Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, als Nachfolgerin des verstorbenen Abgeordneten Brosi hat die Abgeordnete Frau Dr. Lepsius am 12. April 1984 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die uns bekannte Kollegin und wünsche ihr eine gute Zeit und eine gute Zusammenarbeit.
Am 20. April hatte der Abgeordnete Hauck seinen 60. Geburtstag. Ich wünsche ihm von Herzen Glück und Segen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um den Zusatzpunkt „Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes" — Drucksache 10/1389 — erweitert werden. Ich gehe davon aus, daß es hier keinen Widerspruch gibt, daß Sie einverstanden sind. — Es ist so beschlossen.Nach einer weiteren interfraktionellen Vereinbarung soll Punkt 16 der Tagesordnung betreffend Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 27. Juni 1980 zur Gründung des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist auch das so beschlossen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 2 und 3 auf:2. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1984— Drucksache 10/827 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/1379 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Potthastb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/1390 —Berichterstatter: Abgeordnete Sieler Dr. FriedmannFrau Seiler-AlbringKleinert
3. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die dreizehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz
— Drucksache 10/1149 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/1366 —Berichterstatter: Abgeordneter Louvenb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/1391 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler Dr. FriedmannFrau Seiler-Albring Verheyen
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für diese beiden Tagesordnungspunkte eine gemeinsame Beratung mit einer Runde vereinbart. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
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4836 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Präsident Dr. BarzelDann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verabschiedung des Rentenanpassungsgesetzes ist eine gute Nachricht für 14,6 Millionen Rentner. Die Bundesregierung ist ihrer Ankündigung treu geblieben, die Renten pünktlich zu erhöhen. Wir halten, was wir versprochen haben, aber wir versprechen auch nicht mehr, als wir halten können.Verläßlichkeit ist die Grundlage einer soliden Politik. Auf Verläßlichkeit sind besonders die Rentner angewiesen; Rente muß kalkulierbar bleiben. Für die Rente kann nicht gestreikt werden. Deshalb ist der Gesetzgeber gegenüber den Rentnern in ganz besonderen Treuepflichten. Der Gesetzgeber muß so etwas wie der Treuhänder der Rentner sein.Zum 1. Juli 1984 werden die Renten um 3,4 % angehoben. Da die Rentner aber mit weiteren 2 % an den Kosten der Krankenversicherung beteiligt werden, verbleibt ihnen eine effektive Rentenerhöhung von 1,3 %. Von diesem Wert war auch die Bundesregierung ausgegangen, als wir den Gesetzentwurf im Dezember eingebracht haben. Zwischenzeitlich sah es einmal so aus, als müßte der Prozentsatz nach unten korrigiert werden. Gott sei Dank hat sich mittlerweile herausgestellt — das ist auch die letzte Ermittlung des Statistischen Bundesamts —, daß 3,4 % die konkrete Bemessungsgrundlage sind.Zum erstenmal wird 1984 die Rente aktualisiert. Das heißt: Maßstab der Rentenerhöhung ist nicht mehr — wie in der Vergangenheit — eine durchschnittliche Lohnentwicklung, die im Zeitpunkt der Rentenanpassung bereits zwei bis vier Jahre zurückliegt; zukünftig ist die Lohnentwicklung des Vorjahres maßgeblich. Damit werden Rentner und Lohnempfänger näher zusammengeführt. Die Aktualisierung der Rentenanpassung macht also auch den Solidaritätsgedanken deutlicher.
Alt und jung, die Lohnempfänger und die Rentner sitzen in einem Boot. Der Abstand hat ja zu häufig zu Mißverständnissen geführt: Einmal war die Lohnerhöhung höher, und die Rentner fühlten sich benachteiligt; ein andermal war es umgekehrt. Wir bringen also durch diese Aktualisierung auch mehr Plausibilität in das Rentenversicherungssystem.Die Beteiligung der Rentner an der Krankenversicherung ist nicht die Erfindung dieser Bundesregierung. Sie wurde bereits im Jahr 1978 in das 21. Rentenanpassungsgesetz eingeführt. Aber ich will hier ausdrücklich betonen: Ich habe die Richtigkeit dieser Maßnahme nie bezweifelt. Ich verstecke mich hier nicht hinter meinen Vorgängern. Denn auch ich glaube, es wäre auf die Dauer nicht zumutbar, daß für die Krankheitskosten der Rentner ausschließlich die aktiven Arbeitnehmer aufkommen. Der vorgesehene Eigenbeitrag der Rentner ist sozial gerechtfertigt, zumal da er — auch darauf muß hingewiesen werden — nur einen Teilder tatsächlichen Krankheitskosten deckt. Um es in Zahlen auszudrücken: 3 % Krankenversicherungsbeitrag machen 3,9 Milliarden DM aus; 5 % Krankenversicherungsbeitrag 1985 machen 6,6 Milliarden DM aus. Die tatsächlichen Krankheitskosten der Rentner betrugen 1983 allein 36,5 Milliarden DM. Sie sehen, daß durch den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner nur ein Teil der Kosten gedeckt wird, die die Krankenversicherung der Rentner verursacht. Insofern ist es ein zumutbarer Solidaritätsbeitrag, diesmal der Alten für die Jungen.Schließlich ist zu berücksichtigen, daß mit der schrittweisen Beteiligung der Rentner an ihren Krankenversichungsbeiträgen mit 1, dann 3, später 5 % das Ziel einer gleichgewichtigen Entwicklung der Renten und der verfügbaren Arbeitnehmereinkommen annähernd erreicht wird. Ich gehe davon aus, daß es unsere gemeinsame Überzeugung ist, daß die Renten so steigen sollen wie die verfügbaren Einkommen. Diese Parallelität zwischen dem Einkommen der Älteren durch Rente und dem Einkommen der Jungen durch Lohn entspricht unserer gemeinsamen Überzeugung.Im Durchschnitt des Jahres 1984 steigen die Renten um 2,9%. Das ist eine komplizierte Rechnung. Ich will mich nicht hinter komplizierten Rechnungen verstecken; das kann dann jeder nachprüfen. Wenn man den Jahresdurchschnitt ermitteln will, muß man im ersten Halbjahr 1984 noch die Rentenerhöhung aus 1983 berücksichtigen; die wirkte j a erst im zweiten Halbjahr 1983. Das waren nach Abzug des Krankenversicherungsbeitrags 4,6 %. Jetzt ist die Erhöhung 1,3 %. 4,6 % und 1,3 % müssen zusammengezählt und durch 2 geteilt werden, damit sich der Durchschnitt ergibt. Das sind 2,9 %. Ich will mich gar nicht in die Feinheiten der höheren Mathematik begeben. Das sind einfache Grundelemente der Durchschnittsrechnung. 2,9% — das zeigt, daß wir uns einigermaßen in Parallelität mit der Entwicklung der Nettoeinkommen der Arbeitnehmer bewegen.Die gleiche Durchschnittszahl gilt für die Renten der Kriegs- und Wehrdienstopfer, für Impfgeschädigte, für Opfer von Gewalttaten und andere gleichgestellte Personenkreise.Sie sehen: Trotz des dringenden Konsolidierungsbedarfs der öffentlichen Haushalte, trotz der Arbeitslosigkeit haben wir den Rentenanpassungstermin gehalten.Noch etwas. Nur in diesem Jahr und im Jahr 1977 war das Nettorentenniveau höher als 65%. Das sind die beiden Jahre mit Nachkriegsrekord. Auch darauf können wir gemeinsam stolz sein, ohne deshalb selbstzufrieden zu werden.Aus aktuellem Anlaß will ich auch an die Tarifpartner appellieren, bei ihren Tarifverhandlungen auch an die Rentner zu denken. Die Rentner sitzen nämlich mittelbar bei jeder Tarifrunde mit am Verhandlungstisch.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4837
Bundesminister Dr. BlümWürden die Tarifparteien den Verteilungsspielraum allein für eine verkürzte Arbeitszeit nutzen,
koppelten sie die Rentner vom Ergebnis der wirtschaftlichen Gesundung ab.
Null-Runden können sinnvoll sein, wenn nichts zu verteilen da ist. Aber wenn wieder Wachstum da ist, dann, meine ich, haben alle Anspruch, an den Früchten dieses Wachstums beteiligt zu werden. Und wenn Wachstum nur in mehr Freizeit umgesetzt werden soll: Die Rentner brauchen nicht mehr Freizeit; die haben Freizeit. Deshalb muß bei der Verteilung dessen, was wieder zu Verteilung ansteht, auch an die Rentner gedacht werden. Deshalb darf der Verteilungskonflikt nicht so geführt werden, als ginge es nur um die Arbeitszeit.Mit dem Rentenanpassungsgesetz 1984 wird auch der Dynamisierungsverbund erweitert. Bisher waren nur die Altershilfe für Landwirte und die Kriegsopferversorgung in diesem Anpassungsverfahren. Jetzt beziehen wir auch die Unfallversicherung in diesen Anpassungsvorgang ein. Auch das, meine ich, erhöht wiederum die Schlüssigkeit des Systems. Es ist doch schlüssig, daß alle Renten im gleichen Maße steigen, daß die einen nicht davonlaufen, während die anderen zurückbleiben, sondern daß es hier eine parallele Entwicklung gibt. Diese Harmonisierung hat mit Gleichmacherei überhaupt nichts zu tun; denn die Eigenständigkeit der einzelnen Sicherungsinstitutionen bleibt weiterhin erhalten.Die Erhöhung der Renten ist solide finanziert. Die Liquiditätssituation der Rentenversicherung stellt sich in diesem Jahr günstiger dar, als wir sie im Rentenanpassungsbericht 1983 ursprünglich angenommen hatten.
— Ja, das ist, wie ich glaube, überhaupt ein Erkennungszeichen unserer Politik. Wir haben hier wie anderswo immer die unteren Möglichkeiten der erwarteten Entwicklung in unsere Rechnungen eingestellt.
— Mir ist es lieber, wir rechnen mit schlechteren Entwicklungen und haben dann bessere in den Kassen, als umgekehrt.
Zum Jahresende 1983 war die Schwankungsreserve um 1,1 Milliarden DM höher, als im Rentenanpassungsbericht geschätzt. Auch wenn wir einkalkulieren müssen, daß Mindereinnahmen bei den Beiträgen aus Sonderzahlungen, vom Krankengeld und eventuell höhere Aufwendungen bei Gesundheitsmaßnahmen oder Renten wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit noch möglich sind, kann dennoch gesagt werden, daß unsere Rechnung solide fundiert ist.Ich will auf ein Risiko aufmerksam machen: das Risiko eines Arbeitskampfes. — Das ist nicht Einmischung in den Tarifkonflikt, sondern es ist die Verantwortung der Bundesregierung, auf mögliche Folgen für die Rentenversicherung hinzuweisen, damit jeder, der an die Wahlurne einer Urabstimmung geht, weiß, was von seiner Stimmentscheidung abhängt. Wenn 1 Million Arbeitnehmer einen Monat streiken oder ausgesperrt sind, verliert die Rentenversicherung über eine halbe Milliarde DM Einnahmen. 1 Million, das ist ein Viertel der Arbeitnehmer in der Metallindustrie.
Ich sage das zunächst ohne jede Bewertung. Jeder muß wissen, was er tut. Streik betrifft nicht nur die Streikenden, Streik betrifft nicht nur die Unternehmer, Streik ist nicht nur eine Kampfmaßnahme auf dem Arbeitsmarkt, er hat auch Folgen für die Rentenversicherung. Und das muß auch angesichts der Liquiditätslage hier zur Sprache gebracht werden, um auf die Verantwortung hinzuweisen, die beide Tarifpartner haben.
— Ich rede nicht nur von Streik, ich rede auch von Aussperrung.
Ich bedanke mich ausdrücklich für den Zwischenruf. Ich halte das gar nicht für eine Korrektur. Es dreht sich um Streik und Aussperrung.Ich bleibe bei der festen Absicht, in Sachen Rentenpolitik ein hohes Maß von Gemeinsamkeit zwischen Regierung und Opposition zu suchen. Rentenstreit schafft Unsicherheit, und Unsicherheit ist die Mutter von Angst. Und das haben unsere älteren Mitbürger wahrhaftig nicht verdient.
Unsere älteren Mitbürger haben sich durch Arbeit und Beitragszahlungen den Anspruch auf eine sichere Rente selber verdient. Und die Jüngeren stehen in der Pflicht, für die Älteren zu sorgen. Sie erwerben sich dadurch, daß sie dieser Pflicht nachkommen, auch das Recht, später, in ihrem Alter, von der dann nachwachsenden Generation genauso behandelt zu werden.Insofern ist unsere Rentenpolitik Ausdruck der Generationensolidarität und die heutige Gesetzgebung ein Akt konkreter Solidarität zwischen alt und jung. Sie ist auch der Ausdruck unseres Respektes vor der Lebensleistung der älteren Generation.
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Bundesarbeitsminister, es ist bezeichnend für Sie, daß Ihnen der Hinweis auf Aussperrung, daß Ihnen der Hinweis auf
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Heyenndie Verantwortung der Arbeitgeber erst auf einen Zwischenruf eingefallen ist.
Wer hier mit einer halben Milliarde an Ausfällen für die Rentenversicherung durch einen einmonatigen Streik rechnet, der sollte sich doch vielleicht auch einmal fragen, ob nicht auch eine halbe Milliarde Beitragsausfälle durch eine dilettantische gesetzliche Regelung bei der Einbeziehung der Einmalzahlungen zustande gekommen sind. Diese halbe Milliarde haben Sie, Herr Bundesarbeitsminister, zu verantworten.
Sie sagen, das sei eine gute Nachricht. Ich will Ihnen zugeben: Das hört sich zunächst gut an. Die Renten werden entsprechend der Bruttolohnsteigerung des letzten Jahres um 3,4 % erhöht. Aber dann kommt gleich die Ohrfeige: Der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag steigt von 1 auf 3 %. Wer subtrahieren kann, weiß: Es bleiben 1,3 %, und die erst vom 1. Juli an. Das ewige Dazurechnen des ersten Halbjahres ist doch gleichzeitig das Verschweigen, daß man die Rentenanpassung um ein halbes Jahr hinausgeschoben hat und erst jetzt das zahlt, was für die Rentner eigentlich schon im vorigen Jahr fällig gewesen wäre.
Bei einer Preissteigerungsrate 1984 — Herr Kolb, es wird nicht besser, wenn es lauter wird —, die wohl ganz erheblich über 2,5 % liegen wird, wird in erschreckender Weise deutlich, daß die Rentner eine reale Einkommenseinbuße erleiden. Das ist halt nicht der Gleichklang, Herr Bundesarbeitsminister.
Das ist nicht das erste Mal. Denn im letzten Jahr betrug die Rentenanpassung bezogen auf das Jahr bei einer Preissteigerungsrate von ungefähr 3 % weit weniger, nämlich 2,3 %.Da gibt es noch etwas. Herr Blüm, Sie haben gesagt: Wir, diese Regierung, halten, was wir versprochen haben. Mit der Androhung, den Rentenkrankenversicherungsbeitrag jeweils nicht um 1, sondern 2 % anzuheben, hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 — das ist gar nicht lange her — gesagt, daß dabei die Klein- und Kleinstrentner nicht in unzumutbarer Weise belastet werden.
Bei minus 2 % haben Sie Wort gehalten. Wo es aberum die kleinen und Kleinstrenten geht, ist nichtsvon der versprochenen Rücksichtnahme zu spüren.Bezüglich der Kleinrentner ist nicht Wort gehalten, sondern Wort gebrochen worden.
Die Kleinrentner sind dank Ihrer Politik in wachsender Zahl auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen.Beide Anpassungsgesetze — für die Rentenversicherung und für die Kriegsopferversorgung — bringen eine völlig unzureichende Erhöhung. Wir Sozialdemokraten — ich sage das offen — hatten Schwierigkeiten, uns zu einem Ja durchzuringen. Unser Ja erfolgt zähneknirschend. Dabei erkläre ich für meine Fraktion ausdrücklich: Die Bundesregierung und die Koalition haben mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984 kurzfristig nicht änderbare Fakten geschaffen. Unsere Zustimmung zum Anpassungsgesetz 1984 und zur Anpassung der Kriegsopferrenten bedeutet keinesfalls eine generelle Zustimmung zur Rentenpolitik dieser Regierung. Unsere grundsätzliche Kritik bleibt bestehen. Denn die Rentenpolitik dieser Regierung ist Stückwerk, unsozial und einseitig gegen die Rentner gerichtet.
Die Bundesregierung spielt mit gezinkten Karten, wenn sie im Gesetzentwurf davon redet, die Anpassung bedeute Mehraufwendungen von 5,3 Milliarden DM, aber nicht sagt, dal3 2 % von den 3,4 % durch den Krankenversicherungsbeitrag abgezogen werden und weniger als 21/2 Milliarden DM übrigbleiben. Um es konkret zu sagen: Wer 1 000 DM Rente bekommt, erhält ab 1. Juli 13 DM mehr. Wer 10 Millionen DM Betriebsvermögen hat, der spart ab 1. Januar 1984 mehr als 1 000 DM im Monat
und mit den richtigen Abschreibungen mehr als 2 000 DM im Monat. Almosen für die sozial Schwachen, kräftige Geschenke für die Begüterten: Für mich heißt dies Endzeitstimmung auch für den sozialen Rechtsstaat.
Zurück, Herr Kolb, zu den so häßlichen Zahlen. Im Jahresdurchschnitt wird die Rente eines Durchschnittsverdieners nach 40 Versicherungsjahren 1 268 DM betragen.
Ohne diese Maßnahmen, die Sie zu verantworten haben, nach dem Rechtsstand, den wir Ihnen hinterlassen haben, würde sich diese Rente auf 1 324 DM belaufen. Das wären 4,4 % mehr, und das wäre, hochgerechnet auf 1986, ein Minus von gut 8 %.Zusätzlichen Schutz hatte Helmut Kohl den Empfängern kleiner Renten 1982 versprochen. Bei diesen Empfängern kleiner Renten bilden ältere Frauen eine große Gruppe. Viele geraten durch Sie an die Grenze der Armut. Die Benachteiligung für die Frauen durch niedrige Löhne, Frauenlohnabschläge, ein vielfach unterbrochenes Arbeitsleben, durch den Zwang, Erwerbstätigkeiten ohne Versicherungsschutz hinzunehmen, all dieses prägt den Lebensstandard und den sozialen Status vieler
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HeyennFrauen noch im Rentenalter. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, soziale Kontakte, all das verkümmert. Diese Frauen werden isoliert und vereinsamen. Die Busfahrt in die Stadt wird zum finanziellen Problem. Da mag der Bundesarbeitsminister noch so lachen, diese ganz spezielle Frauenarmut macht Mitbürgerinnen, denen wir vieles zu verdanken haben, zu Außenseitern der Gesellschaft.
Bei 700 DM Rente — und das haben Hunderttausende von älteren Frauen in dieser Republik — gibt es eine Erhöhung von 9,10 DM ab 1. Juli dieses Jahres.
Wie war das mit dem Kanzlerversprechen zugunsten der kleinen Rentner? Was hat das mit Menschenwürde zu tun?Diese magere Anpassung kann die Bundesregierung auch nicht unter dem Stichwort „Erbschaft" abhandeln. Sie hat diese Probleme selbst geschaffen. Sie betreibt Haushaltskonsolidierung auf dem Rücken der sozial Schwachen und bedient gleichzeitig mit der Gießkanne diejenigen, die haben. Sie hat 1982 die Rentenversicherungsbeiträge der Arbeitslosen mehr als halbiert, hat den Rentenversicherungsträgern 5 Milliarden DM an Beiträgen weggenommen und damit den Bundeshaushalt entlastet. Die Rentenanpassung wurde um ein halbes Jahr verschoben. Der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag wird stärker, als früher durch uns vorgesehen, angehoben. Die Aktualisierung — an sich günstig und eine vernünftige Sache — bedeutet aber, in diesem Jahr eingeführt, einen immensen Nachteil für die Rentner mit einer dauernden Senkung des Nettorentenniveaus.
Das Krankengeld wurde gekürzt; der Kinderzuschuß wird durch diese Rentenpolitik der neuen Regierung teilweise um mehr als 100 DM verringert. Das ist ein brutales Vorgehen, wenn man weiß, wie hoch EU- und BU-Renten sind. Die Ansprüche von Versicherten auf Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit werden gestrichen, wenn in den letzten fünf Jahren nicht mindestens drei Jahre gearbeitet wurde
und wenn man nicht in der Lage ist, regelmäßig Beiträge zu zahlen. Ältere Frauen mit gesundheitlichen Einschränkungen, denen Sie die Rentenansprüche nehmen, kann ich nur empfehlen, noch bis zum 30. Juni, dem Stichtag, Antrag auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu stellen, denn Sie schließen ihnen vielfach für ein Jahrzehnt die Möglichkeit aus, überhaupt in Rente zu gehen.Diese Rechnung zahlt insgesamt der Rentner. Ist es nicht zynisch, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, heute den Rentnern zu nehmen und heute gleichzeitig zu diskutieren, wie man denn durch steuerliche Entlastungen den mittlerenund höheren Einkommen mehr geben kann, alles an einem Tag?
Die Opfer der Krise, die sozial Schwachen werden ihrem Schicksal überlassen, die Wohlhabenden teilen sich die Beute.Eine Änderung durch dieses Gesetz, von der CDU initiiert, betrifft die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung. Wir tragen sie mit. Die zweite materielle Änderung geht auf unsere Initiative zurück; wir haben den Vorschlag dann interfraktionell eingebracht. Sie soll bewirken, daß Kinderzuschüsse zur Rente nicht mehr dem Krankenversicherungsbeitrag unterliegen.Leider konnten wir uns mit unserem Antrag zur orthopädischen Versorgung im Rahmen des Bundesversorgungsgesetzes nicht durchsetzen. Es hat nur zu einer Entschließung gereicht, die wir mittragen, die aber nur einen schwachen Trost darstellt, denn wir alle wissen, daß es bei der orthopädischen Versorgung auch von Kriegsbeschädigten große Probleme gibt. Hier wäre in diesem Jahr ein Handlungsbedarf vorhanden gewesen.
Meine Damen und Herren, erstmals in der Geschichte der Rentenversicherung werden in diesem Jahr die Renten auf Pump finanziert. Ich will das gar nicht vertiefen. Wäre dieser Zustand in unserer Regierungszeit eingetreten, hätte die bürgerliche Presse das Bild einer grandiosen Pleite gezeichnet.
Heute sagt eben dieselbe Presse: Meine Güte, wer hat denn nicht schon einmal sein Konto überzogen?
Aber auch mittelfristig, meine Damen und Herren, ist die Finanzlage der Rentenversicherung keinesfalls als stabil zu bezeichnen. Die Annahmen der Bundesregierung sind optimistisch bis zum Gehtnicht-Mehr und sind nur dann real, wenn das wirtschaftliche Wachstum bis 1988 Jahr um Jahr deutlich über dem Produktivitätszuwachs liegt.
Daran aber hat selbst Graf Lambsdorff Zweifel, wenn er sich zufällig einmal in der Bundesrepublik aufhält.
Jede weitere Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation
wird dank Ihrer Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge der Arbeitslosen sofort auf die Rentenversicherung durchschlagen.Auf die langfristigen Strukturprobleme der Rentenversicherung haben Sie bisher keine Antwort
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Heyenngegeben. Obwohl die Zeit drängt, fehlt ein Gesetzentwurf zur Reform 1984. Das hätten Sie, Herr Blüm, nicht nötig gehabt. Sie haben den konsensfähigen Grundgedanken der Teilhaberente ohne Not verlassen, haben sich auf den Weg eines obskuren Anrechnungsmodells begeben und geraten nun in den Strudel der Interessenvertreter. Was dabei mit der Herausnahme verschiedenster Einkommensbereiche aus der Anrechnung herauskommt, wird ein weiterer Beitrag nicht zur Harmonisierung, sondern zur Entharmonisierung unserer sozialen Sicherungssysteme sein.
Auf die Fragen, wie denn in den 90er Jahren unser Rentenberg finanziert werden soll, wie die Lasten sozial gerecht auf Rentner, Beitragszahler und Staat verteilt werden sollen, wie die Generationensolidarität dauernd gesichert werden kann, sind Sie bisher jede Antwort schuldig geblieben. Das Gutachten der Sachverständigenkommission zur Begutachtung der Alterssicherungssysteme, das die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten des heutigen Zustandes sehr eindringlich darstellt und das Vorschläge für konkrete Reformen macht, hat diese Bundesregierung fallengelassen wie eine heiße Kartoffel.Der Bundesarbeitsminister hat immer wieder davon gesprochen, Rentenpolitik über die Parteigrenzen hinaus machen zu wollen. Den Worten sind keinerlei konkrete Taten gefolgt.
Ich will zusammenfassen.
— Wenn Sie meine Ausführungen als Luftblasen bezeichnen
und wenn Sie sagen, wenn bei 700 DM Rente eine Erhöhung um 9,10 DM kritisiert wird, sind das Luftblasen, dann merke ich, daß Ihnen diese Kritik und diese für die Rentner häßlichen Zahlen sehr peinlich sind.
— Immer mit Ihrer Zustimmung, Herr Kollege!
Wenn Sie denn einmal zugehört hätten, wäre Ihnen auch deutlich geworden, daß ich unsere zähneknirschende Zustimmung angekündigt habe.
Dennoch will ich Ihnen zusammenfassend folgendes sagen:Erstens. Diese Rentenanpassung ist blamabel. Wer unten nimmt, den Haushalt sanieren will und oben gibt, der kann natürlich zu keinem anderen Ergebnis kommen.Zweitens. Erstmals werden im Herbst die Renten auf Pump gezahlt.
Bei Sozialdemokraten haben die sozialen Sicherungssysteme immer Wasser unter dem Kiel behalten. Bei Norbert Blüm laufen sie auf Grund.
Drittens. Dem Bundesarbeitsminister ist nichts eingefallen, um die — —
— Natürlich haben auch wir unsere Vergangenheit, Herr Kollege Jagoda. Aber es ist nie dahin gekommen, daß wir Renten auf Pump gezahlt haben. Das führen Sie ein. Das kommt in diesem Jahr.
Lassen Sie mich zum Ende kommen. Wir wollen, daß die Rentenversicherung wieder flottgemacht wird. Wir vermissen jeden Ansatz einer konkreten Rentenpolitik hierzu.Viertens. Herr Bundesarbeitsminister, es war eine sehr leise Rede, die Sie gehalten haben;
wahrscheinlich nach dem Motto: Was ich heute morgen hier sage, das macht doch nichts, das merkt doch keiner. Ich sage Ihnen: Was der Blüm tut, merkt jeder in seinem Portemonnaie.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Heyenn, ich möchte nur eine Zahl aufgreifen, die Sie genannt haben. Sie zeigt eigentlich, wie weit Sie sich — und das gilt auch für Ihre Zeit in der Opposition — von der Realität entfernt haben.Sie haben davon gesprochen, daß durch die Einmalzahlungen Beitragsausfälle von 1 Milliarde DM entstünden.
Nach den Schätzungen des Bundesversicherungsamtes per heute sind es ganze 137 Millionen DM, d. h. die Realität ist achtmal besser, als Sie sie dargestellt haben.
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SeehoferDas zeigt eigentlich das ganze Gewicht Ihrer Ausführungen.
Lieber Kollege Heyenn, alle Angstmacherei, alle Zahlentricks können doch über zwei Tatsachen nicht hinwegtäuschen. Erstens. Keine Rente wird gekürzt.
Die Renten werden pünktlich zum 1. Juli 1984 erhöht.
Zweitens. Die Rentner können sich darauf verlassen, daß ihre Rente sicher ist und pünktlich gezahlt wird.
Beides ist überhaupt nur möglich, weil wir nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982 Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Rentenfinanzen eingeleitet haben, die uns heute in die Lage versetzen, darüber zu debattieren, wie die Renten erhöht werden sollen. Wenn Sie weiter regiert hätten, müßten wir heute über die Frage debattieren, wie die Renten denn überhaupt bezahlt werden können.
Herr Kollege Heyenn, selbst eine magere Rentenanpassung ist immer noch besser als überhaupt keine Rente.Ich räume ein, daß unsere Sparmaßnahmen sicherlich schmerzlich waren.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Nein.
Unsere Sparmaßnahmen, Kollege Lutz, waren sicherlich schmerzlich. Aber wenn man einmal zurückblickt, muß man feststellen, daß sie immer noch bescheiden waren gegenüber dem, was die SPD den Rentnern zugemutet hat. Die Regierung Schmidt hat durch ihre Sanierungsgesetze seit 1978 den Rentnern Einbußen von weit mehr als 10 zugemutet.
Wie wir heute wissen, war das alles umsonst.
Trotz dieser Willkürmaßnahmen, trotz dieser Einbußen — im Schnitt 13 % —
haben Sie uns leere Kassen übergeben. Sie haben sämtliche Rücklagen der Rentenversicherungsträger verputzt, verwirtschaftet.
Ich möchte heute daran erinnern, daß die Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung 1974 mehr als neun Monatsausgaben betrugen.
Nicht neun Monatsausgaben, sondern leere Kassen haben Sie uns übergeben und uns dazu gezwungen, Sofortmaßnahmen zu ergreifen.
Heute ist die Lage der Rentenfinanzen geordnet, und wir sind imstande, zum 1. Juli die Renten zu erhöhen. Dies sind Beispiele dafür, daß unsere Politik des Sparens einen Sinn hatte. Heute können die Menschen wieder auf ihre Rente vertrauen. Die Rentenversicherung ist wieder verläßlich geworden. Die Renten werden pünktlich erhöht.Dafür möchte ich vor allem unserem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm sehr herzlich danken.
Er hat durch seine Politik die Renten wieder sicher gemacht.Ein Punkt bei dieser Rentenanpassung 1984 erscheint mir besonders wichtig. Die Anpassung richtet sich heuer erstmals aktueller und schneller als bisher nach der Lohnentwicklung, nämlich nach dem Lohnanstieg des Jahres 1983. Nach dem bisherigen Verfahren wäre der durchschnittliche Lohnanstieg in den Jahren 1980 bis 1982 maßgebend gewesen. Ich füge hinzu: Durch diese Aktualisierung ist nach unserer Auffassung ein wichtiges sozialpolitisches Anliegen erfüllt, nämlich die Tatsache, daß die Einkommensentwicklung von Beitragszahlern und Rentnern nicht mehr auseinanderläuft, wie dies in der Vergangenheit in vielen Jahren der Fall war, sondern näher zueinander gebracht wird.Nach diesem neuen Berechnungsmodus, Herr Kollege Heyenn, und daran läßt sich nichts wegdiskutieren, werden die Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Juli 1984 um 3,4 % angehoben. Effektiv — auch dies ist richtig — beträgt die Rentenerhöhung nur 1,3 %, weil zum selben Zeitpunkt die Beteiligung der Rentner an den Beiträgen für die Krankenversicherung um weitere 2 % wirksam wird.Aber wir dürfen nicht vergessen, daß der Gedanke der Beteiligung der Rentner an ihren Krankenversicherungsbeiträgen auch von der SPD, Herr Kollege Heyenn, im Rahmen des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1982 eingeführt wurde
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Seehoferund daß im Rahmen der Begründung zu diesem Gesetz die damalige Regierung bereits angekündigt hat, daß die Krankenversicherungsbeiträge weiter steigen werden.
Herr Kollege Heyenn, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, daß im Zusammenhang mit einem weiteren Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge auch die Frage geprüft werden muß, wie wie für Kleinstrentner die Krankenversicherungsbeiträge sozial gerecht staffeln können. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.
Um 1,3% steigen auch die Renten nach dem Bundesversorgungsgesetz und die Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung. Gerade im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion in der Landwirtschaft ist darauf hinzuweisen, daß die Altershilfe für die Landwirte dagegen effektiv um 3,4% steigt, da hier die Beteiligung an den Beiträgen für die Krankenversicherung bereits zum 1. Juli 1982 voll wirksam geworden ist.Die Renten werden nicht auf Pump finanziert. Herr Kollege Heyenn, Ihnen ist bekannt, daß die kurzfristigen Liquiditätsschwierigkeiten in diesem Jahr durch das Vorziehen des Bundeszuschusses und durch andere geeignete Maßnahmen überbrückt werden.Vergleicht nun der Rentner sein Renteneinkommen des Jahres 1984 mit dem des Vorjahres, nämlich des Jahres 1983 — nur dies ist ja eine objektive, eine zutreffende Betrachtungsweise —, so sieht er, daß er aufs ganze Jahr gerechnet 2,9% mehr erhält, weil eben im ersten Halbjahr 1984 noch die Erhöhung in Höhe von 4,6 % aus dem Jahre 1983 wirkt.
Lieber Herr Kollege Lutz, es kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß wir eine Politik des stabilen Geldwerts betreiben und daß diese Politik in allererster Linie auch den Rentnern zugute kommt.
Jeder Prozentpunkt weniger Preissteigerung kommt einer entsprechenden Rentenerhöhung gleich; denn letztlich kommt es für den Rentner nicht so sehr darauf an, wie hoch seine Rente ist, sondern was er damit kaufen kann.
Hier ist mir die Inflationsrate von 3% unter Helmut Kohl lieber als die Inflationsrate von 61)/0 bei Ihrem Abgang unter Helmut Schmidt.
Zum Rentenanpassungsgesetz 1984 empfiehlt der Ausschuß einstimmig zwei wesentliche Änderungen, die ich hier noch einmal kurz darstellen möchte.In der Krankenversicherung der Rentner hat sich durch die Beteiligung der Rentner an den Krankenversicherungsbeiträgen eine Benachteiligung für die Rentner ergeben, die trotz Rentenbezugs noch einer Beschäftigung nachgehen. Dieser Personenkreis muß nämlich wie auch alle anderen Pflichtversicherten Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen, daneben aber auch aus der Rente Beiträge zahlen. Die Beitragsbemessungsgrenze gilt also für beide Einnahmearten getrennt. Dieses Ergebnis ist einmalig in der Krankenversicherung, in der Beiträge sonst nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben werden. Zur Vermeidung eines unzumutbaren Verwaltungsaufwandes wollen wir die doppelte Beitragsbemessungsgrenze zwar aufrechterhalten, dem Betroffenen aber die Möglichkeit einräumen, daß er zuviel gezahlte Krankenversicherungsbeiträge erstattet bekommt.Zweitens. Das Kindergeld unterliegt normalerweise nicht der Krankenversicherungspflicht. Durch die Beteiligung der Rentner an ihren Krankenversicherungsbeiträgen werden aber auch die Kinderzuschüsse zur Rente, die das Kindergeld ersetzen, zur Beitragszahlung herangezogen. Hier empfiehlt der Ausschuß nunmehr eine Regelung, und zwar einmütig, nach der bei der Berechnung der Krankenversicherungsbeiträge die Kinderzuschüsse ausgenommen werden.Ich möchte die Bundesregierung und die Träger der Rentenversicherung zu beiden Punkten bitten, die Betroffenen durch stärkere Öffentlichkeitsarbeit besser zu informieren, da hier eine Einzelaufklärung offenbar wegen verschiedener technischer Probleme nicht möglich ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nehmen heute auch den Rentenanpassungsbericht 1983 zur Kenntnis,
und deshalb möchte ich noch eine Bemerkung dazu machen. Nach vielen zielgerichteten Maßnahmen der Rentenkonsolidierung in den letzten Jahren gilt es jetzt, auch das System der gesetzlichen Rentenversicherung in einigen Teilen zu reformieren. Am dringlichsten ist hier wohl die Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung mit dem Ziel der Gleichstellung von Mann und Frau.
Bei der Bedeutung dieser Reform sollten wir uns nach Kräften bemühen, hier in diesem Hause zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Der Rentenanpassungsbericht 1983 mit seiner Prognose über die vermeintliche Finanzentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung macht allerdings sehr klar, daß diese Reform für die Rentenversicherung weitgehend kostenneutral erfolgen muß. Dies be-
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Seehoferdeutet, daß mancher Wunschtraum wohl nicht in Erfüllung gehen kann.In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem an die Bundesregierung eine Bitte richten. Im Zusammenhang mit der Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung sollte, Herr Bundesarbeitsminister, auch ernsthaft geprüft werden, inwieweit die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht möglich ist und über den Bundeshaushalt finanziert werden kann.
Ich meine, daß die außerordentlich wichtige Tätigkeit der Kindererziehung endlich auch die Anerkennung in der Rente finden muß.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Potthast.
Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Guten Morgen, liebe Bürger und Bürgerinnen! „Eine sichere Rente haben ältere Menschen verdient." — Herr Blüm, das waren Ihre Worte. Welche Gültigkeit hat diese Aussage eigentlich für die Frauen? — „Respekt vor der Lebensleistung der älteren Generation", Herr Blüm, das waren Ihre Worte. Ist dieser Respekt eigentlich auch für die älteren Frauen gültig?Die Diskussion um eine Neuordnung der Alterssicherung, die nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1976 im Jahre 1984 stattfinden sollte, wird derzeit nur noch in Expertenzirkeln geführt oder aber hier kurz in lapidaren Nebensätzen erwähnt. Aus der öffentlichen politischen Diskussion ist sie verschwunden. Nirgendwo mehr geht es um den Ausbau einer eigenständigen Alterssicherung der Frau. Die Diskussion dreht sich fast ausschließlich um die Reform der Hinterbliebenenversorgung.Um es auf den Punkt zu bringen: Die Interessen der erwerbstätigen Frauen, die auf Grund ihrer hier oftmals erwähnten benachteiligten Position im Erwerbsleben gewöhnlich viel niedrigere Renten als Männer beziehen, werden durch diese Reformverengung vernachlässigt. Für die Interessen der nicht erwerbstätigen Frauen wird letztlich nur ideologische Schaumschlägerei betrieben; denn beispielsweise die von Herrn Blüm vorgeschlagene Nichtanrechnung von Eigenrenten, sofern sie unter 900 DM bleiben,
täuscht darüber hinweg, daß sehr viele Frauen, ja die weit überwiegende Mehrheit der Frauen — selbst diejenigen mit Ansprüchen auf eine Hinterbliebenenrente —, diese Grenze von 900 DM überhaupt erst gar nicht erreichen.
Die durchschnittliche Versichertenrente der Frauen, d. h. der Durchschnitt der Renten, die auf eigene Erwerbstätigkeit und eigene Beitragsleistungen zurückgehen, lag 1983 in der Arbeiterrentenversicherung bei knapp 424 DM monatlich. Dies entspricht etwa einem Drittel der durchschnittlichen Altersruhegelder der Männer. 60 % der Frauen bezogen gar eine noch niedrigere Rente. In der Angestelltenversicherung lag 1983 die durchschnittliche Versichertenrente für Frauen mit 768 DM bei der Hälfte der Rente, die Männer durchschnittlich beziehen.Frauen, gerade alte Frauen werden hier in der Bundesrepublik in die Armut getrieben. Wo bleibt eigentlich Ihr soziales Gewissen — von Respekt einmal ganz zu schweigen — gegenüber den Frauen, die unter allergrößten Entbehrungen nach dem Krieg aus Trümmern Häuser gebaut haben'?
Dieser Respekt sieht so aus, daß knapp zwei Drittel aller alleinstehenden Frauen mit Sozialhilfe gleichzeitig eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. Das heißt: Diese Frauen sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Die Gründe dafür, weshalb Frauen hier in der Bundesrepublik Sozialhilfe noch zu der Rente beziehen müssen, liegen in der allgemeinen Diskriminierung der Frau in der Gesellschaft begründet;
denn trotz besserer Schulabschlüsse werden Frauen mehrheitlich auf die am schlechtesten bezahlten Erwerbsarbeitsplätze gedrängt oder am besten ganz heraus aus dem Erwerbsarbeitsprozeß. Das heißt: hinein in die Ehe, um schön fleißig Kinder zu produzieren, die dann wieder die Rentenbezüge der Männer sicherstellen können. Frauen haben in der Regel die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen schlechtestbezahlter Berufsarbeit oder unbezahlter Hausfrauenarbeit, sofern ihnen überhaupt eine Wahl bleibt.Wer annimmt, daß es den Frauen von heute im Alter einmal bessergehen könnte, hat sich arg getäuscht; denn auch heute noch treten gerade bei Frauen nicht zuletzt entsprechend dem christdemokratischen Ideologiekonzept der Drei-PhasenTheorie Lücken im Versicherungsverlauf auf, die
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Frau Potthastein späteres Renteneinkommen noch niedriger halten, als es auf Grund unter- und unbezahlter Frauenarbeit ohnehin schon aussehen würde.
Dahinter steckt immer noch das Leitbild der Hausfrauenehe, das mittlerweile durch das soeben erwähnte schicke Drei-Phasen-Modell — Beruf, Kinder, wieder Beruf — etwas modifiziert wurde und dessen fehlender Realitätsbezug verdeckt, daß die Frauen angesichts der Massenarbeitslosigkeit nicht mehr in den Beruf zurückkommen und/oder höchst minderqualifizierte Tätigkeiten zugewiesen bekommen.Die Rentenreformdiskussion Ende der 70er Jahre endete dann auch mit dem Vorschlag der Teilhaberente, d. h. einer Reform der Hinterbliebenenversorgung, bei der nicht im Todesfall des Ehepartners, sondern erst bei eigener Erreichung der Altersgrenze die Teilhaberente als quasi eigenständige Rente gezahlt werden soll. Diesem Modell hatten sich damals alle etablierten Parteien und die Gewerkschaften angeschlossen. Wir halten auch diesen Minimalkompromiß des herrschenden Männersozialkartells, der kostenneutral sein sollte, für völlig ungenügend,
weil er kein Schritt in Richtung auf eine wirklich eigenständige Sicherung der Frau ist.Was ist heute? Heute diskutiert niemand mehr, nicht einmal über die Teilhaberente. Ihr sozialdemokratischen Genossen da drüben auf der Oppositionsbank, als ihr an der Regierung ward, da habt ihr keine einzige Regierungsvorlage zur Rentenreform produziert. Aber ist das ein Wunder? Denn ohne eure eigenen Karrierebegleiterinnen könntet ihr nicht hier sitzen.
