein-Westfalen, wenn sie noch die Zahlmeister Deutschlands wären,
was sie nach dem Kriege gewesen sind. In diesen Zahlen drückt sich doch nur der wirtschaftliche Aufstieg Baden-Württembergs und der bedauerliche Abstieg Nordrhein-Westfalens in wirtschaftlicher Hinsicht aus.
Und was in Deutschland gilt, gilt auch in Europa. Es ist selbstverständlich, daß in jedem föderalen Gemeinwesen der wirtschaftlich Stärkste der größte Nettozahler ist. Dafür hat er aber für seine leistungsfähige Wirtschaft auch den großen Markt zur Verfügung.
Zahlen wir zuviel? 1982 waren wir Nettozahler mit 5,8 Milliarden. Das ist weit weniger als das Defizit der Deutschen Bundesbahn. Ich muß schon sagen: Diese 5,8 Milliarden sind, gesamtwirtschaftlich gesehen, hervorragend angelegt.Europa wird immer mehr zum Herzensanliegen der Europäer. Die Öffnung der Grenzen hat Deutsche und Franzosen, die sich in vielen Kriegen als Gegner gegenüberstanden, zu Freunden werden lassen. Und diese Zahl von 70 %, Franzosen, die in Deutschland den besten Freund Frankreichs sehen, bewegt mich. Denn ich bin im Mai 1940 als junger
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5353
Dr. DreggerGefreiter und MG-Geschütze 1 in Frankreich einmarschiert,
und mein Vater als Bückeburger Jäger 1914 über Lüttich zur Marne.
Meine Söhne, die selbstverständlich bei der Bundeswehr sind, können sich gar nicht mehr vorstellen, daß ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich denkbar wäre.
Kriege können nur entstehen, wenn Völker gegeneinander aufgehetzt werden.
Das setzt ihre Trennung voneinander voraus.Deshalb sind geschlossene Grenzen gefährlich. Das gilt zur Zeit für den Eisernen Vorhang, mit dem sich die kommunistischen Länder immer noch umgeben. Hinter geschlossenen Grenzen kann man Haß säen. Erst kürzlich hat der Generalsekretär der UdSSR die Sekretäre seines Jugendverbands aufgefordert, „die Jugend zum Haß gegen die Feinde der Heimat zu erziehen". Die Erziehung zum Haß gehört auch zum Erziehungsprinzip der Nationalen Volksarmee der DDR.
Wie schrecklich, wie menschenfeindlich und wie anachronistisch!, kann man da nur sagen.Meine Damen und Herren, wir wollen keinen Haß; keiner der Deutschen hier,
gleichgültig, in welcher Partei er organisiert ist und welche Partei er wählt. Wir wollen Zusammenarbeit nicht nur mit den Völkern der Europäischen Gemeinschaft, sondern mit allen Völkern der Erde. Öffnet die Grenzen! Sät keinen Haß! Das ist der Appell, den wir durch unsere Beteiligung an der Wahl zum Europäischen Parlament am Tag der Deutschen Einheit den Führern und Völkern des kommunistischen Machtbereichs zurufen wollen.
Wir wissen: Die Europäische Gemeinschaft hat noch viele Mängel und Unvollkommenheiten. Ich kenne übrigens kein irdisches Gebilde, das vollkommen wäre.
Das ist ein Mangel, den die EG mit anderen Institutionen teilt. Aber diese Europäische Gemeinschaft ist schon jetzt eine einzigartige Errungenschaft. Sie ist die erfolgreichste Friedensbewegung unseres Jahrhunderts. Sie ist die Grundlage der Wohlfahrt der freien Völker Europas. Und sie ist ein Hort der Freiheit für alle, die ihr angehören.In dieser Erkenntnis arbeiten wir Christlichen Demokraten und Christlich-Sozialen für die Zukunft, für die Freiheit und für die Einheit Europas.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Präsident Mitterrand hat am 24. Mai vor dem Europäischen Parlament in Straßburg eine bedeutende Rede gehalten.
Daß der französische Staatspräsident das Europäische Parlament als Forum für seine Europainitiative gewählt hat, gibt seinen Ausführungen ein zusätzliches Gewicht. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung das darin enthaltene Signal für eine neue Europainitiative aufgreifen und nicht in den Amtsstuben versickern lassen würde.
Die Zeit ist nicht nur reif; sie ist auch günstig für eine solche Initiative. Sicher ist die Europawahl einer der Gründe dafür, daß alle Beteiligten im Augenblick europäisches Profil zeigen wollen. Aber hinter dieser Initiative steckt mehr.Was die Dinge bewegt, ist die weltpolitische Krisenerfahrung der vergangenen Jahre und die Furcht — oder richtiger: die richtige Wahrnehmung —,daß das Scheitern der Rüstungskontrollverhandlungen und ein neuer Rüstungswettlauf den Rückfall der beiden Weltmächte in eine gefährliche Konfrontation weiter zuspitzen,daß Entwicklungen eingesetzt haben, die wir als Europäer kaum beeinflussen können, obwohl sie uns negativ berühren,daß auf Grund von außereuropäischen Entwicklungen die Stabilität in Europa ins Rutschen kommen könnteund daß zu alledem Westeuropa Mühe hat, die Lasten der Weltwirtschaftskrise zu verkraften und gegenüber den Vereinigten Staaten und Japan wirtschaftlich und technologisch nicht ins Hintertreffen zu geraten.Trotz der Krise der EG, zu der die deutsche Präsidentschaft leider einiges beigetragen hat,
wächst das Bewußtsein, daß Westeuropa eine große Anstrengung zu seiner Selbstbehauptung unternehmen muß. Dieser Wille zur Selbstbehauptung muß politisch, wirtschaftlich und kulturell einmal in der Gemeinschaft der westlichen Nationen zum Ausdruck kommen; er muß zugleich als eine Kraft des Ausgleichs gegenüber unseren osteuropäischen
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5354 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Dr. Ehmke
Nachbarn und gegenüber der Dritten Welt wirksam werden.In diesem Rahmen sehen wir auch die intensivierte deutsch-französische Zusammenarbeit. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß die Bundesregierung fortsetzt, was Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing eingeleitet haben:
eine deutsch-französische Abstimmung in allen politischen und wirtschaftlichen Fragen einschließlich der Sicherheitspolitik. Die stärker europäisch ausgerichtete Definition unserer Sicherheitsinteressen geht auf die gemeinsame Erfahrung in der Afghanistankrise und in der iranischen Geiselkrise zurück. Damals, im Februar 1981, erklärten der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler, daß sie „beabsichtigen, den Tatsachen, die zur Destabilisierung geführt haben, und den Gefahren, die sich aus ihnen für die Zukunft des Friedens ergeben, das gemeinsame und entschlossene Handeln ihrer beiden Länder entgegenzusetzen". Die beiden Regierungen haben dann ein Jahr später, im Februar 1982, einen vertieften „Gedankenaustausch über Probleme der Sicherheit" vereinbart. Ich wiederhole: Wir begrüßen ausdrücklich, daß es trotz des Regierungswechsels in beiden Ländern gelungen ist, diese Absicht weiterzuführen.Das dahinter liegende Ziel erschöpft sich nicht in der Aufhebung bzw. Einschränkung der Grenzkontrollen — so wünschenswert es ist, daß es insoweit nicht bei bloßen und auch noch wahlkampfgefärbten Ankündigungen bleibt. Es erschöpft sich auch nicht in gemeinsamen Rüstungsprojekten, so wichtig die europäische Zusammenarbeit in diesem Bereich ist. Europäische Politik muß weiter, muß tiefer gehen, muß mehr sein als nur eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.Dafür, Herr Kollege Dregger, müssen die politischen Kräfte Europas zusammengeführt werden. Darum habe ich es eigentlich etwas bedauert, daß Sie in einer Rede, die zum Teil dem gleichen Ziel diente, wieder meinten sagen zu müssen: Da haben doch die „bösen Anderen" überhaupt nichts für Europa getan!,
während es doch wahr ist, daß die Sozialdemokraten die Vereinigten Staaten von Europa in ihrem Heidelberger Programm von 1925 gefordert haben, als sie von anderen dafür noch als „vaterlandslose Gesellen" beschimpft wurden.
In dem Streit um die Form Europas ist es nie um die Europaidee selbst gegangen. Herr Kollege Dregger, Sie geben mir sicher zu: Ohne die Sozialdemokraten hätte es keine Norderweiterung der EG gegeben; auch die Süderweiterung wäre nicht so weit, wie sie jetzt ist.
Ich kann bei diesem Thema bleiben. Wenn sich z. B. der Kollege Bangemann umgekehrt proportional zur Stärke der FDP dickleibig und vollmundig hinstellt und gegen ein „Europa des Sozialismus" polemisiert,
dann zeigt sich in dieser ebenso törichten wie illiberalen Formel die Brüchigkeit einer solchen Art von Europapolitik. Wie soll dann wohl Europa — vereinzelter FDP-Kollege, der Sie da klatschen — ohne die Sozialisten Mitterrand, Craxi, Papandreou oder auch Felipe Conzales,
wie soll es ohne die starken Parteien des demokratischen Sozialismus in allen europäischen Ländern gebaut werden?
Wollen Sie die alle ausgrenzen, und sollen umgekehrt die sozialistisch geführten Länder etwa die Bundesrepublik oder Großbritannien ausgrenzen, nur weil sie zur Zeit — ich sage nicht „zufällig", aber „bedauerlicherweise" — nun mal von konservativen Regierungen geführt werden? Nein, hier gilt es, auch gegenüber manchen Platitüden von christdemokratischer Seite die Einsicht durchzusetzen, daß europäische Gemeinschaft zu Hause beginnen muß.Jean Monnet, der Gründungsvater des integrierten Europas, war klug genug, in sein Komitee nicht nur die regierenden Parteien, sondern auch die Opposition und die Gewerkschaften mit einzubeziehen. Daran sollte sich die Bundesregierung ein Beispiel nehmen. Wenn sie es mit Europa ernst meint, dann muß sie für die notwendige Willensbildung und das politische Engagement für Europa alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte der Bundesrepublik zusammenzufassen suchen. Bisher fehlt leider auch nur die kleinste Anstrengung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers für einen solchen Konsens, obgleich er meines Erachtens im Bereich des Möglichen liegt.Wir Sozialdemokraten haben demgegenüber solche Vorschläge gemacht. Sie liegen auf dem Tisch. Die SPD-Fraktion hat am 11. April 1984 ein Konzept für die Selbstbehauptung Europas vorgelegt. Es ist außerhalb der Bundesrepublik eingehender als in den Reihen der hiesigen Rechtskoalition gewürdigt worden. Es mangelt also nicht an Vorstellungen und an Vorschlägen,
es fehlt aber am Dialog, meine Damen und Herren von der Rechtskoalition, und an der Bereitschaft zur Zusammenarbeit.Hier komme ich nun zu einem kritischen Punkt. Dieser Teil Ihrer Europapolitik, daß Sie verbal nach Zusammenarbeit rufen, aber nichts praktisch zustande zu bringen versuchen, spiegelt Ihre verfehlte und gefährliche Innenpolitik wider.Die wirtschaftliche und soziale Stabilität wird heute in West- wie in Osteuropa durch die Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit gefähr-
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Dr. Ehmke
det. Ernst zu nehmende Beobachter sprechen von einer „Weltarbeitsmarkt-Krise ungeheuren Ausmaßes". So sagt etwa Richard Barnet in seinem Buch „Die mageren Jahre":Die Energie-Krise war die Zeitbombe der 70er Jahre; die Krise des Weltarbeitsmarktes wird wahrscheinlich die Zeitbombe der 80er Jahre.Hier liegt die zentrale Aufgabe nicht nur für unsere Gesellschaftspolitik, sondern auch für die Politik der Europäischen Gemeinschaft. Aber auch diese Aufgabe kann nur unter Beteiligung aller politischen Kräfte und gesellschaftlichen Gruppen gelöst werden. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, Herr Kollege Dregger: Ich habe Zweifel, ob sich die Bundesregierung überhaupt bewußt ist, welche Anforderungen die gegenwärtige Krisensituation insofern stellt. Statt vor einer solchen Zusammenarbeit stehen wir in der Bundesrepublik vor einer verhängnisvollen innenpolitischen Entwicklung, vor dem Versuch einer Rückkehr der Herrschaft von Besitz und Kapital über die breiten Schichten der Erwerbstätigen und der Arbeitslosen.
Der demokratischen Forderung nach mehr Teilnahme aller Schichten an der politischen und wirtschaftlichen Willensbildung wird der Machtanspruch einer Oberschicht entgegengesetzt.
Der Bundeskanzler hat sich, verschleiert durch Volkskanzler-Attitüden, zum Fürsprecher dieser Oberschicht gemacht, unter kräftiger Mithilfe des vom Grafen Lambsdorff repräsentierten Unternehmerflügels der FDP.
Die rücksichtslose Parteinahme für die Arbeitgeberinteressen in der gegenwärtigen Tarifauseinandersetzung ist nur ein Ausdruck für diesen neuen Machtkampf von oben.
Weil Sie die Interessen wichtiger Gruppen unseres Landes einfach beiseitezuschieben und machtpolitisch auszuschalten versuchen, sind an die Stelle von Diskussion und Kompromiß, die bisher unser soziales Klima bestimmt haben, Versuche der rücksichtslosen Interessendurchsetzung der einen Seite auf Kosten aller anderen getreten.
Die wirksame Mitbestimmung und der Ausgleich gesellschaftlicher Interessen bleiben bei einer solchen unverantwortlichen Politik auf der Strecke.
— Ich verstehe Ihre Zwischenrufe. Mit einer solchen Politik des Machtkampfs von oben kann man natürlich auch keine vernünftige Europapolitik machen.
Dann kommt es zu den Versuchen wie denen von Herrn Dregger und Herrn Bangemann, Andersdenkende aus Europa auszugrenzen.
Der Bundeskanzler und seine Rechtskoalition wollen sich in der Europawahl Rückendeckung für diese rücksichtslose Innenpolitik holen. Diese Politik ist aber nicht nur eine Politik auf Kosten der sozial Schwächeren und ihrer Vertretungen, sondern sie ist auch eine Politik auf Kosten Europas.
Europa darf nicht zu einem Europa der Privilegierten und der Reichen werden.
Europa braucht alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen, um sich in dieser schwierigen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Situation behaupten zu können.
Wir hoffen sehr, daß die Bürgerinnen und Bürger diese Einsicht, die für Europa lebenswichtig ist, durch ihre Stimmabgabe bei der Europawahl stärken werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rumpf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Also, mein lieber Herr Ehmke, nach dem, was Sie hier gesagt haben, muß ich doch feststellen, daß unser lieber Herr Bangemann anscheinend recht gehabt hat, indem er vor einem sozialistischen Europa gewarnt hat.
Genau das, was Sie hier aufgebaut haben, nämlicheinen Popanz, auf den man dann eindreschen kann,
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Dr. Rumpfführt zu der miesen Stimmung gegenüber Europa, die allgemein zu bedauern ist.
Meine Damen und Herren, wir sind hier in einer ganz bedenklichen Lage: Einerseits wollen wir Erfolge vorzeigen, andererseits müssen wir zugeben, daß nicht so viel erreicht worden ist, wie wir gewünscht haben. Auf der einen Seite bedauern wir, was sich die Bürokraten — ich kann auch sagen: Eurokraten — leisten und welche Entscheidungen die Regierungen fällen oder nicht fällen, auf der anderen Seite rufen wir die Bürger auf, sich an den Wahlen zum Europäischen Parlament zu beteiligen, ja, sich sogar zu engagieren, zu begeistern.Wir Freien Demokraten wollten eine solche Debatte im Bundestag mit Absicht vor dem 17. Juni haben. Diese Debatte heute soll zeigen, daß es in Europa — trotz vieler Rückschläge — mit konkreten Schritten weitergegangen ist. Der Weg der Europagegner und -miesmacher führt in eine Sackgasse.
Die Freien Demokraten haben sich daran nicht beteiligt und werden es auch in Zukunft nicht tun.
— Zu Ihnen komme ich noch, Herr Fischer.
Durch einprägsame Schaubilder in den Medien wird unseren Bürgern seit Jahren eingehämmert,
daß die Bundesrepublik Deutschland mehr Geld in die EG-Kasse einzahlt, als sie über Rückflüsse und Subventionen wieder herausholt. Diese Darstellungen sind einseitig und der Sache nicht angemessen; von uns jedenfalls werden sie abgelehnt. Zunächst ist dies in einer Gemeinschaft unterschiedlich wohlhabender Nationen selbstverständlich; Herr Dregger hat darauf hingewiesen. Über den Länderfinanzausgleich macht sich niemand Gedanken, jedermann findet das in Ordnung. Nur in Europa wird es als schlimm empfunden, wenn wohlhabendere Länder zum Ausgleich für ärmere Regionen beitragen.Aber wie sieht das denn in der Bundesrepublik Deutschland aus, die j a wohlhabend ist? Im ersten Jahr der Europäischen Gemeinschaft, der EWG, gingen 30 % der Ausfuhren in die heutigen neun EG-Partnerstaaten. Heute sind es 50 % der Ausfuhren, und dabei gibt die EG jedem sechsten deutschen Erwerbstätigen Arbeit.
Der Handel mit deutschen Erzeugnissen in der EGhat sich seit 1958 versiebenundzwanzigfacht. Derdeutsche Exportüberschuß beträgt 25 Milliarden DM; das bedeutet 500 000 Arbeitsplätze.
Diese Arbeitsplätze ersparen der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit Ausgaben von 8 Milliarden DM; der Sozialversicherung bringen sie Einnahmen von 3 Milliarden DM. Der deutsche Nettobeitrag wird immer mit 6 Milliarden DM angegeben. Meine Damen und Herren, allein die Bundesbahn kostet jährlich 14 Milliarden DM. Insgesamt erreichten die deutschen EG-Exporte ein Volumen von 206 Milliarden DM. Davon entfallen auf Agrarexporte — man höre und staune — fast 17 Milliarden DM. Heute geht mehr deutscher Käse nach Italien, als französischer Käse nach Deutschland geliefert wird.
Dies alles sind erstaunliche, ernüchternde, aber gleichwohl erfreuliche Zahlen, wenn man das mit den Darstellungen vergleicht, wie der deutsche Michel mit süßsaurer Miene einen EG-Topf aufzufüllen hat. Wir Freien Demokraten werden nicht müde, diese Tatsachen auch offen auszusprechen.Der gesamte EG-Haushalt der zehn EG-Länder beträgt mit ca. 60 Milliarden DM weniger als ein Sechstel des Bundeshaushaltes und ist gerade so groß wie der des Landes Nordrhein-Westfalen.Auch wir wissen: Alle diese Zahlen können als Gegenargumente nicht ausreichen, wenn die Völker Europas höhere Erwartungen haben und mit den Fortschritten nicht zufrieden sind. Eigentlich ist dies doch ein ganz gutes Zeichen. Es läßt erkennen, daß die Bürger mit der Integration schon weiter vorangekommen sind als die Politiker und die Regierungen. Ich konnte dies zu meiner Freude sogar in England feststellen, wo mir viele Gesprächspartner sagten, daß ihnen in Europa alles zu langsam gehe. Bei den englischen Politikern war das allerdings etwas anders, zugegeben. Da hatte ich nur bei meinen liberalen Freunden, einigen Sozialdemokraten und einigen Konservativen keine Probleme; insgesamt aber war die Zurückhaltung etwas größer. Den Trend, daß die Völker eigentlich mehr wollen, als die Regierungen bisher geleistet haben, gilt es jetzt zu unterstützen.Das gilt auch für die Grenzkontrollen im innereuropäischen Verkehr. Kaum einer erinnert sich noch an die Formalitäten der 50er Jahre. Man brauchte Visum, Carnet, Triptik, neben dem Reisepaß und den Versicherungskarten, wenn man mit einem Auto über die Grenze fahren wollte. Ich habe an dieser Stelle schon einmal gesagt, daß ich in diesen Jahren zu den jungen Leuten gehörte, die an der lothringischen Grenze die Grenzpfähle mit eingerissen haben.
Dies ist bis heute alles wirklich sehr vereinfachtworden. Dennoch ist es für viele Bürger immer
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5357
Dr. Rumpfnoch sehr lästig. Denken Sie mal an Rheinland-Pfalz. Das ist ja wohl das Land mit den meisten EG-Grenzen. Dort haben die Arbeitnehmer im kleinen Grenzverkehr nach Belgien, Luxemburg und Frankreich noch Probleme. Dort gibt es versicherungsrechtliche Probleme und auch Probleme mit dem Kindergeld. Also, hier kann man noch vieles tun.Vor allem aber gab es Bürokraten, die im Güterverkehr neue Hindernisse aufgebaut haben.
Der Streik der Lastwagenfahrer an der italienischen Grenze hatte unsere volle Sympathie — ich kann wohl sagen: die volle Sympathie des Deutschen Bundestages.
Und wir von der FDP sind dem Kanzler dankbar, daß er mit dem italienischen Ministerpräsidenten deutliche Worte darüber gesprochen hat.
Wir unterstützen auch ausdrücklich die Initiative der Verkehrsminister der EG-Länder, Sonderspuren für Brummis aus den EG-Ländern einzurichten. Auch das Gipfeltreffen von Rambouillet läßt viele neue Hoffnungen aufkommen. Natürlich müssen wir Staatspräsident Mitterrand und auch Kanzler Kohl unterstützen, aber auch daran erinnern und beim Wort nehmen.Die Freien Demokraten ermutigen die Bundesregierung und die Benelux-Länder bei der Busbeförderung und. im Grenzverkehr allgemein Erleichterungen zu schaffen.Ich frage aber: Reicht dies aus? Ich meine, es reicht nicht aus. Um ein echtes Europagefühl, ein Wir-Gefühl zu wecken, reicht es nicht aus. Deshalb fordere ich die Bundesregierung noch einmal nachdrücklich auf, unverzüglich — und warum sollte das nicht gehen, Herr Dregger? — alle Personenkontrollen an den Binnengrenzen einseitig einzustellen,
spätestens am 1. Januar 1985 einen Europapaß einzuführen, und zwar ohne gleichzeitige totale Durchleuchtung der Personen über Datenkontrollen. Wir Freien Demokraten wollen, daß die Urlauber schon in diesem Feriensommer an allen europäischen Binnengrenzen freie Durchfahrt erhalten,
daß die Ampeln an den Grenzen auf Grün geschaltet werden. — Jetzt hören die GRÜNEN nicht zu. Wir wollen ein Europa ohne Grenzen, ein grenzenloses Europa.
Weitere Schritte zur Schaffung eines Wir-Gefühles: die vollständige Transparenz und Anerkennung der jeweiligen Bildungsabschlüsse und eine ganz eng koordinierte Umweltpolitik.Meine Damen und Herren, die Herausforderungen sind doch da. Die Luft und die Flüsse werden verschmutzt. Die Schadstoffe werden als einzige ohne Kontrolle grenzenlos ausgebreitet.
Die Wälder leiden und sterben. Und die wundervollen Kulturdenkmäler Europas werden zerstört. Hier hilft nur eine enge technologische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Deswegen frage ich mich, warum Sie von der GRÜNENFraktion nicht bereit waren, so etwas in Ihr Programm aufzunehmen. Nein, Sie wollen in regionalen Einheiten Umweltschutz betreiben, also nicht EG-weit. Sogar EG-weit ist aber noch zu wenig; wir müssen hier weltweit denken.
— Ich komme auf Sie noch zurück.Wir fordern die Zusammenlegung und Koordinierung der Forschung und Entwicklung in Europa, denn nur gemeinsam sind wir stark. Hier helfen nicht europäische Larmoyanz, das Beklagen und die Arroganz gegenüber den USA und Japan weiter, nicht der Rückfall in den Protektionismus. Wir müssen uns vielmehr den Herausforderungen durch diese beiden Staaten stellen, die j a Konkurrenten auf dem Weltmarkt sind. Die USA und Japan haben die Zahl ihrer Patente in den letzten zehn Jahren verdoppelt; Europa hat die Zahl seiner Patente halbieren müssen. Die einzelnen EG-Länder stekken aber trotzdem doppelt soviel Mittel in die Forschung und Entwicklung wie allein Japan. Japan hat aber viermal soviel Patente angemeldet. Dies ist eine Herausforderung, die wir annehmen müssen. Wir haben ja gute Beispiele für europäische Zusammenarbeit, z. B. den Airbus, ein deutsch-französisch-englisch-italienisches Gemeinschaftsprojekt. Umwelttechnik und Biotechnologie,
werden im Jahre 2000 einen Marktanteil von 100 Milliarden DM haben. Gerade hier bei diesen Zukunftstechnologien sind wir jetzt gefordert.Europa wird eines Tages einmal daran gemessen werden, ob es seine Wälder und seine Kulturdenkmäler gerettet hat, und nicht daran, wie die Milchquoten und die Oliven verteilt worden sind.
Meine Damen und Herren, wir brauchen deshalb unverzüglich eine europäische Umweltschutzgesetzgebung auf höchstem Niveau. Alle Anstrengungen müssen jetzt darauf gerichtet sein, bei Industrieemissionen und Autoabgasen wenigstens die Werte zu erreichen, die in Japan schon vorgeschrieben sind.Wenn es unter den zehn Partnern Länder gibt, die eine politische Union — die Vereinigten Staaten
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5358 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Dr. Rumpfvon Europa — nicht oder jetzt noch nicht wollen, dann müssen diese Union eben neun, acht oder sieben der Partner schaffen.
Es soll niemand abgedrängt oder vor die Tür gestellt werden, aber es darf auch nicht hingenommen werden, daß ein oder zwei Länder die Integration behindern.
Wir Freien Demokraten begrüßen ausdrücklich alle Initiativen zur Europäischen Union, die Anstrengungen des Kanzlers Dr. Helmut Kohl, die des Außenministers in der Genscher/Colombo-Initiative, die Anregung des niederländischen Ministerpräsidenten Lubbers, Deutschland den Benelux-Ländern — wir kämen dann zu Benedelux — anzuschließen, und die verheißungsvolle Initiative des französischen Ministerpräsidenten Mitterrand, die Mehrheitsbeschlüsse wiedereinzuführen.
Seine Rede vor dem Europäischen Parlament war eine gute Fortführung der Genscher/Colombo-Initiative. Der Schlüssel für den Fortschritt in Europa liegt in der Rückbesinnung auf die Römischen Verträge. Wer die Mehrheitsbeschlüsse nicht mitträgt, begibt sich in eine andere Integrationsgeschwindigkeit. Damit wären wir bei dem Wort des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten.
Ein Europa der Kernländer ist nicht so absurd, wie manche denken. Es existiert ja de facto schon, z. B. in der engen Zoll- und Währungsunion der BeneluxLänder, in der Währungsschlange oder im Europäischen Währungssystem, dem ja auch nicht alle EG- Länder angehören, beim Fischereiabkommen, dem Dänemark wegen seiner Probleme mit Grönland nicht voll beitreten konnte. Es war eigentlich in der Geschichte immer so, daß zunächst ein kleiner Kern gebildet wurde — etwa der Deutsche Zollverein oder die 13 Staaten der Vereinigten Staaten von Amerika — und später dann weitere Staaten unter den gleichen Bedingungen und unter der gleichen Verfassung hinzugetreten sind. Ein Europa der Kernländer könnte die politische Union aus einem Integrationskern heraus beschleunigen, der auf alle Nachbarn starke Anziehungskraft ausübt.Meine Damen und Herren, es wurde vorhin schon gesagt: Das Europa der Zehn ist ein Torso ohne Spanien und Portugal,
— ein Rumpf-Europa, meinetwegen auch ein Europa ohne Kopf. Gerade die Iberische Halbinsel ist für die politische Dimension Europas sehr wichtig. Die EG ist zwar der größte Handelspartner der Welt, hat aber auf der Weltbühne noch eine Nebenrolle zu spielen. Solange wir uns nicht über Grenzausgleiche, DIN-Vorschriften oder Reinheitsgebote einigen, können wir weder im Nahostkonflikt, nochim südlichen Afrika, noch in Mittelamerika mitsprechen und mitentscheiden. Europas Mitsprache wird aber erwartet. Die Länder dieser Welt, insbesondere die Länder der Dritten Welt, die Entwicklungsländer, wollen Europa als Partner haben. Deshalb wird dem dritten Lomé-Abkommen, das im nächsten Jahr neu abgeschlossen wird, eine ganz besonders große Bedeutung zukommen.
Ich will noch einmal zurückkommen auf die Mitgliedschaft Spaniens. Spanien könnte aus Europa heraus gerade in Mittelamerika eine ganz wichtige Rolle spielen und mit dem Verbund der europäischen Staaten auch den mittelamerikanischen Staaten stärker die Sicherheit verleihen, die sie heute vergeblich woanders suchen.Europa heißt aber nicht nur das EG-Europa der zehn oder zwölf Staaten, sondern dazu gehören auch die anderen Nachbarn, von Skandinavien bis hin zur Türkei.
Ich möchte auch Finnland ausdrücklich erwähnen. Und zu Europas Hauptstädten gehören Prag, Warschau und Bukarest ebenso, wie Dresden und Leipzig deutsche Städte sind.Damit ist die sicherheits- und friedenspolitische Dimension angesprochen. Westeuropa und Osteuropa leben in derselben Verantwortungsgemeinschaft, in der auch die beiden deutschen Staaten leben. Wir haben eine Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden in Europa und in der Welt. Wir sollten den Anfang machen mit der Abschaffung aller chemischer Waffen auf europäischem Boden. Andere Verträge zur kontrollierten Abrüstung könnten dann folgen.Meine Damen und Herren, die Europäischen Liberalen Demokraten haben sich als einzige Fraktion im Europäischen Parlament auf ein gemeinsames Programm geeinigt.
Die Sozialisten kamen dazu nicht. Die wochen-, monate- und jahrelange Miesmacherei — ich habe vorhin schon davon gesprochen — versucht man jetzt, meine Damen und Herren von der SPD, durch einen europäischen Zirkus zu übertönen. Glauben Sie wirklich, daß Sie jetzt mit einem Europa-Zirkus alles das wiedergutmachen können, was Sie in den vergangenen Jahren durch Kritik an der Regierung und an Europa miesgemacht haben?
Europa kann nur Zukunft haben, wenn die Arbeitslosigkeit abgebaut wird, vor allen Dingen die Jugendarbeitslosigkeit.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5359
Dr. RumpfEuropa braucht einen Aufschwung. In Deutschland hat er begonnen. Warum versuchen Sie, ihn kaputtzustreiken?
Warum, meine Damen und Herren — das muß doch hier gesagt werden —, haben die Sozialisten der europäischen Länder sich jetzt auch noch darauf verstanden, den Europawahlkampf gegen den Aufschwung zu führen,
und haben sich solidarisiert mit allen, die hier streiken? Ich sage dagegen, daß man die Streikbrecher ganz besonders in Schutz nehmen müßte.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, Sie müssen sich erst mal fragen lassen, für wie lange Sie überhaupt ins Europaparlament gewählt werden wollen, wann Sie rotieren wollen.
— Zweieinhalb Jahre? - Gut.
— Wenn ich Sie so sehe, tut es mir beinahe leid, daß Sie ja bald, wenn die Sommerferien vorbei sind, alle schon nicht mehr da sein werden.
Meine Damen und Herren, das Wir-Gefühl für Europa könnte z. B. auch dadurch noch verstärkt werden, daß die Europäer einmal auf die Idee kommen, zu den Olympischen Spielen eine gemeinsame Jugendmannschaft zu schicken, eine europäische Jugendmannschaft. Das fördert das Wir-Gefühl, oder durch eine europäische Fernsehanstalt, bei der man auch mal Dinge sieht, die die anderen Länder angehen, auch Fußballspiele beispielsweise, die interessant sind in Städten, in denen keine deutsche Mannschaft dabei ist. Es gibt so einiges, was man im politischen Raum nicht durch Beschlüsse machen kann, sondern dadurch, daß man das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Gemeinschaftsgefühl fördert.
Das Europäische Parlament braucht jedenfalls mehr Kompetenzen. Das Europäische Parlament ist nicht schuld an dem einen oder anderen, was uns nicht gefällt.
Diese Kompetenzen kann das Europäische Parlament bekommen, indem die Wähler in Europa dem Europäischen Parlament ein starkes Mandat geben, indem sie mit einer starken Wahlbeteiligung die Abgeordneten wählen. Dann können sich die Abgeordneten auch gegenüber der Kommission, gegenüber dem Ministerrat und anderen Institutionen künftig mehr herausnehmen.Herzlichen Dank!
Das Wort hat der Abgeordnete Vogt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Der Kollege von der FDP hat eben, ohne daß er das vielleicht gemerkt hat, ein grünes Rumpfprogramm hier vorgelegt; denn er hat sich an der Interpretation dessen versucht, was die GRÜNEN auf europäischer Ebene fordern. Er hat gesagt: Ihr habt ja noch nicht einmal ein europäisches Umweltprogramm, ihr wollt ja alles nur in den Regionen machen. Ich meine, Herr Rumpf, das ist, gelinde gesagt, das bewußt gepflegte Mißverständnis, und das ist auch die Art des Schlagabtausches, so wie Sie ihn auch mit den Kollegen von der SPD hier führen wollten. Das macht die Bürger in Europa verdrießlich, wenn sie wieder zu einer neuen Wahl an die Urne gebracht werden sollen.
— Genau wie der Herr Kollege Fischer sagt, sind wir natürlich gegen verdrießliche Europäer.
Wir sind aber in erster Linie — da komme ich zu einem anderen Mißverständnis, das im Anschluß an die erste Lesung in diesem Hause zu dem Entwurf für eine Europäische Union hier gepflegt worden ist — gegen ein zentralistisches Europa, gegen ein Europa, das Gewalt anhäuft, gegen ein Europa, das eine Supermacht wie gehabt, nämlich wie die USA oder die Sowjetunion, werden könnte. Deshalb haben wir uns letztes Mal mit Entschiedenheit gegen all die Pläne, die hier u. a. Herr Dregger in Reinkultur vorgetragen hat, verwahrt. Wir sprechen uns gegen ein militarisiertes Europa aus. Wir haben bereits im Wahlkampf 1979 gesagt: Es mag vieles an der Europäischen Gemeinschaft kritisierenswert sein, aber eines hat sie, was man bewahren sollte, das ist ihr ziviler Charakter. Wenn Sie, Herr Dregger, bedauern, daß 1954 die Europäische Verteidigungsgemeinschaft nicht zustande gekommen ist, dann sagen wir, daß es außerordentlich wohltuend ist, daß nicht auf dem militärischen Weg versucht worden ist,
die europäische Integration durchzusetzen.
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5360 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Vogt
Nun, die Zeit ist weitergegangen. Von Herrn Ehmke sind ein paar Momente genannt worden. Für mich war das einigermaßen neu, daß er sich nun auf Afghanistan und Iran berufen hat; denn es war j a ursprünglich so, daß vor allem die erste und die zweite Ölkrise, 1973 und 1979, die Europäer veranlaßt haben, die Pläne, mit denen — das möchte ich hier sagen — Herr Dregger und Herr Strauß zunächst eine Außenseiterposition vertreten haben, wieder hervorzuholen. Ich muß auch sagen, mich beeindruckt und beunruhigt zugleich das gespenstische Tempo, mit dem z. B. die Sozialdemokraten und die Sozialisten ihren Widerstand gegen ein solches Militärkonzept aufgegeben haben.
— Ja.Jetzt komme ich zu dem Mißverständnis, das letztes Mal nach der ersten Lesung hier gepflegt worden ist. Wir haben nicht nur Einwände gegen die Militarisierung Europas, gegen die Zentralisierung, gegen einen neuen Leviathan, haben wir letztes Mal gesagt, also eine Supermacht, wir haben auch gegen eine Reihe von anderen Eigenschaften und Fehlentwicklungen der Europäischen Gemeinschaft Einwände. Wir haben — das möchte ich an die Adresse des Staatsministers Mertes sagen, der in einer Art schwarzem Humor letztes Mal, nachdem wir wegen der Kürze der Zeit nur zu Art. 68, der diesen europäischen militärischen Aufbau vorsieht, etwas vorgetragen haben, sagte, wir hätten dann wohl nichts gegen die übrigen 86 Artikel einzuwenden — etwas gegen die Grundkonzeption einzuwenden, wir haben etwas gegen die Verfassungswirklichkeit der Europäischen Gemeinschaft einzuwenden, nicht nur in dem Sinne, daß die Weichen gestellt werden für eine Militärmacht Westeuropa, sondern in dem Sinne, daß auch die Weichen gestellt werden für eine Atom- und Plutoniumgemeinschaft Westeuropa.
Darin sehen wir eine Abweichung von dem Europagedanken, ja eine Pervetierung des Europagedankens. Die List des Robert-Schuman-Planes war es — das ist der friedenspolitische Urgrund der Europäischen Gemeinschaft —, die Rohstoffe vor allem der beiden Streithähne Deutschland und Frankreich zusammenzulegen, Kohle und Stahl. In der Montanunion sollte das dann europäisch verwaltet werden, um sozusagen von der Industriebasis her zu verhindern, daß die beiden wieder einen Krieg gegeneinander führen. Insofern ist das ein friedenspolitischer Impuls.Man kann auch sagen, daß die Europäische Gemeinschaft von der Geschichte her, von den Inspiratoren der Zwischenkriegszeit her — z. B. Coudenhove-Kalergi — gedacht war als eine Friedensgemeinschaft. Coudenhove-Kalergi hat z. B. in seiner Vision von Paneuropa gefordert, daß die Vereinigten Staaten von Europa, dieses Paneuropa auf einer ersten Stufe eine Abrüstungsagentur errichten. Die Perversion, der sich das erste direkt gewählte Europäische Parlament schuldig gemacht hat, besteht leider darin, daß es nichts Besseres zu tun hatte, als eine Rüstungsagentur zu fordern.Wir, die GRÜNEN, knüpfen an die friedliche, an die friedensgeneigte Tradition der Europäischen Gemeinschaft an. Wir fordern in diesem europäischen Wahlkampf, daß im Europäischen Parlament ein Ausschuß für Abrüstung institutionalisiert wird. Wir fordern, daß das Rüstungskontrollamt in Paris, das ja nach Ihren Vorstellungen demnächst arbeitslos werden soll — wenn die Rüstungsbeschränkungen für die Bundesrepublik aufgehoben werden —, Forderungen, die an die Friedenstradition der Europäischen Gemeinschaft bzw. des Europagedankens anknüpfen.
Wenn das Bismarckreich auf der Reichsgründungsformel Blut und Eisen beruhte, dann haben Sie es so weit gebracht, uns aus einem verlängerten Reichsdenken, der Europäischen Gemeinschaft, aus einem Großmachtdenken heraus die Gründungsformel Krebs und Plutonium zu bescheren.
Herr Kollege Vogt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt ?
Selbstverständlich, Herr Kollege Voigt.
Kollege Vogt, Sie haben eben gefordert, bei der Europäischen Gemeinschaft solle ein Abrüstungsamt eingerichtet werden; ein Vorschlag, den ich sehr gut finde. Heißt das, daß Sie der Europäischen Gemeinschaft, dem Europäischen Parlament abrüstungs- und damit auch sicherheitspolitische Kompetenzen übertragen wollen?
Herr Kollege Voigt, das beinhaltet natürlich, daß das Europäische Parlament Initiativen für die Abrüstung ergreifen soll, daß das Europäische Parlament den Europäern helfen soll, aus der Sackgasse in der Abrüstungsfrage herauszukommen. Das beinhaltet aber nicht logischerweise — das wäre eine linerare Logik, die ich ablehnen würde —, zu sagen, wir müssen erst europäisch aufrüsten, um überhaupt erst in der Lage zu sein, europäisch abzurüsten.
Diese Formel des Abrüstens nach Aufrüstung würden wir natürlich ablehnen.Ich meine, daß das der nächstliegende Schritt ist: die Europäer zur Abrüstungsfähigkeit zu ermutigen,
sie zu ermutigen, über das hinauszugehen, Herr Kollege Voigt, was jetzt z. B. in Stockholm auf der Stelle tritt, was sich erst 1986 in Wien, wenn es so weit kommt, an Abrüstung vorsichtig herausschält, weil man an alten Konzepten festhält.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5361
Vogt
Wir schlagen vor, dort neue Gedanken zu entwickeln und sie auch in die europäische Entwicklung einzubringen.
— Genau. Sie erinnern mich im übrigen daran, daß ich noch zur SPD kommen wollte: Das, was hier immer wieder vorgetragen wird, insbesondere vom Kollegen Horst Ehmke, nämlich der Gedanke der Selbstbehauptung — ein an sich sympathischer Gedanke —, beinhaltet leider im Kern auch diesen erschreckenden Gedanken einer europäischen Militärgroßmacht.
— Doch. — Diesen neuen Gedanken lehnen wir ab, Herr Kollege Voigt.
Wir lehnen die europäische Militarisierung ab, weil sie unter den Bedingungen des Atomzeitalters denknotwendig bei der atomaren Bewaffnung landen wird. Für uns ist der Unterschied nicht beruhigend — im Gegensatz vielleicht zu anderen — —
— Wir wollen vor allem ein Europa mit entwaffnenden Konzepten.
Dazu gehört, wie Sie zu Recht angemerkt haben, ein Europa, das ohne Waffen, das ohne erpresserische Drohungen — insbesondere gegenüber den Ländern, die Rohstofflieferländer sind — auskommt.Wir haben mit großem Bedauern festgestellt, daß das neue Europäische Parlament nach der Rüstungsagentur als nächstes Projekt eine militärische Zusammenarbeit — es hat zunächst ein bißchen geklemmt, aber inzwischen ist es dort die Mehrheitsmeinung — um das Kap der Guten Hoffnung herum im maritimen Bereich voranbringen wollte. Dort wird den ehemaligen Kolonialländern, den Ländern des Lomé-Abkommens, durch die Abhängigkeit von der EG, in der sie sich nun einmal befinden, aufgenötigt, Stützpunkte für den Aufbau einer europäischen Verteidigung auch außerhalb der europäischen Binnengrenzen zu akzeptieren. Begründet wird das gerade mit den Krisen wie etwa der Ölkrise. Da wird gesagt, das sei die nächste Aufgabe Europas. Auch dies lehnen wir ab.Wir lehnen auch ab — das habe ich vorhin schon erwähnt —, daß man, um sozusagen die Bundesrepublik geneigter zu machen, sich einem solchen militärischen Aufbau anzuschließen, diese Bundesrepublik von den Rüstungsrestriktionen der Pariser Verträge von 1954 freistellen will.Wir lehnen eine Betrachtungsweise gegenüber den Ländern der Dritten Welt, insbesondere gegenüber Afrika, ab, die ein Kollege der CSU in der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union so formulierte, daß Afrika der weiche Unterleib Europas sei. Das ist eine koloniale Sprache. Wir lehnen auch die koloniale Gesinnung ab, die hinter dieser Redensart steckt.Wir wollen ein ökologisches Europa; wenn Sie so wollen — auf der Basis der Formel von der EWG, der Europäischen Wirtschafts-/Wachstumsgemeinschaft —, eine OWG, eine ökologisch wirtschaftende Gemeinschaft. Wir wollen ein Europa, das keine Überschußproduktion hat, weder an Milch noch an Obst,
das nicht zur Vernichtung dieser Nahrungsmittel Riesensummen ausgibt.
Wir wollen ein Europa, das nicht — von der EG aus gesteuert — noch zur weiteren Vergiftung der Böden und der Nahrungskette beiträgt.All dies wollen wir. An die Adresse von Herrn Rumpf möchte ich sagen: Sorgen Sie mit dafür, daß sich Europa darauf besinnt, eine faire Partnerschaft gegenüber den Ländern der Dritten Welt, insbesondere gegenüber Afrika, zu entwickeln, daß Europa selbstgenügsamer wird,
daß sich Europa in erster Linie auf eigene Ressourcen besinnt und nicht mit erpresserischen Verträgen und mit erpresserischen militärischen Potentialen die Rohstoffe aus der Dritten Welt heraus-preßt!
Dann haben wir einen Beitrag zu einer neuen europäischen Friedensordnung
und auch zu einer neuen europäischen Friedensordnung und einer Weltfriedensordnung geleistet.Danke schön.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Mertes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung weiß sich mit den im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, die in der Bundesrepublik Deutschland Regierungsverantwortung getragen haben, einig in ihrer positiven, in ihrer drängenden Einstellung zur europäischen Einigung.
Denn die Politik, die sich diesem Ziel verpflichtet weiß, ist die erfolgreichste Friedensbewegung der Nachkriegszeit;
hat sie es doch geschafft, Völker miteinander zuversöhnen, die sich über Generationen in brudermörderischen Interessenkonflikten einander ge-
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5362 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Staatsminister Dr. Mertesgenüberstanden, die aber inzwischen begriffen haben, daß die gemeinsame Gestaltung von Frieden, Sicherheit und Wohlstand, und zwar auf der Grundlage von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, ihr wahres Interesse ist.Und dann: Es ist die Einigung Europas, die eine entscheidende Voraussetzung schafft für jenen „Zustand des Friedens in Europa, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". So kennzeichnet der Deutschlandbrief der Regierung Brandt aus Anlaß des deutsch-sowjetischen Gewaltverzichtsvertrags von 1970 und des innerdeutschen Grundlagenvertrages von 1972 die Politik der Bundesrepublik Deutschland, ganz im Sinne der demokratischen, nationalen und europäischen Maßstäbe, die unser Grundgesetz und der Deutschlandvertrag verpflichtend festlegen.Wenige Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament und knapp drei Wochen vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft in Fontainebleau ist für die Bundesregierung ein willkommener Anlaß gegeben, vor diesem Hohen Hause festzustellen, wo wir in der Europapolitik stehen, und uns zu fragen, wohin die weitere Entwicklung gehen soll.Es besteht fürwahr kein Grund zu Schönfärberei, aber auch kein Grund zu Resignation. In der Öffentlichkeit ist in diesen Tagen manche Stimme des Zweifels an der Einigungsfähigkeit, ja, sogar am Einigungswillen der Mitgliedstaaten zu vernehmen. Lassen Sie mich zu Beginn klarstellen: Diese Zweifel entsprechen nicht der Haltung der Bundesregierung.Hier noch ein Wort zu dem, was der Kollege Ehmke und der Kollege Vogt (Kaiserslautern) zur Sicherheitsfrage gesagt haben. Herr Kollege Ehmke, wir wollen doch die volle geschichtliche Wahrheit sagen: es bedurfte nicht erst der Absprache Schmidt/Giscard d'Estaing, um die Notwendigkeit eines stärkeren europäischen Pfeilers im Atlantischen Bündnis hervorzuheben. Diese Absprache bezieht sich nämlich auf den Deutsch-Französischen Vertrag von 1963, in dem Entsprechendes fest vereinbart worden war.
— Schön!
— Ich höre das gern, Herr Kollege Ehmke.Eine Diskussion zum Thema „gemeinsame Sicherheit des Westens" gab es auch schon vor unserem Beitritt zum Atlantischen Bündnis. Wir, die damalige Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, haben damals die Auffassung vertreten, daß die westliche Bündnisgemeinschaft von Anfang an einen starken europäischen Pfeiler haben muß.Daß es dazu nicht gekommen ist, lag nicht an der damaligen Mehrheit des Deutschen Bundestages; die Verantwortung dafür lag vielmehr beim damaligen französischen Parlament, aber auch bei denen in diesem Hohen Hause, die damals dagegen waren.
Aber wenn es heute so weit ist, daß wir gemeinsam die Bedeutung der Verstärkung des europäischen Pfeilers des europäisch-atlantischen Bündnisses erkennen: um so besser.Wir haben zwar die Westeuropäische Union. Da wir in der Europäischen Gemeinschaft eine angemessene Verstärkung des europäischen Sicherheitspfeilers bisher nicht erreicht haben,
weil es drei kleine Staaten gibt, die das — aus respektablen Gründen — nicht mitmachen zu können glauben, nämlich Irland, Dänemark und Griechenland, lag der Gedanke nahe, einen vorhandenen Rahmen zu nutzen, um zu überlegen, wieweit für Europa zusätzliche Sicherheit geschaffen werden kann.Aber, Herr Kollege Ehmke, auch da gibt es große Widersprüche in Ihrer Partei. Die Frage lautet immer noch — sie ist noch nicht beantwortet —: Wie schaffen wir es, mit der WEU zusätzliche Sicherheit zu schaffen?
Eine Vitalisierung der WEU darf nicht ein Weniger an Sicherheit gegenüber derjenigen bewirken, die wir heute durch das Bündnis haben.
— Sehr gut!
— Herr Kollege Vogt von der Koalition der GRÜNEN, natürlich kenne ich Ihre Position. Was uns unterscheidet, ist Ihre Vorstellung, der Unfriede gehe von Waffen und von Soldaten aus. Sie können das Thema der Abrüstung in Westeuropa doch nicht von dem Thema der Sicherheit Westeuropas trennen! Wenn Sie schon in den letzten Jahren so stark gegen unsere enge Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die wir für notwendig halten, polemisiert haben, dann schließen Sie sich doch wenigstens denjenigen im Bündnis an, die sagen: wir müssen den europäischen Pfeiler verstärken, damit ein spezifischer Beitrag der Europäer erbracht werden kann. Aber wenn Sie jetzt dafür plädieren, daß wir eine Zone einseitiger Abrüstung werden,
so ist das wider die elementaren Interessen der europäischen Völker, die in Frieden und in Freiheit leben wollen.
Wir alle, verehrte Kollegen, vergessen viel zu leicht, welche enormen greifbaren Vorteile die Eu-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5363
Staatsminister Dr. Mertesropäische Gemeinschaft jedem einzelnen von uns gebracht hat und täglich bringt. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Herr Dr. Dregger, und der Kollege Rumpf von der FDP haben hier einige wichtige Tatsachen genannt. Wir dürfen es nicht zulassen, daß die noch offenen Probleme die vielen Errungenschaften der Gemeinschaft auf zahlreichen Gebieten des wirtschaftlichen und politischen Lebens überdecken.Vergegenwärtigen wir uns doch folgendes: Die Europäische Gemeinschaft ist der größte Handelspartner der Welt — mit einem Außenhandelsvolumen, das größer ist als das der USA und der UdSSR zusammen. Sie bringt die Hälfte der Mittel auf, die der Dritten Welt als öffentliche Entwicklungshilfe aus allen westlichen Industriestaaten zufließen.
Das hätte ich von Ihnen, Herr Kollege Vogt , gerne gehört,
von der Tatsache ganz zu schweigen, daß allein die Entwicklungshilfe der Bundesrepublik Deutschland größer ist als die des ganzen Warschauer Paktes zusammengenommen.
Gerade diese Zahlen, nämlich die Leistung dieser Europäischen Gemeinschaft für die Staaten der Dritten Welt, sollten wir vor allen Dingen gegenüber den jungen Menschen und den Kirchen viel stärker bewußt machen; das wäre besser, als hier allgemeine ideologische Phrasen zu dreschen,
wie Sie, Herr Kollege Vogt von der Fraktion der GRÜNEN, das leider getan haben.
Die wirtschaftlichen Erfolge der EG spiegeln sich unmittelbar in der Einkommensentwicklung der privaten Haushalte wider. So hat sich der Lebensstandard in der Gemeinschaft, selbst in der Phase der Rezession nach der Ölkrise von 1973 bis 1981 real noch um 17 % erhöht,
in der Bundesrepublik Deutschland sogar noch um 21 %, und dies zu einem beträchtlichen Teil gerade auch dank der Zugehörigkeit zum Gemeinsamen Markt.
Und dann: Wer vergegenwärtigt sich beim Streit um die Finanzen der EG schon, daß der gesamte Haushalt — bitte beachten Sie doch diese sachliche Zahl, Herr Kollege Fischer —
[GRÜNE]: Jede Zahl
ist sachlich!)der EG mit ihren 271 Millionen Menschen nicht größer ist als der Haushalt des Landes NordrheinWestfalen
mit seinen 28 Millionen Einwohnern? Wer vergegenwärtigt sich, daß die jährliche Belastung eines EG-Bürgers durch den Gemeinschaftshaushalt etwa 150 DM ausmachte, d. h. etwas mehr als 2 %, verglichen mit seiner Belastung von rund 7 300 DM durch die nationalen öffentlichen Haushalte? Diese Beispiele ließen sich fortsetzen; ich will davon absehen.Europapolitik zielt nicht nur auf die Schaffung von Wohlstand und sozialer Sicherheit, Europapolitik ist vor allem — ich sage es noch einmal — erfolgreiche, greifbare Friedenspolitik.
Die größte Errungenschaft der Europäischen Gemeinschaft besteht darin, daß sie zwischen ihren Mitgliedstaaten den Krieg, ja sogar jede ernsthafte politische Interessenkollision unvorstellbar werden ließ. — Herr Kollege Fischer, Sie sagen: alles Phrasen;
ich aber verweise doch auf Realitäten, Sie hingegen reden Phrasen, die nicht verwirklicht werden können.
In der geopolitischen Lage der Bundesrepublik Deutschland mitten zwischen den großen Blöcken ist die friedensgestaltende Funktion der europäischen Einigung ein unschätzbarer Wert. Darauf, diesen Zustand in Europa zu erhalten und zu verfestigen, muß all unser Bemühen gerichtet sein. Nur ein geeintes Europa — ich wiederhole es auch hier — schafft den Rahmen, in dem das deutsche Volk seine Einheit in Freiheit wiedererlangt.
Ein starkes und selbstbewußtes Europa leistet einen unersetzlichen eigenständigen Beitrag zur Erhaltung des Gleichgewichts. Es dient damit der Stabilität des Westens und der Stabilität der Welt überhaupt.In dieser Perspektive kann die Gemeinschaft nicht länger eine Summierung nationaler Interessen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner sein. Damit würde die Gemeinschaft in ihrem politischen Kern bedroht. Wir sind entschlossen, den Schritt von der wirtschaftlichen Einigung zur politischen Union zu vollziehen. Wir halten den Prozeß der europäischen Einigung für unwiderruflich. Die politische Union ist das ausschlaggebende Ziel der in der EG angelegten Dynamik.
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5364 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Staatsminister Dr. MertesDer Wille zu politischer Einigung entbindet selbstverständlich nicht von der Notwendigkeit, die konkreten Alltagsprobleme dieser Gemeinschaft zu lösen, mag dies auch mühsam und langwierig sein. Die Bandbreite europäischer Tagespolitik, aber auch die Langfristigkeit europäischer Perspektiven wird deutlich, wenn man sich die Thematik der Entschließungen vergegenwärtigt, über die wir hier eine zusammengefaßte Debatte führen. Sie reicht zu Recht von der Erleichterung der Personenkontrollen im innergemeinschaftlichen Grenzverkehr über Fortschritte zur Verwirklichung des Binnenmarktes bis hin zur Initiative des Europäischen Parlaments für einen Vertrag zur Gründung der Europäischen Union.Die Bundesregierung begrüßt es, daß dem Rat eine verabschiedungsreife Entschließung zur Erleichterung der Kontrollen an den Binnengrenzen vorliegt, die pragmatische Schritte namentlich zur Verkürzung der Dauer der Kontrollen vorsieht. Darüber hinausgehend haben sich Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand beim deutsch-französischen Gipfel Ende Mai in Rambouillet auf die Abschaffung aller Formalitäten im Personenverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich geeinigt.Europa muß für den Bürger unmittelbar spürbar sein, wenn wir uns als Politiker die breite Zustimmung in der Bevölkerung zum Werk der europäischen Einigung erhalten wollen.
Der Abbau der Grenzen war eine Forderung, die am Anfang der europäischen Einigung stand. Sie ist in hohem Maße auch schon erfüllt. Über 25 Jahre nach Abschluß der Römischen Verträge ist es jetzt an der Zeit, die noch bestehenden Grenzkontrollen abzubauen.
— Da hätte ich gern Ihren Beifall gehört, Herr Kollege Ehmke.
In einer Zeit neuer technologischer Herausforderungen hält die Bundesregierung mit den Partnern die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen und technologischen Potentials Europas in enger Abstimmung mit den betroffenen Industrien und Einrichtungen in der Gemeinschaft für unerläßlich. Jede andere Haltung wäre im Hinblick auf die Grundlagen unseres sozialen Netzes und auf die konkreten Zukunftschancen unserer jungen Generation schlechterdings unverantwortlich.
Sie begrüßt die Verständigung — und nun kommt's, Herr Kollege — auf das ESPRIT-Programm, das die Zusammenarbeit der Gemeinschaft mit Industrieunternehmen
auf dem Gebiet der Informationstechnologie zumGegenstand hat. — Geistreichelnde Witzeleien er-setzen Politik nicht, Herr Kollege! — Sie ist bereit, an Programmfestlegungen für die Bereiche Telekommunikation und Biotechnologie mitzuarbeiten. Sie will dem wissenschaftlichen und technischen Austausch durch Anreize für die Mobilität der Wissenschaftler Auftrieb geben, auch durch die gegenseitige Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise. Nur durch Zusammenfassung ihrer wissenschaftlichen, technischen und finanziellen Kapazitäten wird es den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gelingen, im Wettbewerb mit den USA und Japan Schritt zu halten.
— Und wenn es für manchen auch langweilig ist: Es muß immer wieder gesagt werden.
So wichtig es ist, das Bestehende zu bewahren und Fehlentwicklungen zu korrigieren, so wichtig ist es auch, der europäischen Zusammenarbeit über 25 Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft neue Felder zu erschließen. Die Interessen der Mitgliedstaaten können nahezu 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nach Überwindung seiner wirtschaftlichen Folgen und tiefgreifenden Änderungen in den wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der europäischen Völker nicht mehr die gleichen sein wie damals. Sie reichen weiter. Dies war bereits eines der Ziele der Genscher-ColomboInitiative.Mit seiner großangelegten Initiative zur europäischen Einigung hat das Europäische Parlament seine erste Sitzungsperiode abgeschlossen. Wenige Tage vor der zweiten Europawahl sage ich Ihnen für die Bundesregierung und als Parlamentarier: Europapolitik ist nicht nur eine Sache der Exekutive.
Sie muß von der öffentlichen Meinung, vor allem aber von den gewählten Vertretern der Völker getragen, angeregt und auch kontrolliert werden.
Dies ist Aufgabe des Europäischen Parlaments, und diese Aufgabe hat es in den vergangenen fünf Jahren gut erfüllt, soweit dies innerhalb seiner begrenzten Kompetenzen überhaupt möglich war.
Dieses Kompliment sollten wir den Kollegen aller Fraktionen im Europäischen Parlament machen.Diese Zuständigkeitsgrenzen dürfen so nicht fortbestehen.
Die Befugnisse des Parlaments müssen erweitert werden.Die parlamentarische Demokratie entspricht der Grundüberzeugung aller Völker in der Gemeinschaft. Sie muß auch in der Gemeinschaft als Ganzer verwirklicht werden. Die Wähler aller Parteien sind am 17. Juni aufgerufen, sich zur Demokratie in
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5365
Staatsminister Dr. MertesEuropa zu bekennen. Dieses aktive Bekenntnis zu Recht und Freiheit in Europa ist in seinem ethischen und politischen Kern auf das engste verknüpft mit unserem Willen zu Recht und Freiheit für alle Deutschen, den wir auch am 17. Juni 1984 unvermindert bekunden. Europapolitik und Deutschlandpolitik sind nicht konkurrierende, sondern komplementäre Elemente einer Politik, die im Vorrang der Menschenrechte, in der Absage an den Grundsatz „Macht geht vor Recht" das geschichtsmächtigste Erbe Europas ist.
Die Gemeinschaft unterhält besondere Beziehungen mit ihren Partnern im Mittelmeer und — das hebe ich hervor — mit den 64 Staaten von Lomé. Sie ist in diesen Ländern, d. h. in Afrika, im Pazifik, in der Karibik, als ein politisches Ganzes präsent und leistet einen weltweit anerkannten partnerschaftlichen Beitrag zur wirtschaftlichen und politischen Stabilität dieser wichtigen Regionen der Welt.
Bei den kürzlichen Verhandlungen über ein LoméIII-Abkommen waren übrigens auch Mozambik und Angola auf ihren Wunsch als Beobachter anwesend.Als kürzlich in einer Euro-Show der ARD ein Kandidat der GRÜNEN die entwicklungspolitische Leistung der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der Lomé-Abkommen höhnisch abwertete, dachte ich an Tucholskys Wort „Die Unkenntnis des Gegenstandes erhöht erheblich die Sicherheit des Urteils".
Herr Kollege Ehmke, vielleicht können Sie einmal den Kollegen von den GRÜNEN die Leistung der Kollegen Wischnewski, von Dohnanyi und Corterier auf diesem Gebiete in Erinnerung rufen.Die Europäische Gemeinschaft ist und bleibt das Kernstück der europäischen Einigung. Die Bundesregierung begrüßt das klare Bekenntnis des französischen Staatspräsidenten zu diesem Grundsatz. Sie unterstützt seine Forderung nach einer Rückbesinnung auf den Geist, den Willen und die Regeln der Römischen Verträge. Dabei schließen schon vertragsrechtliche Gründe für den Kernbereich des Gemeinsamen Marktes Begrenzungen auf einzelne Mitgliedstaaten aus. Niemand aber sollte sich in neuen, bisher von der Gemeinschaft nicht erfaßten Bereichen einer Zusammenarbeit verschließen, wenn diese zur Zeit nur unter einzelnen Mitgliedstaaten möglich ist und wenn es nur so jetzt zu einem Fortschritt in Europa kommen kann. Unerläßlich ist, daß es allen Partnern freisteht, sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt anzuschließen, auch wenn sie heute dazu noch nicht in der Lage sind oder sich als dazu noch nicht in der Lage sehen. Kein Partner darf sich ausgeschlossen fühlen. Aber — wie der Bundeskanzler mehrfach gesagt hat — das langsamste Schiff darf nicht die Geschwindigkeit des Konvois bestimmen. Einige der langsamen Schiffe mögen sich sogar ermutigt fühlen, ihre Geschwindigkeit im europäischen Geleitzug zu erhöhen.
Die Bundesregierung begrüßt es, daß der französische Staatspräsident diesen Gedanken in einer Weise öffentlich eingeführt hat, die nur als eine offene Einladung an alle Partner verstanden werden kann, an weiterführenden Gesprächen teilzunehmen.Die Zeit für einen neuen europäischen Aufbruch, einen wirklichen Aufbruch, ist gekommen. Wir Deutschen wollen dabei weiter der Motor der europäischen Einigung sein. Wir alle in diesem Hause sollten uns in dieser Entschlossenheit zusammenfinden, im Wort und in der konkreten politischen Tat.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Steger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier auch über ein Memorandum der französischen Regierung für eine neue Stufe Europas: „Ein gemeinsamer Raum für Industrie und Forschung." Das ist ein Memorandum, meine Damen und Herren, von dem der Bundeswirtschaftsminister in der Sitzung des Wirtschaftsausschusses am 4. April zugeben mußte, daß es ihm nocht nicht bekannt war. Er hat es dann lieber dem Außenminister überlassen, das Memorandum zu würdigen, der am 11. Mai darauf eine sehr lobende Rede gehalten hat.Es ist überhaupt erstaunlich, meine Damen und Herren, daß sich, wenn es um Technologiepolitik geht, nicht die beiden zuständigen Ministerien äußern, sondern dies vornehmlich dem Außenminister überlassen wird. Ich darf auch an seine Rede am 19. Mai zur Luft- und Raumfahrttechnologie erinnern.
— Ich habe ja gar nichts dagegen. Mir ist völlig klar, daß sich der Herr Riesenhuber mittlerweile mit der Rolle des unterdrückten Juniorministers abgefunden hat. Nur: es ist schon erstaunlich, wenn der Bundesaußenminister in der besagten Rede am 19. Mai eine europäische und nationale Strategie fordert, z. B. für den Bereich der Informationstechnik, und in seiner langen Rede nicht in einem einzigen Satz den Bericht erwähnt, den die Bundesregierung, verbunden mit einem Subventionsprogramm über 3 Milliarden DM, acht Wochen zuvor verabschiedet hat. Ich kann das nur so interpretieren, daß der Herr Bundesaußenminister mittlerweile die Kritik, die von unserer Seite an diesem unzulänglichen Programm geübt worden ist, übernommen hat,
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5366 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Dr. Stegerund jetzt auch eine wirkliche industriepolitische Strategie fordert.Meine Damen und Herren, die Situation, in der wir sind, erfordert, daß nicht ordnungspolitische Nebelgranaten geworfen werden, sondern daß wir in der Bundesrepublik wie in Europa etwas tun, um unsere Spitzenposition angesichts des ökonomischen Wettrüstens zu behaupten. Denn alle Länder, voran die USA und Japan, versuchen mit einer Vielzahl von Mitteln die technische Entwicklung gegenüber einer reinen Marktentwicklung zu beschleunigen. Hier können wir nicht einseitig aussteigen.Die Briten, konservativ, wie sie im Moment regiert werden, sind trotzdem pragmatisch geblieben. In einem Bericht des National Economic Development Council vom 21. September letzten Jahres heißt es: „Wenn die Regierungsunterstützung für die Spitzentechnologien und die Zukunftsindustrien beträchtlich weniger ist als in anderen Ländern, wird die britische Industrie einen wettbewerblichen Nachteil haben." Daraus hat dann die Regierung Thatcher auch die Konsequenz für eine entsprechende Industriepolitik gezogen.Es geht aber nicht darum, meine Damen und Herren, daß wir innerhalb der EG gegeneinander Politik machen, sondern wir müssen dies miteinander tun. Dies ist der Sinn unseres Antrages, der dazu führen soll, daß der gemeinsame Markt auch auf dem Bereich von Spitzen- und Hochtechnologiegütern realisiert wird. Die bisherige Zersplitterung der EG-Politik in Klein- und Kleinstprogramme hat länger keinen Sinn. Ich will unseren Antrag hier nicht im einzelnen begründen; dafür reicht meine Redezeit leider nicht aus.
Auf einen Punkt, meine Damen und Herren von der FDP — ich komme gleich noch einmal zu Ihrem verehrten Wirtschaftsminister —, möchte ich noch hinweisen. Wenn sich schon die ordnungspolitischen Dogmatiker in der Bundesregierung durchgesetzt haben und verhindern, daß auch die Bundesrepublik eine konsistente Industriepolitik macht, dann sollte man wenigstens durch die Wettbewerbspolitik dafür sorgen, daß auch bei dem Wettbewerb in dem Bereich von Zukunftstechnologien Chancengleichheit herrscht; denn gegen Wettbewerbspolitik kann selbst dieser Wirtschaftsminister nichts haben.Ich will dazu ein konkretes Beispiel geben. Es geht um die monopolistischen Praktiken von IBM, dem größten Computerhersteller der Welt. Wer sich näher dafür interessiert — das sollte auch die Bundesregierung tun —, den darf ich darauf hinweisen, daß in den Ausgaben vom 11. bis 14. Januar 1984 in „Le Monde" eine umfangreiche Artikelserie über die Praktiken dieses Konzerns erschienen ist, die auch als Ausschußdrucksache des Ausschusses für Forschung und Technologie verfügbar ist. Die EG- Kommission hat auf Grund der monopolistischen Praktiken von IBM ein Verfahren eingeleitet. Dabei geht es um folgendes: IBM ist unbestritten Marktführer, vor allen Dingen bei sogenannten Hardware-Produkten, also bei den Zentraleinheiten, und es hat sich die Geschäftspraktik eingebürgert, daß sie frühzeitig neue Produkte ankündigt, um damit auch den Markt frühzeitig zu besetzen, aber ohne die Schnittstellen offenzulegen. Gerade die deutschen, aber auch andere europäische Computerhersteller sind in einem anderen Bereich sehr leistungsfähig, nämlich wenn es um Endgeräte, wenn es um Vernetzungen geht, wenn es um die ganzen Kopplungen geht, die ein solches Informationssystem überhaupt erst wirksam werden lassen. Mit diesen monopolistischen Praktiken, daß die Schnittstellen nicht offengelegt werden, erreicht IBM, daß die Mitbewerber z. B. bei den Endgeräten sich in ihren Entwicklungen überhaupt nicht entsprechend darauf einrichten können, weil sich IBM — dies macht für andere Hersteller großen ökonomischen Nachteil — nicht an die internationalen Standards hält, sondern dank seiner Marktmacht eigene Standards, De-facto-Standards, setzt.Die Untersuchung, die die EG-Kommission eingeleitet hat, hat dann auch zu der Forderung geführt, daß IBM die Schnittstellen dann offenlegen soll, wenn es neue Geräte ankündigt, damit tatsächlich ein europäischer Wettbewerb auf dem Computermarkt zustande kommt. Wie ich höre, ist das Bundeswirtschaftsministerium gegen diese wettbewerbspolitische Forderung der EG-Kommission und versucht, eine solche Konsequenz zu verhindern. Meine Damen und Herren, damit wird der deutschen wie der europäischen Computerindustrie die Luft abgedrückt; denn nur wenn man bei den Endgeräten sicherstellen kann, daß es einen fairen Wettbewerb gibt, wird die deutsche und europäische Computerindustrie eine Lebenschance haben. Wenn man das mal sehr salopp zusammenfassen darf, meine Damen und Herren: Offensichtlich hat sich der Wirtschaftsminister von einem Tu-nix-Grafen zu einem IBM-Manjak entwickelt.
— Offensichtlich sind Sie, meine Damen und Herren, mit der Sprache der Computerszene nicht ganz vertraut. Sonst wüßten Sie, daß ein Manjak ein etwas irregeleiteter Fan ist. Das ist so ähnlich, wie wenn ein Gelsenkirchener von Schalke auf München 1860 umschwenken würde.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, mit der französischen Regierung in konstruktive Verhandlungen darüber einzutreten, wie die Vorschläge in diesem Memorandum realisiert werden können. Wir wissen, daß sie nicht vollständig sind; das hat auch die französische Regierung anerkannt. Wir haben deutlich gemacht, wo wir meinen, daß Ergänzungen vorgenommen werden sollten, z. B. beim Umweltschutz, z. B. bei der Stärkung von Arbeitnehmerrechten hinsichtlich der Einführung neuer Technologien, kurz: bei dem, was ein soziales Europa erst ausmacht. Denn, Herr Dregger, so wichtig die Sicherheitspolitik ist, die Bürger erfahren dieses Europa daran, ob es ihnen einen sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt bringt. Die Politik der jetzigen Bundesregierung hat wenig dazu beige-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5367
Dr. Stegertragen, daß europäische Politik vom Bürger positiv erfahren werden konnte.
Wir meinen, daß es an der Zeit ist, hier eine Wende herbeizuführen, indem die Bundesregierung das französische EG-Memorandum positiv aufgreift und dafür sorgt, daß es in praktischen Schritten auch zu praktischer Politik wird.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stercken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns, so meine ich, als Parlamentarier in einer Europa-Debatte zu diesem Zeitpunkt zu fragen, was wir an Bekenntnissen und Kommentaren uns selbst und anderen zumuten können; denn dieser Augenblick läßt keine Unverbindlichkeit und keine opportunistische und unaufrichtige Perspektive zu.Von dem Ziel der politischen Union muß die Rede sein, von dem, was Europa werden soll, und nicht allein von dem, dessen wir uns berühmen könnten. Auf die Sicherung des Friedens war und ist diese Gemeinschaft angelegt: Frieden nach innen, Frieden nach außen. Union ist Einigung. Doch die Einigkeit erweist sich erst im gemeinsamen politischen Handeln.Dennoch, meine Damen und Herren, darf ich daran erinnern, daß nach dem Kriege beherzte Politiker — teilweise gegen die Vorurteile von Mehrheiten — den Entwurf für diese völlig neue politische Struktur wagten. Da haben wir es heute doch einfacher. Denn die Meinungsbefragung zeigt uns — trotz mancherlei Enttäuschung — doch einen hohen Grad an gegenseitigem Vertrauen und an gemeinsamen Überzeugungen. Auf einer solchen Grundlage hätten die Politiker der 50er Jahre nicht den Umweg über die Wirtschaft gesucht, von der sie glaubten, daß sie integrierende Kräfte fördere.Der Wiederaufbau Europas ließ uns hoffen. Wenn Wohlstand in Europa als Erfolg der Gemeinschaft gewertet würde, dann sei die politische Übereinstimmung, so meinten wir, eine konsequente Folge.Es ist ja nun 22 Jahre her, seit in Paris der letzte Versuch zur Gründung einer Europäischen Politischen Union scheiterte. Die Vermutung zweier Länder der Europäischen Gemeinschaft, die Mitwirkung Großbritanniens gestatte den Druchbruch, hat getrogen. Die vielen Beschwörungen, Europa möge mit einer Stimme sprechen, sind ein Wunsch geblieben, ein Appell, sind keine Realität geworden, die anderwärts in Betracht gezogen würde.Der deutsch-französische Vertrag, meine Damen und Herren, hat im Vergleich zu anderen Staaten der Gemeinschaft ein besonders hohes Maß an politischer Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland begründet. Nach dem Willen des Deutschen Bundestages, und zwar des gesamten Deutschen Bundestages, der dies in seiner Präambel verfügte, sollte dies ein Modell dafür sein, wie in naher Zukunft europäische politische Zusammenarbeit auch mit anderen organisiert werden sollte.Hinter dieser politischen Perspektive steht nicht die törichte Vision, Europa könne sein Schicksal isoliert regulieren. Es geht, meine ich, um den Frieden in der Welt. Politische Verantwortung ist mit Isolationismus unvereinbar. Unsere europäische Politik ist die, meine ich, der Wertegemeinschaft der Präambel des Nordatlantischen Bündnisses. Gerade angesichts solcher atlantischer Gemeinsamkeit hätte das amerikanische Beispiel in Europa stärker verfangen sollen, hätten wir uns mehr ermuntert fühlen müssen, die Handlungsfähigkeit, die handlungsfähige Gemeinschaft zu suchen, statt Trennendes in den Strukturen weiter zu konservieren.Wir Deutschen haben es leichter, weil uns das föderale System befähigt, neben regionaler Kompetenz auch das Gemeinsame übergreifend, handlungsfähig und konstruktiv zu gestalten.Der vorliegende Entwurf für eine Europäische Union findet gewiß den Beifall aller, die in dieser Stunde nach handfester Orientierung verlangen, die wissen wollen, daß man so etwas schaffen kann, wenn man es eben nur will.Ich möchte mit diesem Beitrag bedenken, in welchem Zusammenhang dieses Konzept steht; denn die Gemeinschaft der Sechs, der Zehn oder Zwölf findet ja nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einem Kontinent, dessen Menschen und Kulturen durch eine künstliche ideologische und machtpolitische Grenze geteilt sind. Und diese Grenze geht mitten durch unser Land.Es wäre doch verhängnisvoll, wenn wir so täten, als verspräche diese Union eine Idylle für ihre Bewohner und die in ihr mitgestaltenden demokratischen Körperschaften. Wir sind Teil eines zerrissenen und teilweise unterdrückten Kontinents, in dem die Freiheit aller Deutschen identisch ist mit der Freiheit der Polen, der Tschechen, der Slowaken und der Ungarn.
Denn Politik für Europa heißt ja Politik für die Europäische Freiheit, für die Menschenrechte in ganz Europa.
Jede selektive Wahrnehmung erschwert die Lösung politischer Streitfragen. Und ohne die gibt es nicht die von uns allen ersehnte Entspannung.Die politische Union ist derzeit die Union der Europäer, die auf der Grundlage der Menschenrechte ihre Freiheit sichern können. Doch ihr politischer Beitrag bezieht sich auf die Menschenrechte und die Freiheit in aller Welt und ganz besonders natürlich in Europa.Der Auftrag des Grundgesetzes, die Einheit auf der Grundlage von Freiheit und Recht zu vollenden, kann nur als eine politische Orientierung verstanden werden, die sich sinngemäß auch auf die Europäische Gemeinschaft bezieht.
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Dr. SterckenEs kann daher auch niemanden erstaunen, daß der europäische Einigungsprozeß die stärkste Kritik in den sozialistischen Nachbarländern findet, von denen wir eigentlich erwarten sollten, daß sie in der Integration Europas eine größere Gewährleistung für ihre eigene Sicherheit erblicken müßten.
Während sie uns in unerträglicher Weise als Revanchisten diffamieren, müßte sie doch in Erstaunen setzen, wie sehr das Vertrauen zwischen den Völkern Westeuropas gewachsen ist, wie selbstverständlich die Freundschaft dieser westlichen Nachbarn mit dem deutschen Volk wurde. Wir wissen übrigens aus vielen Beobachtungen, daß dies in Osteuropa auch so gesehen wird. Doch die Kritik richtet sich letztlich auf eine Union, die eine politische Wertegemeinschaft darstellt, die in sich als ein Fanal für Menschenrechte, Freiheit und Unabhängigkeit gewertet wird. Die Bewertung der Gemeinschaft orientiert sich nicht so sehr an ihrer militärischen Stärke, sondern vielmehr an den von dieser Gemeinschaft vertretenen demokratischen Zielsetzungen.
Dies muß von allen als eine Herausforderung begriffen werden, die an der Attraktivität von Freiheit und Recht Ärgernis nehmen müssen, weil in ihren Systemen keine Freiheit zugelassen wird.
Wir sollten uns angesichts unserer grundsätzlichen Zustimmung zu diesem Konzept einer politischen Union Europas auch fragen, was wir in den nächsten Jahren als deutsches Parlament zu tun vermögen, um diese immer noch sehr dicken europäischen Bretter zu bohren. Ich finde, daß es sich der Deutsche Bundestag z. B. bei der Begründung und bei der Verabschiedung von Gesetzen nicht ersparen sollte, die Frage nach ihrer Europaverträglichkeit zu beantworten. Nicht jedes Gesetz, das wir hier verabschieden, fördert den Prozeß der europäischen Verschmelzung. Wir sollten, meine ich, darüber sprechen, daß es immer einen Ausweg gibt, um weiterzuentwickelnde nationale Strukturen in übernationale einzubinden.
Das gemeinsame Bekenntnis zu denkbaren Organisationsstrukturen soll auch den Willen bekräftigen, dort die Kräfte zu konzentrieren und in einen dynamischen Prozeß einzuführen, wo mehr bilaterale und multilaterale Übereinstimmung pragmatisch organisiert werden kann.Es gibt einen deutsch-französischen Vertrag, dessen politischer Inhalt auch von anderen Ländern mit vollzogen werden kann. Es gibt eine weitergehende Wirtschaftseinheit der Benelux-Staaten, die es erleichtert hat, die Staatsgrenzen zwischen diesen Ländern abzubauen.
Es muß bald grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit geben. Die für unsere innere Sicherheit erforderlichen Maßnahmen müssen schleunigst mit unseren Nachbarn gemeinsam bedacht werden, so daß nicht eine europäische Binnengrenze dazu herhalten muß, als letzte Chance zum Ergreifen eines Täters genutzt zu werden;
dies tun wir ja auch nicht an den Ländergrenzen der Bundesrepublik Deutschland.Es gibt eine Währungsunion, die eine Ausdehnung verlangt. Wir können es bestimmten Staaten nicht erlauben, sich davon leise weinend zu dispensieren. Es gibt noch viele andere Beispiele, die verdeutlichen, daß es bereits unterschiedliche Grade politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit gibt und daß uns diese Elemente helfen können, den Weg, den letztlich, meine ich, alle beschreiten wollen, kraftvoll voranzutreiben. Nicht derjenige, der heute nach solcher Glaubwürdigkeit verlangt, gefährdet gemeinsame Operationen, sondern derjenige, der nach Beteiligung verlangte und nun vor dem Vollzug dessen zurückschreckt, was ihm einmal als eigentliche Zielsetzung dieser Gemeinschaft vorgetragen worden ist.
Die Gemeinschaft darf nicht auf eine Umverteilungszentrale oder eine Freihandelszone reduziert werden. Sie kam als Opfer- und Lebensgemeinschaft zustande, weil sich nur so Friede in Europa letztlich sichern läßt. Unsere Zustimmung zum Straßburger Entwurf muß daher als eine Ermunterung gewertet werden, solche Vorstellungen unverzüglich in die politische Praxis umzusetzen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Antretter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die EWG-Verträge haben schon 1957 die völlige Freizügigkeit für Personen an den Grenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gefordert. Das heißt, alle Personenkontrollen müssen verschwinden. Die Wirklichkeit des Jahres 1984 ist jedoch: Während Hunderttausende an den Grenzen im Stau stehen und gefilzt werden, überqueren Dioxingiftfässer mehrmals die Grenzen, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen.
Die Wirklichkeit ist, daß es in den zehn Ländern der Europäischen Gemeinschaft weit mehr als 40 000 verschiedene Handelshemmnisse gibt und daß die europäischen Verbraucher und Steuerzahler für die bürokratische Unbeweglichkeit der Regierungen einzustehen haben. Allein 30 Milliarden DM gehen jährlich durch unnötige Verwaltung und Verzögerung des Warenverkehrs verloren.In der Tat, meine Damen und Herren, eine schwache Bilanz am Vorabend der zweiten Direktwahl des Europäischen Parlaments, aber nicht eine Bilanz, die das Parlament zu verantworten hätte,
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Antrettersondern die nationalistische Kleinkrämerei auf Gipfeln und im Ministerrat. Sie hat den 17. Juni zu einer echten Testwahl gemacht. Denn die Bürger haben hier einmal die seltene Gelegenheit, denen einen Denkzettel zu verpassen, die letztlich für die Dauerkrise der EG verantwortlich sind. Deshalb appellieren wir Sozialdemokraten an unsere Landsleute, nicht durch Wahlenthaltung jene zu stärken, denen es am liebsten ist, wenn das Europäische Parlament noch schwächer wird.
Die Wähler nützen ihre Chance nur dann, wenn sie mit hoher Beteiligung jene Straßburger Abgeordneten stärken, die dem leeren Getriebe von Bürokratien und nationalen Regierungen nicht länger zusehen wollen, sondern längst eigene Gemeinschaftsstrategien entwickelt haben, wie die Lösung der dringenden Probleme möglich wäre.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten wollen längst die Vereinigten Staaten von Europa als wirtschaftliche Einheit und politische Gemeinschaft.Nun, nach den skandalösen Ereignissen am Brenner und im Blick auf den 17. Juni spricht selbst der Ministerrat vom „Europa zum Anfassen", und es gehört geradezu zum guten politischen Ton, in visionären Sonntagsreden das „Europa ohne Grenzen" zu beschwören, ohne dem wirkliche Taten folgen zu lassen. Europa-Paß, offene Grenzen, Verzicht auf Kontrolle, dies wären und sind politische Schritte zu einer europäischen Union. Dies ist ein Europa zum Anfassen, und dazu möchte ich noch einiges sagen.Mit ihrer Empfehlung, die auf unseren Tischen liegt, hat die Europa-Kommission des Bundestages in, wie ich meine, realistischer Weise auf bloße Rhetorik reagiert und parlamentarische Initiativen ergriffen. Mit einstimmigem Beschluß haben wir gefordert, daß zum 1. Januar 1985 mit der Einführung des Europa-Passes die Grenzkontrollen für EG-Bürger, die den Paß besitzen, entfallen sollen. Wenn die anderen Staaten diese Erleicherung des Personenverkehrs aber nicht mitmachen wollen, so soll die Bundesregierung — so heißt es in der Entschließung der Europa-Kommission weiter — einseitig an den innergemeinschaftlichen deutschen Grenzen bei Inhabern des Europa-Passes auf jegliche Kontrolle verzichten.
Weiterhin, meine Damen und Herren, fordern wir die Bundesregierung auf, nach zweijähriger probeweiser Einführung dem Bundestag über die Auswirkungen dieser Neuregelung, etwa auf die Verbrechensbekämpfung, zu berichten. Dieser Schritt wird natürlich auch — ich wende mich da vor allem an die Regierungsbank — Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung haben. Denn der Termin 1. Januar 1985 bedeutet in jedem Fall den Verzicht auf maschinelle Lesbarkeit des Europa-Passes. Das wäre ein Sieg des Datenschutzes und zugleich ein Mißerfolg für alle jene, denen polizeiliche Sicherheit stets vor bürgerlichen Freiheitsrechten geht. Und wenn der Europa-Paß zum 1. Januar 1985 kommt, kann er nicht mehr für die Errichtung und Erschließung von Dateien verwendet werden. Er kann auch nicht dazu mißbraucht werden, von seinem Inhaber Bewegungsprofile, d. h. die ständige Feststellung, wohin er ein- und ausgereist ist, zu erstellen. Soviel Freiheit, so meinen wir in der Europa-Kommission, müßte ein demokratisches und liberales Parlament doch wohl riskieren.
Nun haben der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler beschlossen, alle Grenzformalitäten im Personenreiseverkehr zwischen Frankreich und der Bundesrepublik abzuschaffen. Es liege nur noch an den Verwaltungen, die entsprechenden Durchführungsbestimmungen innerhalb kürzester Frist zu erlassen, erklärte der Bundeskanzler nach seiner Rückkehr aus Frankreich. Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten begrüßen diese Vereinbarung. Wenn sie aber ernst gemeint ist und nicht nur ein Schnellschuß vor der Europawahl,
dann ergeben sich auch ein paar Fragen an die Bundesregierung daraus, z. B. die Frage, ob Sie die Verwaltung bereits angewiesen haben, die Vorbereitungen für die Durchführungsbestimmungen zu treffen. Wir haben die Frage, ob der Bundesinnenminister das gleiche Ziel hat wie der Bundeskanzler oder ob nach wie vor gültig ist, worauf der Parlamentarische Staatssekretär Spranger in der Sitzung der Europakommission am 23. Februar beharrte, daß ein nicht automatisch lesbarer EuropaPaß — ich zitiere — „die nationalen Zielsetzungen untergraben" würde.Wir stellen weiter die Frage, ob Sie weiter bereit sind, all denen entgegenzutreten, die, als die Drukkerschwärze der Zeitungen, die über Ihre gemeinsame Pressekonferenz berichteten, noch gar nicht trocken war, bereits Zweifel an der Durchführbarkeit der Vereinbarung geäußert haben und dies hauptsächlich mit sicherheitspolitischen Gefahren begründeten, die angeblich entstehen würden. Ist die Bundesregierung denn bereit, uns darin zuzustimmen, frage ich weiter, daß die Aufgriffe an den Grenzen lediglich als bürokratischer Vorwand dienen? Denn wenn man den Personaleinsatz und den Gesamtaufwand an den tatsächlichen Resultaten mißt, so ist die Erfolgsquote, gemessen an den allgemeinen polizeilichen Tätigkeiten und der Arbeit spezieller Fahnder doch wohl eher als bescheiden anzusehen.Wir haben noch eine Frage an die Regierung und an die sie tragenden Fraktionen. Weshalb waren die Koalitionsfraktionen nicht bereit, mit uns heute hier im Parlament die Anträge anzunehmen, die die Europa-Kommission einstimmig mit den Parlamentariern des Deutschen Bundestages, den Christdemokraten und allen anderen und den europäischen
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5370 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
AntretterParlamentariern beschlossen hat? Einer dieser Anträge hat ziemlich genau das zum Ziel, was der Herr Bundeskanzler nach seinem Gespräch mit Staatspräsident Mitterrand angeblich so kurzfristig erreichen will. Die Fraktion des Bundeskanzlers ruft doch die Zweifel in die Glaubwürdigkeit der europäischen Ankündigung dann selbst hervor. Ich meine, es wäre eine gute Sache gewesen, wenn das Parlament mit breiter Mehrheit — wir wären dazu bereit gewesen — wenige Tage vor der Europawahl demonstriert hätte: Wir wollen die Beseitigung der Personenkontrollen, wir wollen die Beseitigung der Hindernisse auf dem Weg zum Gemeinsamen Markt, wir wollen die Politische Union Europas, und deshalb tun wir diese wichtigen Schritte miteinander und unverzüglich.
In Ihrer Wahlanzeige heute sagen Sie: „Freie Fahrt zwischen Deutschland und Frankreich, das ist der Anfang für offene Grenzen in Europa."
— Das ist prima, aber der allererste Schritt dazu wäre gewesen, daß Sie heute mit uns den Antrag, den die Europa-Kommission dazu vorgelegt hat, auch beschlossen hätten.
Nun haben sie ihn an die Ausschüsse überwiesen. Wir hoffen nur, daß die Ausschüsse schnell arbeiten und daß dieses Parlament bald Gelegenheit hat, bald Gelegenheit nimmt, die vernünftigen Anträge, Vorschläge und Empfehlungen der Europa-Kommission zu beschließen.Daß es sich bei der Forderung nach Abschaffung der Personenkontrolle an den Binnengrenzen keineswegs um eine politische Utopie handelt, läßt sich, glaube ich, an ein paar Beispielen recht gut beweisen, meine Damen und Herren. Auf den 6 000 Kilometern — ich will mir die anderen ersparen, die meine Vorredner, Herr Kollege Stercken und andere, schon angesprochen haben — beispielsweise zwischen New York und Los Angeles gibt es nicht einen Schlagbaum und nicht eine Paßkontrolle. Innerhalb der Nordischen Union besteht seit 1958 für Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden eine Paßunion, die nach der Einreise weitere Paßkontrollen in Skandinavien überflüssig macht.Wir kennen die Einwendungen der Bürokraten, die das Zusammenwachsen Europas bis auf den heutigen Tag blockieren. Die Gründerväter haben jedoch in den Verträgen beschlossen, die Integration zu fördern. Wir meinen, es ist höchste Zeit, daß wir uns alle miteinander über diese nationalstaatlichen Einwendungen hinwegsetzen. Worauf wollen wir eigentlich noch warten? Darauf, daß die Menschen der europäischen Misere endgültig überdrüssig werden, daß die Europamüdigkeit weiter um sich greift? Schon vor mehr als 30 Jahren haben junge Menschen im zerstörten Nachkriegseuropa die Grenzpfähle niedergerissen. Herr Rumpf hat das heute schon angesprochen. Das war ein Signal der Hoffnung. Dieser Bundestag sollte ihm endlich Folge leisten.Deshalb müssen wir die letzten zehn Tage vor der zweiten Direktwahl des Europäischen Parlaments verstärkt miteinander nutzen, um unsere Mitbürger davon zu überzeugen, daß es die falsche Antwort ist, aus Verdrossenheit über das Versagen der Bürokraten und der nationalen Regierungen nicht zur Wahl zu gehen. Gerade wir Deutschen im geteilten Land haben Grund, uns zu den Vereinigten Staaten von Europa zu bekennen und daran mitzuarbeiten, daß aus einer Wirtschaftsgemeinschaft eine wirkliche europäische Friedensgemeinschaft wird.Im Gegensatz zu Frau Thatcher, die vorgestern in einem Interview mit der Londoner Tageszeitung „Daily Express" sagte, es sei absolut lächerlich, über die Vereinigung der europäischen Staaten nach dem Vorbild der USA zu reden, kämpfen wir für eine starke Gemeinschaft, weil nur eine solidarische Europäische Gemeinschaft den Menschen auf unserem Kontinent eine friedliche und gute Zukunft sichern kann.Ich glaube, wir müssen unseren Mitbürgern noch mehr verdeutlichen, daß eine in Europa und damit in der Welt isolierte Bundesrepublik politisch und ökonomisch nicht lebensfähig wäre, daß wir die politische Absicherung durch unsere Partner in der Gemeinschaft brauchen und daß wir den großen Gemeinsamen Markt von 270 Millionen Europäern für unseren Export und damit zur Sicherung unserer Arbeitsplätze benötigen. Oder mit einem Wort: Eine starke und solidarische Europäische Gemeinschaft liegt auch im deutschen Interesse.
Gestatten Sie mir nun noch einen Nachsatz, bei dem ich mir nicht ganz sicher bin, daß ich Ihren Beifall finde. Aber ich möchte doch noch auf das eingehen, was in der ersten Runde dieser Debatte eine Rolle gespielt hat. Da herrschte Empfindlichkeit über das, was Professor Ehmke sagte. Es gab Unverständnis darüber, daß Horst Ehmke etwas kritisierte, was nun wirklich nicht akzeptabel ist, was nämlich Herr Bangemann sagte. Ich möchte versuchen, Ihnen in den letzten zwei Minuten diesen Unterschied noch zu verdeutlichen.Natürlich werden wir überall dort Widerstand leisten, wo das soziale Netz demontiert wird.
Natürlich kritisieren wir, daß Sie weder in der Bundesrepublik noch in Europa eine Initiative zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit eingebracht haben.
Aber etwas anderes ist es, daß man den Grundkonsens da nicht zerstören darf, wo es eine breite Gemeinsamkeit gibt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5371
AntretterHorst Ehmke hat kritisiert, daß manche immer noch nicht kapieren, was in diesem Europa alles Platz haben muß.
In diesem Europa muß Platz haben, was Europa seit Jahrhunderten prägt und bewegt: die christliche Botschaft in ihren vielfältigen Ausformungen und Auswirkungen
— ich weiß nicht, warum Sie dagegen sind, Herr Kollege —; die Kräfte der Aufklärung, die in der Französischen Revolution ihren politischen Durchbruch erlebten; die sozialistische Arbeiterbewegung, die sich auf ihre Weise auf das Erbe von 1789 und auch auf christliche Traditionen beruft. Europa muß Platz haben für Konservative, für Christdemokraten, für Liberale, für demokratische Sozialisten,
und zwar für jede dieser Kräfte nur insofern und so lange, als sie allen anderen Raum zur Entfaltung läßt.
Jede dieser Kräfte wird und muß versuchen, zeitweilige Mehrheiten zu erringen.Sollte die letzte Phase des Wahlkampfs zum Europäischen Parlament jedoch von Parolen beherrscht werden, die den einen oder anderen gewissermaßen als illegitimes Kind Europas oder gar als Gefahr für ein freies, offenes Europa darzustellen versuchen, so wird Europa nach dieser Wahl sicher nicht stärker, sondern schwächer sein.Europa ist ein zartes Pflänzchen. Europa braucht keine Holzhacker, sondern Gärtner.
Sehen wir miteinander zu, daß wir den Holzhakkern die Axt wegnehmen und die Gärtner ermutigen!Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schwörer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß ich jetzt nach dem lieben Kollegen und Landsmann Robert Antretter sprechen darf.
Lieber Kollege Antretter, Herrn Ehmke hätten Sie nicht verteidigen sollen;
denn das ist sicher: Wenn er von der Demontage des sozialen Netzes spricht
— aber er hat gesagt, Sie hätten davon gesprochen —, muß ich Ihnen, lieber Herr Antretter, sagen: Sie wissen ganz genau, daß das nicht stattgefunden hat,
sondern daß wir uns lediglich bemüht haben, das soziale Netz zu erhalten,
weil nämlich auf Grund Ihrer Politik das soziale Netz leider zunehmend in Gefahr geraten ist.
Aber lassen wir das. Wir wollen wieder über Europa und über eine sachliche Europapolitik reden. Der Kollege Antretter hat davon gesprochen, daß die Arbeit der Europa-Kommission hier nicht gebührend anerkannt wird. Ich muß sagen: Da hat er recht. Wir hätten es gern gehabt, wenn die Entschließung, die wir einstimmig gefaßt haben, angenommen worden wäre. Offensichtlich gibt es hier im Hause Schwierigkeiten. Vielleicht haben das Präsidium oder der Ältestenrat noch gar nicht kapiert, daß es diese Einrichtung heute gibt
unter der Führung unserer sympathischen Kollegin Frau Hellwig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier die Tagesordnung. Wir sind nicht einmal für die Überweisung vorgesehen.