Jetzt bleibt es nach den Bundesregierungsplänen bei der abgeleiteten Sicherung der Frau oder, präziser formuliert, bei der bekannten gesetzlichen Rentenverunsicherung. Denn so erleben die Frauen das unwürdige Spiel um ihre wenigen Groschen.In diesem Jahr, 1984, in dem wir über eine Rentenreform zugunsten der Frauen reden sollten, reden wir hier im Deutschen Bundestag über eine geradezu lächerliche Rentenanpassung von 0,65 für das Jahr 1984.Ich möchte mich hier über die technischen Einzelheiten des Rentenanpassungsgesetzes nicht auslassen. Denn hier im Plenarsaal wie auch im federführenden Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung glaubt „mann" immer noch, mit Gerede um technische Einzelheiten menschliche Schicksale zudekken zu können. Deshalb möchte ich mich dabei auf folgende Punkte beschränken.Erstens. Ohne hier irgendwen der Lüge bezichtigen zu wollen, müssen wir wohl von real 0,65 %Erhöhung sprechen und sie gegen die 1,3 % der Regierung halten. Denn ehrlicherweise sollte wir das Jahr am 1. Januar beginnen lassen und nicht, wie die Regierung, am 1. Juli 1984.Zweitens. Viel wichtiger als diese Details ist mir jedoch, daß das Geschwätz von der prozentualen Erhöhung die Realität völlig vernebelt, ja, geradezu verfälscht. Denn wenn eine Frau mit der durchschnittlichen eigenständigen Arbeiterinnenrente von 424 DM eine Rentenerhöhung von 0,65 % erhält, dann erhält sie gerade 2,75 DM monatlich mehr, auf das Jahr 1984 verteilt — wahrlich großzügig, wenn wir uns daran erinnern, wie hier in Selbstbedienungsmanier die Diätenerhöhung pro Abgeordneten im Monat mehr ausmacht als das durchschnittliche Renteneinkommen der Frauen.
— Es ist mehr als ein Skandal.Wenn wir gerade von Zahlenjongliererei in diesem Zusammenhang sprechen, so möchte ich noch auf eine zweite zu sprechen kommen, die uns GRÜNEN ebenfalls sehr am Herzen liegt: den Rentnerinnen- und Rentnerbetrug durch die Manipulation des Bundeszuschusses an die gesetzliche Rentenversicherung. Anknüpfen möchte ich an eine Behauptung, wie sie beispielsweise von dem Kollegen Cronenberg in der ersten Rentenanpassungsdebatte vom 26. Januar 1984 in den Raum geworfen wurde. Er sprach — ich zitiere, um den Unsinn deutlicher werden zu lassen; selbstverständlich mit Erlaubnis des Präsidenten —:
Die Zuschüsse des Bundes an die Rentenversicherungsträger sind, gemessen am Haushalt des Bundes, immer konstant zwischen 9 und 11 % gewesen.Damit möchte Herr Cronenberg dem Vorwurf der GRÜNEN und im übrigen sämtlicher Rentenversicherungsträger begegnen, daß der Bundeszuschuß völlig grundlos von 1957 an von 31,9 % auf ca. 16 % gestrichen worden ist. Die Argumentation von Kollegen Cronenberg ist so typisch wie an der Sache vorbei. Denn entscheidend für die Beurteilung des Bundes an den Rentenausgaben kann nicht sein, wie groß der Bundeshaushalt ist, sondern die Beurteilung muß sich nach den Rentenausgaben richten.Ganz kurz etwas zur Geschichte des Bundeszuschusses. Seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung ist der Zuschuß des Staates — heute „Bundeszuschuß" genannt — Teil der Finanzierung der Alterssicherung. Der ursprüngliche Reichszuschuß bezweckte vor allem den Ausgleich von Lasten, die der Rentenversicherung aus sozialpolitischen Gründen übertragen wurden. Der Bundeszuschuß, der also im Prinzip aus dem Reichszuschuß entstand, ist ein Ergebnis der Rentenreform von 1956/57. § 1389 RVO und § 116 AVG regeln, daß der Bundes-
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Frau Potthastzuschuß nur noch für die Ausgaben gezahlt werden soll, die nicht Leistungen der Alterssicherung sind. Eine getrennte Rechnungsführung bei den Rentenversicherungsträgern hinsichtlich der Leistungen findet nicht statt, so daß das angestrebte Prinzip der Transparenz nicht verwirklicht werden kann.Ich möchte hier daran erinnern, daß unser Antrag vom 23. Juni 1983 „Sofortmaßnahme Erhöhung des Bundeszuschusses der Rentenversicherung", der u. a. vorsah, die Bundesregierung aufzufordern, eine Bestimmung der Fremdleistungen vorzunehmen, leider mehrheitlich abgelehnt wurde, wie das in der Regel bei unseren Anträgen der Fall ist.Die Bundestagsfraktion der GRÜNEN hat einen Modellvorschlag für ein sogenanntes alternatives Rentenmodell für alle entwickelt, das derzeit von einem renomierten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut durchgerechnet wird. Es soll im Sommer 1984 als Diskussionsvorschlag und als grundlegende Alternative zum rentenpolitischen Flickwerk der Bundesregierung und zum abgestandenen Minimalreformismus der Sozialdemokratie an die Öffentlichkeit kommen. Die wichtigsten Elemente dieses Modells sind:Erstens. Eine Grundrente für jede Bürgerin und für jeden Bürger in Höhe von 1 200 DM nach heutigem Preisniveau.
— Herr Kolb, hören Sie einmal zu! — Diese Grundrente gehört steuerfinanziert, wobei wir zur nötigen Erhöhung der Steuereinnahmen ein ganzes Bündel von Vorschlägen machen werden, zu dem u. a. eine Wertschöpfungssteuer, eine Streichung des Ehegattensplitting usw. gehören werden. Die Grundrente ist finanzierbar — Herr Kolb, hören Sie zu —,
wie wir sehen werden, gewiß jedoch nicht ohne eine Umverteilung von oben nach unten. Wahrscheinlich werden auch Sie davon betroffen werden, Herr Kolb. Sie soll ein Grünes sozialpolitisches Grundziel konkret machen, Sozialpolitik heißt vor allem die Vermeidung von Armut.
Zweitens. Eine solche Grundrente bedeutet bereits einen eigenständigen Rentenanspruch für Frauen und Männer. Darüber hinaus soll ein Zusatzsystem — ein öffentliches, kein privates, wohlgemerkt — für eine eigenständige Sicherung von Frauen und Männern Sorge tragen.Um es zusammenzufassen: Es geht uns nicht darum, mehr, mehr und mehr zu fordern, auch wenn dies angesichts der Millionen, die sich Großindustrie und Besserverdienende derzeit in die Taschen streichen, verständlich erscheint. Es geht uns als Ökologen um eine sinnvolle Neuorientierung der Gesellschaftspolitik, in der die Rentenpolitik nicht zuletzt auf Grund des zunehmenden Anteils alter Menschen eine große Rolle spielt. Hier gilt für uns als Prämisse, daß kein Mensch in Armut geraten darf und daß die Frauen eine eigenständige Sicherung benötigen. Erst dann gilt es über das zu reden, was über der Grundrente liegt, über die Pensionen und Betriebsrenten in Bereichen oberhalb von 5 000 DM; und darüber, wie diese zu sichern seien.Ich bin gespannt, was die Herren dazu zu sagen haben.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich darauf hinweisen, daß die Bemerkung „mit Genehmigung des Präsidenten" nicht der Geschäftsordnung entspricht. Der Präsident hat nach unserer Geschäftsordnung nichts zu genehmigen. Er könnte vielmehr umgekehrt auf die Pflicht zur freien Rede nach § 33 der Geschäftsordnung hinweisen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen, Frau Potthast!
Sie haben hinsichtlich unseres alten Streits, was die richtige Bezugsgröße ist — Bundeshaushalt oder Haushalt der Rentenversicherungsträger —, hier heute morgen einiges Richtige und einiges Neue gesagt. Dummerweise ist das Neue nicht richtig und das Richtige nicht neu.
Die Situation ist folgende: Meine These, Frau Potthast, daß sich die Zuschüsse des Bundeshaushalts an die Rentenversicherung um 10 % bewegen, ist durch Ihre heutigen Ausführungen bestätigt worden; das war in der Tat richtig.
Die Frage, welches die richtige Bezugsgröße ist, möchte ich — noch einmal wiederholend — beantworten, indem ich sage: Versicherungsfremde Leistungen — die Rentenversicherung ist ein Versicherungssystem — müssen aus dem Bundeshaushalt, also aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden. Mit Rücksicht auf die Entwicklung bei den Kriegsfolgeleistungen und andere Entwicklungen sinkt dieser Anteil kontinuierlich. Frau Potthast, wir stimmen darin überein, daß wir versicherungsfremde Leistungen, die aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, transparent zu machen, auszuweisen haben. Nach meiner festen Überzeugung wird dann deutlich, daß sie in der Nähe dieses 10-%-Satzes liegen werden. Nachdem Sie nun aus der letzten Diskussion die Erkenntnis mit nach Hause genommen haben, daß die 10% richtig sind, bitte ich Sie, auch über die sich daraus ergebende logische Schlußfolgerung nachzudenken. Vielleicht kommen Sie dann auch zu der richtigen Erkenntnis, daß der Bundeshaushalt — und nicht die Ren-4846 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 3. Mai 1984Cronenberg
tenversicherungshaushalte — die richtige Bezugsgröße ist, so daß wir dann diese Diskussion mit Lust, Laune und Freude fortsetzen können.Nicht nur ältere Bürger fragen sich, wie es mit unserem Alterssicherungssystem weitergeht. Nicht nur ältere Menschen meinen, dies sei eine Gretchenfrage, und zwar nicht nur für unsere älteren Menschen. Die Frage ist berechtigt. Denn unsere Gesellschaft weist einen wachsenden Anteil älterer Mitbürger aus. 40% unseres Sozialbudgets von 524 Milliarden DM, meine Damen und Herren, etwa ein Drittel unseres Bruttosozialproduktes, werden zur Zeit für die Alterssicherung aufgewandt. 30 Millionen Mitbürger sind in der Rentenversicherung pflichtversichert, und 13 Millionen Rentner beziehen Rente. Das heißt in concreto: An jedem Arbeitstag werden ca. 500 Millionen DM an Renten gezahlt.Dieser Umstand gibt Veranlassung, sehr sauber abzuwägen, wie ich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den drei Generationen herstellen kann. Debatten, die mit dem Schlagwort „Renten auf Pump" bewußt Angst machen oder in denen die Einheitsrente ohne Rücksicht auf Beitragsleistung gefordert wird, dienen weder den alten Menschen noch der Sicherheit der Renten. Ich möchte mit vollem Ernst an alle Seiten des Hauses sagen: Ich finde es betrüblich, erschreckend, daß es eine Kontinuität in der Argumentation der jeweiligen Opposition gibt. Immer dann, wenn man in der Opposition ist, versucht man, die alten Menschen durch Angstmachen zu verunsichern. Da sind die einen nicht besser als die anderen; das ist eine unglückselige Kontinuität, die Sie hier praktizieren. Das möchte ich hier einmal mit allem Bedauern feststellen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang für die Liberalen noch einmal grundsätzlich feststellen: Rentenansprüche haben Eigentumscharakter und sind verfassungsrechtlich gesichert. Beitragsleistung und Rente müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Sie sind für viele Bürger die wesentliche — häufig die einzige — Sicherung im Alter oder bei Invalidität. Wer versucht, die alten Bürger zu verunsichern, wer Panik schürt, versündigt sich an diesen alten Mitbürgern. Solchen Versuchen sollten wir alle ruhig, aber energisch entgegentreten.Eindeutige Zielbestimmung in der Rentenpolitik konsequentes Verhalten, Ehrlichkeit an Stelle von Wortblasen — das erwartet der Bürger mit Recht von denjenigen Politikern, die für unsere Renten verantwortlich sind. Das Schielen auf den Schlitz der Wahlurne hilft niemandem, vor allen Dingen nicht unseren älteren Mitbürgern. Machen wir uns nichts vor: Mit dem so technisch erscheinenden Gesetz über die Rentenanpassung werden die Lebensverhältnisse von Millionen von Menschen beeinflußt. Machen wir deutlich, auch den Rentnern deutlich, daß die Finanzierung der Renten entscheidend von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von der Beschäftigtensituation in unserem Land ab-hängt. Es sind die Beiträge der aktiven Generation, mit denen die Renten bezahlt werden. Dahinter steckt die Leistung dieser unserer aktiv arbeitenden Mitbürger. Aber mittel- und langfristig wird die Rente nicht nur durch die Wirtschaftsentwicklung, sondern maßgeblich auch durch die Bevölkerungsentwicklung beeinflußt.Wie schon öfters von dieser Stelle aus festgestellt, haben in den vergangenen Jahrzehnten die beiden grollen Parteien im Wettlauf miteinander Leistung und Umfang in unserem Rentensicherungssystem ausgeweitet. Neue Verpflichtungen können aber nur durch höhere Beiträge bezahlt werden. Höhere Beiträge — das kann nicht oft genug wiederholt werden — bestimmen nun einmal den Preis für den Faktor Arbeit. Der Preis für den Faktor Arbeit bestimmt unsere Wettbewerbsfähigkeit und entscheidet darüber, in welchem Umfang in unserem Land Arbeit ist und somit auch Rentenversicherungsbeiträge hereinkommen. Deswegen muß es unser Bestreben sein, dafür Sorge zu tragen, daß der Faktor Arbeit auch nicht über Rentenversicherungsbeiträge teurer wird.
Es ist nicht Lust am Sparen oder reines fiskalisches Denken, was die Notwendigkeit einer langfristigen Konsolidierung hervorgerufen hat, sondern es sind notwendige und vertretbare Eingriffe gewesen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang feststellen: Diese notwendigen und vertretbaren Eingriffe sind in den Haushaltsstrukturgesetzen der alten Koalition begonnen worden — richtigerweise und dankenswerterweise — und in der neuen Koalition konsequent fortgesetzt worden.
Insofern bin ich froh, daß hier im Sinn einer richtigen Politik eine wünschenswerte Kontinuität festzustellen ist.
Bei der Gelegenheit möchte ich mich bei den Sozialdemokraten ausdrücklich bedanken, daß sie durch Eugen Glombig in der vorigen Debatte hier ein unmißverständliches und klares Ja zur Aktualisierung gesagt haben. Das ist eine richtige, vernünftige und im Prinzip zu begrüßende Feststellung der Sozialdemokraten.
Eine ebenso richtige Feststellung hat er getroffen, als er sagte, daß im Grund genommen der gleichmäßige Anstieg von Rentnereinkommen und Einkommen der Aktiven notwendig und richtig ist. Auch hierfür möchte ich mich bedanken. Denn das sind die Thesen, die ich von diesem Pult seit 1979 vertreten habe. Als ich zum erstenmal für meine Fraktion hier über diesen gleichmäßigen Anstieg sprechen durfte, habe ich von beiden großen Fraktionen nicht gerade begeisterte Zustimmung, sondern massive Kritik erfahren. Mit einer gewissen Genugtuung darf ich darum heute mich selber zitie-
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ren, ohne den Präsidenten zu fragen. Ich habe damals nämlich erklärt:Wir sind für die gleichberechtigte Teilnahme von Rentnern und Arbeitnehmern am allgemeinen Einkommenswachstum. Das ist sachgerecht, das ist vernünftig, und das ist ehrlich. Und was wir nicht wollen, ist, den Eindruck erwecken, als könnten Renten erheblich weiter wachsen, wenn die verfügbaren Einkommen der noch aktiv Beschäftigten stagnieren. Eine Politik, die so vorgehen würde, würde letztlich jede Leistungsbereitschaft, jeden Leistungswillen in Frage stellen.Wenn ich die öffentlichen Äußerungen der beiden Fraktionen heute sehe, müßten diese meine Ausführungen von 1979 eigentlich die allgemeine Zustimmung des Hauses finden. Dies darf ich mit einer gewissen Genugtuung feststellen.
Setzen wir diesen eingeschlagenen Weg beharrlich fort. Wenn die Erhöhung sich in etwa an den Nettosteigerungen der Einkommen der aktiv Tätigen orientiert, dann wird es möglich sein, ohne unzumutbare Beitragssatzerhöhungen bis zum Ende des Jahrhunderts die Rentenentwicklung fortzusetzen.Unter Berücksichtigung der finanziellen Situation der Rentenversicherung werden mit der Reform der Hinterbliebenenversorgung nicht alle Wunschträume realisiert werden können. Im Interesse notwendiger und möglichst großer Kostenneutralität werden wir uns auf das vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene notwendige Maß beschränken müssen.Aber lassen Sie mich in dieser Diskussion noch einige grundsätzliche Bemerkungen machen, die unsere Auffassung wiedergeben. Ich kann mich nicht der Auffassung anschließen, daß Witwen- und Witwerrenten als reine Unterhaltsansprüche und nicht als Versicherungsleistungen zu verstehen sein sollen. Wie Sie wissen, legen wir Liberalen auf das Versicherungsprinzip in der Rentenversicherung außerordentlich großen Wert. Ich möchte deswegen in diesem Zusammenhang klarstellen, Herr Bundesarbeitsminister, daß die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung meiner Auffassung nach so kalkuliert worden sind, daß „das Risiko Ehe" und die Versorgung des überlebenden Ehegatten, des Ehepartners, in den Versicherungsprämien, also in den Beitragsleistungen, Berücksichtigung finden. Wenn Sie so wollen: Das ist einkalkuliert und deswegen auch Versicherungsleistung.Wir müssen bei der Neuregelung der Hinterbliebenenrente, bei allem Respekt vor der Kostenneutralität, sehr darauf achten, daß nicht eine Gruppe von Frauen einseitig zur Kasse gebeten wird. Die Diskussion der vergangenen Monate hat gezeigt, daß keines der bisher diskutierten Modelle den Anforderungen und Wünschen gerecht wird. In aller Offenheit möchte ich auch zugeben, daß das früher von allen Parteien, auch von uns, auch von mir, favorisierte Modell der Teilhaberente zahlreicheProbleme aufwirft, die ich mit dieser Deutlichkeit vorher nicht gesehen habe. Nicht alle Beteiligten sind sich offensichtlich der Tatsache bewußt gewesen, daß auch die Teilhaberente Probleme im Zusammenhang mit Anrechnungen enthält. Diese müssen wir bei den zukünftigen Diskussionen berücksichtigen.Unabhängig davon, wie und für welches Modell wir uns letztendlich entscheiden, halte ich es für die Akzeptanz der Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung für dringendst erforderlich, daß die Kindererziehungszeiten berücksichtigt werden. Dies ist eine alte liberale Forderung. Dies sollte ebenso wie andere versicherungsfremde Leistungen nicht von der Solidargemeinschaft der Versicherten, sondern von der Allgemeinheit, der Solidargemeinschaft der Steuerzahler, bezahlt werden.
Auch hier befinde ich mich in der Kontinuität meiner Argumentation.
— Mein lieber Egon Lutz, wir beide haben sehr lange zusammengearbeitet; um nennenswerte Fortschritte zu erzielen, ist es erforderlich gewesen, Geduld aufzuwenden. Ich bitte den Kollegen Lutz für diese Koalition um die gleiche Geduld, die er in der Vergangenheit von den Kollegen der Opposition verlangt hat. Wir werden auch in dieser Sache in aller Ruhe und Sachlichkeit zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt zu einem positiven Ergebnis kommen,
von dem ich hoffe, daß ihm sogar die sozialdemokratische Fraktion, indem sie ihren eigenen Vorstellungen treu bleibt, zum Schluß, wenn nicht begeistert, so doch — wie nennt der Kollege Heyenn dies? — mit der Faust in der Tasche zustimmen kann.
Ich muß leider auf den Rest meiner Ausführungen zu grundsätzlichen Fragen verzichten; denn sonst bekomme ich — wie mir die Uhr zeigt — von dem Herrn Präsidenten ein Warnzeichen.Ich darf deswegen zum Abschluß noch einmal deutlich machen: Für die Liberalen hat die Alterssicherung durch den Drei- Generationen-Vertrag eine ganz hohe Bedeutung. Der faire Ausgleich zwischen den drei Generationen, den in der Ausbildung Befindlichen, den aktiv Tätigen, die die Beiträge erwirtschaften, und den Rentnern, die ihre berechtigten Ansprüche gegenüber der Solidargemeinschaft geltend machen, verlangt bei wachsendem Alterskoeffizienten, bei einem größer werdenden Anteil von alten Menschen, ein vernünftiges Verhalten. Jede überproportionale Steigerung der Renten wäre im Interesse der Rentner unverantwortlich. Wer das Volumen der zu verteilenden Masse mit der Folge zu erhöhen versucht, daß es insgesamt weniger Arbeit und weniger zu verteilende Masse gibt, wird allen schaden, der zukünftigen Ge-
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neration, der Aktiven-Generation und den Rentnern. Dies kann und wird nicht Ziel liberaler Rentenpolitik sein.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. — Ich schließe die allgemeine Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, habe ich die große Freude, auf der Ehrentribüne des Deutschen Bundestages begrüßen zu können: den Präsidenten der Nationalversammlung der Demokratischen Republik Somalia und die Mitglieder seiner Delegation, die aus Berlin zu uns nach Bonn gekommen sind. Ich heiße Sie herzlich im Deutschen Bundestag willkommen.
Herr Präsident, meine Kollegin und meine Kollegen, wir danken für diesen Besuch, für die nützlichen Gespräche, und wir sind bereit, unsere gute Zusammenarbeit auszubauen und zu vertiefen.
Ich habe außerdem die Freude, auf der Diplomatentribüne den Präsidenten der Liberalen Internationalen, Senator Dr. Malagodi, zu begrüßen. Herzlich willkommen in Bonn! Wir freuen uns auf die Gespräche mit Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir kommen dann zur Einzelberatung und Abstimmung, zunächst über Tagesordnungspunkt 2. Ich rufe die Art. 1 bis 4 — Einleitung und Überschrift — in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.
Wir treten in die dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung über Tagesordnungspunkt 2. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist damit angenommen.
Im übrigen hat der Deutsche Bundestag die Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 10/560 zur Kenntnis genommen.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3. Ich rufe die Art. 1 bis 3 — Einleitung und Überschrift — in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.
Wir treten in die dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem
Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte
ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? —
Enthaltungen? — Das Gesetz ist damit angenommen.
Meine Damen und Herren, es ist noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/1366 unter Ziffer 2 die Annahme einer Entschließung. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist damit angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 und 5 auf:
4. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege
— Drucksache 10/1062 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege
— Drucksache 10/1063 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers
— Drucksache 10/1064 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Im Ältestenrat ist für diese Tagesordnungspunkte eine gemeinsame Beratung mit einer Runde vereinbart. — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Zur Begründung hat Frau Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Frau Karwatzki, das Wort erbeten. Ich erteile ihr das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Entwürfen eines Krankenpflegegesetzes und eines Hebammengesetzes, die heute zur ersten Beratung anstehen, ist eine wechselvolle und langjährige Vorgeschichte vorangegangen. Der Versuch früherer Bundesregierungen, diese wichtigen Regelungen für Gesundheitsberufe entsprechend dem Berufsbildungsgesetz zu gestalten, mußte scheitern,
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Parl. Staatssekretär Frau Karwatzkiweil dabei die Eigenart der Gesundheitsberufe im allgemeinen und die der Krankenpflege und der Hebammentätigkeit im besonderen nicht berücksichtigt wurden.Man kann nicht einfach Berufe, deren vornehmste Aufgabe der Dienst am Menschen ist, die nach wie vor in fast allen Fällen von engagierten Mitmenschen wahrgenommen werden, die sich dazu aus ihrer religiösen Grundeinstellung verpflichtet fühlen, mit den Berufen der gewerblichen Wirtschaft gleichstellen wollen. Ich möchte festhalten, daß es gerade die entschiedene Haltung der CDU/ CSU-Fraktion in der Opposition und der CDU und CSU in den Ländern in der Regierungsverantwortung war, die diese Entwicklung verhindert hat.Die ideologische Verhärtung der heutigen Opposition hat damit entscheidend dazu beigetragen, daß die längst überfällige Regelung für die beiden Berufe so lange hinausgezögert worden ist.Ich wünsche mir, daß auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, anerkennen können, daß wir uns bemüht haben, einen Entwurf vorzulegen, der von Ideologie frei und auf die sachlichen Erfordernisse der karitativen Gesundheitsberufe zugeschnitten ist. Es ist zu bedauern, daß infolge der Haltung der heutigen Opposition die dringend fällige Neuordnung dieser beiden wichtigen Gesundheitsberufe so lange hinausgeschoben worden ist. Wären nicht die Krankenpflegeschulen von sich aus schon dazu übergegangen, die Ausbildungen an die Entwicklung in unseren Nachbarstaaten anzupassen, dann wäre die Krankenpflegeausbildung in unserem Lande weit hinter jene Anforderungen zurückgefallen, die seit dem Jahre 1967 entsprechend dem Europäischen Übereinkommen zur Krankenpflegeausbildung Maßstab in Europa sind. Hier ist ein Wort des besonderen Dankes an alle Träger von Krankenpflegeschulen angebracht, die nicht erst den Gesetzgeber abgewartet haben, sondern in der Verantwortung um das Wohl der Patienten, aber auch im Interesse der Krankenpflegeschüler gehandelt haben.Seit über einem Jahrzehnt wird von allen Beteiligten eine umfassende Neuregelung der Berufe in der Krankenpflege für notwendig gehalten. So hatte der Deutsche Bundestag bereits im Jahre 1972 die Bundesregierung ersucht, eine grundsätzliche Neuordnung der Ausbildung in der Krankenpflege vorzubereiten. Auch die Konferenz der Ländergesundheitsminister hatte sich verschiedentlich in diesem Sinne geäußert. Seitdem sind zahlreiche Regelungsvorschläge erörtert worden. Dem Deutschen Bundestag haben sowohl in der 8. als auch in der 9. Legislaturperiode Gesetzentwürfe der Bundesregierung zur Krankenpflegeausbildung vorgelegen. Das parlamentarische „Aus" war für beide Entwürfe aus den eingangs erwähnten Gründen vorprogrammiert.Der Ihnen vorliegende Regierungsentwurf eines Krankenpflegegesetzes ist das Ergebnis einer erneuten umfassenden Abstimmung mit den Beteiligten. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß mit diesem Gesetz die grundsätzlichen Probleme, nämlich die Qualitätsverbesserung der Ausbildung, die Verbesserung des Rechtsstatus der Krankenpflegeschüler, die Fortführung des bewährten eigenständigen Ausbildungssystems und finanziell gesicherte und in das Krankenhaus integrierte Krankenpflegeschulen auf der Grundlage einer breiten Übereinstimmung mit den Beteiligten gelöst werden. Zugleich wird damit die seit Juli 1979 überfällige und neuerdings von der Kommission der EG beim Europäischen Gerichtshof eingeklagte Umsetzung der EG-Richtlinien für die Krankenpflege und die ebenso dringende Anpassung an das Europäische Krankenpflegeübereinkommen aus dem Jahre 1967 vollzogen. Da der Gesetzentwurf des Bundesrates, den der Herr Senator Fink nachher begründen wird, im wesentlichen auf den gleichen Grundlagen beruht wie der Entwurf der Bundesregierung, besteht auch hier im grundsätzlichen weitgehend Übereinstimmung.Die Bundesregierung hofft, daß die bereits im Juni des vergangenen Jahres dem Bundesrat zugeleitete und von diesem vorerst zurückgestellte Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Berufe in der Krankenpflege bald wieder aufgegriffen wird und möglichst gleichzeitig mit dem Gesetz zur Verabschiedung kommt.Meine Damen und Herren, wir wissen nur zu gut, daß gesetzliche Vorschriften nicht mehr sind als ein Rahmen, der durch diejenigen auszufüllen ist, die mit diesen Vorschriften umgehen müssen. Dies gilt ganz besonders für die Berufe in der Krankenpflege. Die Hilfe für die kranken Mitmenschen wird entscheidend von der Menschlichkeit, ja, von der Humanität derjenigen bestimmt, die ihnen in schweren Stunden — und oft sind es Monate und manchmal Jahre — durch ihre Zuwendung zur Seite stehen. So etwas kann man nicht durch Rechtsvorschriften vermitteln, sondern es wird entscheidend durch den Geist und die Haltung bestimmt, die den jungen Menschen vermittelt wird, die sich für eine Ausbildung in der Krankenpflege entschieden haben. Unsere Krankenpflegeschulen haben es trotz mancher Widrigkeiten verstanden, diesen Geist der Caritas zu bewahren. Wir wollen mit diesem Gesetz alles dazu tun, ihnen dabei zu helfen, daß dies auch in Zukunft geschehen kann.Zum Entwurf eines Hebammengesetzes ist im wesentlichen das gleiche zu sagen wie zum Krankenpflegegesetzentwurf der Regierung. Auch die Notwendigkeit einer Neuordnung des Hebammen-rechts und die Novellierung des aus dem Jahre 1938 stammenden Hebammengesetzes ist unbestritten. Der Gesetzentwurf enthält wegen der gleichartigen Ausbildungsstruktur dem Krankenpflegegesetz rechtssystematisch nachgestaltete Vorschriften, sowohl für die Zulassung zu diesem Beruf als auch über den Rechtsstatus der Schüler.Mit der Zulassung von Männern zu diesem Beruf, die auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist, wird in der Bundesrepublik Deutschland eine Regelung geschaffen, wie sie sich in einigen anderen europäischen Ländern wie Dänemark, Norwegen, Schweden, Niederlande und Großbritannien bereits bewährt hat.
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4850 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Parl. Staatssekretär Frau KarwatzkiAus gesundheitspolitischen Erfordernissen wird die vorbehaltene Tätigkeit gegenüber dem alten Reichsgesetz nunmehr auf die Überwachung des Wochenbettverlaufs erweitert.Meine Damen und Herren, zu der Pflicht des Arztes, im Falle der Geburt eine Hebamme hinzuzuziehen, hat die Bundesregierung — wie auch in der Begründung zum Ausdruck kommt — den Standpunkt vertreten, daß sie der Hinzuziehungspflicht nach wie vor eine erhebliche gesundheitspolitische Bedeutung beimißt und ihr positiv gegenübersteht. Auch und insbesondere die bisherige Haltung der Länder zu der Frage, ob dem Bund eine Kompetenz zur Regelung derartiger Pflichten zustehe, hatte die Bundesregierung daran gehindert, eine entsprechende Vorschrift bereits in den Regierungsentwurf aufzunehmen. Nachdem jedoch der Bundesrat hierzu eine klare Entscheidung getroffen hat, nimmt sie seine Empfehlung gern auf, spricht sich also für eine entsprechende Vorschrift im Bundesgesetz aus.Zu erwähnen ist, daß der Gesetzentwurf nicht mehr zwischen einer freiberuflichen Tätigkeit und einer Tätigkeit als angestellte Hebamme unterscheidet. Demzufolge verzichtet er auf die Niederlassungserlaubnis als Voraussetzung für eine freiberufliche Tätigkeit. Künftig steht daher eine Niederlassung als freiberuflich tätige Hebamme jeder Hebamme mit einer Berufserlaubnis offen.Die Anhebung der Vorbildung sowie die Verlängerung der Ausbildung der Hebammen und Entbindungspfleger von zwei auf drei Jahre, die bereits in der am 1. Januar 1983 in Kraft getretenen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Hebammen geregelt ist und mit diesem Gesetz auf eine neue Grundlage gestellt wird, berücksichtigt wesentliche Anforderungen der EG-Richtlinien.Die Umsetzung der Richtlinie über die Anerkennung der Diplome und Prüfungszeugnisse durch dieses Gesetz in deutsches Recht ist allerdings seit dem 23. Januar 1983 überfällig, während die Koordinierungsrichtlinie im wesentlichen bereits durch die genannte Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Hebammen in deutsches Recht umgesetzt ist. Wegen der insoweit noch anstehenden Umsetzung hat die Kommission der EG im März dieses Jahres das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet.Abschließend möchte ich die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß angesichts der weitgehenden Übereinstimmung zwischen Bund und Ländern beide Gesetzentwürfe nicht nur mit Rücksicht auf die Klagen der EG-Kommission, sondern auch im Interesse der jungen Menschen, die jetzt einen dieser Berufe ergreifen möchten und sich dafür ausbilden lassen wollen, zügig beraten und möglichst bald von den parlamentarischen Körperschaften verabschiedet werden können.
Das Wort zur Begründung des Entwurfs des Bundesrates hat Senator Fink, Berlin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Bereits seit vielen Jahren gibt es Versuche, das Krankenpflegegesetz zu reformieren. Erfolgreich waren diese Initiativen nicht. Woran lag das? Zum einen an den unterschiedlichen Auffassungen der verschiedenen Fraktionen, zum anderen daran, daß Bundestag und Bundesrat konträre Vorstellungen und unterschiedliche Ansichten darüber hatten, welcher Weg bei dieser Reform zu gehen ist.Dies vor allem hat sich nun geändert. Die beiden Entwürfe von Bundestag und Bundesrat zeigen ein großes Maß an Übereinstimmung, nicht mehr ein Gegeneinander bei den inhaltlichen Punkten, sondern ein Miteinander bei der Zielrichtung der Reform.
— Es gibt noch Punkte, in denen unterschiedliche Auffassungen bestehen, doch werden sich diese, so hoffe ich zuversichtlich, im Zuge der Beratungen des Bundestages überbrücken lassen. Ich bin dazu bereit. — Zum erstenmal bestehen also realistische Aussichten, daß die Reform des Krankenpflegegesetzes durchgeführt werden kann.Gleichzeitig hoffe ich auf eine zügige Verabschiedung dieses Gesetzes. Angesichts des hohen Maßes an Übereinstimmung zwischen Bundestag und Bundesrat ist nicht mit Schwierigkeiten beim zweiten Durchgang im Bundesrat zu rechnen.Bitte bedenken Sie auch, daß wir uns hier auf verfassungsrechtlich wohl auch für die Länder nicht einfachem Gebiet bewegen. Der Bundesrat hat mit großer Mehrheit Formulierungen vorgelegt, die weit über das bisherige Krankenpflegegesetz hinausgehen. In diesem schwierigen Koordinierungsprozeß war das ein, wie ich finde, sehr wichtiges Ergebnis; denn keine Seite hat etwas davon, wenn dem Erlaß des Gesetzes ein Gang nach Karlsruhe folgt. Doch das ist, so glaube und hoffe ich, nach dem Lauf der Abstimmungen und Diskussionen nun auszuschließen.Eine zügige Verabschiedung des Krankenpflegegesetzes ist auch notwendig, da die Krankenpflegeschulen überall in der Bundesrepublik Deutschland dringend auf das Inkrafttreten dieses Gesetzes warten. Die Kurse an den Krankenpflegeschulen beginnen zu unterschiedlichen Terminen. Ein realistischer und vernünftiger Zeitpunkt, um dieses Gesetz in Kraft treten zu lassen, ist der 1. Juli 1985.Schnelligkeit bei der Verabschiedung des Gesetzes ist weiter angebracht und erforderlich wegen der beim Europäischen Gerichtshof in dieser Sache anhängigen Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Wir brauchen dieses Gesetz bald, damit das deutsche Krankenpflegeexamen in Europa anerkannt wird; denn die Ausbildung hier bei uns in Deutschland ist gewiß nicht schlechter als in den europäischen Nachbarstaaten. Deshalb haben unsere Krankenpflegeschülerinnen und -schüler Anspruch auf internationale Anerkennung ihres Examens.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4851
Senator Fink
Ich möchte noch einen Punkt erwähnen, der über die Reform der Krankenpflegeausbildung hinausgeht. Ich möchte ganz ausdrücklich an die Verantwortlichen appellieren, in der jetzigen Zeit der starken Schulentlassungsjahrgänge vermehrt Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Die Erhöhung der Zahl der Ausbildungsplätze in Phasen geburtenstarker Jahrgänge sollte nicht als etwas Negatives, als etwas Abzuwehrendes betrachtet werden, sondern als Chance. Es sollte auch über den gegenwärtig vorhandenen und über den in den nächsten Jahren abzusehenden Bedarf hinaus ausgebildet werden. Hier wollen wir nicht untertunneln, sondern eine Brücke bauen.Wir haben in Berlin die Zahl der Ausbildungsplätze erhöhen können. Die Erfahrungen haben uns auch gezeigt, daß sich die Kassen, die ja den großen Teil der Ausbildungskosten finanzieren, unseren langfristig angelegten Argumenten gegenüber sehr aufgeschlossen zeigen.
Ich möchte an dieser Stelle auf zwei inhaltliche Punkte der Gesetzentwürfe eingehen.Erstens. Ich teile nicht die Kritik, die darin liegt, daß diese Gesetzentwürfe über die Berufe in der Krankenpflege nicht das Berufsbildungsgesetz übernähmen. Das ist vermutlich auch Gegenstand Ihrer Zwischenrufe. Die Krankenpflegeausbildung — das möchte ich ganz deutlich sagen — ist eine Ausbildung eigenständiger Art. Die historisch gewachsenen Strukturen in der Krankenpflegeausbildung bieten die Gewähr, daß praktische und theoretische Elemente der Ausbildung aufeinander bezogen sind.Das Berufsbildungsgesetz ist ein gutes Gesetz. Es ist nützlich und sinnvoll für die duale Ausbildung im Bereich der privaten Wirtschaft. Schlecht beraten wären wir allerdings, wenn wir es auf die Krankenpflegeausbildung übertrügen, die dieser Hilfskonstruktion zur Koordinierung von Praxis und schulischer Ausbildung im Grunde überhaupt nicht bedarf. Der Gesetzentwurf des Bundesrates berücksichtigt auch alle notwendigen sozialen Belange der Schülerinnen und Schüler. Er hat keine geringere Qualität als das Berufsbildungsgesetz, insbesondere nicht hinsichtlich der Schutzbestimmungen für die Schülerinnen und Schüler. Aber er ist ein berufsspezifisch abgestimmter Entwurf.Zweitens. Besonderen Wert mißt das Land Berlin § 11 des Gesetzentwurfs des Bundesrats bei. Dort heißt es u. a.:Die Ausbildung für Krankenschwestern und Krankenpfleger und für Kinderkrankenschwestern und Kinderkrankenpfleger soll sich auch auf die ambulante Krankenpflege und die Kranken- und Kinderkrankenpflege in der Psychiatrie erstrecken.Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit wird ermächtigt, das Nähere durch Rechtsverordnungen zu regeln.Wir haben eine Soll- und keine Muß-Vorschrift vorgeschlagen, damit dem Kapazitätsproblem flexibel Rechnung getragen werden kann.Warum legen wir soviel Wert auf diese Bestimmung? Die stationäre Gesundheitsversorgung, also die Versorgung in Krankenhäusern, Heimen und dergleichen mehr, ist die teuerste Form der Gesundheitsversorgung, die es überhaupt gibt. Sie muß aber nicht immer zugleich die menschlichste sein. Mancher, der zwar krank ist, braucht nicht ins Krankenhaus, wenn er nur die notwendige fachliche Hilfe zu Hause bekommt. Dies gilt für die somatischen, aber auch für die psychischen Erkrankungen. Von daher ist es eigentlich nur historisch verständlich, daß die Ausbildung der Gesundheitsberufe, also nicht nur der Krankenpflegekräfte, mehr oder weniger ausschließlich eine Ausbildung in stationärer Gesundheitsversorgung ist.Ich halte dies für dringend korrekturbedürftig. Wenn junge Menschen nur im stationären Bereich ausgebildet werden, darf man sich nicht wundern, daß sie sich ihre berufliche Zukunft dann auch vor allem in der stationären Gesundheitsversorgung vorstellen.Vor allem ist mir aber wichtig, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die ambulante Gesundheitsversorgung andere — und ich meine: nicht minder hohe — Anforderungen stellt. Die entsprechende Qualifikation für den einen wie für den anderen Bereich sollte daher in der Ausbildung geübt werden. Hier gibt es zwar noch Kapazitätsprobleme, aber immerhin gibt es mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland bereits rund 2 000 Sozialstationen, die sich in der häuslichen Krankenpflege engagieren. Ich freue mich, daß Berlin zu dieser Zahl in den letzten Monaten 50 neue Sozialstationen hinzufügen konnte.Die Ausbildung zur Krankenschwester und zum Krankenpfleger dauert drei Jahre. Ich meine, dies ist keine kurze Zeit. In dieser Zeit muß es möglich sein, für stationäre und für ambulante Krankenpflege auszubilden. Anknüpfungspunkte dafür sind im Gesetz vorhanden.Ich halte nichts davon, die Kenntnisse für die häusliche Krankenpflege nur auf dem Wege der Fort- und Weiterbildung zu vermitteln. Nein, die Ausbildung für die häusliche Krankenpflege muß bereits in die normale Krankenpflegeausbildung integriert sein. Ich hoffe, daß wir im Verlaufe der Beratungen des Deutschen Bundestags in dieser Frage einen Fortschritt erzielen werden.Die Krankenpflegekräfte leisten einen eigenständigen Beitrag für die gesundheitliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben es verdient, daß ihre Ausbildung ihren Wünschen entsprechend nun endlich durchgreifend neu geordnet wird.Ich danke Ihnen.
Die Entwürfe sind begründet. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Delorme.
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4852 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die drei heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwürfe haben den Bundestag schon lange beschäftigt.
Bereits die sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen haben in dieser Hinsicht Reformversuche unternommen, um die Krankenpflegeausbildung und die Hebammenausbildung zeitgerecht zu gestalten.Wir haben vorhin in der Begründung der beiden Entwürfe gehört, woran die damaligen Bemühungen gescheitert sind: zunächst an der vielfältigen Interessenlage der beteiligten Gruppen, am Widerstand der damaligen Opposition und wegen der bestehenden Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat.Hier die Schuld zuzuweisen, wie das Frau Karwatzki getan hat, halte ich für nicht sehr fair; denn man kann nicht auf der einen Seite Regelungen verhindern und nachher auf der anderen Seite die Verzögerung der Gegenseite vorwerfen.