— Davon steht hier nichts.
Herr Abgeordneter, das kommt davon, wenn man das Präsidium kritisiert.
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident. Ich werde es nie mehr wagen.
Ich bitte darum, daß man die drei Entschließungen den zuständigen Fachausschüssen überweist. Herr Kollege Antretter, ich glaube, daß wir dann sicher auch die nötige Anerkennung seitens des Plenums erfahren.Ich möchte den Kollegen, die es nicht wissen, sagen, daß wir die Arbeit in der Europa-Kommis-
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Dr. Schwörersion neben unserer sonstigen Ausschußarbeit leisten.
— Das sowieso. Deshalb können wir erwarten, daß die Arbeit entsprechende Anerkennung erfährt.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat sofort nach ihrem Amtsantritt den europäischen Binnenmarkt, über den ich jetzt sprechen möchte, zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht. Die Blockaden am Brenner und am Montblanc haben uns allen den Ernst der Lage gezeigt. Dort wurde sichtbar, daß mehr als 25 Jahre nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft die Kontrollen zwischen den Mitgliedstaaten nicht ab-, sondern sogar noch zugenommen haben. Wen wundert es, daß sich die Bürger getäuscht vorkommen, wenn sie diese tägliche Praxis sehen und persönlich erleben? Es war höchste Zeit für neue Initiativen in Europa. Ich bin vor allem Bundeskanzler Helmut Kohl dankbar dafür, daß er mit soviel persönlichem Engagement die Probleme des europäischen Binnenmarkts aufgegriffen hat.
Wir haben zum erstenmal eine Initiative zur Gründung eines europäischen Binnemarktrats erlebt. Nun weiß ich, daß Räte nicht unbedingt schon eine Wirkung haben. Dennoch, dieses Gremium hat fast jeden Monat getagt. Es ist dabei auch etwas herausgekommen. Ich möchte die technischen Einzelheiten nicht vor Ihnen ausbreiten, aber es ist sicher, daß die fünf Sitzungen des Binnenmarktrats unter deutscher Präsidentschaft echte Erfolge auf dem Weg zu Europa gebracht haben. Es waren zwar kleine Integrationsschritte, aber es ging wieder voran.Zu nennen ist vor allem das berühmte einheitliche Warenpapier für die Grenzen innerhalb der Gemeinschaft oder z. B. die Klempnerverordnung, der Wegfall von Steuern bei der vorübergehenden Einfuhr von Arbeitsmaterialien von einem EG-Staat in den anderen. Hier wurden Dinge geregelt, die seit Jahren, vielleicht sogar schon seit Beginn der EG, auf dem Programm standen. Jetzt sind diese Probleme endlich gelöst worden.
— Herr Kollege Antretter, Sie nicken mir zu; ich danke Ihnen dafür. Das ist ein Zeichen dafür, daß Sie diese Arbeit anerkennen.Oder erinnern wir uns an die Grundsatzvereinbarung, die Minister Dollinger mit den Verkehrsministern der Benelux-Länder, also Belgien, Holland und Luxemburg, getroffen hat. Oder denken wir an die Grundsatzentscheidung zum Wegfall der Personenkontrollen, die zwischen Präsident Mitterrand und unserem Bundeskanzler getroffen worden ist.Wir wissen, daß das alles bis jetzt nur Grundsatzerklärungen sind, die noch ausgefüllt werden müssen. Aber eines ist sicher: daß damit klargestellt worden ist, daß wir das Ziel anstreben, daß die Grenzen innerhalb der EG in Zukunft genauso wenig spürbar sind wie die Grenzen zwischen den Bundesländern innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.
Wir glauben — das drückt auch der Antrag zum Personalausweis aus, Frau Kollegin Hellwig —, daß die nötigen Kontrollen innerhalb der Länder der Europäischen Gemeinschaft durchgeführt werden können. Da braucht man nicht einen solchen kostspieligen und die Menschen in jeder Weise belastenden Aufenthalt an den Grenzen.Nun, meine lieben Kollegen, wir brauchen — das geht aus der Entschließung der Europa-Kommission hervor — einen verbindlichen Fahrplan für den Abbau aller Grenzhindernisse. Das fängt damit an, daß man innerhalb der EG ein einheitliches Zollrecht anstrebt. Zweitens muß die Umsatzsteuer, die Mehrwertsteuer, auf die Binnenfinanzämter verlagert werden, sie darf nicht weiter an den Grenzen erhoben werden. In den nächsten Tagen, am 13. Juni, findet darüber ja eine Beratung im Bundeskabinett statt, von der wir hoffen, meine Herren von der Bundesregierung, daß diesem Petitum endlich zugestimmt wird.
Ich weiß, daß es hauptsächlich die Bundesländer sind, die hier Bedenken haben, aber man sollte sich endlich einig werden.Drittens zu dem großen Problem der Normen: Man ist zum Glück davon abgekommen, weiterhin nationale Normen zu setzen. Man führt nun ausschließlich europäische Normen ein.
Geschehen soll dies nicht durch Einrichtung irgendwelcher neuen Bürokratien, sondern durch die bestehenden europäischen Normenorganisationen, durch die CEN und die CENELEC, durch zwei bewährte Organisationen.Weiter denken wir daran, daß — das steht auch in unserer Entschließung zum Binnemarkt — ein EGweiter fairer Wettbewerb ermöglicht wird.
Dazu gehören der Abbau der Beschränkungen des Kapitalverkehrs und die Öffnung der Beschaffungsmärkte. Es darf nicht eine Farce sein, daß man Ausschreibungen europaweit vornimmt, sondern es muß nachher auch wirklich zum Auftrag kommen, gleichgültig, woher aus der Gemeinschaft der Anbieter stammt. Entschieden werden muß nach dem Preis und nach der Leistungsfähigkeit, die sich in dem Angebot ausdrückt.Ein wichtiger Punkt ist hierbei auch — wir haben darüber heute morgen im Wirtschaftsausschuß lange geredet — die Verhinderung von Beihilfen im nationalen Rahmen. Wir haben im Stahlsektor doch erlebt, wie sich daraus negative Folgen, ja, geradezu verheerende Folgen für alle Wirtschaften
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Dr. Schwörerder Gemeinschaft entwickelt haben. Das darf sich in anderen Bereichen nicht wiederholen.Vor allem denke ich hier an die Textilindustrie, die Sorgen hat und die sich darüber beschwert hat, daß in manchen Mitgliedsländern die Neigung zu nationalen Beihilfen wieder sehr stark geworden ist. Ich darf hier — entsprechend einem einstimmigen Beschluß des Wirtschaftsausschusses heute — sagen, daß wir der Meinung sind, daß die deutsche Textilindustrie ihre Umstrukturierung in hervorragender Weise aus eigener Kraft geschafft hat und daß sie ein Anrecht darauf hat, daß der Wettbewerb nicht dadurch verfälscht wird, daß jetzt in Mitgliedsländern, die das nicht so gemacht haben, nationale Beihilfen die eigenen Industrien begünstigen.
Ich glaube, daß ich noch ein Wort sagen muß, das sich an die Adresse derjenigen außerhalb der EG richtet, die Angst haben, wir in der EG könnten einen protektionistischen Kurs einschlagen. Meine Damen und Herren, wir sind uns auch darin einig, daß die Verbesserung des Binnenmarktes in Europa nicht dazu führen darf, daß sich nach außen, gegenüber Drittländern, neue Grenzen aufbauen. Es darf nicht sein, daß ein Protektionismus gegenüber Drittländern entwickelt wird. Wir lehnen jegliche Sonderbehandlung sensibler Produkte, wie sie zum Teil von EG-Mitgliedsländern verlangt wird, ab. Wir lehnen alle Herkunftszeugnisse und alle Möglichkeiten ab, die den Wettbewerb mit den Drittländern beeinträchtigen sollen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die EG hat sich trotz aller Mängel in den wirtschaftlichen Krisenjahren bewährt. Der Gemeinsame Markt hat gehalten. Wir Deutsche — das muß man am Vorabend der Europawahl auch einmal sagen — konnten unseren Export in die EG in einer enormen Größenordnung aufrechterhalten. Ich frage: Wo wären wir in diesen schwierigen Jahren geblieben, wenn nicht 50 % unserer Produktion in der EG hätten sicher abgesetzt werden können? Man muß doch auch einmal sagen, daß die EG in diesen Jahren eine große Stütze unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten war.
Ich bin aber trotzdem der Meinung, daß dieser Markt zum Wohl aller noch viel besser funktionieren könnte. Diese Richtung — dahin geht ja auch unser Antrag — wollen wir in der Europa-Kommission einschlagen. Dieser Markt kann noch viel höhere Wachstumsraten erreichen. Herr Kollege Ehmke, die von Ihnen beklagte Arbeitslosigkeit kann viel wirksamer bekämpft werden, wenn der große Markt mit 270 Millionen Verbrauchern endlich verwirklicht wird.Ich möchte zum Abschluß sagen, daß leider viele kleine und mittlere Unternehmen vor der Bürokratie, vor den Grenzformalitäten kapitulieren. Diesen kleinen und mittleren Firmen, die sich weniger leicht über die Grenzen hinweg bewegen können, sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihre Produkte ebensogut wie zu Hause in ganz Europa ohne Formalitäten, besonders ohne Grenzschwierigkeiten anzubieten. Das würde ein großes, noch ungenutztes Wachstumsreservoir der Gemeinschaft erschließen.
Gerade im Interesse der Arbeitslosen — die ja alle wieder in Arbeit kommen sollen — sollten wir diese ungenutzten Wachstumsreserven der Gemeinschaft nutzen.Meine lieben Kollegen, das Ziel ist wieder klar: Die Gemeinschaft hat wieder mehr Schwung. Wir müssen diesen neugewonnenen Schwung nutzen, damit endlich alle Bürger Europas spüren, daß dieses Europa nicht nur für Sonntagsreden gut ist,
sondern daß es für sie persönlich bei der Bewältigung der eigenen Probleme einen wichtigen Beitrag leisten kann.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über die parlamentarische Behandlung des Entwurfs eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union reden, dann stehen wir Sozialdemokraten voller Stolz in der Tradition unserer Partei. Horst Ehmke hat darauf hingewiesen, daß die Sozialdemokraten bereits 1925 in ihrem Heidelberger Programm die Vereinigten Staaten von Europa gefordert haben.Wenn man heute diesen Programmteil wieder nachliest, dann könnte man meinen, man läse in einem Wahlprogramm der Parteien für die Wahlen am 17. Juni. Damals standen solche Forderungen nur im Programm der deutschen Sozialdemokratie. Horst Ehmke sagte ja schon: Wer das damals forderte, der ist als ein vaterlandsloser Geselle bezeichnet worden.
Aber wir Sozialdemokraten wußten schon immer, daß auch jenseits der deutschen Grenzen Menschen wie wir leben, mit den gleichen Sorgen, mit den gleichen Nöten, und daß nichts törichter ist als Nationalismus.Weil das so ist, begrüßt die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ausdrücklich den Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union. Wir sehen darin eine wichtige Initiative des Europäischen Parlamentes, auch dann, wenn wir nicht mit allem einverstanden sind, was in diesen Entwurf hineingeschrieben worden ist.Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß jemand hier im Deutschen Bundestag alles so, wie es jetzt
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5374 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Brückformuliert ist, für richtig hält. Deshalb muß ich auch die Vorwürfe zurückweisen, die gegen einige sozialdemokratische Mitglieder des Europäischen Parlaments gerichtet waren, weil sie sich bei der Abstimmung über den Vertragsentwurf der Stimme enthalten haben. Sie haben sich der Stimme nicht enthalten, weil sie gegen eine Europäische Union, gegen die Vereinigten Staaten von Europa wären, sondern ihnen geht der Entwurf noch nicht weit genug.Vielleicht hilft die Diskussion des Vertragsentwurfs im Deutschen Bundestag dabei, daß die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland dann, wenn sie an Europa denken, nicht nur an die Butterberge, die Milchpulverberge, die Weinseen und die enormen Kosten, die dies alles verursacht, denken, sondern vielleicht an das, was wir in Europa gestalten könnten, wenn wir mit einer Stimme sprächen.Mittlerweise kennen viele Menschen durch ihre Urlaubsreisen Europa in seiner Vielfalt, in der Vielfalt seiner Kulturen und Landschaften. Viele haben ganz Europa lieben gelernt, nicht nur die eigene Heimat. Wer einmal in den Vereinigten Staaten von Amerika gereist ist, kann sich doch nur wünschen, daß man innerhalb Europas auch so reisen kann wie innerhalb der USA. Wenn man wie ich in einem Land an der deutsch-französischen Grenze geboren worden ist, dort aufgewachsen ist, einen Krieg miterlebt hat, den Streit um dieses Land zwischen Deutschland und Frankreich nicht nur miterlebt hat, sondern aktiv dabei war, der weiß, wie schön es ist, daß heute die deutsch-französische Grenze keine Grenze mehr ist, die Menschen trennt, auch dann, wenn man sich ab und zu darüber ärgert, bei den Grenzkontrollen noch in Schlangen stehen zu müssen.Und wie beglückend ist es, zu wissen, daß ein Krieg zwischen den Staaten in Westeuropa unvorstellbar geworden ist!Die Empfehlung der Europakommission zur parlamentarischen Behandlung des Entwurfs eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union ist einstimmig erfolgt. Vielleicht können wir vieles auch gemeinsam tun.Nun hat Horst Ehmke schon auf die Polemik des Europaabgeordneten der FDP, Herrn Bangemann, hingewiesen.
Ich muß nur feststellen, daß das gleiche auch der Bundesaußenminister getan hat. Ich halte es für wenig hilfreich, Herr Kollege Rumpf, wenn jetzt im Europawahlkampf im Stil der Union von 1976 eine Art „Freiheit statt Sozialismus"-Wahlkampf gemacht wird.
Gott sei Dank — und ich finde das gut — ist diestärkste Fraktion im Europäischen Parlament dieSozialistische Fraktion. Wir wünschen uns, daß sie bei den kommenden Wahlen noch stärker wird.
Will denn der Bundesaußenminister nur ein Europa der FDP-Anhänger? Es wäre ein kleines, ein sehr kleines Europa. Ich glaube, der Kollege Bangemann wird sich über sozialistische Abgeordnete im Europäischen Parlament nicht aufregen müssen, nicht weil es dort keine sozialistischen Abgeordneten mehr geben würde, nein, weil es dort nicht mehr den Abgeordneten Bangemann und keinen seiner Freunde geben wird.Wen meint der Bundesaußenminister eigentlich mit seiner Polemik gegen ein sozialistisches Europa? Den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand? Den italienischen Ministerpräsidenten Bettino Craxi? Und will er Spanien und Portugal draußen vor der Tür stehen lassen, nur weil dort die Sozialisten Felipe Gonzalez und Mario Soares Regierungschefs sind?
War nicht die Rede des französischen sozialistischen Staatspräsidenten in Straßburg vor dem Europäischen Parlament eine Ermutigung für alle Europäer? Wir Sozialdemokraten unterstreichen, was er gesagt hat. Ich zitiere:Jedes unserer Völker, wie reich auch seine Vergangenheit gewesen sein mag, wie fest auch sein Lebenswille sein mag, hat allein nicht die Bedeutung, die der Gegenwart und der Zukunft der Menschen auf der Erde entspricht. Gemeinsam haben wir diese Bedeutung.Ich will gestehen, daß ich bewegt war, als ich gestern abend im Fernsehen François Mitterrand — an uns Deutsche gerichtet — bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Alliiertenlandung in der Normandie sagen hörte:Der Feind war damals nicht Deutschland, sondern die Macht, das System und die Ideologie, was dort Kontrolle übernommen hatte. Lassen Sie uns der Deutschen gedenken, die in dieser Schlacht fielen. Die Feinde von gestern haben sich versöhnt und allesamt ein Europa der Freiheit erbaut.So der französische Sozialist François Mitterrand.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einem besonderen Abschnitt des Entwurfs des Vertrages kommen. In Art. 64 dieses Entwurfs heißt es, daß die Entwicklungspolitik in einem Übergangszeitraum von zehn Jahren schrittweise Gegenstand einer gemeinsamen Aktion der Union sein soll. Wir Sozialdemokraten begrüßen diese Formulierung. Die Entwicklungspolitik ist neben der Agrarpolitik der am meisten fortgeschrittene Teil der EG-Politik. Als Entwicklungspolitiker sage ich voller Stolz: Sie ist Gott sei Dank nicht so umstritten. Das heißt nicht, daß man nicht Kritik an der Entwicklungspolitik der Gemeinschaft üben kann, zumal sie schon
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Brückbei ihrer Geburt durch die Tatsache belastet war, daß es sich bei den Partnern in der Dritten Welt nur um Kolonien von Mitgliedstaaten der Gemeinschaft handelte. Dieser Makel blieb auch dann, als diese Kolonien unabhängig wurden. Aber die Abkommen von Jaunde und dann von Lomé haben sich trotzdem zum umfassendsten Vertragswerk zwischen Industrieländern und Ländern der Dritten Welt entwickelt, und vieles daran bleibt beispielhaft.In einer Veranstaltung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin wurde deshalb im Dezember des vergangenen Jahres zu Recht festgestellt: Die Europäische Gemeinschaft hat im Nord-Süd-Dialog entscheidendes Gewicht. Sie ist eine Adresse ersten Ranges für die Entwicklungsländer in deren Bemühen, sich den Einflußsphären der Großmächte zu entziehen. Das ändert sicher nichts daran, daß es nach wie vor eine Dominanzposition der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten des Abkommens von Lomé gibt.Wir Sozialdemokraten fordern, daß bei den jetzt wohl bald zu Ende gehenden Verhandlungen über Lomé III hier wesentliche Verbesserungen vorgenommen werden. Wir fordern aber die Bundesregierung auf, schon jetzt im Sinne des Art. 64 des Entwurfs eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union tätig zu werden. Die Entwicklungspolitik sollte Gemeinschaftspolitik werden.Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hat 1976 in Brüssel ein Memorandum überreicht, in dem ein Stufenplan vorgelegt worden ist, wonach es in der ersten Stufe zu einer besseren Koordinierung der Entwicklungspolitiken in der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten, in der zweiten Stufe zu einer Harmonisierung dieser Politiken und in der dritten Stufe zu einem Übergang der Entwicklungspolitik auf die Gemeinschaft kommen sollte. Dies blieb damals ohne Erfolg. Von daher weiß ich, wie schwer ein solches Unterfangen ist. Aber gerade weil es jetzt diesen Vorschlag in dem Vertragsentwurf gibt, sollte die Bundesrepublik noch einmal einen ähnlichen Vorstoß machen.Wir müssen in der Gemeinschaft stärker als bisher darüber reden, den Zusammenhang zwischen allen Politiken der Gemeinschaft herzustellen. Es kann nicht angehen — um ein Beispiel zu neuen —, daß wir mit hohem Energieaufwand unter Glas Tomaten produzieren, die nach allem anderen schmecken, nur nicht nach Tomaten, und dafür den Import von in der Sonne gereiften wohlschmeckenden Tomaten aus Nordafrika behindern. Wir müssen abkommen von einer Handelspolitik, die sich vor allem dort liberal gibt, wo es keine Konkurrenz aus den Entwicklungsländern gibt.
Um es einmal drastisch zu sagen: Wir haben zwar den Import von Computern aus Obervolta liberalisiert, aber nicht den von Gemüse.Deshalb noch einmal meine Aufforderung an die Bundesregierung: Wir sollten schon jetzt mit neuen deutschen Vorschlägen beginnen, um in der Entwicklungspolitik schon jetzt zu weiteren Fortschritten zu kommen. Das bedeutet dann auch ein Stück mehr europäische Einheit.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Zu den Tagesordnungspunkten 26, 28 und 30 schlägt der Ältestenrat Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Die Vorlage zu Tagesordnungspunkt 28 soll darüber hinaus auch noch an den Ausschuß für Verkehr zur Mitberatung überwiesen werden.Zu den Tagesordnungspunkten 27 a bis c ist interfraktionell vereinbart worden, die Berichte der Europa-Kommission zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Verkehrsausschuß mit der Maßgabe zu überweisen, dem Plenum lediglich einen Bericht über das Ergebnis der Beratungen vorzulegen. Gibt es anderweitige Überweisungsvorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Es ist nunmehr noch über Tagesordnungspunkt 29 abzustimmen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 10/1422 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes— Drucksache 10/1255 —Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 10/1546 —Berichterstatter:Abgeordnete Wartenberg Fischer (Frankfurt)Dr. OlderogDr. Hirsch
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für diese Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden.
— Bis zu zehn. Ich sehe keinen Widerspruch.
Es ist so beschlossen. — Dann muß mir seitens der Geschäftsführung gesagt werden, daß da eine Änderung erfolgt ist. Ich kann mich nur an die Vorlage halten, die im Ältestenrat beschlossen worden ist.
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5376 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Vizepräsident WurbsIch bin kein Hellseher. Wenn eine Änderung erfolgt sein sollte, müßte mir das erst einmal gesagt werden.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Das Wort hat Herr Dr. Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident, ich darf zunächst noch einmal darauf hinweisen, daß nach meinen schriftlichen Unterlagen im Ältestenrat Kurzbeiträge bis zu maximal fünf Minuten vereinbart worden sind.
Jetzt zum Tagesordnungspunkt in der Sache. Meine Damen und Herren, es geht um die Verlängerung eines befristet geltenden Beschleunigungselements, des Verfahrens bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen.
Lassen Sie mich für meine Fraktion zunächst sagen: Wir bekennen uns uneingeschränkt zum Asylrecht. Dieses Asylrecht ist bei uns Deutschen aus bitteren historischen Erfahrungen gewachsen. Kritiker behaupten, wir wollten das Asylrecht durch das 82er-Gesetz aushöhlen, wir wollten die politisch, rassisch und religiös Verfolgten nicht schützen, sondern ihr Recht behindern.
Meine Damen und Herren, wer so redet, spricht die Unwahrheit.
Warum sind wir dem immer mehr ausufernden Mißbrauch des Asylrechts entgegengetreten, der kriminellen Einschleusung durch Geschäftemacher? Doch nicht nur deshalb, weil dies uns aus finanziellen Gründen empfohlen worden war, sondern gerade auch deshalb, weil wir den wirklich politisch, religiös und rassisch Verfolgten helfen wollten.
Meine Damen und Herren, gerade diese wirklich Asylberechtigten wurden durch die Flut der Asylanten in Mitleidenschaft gezogen. Ich erinnere an die zermürbenden immer länger dauernden Verfahren, erinnere an die wachsende Ausländerfeindlichkeit und an die immer schwieriger werdende soziale Integration der als asylberechtigt Anerkannten.
Gerade dieses neue Recht hat es möglich gemacht, daß Asylberechtigte heute in vielen Fällen schon in zwei bis drei Monaten ihre Anerkennung und damit den gesicherten Status des politisch Verfolgten erhalten. Sie können sich eine Wohnung suchen, können eine Arbeit aufnehmen und können an Programmen zur sozialen Eingliederung teilnehmen. Und das ist keine Verschlechterung, sondern eine Verbesserung für die Berechtigten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt etwas zu den Beschleunigungselementen des neuen Gesetzes — es geht bei diesem Gesetzentwurf um ein sehr wichtiges Beschleunigungselement — sagen. Die Beschleunigungselemente des neuen
Rechts haben sich bewährt. Sie haben sich nach der übereinstimmenden Meinung aller Innenminister, aller Innensenatoren der Bundesländer bewährt, also auch nach Meinung der Innenminister und Innensenatoren der SPD-geführten Länder und Städte. Die Innenministerkonferenz hat sogar empfohlen, die Vorschrift, um deren Verlängerung es heute geht — sie soll ja nur befristet, bis Ende 1988, verlängert werden —, zeitlich unbegrenzt in Kraft zu setzen.
Wir haben uns im Innenausschuß darauf leider nicht verständigen können. Ich hätte es für meine Fraktion begrüßt, wenn wir dem einstimmigen Votum der Innenministerkonferenz und der Ministerpräsidentenkonferenz, die sich das zu eigen gemacht hat, gefolgt wären.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch etwas zu dem Punkt sagen, der etwas kritischer ist, zu den flankierenden Maßnahmen in der Asylverfahrenspraxis. Auch diese Maßnahmen haben sich nach der Meinung der Innenministerkonferenz — nachzulesen im schriftlichen Bericht, der von der Innenministerkonferenz dazu gegeben worden ist — bewährt.
Meine Damen und Herren, diese administrativen flankierenden Maßnahmen durchzuführen ist niemandem leichtgefallen. Wir wissen, welche menschlichen Probleme damit verbunden sind, wenn etwa die Arbeitserlaubnis für zwei Jahre versagt bleiben muß, wenn die Aufenthaltsregelung mit Beschränkungen verbunden ist, wenn die Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden oder die Sozialhilfe durch Sachleistungen erbracht wird. Wir wissen alle, welche menschlichen, welche humanitären Probleme damit verbunden sind.
Aber ich denke — und ich fühle mich durch das bestärkt, was die Innenminister dazu gesagt haben —, daß wir diese Eckwerte, Eckpunkte der Verwaltungspraxis weiter in Kraft halten müssen, weil wir sonst wieder erleben würden, daß die Flut der Wirtschaftsasylanten, der nicht wirklich berechtigten Asylbewerber wieder steil ansteigen würde, so daß wir dann die großen Probleme, die wir damals hatten, als wir das neue Recht schufen, und die so viele wirklich Asylberechtigte in Mitleidenschaft gezogen haben, aufs neue hätten.
Meine Damen und Herren, aber die jetzt verringerten Zahlen der Asylbewerber geben uns eine besondere Chance, die Chance zu humanitäreren Regelungen, manches menschlich besser zu gestalten, die Chance, diesen und jenen Punkt, wie das auch vorm Hohen Flüchtlingskommissar, den sozialen Verbänden und den Kirchen vorgeschlagen wird, zu verwirklichen.
Meine Damen und Herren, wir von der CDU/ CSU-Fraktion haben dazu am 6. Dezember 1983 unsere Wünsche geäußert, den Wunsch, daß mehr qualifiziertes und geschultes Leitungs- und Betreuungspersonal zur Verfügung stehen möge, das auch in der Lage ist, sich um die persönlichen, um die menschlichen Probleme der Asylbewerber in den Unterkünften zu kümmern, unseren Wunsch nach
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Dr. Olderog
mehr sinnvoller Beschäftigung, nach Möglichkeiten, Fertigkeiten zu erlernen, die man auch im praktischen Leben gebrauchen kann, unseren Wunsch, dafür Sorge zu tragen, daß harmonierende Wohngemeinschaften mehr als bisher entstehen, unseren Wunsch, Familienzusammenführung noch besser zu ermöglichen und auch mehr Möglichkeiten zu schaffen, daß die Asylbewerber in den Unterkünften ihr Essen selber bereiten können — das mag manchem als ein kleiner Punkt erscheinen; er spielt aber für das menschliche Wohlbefinden eine gewichtige Rolle —, und schließlich unseren Wunsch nach mehr Kontakten der Asylbewerber mit der örtlichen Bevölkerung.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen, meine Damen und Herren. Es gibt draußen manche Kritik. Ich möchte abschließend keine Kritik üben, sondern Dank sagen. Ich möchte den Bundesländern danken, die in großem Umfang Gelder für die Betreuung der Asylbewerber aufwenden und sich mit großem Einsatz um diese Probleme kümmern.
Ich möchte allen danken, die im Bundesrat, in den Dienststellen, in den Unterkünften, in den sozialen Einrichtungen für die Asylbewerber tätig sind. Ich danke schließlich den Richtern, die mit großem Fleiß, mit Sorgfalt und Genauigkeit prüfen und entscheiden.
Und Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie mir eine Bemerkung. Ich glaube, es war gut, daß wir zehn Minuten vereinbart hatten. Sie haben neun Minuten gesprochen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Asylrecht in der Bundesrepublik Deutschland ist etwas höchst Sensibles, ein Grundrecht, das nicht nur unter rein administrativen Aspekten betrachtet werden kann. Es ist schon immer wieder erstaunlich, wie sehr die Mitglieder der CDU/CSU diesen schwierigen Komplex herunterspielen, die Schwierigkeiten, die sich mit diesem Bereich verbinden, wegdrücken und eigentlich so etwas wie eine heile Welt vortäuschen.Wir wissen, daß die Verfahrensveränderungen, die vor zwei Jahren beschlossen worden sind, zum Teil notwendig waren, weil die Zustände, die eingerissen waren, unhaltbar waren. Das galt insbesondere, was die Dauer der Verfahren anging. Das heißt, daß Asylbewerber sehr viele Jahre bis zu einer abschließenden Entscheidung warten mußten, daß das sowohl diejenigen getroffen hat, die wirklich echte Asylbewerber waren, als auch diejenigen, die wieder ausreisen mußten, denen man eine lange Zeit vorgetäuscht hatte, sie könnten hierbleiben.Diese speziellen Verfahrensverkürzungen werden von allen Länderinnenministern, auch denen, die der SPD angehören, nach wie vor begrüßt. Aber — und das ist der entscheidende Punkt, an dem die Kritik von uns Sozialdemokraten ansetzt — um diese verfahrensverkürzenden Maßnahmen wuchern eine Menge administrativer, restriktiver Maßnahmen. Die administrativen Maßnahmen sind nicht nur international und national kritisiert, sondern auch hier bei uns im Parlament häufig sehr kritisch beleuchtet worden. Ich denke insbesondere an die Debatte, die wir hier über den Bericht des Hohen Kommissars geführt haben. Der Innenminister hat darauf mit notorischer Verstocktheit reagiert und ist eigentlich bis heute nicht bereit, auf die wichtigen Monita einzugehen, die der Hohe Kommissar uns gegenüber vorgebracht hat.
Auch in Ihrer Rede sind Sie wieder nicht darauf eingegangen.
Diese Monita — auf einige Punkte werde ich gleich noch eingehen — müssen von uns ernsthaft beachtet werden, und es muß Abhilfe geschaffen werden.Ich finde es immer wieder bedauerlich, daß sich Herr Hirsch in der Öffentlichkeit profiliert, indem er sagt: Es ist alles richtig und notwendig, was der Hohe Kommissar, die Wohlfahrtsorganisationen und die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland fordern. — Wenn es aber darum geht, das Gesetz zu verändern, sagt er: „Das schieben wir erst einmal beiseite. Das machen wir später. Wir verlängern erst einmal die Geltungsdauer dieses Gesetzes." Sie, Herr Dr. Hirsch, geben allen Kritikern recht, und finden die Asylpraxis sehr bedauerlich. Sie regeln das aber nicht jetzt, sondern verschieben das auf später. — Das ist auf Dauer eine Linie, mit der Sie sich nicht profilieren können. Tragen Sie bitte auch etwas dazu bei, daß wirklich etwas verändert wird. Die eben skizzierte Haltung ärgert in zunehmendem Maße nicht nur mich, sondern uns Sozialdemokraten insgesamt.
Ich will auf die Punkte eingehen, die von entscheidender Bedeutung sind, die die abschreckenden administrativen Maßnahmen betreffen und bei denen wir eine Änderung vornehmen müssen.Der erste Punkt — dieser Punkt steht übrigens auch im Gesetz — ist, daß Gemeinschaftsunterkünfte die Regel sein sollen. Ich meine, Gemeinschaftsunterkünfte, wie wir sie auch im Rahmen der Bereisung der Asyllager durch den Innenausschuß vorgefunden haben, dürfen so nicht weiter existieren. Der Aufenthalt der Asylbewerber in solchen Unterkünften muß zeitlich limitiert werden. Es muß des weiteren geeignetes geschultes Personal zur Verfügung stehen. Herr Olderog, das ist kein kleiner Punkt, sondern ein ganz wesentlicher Punkt. Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Menschen zwei bis drei Jahre in solchen Heimen untergebracht sein können. Dies
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ist übrigens nicht nur eine flankierende administrative Maßnahme, sondern eine Maßnahme, die in diesem Gesetz steht.Der zweite Punkt, der ebenfalls in diesem Gesetz steht, sind die aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen. Wer z. B. im Landkreis Hannover in einer Unterkunft untergebracht ist, darf die Stadt Hannover nicht besuchen. Ich meine, es ist ein unhaltbarer Zustand für die Bundesrepublik Deutschland, daß Menschen ihren Aufenthalt hier auf einen bestimmten Bereich beschränken müssen — und dies über Jahre.
Nun müssen diese Beschränkungen teilweise gar nicht vorgenommen werden, weil die betroffenen Menschen, weil das Sachleistungsprinzip gilt, nur 1,60 DM Taschengeld pro Tag bekommen. Sie können sich damit nicht einmal eine Fahrt in die Stadt leisten. Insofern brauchte man die aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen noch nicht einmal in das Gesetz aufzunehmen. Die Menschen können sowieso nicht den Bus bezahlen. Ich glaube, dies ist entwürdigend, besonders unter dem Aspekt der relativ geringen Zahl von Asylsuchenden, die wir unter der Gesamtzahl der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland haben.Damit bin ich bei dem nächsten Punkt. Gerade am Beispiel des Fahrgeldes wird deutlich, daß das Sachleistungsprinzip bei der Sozialhilfe abgebaut werden muß. Ich erinnere beispielsweise an den entwürdigenden Streit, den wir im Augenblick insbesondere in Berlin haben. Dort sagen Kirchengemeinden: Wir nehmen den Asylbewerbern die Einkaufsbons ab und tauschen sie in Geld um.
— Herr Boroffka, wenn Sie das für richtig halten, wundert mich das überhaupt nicht. Der Sozialsenator in Berlin will jetzt Lebensmittelkarten mit Lichtbild ausgeben, damit ja kein engagierter Christ diese Bons umtauscht und den Menschen dafür das entsprechende Geld gibt. Das ist entwürdigend. Wer darüber in diesem Zusammenhang nicht diskutiert, sieht die menschlichen Problemen, die damit verbunden sind, nicht.
Der nächste Punkt, der wichtig ist und den auch alle Wohlfahrtsverbände immer wieder ansprechen, ist der, daß die Arbeitserlaubnis früher erteilt werden muß, wenn eine positive, noch anfechtbare Entscheidung des Bundesamts vorliegt. Das heißt, die Leute, bei denen klar ist, daß sie hierbleiben müssen, weil sie politisches Asyl bekommen, müssen auch die Möglichkeit haben, zu arbeiten, was sowohl für ihre psychische als auch für ihre wirtschaftliche Situation von Wichtigkeit ist. Wenn sie auf Dauer hierbleiben und in den ersten Jahren keine Möglichkeit haben zu arbeiten, bedeutet das natürlich auch, daß die Gefahr, die Asylbewerber in die Kriminalität abzudrängen, größer wird. Auch dies muß man in jedem Fall ändern. Auch dies ist von der FDP immer wieder gefordert worden. Jetzt aber, da die Möglichkeit gegeben wäre, das zu ändern, schweigen Sie dazu und sagen, es sei unseriös, wenn man das in Zusammenhang mit diesem Gesetz ändert.Der letzte Punkt, der wichtig ist: Die Altfälle müssen amnestiert werden. Es gibt Leute, die 16, 17 Jahre hier sind, bei denen die Verfahrensdauer dazu geführt hat, daß ihre Fälle erst heute behandelt werden und sie nach 16, 17 Jahren, obwohl ihre Kinder hier geboren sind, jetzt abgeschoben werden. Diese relativ geringe Anzahl von Altfällen sollte man wirklich amnestieren und sagen: Die Leute sind so lange hier; es hat keinen Sinn mehr, diese Fälle aufzuarbeiten; denen muß man das Recht einräumen, in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben.
Ich will in diesem Zusammenhang etwas zu der gesamten Ausländersituation in der Bundesrepublik sagen. Was mich besonders aufgeregt hat, ist eine Anzeige der CDU, die gestern in den hessischen Zeitungen erschienen ist, mit der sie die Vereinbarungen zwischen Börner und den GRÜNEN angreift. Es ist Ihr gutes Recht, das anzugreifen. Aber inhaltlich sagen Sie z. B.: Die Regierung Börner sei dafür, daß Haschisch nun frei erhältlich wird. Sollen Sie doch so etwas Albernes behaupten! Aber dann kommt der nächste Punkt: Die Regierung Börner sei dafür, daß massenweise Ausländer in die Bundesrepublik hineinkommen. Wörtlich in der Anzeige: „Wollen Sie diese Regierung in Hessen? Sie wird keine restriktive Politik gegen Ausländer machen." — Das zeigt, daß die CDU Polemik auf dem Rücken von Minderheiten austrägt.
Damit verlassen Sie auch den Grundkonsens der Parteien der Bundesrepublik, der darin besteht, daß man dieses Thema nicht emotionalisiert, daß man an diesem Thema die gefährliche Stimmung, die in der Bevölkerung sowieso immer latent vorhanden ist, nicht hochzieht. Ich finde es eine Zumutung, ja, ich muß sagen, ich finde es schweinisch, daß Sie den Grundkonsens an dieser Stelle verlassen.
— Ich habe die Anzeige hier.Meine Damen und Herren, wir haben im Innenausschuß eine politische Resolution zur Abstimmung gestellt, die wir hier nicht wieder eingebracht haben, weil sie eh niedergestimmt werden würde. Die Punkte, die in dieser Resolution stehen, habe ich vorgetragen. Wir hätten es am liebsten gesehen, wenn diese schwierigen fünf Punkte im Zusammenhang mit der Verlängerung dieses Gesetzes verändert worden wären, um auch deutlich zu machen, daß dieses Parlament bereit ist, auf die internationale Kritik und die Kritik der Kirchen und Wohlfahrtsverbände der Bundesrepublik Deutschland
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5379
Wartenberg
einzugehen. Es geht um Probleme einer kleinen Minderheit — es ist keine große Zahl — in der Bundesrepublik Deutschland.Unter diesen Umständen können wir leider der Verlängerung und auch den verkürzenden Maßnahmen, die zum Teil positiv sind, nicht zustimmen. Wir können uns deswegen nur enthalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Enthaltung ist ja auch nicht gerade eine mutige Entscheidung.Ich habe mich immer gewundert, warum wir über das Asylrecht in unserer Verfassung so zurückhaltend sprechen. In Wirklichkeit ist doch der Art. 16 die Freiheitsstatue im sicheren Hafen unserer Verfassung. Das kann man sagen. Und ich wundere mich immer darüber, daß wir nicht stolz darauf sind, ein verfassungsmäßiges Asylrecht zu gewähren. Es ist ja keine Selbstverständlichkeit, daß Menschen nach Deutschland kommen, weil sie hier Freiheit und Rechtsstaatlichkeit finden wollen und finden.Ich wundere mich, daß es häufig geradezu als eine Ketzerei gilt, wenn man ein Wort der Bischofskonferenz aufgreift und den Prototyp derer, die das Asylrecht mißbrauchen, wie es immer heißt, die Wirtschaftsflüchtlinge, als Armutsflüchtlinge bezeichnet, weil sie nämlich deswegen hierher kommen, weil der Lebensstandard auf unserer Erde katastrophal unterschiedlich verteilt ist. Wir bemäkeln das so etwas und sehen diese Wirtschaftsflüchtlinge als Leute an, die unser Recht mißbrauchen.Ich finde, daß das Verwaltungsverfahren der Würde eines Grundrechtes entsprechen muß. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, wo das nicht der Fall ist.
Es muß möglich sein, Asylbewerber in der Zeit, in der sie hier keine Rechtsicherheit haben, in der sie nicht wissen, ob sie hier bleiben können oder nicht, nicht in den Status entmündigter Pfleglinge herabzudrücken.
Die meisten wissen gar nicht, wie es diesen Menschen geht, daß sie nicht arbeiten dürfen, daß sie ihren Aufenthaltsort nicht wählen können, daß sie kein Geld bekommen, sondern Naturalien. Es ist unglaublich, daß ein Antrag des Landes Hamburg, daß Asylbewerber wenigstens für drei Tage den Kreis oder die Gemeinde, in die sie eingewiesen worden sind, ohne behördliche Erlaubnis verlassenkönnen sollten, im Bundesrat keine Zustimmung fand.
Wenn man an das Asylrecht herangehen will, wenn man weitere Veränderungen auch im Interesse der Verwaltung durchführen will, dann muß das Hand in Hand gehen — wir haben das wiederholt auch von hier aus gesagt — mit einer kritischen Überprüfung der sozialen Wirklichkeit, in der Asylbewerber hier leben, und mit einer Verbesserung ihrer Situation. Wir haben in diesem Zusammenhang insbesondere vorgeschlagen, daß es nicht mehr möglich sein sollte, das Asylbewerber in Sammelunterkünfte eingewiesen werden ohne vorherige Anhörung, ohne daß sie die Möglichkeit haben, irgendwelche Wünsche dazu zu äußern. Ganz unabhängig davon, ob sie befolgt werden, sie haben nicht einmal die Möglichkeit der Anhörung. Wir sind auch der Meinung, daß man natürlich einem Asylbewerber vorschreiben kann, wo er seinen Wohnsitz zu nehmen hat, wo er seinen regelmäßigen Aufenthalt zu nehmen hat, aber das kann doch nicht bedeuten, daß er sich strafbar macht oder irgendwelche Folgen zu gewärtigen hat, wenn er zufällig die Grenzen seiner Gemeinde überschreitet.
— Ja, richtig, deswegen wollen wir das ändern.Nun muß ich Herrn Wartenberg sagen: Verehrter Herr Kollege, ich meine, das hätte sich bis zu Ihnen herumgesprochen: Das Arbeitsverbot für Asylbewerber, die ohnehin unabhängig vom Ausgang ihres Verfahrens nicht zurückgeschoben werden — Arbeitsverbot im wesentlichen für Ostblockflüchtlinge —, ist beschlossen worden von der sozialliberalen Koalition auf das Drängen Ihrer Kabinettskollegen gegen den Widerstand des damaligen Innenministers Baum. Ich bin sehr froh, daß der Arbeitsminister Blüm nun eine Änderung der Arbeitserlaubnisverordnung vorgelegt hat, in der dieses Arbeitsverbot aufgehoben wird: ein Schritt voran zu etwas mehr sozialer Gerechtigkeit oder Würde, Anerkennung der Menschenwürde derjenigen, die bei uns Zuflucht suchen.Nun zu § 11. Ein forensisches Detail, nämlich die in der Tat etwas rüde Vorschrift, daß jemand in das Land, aus dem er geflohen ist und von dem er behauptet, dort politisch verfolgt zu werden, zurückgeschoben werden kann, ohne ein Gericht gesehen zu haben, ohne eine Hauptverhandlung, ohne eine rechtskräftige Entscheidung. In der Tat haben wir diese Bestimmung nur für einen begrenzten Zeitraum akzeptiert unter dem Eindruck außerordentlich hoher Zahlen und deswegen, weil der Asylbewerber gegen eine Versagung des Aufenthaltes noch das Oberverwaltungsgericht anrufen kann. Wir haben immer an der forensischen, also an der gerichtlichen Weisheit dieser Vorschrift gezweifelt, und das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 2. Mai dieses Jahres diesen Bedenken weitgehend Rechnung getragen, indem es nämlich gesagt hat, das Verfahren muß dem Rang des Grundrechtes entsprechen, und das Gericht muß
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Dr. Hirschernsthaft prüfen, ob ein Asylantrag wirklich offensichtlich unbegründet ist. Es muß dazu unter Umständen eine mündliche Verhandlung und eine Beweisaufnahme vornehmen. Das führt dazu, was wir heute schon beobachten — Herr Olderog, es ist nicht so, daß sich § 11 himmelschreiender Beliebtheit bei den Verwaltungsgerichten erfreut —, daß in der Vielzahl der Fälle — in den meisten Ländern in mehr als der Hälfte der Fälle, wie die uns vorgelegten Zahlen zeigen — die Verwaltungsgerichte die Anrufung nach § 80 Abs. 5 mit der Entscheidung in der Hauptsache verbinden, was vernünftig ist. Das heißt, sie beraumen eine mündliche Verhandlung an und entscheiden dann in der Hauptsache. Der Asylbewerber wird nicht in einen summarischen Verfahren behandelt, sondern bekommt seine Hauptverhandlung, in der die Kammer entscheidet, ob das Gesuch wirklich offensichtlich unbegründet ist oder nicht.Das ist ein faires Verfahren, und ich bin der Überzeugung, daß die Entscheidung des Verfassungsgerichtes dazu beitragen wird, die summarische Entscheidung, also unter Umständen nach Lage der Akten darüber, ob eine Klage aufschiebende Wirkung hat oder nicht, verdientermaßen weiter zurückgedrängt wird.Nun hat uns der Flüchtlingskommissar während der Beratungen zu diesem Gesetz gesagt, daß er in der Praxis keine Mißbrauchsfälle habe feststellen können. Darum halten wir es zwar nicht für gerechtfertigt — wie der Bundesrat es wollte —, § 11 ohne zeitliche Befristung zu verlängern, wir halten es aber für vertretbar, dem Vorschlag der Bundesregierung zu folgen, die Verlängerung bis zum Jahr 1988, also für vier Jahre, auszusprechen mit der Folge des automatischen Auslaufens am Ende dieser Frist. Wir sind sicher, daß die Verwaltungsgerichte in zunehmendem Maße das tun, was vernünftig ist, nämlich nicht im Eilverfahren zu entscheiden, sondern eine Hauptverhandlung anzuberaumen und in der Hauptsache selber zu entscheiden.
— Verehrter Herr Kollege, das Bundesverfassungsgericht hat natürlich auch gesagt, daß § 11 nicht der Verfassung widerspreche. Sonst brauchten wir uns darüber heute gar nicht zu unterhalten. Es hat vielmehr gesagt, die Verwaltungsrichter müßten unter Umständen in eine mündliche Verhandlung eintreten, Beweise erheben. Sie müssen also in der Art einer Hauptverhandlung entscheiden. Da stellt sich doch für den Richter die berechtigte Frage, ob er dann nicht gleich in die Hauptverhandlung eintreten soll, also das tun soll, was wir von Anfang an vorgeschlagen haben: sich nicht auf ein summarisches Verfahren einzulassen, sondern den Mann selber anzuhören, ihm rechtliches Gehör zu gewähren, ihm eine Hauptverhandlung einzuräumen und dann zu entscheiden.Was wir in § 11 regeln, ist ja eine Novität, eine Einzigartigkeit im Verwaltungsrecht, und zwar in Sachen — das muß man ja sagen —, in denen eineFehlentscheidung eine Entscheidung auf Leben und Tod für einen Asylbewerber sein kann. Das ist also ein Bereich, in dem man sich schon äußerster Zurückhaltung befleißigen muß.Ich denke, daß wir auf dem Weg fortfahren werden: Veränderungen des Asylrechtes dann, wenn sie Hand in Hand gehen mit einer Verbesserung der sozialen Lage dieser Asylbewerber, die der Menschenwürde und dem Rang eines Grundrechtes entspricht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schneider .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja immer sehr beliebt — besonders im Wahlkampf —, von der „Durchforstung des Gesetzesdschungels" zu sprechen. Hier und heute wäre z. B. eine solche Gelegenheit dazu, einen ganz besonders krummen Strauch aus diesem Gesetzesdickicht herauszuschneiden. Und wieder Fehlanzeige!Die umstrittenen Paragraphen dieses Asylverfahrensgesetzes sollen weitergelten, sie sollen weitere vier Jahre ausprobiert werden; denn so sicher ist es durchaus nicht, daß sich dieses Gesetz bisher bewährt hat. Nur eines ist ganz deutlich, daß nämlich hinter diesem Asylverfahrensgesetz und seiner Verlängerung die Absicht steht, ein gesetzliches Instrumentarium zu besitzen und auch zu handhaben, mit dem das Grundrecht auf Asyl in so weitgehendem Maße umgangen und ausgehöhlt wird, daß nicht nur DIE GRÜNEN, sondern auch verschiedene andere gesellschaftliche Institutionen davon sprechen, daß das Grundrecht auf Asyl in der Bundesrepublik eigentlich nur noch Makulatur sei.
Die CDU/CSU hat im Innenausschuß mit wünschenswerter Deutlichkeit klargemacht, daß es ihr mit der Verlängerung des Asylverfahrensgesetzes um eine abschreckende Wirkung — so steht es in dem Bericht — gegenüber denjenigen geht, die offensichtlich keine politischen Motive hätten, ihren Asylantrag zu stellen, und aus rein wirtschaftlichen oder anderen, nicht relevanten Gründen in die Bundesrepublik kämen. Hier genau liegt der Knackpunkt. Der CDU/CSU geht es nämlich um eine ganz banale, aber folgenschwere Theorie bzw. Philosophie der Abschreckung, die diese Regierung der Wende und die sie tragenden Parteien nicht nur im Umgang mit anderen Völkern, d. h. in ihren Außenbeziehungen praktizieren, sondern auch im Umgang mit den Menschen innerhalb der Bundesrepublik.
In der Hauptsache soll § 11 im Asylverfahrensgesetz diesen Effekt bewirken, und zwar durch die außerordentlich schnelle Einleitung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, d. h. der betreffende Ausländer ist bei Ablehnung seines Antrags als of-
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Schneider
fensichtlich unbegründet zur unverzüglichen Ausreise verpflichtet und wird abgeschoben. Der Ausländer muß das Land verlassen und kann die rechtskräftige Entscheidung über seinen Asylantrag nicht in der Bundesrepublik abwarten.Wir halten diese Vorgehensweise nach wie vor für verfassungsrechtlich außerordentlich bedenklich, obwohl es Urteile des Verfassungsgerichts gibt, die diese Praxis als richtig anerkennen. Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes bestimmt nämlich, daß demjenigen der Rechtsweg offensteht, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Der Rechtsweg aber wird im Ergebnis demjenigen genommen, der vorher ausgerechnet in das Land ausreisen muß, dem er durch die Stellung seines Asylantrags vorwirft, ihn politisch zu verfolgen. Hätte der Asylantrag später in der Bundesrepublik Erfolg, würde dies dem Antragsteller überhaupt nichts mehr nützen.Die rechtlichen Möglichkeiten, die einem Ausländer bleiben, wenn sein Antrag als offensichtlich unbegründet verworfen wurde, muß er in einer lächerlichen Woche geltend machen. Ohne Anwalt, ohne Sprachkenntnisse, ohne Durchblick, auch noch angewiesen auf eine schnelle Post ist das zumeist ein Ding der Unmöglichkeit.
Vielleicht ist dieser für eine rechtsstaatliche Demokratie wenig schmückende Tatbestand auch Verantwortlichen im Bundesamt aufgefallen, also verantwortlichen Richtern; denn gerade 13,5 % der Anträge erhalten das Prädikat „offensichtlich unbegründet".Im übrigen steigt der Anteil der Fälle, bei denen § 11 überhaupt nicht mehr angewendet wird; Herr Hirsch hat j a darauf hingewiesen.Man kann es wenden und drehen, wie man will: Dieser § 11 taugt nichts, seine Anwendung entlastet auch die Gerichte keineswegs und hilft keine Zeit sparen. Er schmälert nur die Rechte der Menschen, die in die Bundesrepublik kamen, um Hilfe und Schutz zu suchen.Eines bewirkt das Asylverfahrensgesetz in Gänze auch: Es wirkt als ein Transportmittel für die Abschreckungsideologie derjenigen, die mit einer Ausländer-raus-Politik an schlimme Instinkte und noch schlimmere Zeiten in der deutschen Geschichte erinnern.Man müßte jetzt zahllose Beispiele aufreihen, um zu zeigen, wie umfassend in der Bundesrepublik durch dieses Gesetz, durch weitere Gesetze und durch die Verwaltungspraxis in das Leben von Asylbewerbern eingegriffen wird — Herr Wartenberg hat einiges dazu gesagt —, so daß eine schnelle Abweisung, wie sie im Asylverfahrensgesetz vorgesehen wird, vielleicht sogar noch human erscheinen mag gegenüber dem, was in der Bundesrepublik sonst gegenüber Ausländern so üblich ist.Eine Beschreibung dafür hat z. B. eine Gruppe von Mitarbeitern des Hohen Flüchtlingskommissars geliefert. Sie hat besonders die Sammelunterkünfte beschrieben und aufs Korn genommen, die ja nach § 23 des Asylverfahrensgesetzes den Asylbewerbern zwangsweise zugewiesen werden. Dieser damalige Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars offenbarte, wie umfassend die inhumane Ghettoisierung von Asylbewerbern hier in der Bundesrepublik gehandhabt wird. Es war bezeichnend, wie der Innenminister damals reagierte. Er lud den Hohen Flüchtlingskommissar Poul Hartling kurzfristig aus. Aber die Fakten bleiben.
— Ich habe nicht soviel Zeit, eine Zwischenfrage zu beantworten.Die Fakten bleiben, nämlich aufgezwungene Ortswahl für Asylbewerber, räumliche Beschränkung des Aufenthalts in völlig unsinniger Weise, Kürzung von Kindergeld, die ganze Rechtspraxis bei den Asylverfahren, demütigende Verfahren im Sozialbereich, Einschränkung medizinischer Versorgung, Visazwang und vieles andere mehr. Dies alles sind Stichworte, die andeuten, in wie vielfältiger Weise den Ausländern das Leben bei uns unerträglich gemacht werden soll.
— Ich finde, daß sich die Regierung der Bundesrepublik damals für ihr Verhalten hätte entschuldigen müssen, nicht der Hohe Flüchtlingskommissar. Wenn es anders war, hat er das vielleicht um des lieben Friedens willen getan.
Ich möchte sagen, daß für die von mir hier angesprochene abschreckende Rechtspraxis in der Bundesrepublik das Beispiel von Kemal Altun sehr kennzeichnend war, und kennzeichnend war auch der Spruch eines Gerichts, daß die Parole „Ausländer raus" in der Bundesrepublik straffrei geäußert werden kann und keinesfalls als Volksverhetzung gilt.Im Sozialbereich — das hat Herr Wartenberg auch gesagt — hat gerade Berlin durch seinen Sozialsenator Ulf Fink wieder einmal einen solchen unerträglichen Vorschlag eingebracht, womit er den anderen Ländern vorangeht, den Vorschlag nämlich, Asylbewerber seien mit extra Lichtbildausweisen auszustatten, damit die diskriminierende Praxis, Sozialhilfe über Wertgutscheine abzuwickeln, nicht unterlaufen werden kann. Asylbewerber sollen also, als wären sie unmündige Kinder, nicht einmal das bißchen Geld, das ihnen per Gesetz zusteht, bekommen, sondern sollen auch noch stigmatisiert werden. Eine Zeitung schrieb dazu: Vielleicht wäre
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es besser, ihnen gleich einen Stern an die Jacke zu heften.
Wir halten das deutsche Ausländerrecht im allgemeinen und besonders die restriktiven Gesetze zum Asylverfahren für keine Grundlage des Umgangs zwischen Deutschen und Ausländern. Sie zeigen einen „Herr-im-Hause"-Standpunkt,
der nur zu leicht zu Diskriminierung und Vertreibung führen wird. Aus solchem Geist ist auch die Visapflicht entstanden, die vielleicht die schwerwiegendste Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl darstellt.Ich finde, angesichts dieser Tatsachen sollte sich auch die SPD hier nicht an vermeintlich pragmatische Vorschläge halten; sie sollte sich nicht mit einer Entscheidung zum Unentschieden, also zur Enthaltung, aus der Verantwortung stehlen, sondern auch ganz klar gegen die Weiterführung dieses Gesetzes stimmen.Einen Vorschlag möchten wir hier noch ganz kurz anbringen: Ziel sollte sein, das Bundesamt in die Lage zu versetzen, im Regelfall spätestens innerhalb von drei Monaten über einen Asylantrag zu entscheiden. Gleiches sollte für die erste Justizinstanz gelten. Neben einer besseren personellen Ausstattung des Amtes sollen bestimmte Flüchtlingsgruppen en bloc mit einem Amnestieverfahren rechnen dürfen; sie sollten en bloc durch ein Verfahren nicht abgeschoben werden.
— Ich komme zum Schluß. — Ich denke dabei an Ostblockflüchtlinge, an afghanische Flüchtlinge, an christliche Türken und Palästinenser.Schnellere, faire Verfahren hätten auch für alle Folgebereiche — wie Unterbringung, Sozialhilfe und Arbeit — eine positive Auswirkung, wobei die korrekte Handhabung des Grundrechts auf Asyl unabdingbar bleibt, damit sich diese Republik nicht weiter in Gefahr begibt, sich des vorsätzlichen Vergehens gegen die Verfassung schuldig zu machen.Wir lehnen dieses Gesetz ab.Schönen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei kurze Bemerkungen für die Bundesregierung am Schluß dieser Aussprache:Erstens. Ich meine, wir sollten uns in diesem Hause in einem einig sein: Wer das Asylrecht entsprechend unserem Grundgesetz wirklich für die Menschen sichern will, die in der Tat politisch verfolgt sind, muß dieses Grundrecht vor Mißbrauch sichern.
Diesem Ziel dient die Regierungsvorlage, die hier heute zur Verabschiedung ansteht.Herr Kollege Schneider, Ihnen möchte ich sagen, die maßlosen Angriffe, die Sie hier vorgetragen haben, müssen nicht nur mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden; ich sage auch deutlich, sie gehen an der Realität in diesem Lande völlig vorbei. Sie haben mit der Realität nichts zu tun!
Weil Sie viele Bereiche angesprochen haben, möchte ich hier für die Bundesregierung auch gern einmal den vielen tausend Mitarbeitern in den zuständigen Bundesbehörden, aber auch bei den Ländern, in den Städten, Gemeinden und Kreisen und bei den sozialen Verbänden, die sich sehr intensiv um das Wohl der Asylanten bemüht haben, danken.
Ihnen allen möchte ich hier Dank aussprechen.
Ich möchte gern einen zweiten Punkt ansprechen. Im Zusammenhang mit dieser Vorlage sind heute hier, aber auch in den Ausschußberatungen und im Bundesrat eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, die den gesamten Bereich des Asylrechts und die flankierenden Maßnahmen umfassen. Ich will hier sehr deutlich sagen: Diese Vorschläge und Anregungen bedürfen intensiver Beratung. Aber ich will hier gleich für die Regierung zum Ausdruck bringen: Wenn wir diese Vorschläge beraten, meine Damen und Herren, dann sollten wir die Leute, die vor Ort mit diesen Aufgaben zu tun haben, nämlich die Experten aus den Ländern und Gemeinden, zu diesen Beratungen hinzuziehen, damit wir nicht irgendwelche utopischen Vorstellungen diskutieren, sondern damit wir die Realität und damit die realistische Durchführung auch miteinander besprechen können. Das wird der Materie dienen.Ich möchte noch etwas an die Adresse des Kollegen Wartenberg von der SPD sagen. Ich glaube, Herr Kollege Wartenberg, wenn Sie sich auch einmal mit Ihren Parteifreunden, die Verantwortung in Ländern und Gemeinden tragen, unterhalten würden, würden Sie hier nicht so unrealistische Vorstellungen entwickeln. Die könnten Ihnen sehr viele gute Informationen geben. Ich empfehle Ihnen diesen Gedankenaustausch.
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Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt— Herr Kollege Schäfer, Sie machen Zwischenrufe. Ich wünschte, Sie wären einmal im Bundesrat gewesen. Im Bundesrat haben auch die SPD-regierten Länder unseren Vorstellungen zugestimmt, weil sie nämlich klare Erfahrungen aus der Praxis haben. Da muß man die Landesregierungen loben. Ich empfehle Ihnen: Reden Sie doch einmal mit ihren zuständigen Bürgermeistern; die können Ihnen Nachhilfeunterricht in Realität geben.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier zum Abschluß gern dem Parlament — dem Plenum, aber auch den Ausschüssen — sehr herzlich für die zügige Beratung danken. Der vorliegende Entwurf ist ja zügig und an der Sache orientiert beraten worden, um die Fristverlängerung möglichst schnell herbeizuführen. Ich meine, die heutige Vorlage dient letztlich denen, die wirklich die Hilfe brauchen, weil sie politisch verfolgt werden. Wir können damit das Asylrecht, so wie es das Grundgesetz bestimmt hat, stärken. Wir können es vor Mißbrauch abschirmen. Darum bitte ich, der Regierungsvorlage zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere 'Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist angenommen.
Ich rufe Punkt 32 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes
— Drucksache 10/319 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 10/1447 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Götz Klein
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Sind Sie mit dieser Regelung einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Darf ich fragen, ob einer der Berichterstatter das Wort wünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Klein .
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, über das wir jetzt zu sprechen haben, ist eingebettet in eine Änderung des Waschmittelgesetzes und in das Thema Geräuschemissionen von Schienenfahrzeugen, die heute ebenfalls auf unserer Tagesordnung stehen.
Das jetzt zur Beratung anstehende Thema hat jedoch einen viel stärkeren Bezug zu dem, was wir vorher behandelt haben, nämlich zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes, denn auch bei diesem Gesetz geht es um menschliche Schicksale, um Mitbürger, die in Verfahren hineingezogen worden sind und die deswegen möglicherweise sehr große Belastungen in ihrem Leben ertragen müssen.Die Gesetzesänderung will zwei bedeutende Reformgesetze aus der Zeit der sozialliberalen Koalition nachvollziehen, indem sie jetzt Eingang in das Bundeszentralregistergesetz finden:Zum einen das Recht der elterlichen Sorge, das ja schon in seiner Wortwahl signalisiert, daß an die Stelle des Rechts der elterlichen Gewalt die elterliche Sorge treten soll,zum anderen die Änderung des Betäubungsmittelrechts, das wir seit 1982 nach dem Grundsatz „Therapie statt Strafe" praktizieren.Es ist also die Fortsetzung oder auch der Vollzug einer Reform, die mit geänderten Paragraphen neuen Sachverhalten Rechnung tragen will. Wir wollen mit dieser Änderung keineswegs Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz verniedlichen. Aber es soll beispielsweise — das drückt sich in dieser Neuregelung aus — für einen jungen Mann, der vielleicht ohne eigenes Zutun in eine Rauschgiftgeschichte verwickelt worden ist, erreicht werden, daß ihm dies nicht Zeit seines Lebens anhaftet. Anders gesagt: Wer sich freiwillig einer Therapie unterzieht und damit die Strafe vermeidet, der soll nicht mehr damit rechnen müssen, daß ihm ein Eintrag nach alter Art im Strafregister in Berlin droht.Wir wollen mit diesem Gesetz und den vorausgegangenen Gesetzen unser Gemeinwesen liberalisieren und für eine versöhnliche Handhabung des Rechts Platz schaffen. Wir wollen erreichen, daß die Eintragung im Strafregister in Berlin für den Betroffenen nicht möglicherweise eine schlimmere Wirkung als die Strafe selbst hat. Das ist die Intention dieser Vorlage. Wenn Sie bedenken, daß in Berlin gegenwärtig 4,2 Millionen Eintragungen verzeichnet sind und daß dort pro Arbeitstag 31 000 Anfragen eingehen, dann wird schon vom Volumen her erkennbar, was eigentlich alles dahintersteht:— auf der einen Seite die Masse,— aber hinter den 4,2 Millionen Eintragungen auch Millionen persönlicher Schicksale.
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Klein
Wir wollen durch die Regelung nichts beschönigen. Aber wir wollen Hürden dort beseitigen oder verkleinern, wo sie entbehrlich geworden sind.Ich jedenfalls finde, die Qualität der beiden Reformgesetze, die heute hier nachvollzogen werden, ist auch in der Weise erkennbar, daß selbst eine konservativ geprägte Bundesregierung an ihnen nicht vorbeigehen kann.Wenn man beispielsweise bedenkt, daß das Recht der elterlichen Sorge vor Jahren in diesem Hause zum Teil in namentlicher Abstimmung von der CDU/CSU wütend bekämpft worden ist und daß heute die Erwartung ansteht, daß es akzeptiert wird, dann zeigt sich schon daran, was sich hier an Wandel vollzogen hat.Es ist auch wichtig, an dieser Stelle an Vorhaben zu erinnern, die heute nicht in der Gesetzesvorlage stehen, von denen aber beabsichtigt war, daß sie beschlossen werden sollten.Wir haben bei der ersten Lesung am 13. Oktober 1983 noch nicht gewußt, daß ein strittiges Thema von der Regierung nachgeschoben wird. Es ist ja mitunter sehr intelligent von einer Regierung gemacht, daß sie bei einem scheinbar harmlosen Gesetz plötzlich Informationswünsche für den MAD äußert — in einem Schreiben vom 27. Oktober 1983 mitgeteilt, ein paar Monate später über Verteidigungsministerium und Justizministerium gelaufen, und plötzlich Tagesordnungspunkt einer Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags. Es spricht für den Justizminister und sein Haus, das ich nicht immer loben kann, daß man in diesem Punkt gegenüber den Wünschen der Hardthöhe ziemlich zurückhaltend gewesen ist und nur zögerlich das aufgegriffen hat, was dort verlangt worden war, nämlich — das sollte Teil dieses Gesetzes sein; meine Damen und Herren von der CDU/CSU; auch das sollten Sie sich in Erinnerung rufen — dem MAD ein gleiches Auskunftsrecht zu verschaffen, wie es der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst ohnehin schon haben. Überrascht waren alle Seiten des Hauses, als dann diese Vorlage am 25. Januar 1984 auf dem Tisch des Rechtsausschusses lag. Ich halte es für ein gutes Stück Diskussionsarbeit und demokratischer Einwirkung, daß in den Verhandlungen im Rechtsausschuß mit den Stimmen aller Parteien erreicht worden ist, diese Kröte vom Tisch zu bekommen. Das heißt, es ist erreicht worden, daß der MAD nicht präferiert wurde, sondern daß er dorthin verwiesen wurde, wo er heute steht: Ein Dienst, dessen Tätigkeit einmal ernsthaft überprüft werden muß.Ich nehme an, daß dies auch ein Teil des Berichtes ist, den der ehemalige Bundesinnenminister Höcherl in diesen Tagen vorgelegt hat. Ich kenne diesen Bericht nicht. Ich finde es ganz gut, daß wir im Rahmen eines scheinbar trockenen Gesetzes mit formalem Inhalt die politische Brisanz, die von bestimmter Seite in die Sache hineingebracht worden ist, herausbringen konnten. Das spricht auch ein bißchen für die Kollegen vom Regierungslager, die sich unseren Argumenten und unserer Form der Diskussion letztlich nicht versagt haben.Vielleicht gibt dieser Bericht von Herrn Höcherl Aufschluß darüber, wo dem MAD zu trauen ist und wo nicht. Im Rechtsausschuß jedenfalls waren diese Vorbehalte geboten, und zwar von allen Seiten. Anders gesagt: Auch die CDU, die CSU und die FDP haben jedenfalls in diesem Punkt ihrer eigenen Regierung nicht getraut.Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, der nachgeschoben worden ist und den ich nur ganz knapp noch streifen möchte, ist die Änderung des § 20 des Gerichtsverfassungsgesetzes. In dieser Bestimmung wird geregelt, in welcher Weise Gäste der Bundesregierung, die eine eindeutige Einladung haben — das „eindeutig" muß unterstrichen werden —, der deutschen Gerichtsbarkeit nicht unterliegen. Ich will es mir versagen, hier auf Einzelheiten einzugehen. Aber es bleibt festzuhalten, daß es bei der jetzigen Regelung, die wir heute beschließen wollen — eine vernünftige Handhabung vorausgesetzt —, möglich sein wird, den Kontakt zwischen Deutschen und Deutschen, und zwar zwischen Deutschen in gehobener Stellung und anderen Deutschen in der Bundesrepublik, unabhängig davon, wie die gesellschaftliche Ordnung aussieht, zu erleichtern. Das ist eine besondere politische Gewichtung, die dieses Gesetz noch erfährt.Wir hoffen sehr, daß durch diese Neuregelung, die Änderung des Zentralregistergesetzes, die wir heute beschließen wollen, eine konstruktive und progressive Entwicklung — das ist bei dieser Regierung eine ganze Menge — eingeleitet werden kann. Meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Regierungslager, Sie hören diese Worte vielleicht nur ungern. Aber wir verstehen die Novellierung, die heute hier beschlossen werden soll, auch als eine kleine Fortsetzung der Reformen, die eine alles in allem erfolgreiche Bundesregierung im 8. und 9. Deutschen Bundestag mit auf den Weg gebracht hat.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! An die erfolgreichen Bemühungen der Regierungen der 8. und 9. Legislaturperiode, Herr Kollege Klein, will die Regierung der 10. Legislaturperiode natürlich gern anknüpfen und hat deswegen diesen Entwurf vorgelegt. Ich bin sehr froh darüber, daß in vielen Punkten weitgehend Einigkeit besteht.Der weitaus wichtigste Teil dieses Gesetzentwurfes enthält lediglich Regelungen gesetzestechnischer, redaktioneller Art.
Es handelt sich hierbei, um das einmal klarzumachen, um registertechnische, sprachliche und sonstige Änderungen, die vor allen Dingen der Verbesserung des Verwaltungsablaufs und der Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs dienen. Was die inhaltliche Darstellung der einzelnen Regelungen an-
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Beckmanngeht, kann daher insoweit auf die Beiträge in der ersten Lesung verwiesen werden.Die Änderungen, die sich nun gegenüber der ersten Fassung ergeben, wurden teilweise auf Anregung des Bundesrates vorgenommen, teilweise beruhen sie aber auch auf Vorschlägen, die der Bundesbeauftragte für Datenschutz zu diesem Gesetzentwurf unterbreitet hat. Auch bei diesen Änderungen handelt es sich im großen und ganzen um weitere redaktionelle Ergänzungen sowie um die Verdeutlichung der gesetzgeberischen Absichten und ordnungspolitischen Zielsetzungen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher, von seinem überwiegenden Inhalt her gesehen, eine gesetzestechnische Notwendigkeit, also eine parlamentarische Pflichtübung. Wenn man die vorgesehenen Neuregelungen jedoch näher betrachtet, so ergeben sich einige Gesichtspunkte, die durchaus der weiteren Darstellung bedürfen.Nach meiner Meinung ist bei der Diskussion über diese Gesetzesänderung ein wenig außer acht gelassen worden, daß mit dieser Neuregelung die Stellung des von der Eintragung in das Strafregister Betroffenen in nicht ganz unerheblichem Maße verbessert worden ist. Ich finde, das sollte einmal ganz klar gesagt und nach außen hin auch verdeutlicht werden.
Ich bin der Auffassung — da stimmen wir Gott sei Dank überein, Herr Kollege Klein —, daß die gesetzliche Festlegung einer Hinweispflicht bei einer möglichen Gesamtstrafenbildung sowie die Vereinheitlichung und teilweise Neugliederung des Rechtsmittelweges gegen die Entscheidung der Registerbehörden durchaus eine gesetzgeberische Maßnahme darstellen, die die Rechtsstellung der Betroffenen verbessert und ausbaut. Dies sollte in der Öffentlichkeit auch einmal bekannt gemacht werden.Wenn aber die Frau Kollegin Reetz von der Fraktion der GRÜNEN in der ersten Lesung ausgeführt hat, es bereite ihr Unbehagen, wenn sie an die Notwendigkeit dieser Gesetzesänderung denke, so bereitet es mir dagegen Unbehagen, wenn ich sehe, wie die GRÜNEN fast jeden Gesetzentwurf, der hier eingebracht wird, mit ideologischen Überlegungen und leider auch Phrasen überfrachten, die weitab von dem wirklich Gewollten liegen.
Frau Reetz hatte in der Debatte zum Bundeszentralregistergesetz in der ersten Lesung behauptet, das Erfassungsnetz werde immer dichter, und wir kämen einem Überwachungsstaat immer näher. Ich kann dazu nur sagen, daß hier auf wirklich ganz üble Weise versucht wird, mit den Emotionen unserer Bürger Schindluder zu treiben.
— Herr Kollege, dieser Art, auf Wählerfang zu gehen, wollen wir wirklich eine klare Absage erteilen.Diesen Vorwürfen im Zusammenhang mit dem hiervorliegenden Gesetzentwurf fehlt auch jegliche Grundlage.
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, den ich hier einmal zum Zeugen aufrufen möchte, hat die Tätigkeit der Registerbehörden bereits mehrfach überprüft und keinerlei Beanstandungen feststellen können. Der Datenschutzbeauftragte hat sich vielmehr positiv über die Arbeit dieser Registerbehörden geäußert, und ich sehe keinen Anlaß für die Befürchtung, wir würden die Kontrolle über diese Registereinrichtung verlieren. Vielleicht sollten die GRÜNEN einmal den Versuch machen, in unserem Tun auch etwas positives zu sehen.Zum Beispiel sind wir der Auffassung, daß die Regelung, die vorsieht, Eintragungen, aus denen sich die Betäubungsmittelabhängigkeit eines Betroffenen ergibt, nicht mehr in das Führungszeugnis aufzunehmen, einen ganz entscheidenden Beitrag zur Resozialisierung des hiervon Betroffenen darstellt.
Auch dies ist ein Bestandteil der Neuregelung, der bei so einseitiger Betrachtungsweise naturgemäß untergehen müßte.Meine Damen und Herren, noch ein letztes Wort zu der Forderung des Bundesrates, das Bundeszentralregister in Berlin mit dem Verkehrsregister in Flensburg zusammenzulegen. Ich maße mir nicht an zu beurteilen, ob die im Raume stehende Summe von 45 Millionen DM jährlicher Einsparung, die bei einer Zusammenlegung zu erzielen sei, wirklich den Tatsachen entspricht. Meine Fraktion ist daher der Auffassung, daß die beim Kraftfahrtbundesamt gebildete Kommission ein Konzept erarbeiten sollte, das einerseits zu einer weitgehenden Entlastung des Staatshaushaltes und zu einer Vereinfachung des Abfrageverfahrens führt, andererseits aber auch die regionale Arbeitsmarktsituation und die Auswirkungen für die Betroffenen im Auge hat. Ein gerechter Interessenausgleich könnte unserer Ansicht nach auch dadurch gefunden werden, daß man die Aufgaben, mit denen beide Registerbehörden befaßt sind, soweit dies organisatorisch möglich ist, untereinander aufteilt und so den Erhalt der Arbeitsplätze in der Region Flensburg weitgehend sichert.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage. — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Klein.
Sind Sie wirklich der Meinung, Herr Kollege, daß eine Kommission, die bei einer Behörde eingerichtet ist, objektiv darüber befinden kann, ob diese Behörde aufgelöst werden kann?
Herr Kollege, ich begegne solchen Kommissionen mit der angebrachten Skepsis, bin aber davon überzeugt, daß die letzte Entscheidung bei uns, dem Gesetzgeber liegt.
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5386 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
BeckmannWenn man am Schluß der Beratungen zu dieser Gesetzesänderung ein Fazit ziehen will, so glaube ich, daß es uns durchaus gelungen ist, einen sachgerechten Ausgleich zwischen dem Interesse der Sicherheit der Allgemeinheit und dem Interesse des von der Eintragung Betroffenen zu finden.Meine Fraktion, die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, wird diesem Gesetzentwurf daher gerne zustimmen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, Herr Beckmann, eigentlich wollten wir uns den Beitrag schenken, weil wir in der ersten Lesung das unsere schon gesagt hatten. Aber Sie haben mich herausgefordert; ich muß jetzt doch ein paar Takte sagen.
Sie beschweren sich darüber, daß die GRÜNEN an vielen Gesetzen einiges zu mäkeln haben. Das liegt nicht an uns. Wenn die Gesetze schlecht sind, dann haben wir diese Kritik auch hier anzubringen.
Nun möchte ich in der zweiten und dritten Lesung Kritik an dem üben, was an neuen, an schlechten Sachen in das Gesetz hineingebracht worden ist. Die im ursprünglichen Regierungsentwurf enthaltene positive Änderung, nämlich die Löschung von bestimmten Eintragungen nach der Begnadigung, wurde auf Grund einer Stellungnahme des Bundesrates vom Rechtsausschuß gestrichen. Sie haben erklärt, daß der Datenschutzbeauftragte gehört worden sei und positive Regelungen eingeflossen seien. Dazu ist zu sagen, daß von drei konstruktiven Verbesserungsvorschlägen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz zum Regierungsentwurf 10/319 ein einziger in die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses aufgenommen worden ist, allerdings nur in eingeschränkter Fassung.
Die vom Datenschutzbeauftragten geforderte Löschung von im Zentralregister noch eingetragenen, inzwischen aber aufgehobenen Entmündigungen erfolgt nur dann, wenn das „öffentliche Interesse" nicht entgegensteht, ist also von einer willkürlichen Entscheidung abhängig.
Die vom mitberatenden Innenausschuß zu Recht angeführten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung, nach der statistische Angaben zur Strafverfolgung von den Justizverwaltungen über das Bundeszentralregister an die Statistischen Ämter weitergeleitet werden können, wurden vom Rechtsausschuß in der Schlußberatung nicht berücksichtigt, sondern das wurde lapidar abgelehnt. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz dürfte diese Neuregelung wegen Verstoßes gegen das Prinzip der informationellen Gewaltenteilung nichtig sein.
Mehr ist hier von unserer Seite nicht anzubringen. Wir werden aus den genannten Gründen den Gesetzentwurf ablehnen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Erhard.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gegenstand des Gesetzentwurfes ist bekannt, ich habe ihn nicht noch einmal darzustellen. Lediglich zu einem Punkt möchte ich noch einmal Stellung nehmen, nämlich der Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Erhebung der Strafverfolgungsstatistik über Mitteilungen zum Bundeszentralregister durch Einfügung eines § 20 a. Der Innenausschuß hat auf Anregung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz um Prüfung gebeten, ob die neue Erhebungsmethode im Hinblick auf das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts nicht auf die Fälle beschränkt werden muß, in denen die betreffende Entscheidung auch im Register einzutragen ist.Der Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, vorliegende Entwurf enthält insoweit keine Einschränkung. Dies bedeutet aber nicht, daß von der vorgesehenen Ermächtigung auch in vollem Umfang Gebrauch gemacht werden muß. Wir werden vielmehr in enger Verbindung mit dem Datenschutzbeauftragten und den Ländern sorgfältig prüfen, inwieweit die vorgesehene Umstellung datenschutzrechtlich unbedenklich ist.Der Entwurf enthält ferner eine zuvor im Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vorgesehene Änderung der Gewerbeordnung. Der Grund hierfür ist, daß die Änderung möglichst bald in Kraft treten soll und sich die ursprüngliche Annahme, das 2. Wirtschaftskriminalitätsgesetz werde vor dem vorliegenden Entwurf verabschiedet, nicht erfüllt hat. Das Ziel der Änderung ist es, das Gewerbezentralregister von überholten Eintragungen zu befreien.Ich bin den beteiligten Ausschüssen dankbar dafür, daß sie in das Gesetz auch eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes aufgenommen haben. Die Neufassung des § 20 des Gerichtsverfassungsgesetzes schließt an die bisher geltende Regelung an, die völkerrechtlichen Regelungen über die Immunität geschützter Personen wie Staatsoberhäupter, Diplomaten und Konsuln in innerstaatliches Recht umzusetzen. Die neue Fassung stellt klar, daß auch andere Personen wie etwa die im KSZE- Prozeß vorgesehenen Manöverbeobachter und Repräsentanten der Deutschen Demokratischen Republik,
die sich auf amtliche Einladung hier aufhalten, entsprechend den allgemeinen Regeln des zwischenstaatlichen Verkehrs von hiesiger Gerichtsbarkeit befreit sind. Damit hält sich die Neufassung des § 20 GVG im Rahmen des Üblichen und Gebotenen. Ich begrüße die jetzt vorgenommene Klarstellung.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5387
Parl. Staatssekretär ErhardEin letztes Wort zur vorgesehenen Änderung des § 52. In erster Lesung wurde hier die Befürchtung geäußert, durch die Änderung werde das Erfassungsnetz enger geknüpft. Dies trifft nicht zu. Die Änderung stellt vielmehr sicher, daß eine Verurteilung durch ein Gericht außerhalb der Bundesrepublik Deutschland nur dann im Register eingetragen werden darf, wenn die Verurteilung der Registerbehörde amtlich mitgeteilt worden ist.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Klein?
Bitte sehr, Herr Klein.
Glauben Sie denn, Herr Staatssekretär, daß wegen eines Manöverbeobachters ein Gesetz geändert werden soll?
Auch wegen dieser.
— Herr Klein, darf ich Sie auf die von Ihnen mitunterschriebene Begründung des Berichts des Rechtsausschusses hinweisen; da ist das nachzulesen. Ich denke, Sie haben das, was Sie unterschrieben haben, auch gesehen.
— Na also. — Jedenfalls darf nur in das Register eingetragen werden, wenn die Verurteilung der Registerbehörde amtlich mitgeteilt worden ist, amtlich! Ferner verpflichtet die Neufassung die Registerbehörde dazu, den Betroffenen immer dann zur Eintragung einer Verurteilung durch ein Gericht außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu hören, wenn sein Aufenthalt ermittelt werden kann. Dadurch kann es künftig kaum mehr vorkommen, daß ein Betroffener Eintragungen im Register hat, von denen er selbst nichts weiß.
Alles in allem — das darf ich sagen — stellt das Gesetz eine wichtige und eine positive Weiterentwicklung des Registerrechts dar. Ich darf meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, daß es im Bundestag möglich ist, daß alle Parteien gemeinsam ihren Sachverstand in den Beratungen einbringen und dann auch gemeinsam ein Gesetz beraten und beschließen. Aber einem Irrtum möchte ich jedenfalls noch ganz deutlich entgegentreten. Wenn das öffentliche Interesse einer Löschung im Strafregister entgegensteht — das öffentliche Interesse entgegensteht —, dann ist ein solcher Akt der Nichtlöschung mit Sicherheit kein Akt der Willkür.
Ich danke allen, die an der Gesetzesbearbeitung teilgenommen haben, und hoffe, daß im Bundesrat das Gesetz unbeanstandet über die Bühne geht und alsbald in das Bundesgesetzblatt Eingang finden wird.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Artikel 1 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. — Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen sind die Vorschriften angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei einigen Gegenstimmen ist das Gesetz angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes— Drucksache 10/1108 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 10/1541 —Berichterstatter: Abgeordnete Bohl Fischer
b) Zweite Beratung des von den Abgeordneten Fischer , Bachmaier, Dr. Emmerlich, Klein (Dieburg), Dr. Kübler, Lambinus, Schmidt (München), Schröder (Hannover) Dr. Schwenk (Stade), Stiegler, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes— Drucksache 10/213 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 10/1541 —Berichterstatter: Abgeordnete Bohl Fischer
c) Zweite Beratung des von den Abgeordneten Fischer , Dr. Jannsen, Frau Reetz, Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes— Drucksache 10/1184 —
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5388 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Vizepräsident StücklenBeschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 10/1541 —Berichterstatter: Abgeordnete Bohl Fischer
Meine Damen und Herren, es ist für die Tagesordnungspunkte 33a bis 33c eine gemeinsame Beratung mit einer Runde vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bohl. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 hat der Bundeskanzler unter anderem ausgeführt:Für die Erhaltung und den weiteren Ausbau des freiheitlichen Rechtsstaates brauchen wir gute Juristen. Die Bundesregierung wird die Juristenausbildung weiterentwickeln und wieder vereinheitlichen. Sie wird sich um Lösungen bemühen, die möglichst von allen Bundesländern mitgetragen werden.Heute nun können wir mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfes eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes diesen wichtigen Programmpunkt der Koalition erfüllen und erfolgreich abhaken.Gestatten Sie mir, daß ich die Konzeption dieser neu geregelten Juristenausbildung noch einmal kurz darlege. Ziel der Ausbildung soll der Einheitsjurist bleiben, der befähigt ist, ohne zusätzliche Ausbildung alle juristischen Berufe auszuüben. An der Gliederung in ein mindestens dreieinhalb Jahre dauerndes zusammenhängendes Studium und eine darauf folgende zweieinhalbjährige praktische Ausbildung wird festgehalten.Um jedoch eine bessere Verbindung, Herr Kollege Dr. de With, von theoretischer und praktischer Ausbildung zu erreichen, hat der Student während des Studium in der vorlesungsfreien Zeit an praktischen Studienzeiten teilzunehmen, damit er frühzeitig die juristische Praxis kennenlernt.Andererseits soll beim Vorbereitungsdienst gegen Ende der Ausbildung der Referendar nicht nur die Möglichkeit erhalten, innerhalb der Zeit der Wahlstation bis zu vier Monaten an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften zu studieren, sondern, nunmehr neu, überhaupt an einer rechtswissenschaftlichen Fakultät zu studieren.Dem Gedanken der Vertiefung wird in Studium und Vorbereitungsdienst wie folgt Rechnung getragen: Im Studium hat sich der Student Wahlfächern zu widmen, die der Ergänzung des Studiums und der Vertiefung der mit ihm zusammenhängendenPflichtfächer dienen. In der praktischen Ausbildung des Vorbereitungsdienstes erfüllen diesen Zweck die Wahlstationen, die zu Schwerpunktbereichen zusammenzufassen sind. Ihnen ist das letzte halbe Jahr der Ausbildung vorbehalten.Damit sich der Student möglichst früh über seine Eignung zum juristischen Studium klar wird, sollen studienbegleitende Leistungskontrollen eingeführt werden, die unter Prüfungsbedingungen stattzufinden haben. Diesen Kontrollen soll sich der Student bis zum Ende des vierten Semesters stellen. Damit wird gleichzeitig eine Verbesserung der Ausbildung in den höheren Semestern ermöglicht.Die Prüfungen sind heute bereits weitgehend durch die geltenden Prüfungsvorschriften vereinheitlicht. Die beiden Staatsprüfungen behalten ihre Funktion als umfassende Prüfung für das Studium und auch für die gesamte Ausbildung. Im Interesse der Effektivität der Ausbildung in den Wahlstationen sind vor deren Beginn die Prüfungsleistungen zu erbringen, die sich auf die Ausbildung in den Pflichtstationen beziehen. Lediglich für die juristische Hausarbeit soll etwas anderes gelten können, weil gerade die juristische Hausarbeit der Vertiefung des in den Wahlstationen Erlernten dienen kann.Dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, den wir hier zur Annahme empfehlen, trägt damit entscheidenden Forderungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Rechnung, wie er sich auch in dem Modell des Bundesarbeitskreises christlich-demokratischer Juristen wiederfindet.Ich will gern zugeben, daß wir als CDU/CSU uns natürlich auch noch weitere Verbesserungen der Juristenausbildung vorstellen können. Bei der jetzt hier vorzunehmenden Neuordnung aber war zum einen unser Spielraum angesichts der mehr als ausgelasteten Ausbildungskapazitäten in den Hochschulen und im Vorbereitungsdienst mehr als gering, und zum anderen — daran möchte ich noch einmal erinnern — war die Neuregelung nur gemeinsam mit den Ländern möglich.Ich darf Sie, Herr Kollege Schmude, in diesem Zusammenhang auch noch an den Beschluß der Justizministerkonferenz vom 29. September 1981 in Celle erinnern. Damals hatten die Landesjustizministerien sich nach langjährigen Vorbereitungen auf folgende vier Grundsätze geeinigt: erstens Vereinheitlichung der Ausbildung, zweitens Veranstaltung vergleichbarer Prüfungen auf der Grundlage der bereits erlassenen einheitlichen Notenverordnung, drittens praxisnahe Ausbildung und viertens — sehr wichtig — vier Jahre Universitätsausbildung, gefolgt von zweieinhalb Jahren Praxis.Ich kann nur noch einmal betonen, daß ohne oder gar gegen die Länder eine solche Neuordnung der Juristenausbildung völlig undenkbar und im übrigen politisch j a auch gar nicht durchsetzbar wäre. Wir halten den vorliegenden Entwurf daher für einen guten Kompromiß. Die Interessen der Länder und der Hochschulen sind gewahrt, in die neue Ausbildung fließen die Erfahrungen der Experimentierphase ein, die Ausbildung ist im Interesse der juri-
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Bohlstischen Berufe und der jungen Juristen mehr praxisorientiert, ohne dabei das notwendige Maß an Wissenschaftlichkeit vermissen zu lassen.Natürlich kommt es jetzt, meine Damen und Herren, ganz entscheidend auf die Umsetzung des neuen Rechtes an. Wir appellieren daher an die Länder, im Rahmen ihrer finanziellen, personellen und organisatorischen Möglichkeiten die in diesem Gesetz gegebenen Chancen auch im Interesse der jungen Juristen voll auszuschöpfen.Die praktischen Studienzeiten — nur als ein Beispiel — können sicherlich unterschiedlich gehandhabt werden. Wir wünschen uns deshalb, daß die Länder alles daransetzen, um den Studenten einen möglichst umfassenden und tiefgehenden Einblick in die juristische Praxis zu geben. Die praktische Studienzeit darf für die Beteiligten nicht eine lästige Pflicht sein, sondern muß mit Sachverstand, Engagement und, ich sage, auch Phantasie praxisorientiert gestaltet werden.Einen Hinweis möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht vergessen. In der Anhörung sind Zweifel laut geworden, ob die Leistungskontrollen auch tatsächlich wirksam durchgeführt würden. Wir als CDU/ CSU — das sage ich mit allem Ernst — gehen davon aus, daß die gewünschte Regelung entsprechend dem Auftrag des Gesetzgebers von den Beteiligten auch vollzogen wird. Wir können uns eigentlich nicht vorstellen, daß ein solcher gesetzgeberischer Auftrag unterlaufen wird. Sollte das jedoch wider Erwarten der Fall sein, so würden daraus auch die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen sein, zu denen wir bereit sind.In der Kürze der Zeit kann ich nicht noch einmal im einzelnen auf die grundsätzliche Diskussion der verschiedenen juristischen Ausbildungsmodelle eingehen. Ich glaube, daß dies auch angesichts der Tatsache, daß wir in den vergangenen Monaten schon zweimal hier im Plenum des Deutschen Bundestages darüber diskutiert haben, entbehrlich ist.Unsere Position zu den Gesetzentwürfen der beiden Oppositionsparteien ist klar und eindeutig: Sie würden die Einheitlichkeit der Juristenausbildung in Frage stellen und eine weitere Ausbildungszersplitterung zur Folge haben.
Die bisherige Experimentierphase würde unbegrenzt fortgeschrieben werden, und das vorgeschlagene Intervallsystem kann in den Flächenländern so einfach nicht verwirklicht werden.Wir meinen, daß sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung bei der parlamentarischen Behandlung als eine gute Beratungsgrundlage erwiesen hat. Es sind die Erfahrungen der Experimentierphase mit eingearbeitet worden. Die erfolgte Vorabstimmung zwischen Justizminister Engelhard und den Ländern hat sehr segensreich gewirkt, so daß die unterschiedlichen Positionen zwischen Bundesregierung und Bundesrat während unserer Beratungen im Rechtsausschuß im Grunde genommen nur noch einige wenige Bereiche, ich möchte fast sagen: Randbereiche betrafen.Ich darf mich dafür recht herzlich bedanken, und ebenso — ich scheue mich nicht, das zu sagen — möchte ich auch an die Adresse der SPD Dank sagen für das konstruktive Mitwirken bei der zeitgerechten Verabschiedung des Gesetzentwurfes, auch wenn wir natürlich in den grundsätzlichen Positionen weiterhin unterschiedlicher Meinung sind.Meine Damen und Herren, natürlich nehmen wir zur Kenntnis, daß unser Gesetzentwurf bei der öffentlichen Anhörung nicht nur Zuspruch gefunden hat. Wir sind aber überzeugt, daß trotz der vorgebrachten Bedenken die Kritiker in den kommenden Monaten und Jahren eines Besseren belehrt werden können. Diese Zuversicht schöpfen wir nicht nur aus den Prognosen der mit der Juristenausbildung aufs engste befaßten Landesjustizministerien, sondern auch aus den Aussagen derjenigen Sachverständigen, die diesem Gesetz gute Chancen für eine vernünftige Juristenausbildung in den nächsten Jahren eindeutig attestiert haben.Wir erteilen mit diesem Gesetzentwurf aber auch all denjenigen eine klare Absage, die mit der Reform der Juristenausbildung eine Reform der ganzen Justiz beabsichtigten oder gewünscht hätten, so wie dies auch in der öffentlichen Anhörung zum Teil anklang. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen mit der Juristenausbildung keinen Juristen schaffen helfen, der mit der Hilfe des Rechtes eine Änderung unserer Staats- und Gesellschaftsordnung herbeiführen will. Dem darf die Juristenausbildung keinen Vorschub leisten. Deshalb wollen wir auch bei der Ausbildung z. B. keine Einseitigkeit, die den Blick für die Gesamtheit der Rechtsordnung und die historischen und sozialen Zusammenhänge zwischen Rechtsordnung, Staat und Gesellschaft verstellt. Ein solcher Jurist unterläge nur der Gefahr der Manipulation. Wir wollen kritische, qualifizierte und beruflich vielseitig verwendbare junge Juristen, die sich ihrer Gesamtverantwortung bewußt sind.Meine Damen und Herren, auch diese Juristenausbildung, wie sie dieser Gesetzentwurf vorsieht, ist außer von den Landesjustizverwaltungen und von den Ausbildern auch von den Auszubildenden, also von den Studenten und Referendaren, mit Leben auszufüllen. Die Qualität einer Juristenausbildung bemißt sich nicht nur an dem, was der Staat an Ausbildungsmodell oder an personellen, organisatorischen oder finanziellen Dingen vorhält, sondern auch die Auszubildenden sind aufgefordert, mit Engagement und Bereitschaft zur Mitarbeit diesen Rahmen auszufüllen. Ohne entsprechende Motivation der Betroffenen helfen alle staatlichen Maßnahmen nichts.Ich kann daher nur hoffen, daß die angehenden Juristen ihre Chance, in unserem freiheitlichen Rechtsstaat eine wesentliche und große Aufgabe zur Erhaltung des inneren Friedens in unserem Lande wahrzunehmen, erkennen und dadurch bei ihrer Ausbildung Ansporn finden.Ich danke Ihnen.
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5390 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Bohl, es wird Sie sicherlich nicht überraschen, daß auch Ihre sehr schwungvollen Ausführungen uns nicht veranlassen können, diesem Gesetz zuzustimmen.
Das Gesetz taugt nichts, und deshalb werden wir es ablehnen.
Es ist genau das eingetreten, was wir bei der ersten Lesung der Gesetzentwürfe befürchtet haben: Die Koalitionsfraktionen haben in einem Hauruckverfahren ein Gesetz durchgepaukt, das dem vorgegebenen Anliegen, die Ausbildung der Juristen neu zu ordnen oder gar zu reformieren, hohnspricht.
Am Ende einer 13 Jahre währenden Reformphase steht das Ende der Reform.Die Ausbildung angehender Juristen nach diesem Gesetz ist in der Tat nichts anderes als ein Aufguß der Juristenausbildung à la Bismarck, wie das der Geschäftsführer des Deutschen Anwaltvereines formuliert hat.
Den Schaden haben nicht nur die jungen Juristen und die Ausbilder zu tragen, sondern letztlich die Gesellschaft insgesamt; denn aus unserer Geschichte wissen wir, daß schlecht ausgebildete Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, aber auch Verwaltungsbeamte und Wirtschaftsjuristen mehr Rechtsunsicherheit verursachen können als gesetzgeberische Fehlleistungen von Parlamenten.