Aber nun haben wir Entwürfe, und gerade für das Krankenpflegegesetz, das eine lange Vorgeschichte hat, haben wir gleich zwei komplette Gesetzentwürfe, einen von der Bundesregierung und einen vom Bundesrat. Das ist sehr ungewöhnlich, und das ist nicht gerade ein Beispiel für eine gute Koordination und ein freundschaftliches Verhältnis der Unionspolitiker in Bund und Ländern.
Während es üblicherweise so ist, daß der Bundesrat zu den Entwürfen der Regierung seine Stellungnahme abgibt und seine Änderungsvorschläge vorlegt, hat die Bundesratsmehrheit dem Papier aus dem Hause Geißler einen kompletten eigenen Entwurf gegenübergestellt, der, wie wir wissen, die Handschrift von Herrn Senator Fink trägt.
— Das ist produktive Vielfalt und, wie gesagt, das „Musterbeispiel" einer „zielstrebigen" Koordination.
Sei es, wie es sei, beide Entwürfe sind nicht so beschaffen, daß sie uns begeistern können. Sie sind mit vielen Mängeln und mit vielen Schwachstellen behaftet.Von dem ursprünglichen Anspruch, die Krankenpflegeausbildung umfassend zu reformieren, sie den geänderten gesellschaftlichen Strukturen anzupassen, ist nicht allzuviel übrig geblieben. Man hat Konfliktpunkte sorgsam ausgespart,
und man hat auch die wichtige und verpflichtendeAufgabe, die Gesetze dem europäischen Recht anzupassen und die Rechtsnormen, die von der europäischen Ebene her vorgegeben sind, in innerdeutsches Recht umzuwandeln, nur sehr zögerlich und unvollkommen durchgeführt.Meine Damen und Herren, ich darf in diesem Zusammenhang sicher davon ausgehen, daß sich auch die Kollegen der FDP nicht besonders über diese Entwürfe freuen; denn sie wollten ja seinerzeit ein einheitliches Gesetz für alle Medizinalfachberufe schaffen.
Von diesem liberalen Ansatz ist weiß Gott nicht viel übriggeblieben.
— Unsere Vorschläge waren auf dem Tisch, sie sind an Ihrem Widerstand gescheitert.
Wir werden auch weiterhin für die besseren Lösungen kämpfen und dafür eintreten.
Lassen Sie mich auf den Punkt eingehen, der damals strittig war, nämlich auf die Anwendung des Berufsbildungsgesetzes auch auf die Krankenpflegeausbildung. Wir wissen, daß man die Bestimmungen des Berufsbildungsgesetzes nicht schematisch übernehmen kann. Wir wissen, daß die Besonderheit der Krankenpflegeausbildung hier eine differenzierte Anwendung erfordert; aber wir wehren uns dagegen, daß in den beiden Gesetzentwürfen ausdrücklich festgelegt ist, daß die Anwendung der Bestimmungen des Berufsbildungsgesetzes ausgeschlossen ist.
Wir befinden uns in der besonderen Situation, daß sich dieses Gesetz in einer bildungspolitischen Grauzone befindet,
und wir haben die Befürchtung, daß das, was hier praktiziert wird, auch für andere Berufsbilder Schule machen könnte und daß damit eine schleichende Aushöhlung des Berufsbildungsgesetzes erfolgt.
Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. (Beifall bei der SPD)
Wir werden in den Ausschußberatungen sehr deutlich machen, daß wir die Schutzbestimmungen, die im Berufsbildungsgesetz in vorbildlicher Weise vorgegeben sind, in wesentlichen Teilen auch für die Krankenpflegeschüler übernehmen möchten.Meine Damen und Herren, in der ersten Lesung ist es nicht die Aufgabe auf Einzelheiten einzuge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4853
Delormehen. Ich wollte nur noch auf einen Punkt hinweisen. In den Gesetzentwürfen ist vorgesehen, daß die Berufsbezeichnungen geschützt sind, daß sich nur derjenige, der die Voraussetzungen erfüllt, als Krankenschwester oder Krankenpfleger, als Kinderkrankenschwester oder Kinderkrankenpfleger bezeichnen darf. Das ist gut und richtig. Wir vermissen aber — und das ist sicher unbefriedigend — einen Schutz der Tätigkeitsausübung. Wir wissen, daß das gesetzestechnisch sehr schwierig zu verankern sein wird. Wir sollten aber gemeinsam den Versuch machen, diese Frage, die ja gesundheitspolitisch so wichtig ist, besser in den Griff zu bekommen.
Meine Damen und Herren, wir behandeln auch das neue Hebammengesetz. Wir wissen, daß das Hebammengesetz aus dem Jahre 1938 dringend verbesserungsbedürftig ist. Ihnen ist bekannt, daß die sozialliberale Bundesregierung im Vorgriff auf eine gesetzliche Neuregelung bereits 1981 zwei wichtige Dinge auf dem Verordnungswege neu geregelt hat; die Ausdehnung der Ausbildungspflicht auf drei Jahre und den Zugang von Männern zum Hebammenberuf. Dies wird in die neuen Entwürfe übernommen, und das ist gut so.Nun gibt es noch einen sehr schwierigen Punkt, der schon angesprochen wurde: Es wurde heftig die Frage diskutiert, ob im neuen Hebammengesetz — wie es im alten Gesetz der Fall war — für jede Geburt die Hinzuziehung einer Hebamme vorgeschrieben werden soll. Die Bundesregierung vertritt oder vertrat — ich habe hier heute eine differenzierte Haltung feststellen können — die Auffassung, daß die Hinzuziehung der Hebamme zur Geburt gesundheitspolitisch besonders wichtig ist; sie meint jedoch, sie könne dies nicht regeln, weil sie hierzu keine Kompetenz habe. In seiner Stellungnahme erklärt der Bundesrat dagegen in erfreulicher Deutlichkeit:
Diese Auffassung wird nicht geteilt. § 3 des Hebammengesetzes vom 21. Dezember 1938 ist gemäß Artikel 125 Nr. 1 in Verbindung mit Artikel 74 Nr. 7 GG Bundesrecht geworden.
Die Bundesregierung hat hier eingelenkt und eine Kompromißformel vorgeschlagen. Wir werden uns auf der Linie des Bundesrates bewegen und fordern, daß die Hinzuziehungspflicht wieder in das Gesetz aufgenommen wird,
und zwar in der vom Bundesrat vorgeschlagenen Formulierung, die da lautet:Der Arzt ist verpflichtet, bei der Entbindung eine Hebamme oder einen Entbindungspfleger hinzuzuziehen.Im übrigen ist es wirklich ein einmaliger Vorgang,daß die Bundesregierung dem Bund weniger Korn-petenz zutraut als der Bundesrat ihr zuzugestehen bereit ist.
Meine Damen und Herren, das Hebammengesetz, das sicher eine Reihe von Regelungen zu treffen hat, sollte auch eine qualitative Verbesserung der Berufsausbildung bringen. In der Begründung ist nachzulesen, daß die Gesundheitsministerkonferenz im Oktober 1970 in ihren Leitsätzen gefordert hat, daß „sich die Neuordnung an den Erfordernissen einer optimalen Geburtshilfe zu orientieren hat. Diese dient dem Ziel der weiteren Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie der Verringerung pränataler Schädigungen".Der Gesetzentwurf wird dieser Forderung nicht gerecht, denn bei der Beschreibung der Tätigkeit von Hebammen werden weite Tätigkeitsbereiche ausgespart. Es wäre notwendig, auch die Schwangerenberatung und die Beratung nach der Geburt als verpflichtende Aufgabe für Hebammen und Entbindungspfleger zu verankern. Das kann keine Frage der Finanzen sein, Frau Kollegin, sondern das ist ein gesundheitspolitisches Erfordernis,
denn wir müssen feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland leider das geburtenschwächste Land in der EG umd im ganzen industriellen Staatenverbund ist,
das aber gleichzeitig die Sterblichkeitsrate von Säuglingen in der Bundesrepublik mit an der Spitze aller vergleichbaren Länder liegt. Es kann keine finanzielle Frage sein, die Hebammenausbildung und -tätigkeit so sachgerecht zu erweitern und zu gestalten, daß die Säuglingssterblichkeitsrate entscheidend nach unten korrigiert wird.
Das ist eine Forderung, der man sich nicht verschließen kann. Wir werden Gelegenheit haben, im Ausschuß darüber zu diskutieren.Abschließend darf ich sagen, daß die Sozialdemokraten daran interessiert sind, daß die Beratungen zügig geführt werden. Wir werden dabei sachlich mitarbeiten. Die SPD wird der Überweisung an die Ausschüsse zustimmen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Augustin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zur SPD-Fraktion nimmt die CDU/CSU-Fraktion mit Freude zur Kenntnis, daß nach jahrelangem Bemühen
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4854 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Augustin— man konnte bei uns in der Zeitung lesen, wie lange das bei euch gedauert hat —
um eine grundsätzliche Neuordnung der Ausbildung in der Krankenpflege sowohl die Bundesregierung als auch der Bundesrat nun Gesetzentwürfe vorgelegt haben, die sowohl der modernen Entwicklung in der Medizin als auch den Richtlinien des Rates 77/452 EWG über die gegenseitige Anerkennung der Prüfungen und Diplome und der sonstigen Befähigungsnachweise und den besonderen Ausbildungsbedürfnissen des Berufsstandes der Krankenpflege Rechnung tragen.Eine ganze Reihe von Gesetzentwürfen haben vorgelegen. Es hat Anhörungen gegeben, es hat Stellungnahmen der betroffenen Berufsverbände gegeben. Es gibt eine Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwurf des Bundesrates, und es gibt eine Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf der Bundesregierung. Die Probleme sind nach allen Seiten hin ausgeleuchtet. Ich sehe nichts, was einer baldigen Verabschiedung dieses Gesetzes entgegenstehen könnte.Mit den vorliegenden Entwürfen der Bundesregierung und des Bundesrates, die sich in den wesentlichen Zielsetzungen kaum unterscheiden, ist vor allem dem Bedürfnis Rechnung getragen worden, einmal in aller Deutlichkeit festzustellen, daß die Ausbildung zur Krankenschwester oder zum Krankenpfleger eine Ausbildung besonderer Art ist. Daraus ergibt sich unter anderem, daß die Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes hier nicht einfach angewendet und übernommen werden können. Eine starre Trennung von schulischer und betrieblicher Ausbildung, wie wir sie in den gewerblichen Berufen kennen, ist wegen der Besonderheit der Aufgaben in der Krankenpflege auf diese Ausbildung nicht zu übertragen.Gerade die enge Verzahnung der zu erwerbenden theoretischen Kenntnisse mit dem Erlernen der praktischen Fähigkeiten am Krankenbett sowie dem Erlernen des seelisch einfühlsamen Umgangs mit dem kranken Menschen ist Kernstück der Ausbildung, die wir wollen. Sicherlich, Herr Senator Fink, wird auch die Ausbildung in der Ambulanz für die künftige Krankenschwester und den künftigen Krankenpfleger eine Rolle spielen.Es wird sicherlich über das vorher Gesagte verschiedene Auffassungen geben. Ich bin aber überzeugt, daß es in den anstehenden Beratungen möglich sein wird, trotz dieser verschiedenen Auffassungen, die zum Teil auch in den Entwürfen des Bundesrates und der Bundesregierung zum Ausdruck kommen, Formulierungen zu finden, die von allen Seiten getragen werden können. Insbesondere gilt dies für die Frage, die schulrechtliche oder arbeitsrechtliche Vorstellungen betrifft.Kurz gesagt: Wir sind für Gespräche offen, und wir haben nicht vor, mit Zähnen und Klauen Wort für Wort, Punkt für Punkt und bis zum letzten Komma einen der Entwürfe zu verteidigen, sondern wir wollen miteinander reden. Meine Fraktion wirdsich um eine zügige Beratung im Ausschuß bemühen. Wir sind sicher, daß auch die anderen Fraktionen dieses Hauses die Notwendigkeit einer zügigen Beratung erkennen, damit dieses für den Berufsstand der Krankenpfleger bereits überfällige Gesetz baldmöglichst verabschiedet werden kann.Lassen Sie mich, bevor ich mich den Gesetzentwürfen für die Hebammen und Entbindungspfleger zuwende, von dieser Stelle aus den vielen Angehörigen der Krankenpflegeberufe einmal ganz herzlich danken für die tägliche und übrigens auch nächtliche harte Arbeit, bei der ganz im stillen grandiose Beweise tätiger christlicher Nächstenliebe erbracht werden.
Ich glaube, dies durfte ich im Namen aller Fraktionen sagen.Die CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages begrüßt ebenfalls den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über den Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers, der uns in der Drucksache 10/1064 vorliegt und über den bereits die Bundesregierung sowie der Senator aus Berlin berichtet haben. Wichtige und zu begrüßende Punkte dieses Gesetzes sind die gegenseitige Anerkennung der Diplome, der Prüfungszeugnisse und der sonstigen Befähigungsnachweise gemäß den Richtlinien des Rates 80/154 EWG sowie die Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts, aber auch die Hinzuziehungspflicht von Hebammen bei Geburten. Ein weiterer Gegenstand der Beratungen im Ausschuß wird es sein, wie man es erreichen kann, daß Hebammen noch mehr als bisher in die Schwangerenvorsorge und in die Nachsorge eingebunden werden. Gerade hier — Herr Delorme, darin stimmen wir überein — haben die Erfahrungen gezeigt, daß hierin gesundheitspolitisch große Vorteile liegen können.Meine Fraktion wird sich auch bei diesem Gesetzentwurf für eine zügige Beratung einsetzen, damit auch dieses bereits überfällige Gesetz — das geltende Gesetz stammt zwar nicht aus dem vorigen Jahrhundert, wohl aber aus dem Jahre 1938 — endlich verabschiedet werden kann. Der Beruf der Hebammen, ohne den wohl keiner von uns das Licht der Welt erblickt hätte, hat einen Anspruch darauf, endlich ein gutes und brauchbares Gesetz zu erhalten. Ich hoffe, daß die Geburt dieses Gesetzes keine schwere, sondern eine leichte Geburt wird und daß sich die Damen und Herren dieses Hauses quer durch alle Parteien in dieser Sache als gute Hebammen und gute Entbindungspfleger erweisen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Hebammengesetzes werden angeblich nur die Zulassungsvoraussetzungen für den Hebammenberuf neu geregelt; denn
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4855
Frau Schoppeinsoweit steht dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zu, jedenfalls nach Auffassung der Bundesregierung.Das Berufsbild der Hebamme soll den veränderten Bedingungen — nämlich der Verlagerung der Entbindung aus Privathaushalten in Kliniken — angepaßt werden. Damit legt die Regierung ein Gesetz vor, welches das Bild des Hebammenberufes auf Jahre hinaus prägen wird, und sie trägt damit einer Entwicklung Rechnung, die durch die Wirklichkeit bereits seit Jahren überholt ist. Tatsächlich läßt sich nämlich in den letzten Jahren ein deutlicher Trend zurück zur Hausgeburt feststellen.Die Bundesregierung stützt sich in ihrer Begründung des Gesetzentwurfs auf Leitsätze der Gesundheitsminister der Länder aus dem Jahre 1970, die mit der Krankenhausentbindung eine geringere Säuglingssterblichkeit verbunden hatten.
Es weisen gerade diejenigen Länder in Europa die niedrigste Säuglingssterblichkeit auf, die Geburtshilfe, Vor- und Nachsorge eigenverantwortlich von Hebammen durchführen lassen. So gibt es z. B. in Holland, wo die Säuglingssterblichkeitsrate 8,1 von 1 000 Geburten beträgt, 35 % Hausgeburten. Demgegenüber weist die Bundesrepublik, wo heute 98,2 % der Geburten in Kreißsälen stattfinden, eine Sterblichkeitsrate von 12,6 bei 1 000 Geburten auf. Damit hat die Bundesrepublik unter den europäischen Ländern die höchste Sterblichkeitsrate. Gerade die Länder mit einer gut organisierten Zusammenarbeit zwischen Hebammen und Ärzten und mit einer ausreichenden Zahl von Hebammen kommen zu einer viel niedrigeren Zahl von Todesfällen.Alle Erfahrungen zeigen, daß eine intensive Vorsorge die Sterblichkeitsrate reduziert. Deshalb ist es unverständlich, warum im vorliegenden Entwurf in den Katalog der den Hebammen vorbehaltenen Tätigkeiten nicht auch die Schwangerenberatung als Aufgabe der Hebammen aufgenommen wurde.
Gerade die Bundesregierung, die die Rückbesinnung auf kleine gesellschaftliche Einheiten nachdrücklich propagiert, sollte dem Wunsch von Frauen nach Geburten im Kreis ihrer Familie außerhalb steriler Kreißsäle durch Schaffung eines Gesetzes Rechnung tragen, das Frauen ermuntert, den Beruf der Hebamme auszuüben.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird allerdings das Gegenteil erreicht: Die Bundesregierung geht von der verstärkten Neigung der Hebammen aus, die feste Anstellung in einem Krankenhaus einer freiberuflichen Niederlassung vorzuziehen. Folglich verzichtet die neue Regelung des Hebammengesetzes auf die Unterscheidung zwischen angestellten und freiberuflichen Hebammen und die Niederlassungserlaubnis. Die Folge sind das unbeschränkte Niederlassungsrecht für Hebammen und damit der Beginn eines existenzvernichtenden Konkurrenzkampfes, existenzvernichtend deshalb, weil das Mindesteinkommen, das den Hebammen bisher durch den Landesgesetzgeber garantiert wurde,nach Verzicht auf die Niederlassungserlaubnis wegfällt.Die Bundesregierung hat auf diesen Sachverhalt in ihrem Gesetzentwurf bereits hingewiesen und die Landesgesetzgeber aufgefordert, entsprechende Streichungen vorzunehmen. Damit wird letztendlich die einzige Bastion vereinnahmt, die Frauen seit Jahrhunderten in einem von Männern besetzten Territorium wie dem Gesundheitswesen bewahrt hatten. Es wird der einzige freie Beruf verschwinden, der traditionell von Frauen geprägt und ausgeübt wurde, in dem sich seit kurzem allerdings auch Männer, sogenannte Entbindungshelfer, austoben können.
: Donnerwetter!)
Die geplante Neuordnung der Gebührensätze trägt ein übriges dazu bei, freiberufliche Hebammen zu Sozialhilfeempfängerinnen zu machen. Für eine Geburt bis zu 18 Stunden soll die Hebamme nur noch 165 DM erhalten.
Das wäre ein Stundenlohn von knapp 9,20 DM. Denn daß eine Geburt 18 Stunden dauern kann, ist ja wohl kein Ausnahmefall. Von diesem Betrag muß sie Kosten für Berufskleidung, Auto, Sozialleistungen, Unfallversicherung und Berufshaftpflicht bestreiten sowie Steuern zahlen. Diese Gebührenordnung ist eine Zumutung und kann nur als Diskriminierung von Frauen, d. h. von Hebammen und Schwangeren, bezeichnet werden. Auch Geburt und Geburtshilfe gehören ja zur Familienpolitik.
Allerdings kann die Familienpolitik unter der derzeitigen Regierung nur als Desaster bezeichnet werden.
Nun zur Hinzuziehungspflicht. Wenn die Bundesregierung der Auffassung des Bundesrats zustimmt, daß Art. 74 Nr. 7 GG weit auszulegen sei, sie allerdings bezweifelt, ob die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung ausreiche, sollte sie ihre Zweifel in klare Worte fassen und die Hinzuziehungspflicht ablehnen. Die Formulierung, die sie vorschlägt, daß der Arzt verpflichtet sei, dafür Sorge zu tragen, daß bei einer Entbindung eine Hebamme hinzugezogen wird, regelt die Sorge des Arztes, aber nicht seine Pflicht zur Hinzuziehung.Ganz abgesehen davon ist doch zu fragen, ob es für eine Gebärende nicht hilfreicher und beruhigender ist, wenn eine Hebamme während des gesamten Geburtsvorgangs anwesend ist, oder ob es der Frau nützlich ist, wenn der Arzt nur während der Austreibungsphase mal am Bett erscheint.
Eigentlich sollte jede Frau einen Anspruch auf Hinzuziehung einer Hebamme haben. Aber wie immer werden die betroffenen Frauen nicht gefragt.Im Mittelalter wurden Hebammen, die auch Kenntnisse in Empfängnisverhütung hatten und
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4856 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Schoppeanwendeten, als Hexen verbrannt. Diese rüden Maßnahmen von Ausgrenzung haben wir inzwischen abgelegt. Nach dem vorgelegten Gesetzentwurf und der geplanten Neuordnung der Gebührensätze allerdings werden die Hebammen vertrieben. Gesichert werden die Pfründe der Gynäkologenschwemme.
Nun ein paar Sätze zum Krankenpflegegesetz. Im vorgelegten Gesetzentwurf ist in § 24 bzw. § 23 eine sogenannte Kirchenregelung vorgesehen. Das heißt, die im Gesetz vorgesehenen Ausbildungsvertragsteile sollen für die Mitglieder geistlicher Gemeinschaften oder Diakonissen oder Diakonieschwestern nicht gelten. Nun ist der Autonomiebereich, soweit er für die Religionsausübung der Kirchen vonnöten ist, in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 Weimarer Verfassung geregelt. Die Arbeitswelt allerdings kann nicht unter die Regelung dieser Artikel fallen. Hierfür können den Kirchen keine Sonderregelungen eingeräumt werden. Deshalb sind die erwähnten §§ 24 bzw. 23 zu streichen.In den vorgelegten Gesetzentwürfen ist ausdrücklich die Anwendung des Ausbildungsgesetzes ausgeklammert, wie j a auch schon von der SPD bemerkt wurde. Es gibt einen Beschluß des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. Januar 1983, nach dem das Berufsbildungsgesetz auf arbeitsrechtlich betrieblich ausgestaltete Ausbildung grundsätzlich anzuwenden ist. Insofern ist zu fragen, ob die Ausgrenzung des Berufsbildungsgesetzes überhaupt verfassungskonform ist.Die Novellierungsvorschläge werden dem gesetzten Ziel, die Ausbildungsgänge für die Berufe in der Krankenpflege und auch der Geburtshilfe den europäischen Normen anzugleichen, nicht gerecht. Die Novellierung schränkt den Einfluß der Gewerkschaften ein, sie stärkt Arbeitgeberpositionen, sie beschneidet die Rechte der Schwächsten in der Hierarchie. Entgegen vorgetragener Meinung werden Arbeitsvorschriften und die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers vernachlässigt.Die Entwürfe bleiben weit hinter den Erwartungen zurück und bedürfen einer weiteren Überarbeitung.
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Endlich haben wir Gesetzentwürfe zur Krankenpflege und zur Hebammenausbildung, die nicht nur vorgelegt und diskutiert werden, sondern auch alle Chancen haben, schnell und gut beraten und auch verabschiedet zu werden. Weitere Enttäuschungen können wir den Betroffenen auch nicht mehr zumuten.Daß es bisher so lange gedauert hat, liegt nicht an den Ministerien, sondern an den unversöhnlichenGegensätzen der großen Fraktionen. Erst dieser Regierung war es möglich, zu vernünftigen Regelungen zu kommen. Die SPD hatte bei ihren Versuchen immer vergessen, daß wir zu dem Gesetz auch die Zustimmung des Bundesrats brauchen.
— Ich werde auf diese Folgen noch eingehen. Sie wissen ganz genau, woran es gescheitert ist — ich will das dann erwähnen —; und Sie wissen ganz genau, daß wir da immer Widerstand entgegengesetzt haben.Diese beiden Gesetze sind jedenfalls längst überfällig. Es sind nicht neue Gesetze. Es kommt also keine neue Gesetzesflut auf uns zu, wie der Bürger vielleicht befürchten könnte, sondern alte Gesetze werden durch neue, zeitgemäße ersetzt.Notwendig ist auch die Anpassung an die EG-Richtlinie. Das wurde bereits angesprochen. Ich brauche deshalb nicht weiter darauf einzugehen.Heute liegen zwei getrennte Gesetzentwürfe zur Beratung vor, der Entwurf eines Hebammengesetzes und zwei Entwürfe eines Krankenpflegegesetzes.Die früheren Entwürfe — und da will ich auf meinen Vorredner von der SPD eingehen — versuchten, beide Gesetze zusammenzufassen. Ich verhehle nicht, daß wir Liberalen sehr viel Sympathie für den Versuch hatten. Nur, der Liberalismus zeigt sich zunächst einmal und vor allem im Inhalt und nicht in der Organisation. Und so sehr viel Sympathie hatte auch die SPD damals nicht. Wir waren da also ziemlich allein.Beide Gesetzentwürfe sind heute in Struktur, Form und Inhalt aufeinander abgestimmt. Für beide Berufe gilt dasselbe Anforderungsprofil als Voraussetzung. Darauf kommt es uns vor allem an.Die alten Entwürfe sind vor allem wegen des Streites um die Anwendung des Berufsbildungsgesetzes gescheitert. Die SPD war seinerzeit nicht bereit, von ihren Forderungen abzugehen und auf die Vorstellungen der anderen Parteien zuzugehen. Vor allem waren es die Betroffenen selber, deren Vorstellungen und Wünsche nicht entsprechend berücksichtigt worden waren. Heute sind die notwendigen Punkte des Berufsbildungsgesetzes in die Vorlagen aufgenommen, so, wie wir uns das hinsichtlich der Struktur auch immer vorgestellt hatten und wie dies in einigen Besprechungen zwischen uns auch einmal abgesprochen war. — Daran möchte ich gern die Kollegen der SPD erinnern.
Einzelheiten werden wir in den Ausschußberatungen noch genau prüfen müssen. Wir werden uns dabei vom Sachverstand aller betroffenen Verbände beraten lassen.Wie Sie sich vielleicht erinnern, hatte im Frühjahr 1980 unser ehemaliger Kollege Hasinger von der CDU-Fraktion versucht, einen eigenen Entwurf für ein Hebammengesetz interfraktionell ins Ge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4857
Eimer
spräch zu bringen. Das Krankenpflegegesetz wäre dabei auf der Strecke geblieben. Aber auch dieser Versuch war nicht optimal. Der eigentliche Streitpunkt wurde ausgeklammert. Die alte Ungewißheit wäre geblieben. Eine nachgeschobene Regelung für die Krankenpflegeausbildung hätte in der Struktur sicherlich nicht mehr der nach dem Hebammengesetz angeglichen werden können.Das Anliegen unseres ehemaligen Kollegen Hasinger war wohl berechtigt. Es ging ihm um die höchst dringende Verlängerung der Ausbildung bei Hebammen von zwei auf drei Jahre. Kollege Hasinger hatte aber übersehen, daß das alte Gesetz die Möglichkeit bot, dieses Anliegen über eine Rechtsverordnung zu regeln. Und das wurde bekanntlich auch getan. Ich mußte damals sehr viele böse Worte von Hasinger einstecken. Und mein damaliger Koalitionspartner hat mich nicht sehr verteidigt — wenn ich das vielleicht noch anhängen darf.Nach der Verlängerung der Ausbildung von zwei auf drei Jahre und angesichts der jetzt vorliegenden Gesetzentwürfe glaube ich sagen zu dürfen, daß dem Anliegen der Betroffenen jetzt mehr entsprochen wird, als das bei den Schnellschüssen mit faulen Kompromissen der Fall gewesen wäre. Ich kann mir vorstellen, daß auch unser ehemaliger Kollege Hasinger über die jetzigen Entwürfe froh ist, zumal er an dem Entwurf des Bundesrats, wie mir vorhin mitgeteilt wurde, maßgeblich mitgearbeitet hat.Für Hebammen ist aber vor allem der § 4 wichtig, der die ihnen vorbehaltenen Tätigkeiten regelt. Ich kann mir vorstellen, daß hier nicht alle Wünsche der Hebammen erfüllt werden. Der Gleichklang der Erklärungen von Bundesrat, Bundesregierung und auch der meisten Redner hier gibt aber Anlaß zu der Hoffnung, daß wir hier noch Verbesserungen werden vornehmen können. Ich kann mich nicht erinnern, daß die SPD seinerzeit, als wir die Gesetzentwürfe berieten, sehr flexibel gewesen wäre. Wenn hier ein Umdenken stattgefunden hätte, tut dies ganz gut.Uns kommt es weiter darauf an, daß die ambulant auszuübende Vorsorge während der Schwangerschaft und die Nachsorge während des Wochenbettverlaufs von den Hebammen in starkem Umfange wahrgenommen werden. Nur dadurch kann nach Aussage der Sachverständigen die bei uns noch immer zu hohe Säuglings- und Müttersterblichkeit ähnlich wie in Holland gesenkt werden. Auch Anstaltshebammen sollten stärker als bisher Vor- und Nachsorge ambulant leisten. Umgekehrt sollten auch niedergelassene Hebammen stets in einer Klinik entbinden können.Die Stärkung der ambulanten Dienste der Hebammen ist aber nur dann möglich, wenn die Gebührenordnung für Hebammen entsprechend gestaltet ist.
Dieser Zusammenhang darf nicht übersehen werden. Ich betone ausdrücklich, obwohl das nicht direkt zur Debatte steht, daß der sachliche Zusammenhang gegeben ist; er ist der Dreh- und Angelpunkt einer verbesserten ambulanten Versorgung.Zum Krankenpflegegesetz liegen uns zwei Entwürfe vor, einer der Bundesregierung und einer des Bundesrates. Die Stellungnahmen und die Gegenäußerungen zeigen, daß beide Entwürfe sehr nah beieinander liegen. Eine Reihe von Formulierungen des Bundesrates erschienen mir klarer und besser, andere werden wir sehr sorgfältig prüfen. Die strittigen Fragen alter Entwürfe und alter Koalitionen sind in den beiden vorliegenden Papieren ähnlich geregelt. Ich meine damit das Berufsbildungsgesetz. Auch hier sind wir auf den Sachverstand und die Meinung der Verbände angewiesen und werden dies in unsere Entscheidungen einbeziehen.Besonders erfreulich sind aber die Stellungnahmen der Verbände, z. B. des Schwesternverbandes des evangelischen Diakonievereins. Sie geben uns Hoffnung, daß wir zügig beraten können und ein Gesetz entsteht, das dann auch den Wünschen der Betroffenen entspricht. Ich glaube sagen zu können, daß diese Hoffnung durch die Art und Weise verstärkt wurde, wie hier bisher diskutiert worden ist. Dies ist um so notwendiger, weil gerade Krankenpfleger und Hebammen schon sehr lange warten mußten. Ich habe aber die Hoffnung, daß sie nach der Verabschiedung des Gesetzes sagen können: Wir haben zwar lange warten müssen, aber das Warten hat sich für uns gelohnt.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe zu den Tagesordnungspunkten 4 a, 4 b und 5 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahre 1983
— Drucksache 10/1193 —
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Berger .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der Jahresbericht des Petitionsausschusses ist das Beschwerdebuch der Nation. Der Vorstand des Unternehmens, über das man sich beschwert — das ist hier in erster Linie die Bundesregierung —, ist gut
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Frau Berger
beraten, wenn er den Inhalt des Beschwerdebuches auch in der Gesamtschau sehr aufmerksam zur Kenntnis nimmt. Ich glaube, daß die Bundesregierung dies ebenfalls so sieht. Denn seit meiner Tätigkeit — es sind fast zwölf Jahre — als Vorsitzende des Petitionsausschusses habe ich die Regierungsbank noch nie so gut besetzt gesehen wie heute. Dafür bedanke ich mich bei der Regierung.
Erstens. Der Petitionsausschuß ist eine wesentliche Nahtstelle zwischen Bürger und Parlament: Er hält den Kontakt zum Bürger während der gesamten Legislaturperiode, also in der langen Zeit zwischen den Wahlen. Es geht darum, ein möglichst hohes Maß an Übereinstimmung zwischen Bürger und Staat herbeizuführen.Die Aufgabe des Petitionsausschusses liegt einmal in der Verwaltungskontrolle, in der Abhilfe bei fehlerhaftem Verwaltungshandeln im Einzelfall. Dabei erhält das Parlament auch Einsicht in allgemeine Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der Exekutive beim Gesetzesvollzug; ich nenne hier Bearbeitungsstaus, mangelhafte Zusammenarbeit zwischen den Behörden oder organisatorische Mängel.Zur Verwaltungskontrolle tritt die Gesetzeskontrolle. Durch die Petitionsarbeit kann das Parlament die Auswirkungen der von ihm beschlossenen Gesetze kontrollieren, das heißt, es kann feststellen, ob der Bürger den Sinn einer Regelung erkannt hat oder ob das Gesetz unbeabsichtigte Härten oder Lücken enthält.Diese Aufgaben sind um so wichtiger, als es Stimmen gibt, die von einer nachlassenden Kommunikation zwischen Parlament und Bürger sprechen. Sie sind vordringlich, auch wenn sie viel Zeit und Mühe kosten, auch wenn nicht immer geholfen werden kann, auch wenn es gelegentlich Bürger gibt, die sich nur zum Zeitvertreib an uns wenden. Sie sind vordringlich, auch wenn die Übereinstimmung mit dem Bürger nicht immer gelingen will, auch wenn ein Dank meistens ausbleibt.Zweitens. Lassen Sie mich nunmehr einiges zu den Grundlagen unserer Arbeit sagen:a) Ich darf daran erinnern, daß wir vor fast einem Jahr, am 15. Juni 1983, nach gründlicher Überarbeitung die „Grundsätze über die Behandlung von Bitten und Beschwerden" neu beschlossen haben. Von den vielen Änderungen erscheint mir eine besonders wichtig: Nunmehr werden sämtliche Petitionen, auch die vom Ausschußbüro wegen offensichtlicher Aussichtslosigkeit negativ beantworteten, dem Ausschuß vorgelegt und vom Plenum beschlossen. Damit ist die Möglichkeit des parlamentarischen Einflusses auf alle Petitionen sichergestellt und kein Raum mehr für verfassungsrechtliche Bedenken, die dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juli 1981 entnommen werden könnten. Insgesamt glaube ich sagen zu können, daß sich die neuen Verfahrensgrundsätze bewährt haben.b) Das verfassungs- und parlamentsrechtliche Gutachten, dessen Einholung wir gleichzeitig mit den Verfahrensgrundsätzen beschlossen hatten, liegt nunmehr vor. Der Verfasser, Professor Dr. Graf Vitzthum von der Universität Tübingen, bestätigt zunächst, daß die von uns aufgeworfenen Fragen von der Wissenschaft bisher kaum behandelt worden sind. Hier hat also die parlamentarische Praxis der Wissenschaft einen wichtigen Impuls gegeben.Das Gutachten unterscheidet zwischen dem Petitionsbehandlungsrecht und dem Petitionsüberweisungsrecht, und es spricht dem Bundestag das Petitionsbehandlungsrecht gegenüber sämtlichen Bundesbehörden zu, auch soweit sie der Aufsicht der Bundesregierung nicht unterliegen und auch soweit es sich um Annexverwaltungen anderer Verfassungsorgane handelt.Das Gutachten sagt auch aus, daß der Petitionsausschuß die Rechte und Pflichten nach Art. 17 und 45c des Grundgesetzes neben und unabhängig von der Parlamentarischen Kontrollkommission und der Kommission nach Art. 10 des Grundgesetzes wahrzunehmen hat. Das Gutachten wird in Ruhe auszuwerten und ein breiter Konsens mit den angesprochenen Stellen anzustreben sein. Ich hoffe, im nächsten Jahr über das Ergebnis berichten zu können.c) Nicht ganz glücklich sind wir über Erfahrungen, die wir mit § 109 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gemacht haben. Nach dieser Vorschrift hat der Petitionsausschuß die Stellungnahme der Fachausschüsse einzuholen, wenn diese mit dem Gegenstand der Petition befaßt sind. Bei den Haushaltsbegleitgesetzen hat dies zu Stockungen geführt. Über 100 Petitionen konnten bis zu vier Monaten nach Abschluß der Gesetzesberatungen von uns nicht abschließend behandelt werden, weil die Stellungnahmen der Fachausschüsse nicht vorlagen. Dies ist dem Ansehen des Parlaments nicht zuträglich, wie Anfragen verärgerter Bürger beweisen. Hier ist Abhilfe notwendig.d) Im Bericht sind die sogenannten Sammel- und Massenpetitionen erwähnt. Bei Sammelpetitionen handelt es sich um Eingaben, die von einer großen Zahl von Bürgern unterschrieben werden. Massenpetitionen sind Einzeleingaben zu demselben Anliegen in großer Zahl. Meist handelt es sich dabei um vorgedruckte Texte, die von den Petenten lediglich unterschrieben werden. Sie stellen seit den 50er Jahren einen Typus von Petitionen dar, den man als „politische Petition" bezeichnen kann und der quasi-plebiszitäre Elemente enthält. Es wäre ein nicht vertretbarer Verwaltungsaufwand, würden die vielen Tausende von Unterzeichnern eine Eingangsbestätigung und einen Endbescheid erhalten. Unsere Verfahrensgrundsätze sehen daher vor, daß nur die Initiatoren solcher Eingaben einen Bescheid erhalten.Als besonderes Beispiel von Sammel- und Masseneingaben möchte ich die Petitionen zur Nachrüstung auf Grund des NATO-Doppelbeschlusses nen-
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Frau Berger
nen. Gegen Ende 1983 waren es rund 45 000 Petitionen mit etwa 86 000 Unterschriften.
Eine Schulklasse schickte dazu übrigens Postkarten mit Friedengedichten.Obwohl die Nachrüstungsfrage im Mittelpunkt der politischen Diskussion stand, befaßte sich damals mit diesem Thema kein Fachausschuß, von dem eine Stellungnahme nach § 109 der Geschäftsordnung hätte eingeholt werden müssen. Der Petitionsausschuß hat aus wohlerwogenen Gründen davon abgesehen, in seinen Reihen eine Sachdebatte darüber zu führen und das Plenum auf diesem Wege zu einem Sachvotum zu veranlassen. Eingaben zur Nachrüstung wurden daher den Bundestagsfraktionen als Beitrag zu deren Meinungsbildung zur Kenntnisnahme überwiesen.Drittens. Ich komme nun zu einigen Aspekten, die bei der Arbeit im Berichtsjahr eine besondere Rolle gespielt haben.a) 1983 hat der Ausschuß — wie schon in früheren Jahren — von seinen Befugnissen nur sparsam Gebrauch gemacht. Zwar wurden in zahlreichen Fällen Regierungsvertreter vor den Ausschuß geladen, und auch die Anforderungen von Akten hat sich wieder als hilfreich erwiesen; wir bedauern aber, daß vor allem aus Zeitgründen Ortstermine nicht häufiger abgehalten werden konnten. Die Erfahrung zeigt nämlich, daß es das Vertrauen der Bürger in das Parlament stärkt, wenn ihre Beschwerden von sachkundigen Abgeordneten an Ort und Stelle erörtert werden.b) Ein Wort schließlich zum Selbstverständnis des Petitionsausschusses. Niemend wird bestreiten können und wollen, daß der Petitionsausschuß, besetzt mit Politiker, gegliedert nach Fraktionen, auch ein politischer Ausschuß ist. Die unterschiedlichen politischen Standpunkte werden bei Bitten zur Gesetzgebung immer wieder deutlich. Mit scheint aber, daß in der jüngsten Vergangenheit auch bei Einzelfallpetitionen das Maß der parteipolitischen Erwägungen ein wenig in Unordnung geraten ist.Beschwert sich ein Petent über eine Verwaltungsmaßnahme und ergibt die Prüfung, daß die Maßnahme nach geltendem Recht nicht zu beanstanden ist, so kann die Petition keinen Erfolg haben. Dies muß auch dann gelten, wenn eine Fraktion im Gesetzgebungsverfahren gegen die im Einzelfall angewandte Vorschrift gestimmt hat. Es kann nicht der Sinn des Petitionsverfahrens sein, die politischen Diskussionen der Fachausschüsse und des Plenums im Petitionsausschuß weiterzuführen.
Dies bekommt der Arbeit des Ausschusses nicht
und raubt ihm die knapp bemessene Zeit.
c) Ich nutze die Gelegenheit dieser Debatte, um Ihnen allen zum Bewußtsein zu bringen, daß der Petitionsausschuß, wenn ich es richtig sehe, als einziger Ausschuß laufend und praktisch mit dem Europäischen Parlament zusammenarbeitet. Diese Arbeit vollzieht sich in zwei Richtungen:Kommen wir auf Grund einer Petition zu dem Ergebnis, daß in Europa oder in einzelnen europäischen Ländern für den Petenten etwas getan werden sollte, so überweisen wir die Petitionen dem Europäischen Parlament zur Kenntnis.Umgekehrt überweist uns das Europäische Parlament eine Petition, wenn die Möglichkeit der Abhilfe im Entscheidungsbereich der Bundesrepublik liegt.Immer wieder stoßen die Parlamente dabei auf Zustände oder Regelungen, die dem Gedanken der europäischen Einigung hinderlich sind. Hierfür eindrucksvolle Beispiele anzuführen ist mir heute aus Zeitgründen leider nicht möglich.Viertens. Schließlich einige Bemerkungen zum Umfang unserer Arbeit. Unsere Statistik weist alljährlich die Zahl der eingegangenen und der vom Bundestag abschließend behandelten Petitionen aus. Diese Zahl ist aber nicht mit der Zahl der behandelten Anliegen identisch. Nicht selten enthält eine Petition mehrere Anliegen, z. B. der Art, daß sowohl die Einzelentscheidung der Behörde angegriffen wird als auch das Gesetz, nach dem diese Entscheidung getroffen wurde. Wir erfassen diese Zahl der Anliegen nicht gesondert, wie es etwa der Wehrbeauftragte tut. Um auf die wirkliche Zahl der geprüften Anliegen zu kommen, können wir der Zahl der Petitionen getrost noch einmal die Hälfte hinzurechnen. Damit wären wir dann im Bereich von weit über 10 000 Anliegen, und auch darin schlagen sich die Massen- und Sammeleingaben noch nicht nieder. Auch ein Blick auf die Zahlen des laufenden Jahres läßt keine ruhigen Zeiten erwarten. Die Eingänge in den ersten drei Monaten 1984 liegen um 25 % über denen des vergleichbaren Vorjahreszeitraumes.Fünftens. Abschließend möchte ich allen Mitgliedern des Ausschusses danken, die mit ihrer doppelten Belastung im Petitionsausschuß und in den Fachausschüssen ein gerüttelt Maß zusätzlicher Arbeit übernommen haben.