Das Verhalten der Koalition ist um so unverständlicher, als Sie selber die Erfahrungen aus dieser 13 Jahre währenden Experimentierphase durchaus positiv bewertet und kaum eine Gelegenheit ausgelassen haben, Ihren Willen zu bekunden, diese positiven Erfahrungen bei der Verabschiedung des Gesetzentwurfs auch zu berücksichtigen. Was sonst hätte auch der Zweck der gemeinsam vereinbarten Experimentierphase sein sollen?Daß Sie das nicht getan haben, können Sie nicht damit entschuldigen, daß das Gesetz unter Zeitdruck hätte verabschiedet werden müssen. Zeit war hinreichend vorhanden.
Seit Oktober 1982, lieber Herr Kleinert,
liegt ein fertiger Regierungsentwurf vor. Ich wiederhole meine Frage aus der Debatte vom 30. März 1984: Was hat Sie, Herr Justizminister Engelhard, daran gehindert, diesen Gesetzentwurf zur Grundlage der parlamentarischen Beratungen zu machen?
Ich muß mich auch fragen, weshalb — auch nach dem Wunsche der verehrten Kollegen der Koalition — eine Vielzahl in Ausbildungsfragen erfahrener Persönlichkeiten nach Bonn gebeten wurde, um ihre Meinungen zu den Gesetzentwürfen zu sagen, wenn man ohnedies von vornherein entschlossen war, ohne Rücksicht auf deren Bewertungen zu beschließen.
Dann hätte man das deutlich sagen sollen. Die zum Anhörtermin, lieber Herr Bohl, zum Teil von weither angereisten Damen und Herren müssen es als eine Brüskierung empfinden, wenn es die Mehrheit des Hauses nicht für erforderlich hält, sich mit den Argumenten und Vorschlägen auch nur auseinanderzusetzen.
— Einen.Wir haben es seit der Wende häufig erleben müssen, wie weit bei dieser Regierung und bei dieser Koalition Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Dieses Gesetz steht sicherlich nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Aber es ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr sich Worte und Taten bei dieser Regierung unterscheiden. Ja, es ist sogar noch etwas mehr; denn den Lesern der Begründung dieses Gesetzentwurfes wird vorgegaukelt, dieses Gesetz würde all die Mängel der juristischen Ausbildung beseitigen, die über Jahre hinweg von allen politischen Kräften angeprangert wurden. Doch in Wahrheit nichts von alledem. Mit der Gesetzesbegründung wird lediglich eine Potemkinsche Fassade aufgebaut.
Ein wichtiges Ziel der Ausbildungsreform sollte es sein, die theoretische und praktische Ausbildung der Juristen stärker zu verzahnen. Doch was ist dabei herausgekommen? Die viel geschmähten, weil untauglichen Ferienpraktika feiern fröhliche Urständ. Dabei ist jedem erfahrenen Praktiker klar, daß sich damit keine aktive Mitarbeit der Auszubildenden erreichen läßt, daß es vielmehr beim passiven Absitzen von Stunden bleibt. Man kann dem Deutschen Richterbund nur zustimmen, der in einem Schreiben an den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestags vom 5. April 1984 ausgeführt hat:Der Entwurf der Bundesregierung bringt keine Theorie-Praxis-Integration. Die Ferienpraktika haben nur eine Feigenblattfunktion.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5391
Fischer
Nun hört man, daß diese Ferienpraktika künftig vor- und nachbereitet werden sollen. Sicherlich ein richtiger Gedanke. Doch wie soll dies praktisch laufen? Wie soll ein Universitätslehrer ein Praktikum sinnvoll nachbereiten, das er selbst gar nicht miterlebt hat? Ganz zu schweigen davon, daß die Vertreter des Fakultätentags bei der Anhörung im Rechtsausschuß nicht unbedingt den Eindruck erweckt haben, als wollten die Herren Professoren an solchen Ferienpraktika aktiv mitarbeiten.
In diesem Zusammenhang will ich auch gern einen Satz sagen zu den Äußerungen des Vertreters des Fakultätentags bei der Anhörung vor dem Ausschuß, was das Verständnis der Hochschullehrer in bezug auf die Durchführung beschlossener Gesetze angeht und was in einem Brief des Deutschen Richterbundes an den Kollegen Helmrich — ich sehe ihn im Augenblick nicht — noch einmal unterstrichen wird. Im Zusammenhang mit der auch von Sachverständigen erhobenen Forderung nach Einführung einer staatlichen Zwischenprüfung führt Herr Dr. Herr vom Richterbund aus, daß ihm die Landesjustizprüfungsämter bestätigt hätten, sich mit ausbildungsbegleitenden Leistungskontrollen begnügen zu wollen. Ob dies richtig ist, darüber wird man streiten können.Man wird allerdings nicht über die hierfür gegebene Begründung der Hochschullehrer streiten können, nämlich daß — ich zitiere nun wörtlich — „die Professoren den Boykott der Zwischenprüfungen angekündigt haben und die Justizministerien nicht hoffen, die Kultusministerien veranlassen zu können, die Mitwirkung der Professoren disziplinarisch zu erzwingen". In dieser Erklärung, meine Damen und Herren, offenbart sich ein Rechtsstaats-und Demokratieverständnis, das — um es vorsichtig zu formulieren — zu höchsten Bedenken Anlaß geben muß.
Wie wird die kommende Juristengeneration aussehen, wenn sie von Hochschullehrern mit einer derartigen Grundhaltung ausgebildet wird?Wesentliches Ziel der Neuordnung der Juristenausbildung sollte auch sein, die Ausbildungszeit abzukürzen. Doch auch hierzu trägt das Gesetz nicht bei. Keiner der gehörten Sachverständigen verspricht sich in dieser Richtung etwas. Insbesondere die sogenannten studienbegleitenden Leistungskontrollen erscheinen gänzlich ungeeignet, die Ausbildung zu straffen. Sie sind deshalb ungeeignet, weil diese Leistungskontrollen nicht erzwingbar sind. Deshalb wird es auch in der Zukunft so sein, daß ein Jurist erst 30 Jahre alt werden muß, bis er endlich ins Berufsleben treten kann.Schließlich steht auch die allseits gewünschte Schwerpunktausbildung nur auf dem Papier. Daß der Student Wahlfächer belegen muß, daß er in solchen Fächern geprüft wird, ist nicht neu. Es ist auch nicht neu, daß der Referendar während des Vorbereitungsdienstes eine sogenannte Wahlstation absolviert. Das Ziel, dem jungen Juristen beizubringen, in einem begrenzten Fachbereich wissenschaftlich und vertieft zu arbeiten, wird dadurch, wie wir auf Grund eigener Erfahrungen wissen, nicht erreicht.Im Gegenteil, es droht eine weitere Verwässerung, sollte bei den Beratungen im Bundesrat erneut die Vorstellung aufgegriffen werden, auch in den sogenannten Pflichtfächern die schriftlichen Prüfungsleistungen am Ende der Wahlstation erbringen zu können.Fazit: Es bleibt alles beim alten, und es besteht darüber hinaus die Gefahr weiterer Verschlechterungen.
Für aufmerksame Beobachter war seit langem klar, daß CDU und CSU mit einer Neuordnung der Juristenausbildung trotz positiver Erfahrungen an den Reformuniversitäten nichts am Hut hatten. Daran vermochten auch die vollmundigen Erklärungen der CDU-Fraktionsvorsitzenden aus den Ländern nichts zu ändern.Die Frage ist allerdings, was den Koalitionspartner FDP veranlaßt hat, von einer Konzeption abzugehen, die während der sozialliberalen Koalition gemeinsam erarbeitet worden war. Ich habe die Hinweise nicht überhört, daß ohne die Bundesländer nichts gehe, daß da die Kapazitätsprobleme nicht zu lösen seien und daß die Neuordnung der Juristenausbildung auf der Basis eines Einphasenmodells viel zu teuer komme.Doch wie ist es um die Stichhaltigkeit dieser Einwände bestellt? Was den Widerstand der Länder anlangt, so ist darauf hinzuweisen, daß es da keine Einheitsfront gibt. Es wäre gut, wenn auch Sie von der FDP nicht nur auf das hörten, was aus Bayern zu vernehmen ist, sondern wenn Sie sich auch einmal in andere Himmelsrichtungen orientierten.
Denn bezahlt werden muß die Juristenausbildung schließlich auch in Nordrhein-Westfalen, auch in Hamburg, auch in Hessen, auch in Bremen.
Wenn sich die Kostenfrage tatsächlich so stellte, wie dies in der Debatte behauptet, von Sachverständigen bei der Anhörung aber keineswegs bestätigt wurde, so hätten sich wohl auch diese Länder zu Wort gemeldet.Es ist, wie ich meine, einfach nicht seriös, einen vordergründigen Vergleich der Ausbildungskosten anzustellen, statt eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufzumachen, bei der beispielsweise auch dem Umstand Rechnung getragen wird, daß eine Ausbildung im Ein-Phasen-Modell rascher vor sich geht und daß ein Ausgebildeter deshalb früher in den Beruf eintreten kann.
Der wahre Grund für den Widerstand der CDU/ CSU-regierten Bundesländer ist ein ganz anderer
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5392 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juni 1984
Fischer
— da stimme ich dem Kollegen Kleinert ausdrücklich zu —: Die Bremser sitzen in den Landesjustizverwaltungen, weil sie Mehrarbeit befürchten und weil sie, was für manche noch schlimmer ist, befürchten, mitdenken oder gar umdenken zu müssen.
Daß der Einwand fehlender Ausbildungskapazitäten kein stichhaltiger ist, dürfte mittlerweile nicht mehr bestritten werden. Hier handelt es sich um ein Problem der großen Zahl, keineswegs um ein Problem des Systems.Schließlich noch ein Wort zu dem Einwand, die SPD wolle den Einheitsjuristen verhindern. Ich will mich damit nicht länger auseinandersetzen, sondern nur eine Frage daran knüpfen: Ist etwa ein Jurist, der während der Experimentierphase in Bielefeld oder in Augsburg ausgebildet worden ist, nicht dem Anspruch des Einheitsjuristen gerecht geworden? Darauf vermisse ich eine Antwort.Meine Damen und Herren, es besteht der Verdacht, daß Sie, Herr Justizminister Engelhard, und Sie, Herr Kollege Kleinert, auch in diesem Falle wieder einmal rechtspolitische Positionen haben über Bord gehen lassen, auf die Sie früher stolz waren und mit Recht stolz sein konnten. So, wie es sich jetzt beim Ehescheidungs- und Ehescheidungsfolgenrecht abzeichnet, haben Sie sich auch hier von der CSU die Daumenschrauben anlegen lassen.
Wir Sozialdemokraten üben nicht Kritik um der Kritik willen. Wir haben mit der Vorlage unseres Entwurfes einen konstruktiven Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Wir müssen uns allerdings damit abfinden, daß unser Gesetzentwurf zwar reformorientiert, aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause chancenlos ist.Meine Damen und Herren, wir meinen, daß der Regierungsentwurf ungeeignet ist, daß es besser gewesen wäre, der von uns vorgeschlagenen Intervallösung zuzustimmen, und daß Sie sich gründlicher hätten überlegen sollen, ob es nicht richtiger gewesen wäre, bis 1990 abzuwarten, bis der Studentenberg, von dem Sie j a immer reden, abgebaut gewesen wäre, weil dann die Chance bestanden hätte, eine vernünftige Konzeption auch Gesetz werden zu lassen. Das, was Sie hier vorgelegt haben, lehnen wir ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Fischer, Sie haben es mir liebenswürdigerweise dadurch leichtgemacht, daß Sie in gelegentliches Lob, für das ich mich — zugleich auch im Namen meines Freundes Hans Engelhard — bedanke, auch so viel Kritik eingestreut haben, daß man einmal zurücklangen und die Frage stellen darf: Wann ist denn eigentlich klar gewesen, wann diese Experimentierphase nach den zehn Jahren, die dieses Haus beschlossen hat, abläuft?
Das war klar, seitdem das Gesetz beschlossen war!
Dann gab es erst einmal für die vollen zehn Jahre, die ursprünglich vorgesehen waren, ausschließlich sozialdemokratische Bundesjustizminister.Nun bin ich ja nicht so, daß ich sage, die hätten das sabotieren wollen. Nein, überhaupt nicht, sondern die haben sich vor einem Problem gesehen, vor dem der jetzige Bundesjustizminister noch ganz genauso steht, nämlich dem von Herrn Fischer zutreffend — auch mit Zitierung von Worten von mir — beschriebenen Problem, daß man in den Landesjustizverwaltungen von Hause aus nicht dazu neigt, sich zusätzliche Unruhe und Arbeit auf den Hals zu laden, und daß es deshalb so furchtbar schwer war, im Vorfeld der notwendigen Verstetigung der Experimentierphase bei der Findung eines wirklich vernünftigen Kompromisses weiterzukommen.Ich habe das hier schon mehrfach gesagt, wiederhole es aber gern: Es hilft gar nichts, erst der CDU/ CSU anzudichten, sie sei so grundsätzlich reformfeindlich, damit man uns auch noch andichten kann, wir hätten uns da unterworfen oder Daumenschrauben anlegen lassen. Tatsache ist, daß wir mit den Kollegen von der Union durchaus einig waren über vieles von dem, was in ihrem Entwurf heute noch zu finden ist.Wir haben dann in Einzelgesprächen mit all den von Ihnen aufgezählten Ländern, die zum Teil einzelne Abgeordnete und zum größeren Teil der Bundesjustizminister geführt haben, festgestellt, daß all das nicht durchsetzbar sein würde. Und dann kommt der entscheidende Punkt: Die Sozialdemokraten haben das durchaus erledigt, daß sie zu Zeiten von Herrn Vogel einfach eine Verlängerung beschlossen haben, übrigens nicht nur einfach so, sondern in sehr intensiven Gesprächen, an denen meiner Erinnerung nach auch die Opposition beteiligt war. Sie, Herr Dr. Bötsch saßen dabei; es war gegenüber dem Sitzungssaal des Rechtsausschusses. Unter anderem unser jetziger Koalitionspartner hat gesagt: Wenn hier verlängert wird, dann müssen wir alle am Tisch uns aber einig sein, daß dann anschließend sofort losgearbeitet wird, damit die Sache auch durchgesetzt werden kann. Da dies nur im Einvernehmen mit den Ländern möglich ist, müssen die entsprechenden Gespräche vom Bundesjustizminister geführt werden. Das war erst Herr Vogel, dann war es Herr Schmude. Es ehrt j a Herrn Schmude sehr, daß er einen Entwurf vorgelegt hat, dem auch wir mehr zuneigen würden — ich habe auch das hier schon einmal gesagt —, aber es ehrt ihn nicht so sehr, daß es ihm nicht gelungen ist, das notwendige Einverständnis der Länder herbeizuführen, und dennoch jetzt zuläßt, daß das Ganze
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5393
Kleinert
als eine Intrige von reformunwilligen Mitgliedern der jetzigen Koalition dargestellt wird.
Das ist nämlich überhaupt nicht der Fall.
Es ist am Schluß die Frage: Soll man den GRÜNEN folgen und sagen: Laßt doch jeden machen, was er will; irgend etwas kommt schon dabei heraus?
Das ist ein Rezept, das Sie derzeit auch in Ihrer Partei ja offensichtlich nicht ohne Erfolg befolgen. Aber daß dieses Rezept für einen so empfindlichen Bereich wie den der Juristenausbildung nachhaltig und über lange Jahre erfolgreich angewendet werden kann, das bezweifle ich. Darum mache ich an dieser Stelle schon einmal die Mitteilung, daß wir Ihren Entwurf u. a. aus dem speziellen Grunde, daß Sie damit Ihre innerparteilichen Verhaltensweisen auf ein wichtiges Thema des Staatswesens, nämlich die Juristenausbildung, übertragen wollen, ablehnen werden.
Aber was dann übrigbleibt, ist die Frage: Soll man auf die Einheitlichkeit der Juristenausbildung verzichten, was ich gerade hinsichtlich des Antrages der GRÜNEN abgelehnt habe, oder soll man schweren Herzens auch noch auf das Minimum — ich gebe zu, daß es ein Minimum ist — das immerhin erreicht werden konnte, verzichten und im übrigen den jungen Menschen ein großes Maß an Mobilität einfach streichen, weil hier die Kraft und der Wille fehlen, in einer schwierigen Situation eine Entscheidung zwischen dem wünschbaren, aber nicht erreichbaren Besseren und dem erreichbaren, wenn auch nicht so sehr begrüßenswerten Mäßigerem zu treffen? An dieser Stelle kommt der Unterschied zwischen der Verantwortungsethik nach Weber — was Sie, Herr Schmude, nach so kurzer Zeit seit Ihrem Ausscheiden aus dem Amte nicht vergessen sollten — und der Gesinnungsethik ins Spiel. Entweder sage ich: Ich muß das machen, obwohl es mir gar nicht gut gefällt und obwohl es meinen politischen Gegnern viel Gelegenheit gibt, öffentlich gegen mich anzugehen, weil es im Interesse des Ganzen wichtig ist, wenigstens dieses zu tun; oder ich begebe mich, endlich in die Opposition geraten, in die lustvollen Pfühle der Gesinnungsethik und schöpfe voll aus dem Herzen und sage: Was wir die ganzen Jahre als Justizminister nicht geschafft haben, das verlangen wir jetzt wenigstens mal, weil wir ja wissen, daß es uns nicht gelingt, und wir jedenfalls die Verantwortung bei der Sache nicht tragen. Das ist der Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik.
Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schmude?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte darum. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Nachdem Sie meine Bemühungen, Herr Kleinert, wiederholt jetzt so freundlich gewürdigt haben, frage ich Sie, ob nach unserem Ansatz mit einem Gesetzentwurf, der die Reformergebnisse retten sollte und gerettet hätte, nicht auch Sie in der neuen Koalition sich hätten bemühen müssen, bei den noch widerstrebenden Ländern den Widerstand zu überwinden, statt sich gleich mit Ihrem Koalitionspartner, der ja schon immer dagegen war, geschlagen zu geben und gar keine Bemühung zu machen, nach zehnjähriger erfolgreicher Reformarbeit das zu retten, was da erarbeitet worden ist.
Herr Schmude, wenn Sie mit zehnjähriger erfolgreicher Reformarbeit meinen, daß es in der Zeit nicht gelungen ist, die von Ihnen soeben mit Recht als wünschenswert bezeichnete Übereinstimmung mit den Ländern über etwas Vernünftiges von seiten der seinerzeit zuständigen Justizminister herbeizuführen, dann stimme ich Ihnen gerne zu. Bloß, das bestätigt doch nur, was ich vorher gesagt habe. Ich will Ihnen nicht alle Termine nennen, die mir gerade so einfallen. Mir sind, ich sagte schon, viele Einzelgespräche von Abgeordneten aus dem Rechtsbereich mit Landesjustizministern in Erinnerung, bei denen wir sehr nachdrücklich für diese Ziele geworben haben. Kein Mensch hat vor der Zeit aufgegeben.Es ist auch nicht richtig, wenn Sie sagen: Die Union war immer schon dagegen. Sondern ich war selbst dabei, als wir uns über einige sehr wesentliche Punkte des Intervallstudiums im Kreise dieser Koalition unter den Rechtspolitikern, die da zusammengesessen haben, einig gewesen sind. Und danach kamen die Bemühungen, die Ihnen nicht gelungen sind und die auch uns nicht gelungen sind. Und der Bundesjustizminister Hans Engelhard war wesentlich daran beteiligt, aber mußte schließlich feststellen, daß Länder, die hier eine verfassungsmäßig stärkere Position haben, insoweit einfach nicht zu bewegen sind. Das ist das. Und das lasse ich mir auch nicht umdrehen. Das ist eben so.
Ich wollte gern zu einigen Einzelheiten dessen, was nun geschehen ist, kurz Stellung nehmen. Wir hätten gern mehr Intervall gesehen. Da ist das Hauptbedenken gegen die Mobilität, die damit verbundenen Kosten, den damit verbundenen Verwaltungsaufwand. Die Gründe sind genannt. Es hat sich nicht durchsetzen lassen. Wir wollten die auch von Herrn Fischer schon zu Recht angesprochene größere Praxisorientierung mit Vor- und Nacharbeit in einer Weise festgeschrieben wissen, die auch etwas Auflockerung in die Fakultäten gebracht hätte, die mit Recht hier von Ihnen kritisiert worden sind.Ich füge hinzu: Die Art, wie von seiten des Fakultätentags in dem Hearing — und wenn es nur dafür gut gewesen ist, war es schon notwendig und nicht überflüssig — argumentiert worden ist, als ob es die Fakultät einer deutschen Universität aber niemals nicht kümmern könne, auch und schon gar nicht die
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Kleinert
Rechtsfakultät einer deutschen Universität, was schließlich der zuständige Gesetzgeber zu Ausbildungsfragen in ein Gesetz schreibt oder nicht, diese Art war bemerkenswert. Und glauben Sie bloß nicht, daß einer der Beteiligten das vergessen wird. Schon deshalb sind solche Hearings ganz gut. Denn wenn man das geschrieben sieht, dann mag sich das noch so hinlesen; es ist auch besser korrigiert. Aber wenn man das mal so brutal vor den Kopf hört, dann merkt man es sich sehr gut.Das ist uns eben unter anderm deshalb nicht gelungen. Auch durch die Personen, die mit der Praxisarbeit beauftragt wären, die andere nicht tun wollen, und die dann auch in die Fakultät zur Vor- und Nacharbeit gehört hätten, hätten wir wenigstens eine kleine Auflockerung in diesen Apparat hineinbringen können. Deshalb auch insofern großes Bedauern.Sie haben Herrn Herr mit seiner Stellungnahme zu der notwendigen Zwischenprüfung und zu der Einstellung der Fakultäten zitiert. Auch hierzu: Wir wären sehr dafür gewesen, die Landesjustizprüfungsämter hier in einer stringenten Form einzuschalten. Es scheitert aus den gleichen Gründen.Sie haben davon gesprochen, Herr Fischer, daß die Ergebnisse der einphasigen Ausbildung beweisen, daß sie mindestens so leistungsfähig wie die zweiphasige ist. Abgesehen davon, daß ich vom Ergebnis aus vielen Gründen dieser Ansicht bin: Der Vergleich zwischen der einphasigen und der zweiphasigen Ausbildung in der Experimentierphase sollte dabei nicht strapaziert werden. Denn da ist etwas vor sich gegangen, was den Kritikern einer besseren Ausbildung viel Vorschub gibt. Es sind nämlich, vielleicht mit gelegentlichen Ausnahmen — aber soweit ich sehe, ohne Ausnahme —, die einphasigen Fakultäten, die zugleich neue Fakultäten waren, personell und materiell so unvergleichbar besser ausgestattet gewesen als die klassischen Fakultäten, daß der Vergleich nicht fair ist.
Ich bedaure das, weil ich im Ergebnis der Ansicht bin, daß das Intervallstudium besser und günstiger wäre. Deshalb beklage ich, daß der Vergleich unter recht unfairen Bedingungen stattgefunden hat.Meine Damen und Herren, ganz zum Schluß noch eine etwas mehr grundsätzliche Bemerkung, die sich jedenfalls mir in diesem Zusammenhang aufdrängt. Sie betrifft das Verhältnis des Gesetzgebers zu den zur Durchsetzung seiner Beschlüsse dringend erforderlichen und von uns auch durchaus geschätzten Verwaltungen in den Ländern. Wir haben nun einmal die Konstruktion, daß über den Bundesrat eine Reihe von Gesetzen überhaupt zu verhindern und eine andere Reihe von Gesetzen in ihrem Zustandekommen zu erschweren ist. Das hat manchmal durchaus gute Auswirkungen, wenn es sich darum handelt, in technischer Hinsicht ein hier von Parlamentariern beschlossenes Gesetz im Bundesrat von denjenigen, die es in der Praxis anzuwenden haben, verbessern zu lassen. Das hat aber bedeutend weniger angenehme Auswirkungen, wenn es darum geht, ein hier behandeltes Gesetz, das politische Ansichten, politische Absichten, die auch in der Bevölkerung oder in den betroffenen Kreisen der Bevölkerung einen breiten Rückhalt haben, durchzusetzen, wenn das Beharrungsvermögen der Verwaltung dagegen steht. Denn im Bundesrat haben wir es in solchen Fällen zunächst einmal mit den Länderministerien als einer Gesamtheit von Verwaltungen zu tun. Der politische Auftrag des jeweiligen Ministers tritt dahinter zurück. Diese Lage hat sich durch die tatsächlich gegebenen Verhältnisse in der Zeit der neuen Koalition verschärft. Darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen. Früher ist der Weg nämlich so herumgegangen, daß der politische Impetus am Anfang hier im Hause stand, dann der Gegenangriff von der mehrheitlich anders beherrschten Seite der Länder kam und dann die Länder wirklich politisch gefordert waren, übrigens auch institutionell, zuletzt über den Vermittlungsausschuß. Bei diesem Werdegang traten die Länderminister eher als Parlamentarier und verbunden mit ihren Fraktionen in Erscheinung.Bei dem jetzt eingetretenen Verfahren — logischerweise, da liegt keine böse Absicht zugrunde, das ist einfach aus praktischen Gründen so —, daß die Ländermehrheit mit der Mehrheit in diesem Hause übereinstimmt und man deshalb vorher die Übereinstimmung sucht statt wie früher sie anschließend suchen zu müssen, tritt der politische Teil zurück, und der verwaltungsmäßige Teil kommt stärker ins Feld, weil der politisch und parlamentarisch verantwortliche Minister nicht so früh in dieser Eigenschaft gefordert ist und es hinterher bei dieser Art der Abstimmung gar nicht mehr darauf ankommt. Man kann das an diesem Beispiel sehr deutlich konstatieren.Ich wollte Sie einmal auf diesen Mechanismus hinweisen und damit die Aufforderung an unsere Kollegen in den Ländern verbinden, ihrer politischen Aufgabe möglichst im Vorfeld und eingedenk dieses Mechanismus so gerecht zu werden, daß wir in nicht allzu langer Zeit das, was uns heute an diesem Gesetz mißfällt — das wir dennoch beschließen, weil wir es für notwendig halten, um schlimmeres Übel zu vermeiden —, durch ein neues Gesetz ändern können, zusammen mit den politischen Kräften in den Ländern, und den Mechanismus, der uns diesmal so wie vorher die sozialdemokratischen Bundesjustizminister behindert hat, unterlaufen können. Wir werden die Entwicklung daraufhin sehr sorgfältig beobachten und zu gegebener Zeit entsprechend handeln, und, gnädige Frau, wir werden dabei sein.Ich danke Ihnen schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jannsen.
Herr Kleinert, es ist von Ihnen sehr schön gesagt worden, daß wir der Meinung wären: Laß' doch jeden machen, was er will! Vor 15 Jahren war das offensichtlich die Meinung aller in diesem Hause damals vertretenen Fraktio-
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Dr. Jannsennen; denn vor 15 Jahren ist beschlossen worden, bei der Juristenausbildung zu experimentieren. Diese Experimentierphase — das wissen wir — wurde auf 10 Jahre, mit einer kurzfristigen Verlängerung inzwischen, angesetzt. In diesen 10 Jahren, von 1971 bis 1981, war schon Ende der 70er Jahre festzustellen, daß die Juristenausbildung in ihrer einstufigen Form von den traditionellen konservativen Fakultäten, von den Ländern nicht besonders gern gesehen wurde.Das hat dazu geführt — da stimme ich dem, was bisher gesagt worden ist, durchaus zu —, daß in die politische Auseinandersetzung hineingebracht worden ist, sicherlich nicht in der öffentlichen Form, sondern in der stillen Form über die Behörden in Ländern und Bund, daß dieses zurückzunehmen sei. Der Tag ist heute gekommen, es wird zurückgenommen, und es wird so getan, als wäre das Zurücknehmen gar nicht so schlimm und als wäre das, was übrig geblieben sei, etwas völlig Neues. Eine neue Juristenausbildung soll ins Haus stehen, die dazu führt, daß wir fähige, kompetente, allseits und überall vielseitig verwendbare Juristen auch noch im Jahre 2000 zur Verfügung haben, die in der Lage sind, all das abzusichern, was an Gesetzen in diesem Haus und in anderen Häusern verabschiedet wird.Nun denke ich, daß wir diese Juristen nicht bekommen werden. Diese Juristen, die alles können, die für jeden Zweck, in jeder Situation verwendbar sind, die sogenannten Einheitsjuristen, sind eine Fiktion, sie werden eine Fiktion bleiben, und es wird eine Menge Gesetze und Möglichkeiten geben, diese Fiktion aufrechtzuerhalten. Die Juristen werden in Zukunft überall arbeiten, werden sich in allen Rechtsgebieten einsetzen dürfen, aber es mag noch in Frage stehen, ob sie es können.Wenn wir uns die Inhalte der Ausbildung, die jetzt vorgesehen sind, ansehen und mit den Forderungen vergleichen, die vor Zeiten einmal an die Juristenausbildung gestellt worden sind, dann können wir feststellen, daß eigentlich nichts von dem, was mal gefordert worden ist, bleiben wird. Die Verkürzung der Ausbildung wird nicht eintreten. Die einzigen Ausbildungseinrichtungen, die zur Zeit kürzer als vor 10, 15 Jahren ausbilden, sind die Ausbildungseinrichtungen, die die einstufige Ausbildung durchführen. Die einzigen Ausbildungseinrichtungen, die Theorie und Praxis aus einem Nebeneinander und Nacheinander wenigstens im Ansatz in ein Miteinander-Ineinander-Verwobensein entwickeln konnten und es versucht haben durchzuführen, sind die, die die einstufige Ausbildung praktizieren. Die Einrichtungen, die mit der unübersehbaren und täglich mehr werdenden Stoffülle einer Juristenausbildung versucht haben fertig zu werden, sind ebenfalls diese Einrichtungen, und diejenigen, die versucht haben, Grundlagen- und Nachbarwissenschaften in die Ausbildung der Juristen mit einzubeziehen, sind ebenfalls diese Einrichtungen, die die einstufige Ausbildung gemacht haben.In der zweistufigen Ausbildung, wie sie vorgesehen ist, wird all dies nicht der Fall sein, und auch das Schönheitspflästerchen der Ferienpraktika wird die Inhalte nicht reduzieren, wird die Verbindung von Theorie und Praxis nicht verändern, wird die Ausbildungszeiten nicht verkürzen, sondern sehr wahrscheinlich verlängern und wird kaum Grundlagenwissenschaften und Nachbarwissenschaften in das Studium mit einbeziehen können. Es wird für die Studenten schlimmer werden, und es wird auch — das mag hier gesagt sein — für die Lehrenden an den Hochschulen und an den anderen Ausbildungseinrichtungen schlimmer werden, wenn das, was hier vorliegt, Gesetz wird — und es droht ja so zu werden.Prüfungen sind in allen Fällen Belastungen für alle Beteiligten. Wenn zudem noch nicht einmal klar und gesichert ist, welchen Wert denn solche Prüfungen haben, dann sind sie eine unnötige Belastung. Im Protokoll über die öffentliche Anhörung wird an vielen Stellen sehr deutlich, daß derartige Prüfungen in der Regel zu Verlängerungen des Studiums geführt haben, weil die Studenten eine Veranstaltung notwendigerweise nicht mehr mit ihrem Studienergebnis, sondern mit einem Zertifikat abschließen, das womöglich benotet ist, das sie dazu zwingt, viel mehr hineinzustecken, als normalerweise notwendig wäre, um den bestandenen Teil zu erreichen. Das führt also, wie gesagt, zu Studienverlängerungen. Es ist eine Wunschvorstellung, zu glauben, durch Prüfungen könne man Studienzeiten verkürzen. Vielleicht kann man das dadurch, daß man einen Teil der Studenten hinausprüft.Des weiteren ist bei der Organisation, bei der Durchführung des Studiums an keiner Stelle zu erkennen, welche didaktische Konzeption zugrunde liegt, welche hochschuldidaktischen Erfahrungen und Ideen eingegangen sind. Das Ganze sieht vielmehr aus wie ein Gesetz, das von Juristen entworfen ist, von denen man nicht weiß, ob sie die systematischen und politischen Zusammenhänge rechtlicher Regelungen voll begriffen haben.Dieses Gesetz wird die Anforderungen, die an es gestellt werden, nicht erfüllen können. Es wird nicht das sein können, was man gerne haben möchte. Es wird keine vielseitig verwendbaren Juristen geben. Es wird sich nicht durchsetzen lassen, wahrscheinlich genausowenig durchsetzen lassen wie das Gesetz, das eine einstufige Ausbildung von Juristen in allen Ländern vorsieht wie der Gesetzentwurf der SPD; das ist von Herrn Kleinert sehr eindrucksvoll deutlich gemacht worden. Es wird an dem Beharrungsvermögen derjenigen Stellen scheitern, die über die Justizausbildung entscheiden. Wenn man dieses Beharrungsvermögen nicht brechen kann, dieses Beharrungsvermögen nicht in Bewegungsvermögen umsetzen kann — das ist eine politische Aufgabe, bei der alle Parteien bisher versagt haben —, dann wird es nicht gelingen, in der Bundesrepublik eine geänderte Juristenausbildung zu schaffen, und diese geänderte Juristenausbildung ist eine bildungspolitische Notwendigkeit. Dieses Gesetz jedenfalls wird bildungspolitisch nicht wirkungsvoll werden. Es ist im Prinzip ein bildungspolitischer Nonsens, weil es weder die drängenden Probleme des Massenandrangs auch in den
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Dr. Jannsenjuristischen Fakultäten und Ausbildungsstätten noch die Probleme der Kosten für die Ausbildung lösen wird.Nun ist ja die Juristenausbildung weiß Gott nicht eine der kostenintensivsten Ausbildungsformen. Insofern könnte es nicht schaden, wenn man da ein bißchen Geld hineintun würde, jedenfalls ein bißchen mehr Geld, als zur Zeit hineingetan wird. Aber dies an der ungeeigneten Stelle in die ungeeignete Ausbildung hineinzustecken, hielte ich dann doch wieder für falsch.Das Gesetz selber wird nicht in der Lage sein, zu regeln, wie der Massenandrang an den Hochschulen in eine vernünftige Ausbildung gebracht werden kann. Denn dieses Gesetz schafft überhaupt keine neuen Kapazitäten.
Es reduziert keine Studienzeiten, was ja eine Möglichkeit wäre, Kapazitäten zu schaffen.
Es wird dazu führen, daß weniger Studenten die juristische Ausbildung verlassen. — Der Hinweis ist sehr schön, Herr Bötsch. Wir haben ja genug, sagt Herr Bötsch, wir haben genug Juristen. — Die Ausbildung von Juristen ist deswegen nicht reformbedürftig, erneuerungsbedürftig, sondern sie kann in traditioneller Weise durchgeführt werden. Wir brauchen nur Gesetze, die verhindern, daß viele Studenten in die Ausbildungsinstitutionen hineinkommen, und die noch mehr verhindern, daß viele herauskommen.Das, was die CDU/CSU zusammen mit der FDP und der Regierung hier vorgelegt hat, ist ein Gesetzentwurf, der weder die Probleme lösen noch kostenneutral sein wird. Vielmehr wird er das Ganze verteuern, und zwar nicht nur für die staatlichen Verwaltungen, für die Regierungen und Länderparlamente, sondern er wird auch das Leben und die Studiensituation der Studenten verteuern.
Wesentliche Probleme der Juristenausbildung, an denen sie heute krankt, wird es nicht korrigieren. Es ist ein Gesetz, das nicht brauchbar ist.Gestatten Sie mir zum Schluß noch einen ganz kurzen Satz der Begründung dafür, daß wir nicht generell die einstufige Juristenausbildung vorsehen wollen, sondern vorschlagen, die Experimentierphase zu verlängern, ohne eine zeitliche Begrenzung anzugeben. Ich denke, daß eine zeitliche Begrenzung nicht zwingend notwendig ist. Wenn man, nachdem man die Probleme des Massenandrangs gelöst hat, darangeht, über Juristenausbildung nachzudenken, um zu neuen Vorstellungen darüber zu kommen, was Juristen eigentlich können sollten, reicht es aus, zu sagen, daß das, was an Experimenten angefangen worden ist, weitergeführt werden solle. Eine Bewertung der Ergebnisse von Experimenten dieser Art wird sich nicht daraus ergeben können, ob Noten in dem einen oder anderen Ausbildungsgang voneinander abweichen, sondern daraus, ob die praktische Tätigkeit von Juristen, die aus dem einen oder anderen Ausbildungsgang kommen, erfolgreich sein wird oder nicht. Das ist zur Zeit weder für die Juristen, die die einstufige Ausbildung durchlaufen haben, die bis jetzt praktiziert worden ist, möglich, noch für die Juristen angestrebt worden, die in der zweistufigen Ausbildung ausgebildet worden sind. Solange das nicht der Fall ist, ist ein Vergleich zwischen beiden Ausbildungen überhaupt nicht möglich und sinnvoll.Wir schlagen daher vor, daß die Juristenausbildung mindestens auf zweierlei Weise möglich sein soll, einmal die, die viele so gerne hätten, die wir — das gebe ich zu — nicht ändern können, die konservative zweistufige Ausbildung, daß aber auch die Möglichkeit, wenn es sein muß, mehrere Möglichkeiten, der einstufigen Ausbildung erhalten bleibt, wie es derzeit der Fall ist.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den drei Gesetzentwürfen, die dem Deutschen Bundestag vorliegen, ist eines, aber wirklich nur eines, gemeinsam. Alle drei Entwürfe wollen keine Rückkehr zum Status quo ante, jenem Zustand vor der Experimentierphase, wenn diese Experimentierphase am 15. September dieses Jahres ausläuft.Und mit Blick auf diesen Termin sind denn auch die Beratungen in den Ausschüssen mit äußerster Konzentration vorgenommen worden. Ich habe dem Rechtsausschuß speziell und insbesondere den Berichterstattern für diese zügige Beratung sehr zu danken.Nun könnte man natürlich einen Widerspruch darin sehen, daß nach jahrzehntelangen intensiven Bemühungen um die Reform der Juristenausbildung dies plötzlich so zügig geht. Ich meine — und darüber ist schon relativ breit heute in der Debatte gesprochen worden —, daß dies nur ein scheinbarer Widerspruch ist; denn auf der Grundlage einer längeren Reformgeschichte sind Ergebnisse erarbeitet worden, wo die Argumente bekannt sind. Man kann die Argumente austauschen, man kann die Zahlen vergleichen, man kann sich die gesammelten Erfahrungen noch einmal ansehen. Aber ich denke, daß auch das Hearing des Rechtsausschusses bestätigt hat, daß man durchaus wohlabgewogen zu einem Ergebnis kommen kann.Unabhängig davon, in welchem Lager man steht, sollte in der heutigen Aussprache auch die Leistung jener gewürdigt werden, die in der Experimentierphase seit 1971 ihre Kraft weit über die bloße Pflicht und ihre Obliegenheit hinaus dem Ziel einer besseren Juristenausbildung gewidmet haben. Sie haben mit ihrem Bemühen auch die Grundlagen geschaffen, auf die nun bei den weiteren Beratungen das Parlament wie die Regierungen des Bundes
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Bundesminister Engelhardund der Länder zurückgreifen konnten. Ich habe jedenfalls die jetzt zur Verabschiedung anstehende Regelung der Juristenausbildung nie als Jahrhundertwerk bezeichnet. Das Thema „Jahrhundertwerk" oder „100 Jahre" begleitet uns gleichwohl. Ich habe seinerzeit im Bundesrat einiges dazu gesagt. Ich habe in der ersten Lesung einiges dazu gesagt. Heute will ich darauf hinweisen, daß das noch nachlesenswert ist, was die Protokolle des 14. Deutschen Juristentages aus dem Jahre 1878 berichten. Eine interessante Lektüre! Alles, was Hochschullehrer heute etwa zur Frage der Zwischenprüfung vortragen, ist schon 1878 mit dem ganzen Schwung und auch der Gelehrsamkeit der damaligen Professorengeneration debattiert worden. Professor Ludwig Enneccerus etwa, damals ganze 35 Jahre alt, trat ganz entschieden für eine mündliche Zwischenprüfung ein. •In den Jahren 1969 bis 1971 erreichte die Diskussion dann eine neue Dimension. Der Kardinalpunkt wurde, eine bessere inhaltliche Verknüpfung von Theorie und Praxis durch organisatorische Maßnahmen zu erreichen, durch die die Aufgabe der herkömmlichen zweistufigen Gliederung auf eine einstufige übertragen werden sollte.Der Gesetzgeber des Jahres 1971 stand diesen Ideen aufgeschlossen gegenüber. Aber immerhin: Er war bedächtig, er war bedenklich genug, zunächst lediglich eine Experimentierphase vorzusehen. Sie wissen, sieben Länder an acht Fakultäten haben davon Gebrauch gemacht.Der Rechtsausschuß empfiehlt jetzt eine Änderung der Juristenausbildung auf der Grundlage der Konzeption des Regierungsentwurfs. In der Anhörung ist der Regierungsentwurf von verschiedenen Seiten kritisiert worden, weil darin strikt an dem Prinzip der Zweistufigkeit festgehalten werde. Ich meine allerdings, daß die gesamte Debatte den Beweis dafür, daß die Zweistufigkeit nicht richtig sei, eben nicht erbracht hat.Zur Frage der Finanzierbarkeit mag man geltend machen, daß die Ausbildung an den einstufigen Fakultäten heute nicht mehr so teuer sei, wie dies ehedem der Fall war und wie es noch in der KostenNutzen-Analyse von Professor Fleischmann aus dem Jahre 1979 belegt worden ist. Nach Auffassung der Mehrheit der Länder ist die einstufige Ausbildung aber immer noch wesentlich teurer als die zweistufige Ausbildung. Es sind schließlich die Länder, die die finanziellen Kosten der Ausbildung zu tragen haben. Bei seiner Einschätzung und seinen Möglichkeiten muß der Bundesgesetzgeber diesen Umstand ganz zwangsläufig beachten.Es kommt hinzu, daß es auch nach 13 Jahren Experimentierphase keine herrschende und durchgängige Auffassung darüber gibt, ob der Erfolg den Aufwand für das Prinzip der Einstufigkeit lohnt. Es gibt weiterhin unterschiedliche Auffassungen dazu. Die Verkürzung der Ausbildung — sicherlich ein auffallendes und bemerkenswertes Ergebnis der meisten einstufigen Ausbildungsgänge — wird mit dem Preis einer sehr starken Reglementierung erkauft.Nun hat der Rechtsausschuß mit der Befürwortung des Regierungsentwurfs auch der Konzeption der GRÜNEN eine Absage erteilt, ganz einfach deshalb, weil dieser Entwurf der Fraktion der GRÜNEN das Bemühen nicht erkennen läßt, die Juristenausbildung zu vereinheitlichen und wieder zusammenzuführen. Auch im Entwurf der SPD wird im Ergebnis diese notwendige Vereinheitlichung nicht erreicht, weil sie das notwendige Bemühen vermissen läßt, ganz einfach dadurch, daß sie den einzelnen Ländern einen viel zu weiten Spielraum gibt, nach ihrem Gusto das auszufüllen, was der Bundesgesetzgeber im einzelnen nicht geregelt hat.Ich möchte erwähnen, daß für eine nicht unerhebliche Differenz zwischen Bundesrat und Bundesregierung der Rechtsausschuß mittlerweile eine vernünftige Lösung bei den Beratungen gefunden hat, die, wie ich hoffe, nun alle befriedigen wird. Die Wahlstationen am Ende des Vorbereitungsdienstes sollen nach dem Regierungsentwurf dadurch vom Prüfungsdruck entlastet werden, daß im zweiten Examen die schriftlichen Arbeiten, die sich auf die Pflichtstationen beziehen, vor den Wahlstationen zu schreiben sind. Diese Regelung ist zunächst beim Bundesrat vor allem im Hinblick auf die Hausarbeit, dort, wo sie existiert, auf einigen Widerstand gestoßen. Nun, nach dem Vorschlag des Rechtsausschusses wird nur für die Klausuren festgeschrieben, daß sie vor den Wahlstationen zu schreiben sind.Der Gesetzentwurf, so, wie er Ihnen nun zur Annahme empfohlen wird, bietet eine pragmatische Lösung der Probleme, für die einst die Experimentierphase geschaffen wurde. Wir bemühen uns, Theorie und Praxis in etwa aufeinander abzustimmen. Es wird am Prinzip des Einheitsjuristen festgehalten, und es soll versucht werden, durch die studienbegleitenden Leistungskontrollen unter Prüfungsbedingungen Leuten, die noch jung genug sind, um sich neu beruflich orientieren zu können, rechtzeitig ein Signal zu geben, ohne aber daran zu gehen, das Studium total zu reglementieren.Meine Damen und Herren, das Gesetzgebungsvorhaben, das zur Verabschiedung heute ansteht, macht an den Hoffnungen, an den Erwartungen, sicherlich auch an manchen Träumen von 1971 ganz notwendigerweise viele Abstriche. Aber dieser Gesetzentwurf bringt viel, jedenfalls gemessen an jenem Zustand der totalen Ratlosigkeit, den wir noch im vergangenen Jahr bei der Justizministerkonferenz in Wiesbaden hatten. Insofern bringt er viel. Denn dieser Gesetzentwurf bringt ganz einfach das, was für eine bessere Juristenausbildung der Gesetzgeber heute mit Mehrheit tun kann.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung, und zwar zuerst über Tagesordnungspunkt 33 a, dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
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Vizepräsident Stücklendes Deutschen Richtergesetzes auf Drucksache 10/1108.Ich rufe die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe? — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 33 b, den von den Abgeordneten Fischer , Bachmaier, Dr. Emmerlich und weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes auf Drucksache 10/213. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.Ich rufe die Artikel 1 bis 6, Einleitung und Überschrift auf. — Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.Wir kommen nun zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 33 c, den von den Abgeordneten Fischer , Dr. Jannsen, Frau Reetz, Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes auf Drucksache 10/1184. Der Ausschuß empfiehlt, auch diesen Gesetzentwurf abzulehnen.Ich rufe die Artikel 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. — Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen — Gegenprobe! —
Mit großer Mehrheit ist dieser Antrag abgelehnt.
— Meine Damen und Herren, es ist bereits im Protokoll vermerkt.
Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.Wir treten nunmehr zu Tagesordnungspunkt 33 a in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Bei einigen Gegenstimmen ist dieser Gesetzentwurf angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Pinger, Frau Fischer, Dr. Hüsch, Lamers, Austermann, Repnik, Schreiber, Feilcke, Hedrich, Höffkes, Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Pohlmeier, Dr. Kunz , Ruf, Biehle, Herkenrath, Sauter (Epfendorf), Dr. Hoffacker, Dr. Lammert, Schulze (Berlin), Link (Frankfurt), Dr. Stavenhagen, Schemken, Dr. Götz, Dr. Rose, Sauter (Ichenhausen), Clemens, Schwarz, Graf Huyn, Jagoda, Pfeffermann, Lenzer, Seehofer, Spilker, Frau Dr. Hellwig, Dr. Möller, Maaß, Dr. Lippold, Dr. Stercken, Roth (Gießen), Dr. Becker (Frankfurt), Magin, Tillmann, Sauer (Stuttgart), Haungs, Dr. Bugl, Dr.-Ing. Kansy, Jung (Lörrach), Dr. Faltlhauser, Dr. Meyer zu Bentrup und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rumpf, Dr. Feldmann, Bredehorn, Frau Seiler-Albring, Schäfer (Mainz), Ronneburger, Dr. Haussmann, Grünbeck, Beckmann, Wurbs, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDPIntensivierung der Handwerksförderung in der Dritten Welt— Drucksache 10/1214 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitMeine Damen und Herren, der Ältestenrat ist für eine Aussprache mit Kurzbeiträgen von zehn Minuten. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Dies ist nicht der Fall. Dann treten wir in die allgemeine Aussprache ein, die ich damit eröffne.Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Schreiber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen legen Ihnen den Antrag zur Intensivierung der Handwerksförderung in der Dritten Welt vor. Wir wollen damit deutlich machen, daß gerade in der Entwicklungspolitik das Prinzip der tausend Schritte von größter Bedeutung ist. Unsere Forderung nach einer stärkeren Handwerksförderung ist die Konsequenz aus den bisherigen entwicklungspolitischen Erfahrungen und aus der aktuellen Situation der Entwicklungsländer.Es geht uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, ganz konkret um die Förderung kleiner und kleinster Einheiten im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich. In unserem Sprachgebrauch — ich betone: in unserem, im Sinne des deutschen Sprachgebrauchs — sind dies Handwerksbetriebe. Wie solche Einheiten in der Dritten Welt, also vor Ort, genannt werden, ist nach unserer Auffassung zweitrangig. Entscheidend ist, daß dort Menschen vermehrt einer handwerklichen Beschäftigung nachgehen können.Meine Damen und Herren, wir alle kennen doch die Probleme, die in der Dritten Welt immer drohender anwachsen. Ich nenne die Massenarbeitslosigkeit, die mangelnde berufliche Bildung, technologische Engpässe in allen Lebensbereichen, StadtLand-Gefälle, krasser ausgedrückt: Stadt-Land-Gegensatz mit der Folge der Landflucht, dem Entstehen von Slums an den Rändern der ausufernden
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5399
SchreiberStädte und die mangelhafte Befriedigung der Grundbedürfnisse.Ich meine — lassen Sie mich dies ganz deutlich sagen —, wir haben die Entwicklungsländer wenigstens teilweise überfordert, indem wir mit riesigen Investitionen Großindustrien gefördert haben.
Die CDU/CSU ist nicht der Auffassung, daß das Handwerk plötzlich der Problemlöser Nummer eins in der Dritten Welt ist.
Ich glaube, es gibt keinen Bereich — keinen, ich betone dies —, der dies leisten könnte. Aber — auch dies muß hinzugefügt werden — im Verhältnis zu seiner Bedeutung ist das Handwerk, also die Schaffung kleiner Einheiten, jahrzehntelang in der Entwicklungspolitik vernachlässigt worden.Ich will zwei Beispiele nennen. Erstes Beispiel: In der beruflichen Bildung waren bisher die qualifizierten Industriefacharbeiter die Hauptzielgruppe. Allzuoft wurde dem Wunsch nach formalisierten Bildungsangeboten nachgegeben, und die Befriedigung der Grundbedürfnisse ist dadurch zu kurz gekommen. Das zweite Beispiel: Die Kreditprogramme der finanziellen Zusammenarbeit haben den informellen Sektor nie erreicht, ein Thema, über das wir uns ja auch noch intensiv unterhalten müssen. Wir haben heute morgen im Ausschuß im Zusammenhang mit dem Bericht über die Entwicklungsbanken bereits darüber gesprochen. Diese Frage muß auch im Zusammenhang mit der Handwerksförderung auf der Tagesordnung bleiben.Ich will nicht verhehlen, daß die meisten Regierungen der Entwicklungsländer dem Handwerk teilnahmslos oder gar ablehnend gegenüberstanden oder noch stehen. Das Handwerk entsprach und entspricht vielfach nicht ihren Vorstellungen von Modernität, und es leistete entweder keine oder doch zumindest keine wesentlichen Abgaben. Aber — und das ist doch die entscheidende Tatsache — die Erfahrungen haben gezeigt, daß es schnell und spürbar zu einer Wirtschaftsbelebung kommt, wenn Individuen genügend Freiraum für eine private wirtschaftliche Betätigung erhalten. Selbständige Kleinbetriebe spielen nicht umsonst in neueren Reformmodellen eine entscheidende Rolle, z. B. in Ungarn oder in der Volksrepublik China. Sie sehen also — lassen Sie mich das hinzufügen —, selbst Kommunisten und Sozialisten sind gelegentlich lernfähig.
CDU und CSU begrüßen es sehr, daß sich die Bundesregierung sofort nach ihrer Amtsübernahme verstärkt dem Problem der Handwerksförderung zugewandt hat.
Wir ermutigen sie, kontinuierlich Arbeitskraft und finanzielle Mittel in diesen Sektor zu investieren. Dies ist auch der Grund für unseren Antrag.Lassen Sie mich die Punkte ansprechen, auf die es nach unserer Auffassung ankommt: erstens auf eine massive Gründung selbständiger Existenzen in der Dritten Welt, zweitens auf eine flexible Mittelbereitstellung und Mittelverwendung externer Hilfe, die auf lokale und regionale Gegebenheiten in der Dritten Welt Rücksicht nimmt, drittens auf deutliche Signale in Richtung der Entwicklungsländer, die klarmachen, daß wir eigene Anstrengungen zur Handwerksentwicklung unterstützen werden.Meine Damen, meine Herren, wir haben im November 1982 schon einmal über das Thema Handwerk und Entwicklungshilfe debattiert. Damals sind vor allem von seiten der SPD kritische Töne uns gegenüber angeklungen. Herr Kollege Bindig, ich habe Ihre Rede sehr sorgfältig gelesen, aber ich habe den Eindruck, daß Sie damals entweder nicht wußten, um was es so richtig geht,
oder aber zumindest, daß Sie sich durch falsche Definitionen aus der Verantwortung herausstehlen wollten.Ich meine, hier muß doch einmal eines gesagt werden: diejenigen, die unserem Engagement für das Handwerk immer noch ablehnend gegenüberstehen, sollten folgendes berücksichtigen:Erstens — Herr Kollege Bindig, das war ja wohl auch eines Ihrer Hauptargumente —: Wir sollten uns nicht durch bewußt eng definierte Begriffe aus dem Problemkreis herausstehlen. Handwerker sind für uns ländliche Töpfer und Korbflechter ebenso wie ambulante Autolackierer in der Großstadt, traditionelle Kunsthandwerker ebenso wie die wenigen Vertreter aus der Dritten Welt mit einem Meisterbrief. Es geht nicht um das Leitbild des deutschen Handwerkers, sondern es geht um ein breites Spektrum der Kleinstbetriebe in der Dritten Welt. Wir suchen nicht ein deutsches Handwerkerniveau in der Dritten Welt und ziehen uns auch nicht auf die Schwellenländer zurück, wie schon einmal behauptet wurde.Zweitens. Wir verwahren uns gegen den Verdacht, wir förderten das Handwerk allein aus Interesse an Wirtschafts- und Mittelstandsideologie. In diesem Zusammenhang ist j a wohl die Frage erlaubt: Ist jeder, der ein umfassendes Entwicklungskonzept mit einer starken Handwerkskompetenz fordert, schon deshalb ein Ideologe? Ich meine, dies sollte auch einmal als Frage in den Raum gestellt werden.Meine Damen und Herren, ich bin engagiertes Mitglied der Sozialausschüsse. Daher möchte ich folgendes ganz deutlich sagen: Handwerksförderung ist aktive Arbeitnehmerpolitik.
Wer einen stabilen Arbeitsmarkt will, benötigt einegemischte Struktur mit einem starken Anteil an
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5400 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Schreibermittelständischen Betrieben bis hin zum Kleinhandwerker. Das ist im übrigen eine Erfahrung, die wir auch in Deutschland gemacht haben. 100 Einmannbetriebe sind 100 Arbeitsplätze. Wenn jeder dieser Betriebe eine Kraft einstellen kann, sind es schon 200 Arbeitsplätze. Ich meine, davon geht mehr Beschäftigungswirksamkeit aus als von Großprojekten in der Großindustrie.Wir sind der Auffassung, daß durch pauschale Forderungen nach Berufsbildung, nach Grundbedarfsbefriedigung, nach Armutsbekämpfung allein noch keine Entwicklungsfortschritte erzielt werden können.
Wir brauchen dazu den Menschen, der eigenverantwortlich in Selbsthilfe mit anderen zusammenarbeitet und seine Rechte verwirklicht. In diesem Sinne ist Handwerk nicht nur eine unverzichtbare Wirtschaftsform, sondern auch eine soziale und gesellschaftspolitische Einstellung.
Der Staat allein ist als Veranstalter von Entwicklung überfordert. Ich meine sogar: Je massiver er auftritt, desto mehr entmündigt er die Kräfte, auf die es ankommt, nämlich den einzelnen, seine Familie, seine Gruppen oder, kurz gesagt, die privaten Initiativen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sind mir in diesem Punkt ganz sicher etwas zu staatsgläubig.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die Arbeitsgruppe für wirtschaftliche Zusammenarbeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in der letzten Sitzungswoche eine Anhörung zum Thema Handwerksförderung in der Dritten Welt durchgeführt. Experten aus Druchführungsorganisationen, Handwerksverbänden und der Wissenschaft haben dabei aufgezeigt, daß es bei allen Schwierigkeiten eine Fülle guter Ansätze gibt. Dies bestärkt uns in unserem Tun.Ich habe bereits zu Anfang darauf hingewiesen, daß die Handwerksförderung nicht die Probleme der Dritten Welt insgesamt lösen kann. Aber ich meine, dies ist ein großartiger Ansatz. Handwerk ist eine Sprache im Nord-Süd-Dialog, wie es einmal in einer Studie ausgedrückt wurde. In diesem Sinne wird von uns nicht Sprachlosigkeit, sondern Sprachkundigkeit verlangt.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bindig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ursprünge dieses neuerlichen Antrags zur Handwerksförderung gehen noch in die Oppositionszeit der CDU/CSU zurück, als sie in einer Art entwicklungspolitischem Aktionismus ständig neue Schwerpunkte den Zielen und mehr noch in denInstrumenten der Entwicklungspolitik setzen wollte.
Hilfe zugunsten der ärmsten Entwicklungsländer, personelle Hilfe, Förderung der Nicht-Regierungsorganisationen waren die vielen Prioritäten, die Sie uns angeboten haben. Die Handwerksförderung haben Sie dann zur grundlegenden Priorität erklärt, zu einer Art prioritäre Priorität.Die damalige Debatte hat deutlich gemacht, daß der deutsche Handwerksbegriff nicht ohne weiteres auf die Entwicklungsländer übertragen werden kann, weil es sich dort um kleine und kleinste Betriebe im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich handelt, die in fast jedem Entwicklungsland in eigener soziokultureller Ausgestaltung vorhanden sind. Wir haben damals auch herausgearbeitet, daß nicht jede Handwerksförderung in einem Entwicklungsland notwendigerweise einen Beitrag zur Befriedigung der Grundbedürfnisse erbringt, daß sie ihn aber erbringen kann. Schließlich haben wir gesagt, daß es darauf ankommt, wie dieses Kleingewerbe in das Wirtschaftsgefüge des Entwicklungslandes eingebaut ist.Ich finde, daß Sie eben in Ihrem Beitrag haben erkennen lassen, daß die damalige Fachdebatte nicht umsonst geführt worden ist, weil Sie nämlich einen Teil dieser Erkenntnisse, die Sie in der letzten Debatte noch nicht selber vorgebracht haben, jetzt aufgenommen haben und sich damit in diesen Punkten etwas lernfähig gezeigt haben.Wir haben auch gesagt, daß bei der Übertragung von Selbsthilfemodellen in Entwicklungsländer beachtet werden muß, daß es sehr schwer ist, aus anderen Kulturen Selbsthilfemodelle zu übertragen. Es kommt darauf an, an die vorhandenen soziokulturellen Bedingungen anzuknüpfen.
Wenn ich mir jetzt Ihren Antrag zur Intensivierung der Handwerksförderung in der Dritten Welt ansehe, so sagt eigentlich schon die Überschrift, daß es wohl bei der Durchsetzung dessen, was Sie wollen, Probleme gibt, weil Sie ja eine Intensivierung wollen. Sie haben damals euphorisch gesagt, es müsse das Ziel sein, Millionen von Projekten in Gang zu setzen, und es gehe nicht darum, nur einige hundert Kreditfälle zu schaffen, sondern darum, tausende zu schaffen, nicht nur einige wenige Ausbildungsplätze einzurichten, sondern hunderte. Sie haben sich also von diesem Instrument sehr viel versprochen.In Ihrem Antrag sagen Sie jetzt, daß die Handwerksgesichtspunkte nicht nur in dem eigens dafür eingerichteten Haushaltstitel, sondern bei allen entwicklungspolitischen Vorhaben berücksichtigt werden sollen. Schließlich sagen Sie überschwenglich: Unsere Handwerksförderung soll als Hilfe zur Selbsthilfe umfassend sein, unmittelbar sein, komplex sein, flexibel sein, strukturbildend sein.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5401
BindigEs fehlt eigentlich nur noch, daß Sie sagen: Sie soll geistig-moralisch erneuernd sein,
soll schlichtweg wunderbar sein. Kommen Sie doch einmal herunter auf den — möglichst handwerklich gefertigten — Teppich der Realität!
Sagen Sie, was an Handwerksförderung in den Ländern der Dritten Welt wirklich machbar ist!Sehen wir uns doch einmal das Finanzvolumen des von Ihnen extra geschaffenen Titels an: erst 5 Millionen, jetzt 7,5 Millionen. 2 Millionen davon sollen Reserve sein, weil sie noch nicht mit Projekten belegt sind. Außerdem gibt es natürlich Handwerksförderung aus der technischen Zusammenarbeit und der finanziellen Zusammenarbeit. Handwerksförderung hat es auch früher schon gegeben. Früher gab es allein in der Zusammenarbeit mit den Projekten der Kirchen durchschnittlich 8,4 Millionen DM im Jahr, die für Handwerksförderung ausgegeben wurden, und es gab auch früher schon Handwerksförderungskomponenten in der technischen und der finanziellen Zusammenarbeit.Wenn man einmal die Summe von 7,5 Millionen mit den großen Projekten der technischen Zusammenarbeit vergleicht, die aus Ihrer Projektpolitik hervorgehen, sieht man, daß dies nur ein kleiner Teil ist. Dieser Sondertitel macht nur rund den 800. Teil des Einzelplans 23 aus. Vielleicht sagt dies etwas über die Realitäten aus, darüber, wie das wirklich umgesetzt wird.
Zu fragen ist natürlich auch: Wie steht es um die Förderungsfähigkeit in den Entwicklungsländern, und vor allen Dingen: welche Möglichkeiten hat das deutsche Handwerk, wirklich tätig zu werden? In der „Wirtschaftswoche" stand neulich: „Die ehrgeizigen Bonner Pläne, die Privatinitiative von Handwerksbetrieben entwicklungspolitisch zu fördern, stoßen bei den Kammern auf wenig Resonanz."Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik hat festgestellt, daß die Handwerkerschaft in den Entwicklungsländern, weil die Handwerker dort auf der Basis einheimischer Rohstoffe, auch unter Verwertung von Industrieabfällen, arbeiten und ohne Ausbildung tätig sind, eine ganz andere Struktur als unsere Handwerkerschaft hat, denn die deutschen Handwerksbetriebe sind längst zu spezialisierten Maschinenwerkzeugen übergegangen und vollständig in die moderne Wirtschaft integriert. Das deutsche Handwerk und die deutschen Handwerksorganisationen seien ratlos und wüßten nicht, wie sie ihre Kollegen in der Dritten Welt unterstützen können.
Dies sind ernstzunehmende Aussagen, die bei der Durchführung der Kleingewerbeförderung in Betracht gezogen werden sollten.Ich sage das gar nicht mit Häme, denn ich bin mit Ihnen der Auffassung — dieses Gemeinsame wollen wir festhalten —, daß eine gezielte Förderung des Kleingewerbes in ländlichen Bereichen und in Städten sinnvoll sein kann. Ich wende mich nur dagegen, daß hier ein Teilbereich der Entwicklungspolitik — es ist noch nicht einmal ein besonders großer Teilbereich der Entwicklungspolitik — zu einer ideellen Gesamtentwicklungspolitik aufgeblasen und so getan wird, als ob dies der Stein der Weisen sei,
um entwicklungspolitische Strategien voranzutreiben. Lesen Sie den euphorisch gehaltenen Text Ihres Antrages; dann werden Sie merken, daß es notwendig ist, dies zu reduzieren und nur den sinnvollen Kern herauszunehmen.
Die GTZ hat übrigens festgestellt, daß die Ausbildungsbereitschaft in den Zweigniederlassungen deutscher Unternehmen in der Dritten Welt und in den handwerklich strukturierten Projekten gering ist; man scheut die Kosten für die Ausbildung. Wie ihren Anträgen zu entnehmen ist, haben sie sich versprochen, daß Hunderttausende von Ausbildungsplätzen geschaffen werden könnten. Die Realität sieht so aus, daß in den wenigen Projekten, die in Gang gekommen sind, bisher leider nur wenig Ausbildung betrieben wird.Wenn man sich die praktische Projektpolitik vor Augen führt, dann wird deutlich, daß die eigentliche Entwicklungspolitik anders aussieht, als hier durch den Antrag der Eindruck erweckt werden soll. Da fährt der Minister nach Indonesien und fördert ein Wärmekraftwerk mit 100 Millionen DM. Dies ist allein mehr als das 13fache des Handwerksförderungsetats. Oder er sagt anläßlich eines Besuchs in Burma einer Großraffinerie zu: Es werden heute mehr als früher Großprojekte durchgeführt; es werden mehr industrielle Projekte durchgeführt. — Außerdem wird stark versucht, auf die Beschäftigungswirkung in der Bundesrepublik zu sehen.Deshalb ist zu befürchten, daß dieser Antrag Zukkerguß ist, der verdecken soll, daß die Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung immer mehr in Richtung auf Industrieförderung läuft und daß die Entwicklungspolitik Gefahr läuft, in den OstWest-Gegensatz zu geraten. Das soll verdeckt und verschönt werden. Wir sehen das aber und kritisieren dies.Wir werden die Komponenten des Antrages unterstützen, die wirklich eine Förderung des Kleingewerbes zum Ziel haben. Wir werden das in den Ausschußberatungen noch weiter deutlich machen und hoffen, daß wir mit einem so veränderten Antrag vielleicht doch noch gemeinsam eine Basis für die konstruktive Förderung des Kleingewerbes in den Ländern der Dritten Welt erarbeiten können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Rumpf.
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5402 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bindig, vieles von dem, was Sie sagten, war bemerkenswert und auch nachdenkenswert,
aber ich bin eigentlich etwas traurig, daß Sie diese Sache im großen und ganzen abgelehnt haben und meinen, es müsse hier ein ganz neuer Ansatz gefunden werden. So sehe ich das allerdings nicht.Die verstärkte Förderung des Handwerks in den Entwicklungsländern ist eine gezielte und systematische Unterstützung der Kleinbetriebe, und zwar sowohl im produzierenden Bereich als auch im Dienstleistungsbereich. Ich meine, man sollte es grundsätzlich begrüßen, daß ein solcher Antrag vorgelegt worden ist. Eigentlich müßte er breiteste Zustimmung finden.Im Gegensatz zu mittleren oder gar größeren Projekten bietet die Förderung kleiner und kleinster Betriebe in den Entwicklungsländern offensichtliche Vorteile. Die Vorteile sind sowohl mittelbar als auch unmittelbar positiv für die Bevölkerung. Kleine Handwerksbetriebe schaffen Arbeitsplätze, die vergleichsweise so billig und mit relativ geringem Investitionsaufwand zu erstellen sind.
Solche Handwerksbetriebe sind arbeits- und lohnintensiv. Sie geben damit Frauen und Männern Arbeit und dienen der Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung und damit auch der persönlichen Zufriedenheit. Gerade Frauenarbeit in den Entwicklungsländern kann in diesen Gebieten in die richtige Richtung gelenkt werden.Kleine Handwerksbetriebe sparen knappes Kapital, vor allem Devisen, und zwar sowohl bei der Anfangsinvestition als auch im laufenden Betrieb. Sie verarbeiten häufig an Ort und Stelle verfügbare Rohstoffe. Sie verwenden unkomplizierte Technologien mit geringer Importabhängigkeit. Betriebe des kleinen Gewerbes haben dezentralisierte, breit gestreute Standorte und produzieren vergleichsweise billig und marktnah und für den lokalen Bedarf.
Sie bilden die Basis für ein gesundes, eigendynamisches und breit gestreutes wirtschaftliches Wachstum. Handwerksbetriebe dieser Art können, wenn es der Markt erlaubt, Grundlage für die organische Entwicklung größerer Betriebe sein, sozusagen ein Kristallisationskern der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes, in den ärmsten Regionen der Welt. Sie erfüllen außerdem eine Funktion bei der langsamen Entstehung des oft fehlenden Unternehmertums, soweit ein solches überhaupt in den soziokulturellen Kontext paßt. Sie sind schließlich eine Vorstufe für eine sich bedarfsgerecht entwickelnde Industrialisierung.Es gibt jedoch natürlich subjektive und objektive Probleme. Herr Bindig, ich möchte das offen ansprechen. Subjektive Probleme ergeben sich bei der Verwirklichung einer breitgestreuten Handwerksstruktur sowohl in den Entwicklungsländern als auch auf seiten der Geberländer.Einerseits ist es trotz des erheblichen Potentials im deutschen Handwerk für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit beim Aufbau von Klein- und Kleinstbetrieben, in der praxisbezogenen beruflichen Ausbildung und in der Entwicklung von Organisationsstrukturen häufig schwer, junge Handwerksmeister für Entwicklungshilfeaufgaben zu interessieren. Andererseits unterschätzen die Entwicklungsländer selbst offenbar häufig die positiven Wirkungen derartiger Projekte und bevorzugen deshalb größere Vorhaben.Objektive Probleme ergeben sich aus dem Kapitalmangel, der Nichtverfügbarkeit von Krediten für Investitionen, dem Fehlen örtlicher Finanzierungsinstitute wie Spar- und Darlehenskassen, Genossenschaftsbanken. Andere objektive Mängel liegen häufig im fehlenden Hilfs- oder Rohmaterial, Mangel an maschinellen Einrichtungen oder Ersatzteilen oder auch in kaufmännischen Problemen.Alles dies eignet sich aber sehr gut für eine Förderung mit relativ geringen Mitteln und hoher Effektivität.Voraussetzung für eine erfolgreiche deutsche Unterstützung wird immer eine Initiative, die von seiten des Entwicklungslandes ausgeht, sein. Eigeninitiativen und Selbsthilfewille sind unabdingbar.Die Bundesregierung kann bei Regierungsverhandlungen und anderen Konsultationen verstärkt auf die Bedeutung der Handwerksförderung hinweisen. Sie kann Starthilfe geben und auf die Kooperationsmöglichkeiten der deutschen Handwerkerorganisationen verweisen.Die Entwicklungszusammenarbeit muß in erster Linie auf gesellschaftspolitischem und soziokulturellem Gebiet erfolgen. Diese Programme im Bereich Handwerkskleinbetriebe und Kleinindustrie müssen auf zwei Arten wirken: in Form der direkten Unterstützung des Auf- und Ausbaus von Selbsthilfeorganisationen des Handwerks, z. B. Absatzgemeinschaften, Einkaufsgemeinschaften, gemeinschaftlichen Werkstätten, und durch Unterstützung von Dienstleistungszentralen für Gruppen wie auch für einzelne, z. B. mit Dienstleistungen wie Aus- und Fortbildung, Beratung, Prüfung, Herausgabe von Publikationen. Hier ist der Ansatz.Alles geht natürlich nur mit Kapital. Herr Bindig, Sie sagen, 7,5 Millionen DM seien zu wenig. Das ist natürlich keine große Summe. Aber bei den Beträgen, die hier in Frage stehen — 1 000 bis 5 000 DM im Einzelfall und vielleicht 20 000, 30 000 DM bei der Endfinanzierung —, ist diese Summe eben doch sehr effektiv. Man sollte sie nicht zu gering schätzen.Man muß im Auge behalten, daß die Förderung des Handwerks und von Kleingewerbe vor allem den ärmsten Ländern zugute kommen soll. Dies ist nicht immer ganz einfach zu erreichen, schon vom Ansprechpartner und vom Erfolgserlebnis her. Es könnte passieren, daß mehr in die etwas weiter entwickelten und in die Schwellenländer investiert
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5403
Dr. Rumpfwürde. Eine jetzt etwa zwei Jahre alte Aufstellung des BMZ weist dies auch aus.Die neueste Entwicklung ist aber sehr hoffnungsvoll. In den armen und ärmsten Ländern fehlen zwar die Selbsthilfeorganisationen, aber mit dem Aufbau des Senior-Experten-Service kann man hier eine Lücke treffen, die bisher in der Struktur noch nicht da war. Ältere, ausgebildete und erfahrene Handwerksmeister sind ja — die Bundesregierung hat dies neu eingerichtet — typisch geeignet für das Anlernen und die Ausbildung in diesen Programmen, vor allem aber auch für die praktische Umsetzung der Projekte. Die Vorruhestandsregelung in der Bundesrepublik Deutschland wird dazu führen, daß noch mehr solche Experten zur Verfügung stehen. Man könnte von hier aus die Bundesregierung aufrufen, auch die europäischen Partner und die USA anzusprechen, in großem Umfang von einem solchen Seniorserviceprogramm Gebrauch zu machen.Wir Freien Demokraten wollen dem Senior-Experten-Service jedenfalls auch künftig neben den Nichtregierungsorganisationen eine besondere Rolle zuteilen.Es gibt auch — auch das muß ich sagen, Herr Bindig — ermutigende Pilotvorhaben für Instrumente tätiger Selbsthilfeorganisationen durch Handwerkskammern, die in die Tat umgesetzt worden sind. Es gibt flankierende genossenschaftliche Einrichtungen, die vom Deutschen Raiffeisenverband unterstützt wurden.Wir ermutigen Kammern und Verbände, noch mehr zu tun, um mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag und dem mehrfach genannten SeniorExperten-Service eng zusammenzuarbeiten.Die FDP stimmt dem vorliegenden Antrag zu und ist jederzeit bereit, auch über weitere Verbesserungen zu verhandeln.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schwenninger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Kisuaheli-Sprichwort sagt:Mgeni siku mbili — siku ya tatu mpe jembe.Das heißt: Zwei Tage behandele deinen Gast als Gast, am dritten gib ihm eine Jembe. Eine Jembe ist eine Hacke, wie ich sie hier in Händen habe. Diese Jembe habe ich in den Usambara-Bergen in Tansania vor sieben Jahren für etwa zwei Mark gekauft. Sie wurde von einem einheimischen Schmied mit einfachen Mitteln hergestellt. Die Hacke ist für mich ein Beispiel dafür, was Handwerk in der Dritten Welt bedeutet. Es bedeutet vor allem Hilfestellung für die Landwirtschaft. Es bedeutet aber auch angepaßte Technologie auf der Grundlage einheimischer Rohstoffe und Fertigkeiten und Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse. Vorhin hieß das etwas komplizierter sozio-kulturelle Umwelt.Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, durch Ihren Antrag zur Intensivierung der Handwerksförderung in der Dritten Welt beitragen wollen, dann geht es aber nicht darum. Dann geht es eher darum, daß sich die Mittelstandsvereinigung der Union in der Entwicklungspolitik der Wenderegierung immer mehr durchsetzen will. Dann geht es darum, den Export zu fördern, neue Märkte zu erschließen und sich gegen die internationale Konkurrenz zu behaupten.In welchem Zusammenhang steht dieser Antrag?Erstens. Für kleine und mittlere Unternehmen wird ein Beraterdienst aufgebaut bzw. verstärkt, z. B. der Senior-Experten-Service, wo lebenserfahrene ältere Menschen mittelständische Unternehmen beraten sollen, oder die Umgestaltung der Beratungsdienste von der Gesellschft für Technische Zusammenarbeit und der Deutschen Entwicklungsgesellschaft.Zweitens. Neue Förderungsinstrumente werden eingerichtet, z. B. das Technologieprogramm der DEG zur finanziellen Förderung des Technologietransfers oder der neu geschaffene Haushaltstitel zur Handwerksförderung, woraus bisher allerdings hauptsächlich die Ausbildung ausländischer Handwerker in der Bundesrepublik bezahlt wurde.
Drittens. Die Rolle der Nichtregierungsorganisationen, der sogenannten NGOs, bei der Entwicklungshilfe wurde aufgewertet. Damit sind allerdings vorrangig Wirtschaftsverbände, z. B. die Verbände des Handwerks, gemeint.Viertens. Die Bundesländer, darunter besonders Baden-Württemberg, mein Musterländle mit der Parole „Schaffe, schaffe, Häusle baue", bieten mittelständischen Unternehmen flankierende Hilfen an. — Ich habe Schwierigkeiten, wenn ich vom Hochdeutsch plötzlich ins Schwäbische zurückmuß.Schließlich fünftens. Die bisherigen Förderungsinstrumente werden von Ihrer Seite hart kritisiert und sind teilweise schon umgemodelt worden. Unternehmer und Verbandsfunktionäre erhoben den Vorwurf einer zu starken Bürokratisierung, eines Kompetenzenwirrwarrs zwischen DEG, GTZ, der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Hermes-Versicherung und sprachen von einer risikofeindlichen Prüfung von Anträgen.Meiner Meinung nach verbirgt sich dahinter eine ganz andere Absicht. Statt Entwicklungshilfe ist jetzt Exportsubventionierung gefragt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat insbesondere durch die Mischfinanzierung, die gewaltig erhöht wurde, erreicht, daß entwicklungspolitische Vergabekriterien zugunsten von Exportsubventionierung zurückgedrängt wurden, daß die ärmsten Entwicklungsländer, die ja auch kaum et-
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5404 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Schwenningerwas aus deutschen Landen kaufen können, immer weniger Förderung bekommen, daß über den Umweg der Hermes-Deckung für den kommerziellen Teil der Mischfinanzierung die Lieferbindung für immerhin ein Drittel der finanziellen Zusammenarbeit festgeschrieben wurde. Gleichzeitig vollzieht sich eine immer stärkere Abwendung vom Antragsprinzip. In Zukunft sollen Projektvorschläge nicht nur von den Entwicklungsländern kommen. Die Bundesregierung will im Rahmen des, wie sie so schön sagt, „Politikdialogs" den sogenannten Empfängerländern selbst Projektvorschläge machen, worin sie sicherlich von der deutschen Wirtschaft kräftig beraten wird.Welche Überlegungen und Konzepte stecken hinter diesen Maßnahmen des BMZ? Warum betonen CDU/CSU und FDP die Rolle des Mittelstandes in der Dritten Welt so arg? Zu erklären ist das alles nicht nur durch die Kräfteverschiebung innerhalb der CDU/CSU zugunsten der Mittelstandsvereinigung und die Besetzung des BMZ mit einem mittelständischen Keramikverbandsfunktionär a. D.
— Das habe ich im Bundestagshandbuch extra nachgeguckt. — Auch das Argument, daß die auf die Zentren konzentrierte Industriealisierungspolitik weder die Masse der Bevölkerung in der Dritten Welt erreicht noch angesichts der Verschuldungskrise weiter finanzierbar ist, kann diese Mittelstandspolitik nicht ausreichend erklären. Die Hochstilisierung des Handwerks zu der Lösung für die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Probleme und die Verklärung der deutschen Handwerksorganisation in Genossenschaften und Kammern kann getrost als reine Ideologie und Propaganda abgetan werden.Andere Erklärungen scheinen mir stichhaltiger zu sein. Ich zitiere jetzt aus einem Buch von dem Informationszentrum Dritte Welt Freiburg „Entwicklungspolitik — Hilfe oder Ausbeutung?" was ich sehr empfehlen will, Zitat:Die BRD ist ein kapitalistisches Land,
— die Bundesrepublik Deutschland, ich berichtige mich zugunsten der CDU, damit sie es versteht, ist ein kapitalistisches Land —das Ausmaß der wirtschaftlichen Entwicklung wird weitgehend von den Entscheidungen privater Unternehmer bestimmt. Weil die Bundesregierung als Träger staatlicher Entwicklungspolitik auch an der Prosperität der BRD-Wirtschaft interessiert ist, wird sie die Expansion deutscher Unternehmen auf internationalen Märkten unterstützen.In der derzeitigen internationalen Verwertungskrise des Kapitals, verstärkt durch die internationale Finanzkrise, müssen ja alle Wachstumsreserven ausgenützt werden. Solche Wachstumsreserven gibt es im Bereich der kapitalaufwendigen Großindustrie kaum mehr, dagegen noch im mittelständischen Bereich. Außerdem haben die vielen Fehlschläge großindustrieller Projekte gezeigt, daß in vielen Ländern die notwendigen Voraussetzungen für eine günstige Wirtschaftsentwicklung im Sinne der westlichen Industrieländer fehlen: Es gibt starke Elemente von staatlich kontrollierter und geplanter Wirtschaft, und es gibt kaum eine ausreichende industrielle Infrastruktur in Form von mittleren Zuliefer- und Servicebetrieben sowie von ausgebildeten Facharbeitern, nachdem die einheimischen Kleinbetriebe entweder durch die Konkurrenz ausländischer Konzerne zerstört oder in den informellen Sektor abgedrängt wurden.Ich glaube, in diesem Zusammenhang kann man das Beispiel VW do Brasil in Sao Paulo anführen; hier waren dann die meisten Holzarbeiter der Umgebung in der Fabrik beschäftigt.Beide Aufgaben soll das mittelständische Engagement lösen und dabei die Wettbewerbsposition der bundesrepublikanischen Wirtschaft international festigen. Dazu einige Zitate, eines gleich von Bundeskanzler Kohl aus seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982. Zitat:Die Dynamik des privaten Sektors muß die öffentliche Entwicklungshilfe ergänzen. In der mittelständischen Wirtschaft und im Handwerk können wir noch erhebliche Reserven erschließen. Private Initiative muß auch in den Entwicklungsländern stärker zum Motor der Entwicklung eines gesunden Wachstums der Wirtschaft werden.
In einem CDU/CSU-Antrag aus der vorherigen Legislaturperiode heißt es:Handwerksbetriebe ... verbessern durch Vermehrung selbständiger Existenzen und die breite Streuung privaten Eigentums die Grundlagen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.Am Schluß bleibt nur noch zu fragen, warum sich das Handwerk trotz aller positiven Eigenschaften, die es nach Vorstellungen der rechtsliberalen Koalition doch hat, in der Dritten Welt nicht durchgesetzt hat? Weil die da nicht wollen? Weil sie mangels Kapitals, Know-how oder Marktwirtschaft nicht können? Oder vielleicht, weil sie innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft keine Chance bekommen haben?Die Ursachen der Unterentwicklung, der Fehlentwicklung und der Unterdrückung einer gerechten Entwicklung in der Dritten Welt kann eine an deutschen Wirtschafts- und Kapitalinteressen orientierte Handwerksförderungspolitik nicht beseitigen.Wir werden also dem Antrag der CDU/CSU und FDP dann, wenn er einmal abstimmungsreif ist, nicht zustimmen; das ist doch klar.Danke schön.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5405
Das Wort hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es scheint, daß die Entwicklungspolitik auf die späten Stunden in diesem Hause abonniert ist. Ich danke Ihnen, daß Sie sich nicht haben verdrießen lassen und hier so lange ausgehalten haben. Ich danke natürlich auch meinem Vorredner, dem Kollegen Schwenninger, daß er die richtungweisenden Aussagen des Bundeskanzlers aus seinen Regierungserklärungen mit Klarheit vorangestellt hat.Da der Antrag, der hier heute von CDU/CSU und FDP vorgelegt worden ist, in diesem Sinne ist, begrüßt die Bundesregierung ihn nachhaltig. Wir teilen die Auffassung der Unterzeichner, daß die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für Jugendliche eine beispielhafte Befriedigung eines Grundbedürfnisses darstellt.Wir begrüßen insbesondere, daß in diesem Antrag die Brücke zwischen Handwerksförderung und der Bewältigung der Landflucht geschlagen worden ist, die ihrerseits eine wesentliche flankierende Maßnahme ist, wenn wir mit den Hungerkrisen der Dritten Welt im Rest dieses Jahrhunderts halbwegs zu Rande kommen wollen.Jene Millionen von Menschen im ländlichen Raum, die in der Tat nichts mit dem Handwerker im Sinne der deutschen Handwerksordnung gemein haben, sondern die dort ihre Selbständigkeit unterhalb der Schwelle des Unternehmensbegriffs behaupten, ohne je von einer Bilanz, ohne je von einem Bankkonto gehört zu haben, wollen wir in ihrer Selbständigkeit stärken, kräftigen — ebenso wie jene kleinen und mittleren Betriebe, die ihrerseits zu einer infrastrukturellen Ausstattung des flachen Landes unbedingt notwendig sind.Es findet den Beifall des Entwicklungsministers, wenn hier mit der Jembe demonstriert wird. Ländliches Handwerk als Werkzeughersteller, aber natürlich genauso als Reparaturbetrieb, als Familienbetrieb zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte stellt in der Gemengelage des ländlichen Raumes eine unverzichtbare Bestandsgruppe dar.
Ich möchte anfügen, daß angesichts der Unfähigkeit staatlicher Handelsorganisationen — in der Dritten Welt genauso wie in den Industrieländern —, auch nur halbwegs angemessen Verbraucherwünsche zu befriedigen, auch der private Landhandel, gerade der kleine private Landhandel, in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung ist.
In der Tat, Herr Kollege Bindig, wir haben die Schaffung des Handwerkstitels nicht nur in der Opposition gefordert, wir haben sie dann, als wir Regierungsverantwortung übernahmen, durchgeführt.
Aber bei dieser Ausweitung des Begriffs Handwerker, wie ich sie eben vorgetragen habe, ist es selbstverständlich, daß wir im Sinne des Antrags der Koalitionsfraktionen Handwerksförderung eben nicht nur aus diesem Titel betreiben, sondern daß wir das auch im Rahmen der technischen Zusammenarbeit, im Rahmen der finanziellen Zusammenarbeit und natürlich nach wie vor im Rahmen dessen, was wir den Kirchen zur Verfügung stellen, tun. Wenn ich das alles zusammennehme, dann ist seit Einführung des Titels im Bundeshaushalt der Gesamtbetrag für die Handwerksförderung mehr als verdoppelt worden.Mit der Schaffung des Titels haben wir einen politischen Akzent gesetzt. Wir haben politischen Willen pro Handwerk ohne Industriefeindlichkeit, ohne Wirtschaftsfeindlichkeit bekundet und Schritt für Schritt, wie es gar nicht anders sein kann, in die Wirklichkeit umgesetzt.Daß mir der verehrte Kollege von der Fraktion DIE GRÜNEN bei dieser Gelegenheit auch noch ein mittelständisches Unbedenklichkeitszertifikat ausgestellt hat, überrascht mich ebenso, wie ich es gerne zur Kenntnis nehme.
Was Sie ansonsten nach der Methode „Reim dich, oder ich freß dich" hier noch in die Handwerksdebatte eingeschleust haben, darauf möchte ich nicht eingehen, weil ich beim Thema bleiben möchte.
Wir werden, wie gefordert, in jenem Gespräch über die wirksame Politik, das wir Politikdialog nennen, und das wir mit den Partnern in einigen Ländern heute schon führen, das Thema Handwerk einbeziehen. Es wird im Politikdialog in der Tat darum gehen, dem Handwerk in den Ländern der Dritten Welt jenen Freiraum der Selbständigkeit zu schaffen, den es zu seiner Entfaltung braucht wie der Mensch die Atemluft.
Wir sind ebenfalls der Meinung, daß die Erfahrung der deutschen Handwerker einschließlich ihrer Organisationen verstärkt in die Entwicklungsförderung einzubeziehen ist. Ich möchte an dieser Stelle deshalb auch den deutschen Handwerkskammern ausdrücklich den Dank der Bundesregierung für die Bereitschaft aussprechen, ihren Sachverstand einzubringen und damit dafür zu sorgen, daß keine wirklichkeitsfremden Maßnahmen vom grünen Tisch aus durchgeführt werden.
— Von Ratlosigkeit kann, was die Handwerkskammern angeht, keine Rede sein. Da, wo das Wissen und der Erfahrungsschatz der deutschen Handwerkskammern fruchtbar sein können, werden sie eingesetzt, z. B. in der Zusammenarbeit mit bodenständigen Organisationen zum Zwecke der Ausbil-
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5406 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Bundesminister Dr. Warnkedungsförderung, aber selbstverständlich auch zum Zwecke der Schulung jener kleinen und mittleren Unternehmer, die nun eben mittlerweile auf dem Niveau angekommen sind, das durch Buchhaltung, Bilanz und Bankkonto charakterisiert ist, und die dies zur Kräftigung ihrer Wettbewerbsfähigkeit brauchen.
— Wenn sie das tun, würde ich darin kein Unrecht sehen. Wir können die Dinge doch nicht immer mit jener schönen Einseitigkeit betrachten, die Sie demonstrieren. Wir sollten einerseits Handwerksförderung betreiben, die frei von jedem Wirtschaftsegoismus unsererseits ist, und wir sollten andererseits auch akzeptieren, daß dann, wenn sich irgend etwas ergibt, Rückwirkungen aus der Entwicklungshilfe der deutschen Wirtschaft zugute kommen. Ich glaube, diesbezüglich sollten Sie Ihre Komplexe getrost ablegen. Mittlerweile hat die Beschäftigungswirksamkeit deutscher Entwicklungshilfe den Beifall aller billig und gerecht Denkenden im ganzen Land gefunden.
Junge deutsche Handwerker rufe ich auf, sich für diese Aufgabe zur Verfügung zu stellen. Sie können durch ihr praktisches Wissen den Partnern draußen helfen. Sie können selbst dabei reifen, und sie können, wenn sie zurückkehren, ein zusätzlicher Brükkenschlag gerade in eine Schicht der deutschen Bevölkerung hinein sein, bei der wir besonderen Wert darauf legen, zusätzliche Aufgeschlossenheit für entwicklungspolitische Anstrengungen zu transportieren.Junge Handwerker haben auch in der Vergangenheit ihren Beitrag geleistet. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Deutschen Entwicklungsdienst erwähnen, bei dem ich mich vor Ort überzeugt habe, daß von jungen Handwerkern wie von anderen Entwicklungshelfern eine gute Visitenkarte abgegeben worden ist.
— Herr Kollege Brück, sie werden auch in Zukunft im Deutschen Entwicklungsdienst willkommen sein. Ich möchte dies aus gegebenem Anlaß hinzufügen: Junge Handwerker — nicht der Kollege Brück; das ist ein alter Fuhrmann — werden auch in Zukunft im Deutschen Entwicklungsdienst willkommen sein, und zwar ohne Ansehung ihrer politischen Überzeugung. Auch dafür wird Sorge getragen werden.Meine Damen und Herren, das Ferment der Selbständigkeit ist eines der Geheimnisse erfolgreicher Entwicklungshilfe in jenen Ländern, die es Gott sei Dank gibt, wo wir entwicklungspolitische Erfolge klar verzeichnen können.
— Ich denke z. B. an Ostasien, Herr Kollege. Ich meine, daß wir in den Ländern, die heute Schwellenländer sind, die anfangen, voll in den Wettbewerb mit uns zu treten, daß wir in Singapur, in Taiwan und Korea sehen, wie wichtig es war, daß sichhandwerkliche Existenzen und kleine und mittlere Unternehmen
entfalten konnten. Selbstverständlich wird es daneben auch in Zukunft entsprechend den dringenden Wünschen und objektiven Notwendigkeiten dieser Länder auch große Infrastrukturprojekte geben. Das bedeutet: Das eine tun, das andere nicht lassen. Die Bundesregierung nimmt die Impulse aus dem Antrag der Koalitionsfraktionen mit Dank auf.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag auf Drucksache 10/1214 an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 35 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Anrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Lage in Afghanistan
— Drucksachen 10/1277, 10/1499 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Todenhöfer Neumann
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. — Ich höre keinen Widerspruch. Vielleicht wird noch ein Vorschlag auf Verkürzung der Debatte gemacht? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen, wie im Ältestenrat vereinbart.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf der Intensivstation der Universitätsklinik Tübingen kämpfen seit über zehn Wochen Tübinger Ärzte um das Leben des schwerverletzten afghanischen Freiheitskämpfers Abdul Qahir. Der Leidensweg des damals fröhlichen 18jährigen afghanischen Schülers begann vor zweieinhalb Jahren, als eine sowjetische Bombe seinen Körper zu über 50 % verbrannte und seine Glieder zerschlug.Da es in Afghanistan für Afghanen keine Medikamente gibt und da die Sowjetunion das Internationale Rote Kreuz nicht nach Afghanistan hineinläßt, brachten Freunde den schwerverletzten Jungen in eine Erdhöhle, um ihn vor den sowjetischen Besatzungstruppen zu schützen. Abdul Qahir verbrachte in dieser Erdhöhle sechs Monate ohne medizinische Versorgung. Nach sechs Monaten bauten
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5407
Dr. Todenhöferseine Freunde eine Bahre und trugen Abdul Qahir in einem mehrere Tage dauernden Marsch über die Berge des Hindukusch nach Pakistan.Dort wurde Abdul Quahir in einem primitiven Krankenhaus für Freiheitskämpfer untergebracht. Über seinen Körper baute man ein schweres Eisengestell, damit die Wolldecken seine offenen Wunden nicht berühren konnten. Dort lag er über zwei Jahre lang — nicht bereit zu sterben, aber auch nicht stark genug zu leben. Sein Körpergewicht betrug 27 kg. Die westlichen Besucher, die ihn sahen, haben alle von Hilfe gesprochen; geholfen hat ihm keiner.Am 18. März 1984 holte ihn die Deutsche Rettungsflugwacht in einem dramatischen Rettungsflug aus Pakistan heraus und brachte ihn nach Tübingen. Dort hatten sich deutsche Ärzte bereit erklärt, ihn kostenlos zu operieren und zu pflegen. In Pakistan hatte er noch eine Lebenserwartung von zwei bis drei Wochen. Für Deutschland gaben ihm die pakistanischen Ärzte im Falle erfolgreicher Operationen eine Überlebenschance von 20 %. Heute, nach zwei schweren, aber erfolgreichen Operationen geben ihm die Ärzte erstmals wieder eine Überlebenschance von über 50 %.Abdul Qahir, ein kleiner schwerverletzter afghanischer Junge, der in allem, was er gelebt, gelitten und gehofft hat, eine Symbolfigur für das kleine gequälte afghanische Volk ist, hat wieder eine Chance. Ich bin der festen Überzeugung, auch Afghanistan hätte wieder eine Chance, wenn die internationale Staatengemeinschaft nur einen Bruchteil des persönlichen Engagements aufbringen würde, das die Tübinger Ärzte und ihre Mitarbeiter gezeigt haben.
Niemand hat das Recht, seine Augen vor der afghanischen Tragödie zu verschließen. Seit Kriegsbeginn am 27. Dezember 1979 sind über eine Million Afghanen getötet worden. Über vier Millionen mußten nach Pakistan und Iran fliehen. Auch heute noch sterben jede Woche Hunderte von Frauen, Kindern und Greisen unter den Bombenangriffen der sowjetischen Armee. Auch heute noch fliehen wöchentlich tausende Menschen aus Afghanistan nach Pakistan.Wer verwundet ist, hat kaum eine Überlebenschance. Selbst schwerste Verwundungen müssen, da es keine Medikamente gibt, in der Regel ohne Narkose und ohne Desinfektionsmittel durchgeführt werden. Meist ist eine Behandlung überhaupt nicht möglich.Die Dörfer Afghanistans sind vernichtet, die Ernten zerstört, ein Teil der Brunnen ist vergiftet. Die sowjetische Armee rächt sich für ihre schweren militärischen Niederlagen durch die afghanischen Freiheitskämpfer systematisch an der wehrlosen Zivilbevölkerung durch die Bombardierung ihrerDörfer. In Afghanistan haben die Sowjets das Völkerrecht außer Kraft gesetzt.