Sie müssen das ganze Jahr über, auch in den Parlamentsferien — es sei denn, sie sind in Afrika oder noch weiter weg —, Akten wälzen. Im vergangenen Jahr gab es etwa 600 Berichterstattungen, d. h. 600 Akten sind in den Sommerferien verschickt worden.Ebenso danke ich den Mitarbeitern des Ausschußbüros, für die es ebenfalls keine Pause in den Parlamentsferien gibt. Sie hatten den Entwurf des Jahresberichts übrigens auch diesmal schon im Januar vorgelegt.
Mein Dank gilt auch den Mitarbeitern in den Ministerien und nachgeordneten Behörden, die der
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Frau Berger
Petitionsausschuß leider mit Arbeit überziehen muß.Ganz besonders aber danke ich unseren Mitbürgern für das Vertrauen, das sie uns auch im vergangenen Jahr entgegengebracht haben. So manches Schreiben bestätigt uns, daß die Hilfe dankbar aufgenommen wurde. Unsere Mitbürger sollen wissen, daß es im Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages eine Instanz gibt, die als ihr Anwalt für Gerechtigkeit und Menschlichkeit eintritt.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, nachdem die Frau Vorsitzende den Mitgliedern des Ausschusses und den Mitarbeitern gedankt hat, der Frau Vorsitzenden des Petitionsausschusses im Namen des Hauses für ihre besondere Arbeit zu danken.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Vahlberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre wieder ist der Jahresbericht des Petitionsausschusses Anlaß, das Petitionsrecht als Recht des Bürgers, sich mit Bitten und Beschwerden an die Parlamente, an die Volksvertretungen zu wenden, in seiner Bedeutung für die parlamentarische Demokratie zu würdigen. Alle Parteien sind sich in dieser Würdigung einig. Soweit es unterschiedliche Auffassungen gibt, erstrecken sie sich auf die Frage nach der Reichweite des Petitionsrechts, auf die Frage nach der Arbeitsweise des Ausschusses und der Art der Behandlung der einzelnen Eingaben. Daß es darüber eine Diskussion gibt, ist, meine ich, wichtig; denn nichts ist so gut, daß es nicht verbessert werden könnte. Frau Berger, Sie haben auf das Rechtsgutachten hingewiesen, das uns nun vorliegt. Wir sollten es sorgfältig diskutieren und Schlußfolgerungen aus diesem Gutachten ziehen.Lassen Sie mich drei, wie ich meine, kritische Punkte ansprechen: erstens die Behandlung oder Nichtbehandlung von Petitionen, die von juristischen Personen des öffentlichen Rechts eingereicht werden. Um das einmal beispielhaft an einer Petition deutlich zu machen, die ich selber zu bearbeiten hatte: Der Gemeinderat von St. Peter-Ording an der Nordseeküste verlangt von uns, wir sollten dafür sorgen, daß die Nordsee sauber werde. Unterzeichnet ist diese Petition von allen Fraktionsvorstehern. Weil dieser Gemeinderat nicht Inhaber materieller Grundrechte ist, hätte diese Petition bei formaler Behandlung nicht bearbeitet werden können. Gott sei Dank ist sie nicht so formal behandelt worden. Ich finde es nicht in Ordnung, daß etwa ein solcher Gemeinderat, der in großer existentieller Sorge um die Umwelt — in dem Fall die Nordsee — ist, dieses nicht gegenüber dem Petitionsausschuß deutlich machen darf, den Petitionsausschuß also nicht anrufen können soll. Hier sollte trotz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts das Petitionsrecht vom Gesetzgeber ausgeweitet werden.Der nächste Punkt läßt sich ebenfalls an dieser Petition aus St. Peter-Ording verdeutlichen. Wirsollten in den Fällen, in denen es um allgemeinpolitische Regelungen geht, wir aber als Ausschuß an unsere Grenzen stoßen, weil wir als Petitionsausschuß nicht mehr Rechte als das Parlament insgesamt haben, mit der Qualifizierung einer Petition als „nach Sach- und Rechtslage als erledigt zu betrachten" vorsichtiger umgehen. Die Bürger beispielsweise von St. Peter-Ording müssen doch glauben, daß wir von allen guten Geistern verlassen sind, wenn wir angesichts etwa einer Million t verklappter Dünnsäure in die Nordsee pro Jahr oder angesichts von 1 000 t Arsen, die in die Nordsee verbracht werden, als Petitionsausschuß zu der Auffassung kommen: Das Problem Nordsee gibt es im Prinzip nicht; „nach Sach- und Rechtslage als erledigt zu betrachten". Und dies nur, weil die Bundesregierung uns das in ihren Stellungnahmen vorgibt, weil die Bundesrepublik im Vergleich etwa zu anderen europäischen Nordseeanrainerstaaten ein Weltmeister im Verfassen von Papieren, Gesetzen und Verordnungen zur Nordsee ist.Der dritte Punkt betrifft die Zunahme der Massenpetitionen und ihre Behandlung. Sie, Frau Berger, sind bereits darauf eingegangen. Ich möchte zunächst für meine Fraktion folgendes feststellen. Erstens: Wir begrüßen es, daß sich immer mehr Bürger zusammenfinden und zusammenschließen, um gemeinsam ein allgemeines Problem gegenüber dem Parlament deutlich vorzutragen.
Zweitens: Darin drückt sich nach unserer Auffassung ein Vertrauen in die Regelungskompetenz und die Regelungswilligkeit dieses Parlaments aus. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen.Wenn wir allerdings als Petitionsausschuß jeweils Stellungnahmen der angesprochenen Bundesministerien wortgleich an die Petenten weiterreichen und lediglich mit dem Zusatz versehen, daß uns — ich sage das einmal flapsig — dazu auch nicht mehr einfällt, dann setzen wir dieses Vertrauen der Bürger, wir ich meine, aufs Spiel.Das ist jetzt nicht eine Kritik am Ausschußsekretariat, an den Mitarbeitern des Ausschusses, bei denen ich mich im Namen meiner Kollegen ausdrücklich für die geleistete Arbeit und für die Hilfestellung, die sie uns geben, bedanken möchte,
sondern diese Kritik richtet sich an uns und an die Art, wie wir den einen oder anderen Petenten verbescheiden.Massenpetitionen zeigen uns vielleicht noch mehr als Einzelpetitionen, was die Bürger insgesamt oder Teile der Bevölkerung bewegt. Insofern kann der Petitionsausschuß ein Fieberthermometer in der Volksseele sein. Wenn wir sensibel genug sind und die Kraft haben, das, was von außen an uns herangetragen wird, auch umzusetzen — etwa bei Fragen des Datenschutzes, bei Fragen des Umweltschutzes, bei Fragen der Massentierhaltung, bei, um ein hochaktuelles Thema anzusprechen, zu dem 50 000 Eingaben vorliegen, den Problemen der Tierversuche —, dann bekommen wir zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit, wenn ein Problem in der
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VahlbergÖffentlichkeit hochkommt. Wenn sich ein Einstellungs- und Wertewandel vollzieht, wenn sich, wie in diesem Fall, ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Tier entwickelt. Dann müssen wir als Gesetzgeber, wie ich meine, dem Rechnung tragen und reagieren. Wir müssen in diesem Fall z. B. Tierversuche für kosmetische Zwecke und für die Erprobung von Waffen und Kampfstoffen verbieten. Wir sollten die Doppel- und Dreifachversuche verhindern, indem wir Datenbanken schaffen und ein Informationsaustausch zwischen den Instituten und der Wirtschaft möglich wird. Die Wirtschaft ist bei ihren Versuchen insgesamt stärker zu kontrollieren. Wir sollten das Genehmigungsverfahren für Tierversuche verschärfen. Wir sollten die Massentierhaltung nach kreatürlichen und nicht mehr nur nach ökonomischen Gesichtspunkten organisieren.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, hier sind Sie moralisch und ethisch gefordert mit einer Wende in der Einstellung zur Kreatur. Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden dafür streiten, daß Tiere nicht mehr nur als Sachen verstanden werden und, soweit sie verletzt oder willkürlich getötet werden, dies als Sachbeschädigung eingestuft wird. Wir setzen uns vielmehr dafür ein, daß es ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Tier gibt und dies in den Gesetzen seinen Niederschlag findet.
Lassen Sie mich noch ein Beispiel anführen, das zeigt, welche Wirkung eine sensibilisierte und mobilisierte Öffentlichkeit auf unsere Arbeit haben kann und wie wir uns generell darauf einstellen sollten. Ich spreche vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Volkszählung und davon, daß die Bürger immer empfindlicher reagieren, wenn sie das Gefühl haben, in ihrer Intimsphäre bedroht und in ihrer Menschenwürde getroffen zu sein. Der Fall Volkszählung sollte uns dazu veranlassen, ein anderes Gesetz, das von uns im Dezember 1982 verabschiedet wurde, zu überdenken und wieder zu kassieren. Ich meine das Personalausweisgesetz mit seiner Einführung des computerlesbaren Ausweises. Was immer wir auch zur Sicherung gegen den Mißbrauch dieses Ausweises vorgesehen haben und möglicherweise noch vorsehen werden, wenn wir noch einmal darüber beraten sollten, die zumindest technischen Möglichkeiten von Massen- und Dauerkontrollen sind mit diesem Ausweis gegeben und werden — da bin ich absolut sicher — in großen Teilen der Bevölkerung das Gefühl verstärken, in einem Überwachungsstaat zu leben, und dies wird, wenn das so laufen sollte, zu einem Vertrauensverlust gegenüber unserem Staat führen.
— Ich weiß, das haben wir mit beschlossen. Das ist, soweit ich informiert bin, hier im Hause einstimmig verabschiedet worden.
Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, wenn wir neue Erkenntnisse gewinnen, diese auch umzusetzen.
Ich will jetzt nicht im einzelnen auf dieses Gesetz und auf die Bedenken eingehen, die ich insgesamt habe. Ich meine nur, wir werden, wenn wir dieses Gesetz durchziehen, es realisieren, bei den Bürgern auf starken Widerstand stoßen.
Frau Mustermann wehrt sich inzwischen.Lassen Sie mich zum Schluß einige Wünsche äußern. Ich gehe davon aus — Frau Berger, Sie haben das bereits angesprochen —, daß wir das Rechtsgutachten sorgfältig diskutieren, Schlußfolgerungen daraus ziehen werden. Ich wünsche mir, daß über die Landesparlamente, über den Bundestag hinaus auch die Gemeinden dazu kommen, Petitionsausschüsse zu installieren. Dies ist durchaus möglich; es gibt dazu ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Ich glaube, viele Bürger hätten ein Interesse daran, daß ihre Belange, soweit sie die Kommunen betreffen, an Ort und Stelle behandelt, nicht an die zuständigen Ämter und Behörden auf kommunaler Ebene weitergereicht, sondern von den gewählten Politikern behandelt werden. Das ist eine wichtige Forderung, die wir insgesamt an die Städte und Gemeinden richten sollten.
Ich wünsche mir, daß sich mehr Bürger nicht mehr als Nummer behandeln lassen, sondern sich rühren, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Ich wünsche mir sensible Ämter und empfindsame Behörden, die erkennen, daß sie für die Bürger da sind und nicht umgekehrt. Ich habe die Hoffnung, daß wir als Ausschuß in unseren Entscheidungen in der Zukunft immer richtig liegen.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der Bedeutung des Petitionsrechtes, das hier schon mehrfach hervorgehoben worden ist, begrüßen wir die heutige Gelegenheit, in einigen Anmerkungen den Bericht, der diesem Hohen Hause vorliegt, zu ergänzen. Diese Anmerkungen entstehen natürlich vor dem Hintergrund auch der persönlichen Mitarbeit im Petitionsausschuß, sie berücksichtigen die Möglichkeiten und Erfolge, aber auch die bereits besprochenen Grenzen, die mit der Bearbeitung der Petitionen verbunden sind, und man muß in die Betrachtung auch einige Probleme einbeziehen — das ist ebenfalls geschehen —, die zunehmend dann entstehen, wenn sich die Bitten und Beschwerden auf ganz aktuelle politische Tages- oder Grundsatzfragen beziehen.Meine Damen und Herren, ich glaube, es sprengt den Rahmen einer möglichst bescheidenen Darstel-
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Neuhausenlung der eigenen Arbeit nicht, wenn man sie als sehr intensiv bezeichnet. Das gilt besonders dann — bei allem Respekt vor den Kollegen aus den großen Fraktionen, ich drücke mich jetzt einmal vorsichtig aus, das trifft auf quantitativ nicht so stark besetzte Fraktionen besonders zu —, wenn man sich nicht nur mit den der eigenen Berichterstattung anvertrauten Petitionen beschäftigen kann und will, sondern das ganze Umfeld etwas im Auge behalten muß. Aber, meine Damen und Herren, diese Arbeitsintensität ist ja nur die eine Seite einer Münze, deren andere Seite von dem wirklich sehr großen Interesse geprägt wird, das durch die Fülle sehr verschiedener Einzelfälle immer wieder geweckt wird, wobei mich der Ausdruck „geweckt" an die frühe Tageszeit erinnert, zu der der Petitionsausschuß seinen Beratungen nachzugehen pflegt. Heute morgen begannen wir schon wieder um 8.30 Uhr.
— 7.30 Uhr, um Gottes Willen, eine Stunde zu spät.— Ich glaube allerdings, das ist trotz aller Mißhelligkeiten eine pädagogische und im Interesse einer wachen Aufmerksamkeit durchaus sinnvolle Maßnahme. Aber darüber kann man noch einmal sprechen.Wenn dynamischer veranlagte Kollegen hinsichtlich der Arbeit im Petitionsausschuß manchmal darauf hinweisen, es seien doch wenig Möglichkeiten zur konkreten politischen Gestaltung gegeben, dann spricht das meines Erachtens nur für eine sehr vordergründige Betrachtungsweise, denn — es wurde schon gesagt — der Einblick in die unbeabsichtigten, aber auch manchmal beabsichtigten Folgen bestimmter gesetzlicher Maßnahmen, in die Konsequenzen politischen Tuns — von der Handhabung durch die Verwaltung ganz zu schweigen —, den die Beschäftigung mit den Einzelfällen vermittelt, schärft ja den Blick für den Zusammenhang zwischen politischer Entscheidung und alltäglicher Wirklichkeit des Bürgers und hat so Bedeutung über den Rahmen der Arbeit im Petitionsausschuß hinaus.Meine Damen und Herren, das kommt nicht von ungefähr. An dieser Stelle möchte ich der Frau Vorsitzenden danken, deren Verhandlungsführung ja wesentlich zur Schärfung dieses Blickes beiträgt. Als Berichterstatter stellt man immer wieder fest, wie vertraut die Frau Vorsitzende mit manchen Einzelfällen ist. Das schärft dann außer dem Blick auch noch das eigene Gewissen. Aber zu danken ist natürlich auch den Mitarbeitern des Petitionsbüros, deren Sachkunde und Engagement ja ganz unentbehrlich sind. Deswegen kann gesagt werden, daß jeder Petent die Sicherheit haben kann, daß seine Beschwerde oder Bitte auch dann, wenn ihr kein Erfolg beschieden sein sollte, sehr gründlich geprüft worden ist.Natürlich bezieht sich die überwiegende Menge der Petitionen auf solche Fälle, in denen der Petent in seinem eigenen persönlichen Interesse betroffen ist. Beispiele sind genannt worden: Es handelt sich um Fragen der Besoldung, des Steuerrechts, der Sozialordnung oder der Arbeitsverwaltung, oder esgeht um Probleme der Familienzusammenführung, sei es im innerdeutschen Bereich oder im Bereich des Auswärtigen Amtes.Jetzt knüpfe ich an das an, was soeben gesagt worden ist: Mehr und mehr greift natürlich die Betroffenheit einzelner Bürger oder Bürgergruppen über dieses persönliche Interesse hinaus und bezieht sich etwa auf Fragen des Umweltschutzes, des Tierschutzes, aber vielleicht auch des Schutzes von Menschen vor aktuellen Erscheinungen, auf die ich noch zu sprechen kommen will. Ich glaube, daß in der von Ihnen ja schon genannten Sensibilität für die Verknüpfung von individuellem und allgemeinem Interesse, die, wie ich finde, auch dann zu begrüßen ist, wenn das aus ihr entstehende Begehren über die Möglichkeiten des Petitionsausschusses hinausgeht, etwas Positives zu sehen ist. Ich meine, daß das auch dann gilt, wenn diese Begehren an eine Grenze stoßen, denn unterhalb dieser Schwelle der begrenzten Möglichkeiten des Petitionsausschusses ist ja immerhin im Zusammenhang mit den Beratungen innerhalb der Fraktionen oder der Fachausschüsse für solche Probleme etwas zu tun. Ich knüpfe an das Beispiel des Tierschutzes an.Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir einen kurzen Abstecher in ein schon genanntes Spezialproblem. Bei der Debatte über den Vorjahresbericht habe ich in der Aussprache das Thema der psychischen oder physischen Mißhandlung von Kindern angesprochen. Im vorliegenden Bericht werden die Petitionen erwähnt, die sich mit der Jugendgefährdung durch Auswüchse im VideofilmBereich beschäftigen. Im Grunde geht es dabei um ein- und dasselbe Thema, denn es ist eine brutale und durch nichts zu rechtfertigende Mißhandlung, was von manchen solcher Filme auf kindliche und jugendliche Zuschauer ausgeht. Solche Filme können auch die Erinnerung von Erwachsenen mit Alpträumen belasten. Deswegen ist es schwer, auch nur mit Andeutungen das Unmaß extremer Gewaltdarstellungen zu charakterisieren, die den Inhalt solcher Darstellungen ausmachen. Besonders erschreckend ist es, wenn sich diese Darbietungen wie Wölfe im Schafspelz pseudoaufklärerisch geben, z. B. in einer Reihe von Sterbe-, Todes- und Hinrichtungsszenen, deren Begleittext dokumentarische Objektivität vortäuscht, oder wenn psychologische Grundmuster wie der Kampf des Guten gegen das Böse mißbraucht werden, um die Hemmschwelle gegenüber den Orgien der Gewalt, in denen sich solche Machwerke erschöpfen, zu beseitigen,
wenn Hintergrundmusik und eine natürliche Geräuschkulisse, wie etwa das Zwitschern von Vögeln in den scheußlichsten Szenen, zu einer perversen Verfremdung führen, die schon für Erwachsene schwer erträglich ist, der aber die jugendlichen Betrachter noch viel eindringlicher ausgesetzt sind.Meine Damen und Herren, es ist deswegen nur zu begrüßen, daß sich eine Neuordnung des Jugendschutzes, die diesen Komplex einbezieht, in der parlamentarischen Vorbereitung befindet. Aber es han-
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Neuhausendelt sich hier um einen der Bereiche, in denen es mit gesetzgeberischen Maßnahmen und deren strikter Durchführung nicht getan ist. Hier kommt es ebensosehr, wenn nicht vor allem, auf die Schärfung des Bewußtseins in der Öffentlichkeit an, auf das Engagement von Eltern, Pädagogen und allen in der Jugendarbeit Tätigen. Es kommt auch auf das Verantwortungsgefühl der Videowirtschaft an, die in ihrem eigenen Interesse aufgerufen ist, solche Auswüchse zu brandmarken.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch kurz auf ein bereits erwähntes Problem zu sprechen kommen, das eben auch mit den zunehmenden Massen- oder Sammelpetitionen zusammenhängt, deren positive Seite ich erwähnt habe. Manche Petentengruppen betrachten das Instrument der Petition als eine Möglichkeit der Fortsetzung politischer Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln. Ich will niemandem bestreiten, diese Mittel in Anspruch zu nehmen. Aber es ist auch ganz klar, daß, ob es sich um Fragen der Finanz-, Sozial- oder überhaupt der Haushaltspolitik mit ihren Auswirkungen auf die anderen Politikbereiche oder um Entscheidungen in der Friedens-, Sicherheits- und Bündnispolitik handelt, schon durch die zeitliche Nähe zu diesen mehrheitlich getroffenen Entscheidungen solche Petitionen mit ihrem Begehren auch formal an die Grenzen des Selbstverständnisses eines Petitionsausschusses stoßen müssen. Denn der Petitionsausschuß ist kein Überausschuß. Wie verlockend es sein mag, in ihm ein Forum der Diskussion über allgemeine kontroverse Themen zu haben — es besteht die Gefahr, daß darunter der eigentliche Auftrag leidet und die Provokation zur politischen Profilierung — was ich ganz wertfrei meine — zu Lasten des Individualrechts auf Petition geht, das nämlich, bürgernah und bürgerbezogen gehandhabt, der Mittelpunkt der Ausschußarbeit sein sollte.
Darüber gibt es verschiedene Ansichten, meine Damen und Herren. Sie werden uns in der Diskussion begleiten. Dennoch möchte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, trotz dieser manchmal sehr unterschiedlichen Meinungen allen Kollegen für die im Grunde sehr faire Zusammenarbeit im Petitionsausschuß zu danken.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Petitionsausschuß! Es ist mal wieder soweit! Nachdem wir ein Jahr lang ein Schattendasein in diesem Hohen Haus geführt haben, ziehen wir heute wieder unsere verkannten Schätze ans Licht und polieren sie kräftig auf. Jedes Jahr aufs neue versuchen wir unseren Kollegen näherzubringen, wieviel wir schuften und wie wichtig unsere Arbeit ist, einmal für den Bürger, aber mindestens ebenso
für das Ansehen des Parlaments. Wir erläutern, daß unser Arbeitsfeld die ganze Palette der Politik einschließt und hochinteressant ist. Jedes Jahr üben in der Regel die jungen Spunde des Ausschusses — wozu auch ich gehöre — Kritik an seiner Arbeitsweise und zerbrechen sich vor ihrer Rede den Kopf, um tiefschürfende Verbesserungsvorschläge zu machen, die leider ebenso regelmäßig im Verlauf des kommenden Jahres im Getriebe verschwinden. Und natürlich loben wir uns alle gegenseitig. Das haben wir auch nötig. Denn wir haben einen undankbaren Job: viel Arbeit, wenig Ehre.
Oft beschleicht mich als Mitglied des Petitionsausschusses das Gefühl, zu einer ganz besonderen Gattung von Abgeordneten zu gehören: zu den Parlamentseseln, auf denen das Volk seinen gesammelten Volkszorn mit ausdrücklicher Erlaubnis und grundgesetzlicher Garantie abladen darf und sogar soll. Ganz nach Art guter, fleißiger Esel sind die meisten Ausschußmitglieder ausdauernd, genügsam und fleißig, zum Nutzen und Frommen ihres Herrn, in unserem Fall des Parlamentarismus. Denn unser Ausschuß ist der einzige direkte Weg des eigentlichen Souveräns, des Volks, zu seinen gewählten Volksvertretern, denen er seine Macht auf vier Jahre geliehen hat.
Entsprechend hoch sind die Erwartungen der Petenten an unseren Ausschuß, oft zu hoch. Sie erwarten, daß wir ihnen gegen Schlamperei und Behördenwillkür wirksam beistehen, Unrecht unter pfundschweren Akten ausgraben, anprangern und wiedergutmachen, daß wir schlechte Gesetze verhindern oder beseitigen und bessere einsetzen.
Die Bürger wissen meistens nicht, daß wir dazu in aller Regel weder die persönliche Courage — was im Grundgesetz Gewissensfreiheit des Abgeordneten genannt wird — noch die nötigen Befugnisse besitzen, zumindestens nicht, wenn es um Bitten zur Gesetzgebung geht. Wenn der Petent darum bittet, können, ja müssen wir uns mit allen möglichen Feldern der Politik befassen. Wir haben die Pflicht — zur „Entgegennahme, Benachrichtigung, sachlichen Prüfung und Verbescheidung" bei einer Petition, wie es im schönsten Amtsdeutsch heißt.
Bei Beschwerden klappt die sachliche Prüfung ganz gut, weil es sich da oft um menschlich nachvollziehbare Schlamperei, Fehler oder Ungereimtheiten im Umgang des Bürgers mit einem übermächtigen bürokratischen Apparat handelt. Regelrechte Befugnisse und Machtmittel zur Beseitigung haben wir dagegen nicht, außer unserer Fähigkeit, der Institution, gegen die sich die Beschwerde richtet, mit lästigem Herbeizitieren, hochnotpeinlichen Befragungen und öffentlicher Blamage zu drohen. Davon machen wir mit großer Energie zum Nutzen des Bürgers Gebrauch; denn hinter jeder Petition steht ja immer ein Menschenschicksal.
Außerdem aber ist unser Ausschuß Adressat von Bitten zur Bundesgesetzgebung, ein scheinbar plebiszitäres oder, wie wir GRÜNEN sagen, basisdemokratisches Element, wo der einzelne Bürger un-
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mittelbar auch seine politischen Vorstellungen einbringen kann, aber eben nur scheinbar, und das aus folgenden Gründen. Eine neutrale Prüfung von Gesetzesvorschlägen gibt es nicht; denn diejenigen, die zu prüfen haben, sind hochpolitische Menschen, unterliegen in aller Regel einem absoluten Fraktionszwang und spiegeln als Gesamtausschuß getreu die parlamentarischen Mehrheiten wider. Außerdem werden Stellungnahmen in aller Regel nur von den zuständigen Ministern eingeholt, was eine wertfreie Beurteilung auch nicht gerade erleichtert. Darum ist es auch kein Wunder, daß genau solche Petitionen als erledigt betrachtet werden, weil sie — ich zitiere — „offensichtlich nach Sach- und Rechtslage erfolglos bleiben werden", von denen die jeweilige Regierungsmehrheit gerade das eben will. Da können selbst Massenpetitionen mit Zehntausenden von Unterschriften nichts ausrichten, wie z. B. die zur konsultativen Volksbefragung oder zur Nachrüstung im letzten Jahr.
An klugen Vorschlägen, wie man zu einer objektiven Beurteilung solcher Gesetzesinitiativen von unten kommen könnte, hat es seit den 60er Jahren nicht gefehlt. Leider würde aber wahrscheinlich auch diese Prozedur nicht allzuviel ändern. Weil man das genau weiß, hat man es vielleicht auch nicht energisch genug weiter verfolgt ... — Und zwar deshalb, weil sich die Regierung auch um die objektivsten und sachverständigsten Beschlüsse keinen Deut kümmern muß, wenn sie sich nicht kümmern will.
— Es ist schwierig. Und es ist auch ärgerlich für uns, und zwar deshalb, weil die Regierung sehr oft sogar bei Beschlüssen, die wir alle zusammen der Regierung zur Berücksichtigung empfehlen, den Sachen nicht nachgeht, weil sie es nicht will.
Aber was soll dann dieser gesamte Petitionsapparat und dieser Aufwand? Wozu dient er?, fragt sich mancher. Ist er nicht bloß ein gut inszeniertes Theaterstück von der direkten Beteiligung der Bürger am parlamentarischen Machtapparat? Im Grunde ist genau das unser Glanz und unser Elend. Rechtsgelehrte drücken das etwas gewählter aus. So spricht Dr. Wolfgang Graf Vitzthum in einem Rechtsgutachten, das die Frau Vorsitzende eben schon erwähnte, davon, daß das Petitionsrecht „zugleich Durchbrechung und Anerkennung des Gewaltenteilungsprinzips des Grundgesetzes ist", also nicht Fisch und nicht Fleisch, sozusagen ein parlamentarischer Zwitter. Nach Graf Vitzthum ist dieses ganze Schauspiel aber doch von großem Wert, in erster Linie komme dem Petitionsrecht — ich zitiere — eine Repräsentations- und Integrationsfunktion zu. Sein eigentlicher Urgrund sei „die besondere Nähe der Volksvertretung zum Volk". Seine Repräsentationsfunktion sei angesprochen und seine Legitimierungs- und Integrationsleistung, wie das schon im konstitutionell monarchistischen Regierungssystem gefordert gewesen sei. In normales
Deutsch übersetzt bedeutet das, daß der Petitionsausschuß erstens der Regierung zeigt, wo der Volkszorn dringend besänftigt werden muß, und zweitens vor allem eine Art Kummerkastentante des Parlamentarismus darstellt, die den enttäuschten Souverän, das Volk, anhört, tröstet und ihm das Gefühl seiner Bedeutsamkeit für diesen seinen Staat vermittelt.
Nur, ob das auf Dauer ausreicht, wenn sich immer mehr Bürger durch unsere Art, Parlamentarismus zu betreiben, zunehmend abgestoßen fühlen, ist die Frage. Der Bürger will nämlich nicht getröstet werden, der Bürger will mitgestalten.
Tatsächlich ist die Entwicklung des Petitionsrechts im Verlauf der Jahrhunderte ein ausgezeichneter Gradmesser für die zunehmende Demokratisierung, für den Freiheits- und Mitgestaltungswillen der Bürger gewesen. Im Zuge der Restauration — nach 1850 — in Deutschland ging man gegen die damaligen Sturmpetitionen staatlicherseits energisch vor, Massenpetitionen, mit denen das Volk direkten Einfluß auf die Politik nehmen wollte. Dahinter stand nach Graf Vitzthum die nur aufgeschobene Souveränitätsfrage, die Frage, wer die Politik originär gestalten soll; der Bürger oder sein Vertreter.
Ich glaube, diese Frage steht auch heute wieder — oder sollte man sagen: immer noch? — unausgesprochen hinter dem Petitionsrecht.
Wir werden dieser Frage in der Debatte, die wir hier um den Parlamentarismus führen, die Herr Präsident Barzel angeregt hat,
große Bedeutung zumessen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schlottmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Mitglied des Petitionsausschusses und als Mitglied des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit habe ich mir einmal den Bereich des dafür zuständigen Bundesministers vorgenommen. Hier geht es im Berichtszeitraum um 347 Petitionen. Lassen Sie mich auf die drei wesentlichsten Gruppen eingehen.Ein Schwerpunkt der hierzu eingereichten Petitionen waren die von der alten Regierung bewirkten Leistungseinschränkungen, die insbesondere die Familien arbeitsloser Jugendlicher finanziell sehr hart getroffen haben. Die hierzu vorliegenden Eingaben stehen stellvertretend für Tausende von Protesten der betroffenen Jugendlichen und ihrer Familien, ergänzt durch zahlreiche uns bekanntge-
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Schlottmannwordene Resolutionen der Jugendverbände, Familienverbände, Kirchen und auch Parteien. Hier ist durch die Petenten eine der, wie ich meine, aktuellsten familienpolitischen Forderungen angesprochen. Ich danke den Petenten für diese Initiativen im Interesse der betroffenen Jugendlichen und, wie ich schon sagte, auch ihrer Familien.Einen weiteren Schwerpunkt setzten Petenten, indem sie den Bundestag aufforderten, den gesetzlichen Schutz — vor allem von Kindern und Jugendlichen — gegen Auswüchse auf dem Videomarkt zu verbessern.
Der Tatbestand, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist weitgehend bekannt und insbesondere von Presse, Rundfunk und Fernsehen ausreichend behandelt worden. Ich bin dem Kollegen Neuhausen dankbar, daß er hier aus der Sicht der FDP-Fraktion dazu gesprochen hat. Ich stelle dazu fest — wohl ganz im Sinne der Petenten —: Mit § 7 des Gesetzentwurfs zur Neuregelung des Jugendschutzes, von der CDU/CSU und der FDP hier eingebracht — die alte Regierung ist hier ja nach langen Überlegungen nicht zu Potte gekommen —, wird den katastrophalen Auswüchsen im Videobereich der Kampf angesagt.
Die vor drei Wochen, meine Damen und Herren, hier durchgeführte Anhörung von Experten und Verbänden bestätigte die Richtigkeit des von der Regierungskoalition eingeschlagenen Weges.
Wir werden hier, Herr Kollege Gilges — darüber ist sich der ganze Bundestag einig; das haben Sie von dieser Stelle aus erklärt —, den richtigen Weg gehen. Ich glaube auch, daß wir das Gesetz in Kürze, in diesem Jahr also, verabschieden werden.Meine Damen und Herren, wir werden mit diesem Gesetz — diese Anmerkung sei mir hier gestattet, weil diese Sorge auch aus Petitionen hervorging — nicht viel erreichen — das hat auch Kollege Neuhausen gesagt —, wenn hier nicht auch die Eltern, die Verbände mitmachen, wenn hier nicht insbesondere auch unsere Kollegen aus der Kommunalpolitik tätig werden, d. h. dafür sorgen, daß das Gesetz auch in den Kommunen, vor Ort ausgeführt wird. Hier lag in den vergangenen Jahren ein Mangel. Meine Damen und Herren, ich wage die Behauptung, daß die Jugendgefährdungen halb so groß wären, wenn die zuständigen Behörden — das ist die Polizei, das sind die Ordnungsämter, das sind die Jugendämter — auf der kommunalen Ebene intensiver tätig gewesen wären und die Gefährdungen stärker bekämpft hätten.Ein weiterer Schwerpunkt, den ich hier behandeln möchte, ist die hier bereits erwähnte Novellierung des Jugendschutzgesetzes. Wir werden energisch gegen die öffentliche Aufstellung von Unterhaltungsspielgeräten vorgehen, mit denen Gewalt gegen Menschen dargestellt wird oder eine Verherrlichung oder Verharmlosung des Krieges oder Pornographie betrieben werden. Das ist ein Anliegen vieler Petenten, die sich gegen das Kriegsspielzeug einschließlich derartiger Tele- und Elektronikspiele gewandt haben. Hier werden wir also zumindest teilweise im Sinn der Petenten vorgehen. Erfolgreich werden wir aber auch hier nur dann sein können, wenn wiederum die Eltern — ich spreche sie noch einmal an —, die Jugendverbände und vorbeugend die Jugendämter durch ihre Möglichkeiten, u. a. durch ausreichende Jugendfreizeitangebote, mitwirken. Das ist übrigens ein Anliegen, das die Förderung der Jugendlichen selbst und ihrer Familien, insbesondere über die Jugendpläne des Bundes, der Länder und der Kommunen, betrifft.Nun komme ich zur gebotenen Neuregelung des Kindergelds zurück. Hier lag das Schwergewicht der Petitionen auf den Fällen, in denen Eltern für ihre mindestens 18 Jahre alten Kinder seit dem 1. Januar 1982 bzw. 1. Mai 1982 kein Kindergeld mehr und auch keine Erhöhung des Ortszuschlags mehr bekamen, sofern die Eltern im öffentlichen Dienst beschäftigt waren, und keine steuerliche Berücksichtigung der Kinder sowie den Wegfall des Anspruchs auf Familiengeld aus der Krankenversicherung der Eltern erfuhren, weil die Kinder auf eine Ausbildungsstelle warten mußten. Hier sind von betroffenen Familien — ich sagte es schon — hohe Einkommensverluste hinzunehmen. Das ist, wie ich meine, eine große Ungerechtigkeit gegenüber vergleichbaren Jugendlichen in günstigerer Situation. Betroffen wurden und werden hier in besonderem Maß Familien mit niedrigem Einkommen, die ja kaum steuerliche Vorteile in Anspruch nehmen können.Der Staat hat sich seinerzeit hier aus seiner Verantwortung gerade gegenüber diesen Jugendlichen und Familien gestohlen, anstatt es als eine aktuelle hervorragende Aufgabe zu betrachten, eine notwendige Politik für betroffene arbeitslose Jugendliche und ihre Familien zu betreiben. Hier ist Wiedergutmachung zumindest für die laufenden und die künftigen Fälle ab sofort geboten.. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert — und ich weiß, daß das zur Zeit auch von ihr deutlich gesehen und geprüft wird —, die entsprechende Neuregelung des Kindergelds für diesen Personenkreis einzuleiten.
— Herr Gilges, Sie haben das abgeschafft. Sie haben diese Tat zu Ihrer Regierungszeit begangen. Wir räumen auf. Ich hoffe stark, daß meine Fraktion bei diesem Aufräumen diesen Personenkreis berücksichtigen wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Westphal?
Ja. Bitte schön. Vizepräsident Stücklen: Bitte.
Herr Kollege Schlottmann, würden Sie in diesem Zusammenhang wenigstens be-
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Westphalstätigen, daß die Fehlentwicklung, von der Sie hier sprechen, korrigiert worden wäre in der zweiten Beratung des Haushalts für das Jahr 1984,
wenn Ihre Fraktion und die FDP unserem SPD-Antrag zugestimmt hätten?
Ich möchte Sie gern fragen, ob Sie mir zustimmen, daß Sie in Ihrer Mehrheit diesen Antrag, der das behoben hätte, was Sie jetzt kritisieren, abgelehnt haben.
Herr Kollege Westphal, Sie haben selber Zeit gehabt. Sie waren in dem zuständigen Ministerium als Minister verantwortlich, und Sie waren zuständig als Finanzexperte. Ich will es anders sagen: Sie hätten das gar nicht tun dürfen, was Sie da begangen haben.
— Dann sind wir uns einig! Dann sind wir uns einig!
Betroffen sind etwa 160 000 Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahren, wenn man diese Altersspanne will. Sie kämen bei Einführung des früheren Zustands wieder zum Kindergeldbezug. Ihre Familien würden wesentlich entlastet, sofern sich das hinsichtlich des Haushalts vertreten läßt. Hier sehen Sie auch meine Vorsicht. Ich bin vorsichtig, meine Damen und Herren. Aber ich habe mit Norbert Blüm darüber gesprochen. Ich habe den Eindruck — ich wiederhole es —, daß er, Heinrich Geißler als Familienminister, und die Bundesregierung insgesamt sich mit diesen Dingen beschäftigt. Ich bin sicher, daß wir zu einer Regelung kommen, die günstiger ist als die, die Sie geschaffen haben.
Es geht um 160 Millionen DM. Das ist schon ein ganz schöner Happen. Aber, wie gesagt, hier geht es um die jungen Menschen und ihre Familien.
Der Petitionsausschuß — damit möchte ich schließen — sieht also ebenso wie die Petenten und viele andere in unserer Gesellschaft ganz deutlich, daß das seit 1982 geltende Kindergeldrecht in vielen Einzelfällen zu Ergebnissen führt, die einfach unbefriedigend, ich bin der Auffassung, ungerecht sind. Ich wiederhole: Dies gilt insbesondere für die Fälle der Jugendlichen, die nach Abschluß ihrer Ausbildung arbeitslos sind.
Bürokratische Vorbehalte. meine Damen und Herren, wie höhere Arbeitsbelastung, Arbeitsverzögerung, Abgrenzungs- und Verwaltungsprobleme und für viele kaum wirksame steuerliche Entlastungsmöglichkeiten hielten den Ausschuß nicht davon ab, diese Petitionen, die ich hier aufgeführt habe, der Regierung und den Fraktionen als Material in der Hoffnung zu überweisen, daß sobald wie möglich günstigere Regelungen geschaffen werden.
Zusammengefaßt — das geht aus meinen Ausführungen hervor — trete ich dafür ein, daß erstens das Kindergeldgesetz, besonders im Interesse der betroffenen arbeitslosen Jugendlichen, und zweitens das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit so schnell wie möglich geändert werden.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Berger, Sie haben am Anfang bedauert, daß im Petitionsausschuß zunehmend auch politische Diskussionen in einer bestimmten Gewichtung laufen würden, und gesagt, daß Sie das nicht gutheißen. Ich glaube aber, gerade die Rede des Herrn Schlottmann eben hat gezeigt, auf welche billige Art und Weise Petitionen zum Polemisieren benutzt werden.
— Also, Herr Göhner, Sie kriegen Ihr Fett auch gleich noch; denn Sie sind als Obmann doch derjenige, der permanent dann, wenn die Oppositionsparteien Bedenken haben, versucht, uns mit Mehrheitsentscheidungen niederstimmen zu lassen,
obwohl sich gerade der Petitionsausschuß bei schwierigen Fällen einigen sollte, und zwar auch deswegen, damit der Petent, der nicht weiß, wie die Diskussion vor der Entscheidung im Ausschuß gelaufen ist, ein objektives Bild bekommt. Ich glaube, die Oppositionsparteien leiden am meisten darunter, daß es bei vielen schwierigen Petitionen Mehrheitsentscheidungen gibt und in der Antwort an den Petenten nur die Erklärung steht, die die Regierung zu diesem Fall gegeben hat. Dem Petenten ist dann überhaupt nicht klar, daß ein großer Teil des Ausschusses ganz anderer Meinung war.
Dies ist ein Punkt, den wir mehrfach beklagt haben. Gerade an dem Punkt, den Sie hier angesprochen haben, will ich Ihnen das einmal verdeutlichen.Wir kriegen zunehmend Petitionen zu gesetzlichen Veränderungen genereller Art, etwa zum Kindergeldrecht oder zu den im Zuge der letzten Haushaltsberatung verabschiedeten Gesetzen, insbesondere zu Fragen des Beamtenrechts.
Ich will im einzelnen darauf eingehen.
Zum Kindergeld — Sie haben die Situation mit Tränen in der Stimme angeprangert —, einem sehr schwierigen Bereich, was wir schon lange gesehen
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Wartenberg
haben. Deshalb hat die SPD-Fraktion — Herr Westphal hat in seiner Zwischenfrage schon darauf hingewiesen — in der zweiten Lesung des Haushalts
einen Änderungsantrag gestellt. Diesem Antrag haben Sie nicht zugestimmt. Jetzt können Sie sich doch nicht hier hinstellen und sagen, Sie hofften, daß die Regierung da etwas machen werde. Also, ich habe schon bessere Witze gehört.
Sie hätten bei der letzten Haushaltsberatung zustimmen können. Dann wäre die Sache in Gang gekommen.
Zweiter Punkt: Diese Petitionen — ich war gerade bei einigen dieser Petitionen zum Kindergeld Berichterstatter — sind von uns angehalten worden. Wir wollten eine Abstimmung dahin gehend erzwingen, sie der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen. Diesmal haben Sie uns nicht niedergestimmt, sondern wir haben nach langen Diskussionen den Kompromiß gefunden, sie der Regierung teilweise als Material, teilweise zur Erwägung zu überweisen. In der ursprünglichen Begründung, die der Berichterstatter unterschreibt, war von Ihrer Fraktion auch bei diesen Petitionen für Sach-und Rechtslage plädiert worden. Erst nachdem die Opposition das angehalten hatte, haben Sie sich dazu verstanden, auf diesen Kompromiß einzugehen.
Angesichts dessen ist es ein bißchen zu durchsichtig und auch ein bißchen ärgerlich, wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und sagen, Sie seien diejenigen, die das Leid von der Menschheit nähmen. Gerade an diesem Punkt wird deutlich, daß es unsinnig ist, Frau Vorsitzende, wenn Sie beklagen, daß der Petitionsausschuß zum Polemisieren benutzt werde. Sprechen Sie da Ihre eigenen Leute an! Es geht hier um wichtige Dinge, die die Menschen betreffen.
Wenn es dabei zu Auseinandersetzungen kommt, müssen sie ausgetragen werden, aber eben in vernünftiger Art und Weise.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kroll-Schlüter?
Ja, bitte.
Verehrter Herr Kollege, finden Sie es besonders glaubwürdig, wenn Sie vor einer Wahl das Kindergeld erhöhen und es nach
der Wahl senken, wenn Sie in der Regierungszeit mit Ihrer Mehrheit die Zuwendungen für Familien kürzen und sie in der Opposition wieder erhöhen wollen?
Natürlich hat es in diesem Punkt — das hat Herr Westphal auch gesagt — einen Fehler gegeben. Es ist nicht gut, daß gerade bei denjenigen, die auf einen Ausbildungsplatz warten, das Kindergeld nicht mehr greift. Wir haben von diesen Härten zum Teil auch erst vor Ort, in den Wahlkreisen, von den Bürgern gehört. Bei vielen dieser komplexen Gesetzesänderungen — das wissen Sie genauso — ist vielen, auch dem einzelnen Abgeordneten, nicht klar geworden, was an bestimmten Punkten bewirkt wurde. Ich erinnere nur an den schrecklichen Fall mit dem Taschengeld, wo alle Mitschuld hatten. Das ist dann vom gesamten Parlament rückgängig gemacht worden. Wenn das aber so ist, wenn Sie und wenn wir sagen: Das ist keine gute Entwicklung, dann muß man das eben rückgängig machen. Wir haben einen Antrag zum Rückgängigmachen gestellt; der ist abgelehnt worden. Das ist der Fakt.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Wir haben sehr viele Petitionen zu dem Bereich Absenkung der Eingangsämter im öffentlichen Dienst bekommen. Gerade die sehr große Gruppe öffentlicher Dienst ist in der letzten Haushaltsrunde relativ stark zur Kasse gebeten worden. Insbesondere hat es bei den Eingangsämtern sehr große Absenkungen gegeben, für eine große Gruppe von Betroffenen. Auch in diesem Punkt haben wir dagegengestimmt, sowohl bei den Haushaltsberatungen als auch im Petitionsausschuß, und sind dann niedergestimmt worden — gerade heute morgen wieder mit einer Mehrheitsentscheidung auf Ihren Antrag, Herr Göhner.
Gerade an diesem Beispiel wird wieder sehr deutlich, daß dem Petenten, der ein ernsthaftes Anliegen vorträgt, nur die Begründung der Regierung und der Mehrheitsfraktionen zur Kenntnis kommt, nicht aber die Tatsache, daß die Oppositionsparteien im Ausschuß dem Petenten in diesem Punkte helfen wollten. Das zeigt, glaube ich, auch noch einmal sehr deutlich, wie schwierig in der Außendarstellung die Arbeit des Ausschusses für bestimmte Bereiche im Petitionsrecht ist.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Dinge zu Frau Nickels sagen. Ich fand ihren Vortrag — es war ja fast ein Referat zum Petitionsrecht — ganz witzig und ganz gut, aber ich fand, es war ein bißchen eine Überhöhung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie — ich habe jetzt Ihre Luftpause benutzt — eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Göhner?
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Nein, ich will jetzt keine Zwischenfrage mehr beantworten; der Fall ist jetzt abgeschlossen.
— Der Punkt ist doch ausdiskutiert, und es käme jetzt noch einmal das gleiche.
Zu den Fragen des Petitionsrechtes, die Frau Nikkels hier angesprochen hat, muß man, glaube ich, eines sehen: In das Petitionsrecht sozusagen alle Anforderungen hineinzulegen, die wir an das Funktionieren der Demokratie stellen, das ist ein bißchen zuviel. Das ist eine Überhöhung. Ich glaube, dazu reicht das Petitionsrecht allein nicht aus. Wenn man also in bezug auf demokratisches Verhalten, in bezug auf demokratische Abläufe und Institutionen zu Recht Kritik übt, dann sollte man sie nicht nur am Petitionsrecht aufhängen. Dafür ist das Petitionsrecht, das einen Ausgleich für ganz bestimmte Härtefälle schaffen soll, ein bißchen zuwenig. Es wird damit überfordert, und das bringt meines Erachtens neue Probleme. Ich bin da sehr, sehr skeptisch.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Nickels?
Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Wartenberg, es ist völlig klar, daß das Petitionswesen nur ein kleiner Bestandteil im Parlamentssystem ist. Aber haben Sie das Gutachten, das wir in Auftrag gegeben haben, aufmerksam gelesen, vielleicht auch die historische Bedeutung für die Demokratisierung, die der Herr Gutachter festgestellt hat, zur Kenntnis genommen? Darauf habe ich mich bezogen.
Das ist richtig; dem stimme ich durchaus zu. Trotzdem kann man nicht sozusagen seine ganze Parlamentarismuskritik und sein ganzes Unbehagen an parlamentarischen Abläufen in das Petitionsrecht transportieren. Das gibt eine ungerechtfertigte Gewichtung. Darin sollten wir uns vielleicht auch einig sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß einen Punkt ansprechen, der auch eine große Bedeutung hat. Immer wieder kommen Petitionen von Beamten, kleinen Leuten, die aus dem Dienst entfernt worden sind, weil sie ein Vergehen begangen haben. Ich nenne das Beispiel des Postbeamten, der Telefongroschen veruntreut hat. Dies ist alles sehr ernst zu nehmen und sehr wichtig. Aber manchmal kommt einem doch ein bißchen das Bedenken: Wie geht es den Kleinen, wie geht es den Großen? Wir haben auch gerade wieder eine Petition, in der die Frage gestellt wird, ob man nicht
eine strafrechtliche Verfolgung bei Haushaltsvergehen einführen sollte. Uns, gerade uns als Parlamentariern, stößt es ja häufig genug sauer auf, daß hohe Beamte, die Haushaltsvergehen in irgendeiner Weise zu verantworten haben, niemals belangt werden. Es gibt zwar eine harte Diskussion, aber damit ist die Sache „gegessen". Dagegen wird aber der kleine Beamte, der, was schlimm genug ist, mal in die Telefonkasse greift, rausgeschmissen. Ich finde, das ist ein Punkt, der uns zum Nachdenken zwingen muß.
Ich will einen weiteren Punkt nennen. Auch politische Vergehen, wie wir sie gerade jetzt in der Bundesrepublik diskutieren, etwa auch die Frage der Wertung dessen, worin der Wirtschaftsminister involviert ist, führen doch dazu, daß man immer wieder fragt: Wie wird solch ein Winzling von Beamter behandelt, wie werden die großen Politiker und wie werden die Abteilungsleiter bei bestimmten Haushaltsvergehen behandelt? Das ist eine Sache, die der Petitionsausschuß weiter verfolgen muß, gerade auch im Hinblick auf die Petition, in der gefragt wird, ob man nicht bestimmte Haushaltsvergehen doch strafrechtlich angehen muß. Der Bundesdisziplinaranwalt hat in seinem letzten Bericht darauf hingewiesen, daß er in zunehmendem Maße feststellt, daß gerade Konflikte und Vergehen, die sich in diesem Bereich abspielen, nicht ordnungsgemäß verfolgt werden, weil die Vorgesetzten da drinhängen und Angst haben, daß sie mit hineinkommen, wenn bei Kleinen was aufgedeckt wird. Ich meine, das ist ein sehr ernst zu nehmender Punkt und gerade für uns, die wir als Anwälte für die sehr kleinen Leute da sein sollen, nachdenkenswert.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haungs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß sich über 12 000 Bürger mit Eingaben an den Petitionsausschuß gewendet haben, beweist die Unverzichtbarkeit des Art. 17 Grundgesetz. Deshalb möchte ich Ihnen, Frau Kollegin Nickels, sehr entschieden widersprechen, wenn Sie sagen, das sei nur ein gut inszeniertes Theaterspiel. Sie und wir haben es gar nicht notwendig, unsere Arbeit im Petitionsausschuß, die hier gewürdigt wurde und die tatsächlich quer durch alle Parteien geht, herunterzuwürdigen.
— Ich habe Sie nicht bewußt falsch verstanden, ich habe nur den Eindruck, daß Sie und Ihre Kollegen in der konkreten Arbeit in den Ausschüssen sehr fleißig, sehr kooperativ arbeiten, aber immer dann, wenn Sie sich öffentlich zu Wort melden, den Eindruck erwecken müssen, die Politik sei eher Schauspiel als beständige Arbeit.
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HaungsWir haben es gar nicht notwendig, den Parlamentarismus eher als eine Art von Happening zu betrachten.
— Ich habe zugehört, und ich habe es so verstanden, wie ich es verstehen konnte.
Unsere parlamentarische Arbeit ist sicherlich nicht fehlerfrei, im Petitionsausschuß schon gar nicht. Solange wir aber nichts Besseres gefunden haben und solange wir berechtigte Zweifel haben, ob Sie und Ihre politischen Freunde hierbei hilfreich sein könnten, sollten wir auf die bisherige Art und Weise fortfahren.Der Petitionsausschuß ist unverzichtbar für den Bürger, der einen Anspruch hat, daß seine Eingabe sachlich geprüft und, wenn möglich, ihm geholfen wird. Er ist aber auch unverzichtbar für den Abgeordneten. Hier möchte ich Ihnen zum zweitenmal widersprechen, weil ich die Arbeit nicht als undankbar, sondern als sehr lebendig, sehr lehrreich ansehe, gerade für denjenigen, der neu im Parlament ist.
— Sie haben gesagt, es sei eine undankbare Arbeit.
— Sie haben gesagt, die Mitglieder des Petitionsausschusses stünden im Schatten. Sie können gar nicht im Schatten stehen, da zu der frühen Zeit des Arbeitsbeginns noch gar keine Sonne scheint.
Wir erkennen aus den Petitionen, wo viele Menschen der Schuh drückt. In diesem Zusammenhang sehe ich auch die Massenpetitionen, obwohl ich es nicht als Gipfel der politischen Klugheit und der erwähnten Sensibilität sehen kann, wenn auf vorgedruckten Postkarten das Betriebsergebnis der Bundespost verbessert wird.
Ja, das kann ich auch nicht billigen, Herr Kollege Kirschner.
Gerade Monopolbetriebe haben eine besondere Verpflichtung, den Kunden gut zu bedienen.Ich gebe zu: Bei der Bearbeitung von Petitionen habe ich durchaus zwiespältige Eindrücke: einerseits Verständnis und Mitgefühl für die Beschwerden — denn die schriftliche Schilderung der konkreten Anwendung eines Gesetzes, dem ich wie viele meiner Kollegen zugestimmt habe, zeigt, daß es im Einzelfall sehr oft mit Härten verbunden war —, andererseits auch Unverständnis, weil der Betroffene oder die Gemeinschaft der Betroffenenden Sinn einer Maßnahme und die politische Absicht des Gesetzgebers nicht akzeptiert.Um dies deutlicher zu sagen: Die Union hat die letzte Bundestagswahl vor allem deshalb gewonnen, weil man uns zutraute, die öffentlichen Finanzen in Ordnung zu bringen. Daß dies vor allem Sparmaßnahmen erheblichen Umfanges notwendig machte und daß dazu politischer Mut gehörte, war eigentlich selbstverständlich. Deshalb ist es logisch, wenn sich jetzt die meisten Petitionen darüber beschweren, daß sich beispielsweise der Nettobetrag der Rente verringert hat, weil ein Beitrag zur Krankenversicherung abgezogen wurde, oder daß — dies wurde schon erwähnt — die Eingangsbesoldung der Beamten niedriger wurde oder daß — um einen dritten Fall zu nennen — die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe verschärft wurden.
— Ja, das kommt noch!
— Nein, das glaube ich nicht!Die Vielzahl von Petenten, welche die Sparmaßnahmen in ihrem konkreten, persönlichen Einzelfall nicht verstehen können und den Petitionsausschuß um Abhilfe bitten, zeigt zweierlei:Erstens. Kritiker unserer Politik, die ab und zu behaupten, man habe mit dem Sparen eigentlich noch gar nicht richtig begonnen, sollten ausgewählte Akten des Petitionsausschusses als Pflichtlektüre bekommen. Sie würden dann ihre Meinung ändern.
„Sparmaßnahmen der verschiedenen Bundesregierungen" — so wörtlich im ersten Abschnitt des vorliegenden Berichts — treffen in ihrer Vielzahl — hier stimme ich mit Ihnen, Herr Kollege, überein — den „kleinen Mann" durchaus sehr oft sehr hart.Zweitens. Die „Leidensfähigkeit" oder die Bereitschaft, aus besserer Einsicht finanzielle Kürzungen hinzunehmen, ist bei verschiedenen Berufs- oder Altersgruppen sehr unterschiedlich. Mein persönlicher Eindruck aus den Petitionen ist, daß viele Rentner und Bezieher von Ruhegehältern trotz Kritik an einzelnen Sparmaßnahmen viel Verständnis für die gesamtpolitische Notwendigkeit hatten.Dies gilt nicht in gleicher Weise — das wurde von meinem Vorredner schon erwähnt — für Angehörige des öffentlichen Dienstes, vor allem für diejenigen, die am Beginn ihrer Berufstätigkeit stehen. Zahlreiche Petenten wenden sich gegen die Absenkung der Eingangsbesoldung des gehobenen und des höheren Dienstes. Natürlich fühlt man sich gegenüber früheren Jahrgängen benachteiligt, natürlich ging man bei der Berufswahl von anderen Voraussetzungen aus. Eine Zurückstufung von A 10
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4870 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Haungsnach A 9 — so ein Petent — verringert die Nettobezüge um 10 % oder 200 DM.Das alles ist richtig, aber wer das Arbeitsplatzrisiko in der freien Wirtschaft kennt, wer immer an die Solidarität der Arbeitsplatzbesitzer appelliert und wer sich die Explosion gerade der Personalkosten im öffentlichen Dienst vor Augen führt, kann darin keine ungerechtfertigte Benachteiligung sehen. Dies haben wir den Petenten auch mitgeteilt.
— Vielen Dank!In einer gemeinschaftlichen Eingabe beschwerten sich Lehrlinge, die bei der Post zu Fernmeldehandwerkern ausgebildet wurden, darüber, nicht ausbildungsgerecht übernommen zu werden. Natürlich muß man Verständnis dafür haben, daß sich ein Fernmeldehandwerker nicht freut, wenn er Postbote wird und dafür auch noch umziehen soll. Man kann aber nicht von allen Ausbildern fordern, möglichst viel — auch über den eigenen Bedarf hinaus — auszubilden und „als Dank" drei Jahre später eine Beschäftigung anzubieten, die im personellen Bereich immer genau paßt. Dies wird im Bereich der privaten Wirtschaft nicht gefordert; es wäre für alle Ausbildungsbetriebe eine schwere Hypothek. Deshalb müssen betriebswirtschaftliche Gründe es in diesem Falle auch der Bundespost erlauben, die Anstellung nur im Rahmen des Personalbedarfs und der Bereitschaft zur fachlichen und örtlichen Mobilität vorzunehmen.Der Bürger hat Vertrauen zum Petitionsausschuß. Manchmal ist es mir geradezu unheimlich, wieviel man uns zutraut. Selbst wenn in vielen Fällen schon alle juristischen Instanzen bemüht wurden und der Petent nicht Recht bekam, hoffen viele auf die „Gerechtigkeit" des Petitionsausschusses. Aber wie oft müssen wir dem Petenten schreiben, daß wir kein anderes Urteil als die Gerichte fällen können?Wir können auch nicht — das hat die Frau Vorsitzende in ihren Ausführungen schon bemerkt — den Ausschuß als politischen Überausschuß ansehen. Die Versuchung ist groß, vor allem natürlich für die Opposition, die verlorenen Schlachten im Plenum nochmals im Ausschuß zu schlagen. Die Frage lautet für mich schlicht und einfach: Ist der Petitionsausschuß die Notrufsäule des Bürgers oder die der Oppositionsparteien?Für alle Mitglieder des Petitionsausschusses sollte gelten — so habe ich die Arbeit auch immer verstanden —: Kein Gesetz kann so gut gemeint, politisch notwendig und richtig ausgeführt sein, daß es nicht zu individuellen Härten führt. Im Einzelfall kann und muß dann auch geholfen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hiller.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn mein Vorredner die Frage stellt, ob der Petitionsausschuß die Notrufsäule des Bürgers oder der Opposition sei, dann ist dazu zu sagen: Wir nehmen die Notrufsäule des Bürgers natürlich ernst und versuchen, das in unsere politische Arbeit einzubeziehen. Deshalb vertreten wir auch die Interessen der Bürger, die sich an den Petitionsausschuß wenden, und versuchen, ihnen politisch weiterzuhelfen. In dieser Sache hat es ja schon eine kleine Replik zum Kindergeld gegeben. Da sind natürlich auch die Regierungsparteien gefordert, wenn sie die Notrufsäule ernst nehmen.
Über die Funktion des Petitionsausschusses ist in dieser Debatte schon eine ganze Menge gesagt worden. Deshalb möchte ich grundsätzlich nur noch einige wenige Dinge hinzufügen. Seit einem Jahr in diesem Ausschuß, bin ich sehr beeindruckt vom Engagement der Ausschußmitglieder und des Ausschußsekretariats sowie natürlich auch vom Engagement der Frau Vorsitzenden. Das möchte ich sehr deutlich wiederholen.
Ich möchte aber eine kleine Anmerkung machen. Vielleicht bin ich ein bißchen zu naiv, aber als Abgeordneter der Opposition hätte ich es natürlich viel lieber gesehen, wenn gerade der Vorsitzende von der Opposition gestellt würde.
— Ich sage ja gerade, daß ich dazu vielleicht zu naiv bin. Aber auf Grund meines Verständnisses, von dem Ausschuß hätte ich mir das gewünscht. Deshalb habe ich das hier gesagt. Ich weiß, daß viele diese Einschätzung auch teilen.Die Arbeit im Petitionsausschuß ist Kleinarbeit, scheinbar keine große Politik. Es geht jeweils um einen Einzelfall, um eine ganz persönliche, konkrete Situation, der doch — dessen sind wir uns bewußt — häufig für viele andere Einzelfälle stellvertretend steht, die uns nicht in Form von Eingaben erreichen. Das merken wir gelegentlich, nämlich nur dann, wenn es sich um Massenpetitionen handelt. Man wundert sich manchmal, daß so wenige Bürger zu bestimmten Problemen überhaupt eine Petition einreichen. Es könnten wesentlich mehr sein. Ich glaube, es werden auch mehr werden, wenn die Arbeit des Petitionsausschusses in der Zukunft glaubwürdig weitergehen wird.Die Debatte über den Jahresbericht hat natürlich auch gezeigt, daß vielen Menschen geholfen werden konnte. Aber es gibt auch sehr viele Fälle, in denen wir nicht helfen konnten. Aber wichtig ist eben, daß die Petenten in einer parlamentarischen Demokratie auf Ungerechtigkeiten und Schwachstellen in Gesetzen und Verwaltung aufmerksam machen, daß sie das deutlich zum Ausdruck bringen können und uns Abgeordnete zumindest zwingen, das Wirksamwerden und die konkreten Auswirkungen von Gesetzen auf einzelne in der Gesetzgebungsarbeit
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Hiller
zu berücksichtigen, ja darauf notfalls detailliert einzugehen.Das Petitionsrecht ist ein Grundrecht, das für alle Bürger unseres Staates uneingeschränkt gelten muß. Ich meine, es muß auch für Soldaten gelten. Ich kann es nicht für gut halten, daß Soldaten in einer demokratischen Armee, der Bundeswehr mit dem Leitbild des Bürgers in Uniform, disziplinarische Folgen zu gewärtigen haben, wenn sie vom Petitionsrecht Gebrauch machen.
Natürlich entspricht auch der Petitionsausschuß in seiner Zusammensetzung dem Wahlergebnis und damit der Stärke der einzelnen Fraktionen. Ich meine, das kann und darf nicht anders sein. Aber hier besteht natürlich auch die Gefahr des Mißbrauchs; vielleicht sage ich das etwas zu deutlich. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die Mitwirkungsrechte der Opposition, der Minderheiten, nicht eingeschränkt werden dürfen. Das bedeutet — ich sage das aus aktuellem Anlaß, wenn ich an die Sitzung heute morgen denke —, daß, wenn es darum geht, Mitglieder der Regierung in den Petitionsausschuß einzuladen, diesem Wunsch auch von der Mehrheit ohne Murren stattgegeben werden müßte. Es hat heute Enthaltungen und Gegenstimmen gegeben.
Ich meine, es kommt hier nicht auf Gnade an — dieses Wort ist auch schon einmal gefallen —, sondern darauf, daß in Zukunft ein demokratischer Brauch gewahrt wird, daß auch die Opposition ihre Rechte so wahrnehmen kann, wie Sie das in der Vergangenheit selbstverständlich auch immer konnten.
Ich möchte nun zu einigen Eingaben etwas sagen, die die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten betreffen. Etwa 150 Eingaben sind hierzu eingegangen, überwiegend zu Problemen der Familienzusammenführung, des Besuchsreiseverkehrs und wegen Verhaftungen in der DDR. Bei den Eingaben aus diesem Bereich werden die Grenzen sehr deutlich, die dem Petitionsausschuß gesetzt sind, wenn es sich um die Beziehungen zwischen zwei souveränen Staaten handelt. Der Petitionsausschuß kann sich hier nur sehr diskret und ohne große Öffentlichkeit engagieren. Letztlich sind die Gesamtbeziehungen zwischen beiden deutschen Staaten für diesen Bereich entscheidend.In dem Bericht wird zwar ein positiver Fall geschildert, ich möchte aber in diesem Zusammenhang vor Illusionen warnen. Auch wenn sich nach dem Treffen am Werbellinsee und auch in der jüngeren Vergangenheit einiges verbessert hat, so muß man doch, wie ich glaube, realistischerweise darauf hinweisen, daß die Bemühungen der Bundersregierung um Verbesserungen im Besuchsreiseverkehr, beim Zwangsumtausch und bei der Freilassung von Bundesbürgern aus der DDR-Haft — diese Bemühungen werden natürlich unterstützt — leider nicht spürbar erfolgreich waren. Ich glaube, daß man dashier auch einmal sagen muß, denn man muß vor falschen Erwartungen im Zusammenhang mit dem Petitionsrecht warnen.Bundesbürger, die in die DDR reisen, möchte ich ausdrücklich bitten, sich bevor sie eine Petition einreichen, genauestens darüber zu informieren, welche gesetzlichen Bestimmungen in der DDR gelten, welche zum Teil drastische Strafen verhängt werden. Ich glaube, es ist besser, sich vorher zu informieren, als hinterher zu versuchen, auf humanitärer Ebene über den Petitionsausschuß etwas zu erreichen. Ich finde es trotzdem gut, daß das Engagement vorhanden ist. Nur: Es hat keinen Sinn, daß wir in diesem Bereich falsche Erwartungen wekken.Das gilt für die meisten Themen, die die Beziehungen der beiden deutschen Staaten betreffen.In folgendem Punkt ist es allerdings anders; da ist es sozusagen hausgemacht. Da konnte man selber helfen, und da hat der Petitionsausschuß auch geholfen. Ich nenne zwei positive Beispiele. Zwei Bürger aus der DDR, die wegen ihres Ausreisebegehrens in der DDR arbeitslos geworden waren, bekamen zunächst kein Arbeitslosengeld, weil sie nicht entsprechend unserer Rechtslage in den letzten drei Jahren ein halbes Jahr berufstätig waren. Ihnen konnte geholfen werden. Es hat Informationen an die einzelnen Dienststellen gegeben. Das finde ich sehr gut. Angesichts der Ausreisewelle zu Beginn dieses Jahres glaube ich, daß zu diesem Gesamtkomplex weitere Informationen an viele Dienststellen, die mit diesem Bereich befaßt sind, notwendig sind. Ich vermute einfach — das habe ich in vielen Gesprächen mit Aussiedlern aus der DDR bestätigt gefunden —, daß in Zukunft noch einige Petitionen aus diesem Bereich zu erwarten sind.Es ist in diesem Bereich natürlich notwendig, daß man vorher für Abhilfe sorgt. Es sollte nicht so sein, daß Enttäuschungen von vornherein vorprogrammiert werden. Wir kennen die Zahlen. Es wurde schon häufig gesagt: Es ist notwendig, daß die Regierung aktiv wird, daß sie Maßnahmen ergreift. Mindestens genauso notwendig ist es, die Öffentlichkeit über diese beiden Fälle, über die ich ganz kurz berichtet habe, weitgehend zu informieren, um auf die rechtlichen Möglichkeiten der Aussiedler in verstärktem Maße hinzuweisen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Göhner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur auf ein paar Bemerkungen eingehen, die Herr Wartenberg und Frau Nickels zu den Verhältnissen im Petitionsausschuß gemacht haben. Sie haben hier versucht, den Eindruck zu erwecken, als ob wir rigoros von Mehrheiten Gebrauch machen und alles gleich niederknüppeln.
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4872 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Dr. GöhnerDas ist natürlich, wie ich Ihnen an wenigen Beispielen deutlich machen will, falsch, und es ist auch von den nachfolgenden Rednern mit dem Hinweis auf die gute Atmosphäre in dem Ausschuß teilweise schon korrigiert worden.Zunächst einmal: Allein in den letzten Wochen, in den letzten vier oder fünf Sitzungswochen, kann ich mich an drei Fälle erinnern, bei denen ich selbst als Berichterstatter beteiligt war und in denen wir eine Berücksichtigung mit unserem Votum beschlossen haben, obwohl die Bundesregierung einen anderen Standpunkt vertrat. Das betraf einmal einen Fall der vorzeitigen Entlassung aus der Bundeswehr, das betraf einen weiteren Fall aus dem Verteidigungsministerium, wo es darum ging, einen Beschäftigten bei der Bundeswehr zur Arbeit im Militärarchiv, zur Herstellung eines Buches über Stülpnagel, freizustellen,
und das betraf drittens die Übernahme von Krankenbehandlungskosten, die wir nach Ladung der betroffenen Krankenversicherung und des BMA gegen den Willen der Regierung beschlossen haben. Also damit das klar ist: Wenn es überzeugende Argumente gibt
und sie es für sachlich begründet halten, sind selbstverständlich auch die Koalitionsfraktionen in der Lage, sich über Stellungnahmen der Regierung hinwegzusetzen.
Ich finde es wichtig, daß wir im Petitionsausschuß nicht einfach ein Regierungs-Oppositionsverhältnis haben, sondern daß der jeweilige Einzelfall gerade losgelöst von generellen gesetzespolitischen Fragen betrachtet und entschieden wird.
Zweitens. Herr Kollege Hiller, Sie haben auf die Ladung von Regierungsvertretern abgestellt. Wenn ich es richtig im Kopf habe, haben wir bisher nicht ein einziges Mal eine von Ihnen beantragte Ladung eines Regierungsvertreters abgelehnt. Ich habe keinen Fall in Erinnerung, wo wir das getan hätten. Wir haben mehrfach danach gefragt, ob eine Ladung sinnvoll sei, weil uns nicht klar war, wo eigentlich noch offene Fragen bestanden. Ich sage Ihnen ganz offen: Auch heute morgen bei dem Fall, bei dem wir so beschlossen haben, habe ich nicht recht verstanden, wo wirklich offene Fragen vorhanden waren. Aber wir haben den Wunsch akzeptiert, respektiert und nicht von unserer Mehrheit Gebrauch gemacht. Obwohl wir der Überzeugung waren, daß wir keine weitere Sachaufklärung brauchten, haben wir der Ladung des Regierungsvertreters zugestimmt. Deshalb gibt es jetzt häufiger — wie ich mir von alten Hasen habe sagen lassen: häufiger als in der Vergangenheit — die Ladung von Regierungsvertretern.
Der dritte Punkt: Herr Wartenberg, daß Sie hier mangelnde Rücksicht beklagen, ist für mich etwas überraschend. Sie haben in einem anderen Zusammenhang auf die Petition abgestellt, die wir heute morgen behandelt haben und die die Besoldung im öffentlichen Dienst bei den Eingangsämtern betrifft. Wir haben die Behandlung dieser Petition mehrfach vertagt und der Vertagung von unserer Seite ohne weiteres zugestimmt, weil Sie nicht im Ausschuß waren. Die CDU/CSU-Fraktion nimmt auch auf Sie persönlich Rücksicht und vertagt auch solche Petitionen — sogar mehrfach —, wenn Sie nicht im Ausschuß sind.
Meine Damen und Herren, wenn hier von Herrn Vahlberg der Eindruck erweckt worden ist, daß es so laufe, daß eine Stellungnahme von der Bundesregierung eingeholt werde, und schon werde dem zugestimmt, die Petition ad acta zu legen, dann ist das ganz einfach eine Verfälschung des tatsächlichen Ablaufes im Petitionswesen. In den meisten Fällen wird dann, wenn die Stellungnahme eines Ministeriums dem Anliegen des Petenten nicht gerecht wird, ihm also nach Auffassung des Ministeriums nicht entsprochen werden kann, dem Petenten diese Stellungnahme zugesandt.Weiterhin ist es auch nicht so, daß nur Ministerien um Stellungnahmen gebeten werden. Wie oft haben wir von Berufsgenossenschaften, von Krankenversicherungen, von der Bundesanstalt für Arbeit Stellungnahmen erbeten. Immer dann, wenn ein Berichterstatter eine ergänzende Stellungnahme von irgendeiner Stelle haben wollte, hat er sie bekommen. Das ist noch keinem Berichterstatter anders passiert. Deshalb sollte man hier auch nicht einen gegenteiligen Eindruck erwecken.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Überweisungsanträge sind naturgemäß nicht gestellt. Ich schließe die Aussprache.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Sie kommen heute in den Genuß einer um 15 Minuten längeren Mittagspause. Das ist ein Äquivalent für viele Mittagspausen, die wesentlich kürzer waren, als ursprünglich vorgesehen.
Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:Fragestunde— Drucksache 10/1367 —
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4873
Vizepräsident WestphalIch rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. von Geldern zur Verfügung.Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Bredehorn auf:Wie hoch sind jährlich die negativen finanziellen Auswirkungen auf die Einkommen der milchproduzierenden Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland bei der Quotierung der Milchmenge und anderer Maßnahmen auf dem Milchmarkt?Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Bredehorn, der EG-Ministerrat hat am 31. März 1984, wie Sie wissen, tiefgreifende Maßnahmen zur Eindämmung der Kostensteigerung in der EG-Agrarpolitik beschlossen. Nur auf diese Weise konnte ein Zusammenbruch der Marktordnungen und ein drastischer Rückgang der Agrarpreise vermieden werden.
Die Bundesregierung hat immer wieder betont, daß die Garantiemengenregelung die einzige kurzfristig wirksame und für die Landwirtschaft langfristig beste Lösung darstellt, daß sie aber nicht ohne Opfer für die deutschen Bauern, insbesondere für die milchproduzierenden Betriebe zu verwirklichen ist. Hauptziel der Bundesregierung war es, den Milchmarkt funktionsfähig zu halten, die bodenabhängige Milchproduktion zu stützen, die Belastungen möglichst gerecht auf alle Betriebe zu verteilen und dabei die Verursacher der Milchüberproduktion stärker zu treffen.
Diesen Zielen dient der Beschluß des EG-Ministerrats, diesen Zielen dienen auch die nationalen Durchführungsbestimmungen. Nach dem Brüsseler Beschluß wird die Garantiemenge für Milch in der Bundesrepublik Deutschland im Wirtschaftsjahr 1984/85 um 6,7 %, im folgenden Wirtschaftsjahr 1985/86 um 7,7 % verringert. Für den einzelnen Erzeuger wird die Menge nach Maßgabe der individuellen Anlieferungsentwicklung seit 1981 und unter Berücksichtigung der Betriebsgröße vermindert, und zwar zwischen 4 % als Basisabzug für alle Erzeuger und maximal 12,5 % für Erzeuger großer Mengen mit starker Produktionssteigerung. Um die zur Regelung bestimmter Härtefälle notwendigen Referenzmengen in Höhe von etwa 4 % der Garantiemenge bereitstellen zu können, wird eine Prämie für die Aufgabe der Milcherzeugung eingeführt. Landwirte, die die Milchviehhaltung endgültig aufgeben wollen, sollen aus Bundesmitteln in zehn Jahren eine Prämie in Höhe von 1000 DM je 1 000 kg Milchanlieferung erhalten, höchstens aber 15 000 DM je Betrieb und Jahr. Für Kleinerzeuger wird eine Entlastung bei der für das erste Wirtschaftsjahr 1984/85 um 1 Prozentpunkt erhöhten Mitverantwortungsabgabe gewährt.
Die finanziellen Auswirkungen auf die Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe hängen nun entscheidend von den einzelbetrieblichen Gegebenheiten und Entscheidungen ab und lassen sich mit globalen Durchschnittszahlen nicht wiedergeben.
Bei der Wertung der Maßnahmen und ihrer Einkommenswirkungen ist aber zu berücksichtigen, daß die Milcherzeuger die Möglichkeit haben, über Anpassungsmaßnahmen einen großen Teil der Erlösminderungen auszugleichen, ohne diese Mengenbegrenzung die Gefahr eines Zusammenbruchs des Milchmarktes mit einem drastischen Sinken der Milchpreise und der Einkommen gedroht hätte, und daß die Bundesregierung durch ihr Programm zur Verbesserung der Einkommenssituation Rückwirkungen der Maßnahmen auf die Einkommenslage der Landwirtschaft zusätzlich mildern wird.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Bredehorn.
Herr Staatssekretär, ich hatte ja nach den negativen finanziellen Auswirkungen, nach den Einkommensverlusten der Betriebe gefragt. Ich frage Sie deshalb, ob Sie die vom Deutschen Bauernverband angestellten Berechnungen, wonach sich der Einkommensverlust für die Betriebe in der Größenordnung von 20 % bis 25 % bewegt, oder die Berechnungen der Landwirtschaftskammer Weser/Ems, denen zufolge ein Einkommensverlust von 220 DM bis 250 DM pro Kuh zu verzeichnen ist, für richtig halten.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Nach meiner Kenntnis möchte ich die soeben genannten Zahlen ausschließen.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Bredehorn.
Herr Staatssekretär, es gibt Berechnungen der Experten der Landwirtschaftskammer, nach denen Betriebe mit einem Bestand von 25 Kühen — Sie wissen ja, daß das der Hauptteil unserer Betriebe ist; der Durchschnittsbestand liegt bei 14 Kühen — bei einem angenommenen Einkommensverlust von 20 %, der sicherlich eintreten wird, bei einer angenommenen Kostensteigerung von jährlich 4 % und einer angenommenen Milchpreiserhöhung von jährlich 3 % — die wir im Augenblick nicht haben — weit vor 1990 aufgeben müßten. Ich frage Sie: Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen Betrieben durch spezielle Maßnahmen eine Zukunftschance zu belassen, oder will man den Strukturwandel — d. h. Ausscheiden dieser Betriebe — evtl. ganz bewußt beschleunigen?Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bredehorn, ich habe vorhin in der Antwort auf Ihre Frage schon gesagt, daß sich der Abzug, der bei der Milchmenge vorgenommen werden muß, zwischen 4 % und äußerstenfalls 12,5 % — bezogen auf die Anlieferung des Jahres 1981 — bewegt. Wenn Sie dann hinzunehmen, daß eine Härtefallregelung getroffen werden wird, wenn Sie hinzunehmen, daß für aufgabewillige Betriebe eine Prämienregelung in Aussicht gestellt ist, und wenn Sie, was die weiteren Brüsseler Beschlüsse betrifft, insbesondere über den Abbau des deutschen Währungsausgleichs, dabei berücksichtigen, was an flankierenden Maßnahmen, insbesondere im Bereich der Umsatzsteuer, von der Bundesregierung beabsichtigt
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4874 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Parl. Staatssekretär Dr. von Geldernist, dann glaube ich nicht, daß die Zahlen über Einkommensverluste in der von Ihnen genannten Höhe zutreffen können. Es kommt natürlich immer darauf an, regionale und betriebliche Besonderheiten sowie auch die Möglichkeiten der betrieblichen Reaktion auf die politischen Entscheidungen im einzelnen zu prüfen. Aber ich bin sicher, daß Durchschnittswerte in der von Ihnen genannten Größenordnung bei weitem nicht zu befürchten sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Müller .
Herr Staatssekretär, Sie haben eben ausgeführt, daß den Milchproduzenten Opfer — man könnte auch sagen: Einkommenseinbußen — zugemutet werden müssen. Sie haben jetzt auf die Frage von Herrn Kollegen Bredehorn nicht bestritten, daß es zu Einkommenseinbußen kommt. Bezeichnen Sie das von Ihrer Seite nun als eine vorsichtige Preispolitik oder als eine restriktive Preispolitik?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, ich bezeichne das überhaupt nicht als Preispolitik, sondern als Garantiemengenpolitik. Hier ist gemeinsam von allen Partnern der Gemeinschaft beschlossen worden — Sie wissen so gut wie ich, daß in der Agrarpolitik auf dem europäischen Felde Alleingänge keine Aussicht auf Erfolg haben — die garantierten Preise der Gemeinschaft künftig auf eine bestimmte Menge zu begrenzen. Ich glaube, daß das eine notwendige und sinnvolle Maßnahme war. Ziel ist es, den Zusammenbruch der Marktordnung, insbesondere bei der Milch, angesichts der dynamischen Kostenentwicklung der letzten Jahre zu verhindern. Dies ist für die Milchproduzenten auch in Deutschland eine bessere Perspektive als die, die wir gehabt hätten, wenn wir weiterhin eine unbegrenzte Mengengarantie hinsichtlich der Preise der Gemeinschaft gegeben hätten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, auch wenn man anerkennt, daß das Vorziehen der Erhöhung der Vorsteuerpauschale um 3 Prozentpunkte und die Nichtvermarktungsprämie bei Milch nachgeschobene wesentliche Verbesserungen für die Gesamtsituation der milcherzeugenden Landwirte bedeuten, so sind doch viele meiner Meinung nach kleinliche Schikanen der Kommission der Europäischen Gemeinschaft völlig unnötig. Könnten Sie zusagen, daß sich die Bundesregierung in diesem Bereich noch bemühen wird, einen Teil der Schikanen abzubauen — nachdem die Veränderung des Butter-Magermilchpulver-Verhältnisses schon zu unnötigen Preisverlusten geführt hat —, damit jetzt jedenfalls keine vierteljährliche Vorzahlung geleistet werden muß, womöglich auch noch zinslos, die die Bauern über Gebühr belastet, obgleich es sich um eine Jahresquote handelt?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, Sie wissen, daß die Bundesregierung
diesen Teil der Agrarbeschlüsse, der nicht vom Agrarministerrat, sondern von der Kommission herbeigeführt worden ist, durchaus — jedenfalls zum Teil — negativ beurteilt. Ohne daß ich Ihnen über die Aussichten eines entsprechenden Vorgehens in Richtung auf Korrekturen hier Zusagen machen kann, kann ich Ihnen doch versichern, daß wir bemüht bleiben — wie schon in der Vergangenheit —, solche Kommissionsentscheidungen entweder gar nicht erst entstehen zu lassen oder aber zu korrigieren.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kolbow.