Ich sage all dies ohne antisowjetischen Schaum vor dem Mund.
Ich glaube, daß der Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan eine der tragischsten Fehlentscheidungen der sowjetischen Führung seit Jahrzehnten war.
— Herr Fischer, sie hat zu dem sinnlosesten aller sinnlosen Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg geführt.
— Herr Fischer, sie hat auch Tausenden junger sowjetischer Soldaten — —
— Ich muß sagen, es ist wirklich außerordentlich bemerkenswert, Herr Fischer, daß an dieser Stelle Ihr Protest beginnt.Ich sage, dieser Krieg hat auch Tausenden junger sowjetischer Soldaten das Leben gekostet. Man hatte sie mit dem Auftrag nach Afghanistan losgeschickt, in Afghanistan den amerikanischen und den chinesischen Imperialismus zu bekämpfen. Nach wenigen Wochen stellten sie fest, daß sie auf wehrlose Nomaden, auf Frauen und Kinder schießen mußten. Ich beklage auch diese jungen sowjetischen Soldaten, die in Afghanistan gefallen sind. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Bevölkerung der Sowjetunion, wenn sie die Wahrheit über Afghanistan wüßte, den Krieg der sowjetischen Armee gegen die afghanische Bevölkerung uneingeschränkt mißbilligen würde. Ich sage dies bewußt als Ehrenerklärung für die Zivilbevölkerung der Sowjetunion. Aber das Faktum, Herr Fischer — und das bringt Sie durcheinander —, an dem niemand vorbeikommt, bleibt bestehen — —
— Herr Fischer, es ist keine selektive Moralität, wenn man über das Unrecht, das in Afghanistan geschieht, hier mit objektiven Maßstäben und ohne, wie ich es gesagt habe, antisowjetischem Schaum vorm Mund berichtet und wenn man eine Ehrenerklärung für die sowjetische Bevölkerung abgibt.
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5408 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Dr. TodenhöferAber ich wundere mich wirklich, daß Sie an dieser Stelle protestieren, an einer Stelle, wo versucht wird, Gemeinsamkeit herzustellen.
Das Faktum, an dem niemand vorbeikommt, bleibt bestehen: Während die sowjetische politische Führung weltweit Abrüstungsvorschläge macht, bombardiert sie afghanische Dörfer, während sie internationale Gewaltverzichtverträge vorschlägt, vergewaltigt sie ein kleines wehrloses Nachbarvolk, während sie über Friedensliebe spricht, führt sie einen gnadenlosen Krieg gegen Afghanistan.
Abrüstung, Gewaltverzicht, Friedensliebe und Entspannung aber sind und bleiben unteilbar. Das Verhalten der Sowjetunion in Afghanistan ist daher ein schwerer Schlag gegen die Hoffnung aller Menschen auf der ganzen Welt auf Frieden, auf Entspannung, auf Gewaltverzicht und auf Abrüstung.
Auch deswegen muß dieser Krieg beendet werden.Der mörderische Krieg in Afghanistan ist ein vergessener Krieg, aber das gibt niemandem das Recht, diesen Krieg zu verschweigen. Wer zu Afghanistan schweigt, macht sich mitschuldig. Da kämpft ein kleines Volk von 16 Millionen Menschen geschlossen um seine Freiheit und gegen seine Vernichtung durch die Supermacht Sowjetunion, und die internationale Staatengemeinschaft schaut tatenlos und schweigend zu.
— Ich werde, Herr Holtz, darauf nachher sehr konkret zu sprechen kommen.Ein besonders trauriges Kapitel ist die Berichterstattung durch die Nachrichtensendungen der ARD und des ZDF. Meine Damen und Herren, die beiden größten deutschen Fernsehsender berichten zwar ausführlich über das Robbensterben in Kanada; so wichtig das sein mag, aber das tägliche Leiden und Sterben Hunderttausender Frauen und Kinder in Afghanistan ist für sie offenbar kein Thema, das eine kontinuierliche Berichterstattung wert wäre.
— Das gilt leider auch für einige andere Dinge, aber wenn Sie die Dimension dieser afghanischen Tragödie sehen, dann ist es besonders bedrückend. Wer dieses Verschweigen der afghanischen Tragödie, Herr Holtz, durch die „Tagesschau" — ich nenne das jetzt einmal beim Namen, auch wenn die natürlich hier nicht mehr eingeschaltet sind — und durch „heute" mit der seinerzeit fast täglichen Berichterstattung über Vietnam, Herr Fischer, vergleicht, muß man doch tief betroffen sein. Man muß sich die Frage stellen, wie das deutsche Fernsehen über Afghanistan heute berichten würde, wenn nicht dieSowjetunion, sondern wenn die USA diesen mörderischen Krieg gegen Afghanistan führen würde.
Diese Frage muß man sich leider stellen.
Die einzige Chance, Herr Holtz, den Krieg der Sowjetunion gegen Afghanistan mit friedlichen Mitteln — dafür plädiere ich — zu beenden, besteht doch in der Mobilisierung der öffentlichen Weltmeinung. Das ist genau das, Herr Fischer, was ich bei Ihnen nicht verstanden habe. Gerade Sie müßten doch wissen, daß wir in einer solchen Frage nur durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung eine Chance haben. Daß Sie dagegen protestieren, spricht leider gegen Sie.
Es geht nur durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Nur dann haben wir eine Chance, diesen sinnlosen Krieg zu beenden.Fernsehnachrichten, die zu den täglichen Morden in Afghanistan schweigen, genügen nicht den moralischen Ansprüchen, die die deutsche Öffentlichkeit zu Recht an die deutschen Fernsehanstalten stellt.
— Der Herr Minister sitzt vor mir.
Die Sowjetunion führt in Afghanistan einen gezielten Krieg gegen Kinder. Sie wirft aus großer Höhe bunte Spielzeugbomben und Schmetterlingsbomben ab, die die Wirkung von Kontaktminen haben. Ich habe Ihnen zwei dieser Schmetterlingsbomben mitgebracht. Diese Schmetterlingsbomben werden von den Sowjets in großer Höhe abgeworfen, sie drehen sich in der Luft wie Schmetterlinge und fallen lautlos zu Boden. Sie explodieren beim Aufschlag nicht. Sie explodieren erst, wenn Kinder sie aufheben, um mit ihnen zu spielen. Sie zerfetzen ihnen das Gesicht. Sie reißen ihnen Hände oder Beine ab, wie diesem kleinen afghanischen Jungen, dem eine Schmetterlingsbombe das halbe rechte Bein abgerissen hat. Ich will Ihnen das Bild dieses afghanischen Jungen nicht vorenthalten.
Diese Spielzeugbomben und Schmetterlingsbomben haben Zehntausende von Kindern getötet. Zehntausende haben sie zu Krüppeln gemacht. Dieser Krieg gegen Kinder ist eines der grausamsten Kriegsverbrechen, das Menschen jemals erfunden haben.
Ich finde, wir haben nicht länger das Recht zu schweigen. Wir haben nicht länger das Recht, tatenlos zuzusehen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5409
Dr. TodenhöferDeshalb fordern wir die Bundesregierung auf, den Freiheitskämpfern und der Bevölkerung in Afghanistan endlich wenigstens medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Das ist weiß Gott eine bescheidene Forderung. Die Sowjetunion aber fordern wir auf, endlich den Krieg in Afghanistan zu beenden, endlich ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen und endlich dem tapferen, kleinen afghanischen Volk seine Freiheit, sein Selbstbestimmungsrecht und seinen Frieden wiederzugeben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neumann .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich schäme mich eigentlich ein bißchen, daß wir diesen Tagesordnungspunkt erst heute abend behandeln.
Er hätte mehr Aufmerksamkeit und auch eine Diskussion zu einer Zeit verdient, zu der die Medien noch anwesend waren.Nahezu alles von dem, was Herr Todenhöfer gesagt hat, ist wahr. Nahezu alles von dem, was er Ihnen berichtet, gezeigt hat, habe ich auch mit eigenen Augen gesehen. Da der eine oder andere möglicherweise skeptisch ist und meint, daß die Aktionen, die Herr Todenhöfer manchmal unternimmt, weniger der Sache als vielmehr seiner eigenen Person dienen, muß ich .Ihnen sagen: In der Sache selbst hat er recht.
Es ist in der Tat so, daß Kinder durch Schmetterlingsbomben verletzt werden, daß Freiheitskämpfer auf dem Weg nach Pakistan sterben. Es ist in der Tat so, daß Hilfe fast gar nicht möglich ist. Ich möchte dies gleich am Anfang sagen, damit hier nicht etwa bei der Person des Vorredners ein falscher Eindruck entsteht. In der Sache selbst hat er durchaus recht.Die Sowjetunion spekuliert doch darauf, daß wir diesen Krieg zu einem vergessenen Krieg machen. Ich werde das Gefühl nicht los, mit unserem eigenen Handeln hier heute helfen wir ihr. Wir helfen mit, daß dies ein vergessener Krieg wird.
Die Spekulation kann aufgehen, wenn wir so fortfahren. Die lange Liste der Resolutionen — der Vereinten Nationen, der Menschenrechtskommission, die Erklärung der Zehn, der IPU und wer weiß noch alles; wir können sie beliebig verlängern —, die in dem Antrag aufgeführt sind, hat bisher nichts bewirkt. Die politischen Aktivitäten der Vereinten Nationen sind steckengeblieben. Etwas bewirken kann nur öffentlicher Druck, öffentlicher Druck der westlichen Welt und vor allen Dingen der Dritten Welt.Dies setzt voraus, daß wir unsere Haltung sehr deutlich auch der Dritten Welt bewußt machen.Was am 27. Dezember 1979, dem Tag des Überfalls auf Afghanistan galt, gilt auch heute noch und ist, denke ich, unser aller Meinung:Das ist erstens, daß die Intervention völkerrechtswidrig ist. Sie ist ein brutaler Überfall auf ein kleines neutrales Land.Zweitens. Die sowjetischen Maßnahmen haben das internationale Klima nachhaltig verschlechtert.Drittens. Der von uns unterstützten Idee der Blockfreiheit wurde ein schwerer Schlag versetzt.Viertens. Die Region wurde destabilisiert.Fünftens. Den Enscheidungen der Vollversammlung der Vereinten Nationen — das darf man nicht vergessen — wurde der Respekt verweigert.Ich füge noch hinzu, was ich auch 1982 hier sagen durfte: Der Überfall von Afghanistan war meiner Einschätzung nach der schlimmste Schlag der Machthaber im Kreml gegen die Entspannungspolitik und den Friedenswillen der damaligen und auch unserer Zeit.
Auch heute noch stehen über 120 000 sowjetische Soldaten in Afghanistan einer kleinen Schar von Widerstandskämpfern und fast der gesamten Bevölkerung gegenüber. Die Widerstandskämpfer wehren sich mit militärischen Mitteln und die Bevölkerung mit den Mitteln, derer sie habhaft wird. Es ist bedrückend zu wissen, daß noch nach viereinhalb Jahren jeden Tag Tote zu beklagen sind, und ich sage ausdrücklich, wie Herr Todenhöfer, auch Tote auf sowjetischer Seite; afghanische Freiheitskämpfer, die um die Freiheit ihres Landes und um Selbstbestimmung kämpfen, und sowjetische Soldaten, die teilweise nicht wissen, aus welchem Grund die Weltmacht Sowjetunion das kleine Afghanistan überfallen hat.Wir erinnern — und das nicht nur fürs Protokoll des Bundestages — auch ausdrücklich daran, daß wir sehr wohl wissen, daß Afghanistan offensichtlich von der Sowjetunion auch als Erprobungsplatz für neue Waffensysteme genutzt wird; ein Vorgang, der offensichtlich in dieser Welt langsam Schule macht, wenn man sich den Krieg Irak/Iran ansieht, und die Falklandinseln waren wohl auch kein anderer Fall.In den letzten Monaten haben wir von den verzweifelten Versuchten der Sowjetunion gehört, das Panschir-Tal zu unterwerfen, mit Flächenbombadierungen durch strategische Bomber wie im Vietnamkrieg, mit Einsatz von modernsten Waffen, von 10 000 Mann Bodentruppen. Die Sowjetunion ist gescheitert. Sie ist gescheitert am Widerstand der Freiheitskämpfer und am Willen der Bevölkerung, ihr eigenes Land zu verteidigen.Aber die Hauptleidenden auch dieser siebten Großoffensive war wieder einmal die Zivilbevölkerung. Mit der Vernichtung der Dörfer, der Felder und der Versorgungseinrichtungen sollte die Basis
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5410 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Neumann
des Widerstandes ausgeräuchert werden. Die militärischen Aktionen erinnern an die Strategie der verbrannten Erde. Hunderte von Frauen und Kindern fallen auch heute und vielleicht sogar gerade jetzt wieder den Bombenteppichen zum Opfer.Wie in einer Vielzahl von Fällen und uns auch glaubwürdig durch Zeugen belegt, nehmen auch die Sowjets Rache an wehrlosen Opfern für mangelnde Unterwerfungsbereitschaft. Wer sich mit dem afghanischen Widerstand über viereinhalb Jahre beschäftigt, begreift kaum, woher die Menschen noch den Mut, die Beharrlichkeit und den Freiheitswillen aufbringen, und dies, nachdem die spektakuläre Unterstützung durch die Weltöffentlichkeit — jedenfalls seit nahezu anderthalb Jahren — verschwunden ist.Die angebliche Hilfe der westlichen Welt, der Boykott der Olympischen Spiele, Wirtschaftssanktionen sind verpufft, und dennoch hat sich die militärische Lage in Afghanistan für die Freiheitskämpfer und auch ihre moralische Lage nicht verschlechtert.Wenn schon der Befreiungskampf in Afghanistan aus den Schlagzeilen verschwunden ist, so wissen wir noch viel weniger über die Lage in Afghanistan selbst. Wir wissen nicht, ob es wahr ist, was kürzlich ein Londoner Institut gemeldet hat: daß 500 000 Menschen vom Hungertod bedroht sind, 500 000 von vielleicht noch 14 Millionen in Afghanistan verbliebenen Einwohnern. Wir wissen nicht, ob es stimmt, daß bei den Untersuchungen von 5 000 Kindern in 30 Provinzen schon 24 % an schweren Schäden durch Unterernährung leiden. Selbstverständlich ist humanitäre Hilfe, Hilfe für Hungernde in aller Welt notwendig, in Afrika, in Südamerika, in Asien; aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß wir uns um die Menschen in Afghanistan nach dem Oberfall durch die Sowjetunion zu kümmern haben.Und was ist mit den Menschenrechten in Afghanistan? Wir sind dankbar dafür, daß die UN-Menschenrechtskommission jetzt bei der letzten Sitzung einen Sonderbotschafter für Afghanistan benannt hat. Vielleicht erfahren wir mehr über die Menschenrechtssituation, nachdem die Berichte, die zu uns kommen, erschreckend sind und zu größter Sorge Anlaß geben.Wir fordern auch diesmal wieder, daß das Internationale Komitee des Roten Kreuzes in Afghanistan die Tätigkeit aufnehmen kann. Nachdem wir das 1982 gefordert haben, ist es — vielleicht auch mit Hilfe der Bundesregierung — für eine kurze Zeit gelungen, das das IKRK dort arbeiten durfte. Aber seit Herbst 1982 ist kein Besuch mehr in Afghanistan zugelassen, und die Genfer Konvention, die ja die Grundlage für die Arbeit des IKRK ist, wird verletzt. Die einzige Möglichkeit des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes — und dafür sollten wir ihm dankbar sein — ist die Betreuung von zwei Hospitälern in Pakistan, wo im letzten Jahr rund 3 000 Operationen schrecklichster Art durchgeführt worden sind. Teilweise konnten Operationen nicht durchgeführt werden, weil die vorhandenen Mittel nicht ausreichten. Herr Todenhöfer hat ein Beispiel genannt. Auf dem Weg aus Afghanistan nach Pakistan sterben viele Verletzte.Aber das IKRK hat noch eine weitere Aufgabe übernommen, nämlich den Austausch von Gefangenen. Es gibt eine Vereinbarung, wonach sowjetische Gefangene in die Schweiz gebracht werden, dort zwei Jahre bleiben und dann in die Sowjetunion zurückkehren können. Noch vor zwei Jahren wurde fast jeder Gefangene getötet. Dieses ist eine begrüßenswerte Lösung. Dennoch hat das mit der Humanität, von der auch die höchsten Funktionäre in der Sowjetunion so oft sprechen, nichts zu tun. Dies ist nur ein Mindestmaß an Regelung und kann uns nicht befriedigen.In Pakistan und im Iran gibt es 4 Millionen afghanische Flüchtlinge. Dazu kommt, daß eine Reihe von Asylanten in westeuropäischen Ländern und in den USA sind. Sie alle verdienen, daß wir ihnen helfen. Die Situation der Flüchtlinge in Pakistan ist einigermaßen erträglich, wie wir heute einem Bericht im Unterausschuß Humanitäre Hilfe entnommen haben. Hier haben die internationale Gemeinschaft der Völker, insbesondere der Hohe Flüchtlingskommissar, die internationalen Hilfsorganisationen und nicht zuletzt auch die deutsche Bevölkerung mit Spenden geholfen. Ihnen ist Dank zu sagen. Die Afghanen selbst haben — und dies ist auch neu — durch Eigenhilfe in verschiedensten Gruppen ihren Beitrag geleistet, um sich selbst zu helfen.Es muß der Sowjetunion endlich klargemacht werden, daß es nicht möglich ist, ein kleines neutrales Land zu überfallen und ein Sechstel der Bevölkerung zu vertreiben. Man mag mal ausrechnen, was das für die Bundesrepublik bedeuten würde. Sie muß auf der anderen Seite wissen, daß dieses Flüchtlingsproblem eine ständige Mahnung ist, die immer wieder auf ihre Politik hinweist.Eine politische Lösung kann nur ein Ziel haben: den Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan und die Herstellung eines Zustandes, bei dem die Afghanen selbst ohne Einmischung anderer ihr Schicksal bestimmen können.
Dazu ist aber auch erforderlich, daß die afghanischen Widerstandskämpfer endlich zu einer politischen Einheit zusammenfinden.
In den viereinhalb Jahren haben wir verschiedene Zusammenschlüsse und Koalitionen erlebt, die nur von kurzer Dauer waren und oftmals nur an kurzfristigen politischen Zielen gescheitert sind, weil diese höher gestellt worden sind als das eine Ziel, das allen Afghanen gemeinsam ist, nämlich Afghanistan zu befreien und die nationale Einheit herzustellen.Lassen Sie mich zum Abschluß etwas machen, was heute schon mit einer Verfassung gemacht worden ist, nämlich die Charta der Vereinten Nationen zitieren, und zwar nicht, weil ich glaube, daß
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5411
Neumann
sich die Sowjetunion beeindrucken läßt, sondern weil ich glaube, daß es für alle, die noch hier sind und die sich mit Außenpolitik befassen, wichtig ist, diesen Grundsatz in Art. 2 immer wieder durchzulesen:Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.Die Charta der Vereinten Nationen ist von der Sowjetunion unterschrieben.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Für die Fraktion der Freien Demokratischen Partei möchte ich mich ausdrücklich für die sehr bewegenden und uns alle tief beeindruckenden Ausführungen meiner beiden Vorredner bedanken und mich inhaltlich diesen Ausführungen voll anschließen.
Erlauben Sie mir einige Anmerkungen aus innenpolitischer und außenpolitischer Sicht, weil es j a nicht alle Tage passiert, daß wir — alle Fraktionen des Deutschen Bundestages — mit einer solchen Einmütigkeit eine Erklärung, eine gemeinsame Entschließung abfassen, die uns doch auch irgendwo miteinander verbindet und mehr Gemeinsames als Trennendes feststellen läßt. Das ist eine gute und eine wichtige Sache. Ich würde unserem Ältestenrat empfehlen, bei der Regie des Ablaufs unserer Debatten dafür zu sorgen, daß solche Punkte nicht um 10 Uhr nachts behandelt werden. Denn ich glaube, unsere Bürger würden gerne einmal erfahren, daß wir in einer weltpolitisch so wichtigen Angelegenheit alle am gleichen Strang ziehen.
Wer diesen Entschließungsantrag aufmerksam durchliest, muß in unser Land signalisieren, daß jeder Abgeordnete, alle Fraktionen in diesem Parlament die jahrelang anhaltende Besetzung Afghanistans verurteilen, daß sie auf der Beendigung der Besetzung, der Untaten der Unterdrückung eines tapferen freien Volkes bestehen werden, daß wir alle der Meinung sind, daß die fortdauernde Besetzung — Herr Todenhöfer und Herr Neumann haben es gesagt — neben anderen Ursachen ein wichtiger Grund für die anhaltenden Spannungen im OstWest-Verhältnis sind. Es ist nämlich sehr wichtig, wenn wir uns wertend über die Folgen und Fortschritte des Entspannungsprozesses unterhalten, festzuhalten, daß durch die Besetzung Afghanistans dieser Prozeß einen zunächst nicht wieder gut zu machenden Rückschlag erlitten hat.Nicht zuletzt bestehen wir gemeinsam darauf, daß die humanitäre Hilfe für Afghanistan verstärkt werden muß. Herr Staatsminister Mertes, ich hoffe, Sie können uns zu diesem Punkt noch etwas Konkretes sagen. Ich habe mir die Zahlen für 1983 für das, was wir sowohl für die Flüchtlingshilfe als auch für die sonstige humanitäre Hilfe ausgegeben haben, einmal angesehen. Das ist ein stattlicher Betrag von rund 30 Millionen DM, wenn ich es richtig in Erinnerung habe. Wenn wir aber übereinstimmen, daß wir hier mehr als bisher helfen müssen, dann müssen wir hierfür auch mehr finanzielle Opfer bringen.Ich glaube aus meiner außenpolitischen Erfahrung sagen zu können, daß eine einmütige Entschließung des Deutschen Bundestages doch weit mehr bewirken kann, wenn man eine solche Entschließung diplomatisch aktiviert. Herr Staatsminister, es ist wichtig, daß sie nicht versandet, daß sie nicht in unserem Protokoll liegenbleibt, sondern daß unsere Diplomaten alles tun, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, was wir hier mit welcher Zielsetzung beschlossen haben.Es ist j a doch immerhin erstaunlich, daß in den Vereinten Nationen, in den Menschenrechtskommissionen, in den islamischen Konferenzen und bei vielen anderen Gelegenheiten die Weltmeinung zunehmend verurteilt, was in Afghanistan besteht. Wir müssen doch durchaus einmal würdigen, daß große Bemühungen zur Befriedung und zum Abzug der sowjetischen Truppen geschehen sind. Wir dürfen nicht locker lassen, damit wir am Ende zum Ziel kommen. Man muß nämlich außenpolitisch in Rechnung stellen, daß unser andauernder Protest deshalb so notwendig ist, weil die Sowjetunion — und das geht aus allen Papieren hervor, die ich zur Vorbereitung hier lesen konnte — davon ausgeht, daß eben die Zeit für sie arbeitet, daß die Vergeßlichkeit des Westens und neue Ereignisse und neue Katastrophen unseren Protest leiser werden lassen. Und das, Herr Kollege Todenhöfer und Herr Kollege Neumann, wollen wir j a mit dieser Resolution verhindern.Es ist leider so, daß die afghanischen Widerstandskämpfer immer noch, vielleicht sogar zunehmend, untereinander uneinig sind und daß es eben bisher keine politische Alternative zum Karmal-Regime gibt. Das ist ein Grund für die Sowjetunion, auf den Faktor Zeit zu hoffen.Die islamische Welt, die j a zuerst in einer ungeheuren Anstrengung versucht hat, Afghanistan aus den Klauen der Sowjetunion zu befreien, hat ungeheure andere Probleme. Die Hoffnung der Sowjetunion, durch informelle oder formelle Verhandlungen zwischen dem Regime Karmal und Pakistan zu einer Aufwertung dieses Regimes zu kommen, ist ja auch ein Versuch, hier mit dem Faktor Zeit das Gras über Besatzung und Untaten wachsen zu lassen.
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5412 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Frau Dr. Hamm-BrücherUnd diese Rechnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gewöhnung darf nicht aufgehen. Das ist das Hauptziel der Resolution.Die Lage in Afghanistan ist von meinen Vorrednern geschildert worden. Ich füge nur hinzu, daß alle Anzeichen der sowjetischen Besatzungsmacht auch der Versuch sind, dieses früher eigenständige Land nicht nur zu besetzen, sondern auch zu kolonialisieren, indem man die Jugendlichen zu Tausenden in die Sowjetunion schickt, indem man versucht, das Bildungssystem — ich weiß, daß man das auch mit unseren eigenen Schulen versucht — unter sowjetischen Einfluß zu bekommen und damit auf jeden Fall zu garantieren, daß dieses Land sich eines Tages auch ideologisch der sowjetischen Vorherrschaft unterwirft.
— Herr Kollege, dafür haben wir eine freie Gesellschaft, eine freie Verfassung und ein Verteidigungssystem, mit dem wir uns unsere Freiheit zu erhalten hoffen.
Gerade vor diesem Hintergrund ist der Widerstand dieses tapferen Volkes, der vielen jungen Menschen, der Frauen und der alten Menschen, besonders heroisch. Wir wollen — wie Herr Todenhöfer — immer wiederholen, daß nur der Abzug der Truppen, nur die Möglichkeit der Rückkehr zur Blockfreiheit, nur die Wiederinstallierung einer autonomen Regierung am Ende dieser Auseinandersetzung stehen können.Der öffentliche Druck, den wir mit dieser Entschließung erzeugen wollen, ist hierfür eine Voraussetzung. Der Appell an uns alle, an die Öffentlichkeit ist, daß die westliche Welt kein Zuschauer des Geschehens sein darf noch in Zukunft werden darf, daß wir helfen und unterstützen müssen, wann und wo auch immer möglich; und hier ist die humanitäre Hilfe wirklich die Nagelprobe. Das soll mit unserem gemeinsamen Antrag zum Ausdruck kommen, und das wollen wir damit bewirken.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Reents.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den bisherigen Beiträgen ist sehr viel Betroffenheit über die Menschenrechtsverletzungen und über die Kriegsgreuel in Afghanistan zum Ausruck gekommen. Oberflächlich betrachtet könnte es am Ende dieser Debatte so aussehen, als ob bei den bisherigen Rednern mehr Betroffenheit herrschte als bei dem, was ich jetzt sagen werde. Aber ich denke, es gibt mehr Wahrheiten als das, was bislang hier zur Sprache gekommen ist.Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in den fast vierzig Jahren, die seitdem vergangen sind, hat es auf der Welt mehr als 150 Kriege, militärische Interventionen und Militärputsche gegeben.
Die Intervention der sowjetischen Truppen in Afghanistan seit dem 27. Dezember 1979 ist eine davon. Andere Kriege und militärische Interventionen hat es unter Beteiligung der USA u. a. in Korea, Vietnam, Laos und Kambodscha, im Libanon, in der Dominikanischen Republik, in Guatemala und Grenada gegeben, unter Beteiligung Frankreichs u. a. in Algerien, Indochina, Madagaskar, Zaire und im Tschad, unter Beteiligung Großbritanniens im Südjemen und auf den Malwinen, unter Beteiligung der Sowjetunion u. a. in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in Eritrea.Die GRÜNEN sind gegen jede militärische Intervention.
Wir sind eine antimilitaristische Partei. Wir sind eine Antikriegspartei. Es gibt für uns nicht militärische Interventionen, die wir ablehnen, und andere, die wir begrüßen und gutheißen. Man braucht bei uns nicht zu rätseln: Wie stehen die GRÜNEN denn nun dazu? Man braucht bei uns auch nicht zu überlegen, welcher Art denn unsere Beziehungen zu der betreffenden Militärmacht sind, um eine Antwort darauf zu bekommen.Es gibt für uns vor allem nicht das Recht von hochgerüsteten, weltpolitisch mächtigen Staaten, die Welt oder einzelne Regionen der Welt nach ihrem wirtschaftlichen und staatspolitischen Interesse militärisch zu ordnen, sich Einflußzonen außerhalb ihres eigenen Territoriums militärisch zu sichern und zu unterwerfen. Darum sagen wir ohne Wenn und Aber, daß wir die sowjetische Intervention in Afghanistan verurteilen und fordern den Abzug der sowjetischen Truppen aus diesem Land.
Afghanistan ist eines der 15 ärmsten Ländern der Welt. Noch 1978 gab es dort 95 % Analphabeten und ein jährliches Durchschnittseinkommen von nur 160 Dollar. Es gab so gut wie keine medizinische Versorgung, eine völlige Unterdrückung der Frauen und regionale Hungersnöte. Und es gab bei rund 85 % Landbevölkerung und 15 % Stadtbevölkerung eine Ungerechtigkeit im Landbesitz, die zu den extremsten auf der Welt gehört. 0,2 % Großgrundbesitzer — diese Zahl stammt allerdings noch von Anfang der 60er Jahre — besaßen zirka die Hälfte des bebauten Bodens in Afghanistan.Das alles sind Tatsachen, die der britische Kolonialismus in Afghanistan hinterlassen hatte und die auch nach der Unabhängigkeit Afghanistans 1919 und nach der Proklamation der Republik 1973 von den folgenden Regierungen nicht geändert und beseitigt wurden. Das ist gleichzeitig die Ursache für jahrzehntelange gesellschaftliche Kämpfe in Afghanistan und für die April-Revolution, die 1978 die Taraki-Regierung an die Macht brachte.Diese Regierung hatte verschiedene Reformen in den genannten Bereichen zu ihrem Programm er-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984 5413
Reentshoben. Aber das Mittel ihrer Politik war vor allem Administration und Verordnung, nicht mühsame Überzeugung, Freiwilligkeit und Mobilisierung.Im September 1979 kam Khafizoullah Amin durch einen Putsch gegen Taraki an die Macht. Es gibt einige Berichte darüber, daß er Leute aus den Gefängnissen freiließ, und andere Berichte, daß er viele andere in die Gefängnisse hineinsteckte.Ein Vierteljahr später fand dann der Einmarsch sowjetischer Truppen statt. Babrak Karmal wurde mit deren Hilfe neuer Ministerpräsident. Seit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen hat sich die Zahl der Opfer der afghanischen Bevölkerung ständig erhöht, hat sich der Krieg eskaliert, wie wir jetzt gerade wieder an der neuen Offensive der sowjetischen Truppen im Pandschir-Tal sehen.Die Situation für die afghanische Bevölkerung hat sich unter diesen Bedingungen der Besetzung ihres Landes verschlechtert. Der Kampf zur Abschaffung feudaler Strukturen, egal, wo auf der Welt er stattfindet und nötig ist — das sind gar nicht wenige Regionen —, muß sich frei von äußerer militärischer Einmischung vollziehen können. Wo das nicht der Fall ist, kann von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit nicht geredet werden.
Jetzt steht heute hier ein Antrag zur Abstimmung, der die sowjetische Intervention in Afghanistan verurteilt und der humanitäre Hilfe für die afghanischen Flüchtlinge und die afghanischen Widerstandskämpfer fordert. Das besondere an diesem Antrag ist, daß er gemeinsam von allen Fraktionen eingebracht wurde. Es ist kein Geheimnis, daß es bei uns Auseinandersetzungen darüber gegeben hat. Das hat nichts mit der Verurteilung der sowjetischen Intervention, sondern mit bestimmten politischen Interpretationen dieser Intervention und mit der Frage zu tun, ob die GRÜNEN der Sowjetunion überhaupt etwas gemeinsam mit denen zu sagen haben, die vor einem halben Jahr mit ihrem Beschluß zum Beginn der Raketenstationierung die Kriegsgefahr in Mitteleuropa erhöht haben.
Ich will deswegen etwas zum vorliegenden Text sagen, das ebenso gemeinsame Auffassung unserer gesamten Fraktion ist wie unsere Verurteilung der sowjetischen Intervention. Ich will konkret drei Textstellen in diesem Antrag ansprechen, an denen sich unsere Motive von denen der anderen Fraktionen, insbesondere von denen der Regierungskoalition, unterscheiden: Erstens die Behauptung, die Besetzung Afghanistans sei neben anderen Ursachen auch ein wichtiger Grund für die anhaltenden Spannungen im Ost-West-Verhältnis, zweitens die Behauptung, daß mit dem Ende der sowjetischen Intervention die Einmischung von außen beendet sein würde, und drittens die Behauptung, daß die Wiederherstellung der Selbstbestimmung des afghanischen Volkes ein wesentlicher Beitrag zur internationalen Entspannung und zur Aufrechterhaltung des Friedens sei.Dies ist zum Teil absichtlich unscharf gehalten, zum Teil unterschlägt es etwas, und zum Teil ist es schlicht falsch.
Auf jeden Fall wird als verantwortliche Seite der Spannungen im Ost-West-Verhältnis und als verantwortliche Seite, etwas für die Aufrechterhaltung des Friedens zu tun, ausschließlich die Sowjetunion genannt. Wir haben daran schon etwas bei der interfraktionellen Beratung des Antragstextes zu ändern versucht, aber das ist von den anderen Fraktionen in diesen Punkten nicht akzeptiert worden. Es ist klar, was die anderen Ursachen für die Spannungen im Ost-West-Verhältnis betrifft, wie es im Text heißt. So würden zumindest Sie von der Regierungskoalition natürlich niemals irgend etwas konkret nennen, was die Verantwortung der USA betrifft.
Im Gegenteil, die amerikanischen Atomkriegsplanungen, die amerikanischen Militäraufmärsche in Zentralamerika und im Golf, das alles ist für Sie schiere Friedensliebe.
Angesichts einiger wohlklingender — ich muß das leider sagen — Phrasen über Unabhängigkeit, gegen Menschenrechtsverletzung usw., die hier erneut gefallen sind,
ist es ganz hilfreich, sich noch einmal daran zu erinnern, was Minister Warnke — ich weiß nicht, ob er jetzt noch anwesend ist — in der Debatte über den Überfall der USA auf Grenada gesagt hat, nämlich daß kein Land — ich zitiere ihn wörtlich — „ungestraft seine Souveränität mißbrauchen dürfe". Das ist die Heuchelei, die wir Ihnen als erstes vorwerfen. Bei aller Berechtigung der Empörung über die Kriegsgreuel in Afghanistan, über die Menschenrechtsverletzung dort seitens der sowjetischen Truppen ist das, was Herr Todenhöfer hier vorgetragen hat, für mich ein eklatantes Beispiel dieser Heuchelei;
denn solche Reden, Herr Todenhöfer, wird man aus Ihrer Reihe zu anderen Menschenrechtsverletzungen, zu anderen militärischen Interventionen nicht hören.
Das zweite: Ist es denn wirklich richtig, daß es Einmischung von außen in Afghanistan nur durch die Intervention der Sowjetunion gibt und daß deren Ende Afghanistan automatisch die Unabhängigkeit bescheren würde? Ich denke, daß es nicht so ist. Daß die Diktatur unter Zia ul-Huq in Pakistan von den USA in großem Maßstab militärisch aufge-
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Reentsrüstet wird, daß es dort mit Finanzierung des CIA Ausbildungslager für afghanische Widerstandskämpfer gibt — ich sage ausdrücklich, daß es sie nur für einen Teil gibt, wobei ich weiß, daß die Oppositionsbewegung in Afghanistan sehr heterogen ist —,
daß die USA von der VR China Überflugrechte für Waffentransporte in diese Region bekommen haben, daß neben Pakistan auch der Iran die islamischen Fundamentalisten Afghanistans mit Waffen ausstattet — das alles sind nicht nur Behauptungen aus sowjetischen Quellen, sondern darüber haben auch Leute wie der Watergate-Enthüller Karl Bernstein, die „Washington-Post", die „International Herald Tribune" und die „Neue Zürcher Zeitung" geschrieben.
— Nun verkürzen Sie einmal Ihren akustischen Bremsweg! Hören Sie lieber zu, was ich hier sage.
Daß all dies auch schon vor dem sowjetischen Einmarsch stattgefunden hat, konnte man sogar in der von der Deutschen Stiftung für Internationale Entwicklung herausgegebenen Zeitschrift „Entwicklung und Zusammenarbeit" im Juni 1979 lesen. Dort heißt es unter Bezugnahme auf die Reformvorhaben der Taraki-Regierung, es habe sich viel offener und geheimer Widerstand auf dem Lande formiert. Weiter heißt es wörtlich — das ist im übrigen auch interessant und eine richtige Feststellung über die Natur der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Afghanistan —:Die Interessen von geschädigten Grundbesitzern und Geschäftsleuten und diejenigen von Verteidigern islamischer Sitte und Gewohnheiten dürften oft gleichgelagert, wenn nicht gar dieselben sein. Beide Gruppen erhalten Unterstützung aus dem Ausland.Wir fordern also auch, ohne damit unsere Forderung gegenüber der Sowjetunion zu relativieren, daß die Einmischung von CIA und anderen ebenfalls beendet wird.
Damit bin ich bei meiner dritten Kritik: Ist die Besetzung Afghanistans ein Grund für die Spannungen im Ost-West-Verhältnis, und hängt die Entspannung im Ost-West-Verhältnis also auch vom Abzug der sowjetischen Truppen in Afghanistan ab? Dazu muß man an das zeitliche und atmosphärische Umfeld erinnern, in dem die sowjetische Intervention stattgefunden hat, und zwar nicht nur an das — darauf habe ich schon hingewiesen —, was seitens der USA in Pakistan passierte und noch passiert, sondern auch daran, daß davor SALT II von den USA nicht ratifiziert wurde und daß eine Woche vor dem Beschluß der sowjetischen Führungsgremien, in Afghanistan einzumarschieren, von der NATO ihr Beschluß zur Raketenstationierung gefaßt wurde.
Daß das eine Rolle gespielt hat, haben so unterschiedliche Beobachter wie Georgij Arbatow und Willy Brandt bestätigt.
Der sowjetische Einmarsch ist also auch Frucht der Spannungen im Ost-West-Verhältnis. Das macht die Sache zwar nicht besser, aber stellt die Wirklichkeit
richtiger dar.
Keinesfalls ist es gemütlicher, was die sowjetische Außenpolitik betrifft, der von ihr gesehenen Bedrohung ebenfalls nur mit militärischen Mitteln zu begegnen und imperialistischen Konzepten der Sicherung von sogenannten Vor- oder Hinterhöfen nachzueifern. Ich will dazu etwas zitieren, was der ehemalige Generalsekretär der KPdSU, Jurij Andropow, zur Rechtfertigung in einem „Spiegel"-Gespräch im April 1983 gesagt hat. Ich zitiere:Man darf nicht vergessen, daß dies in unserer Ecke geschieht, an der Grenze geschieht es. Wir haben eine große, gemeinsame Grenze, und uns ist es nicht gleichgültig, was für ein Afghanistan das sein wird. Sagen wir z. B. so, damit man es besser begreift, ob es den Vereinigten Staaten egal wäre, welche Regierung in Nicaragua sein würde. Nicaragua befindet sich in einer riesigen Entfernung von den Vereinigten Staaten, bei uns aber ist mit Afghanistan eine gemeinsame Grenze. Wir verteidigen unsere nationalen Interessen, wenn wir Afghanistan helfen.Das ist bis in die Wortwahl der Geist, Weltgendarm zu sein. Wir bestreiten der Sowjetunion, ihre sogenannten nationalen Interessen in Afghanistan durchzusetzen, mit der gleichen Deutlichkeit, mit der wir den USA das Recht bestreiten, ihre sogenannten nationalen Interessen in Zentralamerika durchzusetzen.
Damit werden regionale und nationale gesellschaftliche Auseinandersetzungen zum Bestandteil des Ost-West-Konflikts gemacht. Sie sind es nicht von ihrer Natur her, wie ich es an Hand weniger Daten zur Geschichte Afghanistans gesagt habe, sondern sie werden erst dazu gemacht.Ich will zum Schluß kommen.
Ich habe gesagt, daß es in unserer Fraktion wegendieser Resolution viele Diskussionen gegeben hat.Ich habe vorgetragen, was wir in der Fraktion ge-
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Reentsmeinsam sehen; die Schlußfolgerungen sind aber auseinandergegangen. Die Fraktion hat mehrheitlich beschlossen, diesen Antrag mitzutragen, aber einige von uns werden dagegenstimmen. Aber sie werden nach dem, was ich vorgetragen habe, mit zwei Vermutungen auf dem Holzweg sein. Diejenigen von uns, die dagegenstimmen werden, lassen keinen Zweifel daran, daß sie, wie alle von uns, den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan fordern.
Und diejenigen aus unserer Fraktion, die der Resolution zustimmen werden, wollen dennoch, wie alle in unserer Fraktion, nichts mit der schaurigen Solidarität der Demokraten zu tun haben, die in ihrer verinnerlichten NATO-Uniform gegen das Feindbild Sowjetunion strammstehen.
Das Wort hat der Staatsminister Dr. Mertes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst ein Wort als Mitglied des Deutschen Bundestages, nicht als Vertreter der Bundesregierung.
Aus drei Gründen empfinde ich persönlich Bitterkeit darüber, daß es nicht möglich war, die Beratung des Themas Afghanistan auf eine Tageszeit zu legen, in der mehr Menschen an dieser Debatte hörend und sehend teilnehmen können.
— Das geht in alle Richtungen, j a. Ich sage das als Abgeordneter, weil ich mich als Staatsminister im Auswärtigen Amt nicht zur Gestaltung der Tagesordnung des Deutschen Bundestages äußern will.
— Ja, ich wende mich an alle Zuständigen als individueller Abgeordneter.
Ich empfinde persönlich aus drei Gründen Bitterkeit darüber, daß das Thema Afghanistan auf diesen späten abendlichen Zeitpunkt gelegt worden ist.
Ich sehe Ihre Zwischenrufe als Zustimmung an.
Diese späte Stunde verdient nicht das leidende und kämpfende afghanische Volk. Das verdient auch nicht die Tatsache, daß der Entschließungsantrag zu dieser wichtigen Frage von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages eingebracht worden ist. Das verdient auch nicht das Thema Mißachtung des Gewaltverbots der Vereinten Nationen, das im OstWest-Konflikt eine so große Rolle spielt.
Noch ein persönliches Wort an Sie, Kollege Reents. Ich bin vor einigen Monaten vom deutschen Fernsehen gefragt worden, ob ich die Aussage des Präsidenten Reagan teile, die Sowjetunion sei „das Reich des Bösen". Ich habe das verneint! Ich könne diese Aussage nicht bejahen, weder als Demokrat noch als Christ. Ich könne die Welt nicht manichäisch einteilen in die Welt des Guten und die Welt des Bösen.
Ich sage auch dies: Nicht einmal das nationalsozialistische Deutschland mit all seinen Verbrechen war in diesem Sinne „das Reich des Bösen". Es gibt in dieser Welt kein Imperium, keinen Staat, der für sich eine absolut positive Qualität in Anspruch nehmen kann. Nur, ich halte es für ein ethisches Erfordernis, Herr Kollege Reents, einen Unterschied zu machen zwischen der rechtsstaatlichen Demokratie und der totalitären Diktatur — welcher Ideologie auch immer. Ich finde es nicht anständig, wenn Sie einen Machtbereich, in dem Sie, Gott sei Dank, so offen und frei sprechen dürfen, wie Sie das heute abend getan haben, und einen Machtbereich, in dem Sie das nicht dürfen, auf eine Stufe stellen.
Ich halte es nicht für anständig, eine Macht, die die Freiheit West-Berlins zweimal erwürgen wollte, und eine Macht, die die Freiheit Berlins zweimal gerettet hat, auf eine Stufe zu stellen. Herr Kollege, ich halte es auch nicht für anständig, eine Macht, in deren Bereich die Bemühungen um kleinste gewerkschaftliche Freiheiten unterdrückt werden, und eine Macht, in deren Schutzbereich freie Gewerkschaften selbstverständlich frei handeln können, auf eine Stufe zu stellen.
Ich bin also gegen die Einteilung: Dort ist die Sowjetunion, das Reich des Bösen, und hier der Westen, das Reich des Guten. Aber ich halte es nach meinen Lebenserfahrungen seit den 30er Jahren nicht für richtig, qualitative Unterschiede der Art, wie ich sie eben dargelegt habe, zu übersehen. Ich wende mich gegen diejenigen, die die Welt in Gut und Böse einteilen; aber ich wende mich auch gegen diejenigen, die so eklatante ethische Wertunterschiede zwischen politischen Systemen einfach übersehen. Das gilt auch für diejenigen, die in den 30er Jahren in den westlichen Demokratien das nationalsozialistische Deutschland und den demokratischen Rechtsstaat auf eine Stufe gestellt haben.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
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5416 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Bitte.
Herr Mertes, ich sehe diese Unterschiede auch, und ich gewichte sie auch sehr bedeutsam — wie Sie wohl auch. Was aber bedeuten diese Unterschiede in den politischen Verfassungen für die Opfer des Bombenterrors in Afghanistan, für die Opfer des Bombenterrors des US-Völkermordes während des Vietnamkrieges und für die Opfer des von den USA mit finanzierten und politisch und militärisch mit organisierten Staatsterrors in El Salvador? Was bedeutet dieser politische Unterschied in unseren Verfassungen für die Opfer?
Herr Kollege, ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie die Unterschiede nicht übersehen. Aber Sie wahren die Proportionen nicht. 80 000 Flüchtlinge aus Chile — ich zitiere den Kollegen Todenhöfer — sind 80 000 Flüchtlinge zuviel: 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan sind 3,5 Millionen zuviel. Ich bin nicht dafür, daß man die 80 000 Flüchtlinge aus der Diktatur Chiles verheimlicht. Ich bin aber nicht bereit, zu sagen: Beide Fälle lassen sich vergleichen.
— Ich habe die Flüchtlinge aus Chile und die Flüchtlinge aus Afghanistan verglichen. Ich wollte nur sagen: Unterstellen Sie doch den übrigen Mitunterzeichnern der gemeinsamen Afghanistanentschließung nicht, daß sie die westliche Welt weißen und die Sowjetunion schwärzen. Meine Kollegen von den GRÜNEN, die Sie mit unterschrieben haben, entwerten Sie doch die gemeinsame Unterschrift, die wir in dieser Sache geleistet haben, nicht selber,
bloß weil Sie sich untereinander gegenseitig nachweisen wollen, daß Sie gleichermaßen den sowjetischen und den angeblichen amerikanischen Imperialismus bekämpfen wollen. Es ist eigentlich schade, daß Sie jetzt zum Abschluß dieser Debatte Ihre eigene Unterschrift so abwerten, um untereinander wieder eine gemeinsame Sprache zu finden.
Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, seit Ende April 1984 führen die sowjetischen Interventionstruppen in Afghanistan eine neue Offensive gegen den afghanischen Widerstand. Schwerpunkt der Kämpfe ist das PandschirTal. Unermeßliches neues Leid und Zerstörungen werden damit, wie auch die Außenminister der Zehn in einer gemeinsamen Erklärung vom 14. Mai 1984 beklagt haben, über Afghanistan gebracht.Vor diesem Hintergrund begrüßt es die Bundesregierung, daß sich der Deutsche Bundestag erneut mit Afghanistan befaßt. Ich möchte mich namens der Bundesregierung ausdrücklich bei den Kollegen Todenhöfer, Neumann und Frau Hamm-Brücher bedanken. Ich kann alles, was sie gesagt haben, unterschreiben, und ich möchte noch einmal würdigen, daß sich auch die Fraktion der GRÜNEN an der Erarbeitung des Antrages beteiligt hat. Der Konsens aller Fraktionen dieses Hauses zu dem vorliegenden Entschließungsantrag gibt der heutigen Debatte ein besonderes Gewicht. Der neuerliche Appell an die Sowjetunion, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen und dem afghanischen Volk die Verwirklichung seines Selbstbestimmungsrechts zuzugestehen, hat in diesen Tagen eine besondere Aktualität. Zu dem mit zunehmender Härte geführten Kampf der sowjetischen Eindringlinge in Afghanistan gegen das afghanische Volk kann und darf die Welt nicht schweigen. Das ungleiche Ringen zwischen einer nuklearen und konventionellen Supermacht auf der einen Seite und einem kleinen Volk der Dritten Welt auf der anderen Seite muß ein Ende finden. Nach einem mehr als vierjährigen Kampf sollte die Sowjetunion einsehen, daß es für Afghanistan keine militärische Lösung gibt, sondern nur den Weg einer politischen Lösung, wie sie von der Mehrzahl der Staaten in fünf Resolutionen der Vereinten Nationen gefordert wird.Die neue Offensive in Afghanistan ist eine Absage auch der neuen sowjetischen Führung an eine Verhandlungslösung. Bisher müssen wir das leider feststellen. Die Sowjetunion verharrt im Widerspruch zur Weltmeinung, wie sie in den Resolutionen der Vereinten Nationen ihren Niederschlag gefunden hat — und dies, obwohl Moskau politisch und militärisch in Afghanistan vor einem Scherbenhaufen steht.Das von der Sowjetunion in Kabul eingesetzte Regime findet auch nach fast viereinhalb Jahren — das ist länger als der erste Weltkrieg — weder bei der Bevölkerung noch seitens der internationalen Staatenwelt Anerkennung. Seine Bemühungen um einen Wiederaufbau der Verwaltung und der afghanischen Armee sind gescheitert. Die Flügelkämpfe in seinen eigenen Reihen dauern an. Das Regime ist seinem Ziel, seine Herrschaft zu konsolidieren und zu legitimieren, keinen Schritt nähergekommen. Im Gegenteil, der Freiheitskampf hat alle Provinzen und Städte erfaßt. Er findet nach allen uns vorliegenden Berichten trotz härtester sowjetischer Repressalien gegen die Zivilbevölkerung aktive Unterstützung weitester Bevölkerungskreise. Mehr als 3,5 Millionen Afghanen, also mehr als 20 % der Bevölkerung, haben mit der Flucht ins Ausland ihren Freiheitswillen bekundet.Das Ansehen der Sowjetunion bei den Staaten der Dritten Welt hat wegen der Besetzung Afghanistans sehr schwer gelitten. Wie wir sehen diese in der Afghanistanfrage einen Prüfstein für die sowjetische Bereitschaft, die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Staaten der Dritten Welt zu achten und ihr Streben nach wirklicher Ungebundenheit anzuerkennen. Mit dem fortdauernden Kampf einer
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Staatsminister Dr. Merteshochgerüsteten sowjetischen Invasionsarmee von über 100 000 Mann gegen das afghanische Volk wird die These von den sozialistischen Staaten als den natürlichen Freunden der ungebundenen Welt ad absurdum geführt. — Ich freue mich, daß Sie zustimmen, Herr Kollege.Grundprinzipien wie Souveränität der Staaten, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Gewaltverzicht müssen für alle und überall gelten. Bisweilen hat man den Eindruck, als ob die sowjetische Forderung nach einem internationalen Gewaltsverzichtsabkommen oder einem Ost-West-Vertrag über den Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt davon ablenken soll, daß in Afghanistan dem Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen — Herr Kollege Neumann hat es dankenswerterweise noch einmal erwähnt — und der Schlußakte von Helsinki zuwider ständig und brutal Gewalt nicht nur angedroht, sondern angewendet wird.Die von mir genannten Prinzipien zu verletzen, heißt, Frieden und Stabilität in den internationalen Beziehungen gefährden. Ihre fortdauernde Mißachtung in Afghanistan bewirkt einen schweren Verlust an Vertrauen in die Sowjetunion zu einem Zeitpunkt, in dem es gilt, gegenseitiges Vertrauen glaubwürdig zu bilden. Die Beendigung der Gewaltanwendung in Afghanistan würde einen unerläßlichen Beitrag zur Verbesserung der internationalen Beziehungen im allgemeinen und der Ost-West-Beziehungen im besonderen darstellen.
Die Welt wartet vergebens auf Anzeichen der Bereitschaft der Sowjetunion, die auf den internationalen Beziehungen lastende afghanische Hypothek abzubauen. Was hindert Moskau, dem traditionell blockfreien Afghanistan seine Freiheit wiederzugeben, eine Freiheit, die es niemals zur Feindschaft gegen die benachbarte Sowjetunion benutzt hat?
Der Westen und die Blockfreien haben der Sowjetunion immer wieder klargemacht, daß es ihnen um die Wiederherstellung des unabhängigen und blockfreien Status Afghanistans geht. An Lösungsvorschlägen für die Afghanistanfrage hat es nicht gefehlt. Leider hat die Sowjetunion auf die wiederholten Appelle der Staatengemeinschaft und die Lösungsbemühungen der islamischen Staaten, den europäischen Vorschlag einer internationalen Afghanistan-Konferenz vom Juni 1981 und die Bemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen nicht mit konstruktiven Schritten geantwortet. Nach über vier Jahren herrscht weiterhin blutige Unterdrückung in Afghanistan, sind schwerste und ständige Verletzungen von Menschenrechten zu beklagen, leben mehr als ein Fünftel der Afghanen als Flüchtlinge im Ausland. Es ist schon von anderen Kollegen gesagt worden.Hochachtung verdient die humanitäre Leistung der Nachbarstaaten Afghanistans, die der größten Flüchtlingswelle der Nachkriegszeit großzügig ihre Grenzen geöffnet haben, insbesondere Pakistan, das fast drei Millionen Flüchtlinge aufnahm. Trotz aller Hilfsanstrengungen der Staatengemeinschaft trägt das wirtschaftlich schwache Land und seine Bevölkerung weiterhin einen wesentlichen Teil der Lasten.Die Bundesregierung wird nicht nachlassen, die Sowjetunion immer wieder aufzufordern, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen, es dem afghanischen Volk zu ermöglichen, sein Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung uneingeschränkt auszuüben. Bundesminister Genscher hat in seinen Moskauer Gesprächen vom 20. bis 22. Mai 1984 und in einer öffentlichen Rede unmißverständlich betont, warum die Bundesregierung einer politischen Lösung in Afghanistan größte Bedeutung zumißt.Die Blockfreien und unter ihnen besonders die islamischen Staaten fühlen eine besondere Verantwortung und Verpflichtung gegenüber Afghanistan. Ihre Bemühungen um eine politische Lösung fördert die Bundesregierung nachhaltig. Sie hat die von diesen Staaten in der Generalversammlung eingebrachten Resolutionen ebenso unterstützt wie ihre Resolution in der Menschenrechtskommission, in denen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Afghanen und schwere Menschenrechtsverletzungen verurteilt werden.Unsere Solidarität, verehrte Kollegen, gilt dem afghanischen Volk, das für Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenwürde kämpft.
Diesem Volk, zu dem wir Deutschen traditionell enge Beziehungen haben, fühlen wir uns in seiner gegenwärtigen Notlage besonders verbunden. Praktischer Ausdruck unserer Solidarität mit dem afghanischen Volk ist der hohe Umfang der deutschen humanitären Hilfe aus öffentlichen, vor allem aber auch aus privaten Mitteln. Aus Bundesmitteln wurden auch 1983 über 45 Millionen DM für Nahrungsmittelhilfe, für Ausbildungs- und Infrastrukturprojekte in den Flüchtlingsregionen in Pakistan und für andere humanitäre Aufgaben zur Verfügung gestellt. Zu der Empfehlung von Frau Kollegin Hamm-Brücher, in der Hilfe nicht nachzulassen, kann ich darauf hinweisen, daß auch für 1984 wiederum zunächst 45 Millionen DM für die humanitäre Hilfe zugunsten Afghanistans vorgesehen sind.
Die Bundesregierung wird in ihren Hilfsbemühungen nicht nachlassen. Das Gegenteil ist der Fall. Haben Sie bitte Verständnis dafür, daß ich im Auswärtigen Ausschuß Einzelheiten des jetzt Geplanten und des künftig Geplanten vortragen werde. Es gibt gute Gründe, es im Ausschuß zu tun. Aber Ihr Appell entspricht dem, was auch die Bundesregierung will, verehrte Frau Kollegin.
Aber unsere Hilfe darf sich nicht auf die Flüchtlinge beschränken, die ihr Land verlassen mußten. Das Ausmaß des Leidens und der Not in Afghani-
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Staatsminister Dr. Mertesstan läßt immer mehr ein Tätigwerden internationaler und privater Hilfsorganisationen in diesem Land geboten erscheinen; ein Sachverhalt, auf den der Kollege Dr. Todenhöfer dankenswerterweise immer wieder hingewiesen hat. Die Bundesregierung tritt nachdrücklich dafür ein, daß vor allem den internationalen Hilfsorganisationen die Möglichkeit geboten wird, den Opfern der Kämpfe in Afghanistan zu helfen. Bundesminister Genscher hat in seiner Erklärung zum Jahrestag der sowjetischen Intervention in Afghanistan vom 27. Dezember 1983 an die Verantwortlichen appelliert, „humanitäre Organisationen nicht weiter daran zu hindern, der leidenden Bevölkerung in Afghanistan Unterstützung zu gewähren". Ich denke, darin stimmen wir alle überein.Die Leiden der Bevölkerung sind gerade auf dem Lande am größten, wo viele Menschen durch Kampfhandlungen ihr Leben verlieren oder verletzt werden, wo Dörfer zerstört werden und anderen Siedlungen durch Vernichtung der Ernten die Lebensgrundlage entzogen wird. Hier müssen Wege gefunden werden, den notleidenden Menschen unmittelbar zu helfen.Mit dem Entschließungsantrag wird ein wesentlicher Beitrag geleistet, die Probleme Afghanistans im Bewußtsein unseres Volkes wachzuhalten und private und öffentliche Stellen zu weiterer Hilfe zu ermutigen. Das Engagement vieler privater Spender und Organisationen ist ein Beweis für die starke Anteilnahme unserer Bürger an den Leiden der afghanischen Bevölkerung. Ich werde Sorge dafür tragen, daß dieser Entschließungsantrag allen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland übermittelt wird,
und zwar mit der Weisung, vom Inhalt dieses gemeinsamen Entschließungsantrages in den eigenen Gesprächen an den Orten der Vertretungen aktiv Gebrauch zu machen.Der Antrag ist für die Bundesregierung auch ein Aufruf, alle Möglichkeiten für eine wirksame humanitäre Hilfe zugunsten der in immer stärkerem Maße durch die Kämpfe betroffenen Menschen in Afghanistan auszuschöpfen. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereits in vielfältiger Weise die Opfer des Konflikts in Afghanistan unterstützt. Wir sind uns alle darin einig, daß wir weiterhin den notleidenden Menschen, und zwar rasch und effektiv, helfen müssen. Das sollte gegenüber grundsätzlichen Auseinandersetzungen, Herr Kollege Reents, im Augenblick das Wichtigste sein. Die Bundesregierung wird Anstrengungen in diesem Sinne ausweiten und verstärken.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 10/1499 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen aus der Fraktion der GRÜNEN mit den Stimmen der Mehrheit des Hauses angenommen.
Ich rufe den Punkt 36 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Reschke, Daubertshäuser, Dreßler, Dr. Holtz, Frau Huber, Menzel, Dr. Mertens , Reuschenbach, Dr. Steger, Urbaniak, Kretkowski, Meininghaus, Toetemeyer, Schröer (Mülheim), von der Wiesche, Wieczorek (Duisburg), Westphal, Dr. Klejdzinski und der Fraktion der SPD
S-Bahn-Verbindungen im mittleren Ruhrgebiet
— Drucksache 10/1352 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag — ich betone — bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Reschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der SPD- Bundestagsfraktion auf Drucksache 10/1352 hat zum Ziel, die verkehrspolitischen Bemühungen der Gemeinden zum Ausbau des Schnellbahnsystems im Revier, bestehend aus S-Bahn und U-Bahn, weiter voranzubringen.Die Gemeinden haben sich dazu in mehreren Sitzungen ihrer Stadträte geäußert; die Stadt Velbert z. B. schon 1980, Herr Schemken, in ihrem Wirtschaftsausschuß, der Rat der Stadt Essen erst vor wenigen Wochen. Zum Beispiel schreiben die Städte Essen, Bottrop und auch Marl dazu: Die Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs ist eine entscheidende Voraussetzung für die Verbesserung des Lebenswertes und der Wirtschaftskraft des Ruhrgebiets, des Bergischen Raums und deren Ballungsrandzonen. Entsprechend dieser Entschließung der Räte der genannten Städte sollten wir versuchen, das, was in den vergangenen Jahren aus den Kassen von Bund und Ländern in die Ballungsrandzonen des Ruhrgebietes geflossen ist, fortzuführen.Gemeinsam haben Bund und Länder bis Ende 1983 1,22 Milliarden DM für den S-Bahn-Ausbau im Ruhrgebiet und in den Ballungsrandzonen investiert. Der Bestand an S-Bahn-Ausbauverträgen beinhaltet noch ein Bauvolumen von rund 800 Millionen DM. Diese 800 Millionen DM werden zum größten Teil bis Ende 1986 — man spricht von dem S-Bahn-Finanzierungsberg — investiert, d. h. ver-
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Reschkebaut werden. Unsere Bemühung muß dahin gehen, gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen für 1985 und folgende den Fünfjahresplan fristgerecht fortzuschreiben, um nach Fertigstellung der verschiedensten S-Bahn-Bereiche und Auslaufen der Bauvolumina Anschlußaufträge in den verschiedensten Bereichen vorliegen zu haben.Beantragt ist hier der S-bahnmäßige Ausbau der Nahverkehrsstrecke N 9, zur Zeit im Takt befahren von Haltern über Bottrop nach Essen, Langenberg, Neviges bis hin nach Wuppertal-Vohwinkel. Seit geraumer Zeit weist diese Strecke, die ungefähr seit zweieinhalb, drei Jahren in den verschiedensten Abschnitten im Takt befahren wird, eine erhebliche Zunahme der Fahrgastzahlen auf. Die Größenordnung, meine ich, ist es wert, hier genannt zu werden. Bezogen auf das Jahr 1978 in Reisenden-Kilometern je nach Streckenabschnitt und Zählung des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr sind Zunahmen zwischen 18 und 36 % zu verzeichnen, und das alles bei vorsintflutlichem Bundesbahngerät unterschiedlichster Art. Ich kann nur einfach einmal darauf hinweisen — die Praktiker aus der Region vor Ort kennen es —: Alte Diesellocks fahren größtenteils unter Stromleitungen. Elektrifizierung gibt es dort kaum. Bahnsteige sind nicht angepaßt.Bundesbahngerät, Bahnhöfe und Parkplätze, städtebauliche Verbesserungen und die Elektrifizierung der Reststrecke von Steele über Langenberg, Neviges bis nach Wuppertal stellen den Investitionsbedarf dar.
— Das können wir einmal machen. Wir fahren gemeinsam die Strecke ab. Ich lade Sie herzlich dazu ein.Es ist erstaunlich, daß die 80 Millionen DM für diese 32 km Kabel fehlen, wo doch zur Zeit fast die ganze Bundesrepublik für Milliarden verkabelt wird.Für die zukünftige S 9 ist schon eine erhebliche Vorweginvestition getätigt worden. Erst in diesem Jahr noch ist gemeinsam mit Zustimmung des Bundes der Ausbau des S-Bahn-Haltepunkts EssenHolthausen bewilligt worden.Zu den bestehenden Strecken S 1 und S 6, die in Betrieb sind, gehört die Planung einer Nahverkehrsstrecke Essen-Kettwig-Heiligenhaus-VelbertNeviges, also eine Querverbindung zwischen der zukünftigen S 9 und der S-Bahn Düsseldorf.Wir schließen uns mit dieser Forderung als SPD- Bundestagsfraktion ausdrücklich dem Votum des Wirtschaftsausschusses der Stadt Velbert an, der 1980 — ich zeige Ihnen gleich das Protokoll, Herr Schemken — ausdrücklich im Zuge des Wegfalls der A 31 diese öffentliche personennahverkehrsmäßige Anbindung gefordert hat.
Die südliche Ballungsrandzone mit weit über 10 000 Einwohnern im Bereich des Reviers erhält dadurch einen attraktiven Nahverkehrsanschluß.
Die Weiterverfolgung des S-Bahn-Ausbaus der Linien S 2 und S 4, von Dortmund kommend, ist eine verkehrs- und strukturpolitische Konsequenz für das nördliche Ruhrgebiet auf Grund der bisherigen Investitionen. Wir meinen, es gibt guten Grund, den Ausbau der fehlenden Nord-Süd-S-Bahn-Verbindung anzupacken, weil die jetzige S 1 verkehrspolitisch vom Betrieb, vom Fahrgastaufkommen und vom Betriebsergebnis her ein Torso bleiben wird und bleiben muß, wenn die fast anderthalb bis zwei Millionen Menschen in Ruhrgebiet-Mitte, Ruhrgebiet-Nord, in der Ballungsrandzone Nord, in Ruhrgebiet-Süd, in der Ballungsrandzone Süd und im Raum Wuppertal nicht angeschlossen werden.Die Gesamtinvestitionen schätzen wir auf rund 800 Millionen DM. Herr Schemken, damit wir uns richtig verstehen — ich spreche Sie speziell als Velberter an —: Wir sehen darin Zuwachsinvestitionen für den Verkehrsinfrastrukturbereich, weil wir der Auffassung sind, daß dadurch keine sinnvolle notwendige Straßenplanung verhindert werden soll.Die Infrastrukturwirkung dieser Investitionen für das Ruhrgebiet im Bereich Städtebau, Freizeit, Umwelt und nicht zuletzt für die Strukturerneuerung ist von unschätzbarem Wert. Dem auslaufenden S-Bahn-Bauvolumen wird hier etwas entgegengesetzt, was arbeitsmarktentlastend und arbeitsplatzerhaltend für den Bereich Anlagen, Stahl, Hoch- und Tiefbau wirkt.
Die Arbeitslosenzahlen im Ruhrgebiet im Vergleich zu 1982 sollten Ihnen ein klein wenig zu denken geben. Ich nehme einmal das Gebiet des Kommunalverbands Ruhrgebiet. Am 30. April 1982 hatten wir dort eine Arbeitslosenquote von 9,6 %; 185 000 Menschen waren arbeitslos. Am 30. April 1984 waren über 270 000 Menschen arbeitslos. Das entspricht einer Quote von 14,2 %. Setzen Sie voraus, daß in den nächsten zwei Jahren ein Vertragsvolumen von 400, 600 oder 800 Millionen DM wegfallen wird. Sie können sich vorstellen, wie es dann in den Bereichen Anlagenbau, Stahl, Industriebau, Gleisbau, Oberbau, Unterbau und was alles dazugehört aussehen wird.Ich will hier nicht zitieren, was der Deutsche Industrie- und Handelstag am 13. April 1984, einem Freitag — hoffentlich ist das in der Geschichte kein schwarzer Freitag —, geäußert hat. Er hat eine Erklärung zur Lage der Verkehrsfinanzen abgegeben. Er schreibt — wegen der Kürze der Zeit will ich nur kurz zitieren —, daß der vorn Bundesverkehrsminister verwaltete Investitionshaushalt „in den vergangenen Jahren lediglich zur Konsolidierung der Bundesfinanzen beigetragen hat".Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion kann und darf es nicht Ziel einer Verkehrspolitik sein, daß man sie einer
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5420 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Reschkereinen Fiskalpolitik unterordnet. Sie hat struktur- und ordnungspolitische Bedeutung.
Am 29. Februar 1984 — ich muß mich noch einmal darauf beziehen — berichtete die NRZ in Essen über eine Tagung der CDU im Ruhrgebiet. Dort hieß es:Die Bundesregierung will ihre Bemühungen, dem notleidenden Revier mit Finanzspritzen zu helfen, noch weiter verstärken. Dies erklärte der Staatsminister im Bundeskanzleramt, Friedrich Vogel, vor dem Bürgerforum zum Auftakt des CDU-Kommunalwahlkampfes.Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Revier haben wir nichts davon, wenn Sie uns jede Woche und jeden Tag dreimal erklären, Sie lieben uns. Sie müssen es einfach mal tun durch praktische Beweise.
Bei dieser Bundesregierung sieht die Praxis der Unterstützung des Landes und der Gemeindeverkehrspolitik für NRW in vielen Bereichen ja bitter aus. Verkehrsminister Volker Hauff hatte 1981 150 Millionen DM und 1982 199 Millionen DM zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt, und im Entwurf des Haushalts 1983 hatte er 159 Millionen DM zusätzliche Finanzmittel im Bereich der GVFG-Finanzierung bereitgestellt.
Der Wende fielen 1983 59 Millionen DM zum Opfer. Für 1984 hatte Bundesverkehrsminister Volker Hauff zugesagt, wiederum 150 Millionen DM bereitzustellen, um Einbußen beim Mineralölsteueraufkommen — um diesen Topf ging es — für den öffentlichen Personennahverkehr auszugleichen. Auch dies wurde nach der christlich-liberalen Wende nicht eingehalten.Herr Präsident, ich komme zum Schluß. Das Land NRW und die Gemeinden mußten größtenteils Vorfinanzierung beim U-Bahn- und Stadtbahnbau leisten, um nicht Baustellen stillegen zu müssen. Nicht angefangene Vorhaben wurden ganz besonders beim Stadtbahnbau nach hinten geschoben.Wer dem Ruhrgebiet helfen will, muß dies mit Haushaltszahlen tun und nicht mit Schlagzeilen in den Medien.
Stimmen Sie der Überweisung zu, und sagen Sie im Verkehrsausschuß ja zur Weiterführung des S- Bahn-Baus im Ruhrgebiet!
Das Wort hat der Abgeordnete Milz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Rede des KollegenReschke gehört hat, glaubt man, auf der einen Seite sei in Nordrhein-Westfalen die Welt in Ordnung, und auf der anderen Seite sei Nordrhein-Westfalen das Land, in dem die Bundesregierung überhaupt nicht tätig sei.
Ich will versuchen, auf einige Fakten aufmerksam zu machen, die entweder sowohl dem Kollegen Reschke wie auch der gesamten SPD-Fraktion nicht mehr bekannt sind oder die man bewußt verdrängen möchte.Meine Damen und Herren, uns allen ist klar, daß die starke Konzentration von Wohnungen, Arbeitsplätzen und kommunalen Einrichtungen im Verdichtungsraum des Ruhrgebietes ein geeignetes S- Bahn-System erfordert. In diesem Gebiet übernimmt die S-Bahn sowohl überregionale als auch regionale Verkehrsaufgaben.Es ist jedoch in hohem Maße unverständlich, wenn sich der Deutsche Bundestag mit einem Antrag befassen muß, der gar nicht hierher gehört. Der hier vorliegende Antrag zählt zu den Papieren, die hinsichtlich ihrer Realisierung von vornherein keine Aussichten haben. Der Grund für die vergebliche Mühe bei der SPD liegt darin, daß die SPD- Genossen zwar von Herrn Daubertshäuser bis zu Herrn Dr. Vogel
geschlafen haben oder mit diesem Antrag vertuschen wollen, daß ihre Genossen in NordrheinWestfalen den Überblick über die S-Bahn-Planung völlig verloren haben,
was übrigens, meine Damen und Herren, in Nordrhein-Westfalen in der Zwischenzeit in fast allen Politikbereichen der Fall ist.
Falls also die Antragsteller dies noch nicht wissen sollten, so muß ihnen gesagt werden, daß das Land der Intitiator sein muß, wenn Bundesmittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für die weiterführenden Strecken der Linien S 2 und S 4 fließen sollen.
Meine Damen und Herren, diese Mittel stehen dem Land nach den Richtlinien für dieses Projekt auch zu, aber sie müssen erst einmal beantragt werden. Bis heute hat das Land Nordrhein-Westfalen weder für die vergangenen Jahre solche Anträge gestellt, noch liegt für dieses Jahr ein entsprechender Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen vor.
Meine Damen und Herren, ich nenne es Heuchelei,wenn man auf diese Weise den Versuch unternimmt, vom Rednerpult des Deutschen Bundesta-
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Milzges her Einfluß auf den Kommunalwahlkampf zu nehmen.
Jetzt, da jeder weiß, daß vorerst keine der weiteren Gelder für S-Bahn-Vorhaben in diesen Raum fließen können, vermag dieser Täuschungsantrag nichts mehr zu bewirken. Es nützt auch nichts, die Bereitstellung von Finanzmitteln für den Streckenabschnitt von Velbert bis Neviges zu verlangen, den das Land Nordrhein-Westfalen noch nicht einmal in dem aktualisierten S-Bahn- und Stadtbahnbedarfsplan berücksichtigt hat.
Diese Strecke ist vom Land Nordrhein-Westfalen unter „möglicher weiterer Bedarf" eingestuft worden. Meine Damen und Herren, es wäre schon gut, wenn Sie erst einmal Ihre eigenen Genossen aus ihrem Tiefschlaf aufwecken würden, damit die ihre Hausaufgaben machen, was bisher offenbar nicht geschehen ist.
Wo bleibt denn hier der politische Sachverstand, der bei der SPD total verlorengegangen zu sein scheint? Ich halte es nicht nur für eine Zeitvergeudung, sondern auch für eine Zumutung für uns Abgeordnete, mit einer derartigen Initiative befaßt zu werden, die grundsätzlich erst Länderangelegenheit ist.Die SPD-Antragsteller blamieren sich ferner damit, daß weder Bau- noch Finanzierungsverträge für diese Strecken vorliegen. Wenn also die Bereitstellung von Finanzmitteln im Rahmen der Förderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz erfolgen soll, so ist das nicht möglich, weil diese zwingende Voraussetzung fehlt.Dieser Antrag beweist einmal wieder, in welch oberflächlicher Art und Weise die SPD ihre Arbeit versieht.
Sie darf sich deshalb nicht wundern, wenn ihr zu Recht vorgeworfen wird, ungenügenden Sachverstand zu haben und unfähig zu sein, konstruktive Arbeit zu leisten.
Ich füge eines hinzu: Dieser Antrag zeigt auch, wie recht Konrad Adenauer gehabt hat, der einmal sagte: Sozialisten sind zum Rechnen kaum fähig.
Damit Sie aber erkennen, daß wir der Meinung sind, daß man in diesem Bereich schon etwas tun kann — —
— Herr Vogel, Sie mögen in Ihrer Fraktion in derPose eines Oberlehrers mit Ihren Genossen umgehen, wir sind in der Unionsfraktion einen anderen Umgang gewohnt und werden uns nicht dazu anhalten lassen,
das zu tun, was Sie praktizieren.
Meine Damen und Herren, ich lade Sie ein: Wenn Sie für einen Teil dieses Raumes etwas tun wollen, dann setzen Sie sich mit uns dafür ein, daß 1985
der notwendige Anschluß des Raumes Velbert/Neviges, d. h. des niederbergischen Raumes, über die A 44 an das Autobahnnetz der Rheinschiene geschaffen wird.
Setzen Sie sich mit dafür ein, daß dies geschieht! Dann sichern Sie Arbeitsplätze,
dann tun Sie etwas für diejenigen, von denen Sie zwar ständig reden, für die Sie aber in Wirklichkeit nichts tun. Das wäre besser, als über die 35-Stunden-Woche zu diskutieren.
Ich komme zum Schluß. Angesichts der aufgezeigten Mängel hätte ich die Bitte an die SPD-Fraktion, ihren Antrag zurückzuziehen.
Natürlich werden wir der Überweisung an den Ausschuß zustimmen, aber ich sage Ihnen jetzt schon: Diesem Antrag werden wir in der Sache, weil er erhebliche Mängel aufweist, auf die ich aufmerksam gemacht habe, unsere Zustimmung versagen. Wir halten ihn für schlecht begründet und deshalb schlechterdings nicht für zustimmungsfähig.
— Ich wußte gar nicht, daß Vögel auch schreien können.
Meine Damen und Herren, es ist 23 Uhr. Der Abgeordnete Kohn ist unser nächster Redner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal, so geht es mir jedenfalls, stellt sich zu einem politischen Problemzusammenhang eine sinnliche Assoziation ein. Als ich zum ersten Mal die Drucksache „S-Bahn-Verbindungen im mittleren Ruhrgebiet" las, fiel mir ein Refrain ein, und zwar der Refrain aus dem Lied der Schlagersängerin Gitte Haenning der heißt:
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5422 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 74. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Juni 1984
Kohn„Ich will alles, ich will alles, und zwar sofort." —
Sie brauchen jetzt keine Sorgen zu haben, daß ich Ihnen das vorsingen werde. Als ich nämlich über die Konsequenzen der Verwirklichung des Antrags der SPD-Fraktion nachdachte, blieb mir Gittes Refrain buchstäblich im Halse stecken.Sicher ist es richtig, was in dem neuen verkehrspolitischen Konzept des Deutschen Städtetages über den öffentlichen Personennahverkehr ausgesagt wird. ÖPNV ist im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr raum- und energiesparend, kostengünstig für den Benutzer und umweltfreundlich zugleich. Ich stimme auch damit überein, daß ÖPNV geeignet ist, die Mobilität der Bevölkerung ressourcen- und umweltschonend zu gewährleisten und eine gesunde Stadtentwicklung zu ermöglichen. Die Formulierungen des Deutschen Städtetages sind zwar etwas pointiert, aber in der Tendenz zutreffend. Nur, der ÖPNV muß eben auch solide finanzierbar sein und bleiben.
Und der Bürger muß — das ist für uns Liberale selbstverständlich — die freie Wahl des Verkehrsmittels haben.Ausgehend von diesen beiden Prämissen ist unsere Marschrichtung klar. Ich zitiere hier aus dem Kabinettsbeschluß zur Deutschen Bundesbahn vom 17. November des verganenen Jahres. Dort heißt es:Der Bund steht nach wie vor zum Engagement der DB im öffentlichen Personennahverkehr. Dies kann jedoch angesichts der drastischen Steigerungen der Defizite allein im Schienenpersonennahverkehr der DB von 1,8 Milliarden DM im Jahre 1970 auf 4,5 Milliarden DM im Jahre 1982 nicht uneingeschränkt gelten. Vielmehr muß auch hier der Grundsatz der Begrenzung staatlicher Subventionen Anwendung finden. Das heißt, auch der gesamtwirtschaftlich und verkehrspolitisch wichtige ÖPNV der DB muß auf Dauer finanzierbar bleiben.Um es ganz klar zu sagen: Diesem Maßstab einer finanziell soliden Verkehrspolitik entspricht der SPD-Antrag nicht.
Aber das ist leider noch gar nicht alles.
Auch in der Sache selbst ergeben sich Unstimmigkeiten. Was fordern Sie denn? — In Stichworten: erstens Planungsaufträge an die Deutsche Bundesbahn zum S-Bahn-mäßigen Ausbau von zwei Strecken, zum zweiten Mittel, um im Vorgriff auf diesen Streckenausbau jetzt schon elf Verbesserungen vornehmen zu können, und drittens Mittel bereitzustellen für eine weitere S-Bahn-Verbindung. Soweit so gut.Nun, meine Damen und Herren, was ist aber Sache? Die Streckenabschnitte Essen - Bottrop - Gladbeck - Gelsenkirchen - Buer - Marl sowie Velbert - Neviges - Wuppertal - Vohwinkel fallen unter die Kategorie „Planung". Die Streckenabschnitte Marl Mitte - Haltern und Kettwig Stausee - Heiligenhaus - Velbert fallen unter die Kategorie „Möglicher späterer Bedarf". Der Streckenabschnitt Velbert - Neviges ist gar nicht aufgenommen. Auf welches Planungsdokument habe ich mich hier bezogen? Nicht auf ein Papier der Bundesregierung, sondern auf den aktualisierten S-Bahn- und Stadtbahn-Bedarfsplan des von ihren politischen Freunden regierten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.Da es sich hierbei um Vorhaben handelt, für die eine Förderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz in Betracht kommt, müßte j a vorausgesetzt werden, daß die jeweiligen Verträge zwischen der Deutschen Bundesbahn und dem Land Nordrhein-Westfalen abgeschlossen werden. Ich frage jetzt die Kollegen von der SPD-Bundestagsfraktion: Liegen denn solche Verträge vor? Oder gibt es entsprechende landespolitische Initiativen Ihrer politischen Freunde? Ich frage weiter: Erscheint es Ihnen denn wirklich sinnvoll, für Vorhaben, die vielleicht in den 90er Jahren anstehen mögen, der Bundesbahn schon heute Planungsaufträge zu erteilen? Ich muß mich wirklich wundern. Was haben Sie denn für ein Planungsverständnis, was für ein Wirtschaftsverständnis? Sie haben wohl einen Mißgriff in den Papierkorb sozialistischer Planwirtschaft getan.
Meine Damen und Herren, Sie streuen doch den Bürgern, den auf öffentliche Nahverkehrsmittel angewiesenen Arbeitnehmern des Ruhrgebiets nur Sand in die Augen.Sodann möchte ich noch auf eine besonders aparte und reizvolle Seite des Problems hinweisen, nämlich den heutigen Kostendeckungsgrad des ÖPNV im Ballungsraum Rhein-Ruhr. Eines vorab: wer Verkehrsdienstleistungen fordert, so berechtigt sie auch sein mögen, der muß sie auch bezahlen; es gibt keine Verkehrsdienstleistungen zum Nulltarif, und mit dem Geld des Steuerzahlers darf doch wohl kein verkehrspolitisches Schlaraffenland finanziert werden. Von allen Verkehrsballungsräumen hat der Raum Rhein-Ruhr mit 24,1 % den niedrigsten Kostendeckungsgrad. Ich zitiere hier aus einem Papier der Deutschen Bundesbahn, das sich auf das Jahr 1983 bezieht. Die Ausgleichsleistungen des Bundes betragen 368,6 Millionen DM.Meine Damen und Herren, das muß man sich einmal klarmachen: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Partei der selbstverschriebenen Solidarität, fordert einen von Wunschträumen inspirierten Warenhauskatalog von ÖPNV-Investitionen erheblichen Umfanges für den Rhein-RuhrRaum. Wo bleibt eigentlich Ihre Solidarität mit den übrigen neun Ballungsräumen dieser Republik, wo Ihre Solidarität mit dem ÖPNV im ländlichen Raum? Gibt es denn dort keine Arbeitnehmer, die auch ein Anrecht auf ein funktionierendes öffentliches Nahverkehrssystem haben?
Hinzu kommt, daß 1984 bis 1988 mehr als 44 % derBundesmittel für den S-Bahn-Bau nach Nordrhein-
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KohnWestfalen fließen werden. Für mich ist das in Ihrem Antrag zum Ausdruck kommende Verhalten schierer Opportunismus.Ein weiterer Aspekt soll wenigstens noch angesprochen werden. Es kann ja wohl nicht wahr sein, daß der Löwenanteil der Finanzmittel nur in die Gebiete abfließen soll, die bereits mit funktionierenden Nahverkehrssystemen ausgestattet sind. Im Rhein-Neckar-Raum beispielsweise sind wir eben dabei, schrittweise einen Verkehrsverbund aufzubauen. Wo bleibt Ihre Solidarität, meine Damen und Herren, mit diesem wichtigen Wirtschaftsraum der Bundesrepublik?Nein, meine Damen und Herren, die Zielsetzung Ihres Antrags geht am Problem vorbei. Die Absicht ist allzu durchsichtig.
Sie hätten eine Anfrage an die Bundesregierung richten sollen, eine Anfrage, was zu tun ist, um wenigstens den Kostendeckungsgrad Rhein-Ruhr auf den Durchschnitt der anderen Ballungsräume anzuheben.
Dies haben Sie nicht getan. Ich füge hinzu: natürlich nicht, denn in Nordrhein-Westfalen — wir wissen es alle — ist Kommunalwahlkampf; also satteln Sie drauf ohne Rücksicht auf Verluste, mit einem Antrag, den Sie nicht gestellt hätten, wenn Sie im Hohen Haus die Mehrheit hätten. Jedenfalls will ich das zu Ihren Gunsten unterstellen. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen einen kostenlosen Rat zu geben, den Rat des großen Liberalen Reinhold Maier, der einmal im Wahlkampf seinen Gegnern zurief: Oh, glaubet au net alles, was ihr saget.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Drabiniok.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freunde des Automobils! Von der bahnfeindlichen Politik der Bundesregierung ist auch der weitere Ausbau des S-Bahn-Netzes betroffen. In den Leitlinien zur Konsolidierung der Deutschen Bundesbahn heißt es dazu — ich zitiere —:Für den Bau neuer S-Bahnen in den Ballungsräumen ist Voraussetzung, daß dem Bund und der Deutschen Bundesbahn keine neuen Folgekosten entstehen.Unabhängig davon, wie die Bundesregierung diesen Leitsatz interpretieren mag, möchte ich zuerst einmal den Wunsch unserer Fraktion aussprechen, daß dieser Leitsatz sinngemäß ganz besonders für den Neubau von Bundesstraßen und Autobahnen gelten möge. Die Folge wäre eindeutig. Es würde nicht ein weiterer Kilometer Bundesstraße gebaut werden; denn selbstverständlich entstehen durch jeden neuen Straßenkilometer die entsprechenden Folge-kosten für Unterhaltung und Reparaturmaßnahmen. Auf das Problem der Auswirkungen auf den Verkehrshaushalt durch die Folgekosten des Straßenbaus hat auch der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schulte bereits des öfteren aufmerksam gemacht.Wir bedauern, daß es keinen entsprechenden Leitsatz der Bundesregierung zur Konsolidierung des Verkehrshaushalts gibt, der den Bau neuer Straßen davon abhängig macht, daß keine Folgekosten entstehen. Genau das soll aber nun für den S- Bahn-Bau gelten. Hier wird wieder einmal überdeutlich: Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Diese Bundesregierung ist der Ansicht, daß auf der einen Seite dem Steuerzahler mögliche Folgekosten auf Grund des Ausbaus des Schienennetzes nicht zugemutet werden können, auf der anderen Seite jedoch scheut sie nicht davor zurück, demselben Steuerzahler nach wie vor kräftig in die Geldbörse zu greifen, wenn es darum geht, weitere Straßenbauvorhaben mit den entsprechenden Folgekosten zu finanzieren.Die Bundesregierung sollte sich statt dessen zum Leitsatz machen, künftig nur noch solche Verkehrsträger zu finanzieren, die einen Folgenutzen erbringen. Auch wenn Sie es nicht mehr hören können, möchte ich Ihnen nochmals die gesamtgesellschaftlichen Vorteile der S-Bahn aufzählen:
— Es hört gar keiner mehr zu.Erstens. Die S-Bahn benötigt nur etwa ein Zehntel der Fläche — gegenüber dem Pkw-Verkehr —, um die gleiche Anzahl von Personen zu befördern.
Zweitens. Die S-Bahn verursacht mit zirka 59 dBA weniger Lärm als der Pkw-Stadtverkehr mit zirka 70 dBA.
Drittens. Die S-Bahn benötigt bei gleicher Verkehrsleistung etwa fünfmal weniger Energie als der Pkw-Verkehr.
Zudem wird der erforderliche Bahnstrom zu über 90 % aus heimischer Kohle gewonnen, so daß der S- Bahn-Betrieb weitestgehend unabhängig von Versorgungskrisen ist. Der Pkw-Verkehr hängt vollständig von Mineralölprodukten ab.
Viertens. Während die S-Bahn ein äußerst sicheres Verkehrsmittel ist, werden jährlich im Straßenverkehr — insbesondere im Stadtverkehr — Tausende von Menschen getötet und gar Hunderttausende von Menschen verletzt. Das erfolgversprechendste Verkehrssicherheitskonzept ist unangefochten immer noch die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene.Fünftens. Die S-Bahn ist ein soziales Verkehrsmittel.
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DrabiniokNur 40 % der Bundesbürger verfügen selbständig über ein Auto. Die S-Bahn steht allen zur Verfügung.
Viele Bevölkerungskreise sind auf die Bahn sogar zwingend angewiesen, z. B. Schüler, Jugendliche, ältere Menschen und Behinderte.Sechstens. Die S-Bahn ist ein attraktives Verkehrsmittel. Nach Inbetriebnahme der S-Bahn-Linie 1 zwischen Bochum und Dortmund fahren dort auf der Schiene z. B. etwa 60 % mehr Fahrgäste als vorher.Siebtens. Die S-Bahn ist an Luftverschmutzung und Waldsterben so gut wie nicht beteiligt. Bereits heute entstehen beim Kraftfahrzeugverkehr bei gleicher Verkehrsleistung bis zu 40mal so hohe Schadstoffemissionen wie beim S-Bahn-Verkehr. Der Emissionswert des S-Bahn-Verkehrs könnte sogar durch den Einbau von Filter- und Entschwefelungsanlagen bei den Kraftwerken noch wesentlich weiter gesenkt werden, wenn diese Bundesregierung nur dazu bereit wäre.Angesichts dieser imponierenden gesamtgesellschaftlichen Vorteile und Folgenutzen der S-Bahn stellt sich die Frage, warum diese Bundesregierung den S-Bahn-Ausbau nun nicht etwa forciert, sondern ihn geradezu abwürgen will.Diese Politik, nicht etwa den Verkehrsträger Straße mit seinen hohen Folgekosten zu bremsen, sondern den Verkehrsträger Schiene mit seinen hohen Folgenutzen, kann nur damit erklärt werden, daß den Regierungsparteien offenbar die Förderung des Spendenflusses seitens der Automobil- und Straßenbaulobby wesentlich wichtiger ist als die Förderung einer Politik der umwelt- und verkehrspolitischen Notwendigkeiten.
Eine solche Politik muß die Förderung des Bahnverkehrs zum Ziele haben. Deshalb begrüßen wir auch prinzipiell die Tendenz des vorliegenden Antrags zum Ausbau der S-Bahn-Verbindungen im mittleren Ruhrgebiet. Allerdings ist dieser Antrag der SPD-Fraktion nur halbherzig und unvollkommen.
Es reicht einfach nicht aus, isoliert den Ausbau der S-Bahn zu fordern, wenn damit nicht ein entsprechender Baustopp für Straßen verbunden wird, Herr Reschke.
Welchen Sinn ergibt es, auf der einen Seite den Bau der S-Bahn-Strecke Wuppertal—Essen zu fordern, wenn auf der anderen Seite parallel dazu — ebenfalls von Wuppertal nach Essen — mit der B 227 n und der B 224 n der Neubau einer vierspurigen Schnellstraße erfolgt?
Welchen Sinn ergibt der Bau der S-Bahn von Essen über Bottrop nach Gladbeck, wenn gleichzeitig die ebenfalls parallel verlaufende Bundesstraße 224 von Essen nach Gladbeck auf sechs Fahrspuren verbreitert werden soll und zusätzlich noch die direkte Straßenverbindung von Bottrop-Ortsmitte nach Gladbeck-Ortsmitte verbreitert und ausgebaut wird?Durch diese Politik der Parallelinvestition in den Straßenbau wird die Konkurrenzsituation bereits zugunsten des Pkw verbessert, bevor der S-BahnBau überhaupt begonnen hat. Wenn ich mir die Namen der Abgeordneten, die diesen Antrag eingebracht haben, einmal genauer betrachte, so finde ich unter ihnen gerade diejenigen aus dem Ruhrgebiet, die sich in den vergangenen Jahren vehement für den Straßenbau eingesetzt haben und damit Mitschuld am Siechtum der Bahn haben.Gerade die SPD war es, die in den vergangenen Jahren den Straßenbau nach Kräften forciert hat.
In dem Zeitraum von 1969 bis 1982, als die SPD noch Regierungspartei war, sorgte sie dafür, daß sich das Autobahnnetz in der Bundesrepublik verdoppelte. Und es waren die SPD-regierten Rathäuser im Ruhrgebiet und das SPD-regierte Land Nordrhein-Westfalen,
die in den vergangenen Jahren dafür sorgten, daß das Straßennetz im Ruhrgebiet immer dichter, schneller und perfekter wurde, und die es auch noch heute tun.Diese Angebotspolitik für den Pkw bei gleichzeitiger Nachfragepolitik bei der Bahn mit den entsprechenden Streckenstillegungen und Fahrplanausdünnungen hat zu einem Rückgang des Verkehrsanteils der Bahn im Personenverkehr von 15,7 % 1960 auf nur noch 6,6 % heute geführt. Wer den Verkehr wirklich auf die Bahn verlagern will, braucht keine neuen Straßen.
Deshalb fordern wir mit dem Ausbau des S-BahnNetzes gleichzeitig einen Baustopp für die entsprechenden Straßenbauprojekte.Ein weiteres Problem ist durch die verfehlte Raumordnungspolitik der vergangenen Jahre entstanden. So haben sich die Siedlungsschwerpunkte, z. B. in Bottrop und Gladbeck, nicht am Bahnhof orientiert, so daß diese Bahnhöfe heute etwas abseits der Ortsmitte liegen.
So wurde z. B. der zentrale Omnibusbahnhof in Bottrop nicht etwa am Hauptbahnhof gebaut, sondern rund eineinhalb Kilometer davon entfernt, in Citylage.Prinzipiell ist es sicherlich sinnvoll, Haltepunkte und Bahnhöfe zu verlegen, um sie den geänderten Siedlungsschwerpunkten anzupassen und damit die
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DrabiniokFehler der Vergangenheit zu korrigieren.. Die im Antrag der SPD enthaltene Forderung, die gesamte S-Bahn-Trasse neu über Bottrop-Ortsmitte und Gladbeck-Ortsmitte zu führen, bringt jedoch erhebliche Probleme mit sich.
— Sie reden sowieso zu wenig. — Wird eine Trassenführung niveaugleich, im Einschnitt oder auf dem Damm vorgesehen, werden gewachsene Stadtstrukturen zerstört. Dutzende von Häusern müßten abgerissen werden, ganze Straßenzüge würden getrennt und Stadtviertel zerschnitten.
Um dies zu vermeiden, wäre der einzige Ausweg eine komplette Tunnellösung, die wiederum enorm kostenträchtig ist.
Deshalb sollte sehr sorgfältig geprüft werden, ob der verkehrspolitische Nutzen einer Neutrassierung durch die Ortsmitte in einem vernünftigen Verhältnis zu den dann entstehenden krassen Eingriffen in die gewachsenen Stadtstrukturen bzw. zu den enorm hohen Kosten steht
oder ob es nicht angepaßtere und kostengünstigere Alternativen gibt, bis hin zu einem Verzicht auf die Neutrassierung.
— Wenn ich Zeit hätte, würde ich auch freier reden.Ich komme zu meinen letzten Sätzen.
Diese Prüfung und Entscheidung sollten allein der Bottroper Bevölkerung überlassen bleiben. Um eine vernünftige Lösung bei der Feinplanung zu finden, wäre die Bundesbahn deshalb gut beraten, wenn sie endlich den Kontakt zur Bevölkerungsuchen würde, damit es beim Ausbau der S-Bahn nicht zu langfristigen Verzögerungen durch Einsprüche und Klagen kommt, weil wieder einmal über den Kopf der Bürger hinweg entschieden wurde.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, es ist doch ganz beachtlich, was so eine kleine Klingel an nächtlichem Interesse an dem S-BahnVerkehr im mittleren Ruhrgebiet bewirken kann.
Ich möchte mich ausdrücklich bedanken. Bei längerem Klingeln hätten wir es vielleicht fast geschafft, den Abgeordneten Jakob Mirscheid auch noch hierher einzuladen.
Aber jetzt liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag auf Drucksache 10/1352 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Verkehr, zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Diese Überweisung ist erfolgt.
Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht überraschen, daß es eine Vereinbarung aller Fraktionen gibt, Punkt 37 der Tagesordnung — Verbesserung der Ausbildungssituation junger Frauen bei der Deutschen Bundespost — heute nicht aufzurufen. Er ist von der Tagesordnung abgesetzt.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Juni 1984, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.