Herr Staatssekretär, trotz einer verständlichen Scheu, mich in den Sachverständigenbereich hineinzubewegen, möchte ich Sie als Mitglied dieses Hauses nach Anhörung dessen, was Sie hier auf die Fragen der sachverständigen Kollegen gesagt haben, doch fragen, warum Sie von einer Preis-Mengen-Politik sprechen und ob es nicht doch richtig ist, so wie ich es empfinde, daß vorsichtige Preispolitik im Milchbereich nach Ihrem Verständnis das Hinnehmen eines Preisrückgangs ist.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolbow, wenn Sie die Situation in der europäischen Agrarpolitik und damit in der Europäischen Gemeinschaft insgesamt im Jahre 1983 beurteilen wollen, dann müssen Sie zum Beispiel wissen, daß allein die Milchmarktordnung im Jahre 1983 12 Milliarden DM gekostet hat. Es war klar, daß diese Kosten den Rahmen bereits gesprengt hatten, und es drohte eine weitere dynamische Kostenentwicklung, so daß in diesem Jahr 1984 möglicherweise 20 Milliarden DM allein für den Milchmarkt hätten aufgebracht werden müssen. Durch die Garantiemengenpolitik ist jetzt erreicht worden, daß wir nicht nur für dieses Jahr, sondern auch für die kommenden Jahre eine sichere Kostenbegrenzung haben. Jede Preispolitik, die denselben Effekt hätte erzielen wollen, hätte eine Preispolitik mit derartien Einbrüchen sein müssen, daß Zehntausende von Existenzen von Landwirten gerade auch in unserem Lande gefährdet worden wären. Mit einer vorsichtigen Preispolitik allein wäre diese Kostenexplosion nicht zu bremsen gewesen. Das heißt also, die Preisvorschläge, die gemacht worden sind, hätten, wenn Sie ehrlich gewesen und wirklich dazu gedient hätten, das Problem zu bewältigen, Preisvorschläge sein müssen, die existenzgefährdend gewesen wären.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, Sie weisen zu Recht darauf hin, daß eine Eindämmung der ausufernden Kosten notwendig war. Können Sie mir aber erklären, wie sich beispielsweise die vorgesehene Quotierung der Milchmenge bei den Betrieben im oberen Viertel auswirkt, von denen man sagt, daß sie — laut Agrarbericht — 56 988 DM verdient
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4875
Kirschnerhaben, während das untere Viertel gerade 2 810 DM Reineinkommen hatte?Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, die Zahlen des Agrarberichts über die Einkommenssituation sagen nicht unmittelbar etwas darüber aus, wie die Garantiemengenregelung jetzt auf den einzelnen Betrieb wirkt. Ich habe vorhin die Kriterien für die Garantiemengenregelung genannt. Das eine Kriterium ist das der Produktionssteigerung in den beiden letzten Jahren. Wir setzen 4% sozusagen als Solidarbeitrag für alle Betriebe an, auch für die, die die Produktion nicht gesteigert haben. Die Skala endet bei 9% für die Betriebe, die die Produktion seit 1981, als das Problem in dieser Größenordnung entstanden ist, linear erheblich gesteigert haben. Dann kommt eine weitere Komponente bei der Garantiemengenregelung hinzu. Sie bezieht sich auf die Gesamtanlieferung und damit auf die Größe des Betriebes, die übrigens auch nicht etwa allein ausschlaggebend ist für die Einkommenssituation des Betriebsinhabers. Das ergibt eine weitere zusätzliche Abzugsmenge in einer Größenordnung von 2 % bis 3,5 %, so daß wir den Spitzenwert, den ich vorhin schon nannte, von 12,5% für den Betrieb erreichen, der eine Steigerung von mehr als 15% in den vergangenen beiden Jahren hatte und der 300 000 kg Milch oder mehr abliefert. Aber das jetzt ins Verhältnis zur Einkommenssituation etwa auch bei den milchproduzierenden Betrieben zu setzen, erfordert eingehendere Untersuchungen, nicht nur einen bloßen Blick in den Agrarbericht einerseits und auf die Garantiemengenregelung andererseits, weil es dabei sehr auf die betriebliche Struktur ankommt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Löffler.
Herr Staatssekretär, da ja die Quotierung der Milchabnahme nicht schicksalhaft über die europäischen Landwirte gekommen ist, sondern
von den Gremien der EG vorgeschlagen und von den Vertretern der einzelnen Regierungen beschlossen worden ist, frage ich Sie: Welche Haltung hat der Vertreter der deutschen Bundesregierung zu dieser Quotierung eingenommen, und wie verträgt sich seine Haltung mit den früher hier in diesem Hause vorgebrachten Äußerungen dazu?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Löffler, die Garantiemengenregelung bei der Milch entspricht dem Vorschlag der Europäischen Kommission vom 29. Juli 1983. Sie ist am Ende für die Agrarminister aller zehn Länder der Europäischen Gemeinschaft konsensfähig gewesen.
Die Bundesregierung hat diese Regelung nach einer intensiven Diskussion in unserem Lande mit dem Berufsverband, den Ländern und vielen anderen für die beste gehalten und den Kommissionsvorschlag daher unterstützt. Sie hat sich damit in Gesellschaft mit dem Deutschen Bauernverband
befunden, der übrigens schon vor Jahren darauf hingewiesen hatte, daß es notwendig sein würde, eine Mengenbegrenzung vorzunehmen. Sie hat diese Regelung, bevor sie jetzt in Kraft getreten ist, für die beste gehalten, und sie hält sie auch jetzt für die unter den gegebenen Umständen effektivste und beste.
Wir kommen nun zur Frage 2 der Abgeordneten Frau Dr. Hickel:
Welche Alternativen zu lindanhaltigen Mitteln hält die Bundesregierung für umweltfreundlicher, aber effektiv genug, um der raschen Ausbreitung des Borkenkäfers in Waldschadensgebieten entgegenzutreten?
Herr Staatssekretär.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Hickel, eine langfristige, erfolgversprechende Steuerung von Borkenkäfer- Populationen setzt sich aus verschiedenen Maßnahmen zusammen: aus sauberer Waldwirtschaft, laufender Überwachung der Bestände, Populationsverminderung durch biotechnische Verfahren und auch gezielter Pflanzenschutzmittelanwendung. Hierbei spielt das Aufstellen von Sexuallockstoff-Fallen, das Werfen von Fangbäumen und das Errichten von Fangreisighaufen eine besondere Rolle.
Die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, z. B. von Lindan, beschränkt sich dabei erfahrungsgemäß auf Ausnahmefälle. Ersatzpräparate für Lindan stehen zwar zur Verfügung, z. B. synthetische Pyrethroide oder Phosphor-Verbindungen, sind aber entweder aus toxikologischen oder aus Kosten-Gründen ungünstiger. Deshalb gibt es für eine effektive Bekämpfung einer Borkenkäferkalamität im Bereich der Pflanzenschutzmittelanwendung zur Zeit keine Alternative zu Lindan.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hickel.
Herr Staatssekretär, da— jedenfalls nach unseren Informationen — die einzige wirklich sinnvolle Möglichkeit der Bekämpfung des Borkenkäfer-Befalls darin besteht, daß man die Rinden mit mechanischen Mitteln manuell, per Hand, abschält und die Bäume behandelt,
frage ich die Bundesregierung
— indem man beispielsweise die Rinden abschält und die Stämme mit mechanischen Mitteln manuell säubert; jedenfalls ist es nicht sinnvoll, daß man parallel dazu nach weiteren chemischen Schutzmitteln zur Bekämpfung von Borkenkäfern sucht — angesichts dieses Sachverhalts, was sie dafür getan und in welcher Form sie dafür Sorge getragen hat, daß die Information an die Länder weitergegeben wird, die Sie dem Herrn Abgeordneten Sauter aus Epfendorf in der Antwort am 6. März dieses Jahres gegeben haben, daß nämlich auch Bundeswehreinheiten dazu eingesetzt werden können, um solche manuellen Maßnahmen in den befallenen Wäldern zu ergreifen.
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4876 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Hickel, ich habe soeben darauf hingewiesen, daß es eine ganze Reihe von Maßnahmen gibt,
die dazu beitragen können, der für unseren Wald tatsächlich sehr bedrohlichen Borkenkäferplage Herr zu werden. Unter „saubere Waldwirtschaft" und „laufende Überwachung der Bestände" läßt sich sicher auch das subsumieren, was Sie gerade erwähnt haben. Sie können davon ausgehen, daß dies auch den Bundesländern bekannt ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Dr. Hickel.
Dies überrascht mich, weil ich andere Informationen habe. Aber eine andere Frage: Was gedenken die Bundesregierung und die ihr nachgeordnete Genehmigungsbehörde an Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, daß inzwischen doch bereits Vergiftungsfälle eingetreten sind — ausnahmsweise, wie Sie sagen, oder nicht; für die Betroffenen jedenfalls sehr übel, weil sie mit schwerwiegenden Leberschäden einhergehen —, und welche Konsequenzen gedenken sie aus der Tatsache zu ziehen, daß diese Vergiftungen eintreten, obwohl die betroffenen Land- und Forstwirte einen Mundschutz getragen haben, und daß es keine effektive Therapiemethode für Lindan-Vergiftungen gibt?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Hickel, das Bundesgesundheitsamt und die Biologische Bundesanstalt haben das in Frage stehende Lindan, wie Sie wahrscheinlich wissen, geprüft und zugelassen. Es gibt keine Begründung dafür, etwa an ein Verbot dieses Mittels zu denken. Allerdings: Wie bei allen Pflanzenschutzmitteln ist zur Vermeidung von Gesundheitsschäden — denn kein Pflanzenschutzmittel ist völlig unbedenklich —
die sachgerechte Anwendung notwendig.
Über den Fall, von dem Sie sprechen, der sich im Landkreis Bayreuth abgespielt hat, ist der Bundesregierung bekanntgeworden, daß hier keine sachgerechte Anwendung des Mittels erfolgt ist. Man hat sich von einem Sägewerk für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln nicht vorgesehene Masken ausgeliehen und ist dann an diese Arbeit gegangen. Erst nachdem die Beschwerden aufgetreten waren
— die inzwischen abgeklungen sind —, hat man — so ist jedenfalls unsere gegenwärtige Information
— auf Befragung des Arztes gesagt, daß mit Lindan, aber auch mit anderen Mitteln gearbeitet worden ist. Wir haben also bis heute, auch wenn Sie diesen einen konkreten Fall ansprechen, nicht die Möglichkeit, zu sagen: Hier ist erwiesen, daß Lindan Gesundheitsschäden verursacht. Dies gilt erst recht bei sachgerechter Anwendung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, sind auch Sie in Kenntnis der Pressemitteilung der GRÜNEN, daß man eher auf den Wald verzichten könne als auf Pflanzenschutzmittel — wie ja auch die Aussagen von Frau Dr. Hickel eben bestätigen —? Sind auch Sie dieser Meinung? Oder sind Sie der Meinung, daß die Bundesregierung alles tun muß, um die Forschung zu verstärken und daß man gerade wegen der Schäden in den Wäldern ganz besonders intensiv den Borkenkäfer bekämpfen muß?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Ich bin der letzten Meinung, Kollege Eigen. Ich habe das vorhin schon in einem Nebensatz gesagt. Die Borkenkäferplage macht uns gerade deshalb so große Sorgen, weil sie mit den neuartigen Waldschäden zusammenkommt. Wir müssen alles tun, um diese weitere Gefahr für den Bestand unserer Wälder abzuwenden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Ehmke .
Herr Staatssekretär, Sie haben eben einen ganzen Katalog möglicher Bekämpfungsmaßnahmen gegen den Borkenkäfer genannt. Wir haben uns ja schon an Ort und Stelle im Nordschwarzwald und im Bayerischen Wald mit einigen Kollegen zusammen über das Problem sehr intensiv unterhalten. Offensichtlich hat die Bundesregierung aus diesen Unterhaltungen, bei denen ja auch Ihr Kollege, der Parlamentarische Staatssekretär Gallus, zugegen war, nicht sehr viel gelernt. Sonst würden wir dieses Problem nicht in einer großen Verschärfung heute haben.
Frage, Herr Kollege!
Ich komme zu meiner Frage. — Auf Grund dieser Tatsache frage ich Sie, ob Sie meine Auffassung teilen, daß der Borkenkäfer eigentlich nur die Spitze des Eisberges darstellt, daß es doch eine ganze Reihe von anderen Forstschädlingen gibt, die jetzt schon im Wartestand stehen; ich nenne nur mal den Buchenspringrüßler, die Wollschildläuse, die Kiefernspanner, und was es da noch alles an illustren Tierchen und auch pilzlichen Schädlingen gibt. Teilt die Bundesregierung nicht meine Auffassung, daß es sehr viel sinnvoller wäre, statt Lindan einzusetzen, wirklich an die Ursachen des Waldsterbens und der Borkenkäferkalamität heranzugehen, nämlich an die Luftverschmutzung, die von Kraftwerken, Autoabgasen usw. herrührt?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ehmke, Sie wissen, daß die Bundesregierung eine ganz entschlossene Politik zur Reinhaltung der Luft betreibt. Aber das, so wichtig es ist, ersetzt natürlich nicht, daß wir auch ganz konkret im befallenen Wald jetzt etwas gegen die Borkenkäfergefahr unternehmen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Fragen aus diesem Geschäftsbereich. Ich danke dem Herrn Parlamentari-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4877
Vizepräsident Westphalsehen Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Vogt zur Verfügung.Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Grünbeck auf:Stehen der Bundesregierung für 1983 Zahlen aus den Ländern zur Verfügung über nicht verwendete Finanzmittel aus der Behindertenabgabe?Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, der Bundesregierung sind für 1983 Zahlen über nicht verwendete Finanzmittel, die den Hauptfürsorge-stellen der Länder aus der Ausgleichsabgabe zufließen, nicht bekannt.
Es hat sich insbesondere im Rahmen der Verlängerung des 4. Schwerbehinderten-Sonderprogramms gezeigt, daß mit dem zunehmend rückläufigen Aufkommen an Ausgleichsabgabe bei einer Reihe von Hauptfürsorgestellen der Länder Finanzierungsschwierigkeiten bestehen. Bei Meldungen über noch vorhandene Finanzmittel ist im übrigen zu berücksichtigen, daß auch diese weitestgehend gebunden oder bereits zugesagt sind. Beispielsweise sind nach einer Mitteilung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung von 134 Millionen DM nicht ausgegebenen Finanzmitteln 127 Millionen DM gebunden oder bereits zugesagt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, wenn Sie den Bericht der Bayerischen Staatsregierung zur Kenntnis genommen haben: Wären Sie bereit, Überlegungen aus dem Arbeitsministerium zu begründen, nämlich zu begründen, warum eigentlich die Behindertenabgabe verdoppelt werden soll, wenn z. B. in Bayern Überschüsse von 134 Millionen DM vorhanden sind, über die zwar schon verfügt worden ist, die aber nicht verwendet worden sind?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Zunächst einmal darf ich wiederholen: In Bayern gibt es in diesem Fall keine 134 Millionen DM, die nicht verwendet worden sind, die also als Überschuß vorhanden wären. Von diesen 134 Millionen DM sind vielmehr 127 Millionen DM gebunden oder bereits zugesagt.
Im übrigen stimmt die in Ihrer Frage steckende Behauptung nicht, daß das Bundesarbeitsministerium plane, die Ausgleichsabgabe zu verdoppeln. Richtig ist, daß Überlegungen angestellt werden. Der konkrete Vorschlag, den das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung macht, ist, diese Ausgleichsabgabe um 50 %, also von 100 DM auf 150 DM, anzuheben. Angesichts der Tatsache, daß diese Ausgleichsabgabe in Höhe von 100 DM schon seit mehr als zehn Jahren so zu zahlen ist, ist das eine Erhöhung, die unseres Erachtens tragbar erscheint.
Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß wir die Arbeitsmarktsituation für nichtbeschäftigte Behinderte verbessern, wenn wir beispielsweise über Zeitverträge die Eingliederung der Behinderten vorzunehmen versuchten, statt stur am Kündigungsschutz für Behinderte festzuhalten bzw. die Ausgleichsabgabe zu erhöhen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir werden sicherlich noch ausführlich Gelegenheit haben, hier im Hause über die Vorstellungen zu diskutieren, wie das Schwerbehindertenrecht auf Grund der jetzt mehr als zehnjährigen Erfahrung weiterentwickelt werden kann. Wir werden auch Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren, wie das Einfädeln von Arbeitslosen in den Arbeitsprozeß angesichts einer erkennbaren und deutlichen wirtschaftlichen Erholung erleichtert werden kann. Nur, die Ausgleichsabgabe hat doch den Sinn, die berufliche Förderung derjenigen zu gewährleisten, die auf dem normalen Arbeitsmarkt auch mit flexiblerer Gestaltung des Arbeitsrechts nicht eingegliedert werden könnten.
In Anbetracht der Tatsache, daß die Ausgleichsabgabe seit mehr als zehn Jahren 100 DM beträgt und daß natürlich auf der anderen Seite auch die Kosten bei diesen beruflichen Sondermaßnahmen für Schwerbehinderte angestiegen sind, ist eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe aus der Sicht unseres Hauses erwägenswert. Wir werden sie vorschlagen, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß wegen der Nichtanrechnung von schwerbehinderten Jugendlichen in Ausbildung bei der Ermittlung der Zahl der Pflichtplätze möglicherweise ein Rückgang der Zahl der Pflichtplätze zu erwarten ist. Dieser Rückgang wird nicht nur möglicherweise, sondern sehr wahrscheinlich eintreten. Auch daraus wird sich, wenn man das Finanzvolumen, das wir heute aus der Ausgleichsabgabe erzielen, aufrechterhalten will, die Notwendigkeit ergeben, die Ausgleichsabgabe zu erhöhen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Ausgleichsabgabe von 100 DM, die seit 1974 in unveränderter Höhe erhoben wird, auf Grund der Geldentwicklung nicht mehr den gleichen Wert hat und zweitens von den Betrieben steuerlich auch voll abgesetzt werden kann, so daß das in Wirklichkeit gar keine 100 DM sind?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Selbstverständlich, Herr Kollege, kann die Ausgleichsabgabe steuerlich als Betriebsausgabe geltend gemacht werden. Das ist Inhalt des Gesetzes, das Anfang der 70er Jahre in diesem Hause beschlossen worden ist. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
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4878 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Herr Staatssekretär, trifft es eigentlich immer noch zu, daß Behörden lieber die Ausgleichsabgabe zahlen, als einen Schwerbehinderten einzustellen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich würde dieser Behauptung in der Allgemeinheit, wie Sie sie hier ausgesprochen haben, widersprechen. Wir haben ein sehr differenziertes Bild bei den privaten wie auch den öffentlichen Arbeitgebern.
Wir kommen zur Frage 4 des Abgeordneten Kirschner:
Trifft die Pressemeldung der Frankfurter Rundschau vom 17. April 1984 zu, wonach Bundesarbeitsminister Dr. Blüm auf der Beschäftigungskonferenz des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Straßburg in seinem schriftlichen Redetext folgende Passage hatte: „Auf dem vieldiskutierten und heftig umstrittenen Feld der Wochenarbeitszeitverkürzung ist die Haltung der Bundesregierung durchaus offen. Sie geht davon aus, daß der seit den 50er Jahren anhaltende Trend der Verkürzung der Regelarbeitszeit anhalten und die tarifliche Arbeitszeit auf längere Sicht deutlich unter dem heutigen Niveau liegen wird."?
Herr Staatssekretär!
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, hat vor der Beschäftigungskonferenz des Europäischen Gewerkschaftsbundes am 5. April 1984 in freier Rede, wie das seine Gewohnheit ist, gesprochen. Es galt — wie bei Reden von Mitgliedern der Bundesregierung üblich — das gesprochene Wort.
Der von der „Frankfurter Rundschau" in ihrer Ausgabe vom 17. April 1984 zitierte Ausschnitt der schriftlichen Fassung gibt eine Meinung zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit wieder, die bereits mehrfach von Mitgliedern der Bundesregierung geäußert wurde. So erklärte beispielsweise der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Otto Graf Lambsdorff, anläßlich der Eröffnung der Hannoveraner Messe am 3. April 1984 — ich zitiere —:
Arbeitszeitverkürzungen in vernünftiger und vertretbarer Weise — ja. Sie können — bei flexibler Anwendung — hilfreich sein. Deshalb habe ich auch der Vorruhestandsregelung zugestimmt, und deshalb bin ich auch der Meinung, daß der Prozeß der Wochenarbeitszeitverkürzung, der nun schon über ein Jahrhundert läuft, nicht abrupt abgebrochen zu werden braucht.
Soweit der Bundesminister für Wirtschaft.
Im übrigen hätte, wenn schon aus der schriftlichen Fassung der Rede und nicht nach dem tatsächlich gesprochenen Wort zitiert wird, der komplette Ausschnitt des schriftlichen Redemanuskripts fairerweise wiedergegeben werden müssen.
Dieser lautet — ich zitiere —:
Diejenigen, die die 35-Stunden-Woche auf einen Schlag einführen möchten, haben die Vorstellung, durch einen einmaligen Kraftakt die Arbeitsmarktprobleme lösen zu können. Rein rechnerisch mag das alles aufgehen. Wird sich aber die reale Welt wie das abstrakte Rechenmodell verhalten? Wird diese Schocktherapie
den Patienten alsbald auf die Beine bringen? Da habe ich doch meine Zweifel. Diese Zweifel beziehen sich vor allem auf die Beschäftigungsmöglichkeiten bei den Klein- und Mittelbetrieben, in denen die Masse der Arbeitnehmer tätig ist. Hier reicht schon rein rechnerisch auch eine so massive Kürzung der Arbeitszeit nicht aus, um eine zusätzliche Vollkraft oder auch nur einen Teilzeitarbeitnehmer zusätzlich zu beschäftigen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung einen Fall schildern, in dem Forderungen, die von einer Gewerkschaft zu Beginn von Tarifverhandlungen aufgestellt wurden, unverändert in den Vertrag kamen? Ist es nicht die Erfahrung der Vergangenheit, daß gerade auch im Zusammenhang mit der Frage der Verkürzung der Wochenarbeitszeit am Ende immer ein Kompromiß stand?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, natürlich, die Gewerkschaften — das ist nun einmal die Rollenverteilung bei Tarifauseinandersetzungen — treten als Fordernde auf. Die Arbeitgeber bieten an. Und nach dem üblichen Verfahren steht am Ende des Dialogs in der Regel ein Kompromiß, der natürlich weder dem Angebot entspricht noch der Forderung, die die Gewerkschaften aufgestellt haben.
Dennoch, Herr Kollege Kirschner, möchte ich sagen, daß es für die politische Auseinandersetzung ganz wichtig ist, auch eine Forderung, etwa die Forderung „35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich" einer kritischen Würdigung zu unterziehen.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, heißt dies, daß in der Zwischenzeit — nach Ihren Ausführungen ist doch wohl davon auszugehen, daß der von der „Frankfurter Rundschau" zitierte Redetext ursprünglich im Manuskript von Herrn Arbeitsminister Dr. Blüm drin war — eine Änderung der bisherigen Haltung der Bundesregierung deutlich wird, nachdem Herr Bundeskanzler Kohl die Forderung der IG Metall beispielsweise nach einer Wochenarbeitszeitverkürzung als „dumm und töricht" bezeichnet hat?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, Sie irren. Ich muß dies leider sagen. Allein schon durch die Zitierung einer Passage aus der Rede des Bundesministers für Wirtschaft Dr. Otto Graf Lambsdorff, die er — ich wiederhole — am 3. April 1984 in Hannover gehalten hat, wird deutlich, daß die Passage aus dem schriftlich vorbereiteten Redetext von Minister Blüm gar nichts Neues darstellt, sondern die alte bekannte Auffassung, die die Bundesregierung hat — angefangen vom Bundeskanzler bis hin zu allen Ministern — und die,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4879
Parl. Staatssekretär Vogtwie ich annehme, auch weithin in den Koalitionsfraktionen geteilt wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kolbow.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie nicht in freier Rede die freie Rede des Herrn Bundesarbeitsministers interpretiert haben, möchte ich Sie gerne fragen, wie Sie den Widerspruch aufklären wollen zwischen den Äußerungen des Herrn Bundesarbeitsministers, daß die Haltung der Bundesregierung auf dem umstrittenen Feld der Wochenarbeitszeitverkürzung offen sei — so hatten Sie das noch interpretiert —, und dem Satz des Herrn Bundeskanzlers, daß Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung „dumm und töricht" seien.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich darf Sie bitten, wenn Sie schon den Bundeskanzler zitieren, auch wenn Sie das nicht in dem ursprünglichen Text tun, sondern in Ihrer Form der von Ihnen gewählten freien Rede, immer dazuzusagen, daß der Bundeskanzler ein Urteil gesprochen hat über die Forderung „35-Stunden-Woche bei vollen Lohnausgleich". Diese Forderung ist nun tatsächlich wirtschaftlich und finanziell — ich drücke mich vorsichtig aus — nicht darstellbar.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lambinus.
Herr Staatssekretär, können Sie mir ein einziges Beispiel aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nennen, in der sich eine Bundesregierung — von Konrad Adenauer bis Helmut Schmidt — so massiv in einen aktuellen Tarifkonflikt zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern eingemischt hat, wie dies Mitglieder dieser Bundesregierung seit Wochen tun?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, diese Bundesregierung hat zu dem anstehenden Tarifkonflikt — das hat der Bundeskanzler getan — eine mutige und offene und fruchtbare Stellungnahme abgegeben.
Im übrigen, Herr Kollege: Konrad Adenauer oder Ludwig Erhard waren zu solchen Stellungnahmen gar nicht gefordert, weil zur damaligen Zeit solch eine wirtschaftlich unvernünftige Forderung nicht aufgestellt worden ist, wie sie in der ersten Hälfte dieses Jahres von der IG Metall vertreten worden ist, nämlich die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatssekretär, sind Ihre Hinweise auf das lange Zitat aus der Rede des Wirtschaftsministers Graf Lambsdorff und auf die freie Rede von Minister Blüm so zu verstehen, daß in der schriftlichen Fassung der Reden Minister Blüm und Graf Lambsdorff nahtlos übereinstimmen, daß aber Minister Blüm, wenn er frei spricht, sich gelegentlich daran erinnert, daß er Gewerkschaftler gewesen ist?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, das, was der Bundeswirtschaftsminister in Hannover gesagt hat, und das, was der Bundesarbeitsminister auf der Beschäftigungskonferenz des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Straßburg gesagt hat, stimmt von der Sache her nahtlos überein, und die Bundesregierung und ihre Mitglieder lassen sich in ihren Stellungnahmen — ob in vorbereiteter oder in freier Rede — von Sachgesichtspunkten lenken.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir darin zustimmen, daß sowohl der Herr Bundeskanzler als auch der Herr Bundeswirtschaftsminister und der Bundesarbeitsminister all ihre Außerungen zur 35-Stunden-Woche nur im Zusammenhang mit der Forderung nach vollem Lohnausgleich in der Verantwortung um die wirtschaftliche Weiterentwicklung und um die Beseitigung der Arbeitslosigkeit formuliert haben
und daß sie sich dazu verpflichtet sehen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen nur zustimmen. Es ist auch die Pflicht der Bundesregierung, zu Forderungen, die nach ihrer Ansicht wirtschaftlich schädlich sind, deutlich Stellung zu nehmen.
Herr Kollege Grünbeck, wir haben uns angewöhnt, stehenzubleiben, bis geantwortet worden ist. Ich nehme an, das war ein Versehen.
Jetzt kommen wir zur Zusatzfrage des Abgeordneten Scheer.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, die Äußerung des Bundeskanzlers beziehe sich ausschließlich darauf, daß er sich gegen die 35Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich gewandt hat, und wenn Sie daraus ablesen wollen, daß damit indirekt nur ein Appell an die Gewerkschaften im Sinne einer flexibleren und vielleicht kompromißbereiten Position gemeint war, frage ich Sie: Können Sie eine Bemerkung des Bundeskanzlers nennen oder hier stellvertretend für ihn eine Berner-kung machen, die gegen die Arbeitgeberposition und darauf gerichtet ist, daß das 40-Stunden-Tabu endlich aufgegeben wird?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Scheer, Ausgangspunkt auf der entsprechenden Veranstaltung, von der Sie j a den Herrn Bundeskanzler zitieren, war die Forderung der Gewerkschaften, insbesondere der IG Metall, nach Wochenarbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Der Bundeskanzler hat in anderem Zusammenhang sehr oft
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4880 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Parl. Staatssekretär Vogtüber die notwendige Flexibilität im Arbeitsleben und bei der Gestaltung der Arbeitszeit gesprochen.Ausgangspunkt der Frage war nicht die Äußerung des Herrn Bundeskanzlers, sondern waren die angeblich bewußt weggelassenen Passagen aus einer Rede des Bundesarbeitsministers. Ich bin jetzt nicht auf Fragen danach vorbereitet, welche Äußerungen der Bundeskanzler zur Wochenarbeitszeitverkürzung oder überhaupt zur Arbeitszeitverkürzung gemacht hat, aber ich bin gern bereit, Ihnen mit Hilfe des Bundespresse- und Informationsamtes eine Fülle von Zitaten des Herrn Bundeskanzlers zur Verfügung zu stellen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter .
Herr Staatssekretär, kann ich Ihre letzten Äußerungen so interpretieren, daß in absehbarer Zeit von seiten der Bundesregierung Stellungnahmen gegen das Festhalten der Arbeitgeberverbände am Tabu der 40-Stunden-Woche zu erwarten sind?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Peter, ich kann Ihnen eine Reihe von Zitaten von Bundesministern, auch des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, zur Verfügung stellen, in denen er an die Arbeitgeber appelliert, sich in der Frage der Arbeitszeit flexibel zu verhalten, und das geht im übrigen, Herr Kollege, auch aus der Rede hervor, die ich vorhin zitiert habe, die der Bundeswirtschaftsminister in Hannover gehalten hat. All das, wonach Sie fragen, ist nichts Neues.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Becker .
Herr Staatssekretär, angesichts der Tatsache, daß Sie für die Bundesregierung erklärt haben, die Forderung nach 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sei unvernünftig, frage ich Sie: Könnten Sie dem Hohen Hause einmal klarmachen, was der volle Lohnausgleich dabei aus der Sicht der Bundesregierung eigentlich bedeutet?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Becker, Sie wissen, daß eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich etwa einen Zuwachs des Lohnvolumens von 18 bis 19 % erforderlich macht, und dies ist nun wirklich ein Volumen, das sich vernünftigerweise wirtschaftlich und finanziell nicht darstellen läßt.
Meine Damen und Herren, ich habe jetzt noch drei Zusatzfragen vorliegen. Dann haben wir zu diesem Thema zehn Zusatzfragen gehabt. In Erinnerung an die Tatsache, daß wir morgen früh über dieses Thema — zumindest werden wir nicht weit entfernt davon sein — noch einmal eine Stunde diskutieren, bitte ich, damit einverstanden zu sein, daß ich die drei Zusatzfragen noch zulasse und dann dieses Thema abschließe.
Zu einer weiteren Zusatzfrage zunächst Frau Abgeordnete Reetz.
Herr Staatssekretär, Sie haben mehrmals den Bundeswirtschaftsminister zitiert. Ich möchte Sie fragen, wie dessen Äußerungen in Hannover mit dem zu vereinbaren sind, was er in Tokio gesagt hat, wo er in einer dem Gastgeber gegenüber meiner Meinung nach sehr aggressiven Art gesagt hat: Wenn er nach der 35-StundenWoche gefragt werde, komme er sich den Japanern gegenüber wie der Onkel vor, den der Neffe frage, ob er noch gesund sei, in der Erwartung, daß er bald sterben werde und er ihn beerben könne.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zwischen dem, was Sie inhaltlich zitieren — ich gehe davon aus, daß Sie jetzt richtig zitiert haben; ich kann es nicht überprüfen —, und dem, was ich an Äußerungen des Bundesministers für Wirtschaft verlesen habe, die er auf der Hannover-Messe gemacht hat, sehe ich keinen Widerspruch.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Schmidt.
Herr Staatssekretär, würden Sie dem Parlament einmal darlegen, wie Sie zu einer Erhöhung der Lohnkosten um 18,5 bis 19 % bei Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich kommen — das ist eine kritiklose Übernahme der Berechnungen der Arbeitgeberverbände —, und ist es nicht vielmehr so, daß sich die rechnerische Erhöhung der Lohnkosten um 121/2% durch den zwangsläufig eintretenden Rationalisierungseffekt zirka um die Hälfte vermindern würde?Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich bin Ihnen zunächst dafür dankbar, daß Sie auf den Rationalisierungseffekt hinweisen, der bei einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit mit Sicherheit eintritt. Damit wird nämlich deutlich gemacht, daß über eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit wegen Rationalisierungsdruckes ein beschäftigungspolitischer Effekt nicht erzielt werden oder relativ niedrig sein wird.Ich empfehle Ihnen, sich zuerst einmal darüber zu verständigen, welche wirtschaftlichen Rahmen für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit notwendig sind und welche beschäftigungspolitischen Wirkungen Sie sich bei einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit vorstellen. Es war im übrigen sehr interessant, daß auf dem Kongreß der IG-Metall im Herbst vorigen Jahres in München einige Delegierte gerade auch im Zusammenhang mit der Diskussion über die Forderung nach der 35-StundenWoche bei vollem Lohnausgleich fragten: Müssen wir nicht gleichzeitig mit dieser Forderung die weitere Forderung stellen, daß weitere Rationalisierungsschutzabkommen geschlossen werden, damit eben nicht dieser Rationalisierungsdruck entsteht, der sozusagen die beschäftigungspolitische Wirkung einer Wochenarbeitszeitverkürzung zunichte macht?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4881
Parl. Staatssekretär VogtAußerdem ist die Berechnung der Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich in dieser rechnerischen Phase eine Sache, die man sozusagen an seinen fünf Fingern abzählen kann. Das macht dann 18 bis 19 % aus.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Reimann.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, daß Rationalisierung Arbeitszeitverkürzungen auffange, möchte ich Sie fragen: Ist es dann nicht in der Tat so, daß die Entlassungen auf Grund von Rationalisierung — ich denke vor allem an die auf uns zukommenden Entlassungen auf Grund neuer Technologien — eine viel härtere Arbeitsverkürzung zu Lasten der Gesellschaft, der Gesamtheit darstellen als ein Einstieg in die 35-Stunden-Woche, durch die ein Ausgleich zwischen allen Beschäftigten erzielt wird?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, ich würde die Verbindung, die Sie jetzt herstellen zwischen Rationalisierung, die über Arbeitszeitverkürzungen ausgelöst wird, und Rationalisierungsprozessen, die auf Grund technischen Fortschritts ausgelöst werden, nicht in diesem Zusammenhang erwähnen. Sie wissen selbstverständlich auch — ich glaube, wir brauchen uns darüber gar nicht zu streiten —, daß wir manche Rationalisierungsinvestition einfach deshalb nötig haben, damit für die Zukunft noch wirtschaftlich rentable Arbeitsplätze zur Verfügung stehen; denn ohne diese Rationalisierung könnten wir uns im internationalen Wettbewerb nicht behaupten.
Im übrigen können wir uns sicherlich in einer anderen wirtschaftlichen Situation — wir nähern uns ja dieser wirtschaftlichen Situation — vorstellen, daß moderne Technologie, Rationalisierung, neue Investitionen und die Übernahme neuer Technologien auch arbeitsplatzschaffende Maßnahmen bedeuten.
Wir sind am Ende des Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich brauche den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit nicht aufzurufen, da die Fragestellerin der Frage 5, die Abgeordnete Frau Dr. Hickel, um schriftliche Beantwortung der Frage gebeten hat. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schulte zur Verfügung.
Wir kommen zunächst zur Frage 6 des Herrn Abgeordneten Hoffmann . Ich sehe den Herrn Abgeordneten nicht. Dann wird das entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Ich rufe die Frage 7 des Herrn Abgeordneten Stiegler auf:
Wird die Bundesregierung entsprechend den Grundsätzen des Zonenrandförderungsgesetzes auf die Deutsche Bundesbahn einwirken, bei der Neuorganisation des betriebsmaschinentech nischen Dienstes Dienststellengrößenordnungen anzustreben, die die Aufrechterhaltung der Bahnbetriebswerke im Zonenrandgebiet erlauben?
Ist der Fragesteller im Raum? — Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Stiegler, Zahl und Größe der Betriebswerke bei der Deutschen Bundesbahn werden grundsätzlich vom Verkehrsaufkommen und unter Beachtung wirtschaftlicher Grundsätze von den betrieblichen Bedürfnissen des Zugförderungsdienstes bestimmt.
Nach § 9 des Bundesbahngesetzes hat der Vorstand der Deutschen Bundesbahn seine Aufgaben mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers wahrzunehmen. Dazu gehört bei allen unternehmerischen Entscheidungen auch die Beachtung der geltenden Gesetze. Gleichwohl hat der Bundesminister für Verkehr den Vorstand der Deutschen Bundesbahn am 8. Januar 1983 in diesem Zusammenhang auf die Vorschriften des § 1 Abs. 2 des Zonenrandförderungsgesetzes besonders hingewiesen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, in welcher Weise ist nach Ihrer Auffassung die Bundesbahn an die Grundsätze des Zonenrandförderungsgesetzes gebunden? Geht es nach Ihrer Auffassung dem Bundesbahngesetz vor, oder ist es nur unter anderem zu beachten?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, wir haben ja schon in Ihrem Unterausschuß über diese Frage miteinander diskutiert. Ich gehe davon aus, daß die Vorschrift des § 1 Abs. 2 des Zonenrandförderungsgesetzes auch von der Deutschen Bundesbahn zu beachten ist. Die Wirtschaftsführungsbestimmungen der Deutschen Bundesbahn haben gegenüber dieser Vorschrift keinen Vorrang.
Andererseits schließt diese Vorschrift des Zonenrandförderungsgesetzes die Anwendung der Grundsätze für die Unternehmensführung der Deutschen Bundesbahn nicht aus. Die Deutsche Bundesbahn wird deswegen bei ihren Planungen und Maßnahmen, die das Zonenrandgebiet betreffen, besonders prüfen, ob ein gleiches oder annähernd vergleichbares Ergebnis für die Wirtschaftsführung der Deutschen Bundesbahn dadurch zu erzielen ist, daß den Zielsetzungen des Zonenrandförderungsgesetzes entsprochen wird.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, werden Sie denn vor dem Hintergrund dieser Beurteilung der Rechtslage dafür eintreten, daß der Vorstand der Bundesbahn gebeten wird, zu prüfen, wie die Bahn-
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4882 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Stieglerbetriebswerke Weiden und Schwandorf gemeinsam aufrechterhalten werden können und nicht aufgelöst werden müssen?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, der Vorstand der Deutschen Bundesbahn hat bereits im Jahre 1981, also lange vor dem Regierungswechsel, den Auftrag erteilt, die maschinen- und elektrotechnischen Dienststellen wegen der inzwischen eingetretenen Änderungen organisatorisch neu zu ordnen. Der Bundesminister für Verkehr, Werner Dollinger, hat im Jahre 1983 auf die Bestimmungen des Zonenrandförderungsgesetzes besonders hingewiesen.Wir müssen allerdings davon ausgehen, daß der Mindestfahrzeugunterhaltungsbestand für selbständige Dienststellen höher ist, als dies im Augenblick für jede einzelne dieser Dienststellen gegeben ist. Man muß von Schnellausbesserungen pro Tag bei 150 E-Loks oder alternativ 50 Dieselloks oder alternativ 330 Zugwagen oder alternativ 60 Güterwagen ausgehen. Deswegen werden wir nicht alle Werke halten können.
Zusatzfrage des Abgeordneten Löffler.
Herr Staatssekretär, im Klartext, um den ich auch in der Antwort bitte: Wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß soviel Bahnbetriebswerke wie nur irgend möglich im Zonenrandgebiet erhalten bleiben?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Wir gehen davon aus, daß die Deutsche Bundesbahn zunächst einmal nach den Grundsätzen einer optimalen Wirtschaftsführung — —
Es ist Ihre Zuständigkeit zu antworten. Sie können antworten, wie Sie es wollen.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich bin gern bereit, weiter zu antworten, obwohl es nicht üblich ist, daß Staatssekretäre Ihr Geschäft übernehmen.
Wir gehen davon aus, Herr Kollege, daß die Deutsche Bundesbahn zunächst einmal ausrechnet, was optimale Betriebsführung ist. Dann kommt nach dem Zonenrandförderungsgesetz die Korrekturphase, wonach überprüft wird, ob ein gleiches oder annähernd vergleichbares Wirtschaftsergebnis erzielt werden kann, wenn man z. B. Dienststellen im Zonenrandgebiet aufrechterhält. Ist dies möglich, dann wird das Zonenrandgebiet den Vorzug erhalten.
Vizepräsident Westphal Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Peter .
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, mir schriftlich mitzuteilen — falls Sie es nicht aus dem Stand können —, wie und auf wieviele Bahnbetriebswerke sich die Planung der Veränderung von Nebenstrecken im Zonenrandgebiet auswirkt?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann diesen Zusammenhang nicht herstellen. Ich muß wiederholen, daß dieser Plan für den Betriebsmaschinendienst aus dem Jahre 1981 stammt und möglicherweise von ganz anderen Voraussetzungen ausging. Sie wissen — darüber haben wir in der Fragestunde bereits miteinander diskutiert —, daß Verlagerungen von der Schiene auf die Straße jeweils im Einzelfall geprüft werden. Wenn ein solcher Fall — sagen wir im nächsten Jahr — eintritt, dann hat dies nichts mit dem zu tun, was im Jahre 1981 geplant wurde.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Krizsan.
Herr Staatssekretär, glauben Sie, daß die Bundesbahn bei der Zahl von Vertretern z. B. der Automobilindustrie in den Gremien der Bundesbahnspitze eine optimale Betriebsführung erreichen kann?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich sehe keinen Zusammenhang mit der ursprünglich gestellten Frage.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Brück.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bitte sagen, was Sie soeben meinten, als Sie sagten, es sei nicht üblich, daß Sie das Geschäft des Präsidenten zu übernehmen hätten?
Herr Kollege Brück, das muß er nicht beantworten; aber die Frage ist gehört worden. Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Scheer.
Herr Staatssekretär, sind bei den Berechnungen, die Sie genannt haben, auch der regionalwirtschaftliche bzw. volkswirtschaftliche Aspekt und insbesondere die Frage der Arbeitsplätze im Zonenrandgebiet berücksichtigt?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Das Zonenrandförderungsgesetz wurde gerade aus den von Ihnen angesprochenen Gründen geschaffen. Wir müssen allerdings davon ausgehen, daß durch dieses Gesetz nicht all das berücksichtigt werden kann, was Sie gerade meinten.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Bachmaier.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, ob der Plan aus dem Jahre 1981 ein fester Plan ist oder ob es sich hier um eine jährlich flexibel anzupassende Neuauflage mit veränderten Daten handelt?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Gesamtkonzept aus dem Jahre 1981 ist auf einen zehnjährigen Zeitraum ausgerichtet. Es ist der
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4883
Parl. Staatssekretär Dr. SchulteDB unbenommen, diesen Plan in der Zwischenzeit zu verändern.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Verkehr. Ich danke dem antwortenden Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Schulte.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rawe zur Verfügung.
Die Frage 8 des Herrn Abgeordneten Nelle soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 9 der Abgeordneten Frau Reetz auf:
Wie ist die Aussage im Regierungsbericht zur Informationstechnik auf Seite 59: ,,Das strategische Ziel der Bundesregierung ist der Ausbau des heutigen Fernmeldenetzes zu einem vermittelnden Breitbandnetz mit optischer Übertragungstechnik. Zur Erreichung dieses Ziels wird die DBP ein Gesamtkonzept erarbeiten" damit zu vereinbaren, dad im Jahre 1984 3 000 ausgebildeten Fernmeldehandwerker/innen, Elektromechaniker/innen und Kraftfahrzeugmechaniker/innen nicht in die technisehe Laufbahn der DBP übernommen werden (allein beim FA Essen 50 Ausgebildete), und werden Überlegungen angestellt, um diesen Ausgebildeten durch weitere Ausbildungsstufen (Lehrveranstaltungen, Technikerschule) und durch eine Neugestaltung der BFt-Laufbahn die Qualifikation als staatlich geprüfte Techniker zu ermöglichen?
Frau Kollegin Reetz, die Bundesregierung bedauert, daß im Jahre 1984 bei der Deutschen Bundespost nicht alle, die ihre Ausbildung beenden, in ein dauerndes Arbeitsverhältnis übernommen werden können. Dies steht aber in keinem Zusammenhang und auch nicht im Widerspruch zu dem von Ihnen zitierten Bericht, sondern dies ist einfach darauf zurückzuführen, daß die Deutsche Bundespost schon seit Jahren erheblich mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt, als sie Bedarf an Arbeitsplätzen hat, und deswegen ist sie auch nicht in der Lage, jetzt über den vorhandenen Bedarf an Arbeitsplätzen hinaus diese Auszubildenden zu übernehmen. Es kann natürlich auch nicht Aufgabe der Deutschen Bundespost sein, mit einer weiteren Ausbildung fortzufahren, wenn eine Ausbildung zu Ende gebracht ist.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Reetz.
Der Bericht über den Ausbau des heutigen Fernmeldenetzes zu einem vermittelnden Breitbandnetz erweckt den Eindruck — ich meine, darin werden Sie mir wohl zustimmen — einer intensiven technischen Vorwärtsentwicklung, wozu natürlich auch ausgebildete Kräfte notwendig sind. Das kommt auch an anderer Stelle vor. Können Sie mir deshalb nicht darin zustimmen — ich habe es am Ende der Frage auch formuliert —, daß j a gerade die Ausgebildeten hervorragend dazu geeignet wären, um für dieses neue Konzept fortgebildet zu werden, damit so die weiteren Pläne verwirklicht werden können?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Reetz, ich will Ihnen gerne zustimmen, daß wir im Zuge der Einführung neuer Techniken und neuer Technologien sicherlich auch die Ausbildungsgänge überdenken können. Ich will gerne auch noch hinzufügen, daß es, wenn es uns gelingt, die Dinge, die wir dort vorhaben, noch erheblich schneller durchzuführen, auch möglich sein kann, daß wir erheblich mehr Arbeitsplätze zur Verfügung haben, so daß sich dieses Problem mildert.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Reetz.
Ziehen Sie in Erwägung, die untere und mittlere Technikerlaufbahn so zu ändern, daß die Ausgebildeten in die Ingenieurlaufbahn aufsteigen können?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie werden sich erinnern, daß ich im Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen dieses Hohen Hauses entsprechende Anregungen aufgenommen habe.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß draußen, insbesondere bei den Fernmeldehandwerkern, immer wieder geklagt wird, daß sie nicht ausreichend auf neue Endgeräte, neue Techniken hin fortgebildet und umgeschult werden, weil es an den entsprechenden Vertreterstunden bei der Bundespost fehlt, und könnte nicht die Masse der Ausgebildeten übernommen werden, wenn endlich die ausreichende Zahl von Vertreterstunden für Ausbildungs- und Fortbildungsveranstaltungen bereitgestellt würde, wie es der frühere Postminister Hans Matthöfer auch schon beabsichtigte?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, was der frühere Postminister Hans Matthöfer möglicherweise beabsichtigt und nicht in die Tat umgesetzt hat, will ich hier nicht untersuchen. Hier geht es vielmehr darum, daß wir die Arbeitsplätze danach einrichten müssen, wieviel Arbeit vorhanden ist, und Sie wissen so gut wie wir, daß auch das Unternehmen Deutsche Bundespost unter der strengen Kontrolle des Bundesrechnungshofes steht und wir uns im Rahmen der Wirtschaftlichkeit zu bewegen haben.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn zur Verfügung. — Der Abgeordnete Dr. Sperling, der einzige Fragesteller in diesem Geschäftsbereich, ist nicht im Saal. Hinsichtlich seiner Fragen 10 und 11 wird entsprechend den Richtlinien verfahren.Ich brauche den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie nicht aufzurufen, da der Abgeordnete Dr. Schmude um schrift-
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4884 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Vizepräsident Westphalliche Beantwortung der Fragen 12 und 13 gebeten hat.Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Staatssekretär Pfeifer zur Verfügung.Ich rufe Frage 14 des Abgeordneten Schemken auf:Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die 1982 beschlossene und bis zum 31. Dezember 1984 befristete Verlängerung der Ausbilder-Eignungs-Verordnung maßgeblich zu der seit der festgestellten Steigerung des Angebots an Ausbildungsplätzen beigetragen hat?Bitte schön.
Herr Präsident! Herr Kollege Schemken, die Änderungsverordnung zur Ausbilder-Eignungs-Verordnung für die gewerbliche Wirtschaft vom 30. Juni 1982 hatte folgendes zum Gegenstand:
Erstens. Nach § 8 Abs. 2 ermöglicht sie eine Befreiung von der Ausbilder-EignungsverordnungsPrüfung bis zum 31. Dezember 1984. Bis zu diesem Termin begonnene Ausbildungsverhältnisse dürfen zu Ende geführt werden. 1982 wurden hierfür ca. 7 600 und 1983 ca. 9100 Befreiungen ausgesprochen.
Zweitens. Nach § 7 Abs. 1 brachte sie eine erweiterte Besitzstandsklausel. Alle Ausbilder, die vorher vom Nachweis der Eignung befristet befreit worden waren oder noch werden können als endgültig geeignet anerkannt werden, wenn sie vor dem 31. Dezember 1984 in den letzten fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung oder mindestens sechs Jahre seit dem 1. September 1964 ausgebildet haben. 1982 wurden nach dieser Änderung ca. 8 700 Personen als Ausbilder anerkannt. 1983 waren es ca. 6 300 Personen. Im Jahre 1981, dem Jahr vor der Änderung, wurden demgegenüber nur ca. 2 900 Personen als geeignet anerkannt. Aus diesen Zahlen kann ohne besondere Untersuchung abgeleitet werden, daß die Änderung der Ausbilder-Eignungs-Verordnung von 1982 zu einer Steigerung des Angebots an Ausbildungsplätzen beigetragen hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schemken.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß durch eine Verlängerung dieser Ausnahmebestimmung — wegen des hohen Schülerbergs — erreicht werden kann, das Angebot an Ausbildungsplätzen noch einmal zu erhöhen?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, das leitet bereits zur nächsten Frage über. Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich das gern im Zusammenhang mit der Frage 15 beantworten.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Schemken auf:
Ist die Bundesregierung bereit, durch eine nochmalige Verlängerung der Übergangsregelung nach § 8 Abs. 2 der AEVO unverzüglich dafür zu sorgen, daß in den nächsten Jahren dringend benötigte zusätzliche Ausbildungsplätze bereitgestellt werden?
Sie haben dann noch drei Zusatzfragen.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schemken, derzeit prüft die Bundesregierung, ob angesichts der großen Nachfrage nach Ausbildungsplätzen in den kommenden Jahren eine nochmalige Anpassung der Ausbilder- Eignungs-Verordnung für die gewerbliche Wirtschaft erforderlich ist. Sollte sich ergeben, daß dies im Interesse der notwendigen Ausbildungsleistung der Wirtschaft dringend geboten ist, wird die Bundesregierung die Änderung der Ausbilder-Eignungs-Verordnung unverzüglich einleiten.
Zusatzfrage.
Beabsichtigt die Bundesregierung, das zu einem Zeitpunkt zu tun, der es möglich macht, daß noch vor dem Sommerurlaub auf Grund dieses Effekts weitere Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden können?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Das entspricht meiner Auffassung. Die Prüfung muß in naher Zukunft abgeschlossen sein und das Ergebnis möglichst noch vor der Sommerpause mitgeteilt werden.
Dann sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär Pfeifer.
Ich brauche den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz nicht aufzurufen; denn der Fragesteller der Frage 16, Herr Lowack, hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir sind dann beim Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der Fragen steht Staatsminister Möllemann zur Verfügung.
Die Fragen 31 und 32 sind die des Abgeordneten Löffler. Er ist nicht im Saal und bekommt deshalb seine Fragen nicht beantwortet. *)
Ich komme zur Frage 33 des Abgeordneten Dr. Czaja:
Ist weiterhin für alle Staatsorgane verbindlich, daß neben den Vier Mächten die Bundesrepublik Deutschland „auch verantwortlich für das ganze Deutschland" ist , daher sich auch nicht in rechtliche Abhängigkeiten bezüglich der Abtrennung anderer Teile Deutschlands von friedensvertraglichen Regelungen begeben darf (E 36, 7. Leitsatz) und den Ostverträgen nicht die Wirkung zukommt, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße ... aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und der Souveränität ... der Sowjetunion und Polens endgültig unterstellt worden seien" (E 40, 171)?
Herr Kollege Dr. Czaja, die Bundesregierung betrachtet Entscheidungen des Bundesverfassungs-*) Beantwortung der Fragen Seite 4887
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4885
Staatsminister Möllemanngerichtes im Rahmen des § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und der dazu ergangenen Rechtsprechung als für sie verbindlich. Dies gilt selbstverständlich auch für die Urteile, aus denen Sie zitiert haben.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, wird also bei Aussagen des Auswärtigen Amtes und auch bei Gesprächen mit Warschau an dieser grundgesetzlichen, vom Bundesverfassungsgericht verbindlich festgestellten ungeschmälerten Mitverantwortung für das deutsche Staatsvolk und dann auch sein Staatsgebiet Deutschland, wie es auch vor friedensvertraglichen Regelungen völkerrechtlich im Londoner Abkommen 1944, der Berliner Erklärung 1945 umrissen ist, auch diplomatisch aktiv festgehalten, so daß keinerlei Rechtsverwirkung bezüglich der rechtlichen Zugehörigkeit seiner verschiedenen Teile eintritt?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Czaja, wie ich bereits sagte, betrachtet die Bundesregierung die entsprechenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als für sie verbindlich. Sie agiert und spricht auf dieser Grundlage gegenüber jedermann, gleich, wo sie politisch agiert.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, teilt dann die Bundesregierung auch den Standpunkt, daß keiner der Staaten in Deutschland allein über die Grenzen ganz Deutschlands entscheiden kann und daß auch staatsrechtlich Art. 116 des Grundgesetzes schon wegen der Schutzpflicht für alle deutschen Staatsangehörigen unsere Staatsorgane bei ihren Maßnahmen zur Wahrung des darin enthaltenen völkerrechtlich bedeutsamen territorialen Bezugs verpflichtet?
Möllemann, Staatsminister: Offen gestanden habe ich den zweiten Teil der Frage nicht begriffen.
Können Sie sie noch einmal wiederholen, Herr Czaja?
Ich habe gefragt, ob die Bundesregierung die Meinung teilt, daß auch Art. 116 des Grundgesetzes schon wegen der Schutzpflicht für alle deutschen Staatsangehörigen unsere Staatsorgane bei ihren Maßnahmen zur Wahrung des darin enthaltenen völkerrechtlich bedeutsamen territorialen Bezugs verpflichtet.
Möllemann, Staatsminister: Ich sehe mich außerstande, diese Frage zu beantworten, weil ich im Moment nicht einmal weiß, was im Artikel 116 Grundgesetz steht. Es tut mir leid; ich habe es nicht hier.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatsminister, bleibt nach dem deutsch-polnischen Vertrag für die Bundesrepublik Deutschland verpflichtend, daß sie die Westgrenze Polens nicht in Frage stellen wird?
Möllemann, Staatsminister: Für die Bundesregierung, für die ich hier spreche, gilt, daß sie den deutsch-polnischen Vertrag nach Geist, Inhalt und Buchstaben voll erfüllt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lambinus.
Herr Staatsminister, können Sie mir in etwa sagen, wie oft gleichartige Fragen mit dem gleichen Fragetext seit Abschluß der Ostverträge hier in Fragestunden schon gestellt worden sind und von der Bundesregierung so wie heute beantwortet worden sind?
Möllemann, Staatsminister: Nein, Herr Kollege. Aber ich bin sicher, daß das im Vorraum vorhandene Zentrum für Informationstechnik darüber Auskunft geben kann.
Wir kommen zur Frage 34 des Abgeordneten Dr. Czaja:Entspricht es dem Wortlaut und Geist der mit der Volksrepublik Polen abgesprochenen Geschäftsgrundlagen des Warschauer Vertrages, daß nunmehr der weitaus überwiegende Teil deutscher Aussiedler aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße bei der Ausreise aus der polnischen Staatsangehörigkeit nicht entlassen wird, und ist anläßlich der von dem polnischen Bevollmächtigten hingenommenen Erklärung des Bundesaußenministers Scheel am 13./14. November 1970 zur Rechtslage Deutscher sowie der „Information" vom 7. Dezember 1970 nicht ein anderes Vorgehen für die Entlassung bei der Ausreise abgemacht bzw. vorausgesetzt worden?Bitte, Herr Staatsminister.Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Czaja, die humanitären Fragen der Aussiedlung und Familienzusammenführung wurden nicht durch ein Abkommen, sondern durch die vorher inhaltlich mit uns abgestimmte, dann als einseitige Erklärung abgegebene „Information" der Regierung der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970 geregelt. Diese „Information" war wesentliche Voraussetzung für den Abschluß des Warschauer Vertrages vom gleichen Tage. Es war dabei das Ziel der Bundesregierung, Deutschen — unabhängig davon, auf welchem Wege und mit welchen Reisepapieren — auf Wunsch zur Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Volksrepublik Polen zu verhelfen. Nach Ziffer 2 Abs. 1 der „Information" sollen — ich zitiere —Personen, die auf Grund ihrer unbestreitbaren deutschen Volkszugehörigkeit in einen der beiden deutschen Staaten auszureisen wünschen, dies unter Beachtung der in Polen geltenden Gesetze und Verwaltungsvorschriften tun können.Im Jahre 1970 war es — wie auch schon bei der Ausreise von über 200 000 Aussiedlern in den Jahren 1957 und 1958 — feststehende Praxis der polnischen Behörden, deutsche Aussiedler regelmäßig mit Reiseausweisen ausreisen zu lassen, die sie — wegen des Verlustes der polnischen Staatsangehörigkeit mit dem Grenzübertritt — nicht mehr als polnische Staatsbürger auswiesen. Es bestand in
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Staatsminister Möllemanndieser Frage daher 1970 kein Regelungsbedürfnis, zumal die Aussiedler im Bundesgebiet ihre deutsche Staatsangehörigkeit oder die mit der Aufnahme erworbene Eigenschaft eines Deutschen im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 Grundgesetz bestätigt erhielten. Die nunmehr seit Aufhebung des Kriegsrechts in Polen veränderte polnische Praxis bestätigte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes bereits am 30. Dezember 1983 in Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage.Der Umstand, daß die Volksrepublik Polen Aussiedlern für die Ausreise aus ihrem Hoheitsgebiet jetzt regelmäßig polnische Nationalpässe erteilt, also nicht die vorherige Entlassung aus der polnischen Staatsangehörigkeit fordert oder vollzieht, ist wegen des Unerwünschtseins von Doppelstaatigkeit bedauerlich. Dies widerspricht jedoch nicht dem 1970 hergestellten Einvernehmen über die Ermöglichung der Ausreise von „Personen mit unbestreitbarer deutscher Volkszugehörigkeit" und wurde bei diesem Einvernehmen, wie ich dargelegt habe, auf Grund der damals ja anderen Praxis auch nicht vorausgesetzt. Wie bereits gesagt, war für die Bundesregierung damals entscheidend — ich muß Ihnen sagen, das ist es auch heute —, die Ausreise überhaupt zu ermöglichen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, hat man denn — darauf sind Sie nicht näher eingegangen — bei der Erklärung des früheren Bundesaußenministers Scheel am 13./14. November 1970, die ja auch als Geschäftsgrundlage gegenüber dem Parlament und dem Bundesverfassungsgericht bezeichnet worden ist, nicht gewährleistet — wie es damals sowohl in Karlsruhe als auch dem Bundestag gegenüber ausgesprochen worden ist —, daß die bestehenden Grundrechte der Deutschen gesichert sind, und angesichts der von Verfassungs wegen bestehenden Schutzpflicht und des Fortbestandes der deutschen Staatsangehörigkeit auch die Frage der Entlassung aus der polnischen Staatsangehörigkeit geklärt bzw. geregelt?
Möllemann, Staatsminister: Wie schon gesagt, Herr Kollege Dr. Czaja: Wir — d. h. die damalige Bundesregierung — gingen davon aus, daß eine bestehende Praxis — ich habe sie beschrieben — weiter fortbestehen würde. Man hat das Problem zu dieser Zeit eben nicht gesehen, es hat so nicht bestanden. Es ist jetzt auf Grund einer veränderten Praxis aufgetaucht.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Wird man angesichts dieser plötzlich, also 1983, geänderten Praxis doch erwägen, ob weitere finanzielle Hilfen erst dann gewährt werden, wenn eine Entlassung aus der polnischen Staatsangehörigkeit — wie bisher — gewährleistet ist, dies um so mehr, als die Beachtung der Schutzpflicht wirtschaftliche Vorteile, die hier zu beschließen sind, nur zuläßt, wenn nicht Menschen- und
Grundrechte zu schützender Deutscher konstant verletzt werden?
Möllemann, Staatsminister: Also, ganz sicher wird die Bundesregierung bei nächster sich bietender Gelegenheit — und das kann eine auf hoher politischer Ebene sein — die Möglichkeit wahrnehmen, über diese veränderte Praxis mit der polnischen Seite zu sprechen, und versuchen, diesen unbefriedigenden Zustand zu ändern.
Ich möchte hier nun keine Spekulation darüber anstellen, mit welchen Mitteln das am ehesten erreicht werden kann. Aber sicherlich werden wir versuchen, die bestehende Praxis im Sinne der früheren zu ändern.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, da dieser Zustand, wie Sie zu Recht angeführt haben, seit 1983 besteht und Sie diesen Zustand auch als bedauerlich bezeichnen, frage ich: Warum hat die Bundesregierung bis jetzt noch keine Schritte unternommen, mit der polnischen Regierung über den — entgegen der bisherigen Praxis — plötzlich eingetretenen Zustand zu verhandeln, da doch bei den Aussiedlern die Gefahr der doppelten Staatsangehörigkeit besteht?
Möllemann, Staatsminister: Uns ging es, Herr Kollege Dr. Hupka, zunächst darum, herauszufinden, welche Auswirkungen diese veränderte Praxis im einzelnen mit sich bringt. Da es uns vor allen Dingen darum geht, die Möglichkeit der Ausreise für solche Deutsche, die das wünschen, zu erhalten, ist es wohl zweckmäßig, sehr sorgfältig zu ergründen, was getan werden kann, um diesen unbefriedigenden Zustand zu überwinden. Ich glaube, hier sind Gespräche auf entsprechender politischer Ebene das geeignete Mittel.
Herr Staatsminister, wenn Sie uns Ihre Aufmerksamkeit noch einen Moment geben können. — Ich habe mich davon überzeugt, daß der Abgeordnete Löffler, der an der Fragestunde vorher aktiv teilgenommen hat, aus einem einleuchtenden Grund nur einen Moment herausgegangen ist; er ist jetzt wieder da. Ich denke, wir sollten ihm daher die Chance geben, jetzt die Antwort auf die von ihm schriftlich eingereichten Fragen 31 und 32 zu bekommen.
Möllemann, Staatsminister: Selbstverständlich. Ich will auch versuchen — einen Zwischenruf von Herrn Löffler von vorhin aufnehmend und ihn vorwegnehmend —, Klartext zu reden.
Dann rufe ich nunmehr die Frage 31 des Abgeordneten Löffler auf:Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen das verfügbare Einkommen von Bediensteten der unteren Besoldungsstufen in den Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland unter den Sozialhilfesätzen des Gastlandes liegt?
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Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Löffler, in letzter Zeit haben Bedienstete des einfachen und des mittleren Dienstes in Hochlohnländern, darunter in den USA und in der Schweiz, wiederholt Klage über eine unzureichende Besoldung geführt und um Versetzung in ein anderes Land gebeten. Diesem Wunsch hat das Auswärtige Amt bisher in sechs Fällen entsprochen.Eine Überprüfung durch das Auswärtige Amt hat ergeben, daß die Klagen berechtigt waren. Der erhebliche notwendige Mehraufwand, hohe Schul- und Mietkosten, ungünstige Wechselkurse und andere erhebliche Belastungen haben dazu geführt, daß Bedienstete des einfachen und des mittleren Dienstes in bestimmten Hochlohnländern Schwierigkeiten haben, die erforderlichen Ausgaben für ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Zusatzfrage?
Dann rufe ich die Frage 32 des Abgeordneten Löffler auf:
Trifft es zu, daß deshalb ausländische Ortskräfte diese Stellen übernehmen müssen, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um eine bessere Bezahlung der deutschen Bediensteten zu gewährleisten?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, wegen der nicht mehr zumutbaren Mehrbelastungen entsandter Bediensteter in den Hochlohnländern hat sich das Auswärtige Amt entschlossen, die nach dem Abzug von Angehörigen des einfachen und des mittleren Dienstes freiwerdenden Stellen durch Ortskräfte zu besetzen.
Die erhöhten Mehrbelastungen für die Angehörigen des einfachen und des mittleren Dienstes im Ausland könnten — möglicherweise — durch eine Anhebung des Auslandszuschlags für die Besoldungsgruppen A l bis A 8 auf das Niveau von A 8 ausgeglichen werden. Es wird derzeit geprüft, ob und in welcher Weise dieser Weg gangbar ist. Um es im Klartext zu sagen: Darüber finden Gespräche mit dem Finanzminister statt. Sicher wäre es eine große Hilfe für die in Frage kommende Gruppe der Betroffenen, wenn etwa im Haushaltsausschuß ein entsprechendes Bemühen von seiten des gesamten Parlaments Unterstützung erfahren würde.
Zusatzfrage des Abgeordneten Löffler.
Herr Staatsminister, hat es mit den Dienstkräften, die im Ausland angestellt werden, irgendwelche Schwierigkeiten bei der Durchführung ihrer Dienstobliegenheiten gegeben?
Möllemann, Staatsminister: Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Es kann sein, daß es bei den immerhin 5 000 Mitarbeitern, die wir haben, mal Schwierigkeiten gibt. Aber wenn Sie es auf die Frage der Besoldung beziehen: Da hat es, das sagte ich bereits, in einigen Fällen tatsächlich das Problem gegeben, daß das Einkommen, das wir in diesen niedrigeren Gehaltsklassen zahlen können, nicht ausreichend war, um den Lebensunterhalt sicherzustellen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Löffler.
Haben die ausländischen Kräfte, die bei den deutschen Botschaften tätig sind, die gleichen Aufgaben wie die deutschen Kräfte, die vorgesehen waren, ohne jede Schwierigkeit erfüllt?
Möllemann, Staatsminister: Es ist wirklich sehr schwierig, so pauschal zu sagen, daß die ausländischen Kräfte die Aufgaben genauso gut erfüllt haben. Mir sind jedenfalls keine Anzeichen dafür bekannt, daß man etwa sagen könnte, daß in bestimmten Funktionen ausländische Kräfte oder, wie wir sagen, Ortskräfte nicht auch in der Lage wären, beispielsweise die Funktion eines Fahrers oder eines Pförtners — das sind die entsprechenden Gruppen — zu erfüllen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Krizsan.
Herr Staatsminister, sind Ihnen ganz konkret Fälle von der deutschen Botschaft in Buenos Aires bekannt, daß Ortskräfte — konkret: Fahrer — aus Sparmaßnahmen jetzt nicht mehr in DM, sondern in Pesos Argentinos bezahlt werden und daher wegen der dort herrschenden Inflation in immense Schwierigkeiten kommen?
Möllemann, Staatsminister: Nein. Der Fall ist mir nicht bekannt. Ich müßte ihm nachgehen. Wir müßten uns dann darüber bei anderer Gelegenheit unterhalten. Der Sachverhalt ist mir nicht bekannt.
Wir sind am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Ich danke Herrn Staatsminister Möllemann für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Voss zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Dr. Schöfberger auf. Dieser ist aber nicht anwesend. Die Frage wird der Geschäftsordnung gemäß behandelt.
Die Frage 18 des Abgeordneten Austermann ist zurückgezogen worden.
Die Frage 19 des Abgeordneten Kirschner ist die nächste, die zur Beantwortung ansteht:
Welche finanziellen Nettozahlungen an die EG kommen auf die Bundesrepublik Deutschland insgesamt in den kommenden zehn Jahren jeweils zu, wenn, wie ap am 20. April 1984 meldete, der Mehrwertsteueranteil an die EG 1986 auf 1,4 v. H. und nach 1988 auf 1,6 v. H. angehoben wird?
Bitte sehr.
Herr Kollege Kirschner, es gibt weder national noch auf EG-Ebene eine gesamtwirtschaftliche Schätzung in der von Ihnen genannten Art der zeitlichen Dauer. Daher kann ich Ihre Frage nur partiell beantworten.An Hand der nationalen mittelfristigen Schätzungen betragen 1,4 v.H. der Mehrwertsteuerbemes-
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4888 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Parl. Staatssekretär Dr. Vosssungsgrundlage im Jahr 1986 rund 15,1 Milliarden DM, 1987 rund 16 Milliarden DM und 1,6 v.H. im Jahr 1988 rund 19,4 Milliarden DM und 1989 rund 20,5 Milliarden DM.Der tatsächliche Ausnutzungsgrad dieser 1,4-bzw. 1,6-v. H.-Grenze wird jedoch von der Entwicklung der EG-Ausgaben abhängen. Nach den vorbereiteten Beschlüssen des Europäischen Rates über die Haushaltsdisziplin soll die Steigerungsrate der Agrarausgaben im mehrjährigen Durchschnitt unterhalb des Wachstums der Basis der Eigenmittel bleiben und der Höchstsatz bei den nichtobligatorischen Ausgaben nicht überschritten werden. Wenn dies gelingt, ist die Annahme gerechtfertigt, daß die beiden Höchstgrenzen für die Mehrwertsteuereigenmittel nicht sofort voll ausgeschöpft werden und damit die Belastung des Bundeshaushalts tatsächlich niedriger sein wird.Die tatsächliche Ausschöpfung der vorgesehenen neuen Höchstgrenzen wird allerdings auch davon beeinflußt werden, wie die sich abzeichnenden Lükken im EG-Haushalt für die Zeit bis 1986 gedeckt werden sollen. Die diesbezüglichen Vorschläge der EG-Kommission sind noch nicht beraten worden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, können mit der von Ihnen genannten Erhöhung im Rahmen dieser Planung die Kosten für die vorgesehene Erweiterung der EG um Portugal und Spanien finanziert werden, oder ist dies unabhängig von der Erweiterung der EG?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat immer betont, daß die Erhöhung der EG-Eigenmittel von jetzt 1 % auf 1,4 % mit dem Beitritt von Spanien und Portugal im Zusammenhang steht.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Herr Staatssekretär, wir werden seit Jahren mit einer immensen Ausdehnung der Kosten der EG konfrontiert. Wie wirken sich nun die von Ihnen genannten Zahlen ganz konkret auf die Einkommenssituation der Landwirte aus, und zwar ganz differenziert nach den verschiedenen Durchschnittseinkommen der einzelnen Einkommensviertel? Denn irgendwo muß sich diese Erhöhung der Mittel doch niederschlagen.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie werden wissen, daß die Bundesregierung die Beeinträchtigungen bei den landwirtschaftlichen Einkommen dadurch abzudecken sucht, daß beispielsweise die Vorsteuerpauschale um drei Punkte erhöht werden soll.
Zusatzfrage des Abgeordneten Löffler.
Herr Staatssekretär, wie schätzt die Bundesregierung die Begehrlichkeit der einzelnen
Länder innerhalb der EG in bezug auf neue, kostenträchtige Maßnahmen ein, wenn der Finanzrahmen so kräftig erweitert wird, wie es vorgesehen ist?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Löffler, die Bundesregierung hat dem Beschluß, Haushaltsdisziplin zu üben, eine sehr starke Bedeutung beigemessen. Und die Bundesregierung tut alles, um diesen Grundsatz in allen Bereichen und bei allen Beteiligten zur Durchsetzung gelangen zu lassen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, da Sie die Auswirkungen auf die Einkommensverhältnisse der Bauern und die Kosten, die dem nationalen Haushalt hier erwachsen, nicht quantifizieren können, wohl aber den Zusammenhang zwischen der Erhöhung und dem Beitritt Spaniens und Portugals erklärt haben, darf ich Sie fragen: Ist dieser Zusammenhang nur in dem Wollen des Beitritts zu suchen, oder können Sie quantifizieren, was das für uns an zusätzlichen Kosten bedeutet?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, niemand wird in der Lage sein, heute auf Heller und Pfennig zu sagen, was der Beitritt von Spanien und Portugal an finanziellen Auswirkungen letztlich bringen wird. Fest steht nur, daß mit dem 1 %-Rahmen, den die EG bis jetzt hat, die Kosten keinesfalls zu finanzieren wären. Daher ist der Beschluß gefaßt worden, hier eine entsprechende Erhöhung Platz greifen zu lassen. Sie wissen auch, daß nach dieser ersten Erhöhung im Jahre 1986 dann im Jahre 1988, falls diese 0,4 % ausgeschöpft wären, eine weitere Erhöhung, natürlich im notwendigen Einvernehmen, vorgesehen ist. Mit diesen Erhöhungsmargen, die hier vorgesehen sind, wird der Beitritt von Spanien und Portugal weitgehend zu finanzieren sein. Wie sich das aber im einzelnen auswirkt, vermag zur Zeit niemand zu sagen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, können Sie uns eine Übersicht über andere kostenwirksame Initiativen im europäischen Bereich geben, also Initiativen außerhalb der Agrarpolitik, und darüber, welche Kosten die verursachen werden, z. B. Sozialfonds, Regionalfonds, Forschungsförderung etc.?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Ambitionen und Pläne, die hier bestehen, sind sehr vielseitig und vielfältig. Die Bundesregierung sieht eine ihrer Aufgaben darin, auch diese Ambitionen und diese Pläne unter dem Gesichtspunkt der Haushaltsdisziplin weiterzuverfolgen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, wie bringen Sie, wenn Sie wissen, daß diese Anteile auf Sie zukommen, dies mit den von der Bundesregie-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4889
Dr. Klejdzinskirung geäußerten Absichten bezüglich Steuervergünstigungen für bestimmte Gruppen von Einkommensbeziehern in Einklang?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich sehe hier absolut keinen Zusammenhang, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, der letzte der Fragesteller, der Abgeordnete Antretter, hat um schriftliche Beantwortung seiner Frage 20 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Finanzen. Ich danke Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Voss und beende damit jetzt die Fragestunde.
Wir treten wieder in den anderen Teil unserer Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bernrath, Schäfer , Dr. Wernitz, Dr. Schmude, Dr. Penner, Roth, Rapp (Göppingen), Stiegler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Nebentätigkeit von Angehörigen des öffentlichen Dienstes (Nebentätigkeitsbegrenzungsgesetz — NBG)
— Drucksache 10/1034 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 10/1319 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 7a und 7 b und ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat als erster der Abgeordnete Bernrath.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf meiner Fraktion geht zurück auf den Gesetzentwurf der Regierung in der 9. Wahlperiode, auf einen Gesetzentwurf, der damals bei den Berichterstattern bereits weitgehende Übereinstimmung gefunden hatte. Ziel damals wie heute ist es, das Nebentätigkeitsrecht zu verschärfen und die Entscheidungsspielräume für die Verantwortungsträger, insbesondere also für die Dienstvorgesetzten, zu erweitern.Abweichungen gegenüber dem damaligen Entwurf zeigen sich im wesentlichen in drei Punkten. Einmal wird die zeitliche Inanspruchnahme durch Nebentätigkeiten pauschal begrenzt auf ein Fünftel der Wochenarbeitszeit. Da stimmen wir auch überein. Dazugekommen ist eine Konkurrenzklausel für Ruhestandsbeamte mit allerdings abweichenden Verbotszeiträumen; wir gehen von fünf Jahren, Sie von drei Jahren aus. Drittens — und das ist insbesondere in unserem Entwurf enthalten — meinen wir, daß ein Entscheidungsmaßstab mit dem Stichwort „Belange des Arbeitsmarktes und des allgemeinen Wirtschaftslebens" eingeführt werden sollte.Ich will mich auf dieses Kernstück, nämlich die erstmalige Einführung dieses zwischen uns umstrittenen Passus, wonach eine Nebentätigkeit auch wegen der Lage auf dem Arbeitsmarkt versagt werden kann, konzentrieren. Bei den übrigen Regelungen beziehen auch Sie sich auf den Berichterstatterentwurf aus der 9. Wahlperiode. Abweichungen sind ganz gering. Der Inhalt der Entwürfe ist im übrigen in der Öffentlichkeit wie auch hier ausreichend bekannt.In unserem Entwurf heißt es:Die Genehmigung soll versagt werden, wenn zu besorgen ist, daß durch die Nebentätigkeit erhebliche Belange des Arbeitsmarktes oder des Wirtschaftlebens beeinträchtigt werden.Dagegen werden verfassungsrechtliche und auch praktische Bedenken geltend gemacht.Aber — und darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen — wenn wir mit der Novellierung etwas bewirken wollen, endlich Ernst machen wollen, wie ein Kollege gesagt hat, müssen wir bemüht sein, diese Bedenken auszuräumen. Denn es kann doch wohl nicht sein, daß unser gemeinsames Anliegen, nicht nur die Entscheidungspraxis zu verbessern, sondern auch die Schwächen auf dem Arbeitsmarkt nicht noch über beamtenrechtliche Regelungen zu verschärfen, an formalen Bestimmungen scheitert, die, wie ich meine, auch in den Rechtsgrundlagen, etwa in der Verfassung, keine Begründung finden.Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Grundrechtseinschränkungen auch innerhalb des Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes zulässig, wenn sie, wie es dort heißt, durch den Sinn und den Zweck des konkreten Dienst- und Treueverhältnisses der Beamten gefordert werden. Hier liegt unseres Erachtens der Ansatzpunkt, die Gemeinwohlbindung des Beamten zur Beschränkung der Nebentätigkeit auch aus diesen Anlässen — also Anlaß Arbeitsmarktschwäche — nutzbar zu machen. Insofern erscheint uns auch das Kernstück unseres Entwurfs notwendig; denn dem Wohl der Allgemeinheit kommt in Zeiten wirtschaftlicher
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4890 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
BernrathSchwierigkeiten sicherlich besondere Bedeutung zu.Ein anderer Beschluß des Bundesverfassungsgerichts räumt ausdrücklich und auch unter Hinweis auf die im deutschen Beamtenrecht seit langem enthaltenen Beschränkungen in der Ausübung von Nebentätigkeiten dafür Regelungsraum ein; denn der Gesetzgeber ist nicht allein dann gehalten, den Umfang von Nebentätigkeiten zu steuern, wenn dienstliche Interessen berührt sind. Er kann ganz allgemein den Anreiz zur Übernahme von Nebentätigkeiten verringern, begrenzen oder auch konkret einschränken, wenn die Wahrung öffentlicher Belange ihn dazu veranlaßt. Das heißt, der Gesetzgeber ist — auch im Rahmen der herkömmlichen Grundsätze des Beamtenrechts — verpflichtet, dem Spannungsverhältnis zwischen den vorgegebenen öffentlichen Belangen und den natürlich verfassungsmäßigen Rechten der einzelnen Bediensteten durch „flexibles Reagieren" — wörtlich zitiert! — Rechnung zu tragen und dann entsprechende beamtenrechtliche Regelungen der Interessenlage des Staates anzupassen.Am Rande will ich nur vermerken: Die Verkürzung der Arbeitszeit der Beamten hatte sicherlich nicht das Ziel, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst für weitere Erwerbstätigkeiten freizustellen. Auch dazu gibt es Rechtsprechung, die für die Begründung einer weiteren Einschränkung des Nebentätigkeitsrechts, wie wir es hier vorschlagen, herangezogen werden kann. Das heißt, alle, auch einschränkende Maßnahmen, müssen und können an den bestehenden und in ihrer Entwicklung absehbaren Verhältnissen im Bereich des Staates und des öffentlichen Dienstes und unter Berücksichtigung der erwähnten Verfassungsprinzipien orientiert werden.Was berührt jetzt und wohl auch noch einige Zeit das Gemeinwohl, die Interessen des Staates, den Bereich des Staates mehr als etwa die besonders in den letzten 18 Monaten stark gestiegene und langfristig auch weiter steigende Arbeitslosigkeit? Wenn Sie diese Frage heute oder in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich beantworten wollen, darf ich Sie, und zwar alle, an Ihre eigenen Aussagen erinnern: Wohl keiner von Ihnen unterläßt es dann, wenn er in der Öffentlichkeit begründet, warum jetzt das Nebentätigkeitsrecht nun endlich verschärft werden muß, darauf hinzuweisen, daß das insbesondere aus arbeitsmarktpolitischen Gründen notwendig sei.Ich meine also, daß Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes und die dazugehörende Rechtsprechung keine Hindernisse sind, auch Nebentätigkeiten aus arbeitsmarktpolitischen Gründen zu begrenzen. Praktische Schwierigkeiten können bewältigt werden; alle Beteiligten müssen das allerdings wollen. Ich will das hier nicht vertiefen. Es gibt sicherlich Anhaltspunkte dazu, auch in den Statistiken der Arbeitsämter; aber das sollten wir dann im Ausschuß im einzelnen in Ruhe beraten.Bei dem Begriff „Belange des Wirtschaftslebens" — sicherlich sehr unbestimmt — spielt aber zweifellos auch die Wettbewerbslage zu freien Berufenoder zu kleineren mittelständischen Unternehmen eine Rolle. Ich bin überzeugt, daß die Sicherung gleicher Wettbewerbschancen, also auch das Erhalten gleicher Risiken, ebenfalls eine Voraussetzung für das Gemeinwohl ist. Hier zeigen sich jedenfalls gleichgerichtete Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes.Im übrigen sind arbeitsvertragliche Begrenzungen und Verzichte auf die Wahrnehmung von Nebentätigkeiten im privaten, im gewerblichen Bereich häufig, wenn nicht sogar üblich. Wir schließen natürlich mit den Beamten keine Verträge, aber ich bin überzeugt, daß die Beamten Verständnis für die Notwendigkeit der Beschränkung von Nebentätigkeiten auch aus den hier von mir in den Mittelpunkt gestellten Überlegungen, nämlich Überlegungen des Arbeitsmarktes, haben. Insofern appellieren wir auch an die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, von sich aus auf die Übernahme von Nebentätigkeiten zu verzichten. Das würde nicht nur das Ansehen des öffentlichen Dienstes steigern helfen, sondern würde die besonderen Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes bzw. seiner Beschäftigten deutlich machen und auch die Besonderheiten im Dienstrecht für Beamte nachhaltig rechtfertigen.Es geht also darum, wirksam zu verhindern, daß Angehörige des öffentlichen Dienstes unangemessen Nebentätigkeiten wahrnehmen. Die dafür jetzt notwendigen Regelungen enthält, so meine ich, unser Entwurf. Diese Neuregelungen sollen natürlich auch für das Tarifpersonal wirksam werden. Soweit ihre Anwendung nicht durch Verweisungen in bestehenden Tarifverträgen ohnehin gesichert ist, müßten dann Verhandlungen mit dem Ziel der Anpassung geführt werden.In diesem Sinne bitte ich Sie, unseren Entwurf zu überweisen, aber zur Mitberatung nicht nur an die aufgeführten Ausschüsse, sondern auch an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Doss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der öffentliche Dienst ist in besonderem Maße dem Allgemeinwohl verpflichtet. Es widerspricht dieser Verpflichtung, wenn er sich in seiner Freizeit zum Teil in wettbewerbsverzerrender Art am Erwerbsleben beteiligt und damit die Erwerbsgrundlage und die Arbeitsplätze anderer gefährdet. Vor allem im Interesse der über 2 Millionen Arbeitslosen und Kurzarbeiter war daher eine Novellierung der derzeit geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen überfällig.Einige Beispiele sollen deutlich machen, daß das zur Zeit geltende Recht nicht ausreicht: Am 22. September mußte ein nordrhein-westfälischer Regierungspräsident einem technischen Angestellten rund 18 Stunden wöchentlich für Bauplanung genehmigen. Während einige engagiert für die 35Stunden-Woche kämpfen, kämpft dieser Angestellte um die 58-Stunden-Woche.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4891
DossIn einem anderen Bundesland gründeten Mitarbeiter einer Fachhochschule eine Firma, deren Zweck es ist, Sammelbestellungen für Bücher für Hoch-, Fach- und allgemeinbildende Schulen zu erledigen. Der erboste Buchhandel wollte wissen, ob dies legal ist. Antwort vom Dienstherrn: Die in Frage stehenden Personen haben die beabsichtigte Nebentätigkeit angezeigt; sie teilen mit, daß diese Nebenbeschäftigung nur geringen Umfang habe; in Anbetracht dieses Sachverhaltes sehen wir keine rechtliche Möglichkeit, eine Genehmigung zu versagen.
In Nordrhein-Westfalen beziehen zur Zeit rund 100 hauptberufliche Fahrlehrer Kurzarbeitergeld oder Arbeitslosenunterstützung. Zur gleichen Zeit sind rund 3 000 beamtete Fahrlehrer nach Feierabend und samstags kräftig am Aushelfen.Auch Beschäftigte der Bundespost mischen kräftig mit. Ein Prüfer von Antennenanlagen, beim Funkstördienst in Eschborn eingesetzt, ist gleichzeitig Inhaber einer Firma, die Planung, Bau und Kundendienst für Antennenanlagen durchführt. Sein Kollege im nahen Alzey führt in einem Jahr Elektroinstallationen an rund 60 Einfamilienhäusern durch und meldet dieselben beim zuständigen Elektrizitätswerk an.Obwohl die Grauzone dieser Nebentätigkeiten groß ist, ließen sich weitere Beispiele in dieser Form anfügen. Was soll ein Arbeitsloser, der nicht einmal die Chance hat, einen Teilarbeitsplatz zu bekommen, angesichts solcher Nebentätigkeiten denken? Die Neuregelung durch dieses Gesetz ist dringend geboten.Der Ihnen von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Gesetzentwurf führt zu einer stärkeren Einschränkung der Nebentätigkeit. Die wesentlichsten Änderungen sind: Jede Nebentätigkeit bedarf in Zukunft der vorhergehenden Genehmigung. Einige wenige abschließend aufgeführte Nebentätigkeiten sollen genehmigungsfrei bleiben.
Das Genehmigungsermessen des Dienstvorgesetzten wird stärker als bisher an bestimmte konkrete Voraussetzungen gebunden. Überschreitet z. B. die Nebentätigkeit ein Fünftel der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit, wird grundsätzlich vermutet, daß die dienstlichen Interessen beeinträchtigt sind. Das entspricht dem Vorschlag im SPD-Entwurf. Nebentätigkeiten dürfen künftig grundsätzlich nur außerhalb der Dienstzeit ausgeübt werden. Einrichtungen, Personal oder Material des Dienstherrn können nur noch mit Genehmigung und gegen Entrichtung eines angemessenen Entgelts in Anspruch genommen werden. Das Entgelt soll den besonderen Vorteil berücksichtigen, der dem Beamten durch die Inanspruchnahme dieser Einrichtungen entsteht. Durch die Genehmigungs- und Anzeigepflicht wird Nebentätigkeit aktenkundig.Nach unserer Überzeugung wird die Gesetzesneuordnung positive Auswirkungen auf den Beschäftigungsmarkt haben. Sie wird die Chancen und die Möglichkeit des selbständigen Mittelstandes stärken und Chancen für Newcomer — ich denke hier insbesondere an junge Hochschulabsolventen — vor allem im Bereich der freien Berufe verstärken.
Eine Grauzone unserer Volkswirtschaft wird transparenter. Durch die Genehmigungs- bzw. Anzeigepflicht werden in Zukunft verläßliche Daten über Art und Ausmaß der Nebentätigkeit zur Verfügung stehen. Das Ansehen des öffentlichen Dienstes wird durch diese Gesetzesnovellierung verbessert.
— Ja, sicher!
Es ist ein kleiner Prozentsatz, der zur Diskriminierung des gesamten öffentlichen Dienstes führt. Deswegen ist es im Interesse des öffentlichen Dienstes, daß dies in Ordnung gebracht wird. Das ist überhaupt keine Frage.
Die Kritik derjenigen wird verstummen, die zu Recht nicht einsehen können, daß auf der einen Seite wegen Überlastung des öffentlichen Dienstes immer neue Stellen geschaffen wurden — die Zahl der Staatsdiener nahm in den letzten 20 Jahren um rund eine Million zu —, während auf der anderen Seite die Nebentätigkeit eben jener angeblich überlasteten Mitbürger zum Teil nicht vertretbare Ausmaße angenommen hat.Auch die sozialdemokratische Opposition hat einen Gesetzentwurf zur Einschränkung der Nebentätigkeit vorgelegt; wir freuen uns darüber. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Genehmigung der Nebentätigkeit zu versagen — —
Wir haben ihn gründlich beraten, wie Sie verfolgen konnten. Da unser Gesetzentwurf wegen seiner Qualität — die Mehrheiten im Hause spielen dabei sicher auch eine Rolle — Gesetzeskraft bekommen wird, haben wir ausreichend sorgfältig beraten und ihn dann eingebracht, als er verwirklichungsreif war.Dieser Gesetzentwurf der Sozialdemokraten wird also die erheblichen Belange des Arbeitsmarktes und des Wirtschaftslebens berücksichtigen wollen. Diese Überlegungen sind nicht neu. Das Land Rheinland-Pfalz, mein Bundesland, hat im Jahre 1981 einen ähnlichen Versuch im Bundesrat unternommen. Er ist damals — wie ich finde, leider — abgelehnt worden, weil verfassungsrechtliche Bedenken, die nach wie vor bestehen, dieser Regelung keine Chance geben. Deswegen werden wir Ihrem Antrag in diesem Teil nicht zustimmen können.Ungeachtet dessen ist es außerordentlich zu begrüßen, daß Opposition und Regierungskoalition
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4892 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Dosssich im Ziel einig sind, die Nebentätigkeit stärker zu begrenzen. Es besteht deshalb die berechtigte Hoffnung, daß die Beratungen zügig durchgeführt werden und das Gesetz in Kürze beschlossen werden kann.Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil vom 25. November 1980 noch einmal festgestellt, daß das Privileg der lebenslänglichen Alimentation einerseits auf der anderen Seite die Verpflichtung des Beamten beinhaltet, seine volle Arbeitskraft seinem Amt zu widmen.In einer Situation, in der über zwei Millionen Bundesbürger ohne Beschäftigung sind, ist deren Anspruch auf einen Arbeitsplatz höher zu bewerten als der Anspruch eines öffentlich Bediensteten mit lebenslänglich gesichertem Arbeitsplatz auf eine weitere Tätigkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Fischer .
— Aber der Präsident ist gehalten, den Versuch zu machen, Rede und Gegenrede auf gute Weise zustande zu bringen; und dies ist mein Versuch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem spannenden Debattentag heute stehe ich hier
und soll mich zu einem Problem äußern, von dem ich als Nichtbeamter bis vor wenigen Tagen noch gar nicht wußte, daß es so etwas überhaupt gibt.
Die Tätigkeit der Beamten ist ein weites Feld, wie man feststellen kann. Daß dieses Feld sich noch erweitert um Nebentätigkeiten, konnte ich zu meinem Erstaunen jetzt feststellen. Daß man sich selbst in die hohen Sphären des Verfassungsrechts bewegen muß, erstaunt mich noch um so mehr. Jetzt stehe ich also hier und soll mich hier äußern. Es wurde zuviel, aber doch richtig schon gesagt, daß in einer Situation, in der 2,5 Millionen Arbeitslose kaum Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben, die Frage der Umverteilung der vorhandenen Arbeit die zentrale Frage überhaupt ist. Wir stimmen insoweit mit der Tendenz der beiden Anträge überein.
Was mich in diesem Zusammenhang aber erstaunt, ist, daß die obersten Dienstvorgesetzten hier mit so schlechtem Beispiel vorangehen. Da gibt es einen Postminister, der seinen Privatbetrieb, seinen Familienbetrieb gewissermaßen kurz geschlossen in seine Verkabelungspläne im Ministerium einbringt, und auf der anderen Seite will man dem kleinen Postbeamten die Nebentätigkeit wegnehmen. Nebentätigkeiten gibt es auch anderswo sehr stark. Man denke daran, welchen Nebentätigkeiten
etwa über Jahre hinweg der Bundeswirtschaftsminister nachgegangen ist, sehr profitable Nebentätigkeiten. Auch für ihn besteht da keinerlei Veranlassung, zurückzutreten. Wie wir gerade erfahren konnten, gibt es in diesem Zusammenhang auch weitestgehende Amnestievorstellungen aus dem Lager der Union.
Ich finde das sehr doppelzüngig. Man sollte von oben her vorgehen und die Nebentätigkeiten da einstellen.
— Der Fisch stinkt vom Kopf her. Das haben Sie sehr richtig gesagt. Vor allen Dingen die Post stinkt vom Kopf her.
Ansonsten kann ich nur hinzufügen, daß wir diesem Antrag auf Überweisung stattgeben. Was die Nebentätigkeiten der Beamten anbetrifft, wird — wenn wir alle einer Meinung sind — wahrscheinlich festzustellen sein, daß sie eingeschränkt werden wird. Wir haben nur unsere Zweifel, daß das auch arbeitsmarktpolitisch tatsächlich wirksam wird. Dazu wird in beiden Entwürfen überhaupt nichts gesagt. Es könnte sich herausstellen, daß es sich dabei um eine reine Schaufensteraktivität handelt. Es könnte sich herausstellen. Ich behaupte nicht, daß es so ist. Man wird es sehen. Es wird ja jetzt mutig gehandelt werden. — In dem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon beachtlich, wie man im Zusammenhang mit der Post eine Assoziation mit einem Fisch haben kann. Ich denke eher an eine Schnecke, von der wir seit wenigen Tagen wissen, daß sie sich nur noch einmal am Tage auf den Weg macht. Aber zu dem Bereich der Nebentätigkeit der Beamten ist es — —
— Ich habe Sie leider nicht hören können.
— Auch das wäre sicherlich Anlaß zu einer neuen Debatte. Aber lassen wir das.Ich muß sagen, zur Nebentätigkeit der Beamten fällt mir nicht mehr allzuviel Neues ein. Wir betreiben dieses Unternehmen ja mit großem Aufwand. Ich glaube, daß die verschiedenen Gesetzentwürfe seit drei oder vier Legislaturperioden, d. h. seit Jahren, in den Ausschüssen ziseliert werden. Man kann zu allen Argumenten, die vorgetragen werden, eigentlich nur sagen: alles alte Bekannte. Herr Bern-
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Dr. Hirschrath, die verfassungsrechtlichen Positionen sind bekannt. Sie sind wie alle streitig. Die Fachleute sind wie immer unterschiedlicher Meinung. Ich glaube, da kann man weder für das eine noch für das andere Wesentliches herleiten.Interessant ist, daß beide Gesetzentwürfe teilweise wortgleich sind, was daher rührt, daß sie alle einen gemeinsamen Vater haben, nämlich die Berichterstatterfassung von vor zwei Legislaturperioden. Jede Seite hat sie nun mit ein paar Sonderpositionen angereichert.Wichtig ist in der Tat die Frage: Was ist der gemeinsame Ausgangspunkt? Gemeinsamer Ausgangspunkt ist die sich verschärfende Wettbewerbssituation in den freien Berufen, im Gewerbe überhaupt, und der Versuch, durch die Regelung der Nebentätigkeiten der Beamten in irgendeiner Weise zur Lösung dieser Probleme beizutragen. Was einem als erstes auffällt, ist, daß das statistische Material über die tatsächliche Nebentätigkeit der Beamten außerordentlich dürftig ist. Ich habe den Eindruck, daß das weitgehend überschätzt wird. Die Zahlen, die wir zur Verfügung haben, sagen, daß etwa 2 % der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst — Beamte, Angestellte und Arbeiter — eine Nebentätigkeit leisten. Hier erfassen wir nur die Beamten. Überwiegend leisten sie zwischen 5 und 15 Stunden im Monat. Der größte Teil dieser Nebentätigkeit, jedenfalls bei den Bundesbeamten, liegt bei der Lehr- und Prüftätigkeit. Merkwürdigerweise folgen an zweiter Stelle Kraftfahrer, und an dritter Stelle folgen Nebentätigkeiten im Handel, also als Verkäufer oder Lageristen. Soweit die Länder Daten zur Verfügung stellen konnten, z. B. Hessen, ist der prozentuale Anteil der Nebentätigkeit ebenfalls nicht höher, sondern liegt bei 2 bis 2,5%. Davon entfallen bei den Ländern etwa 60 % auf Unterrichts-, Lehr- und Prüftätigkeit, also auf Tätigkeiten, die wir auch durch beide hier eingebrachten Gesetzentwürfe nicht einengen wollen, weil sie im Interesse des Dienstherrn unternommen werden. Es ist klar, daß eine Hochrechnung auf arbeitsmarktwirksame Folgen, also auf Arbeitsplätze, nicht möglich ist, weil die Tätigkeiten sehr unterschiedlich sind und weil die Konzentration der Tätigkeiten sehr unterschiedlich ist.Statistische Daten über die Nebentätigkeiten bei den Kommunen fehlen völlig, und gerade da liegt der eigentliche Stein des Anstoßes, wie man immer wieder hört, nämlich die Nebentätigkeit bei Bau- und Katasterämtern, und dabei nicht nur bei den Beamten, sondern auch durch Angestellte im kommunalen Bereich.Der Gesetzentwurf, den wir eingebracht haben und der insofern mit beiden Seiten übereinstimmt, übernimmt Regelungen, die bisher weitgehend im Bundesbeamtenrecht schon gelten, in das Beamtenrechtsrahmengesetz. Das ist der wirklich neue Punkt. Das heißt, daß die bisher allgemeine Formel, daß die Länder die Nebentätigkeiten ihrer Beamten gesetzlich zu regeln haben, nun durch eine Reihe von Grundzügen ersetzt wird, die Sie, Herr Doss, dargestellt haben, also vorherige Genehmigung, Verbot der übermäßigen Beanspruchung der Arbeitskraft, absoluter Vorrang der dienstlichen Pflichten, Nebentätigkeit nur außerhalb der Arbeitszeit, Entgelt bei der Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und — das halte ich auch für wichtig — Einbeziehung der Ruhestandsbeamten, die Bezüge bekommen, innerhalb der ersten drei Jahre nach ihrem Ausscheiden. Die SPD sagt: innerhalb der ersten fünf Jahre. Das sind also Regelungen, die etwa der Karenzklausel in der gewerblichen Wirtschaft entsprechen.Wir halten diesen Vorschlag, diese Regelung für gerecht, für zumutbar und in der Tat für hilfreich. Wir hoffen, daß damit die Diskussion über die Nebentätigkeiten abgeschlossen werden kann, da es eine faire Regelung ist, die die Entfaltung des einzelnen Mitarbeiters im öffentlichen Dienst nicht über Gebühr beschneidet, aber den Wettbewerb, insbesondere zu den freien Berufen, in fairer Weise regelt.
Wir denken, daß damit nicht nur den wirtschaftlichen Interessen des gewerblichen Mittelstandes und der freien Berufe gedient ist, sondern daß damit im Ergebnis auch das Ansehen des öffentlichen Dienstes gestärkt wird.Wir werden den Gesetzentwurf zügig beraten, uns jedenfalls darum bemühen. Wir wissen, daß die Wirkung dieses Gesetzes in der Wirklichkeit von den Entscheidungen der Dienstvorgesetzten abhängt, die auch heute zu einem Teil die Möglichkeiten des geltenden Rechtes nicht ausgeschöpft haben. Man muß also an die Dienstvorgesetzten appellieren, daß sie die Absichten dieses Gesetzentwurfes aufnehmen und daß sie auch im Interesse des öffentlichen Dienstes dazu beitragen, daß die Absichten dieser Gesetze in der Welt der Tatsachen verwirklicht werden.Schließlich möchten wir an den Innenminister appellieren, daß er sich darum bemüht, uns nach einer gewissen Zeit der Erprobung dieses Gesetzes Zahlen vorzulegen, damit man mal sieht, wie das in der Wirklichkeit eigentlich aussieht. Man sollte nicht nur Zahlen des Bundes heranziehen, denn es kann kein Teufelswerk sein, auch Zahlen der Länder und insbesondere Zahlen der Kommunen zu bekommen.
Man sollte also die kommunalen Spitzenverbände bitten — auch diese haben immer viele Wünsche, auch statistischer Art —, dazu beizutragen, daß wir endlich mal aus dem Zustand des Herumruderns im Nebel herauskommen und klare Fakten bekommen, damit diese Diskussion weniger emotional geführt wird, als es leider häufig der Fall war.In diesem Sinne stimmen wir der Überweisung an die Ausschüsse zu.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/1034 und
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Vizepräsident Westphal10/1319 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und darüber hinaus zur Mitberatung auch an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft vor. Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Kampf gegen staatlich sanktionierten Mord— Drucksache 10/978 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußMeine Damen und Herren, der Ältestenrat hat für die Aussprache eine Runde vereinbart. — Auch dazu ist kein Widerspruch zu erkennen. Dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache.Wenn ich richtig sehe, ist der mir hier nicht als Redner gemeldete Herr Duve der erste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Selbstbewußtsein wird nicht getrübt, auch wenn ich nicht gemeldet bin.
Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen, die sich vor zwei Jahren und drei Monaten zugetragen hat. Wir Abgeordneten des Deutschen Bundestages befanden uns damals im Urlaub.Am 17. Juli 1982 treffen in der landwirtschaftlichen Kooperative San Francisco etwa 600 Soldaten ein. San Francisco liegt im guatemaltekisch-mexikanischen Grenzbezirk Huehuetenango. Es ist etwa 11 Uhr vormittags. Zuerst wurden die Männer des Dorfes zusammengerufen, dann die Frauen aus den Häusern geholt. Im kleinen Gerichtsgebäude des Dorfes werden die Männer, in der kleinen Kirche die Frauen eingeschlossen. Beide Gebäude stehen 20 m voneinander entfernt. Einige Stunden später werden die Frauen mit Maschinengewehrsalven aus der Kirche gejagt, zurück in die Häuser, und dort werden sie mit Messern niedergemetzelt. Nach der dann folgenden Plünderung der Häuser werden die Kinder, die in der Kirche zurückgeblieben waren, ebenfalls ermordet. Später am Nachmittag werden die Männer erschossen. Gegen 17.30 Uhr an jenem 17. Juli 1982, an dem wir uns in den Ferien befanden, war alles vorbei. Von den 305 Bewohnern San Franciscos hatten drei überlebt, weil sie nachts unter dem Leichenberg herauskriechen konnten. Alle Namen und Ereignisse sind sorgsam von dem Jesuitenpater Ricardo Falla in dieser Dokumentation, die von Schweizer Katholiken zusammengestellt wurde, dokumentiert. Er hatte die drei Überlebenden tagelang befragt und hat in der Dokumentation auch sehr eingehend und sehr eindrucksvoll die Art der Befragung und die Art der Erschütterung dieser drei Überlebenden dargestellt.Meine Damen und Herren, dieses bestialische Oradour der 80er Jahre ist kein Einzelfall. Zwischen dem 23. März und dem 6. August 1982 sind im Norden Guatemalas die Bewohner von mindestens 22 Dörfern in ähnlicher Weise von Soldaten der Regierungsarmee umgebracht worden. Und natürlich ist Guatemala kein Einzelfall.Hier eine Zeugenaussage aus dem Iran:Ende 1982 marschierten Regierungstruppen in das Dorf Sartschenar. Dem Beschießen der Häuser sind sechs Männer zwischen 15 und 80 Jahren zum Opfer gefallen. Bei einem zweiten Angriff wurden die Bewohner in der Moschee zusammengetrieben. Es kamen dann sieben Männer im Alter von 12 bis 90 Jahren ums Leben.Ich habe diese beiden Beispiele aus einer Fülle von Vorfällen herausgegriffen, die amnesty international dokumentiert hat. Ich freue mich sehr, daß der Generalsekretär von amnesty international, Helmut Frenz, hier heute im Plenum anwesend ist, um dieser Debatte zu folgen.
Amnesty hat 1982 eine Kampagne begonnen, mit der auf die von staatlichen Organen verübten oder direkt sanktionierten Morde hingewiesen wurde. — Ich habe gewußt, Herr Präsident, daß ich bei einem solchen Thema nicht unbedingt die Aufmerksamkeit aller Fraktionen auf das Thema lenken kann. Aber mir ist das Thema wichtig und nicht die Aufmerksamkeit einer Fraktion.Ein amnesty-Tribunal in Frankfurt hat in drei Ländern Einzelfälle untersucht. Ich zitiere aus dem Schlußdokument:Wo Regierungen, die verpflichtet sind, Garant und Schutz des Lebens ihrer Bürger zu sein, zu deren Mördern pervertieren, appellieren wir an die Parlamente und Regierungen der freiheitlichen Demokratie, Maßnahmen zur Ahndung und zur Ermittlung ... zu ergreifen.Die Einbringung des Antrags der SPD-Fraktion heute in die parlamentarische Beratung durch den Deutschen Bundestag ist ein solcher Schritt, wo die freiheitliche Demokratie den Menschenrechtsorganisationen und auch den Journalisten, die solche Fälle aufgreifen, helfen kann. Denn gerade Mitarbeiter von solchen Menschenrechtsorganisationen sind — etwa auf den Philippinen oder in Zentralamerika — vielfältigen Repressionen ausgesetzt. Ja, es sind viele von ihnen umgebracht worden. In manchen Ländern, etwa der Volksrepublik China oder Äthiopien, ist die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen fast völlig unmöglich.Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung können natürlich nicht die tausendfältige Menschenquälerei anderer Regierungen beseitigen. Aber wir können und sollten nach meiner Überzeugung wesentlich mehr tun, als wir bisher getan haben. Wir sollten alle völkerrechtlich vereinbarten und gültigen Instrumente intensiv nutzen. Wir sollten unsere diplomatischen Vertretungen auffordern, den humanitären Organisationen dort beson-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4895
Duvedere Hilfestellung zu geben, wo es sich um Staaten handelt, die dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beigetreten sind.Darüber hinaus ist es wohl unsere Pflicht, gerade auf jene Staaten, die sich trotz ihrer brutalen Mißachtung der Menschen- und Freiheitsrechte zynischerweise zum Westen zählen, einen besonderen Druck auszuüben. Auf keinen Fall darf die internationale Arbeit gegen staatlich sanktionierte Morde dem abgefeimten Muster der gegenseitigen Aufrechnung zum Opfer fallen: Redest du von Guatemala, rede ich von Äthiopien; schweigst du über Uruguay, dann brauche ich über Afghanistan gar nichts mehr zu sagen.Das Völkerrecht und seine verwundbaren Institutionen gehen zwar von der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten aus. Aber die Charta der Menschenrechte hat den Schutz des Menschenlebens und die Verpflichtung zu rechtsstaatlichen Verfahren zu einer Angelegenheit der Völkergemeinschaft gemacht. Wenn die parlamentarischen Demokratien hier nicht voranschreiten und staatlichen Terror bekämpfen — wer sollte es sonst denn wohl auf dieser Welt tun?
Die Brüchigkeit und Verwundbarkeit der internationalen Beziehungen drückt sich auch darin aus, daß wir Regierungen und Regierungsvertreter häufig anerkennen müssen und mit ihnen verkehren, von denen wir wissen, daß sie für staatliche Morde selber direkt verantwortlich sind oder waren. Ich sehe es als ein ermutigendes Zeichen, daß immer häufiger Bürger dagegen protestieren, wenn Mordgesellen auf internationalem Parkett Honorigkeit zugestanden wird.Niemand hier im Hause wird die notwendigen, völkerrechtlich und realpolitisch richtigen sinnvollen Institutionen der internationalen Beziehungen mißachten. Ich will ein Beispiel geben. Es war zweifellos unvermeidlich, daß Großbritannien den Mord an seiner Polizistin vor der libyschen Botschaft dadurch ungeahndet ließ, daß es den diplomatischen Status des Mörders ausdrücklich anerkennen mußte. Auch diesen Tod auf dem St.-James-Square werden wir in die Liste der schrecklichen staatlich sanktionierten Morde aufnehmen müssen.Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung auf — erstens —, erneut auf die Gründung eines Internationalen Menschenrechtsgerichtshofs zu drängen. Zweitens erwarten wir, daß das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, mit dem die Individualbeschwerde geregelt werden soll, dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorgelegt wird.
— Das wird Zeit, bei Gott. Es sind seit 1966 nun wirklich viele Jahre vergangen. Wir fordern die Bundesregierung schließlich auf, Ihrerseits zur Aufklärung von Fällen des staatlich sanktionierten Mordes beizutragen.An diese Forderung knüpft sich eine ganze Reihe denkbarer konkreter Maßnahmen, die sicherlich Gegenstand der Ausschußberatungen sein sollen. Vor allem aber gehört dazu, daß wir die hervorragende Aufklärungsarbeit eben jener vielen einzelnen Journalisten und Menschenrechtsorganisationen ernst nehmen, aufgreifen und überprüfen. Deshalb fordere ich jetzt schon von dieser Stelle unsere Botschafter, unsere Konsuln auf: Verstärken Sie Ihre Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, wenn in Bedrängnis geratene Bürger zu Ihnen kommen und über staatlichen Terror berichten! Sie — hier richte ich mich an unsere Auslandsvertretungen — dürfen keine einzige Gedankensekunde zum Komplizen jener Leute werden, mit denen zu verkehren Ihr Amt Sie häufig zwingt. Gehen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten unmittelbar den Berichten nach, gewähren Sie Verfolgten Schutz. Das Auswärtige Amt ist vertreten; insofern ist mein Appell unmittelbar beim Herrn Staatsminister angekommen.Ich weiß, daß vieles von dem, was ich hier erwähne, häufig geschieht und nicht immer an die große Glocke gehört. Ich weiß aber auch, daß es fatale Unterlassungen gegeben hat und immer wieder gibt, in der Vergangenheit, in der Gegenwart. So wurden etwa die Schreie der Madres der Verschwundenen von Buenos Aires bei uns erst wirklich gehört, nachdem sie jahrelang einsam und ohne von unseren Vertretungen wirklich ernstgenommen zu werden, demonstriert hatten.
Ich erinnere an die Bitterkeit von Professor Käsemann, dessen Tochter umgebracht worden ist. Sind unsere Hände wirklich immer so gebunden gewesen und immer so gebunden, wie uns immer wieder gesagt wird?
Wir alle machen uns mit strafbar, wenn wir den geringen Spielraum, den wir haben, nicht nutzen. Wo Hände angeblich gebunden sind, da dürfen Augen nicht verschlossen, Ohren nicht verstopft sein.Ich zitiere noch einmal aus dem Schlußdokument des Amnesty-Tribunals: „Das häufig vorgebrachte Argument der betreffenden Staaten, sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen, hat bei staatlichem Mord keine Rechtsgültigkeit." Diese Aussage sollten wir unseren auswärtigen Vertretungen immer wieder klar und deutlich machen. Ich hoffe, daß wir zu einer solchen Entschließung hier im Bundestag kommen.Hannah Arendt hat warnend beschrieben, wie es erklärte Absicht der Außenpolitik Hitlers war, das internationale Bewußtsein von den Menschenrechten zu zerstören. Es gelang, so schreibt sie in „Elemente totalitärer Herrschaft", am Modell einer unerhörten Not für unschuldige Menschen darzulegen, daß solche Dinge wie unveräußerbare Menschenrechte bloßes Geschwätz und daß die Proteste der Demokratien nur Heuchelei seien. Und sie stellte damals resignierend fest: „Das bloße Wort Menschenrechte wurde überall und für jedermann, in
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Duvetotalitären und demokratischen Ländern, für Opfer, Verfolger und Betrachter gleichermaßen, zum Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus." Es liegt an uns, dieser 1951 getroffenen Feststellung endlich eine andere Wirklichkeit entgegenzustellen. Es liegt an uns, ob Hannah Arendt recht behält mit ihrer Angst, der Staatsterrorismus könnte sich weltweit des Bewußtseins der Bürger bemächtigen, so daß humanitäre Solidarität im wachsenden Zynismus erstickt.Nein, wir müssen staatlich sanktionierten Mord auch da anprangern, wo mit den staatlichen Mördern Interessenverflechtungen bestehen,
die der einzelne Abgeordnete nicht aufheben kann. Demokratische Souveränität, meine Damen und Herren, mißt sich daran, wie stark wir sind, uns dort, wo Regierungen ihre Bürger umbringen, über wirtschaftliche, auch über unsere wirtschaftlichen und politischen Interessen hinwegzusetzen. Ein solches Verhalten setzt Realpolitik nicht außer Kraft, sondern schafft erst die nach Verfassung und Völkerrecht für die Demokratie einzig denkbare Legitimation für Realpolitik.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt es, daß wir hier im Bundestag gemeinsam nach Wegen suchen, dem Morden überall auf der Welt Einhalt zu gebieten. Dabei möchte ich die Einschränkung im Titel des SPD-Antrags „Kampf gegen staatlich sanktionierten Mord" im Grunde nicht gelten lassen. Mord ist das verabscheuungswürdigste Verbrechen, das Menschen begehen können, ganz gleich, ob aus persönlichen Motiven oder staatlich sanktioniert. Wir sollten jedem Mord den Kampf ansagen.
Es gibt internationale Absprachen und ermutigende Vorstöße, z. B. die Initiative der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zur Eindämmung der willkürlichen Hinrichtungen und der Hinrichtungen im Schnellverfahren. Trotzdem wird in vielen Ländern der Welt nach wie vor gefoltert, hingerichtet, liquidiert und verschleppt. Es hat sich gezeigt, daß die zur Zeit zur Verfügung stehenden Instrumente offensichtlich nicht ausreichen, die Verachtung, die den Menschenrechten in vielen Ländern entgegengebracht wird, wirksam zu bekämpfen.Hier nur einige wenige krasse Beispiele: Der libysche Staatschef Gaddafi läßt Regimegegner im In-und Ausland bis heute schonungslos liquidieren. Jeder, der nicht seine volle Übereinstimmung mit den Zielen des Führers glaubhaft machen kann, riskiert sein Leben — und die Welt sieht zu.Im Iran werden mißliebige Minderheiten, etwa die Anhänger der Bahai-Sekte, gnadenlos verfolgt und umgebracht. Kinder wurden allein deshalb hingerichtet, weil sie sich an unerwünschten Demonstrationen beteiligten. Wie der „Spiegel" in seiner letzten Ausgabe schreibt, „mußte Behescht-e-Sahra bei Teheran, der größte Friedhof des Iran, in den letzten Jahren des öfteren ausgebaut werden. Denn nicht nur die Zahl der Kriegsopfer, sondern auch die der Hingerichteten nimmt ständig zu.
Wer nicht gehorcht, wer den politischen, kulturellen und vor allem moralischen Anweisungen des Staates nicht Folge leistet, muß mit dem Schlimmsten rechnen".Nachdem sich die Weltöffentlichkeit zu Beginn des Khomeiny-Regimes lautstark empört hatte, scheint man sich nun damit abgefunden zu haben. Nichts passiert, um den unschuldigen Opfern wirksam zu helfen.Eine weitere, fast vergessene Tragödie spielt sich tagtäglich in Afghanistan ab: Dörfer werden systematisch bombardiert. Frauen, Kinder und Greise sterben unter den völkerrechtswidrigen Angriffen auf die afghanische Zivilbevölkerung. Seit dem Einmarsch der sowjetischen Armee Ende 1979 in Afghanistan sind vermutlich Hunderttausende Afghanen getötet worden. Jede Woche sterben ungezählte Afghanen durch Bombenangriffe, und noch immer fliehen wöchentlich mehrere 1000 Frauen, Kinder und Greise vor den Bombenangriffen über die Grenze. Die medizinische Versorgung in Afghanistan ist katastrophal. Trotz der Genfer Konvention läßt die Sowjetunion die Tätigkeit des Internationalen Roten Kreuzes in Afghanistan immer noch nicht zu.Die Weltöffentlichkeit schweigt zu diesem systematischen Völkermord weitgehend. Man scheint sich an die schrecklichen Bilder gewöhnt zu haben sei es in Afghanistan, sei es in Mittelamerika, sei es in afrikanischen Ländern oder in Kambodscha.Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ließe sich — leider, so muß man sagen — beliebig fortsetzen. Es ist das unbestreitbare Verdienst von amnesty international, anderer Menschenrechtsorganisationen und auch vieler Journalisten, daß sie die Gewaltakte immer wieder anprangern, daß sie die Öffentlichkeit über die Menschenrechtsverletzungen aufklären und die Menschen für diese Probleme sensibilisieren.Wir als Abgeordnete fragen uns immer wieder und mit zunehmender Resignation, inwieweit die Instrumente des internationalen Rechts überhaupt dazu taugen, die Menschenrechte in den einzelnen Staaten auch faktisch durchzusetzen.Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 verbietet die Folter, gewährt Schutz vor willkürlicher Festnahme, garantiert die Unschuldsvermutung bis zum gerichtlichen Nachweis der Schuld, garantiert das Recht auf gerichtliches Gehör, auf eine angemes-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4897
Frau Geigersene Verteidigung und auf Anwendung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Gesetz". Er sagt in seinem Art. 6 Abs. 1:Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.Sehen wir uns die Liste derer an, die den Pakt unterzeichnet haben! Wir finden Chile, die DDR, den Irak, den Libanon, Libyen, die Mongolei, Nicaragua, die Sowjetunion, Syrien und sogar den Iran.
Muß man da nicht zu zweifeln beginnen angesichts so vieler Heuchelei, ob solche Verträge eigentlich irgendeinen praktischen Nutzen haben? Ich gebe Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, recht: Solange es keine wirklichen Sanktionen gibt, durch die die Menschenrechtsverletzungen geahndet werden, so lange werden die internationalen Übereinkommen weitgehend wirkungslos bleiben.Die Formulierung, daß den Staaten, die den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen beigetreten sind, hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte besondere Verpflichtung zukommt, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Leider ist sie das in der Wirklichkeit nicht. Das darf aber nicht bedeuten, daß diejenigen Staaten, die diesem Pakt nicht beitreten, aus ihrer Verantwortung für die Menschenrechte entlassen werden.
Wir sorgen uns über die zunehmenden Gewaltakte und Greueltaten, die von den verschiedensten Staaten dieser Erde verübt werden, und sind bereit, über eine erneute Intitative bei den Vereinten Nationen auf Gründung eines Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verhandeln. Es muß jedoch sichergestellt sein, daß nicht eine neue internationale Behörde mit viel Aufwand und wenig Effektivität entsteht.
Die langjährige Erfahrung mit der Europäischen Kommission für Menschenrechte zeigt, daß ein echtes Gericht nur dann funktioniert, wenn die beteiligten Staaten eine homogene Rechtsauffassung und vergleichbare Rechtsordnungen haben. Ich sehe noch nicht, wie dies weltweit erreichbar sein könnte.
Unverständlich finde ich noch etwas. Unverständlich finde ich, daß die SPD das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom Dezember 1966 gerade jetzt ratifizieren möchte. Seit im Jahr 1968 der damalige Außenminister Willy Brandt beide Menschenrechtspakte unterzeichnet hat, sind 13 Jahre SPD-Regierung ins Land gegangen, in denen sich die rechtliche Lage und die Situation der Menschenrechte nicht wesentlich geändert haben. Wäre derSPD wirklich so viel daran gelegen, dann hätte sie längst ratifizieren können. Derselbe Dr. Vogel, der als Fraktionsvorsitzender den heutigen SPD-Antrag unterschrieben hat, lehnte als Justizminister genau wie sein Nachfolger im Amt, Dr. Schmude, die Ratifizierung des Fakultativprotokolls regelmäßig ab.
Allerdings muß ich zugeben, daß sie triftige Gründe dafür hatten.
Der Justizminister war bisher immer der Meinung, die Europäische Menschenrechtskonvention sei ausreichend und benötige keine Erweiterung. Außerdem könnten bei Individualbeschwerden vor dem Menschenrechtsausschuß Ausschußmitglieder aus Staaten mitwirken, die diese Verfahren bei sich selbst als Einmischung in ihre inneren staatlichen Verhältnisse prinzipiell ablehnten und die selbst keine rechtsstaatliche Verfassung hätten. Möglicherweise kämen in ihren eigenen Ländern schwere Menschenrechtsverletzungen vor oder sei die Mißachtung bestimmter Menschenrechte ständige Praxis. Diese Ausschußmitglieder würden dann unter Umständen auch über uns, die Bundesrepublik, richten, und das ist keine angenehme Vorstellung.Ein weiterer Schwachpunkt liegt darin, daß das Ziel des Verfahrens ein „gütlicher Ausgleich" sein soll. Demgegenüber kann die Individualbeschwerde nach Art. 25 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der sich die Bundesrepublik Deutschland schon 1955 unterworfen hat, in eine den Vertragsstaat bindende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs münden und scheint mir deshalb wesentlich wirkungsvoller zu sein. Es ist auch nicht auszuschließen, daß es zu Überschneidungen der Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll mit der Individualbeschwerde nach der Europäischen Menschenrechtskonvention kommen könnte. Auch das war ein Bedenken der Justizminister.Andererseits aber hat sich der Bundesminister des Auswärtigen vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen bereits wiederholt für die Schaffung eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofs ausgesprochen. Wenn sich die Bundesrepublik Deutschland auf Dauer sogar einem schwächer ausgeprägten Instrument des Menschenrechtsschutzes, der Individualbeschwerde vor dem Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen, entzöge, würde dies die Glaubwürdigkeit ihrer Menschenrechtspolitik ganz gewiß nicht erhöhen.Diese Argumente für und wider die Ratifizierung sollten im Auswärtigen Ausschuß und im Rechtsausschuß noch sehr genau von allen Seiten beleuchtet und ausdiskutiert werden, bevor man zu einer endgültigen Beschlußfassung kommt.Voll zustimmen kann meine Fraktion der dritten Forderung des SPD-Antrages, zur Aufklärung des staatlich sanktionierten Mordes nach Kräften beizutragen. Wir können es nicht billigen, daß weiter-
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4898 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Geigerhin in vielen Staaten der Welt Menschen einfach verschwinden. Wir können es nicht hinnehmen, daß in mehr als 40 Ländern willkürliche Hinrichtungen und Hinrichtungen nach Schnellverfahren stattfinden. Wir dürfen die Augen auch nicht vor den Greueln an der Zivilbevölkerung vieler Länder, vor dem Morden von Todesschwadronen oder Guerillaorganisationen verschließen. Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen, daß in vielen Gefängnissen aller Erdteile psychisch und physisch gefoltert wird, daß viele Menschen unter grausamen Qualen sterben müssen oder für ihr Leben gezeichnet werden. Wir dürfen auch nicht dazu schweigen, daß in vielen Ländern Zwangseinweisungen in psychiatrische Kliniken vorgenommen werden, um damit Andersdenkende auszuschalten.
Wir dürfen nicht gleichgültig bleiben, wenn die Medien tagtäglich über schlimme Grausamkeiten, Folterungen und Massenmorde in fernen Ländern berichten. Darüber können wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen auf Abhilfe sinnen. Deshalb stimme ich dem Kollegen Duve darin zu, daß diese Fragen nicht, je nach dem politischen Standpunkt, beschönigt oder selektiv herausgegriffen werden dürfen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Horacek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Amnesty international und verschiedene andere Menschensrechtsorganisationen haben in den letzten Jahren ihre Arbeit auf einem Gebiet der Menschenrechtsverletzungen intensiviert, das zu den brutalsten, unmenschlichsten und häufig am schwierigsten nachweisbaren gehört, dem des sogenannten staatlich sanktionierten Mordes, der in den Dokumenten von amnesty international auch als extralegale Hinrichtung bezeichnet wird. Daß diese Arbeit — neben der Betreuung politischer Gefangener — von amnesty international, besonders auch der deutschen Sektion, geleistet wird, verdient unseren Dank und unsere Unterstützung.
Denn wie leider alle bisher zugänglichen Berichte und Dokumente sowie die Ergebnisse der Internationalen Konferenz über extralegale Hinrichtungen in Amsterdam zeigen, gibt es fast keinen Teil der Welt, kein bestimmtes politisches System oder irgendeine Ideologie, die frei davon wären, staatlichen Terror auszuüben, Menschen durch Folter zu ermorden — durch verschiedene Praktiken des Verschwindenlassens und des Massenmordes an Oppositionsbewegungen bis hin zum Völkermord an ganzen ethnischen Gruppen. Es ist unmöglich, alle Länder, in denen diese Grausamkeiten geschehen, zunennen, aber zu einigen möchte ich ein paar Worte sagen.In den verschiedenen Materialien, die dazu herausgegeben wurden, finden sich nebeneinander, alphabetisch geordnet, viele Länder. Es fängt an mit Äthiopien, geht über Afghanistan, Argentinien, Chile, El Salvador — aber auch Indien finden wir —, Iran, Kamputschea, Libyen, Südafrika, Südkorea bis Uganda usw. usw., um nur einige herauszugreifen.Es fällt sofort auf, daß es sich vielfach um Länder Zentral- und Südamerikas handelt, um sehr viele Länder in Afrika und Asien, die nicht nur eine große Anzahl von politischen Gefangenen haben, sondern auch die verschiedensten Formen des staatlich-politischen Mordes durchführen. Ich glaube, es ist auch wichtig, daran zu erinnern, daß alle diese Länder zu denjenigen 145 Ländern dieser Erde gehören, die die Todesstrafe im Gesetz verankert haben und anwenden. Daher möchte ich betonen, daß wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Art. 5 — ich zitiere: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden" — als Verpflichtung begreifen. Die GRÜNEN sind grundsätzlich gegen die Todesstrafe.
Die subtilere Form, das langsamere Sterben, beginnt oft schon durch Anwendung verschiedener Foltermethoden. Die Gefolterten sterben häufig noch in den Händen der Folterer, viele aber erst später im Krankenhaus oder Gefängnis, aber immer als Folge von schweren Mißhandlungen.Obwohl alle Regierungen weltweit die Folter verurteilen, zeigen die Berichte aus über 90 Ländern, daß sie dennoch in erschreckend hohem Maße angewandt wird. Dies geht vom offenen, nachweisbaren Zusammenschlagen bis hin zum Zutodeprügeln, wie es besonders in Südamerika geschieht; daneben gibt es die weniger nachweisbaren Methoden wie Benutzung von Elektroschocks oder Verabreichung von Psychopharmaka, wie sie in der UdSSR in psychiatrischen Kliniken an politischen Häftlingen und Oppositionellen angewendet werden.Wir wollen die Verhältnisse hier nicht mit denen in der Dritten Welt auf eine Stufe stellen, doch ist es notwendig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß es auch in einigen unserer Gefängnisse unmenschliche Haftbedingungen gibt, die auch, zum Teil erst nach vielen Jahren, ihre Auswirkungen zeigen.In verschiedenen Ländern hingegen wird offener staatlicher Terror gegenüber der politischen Opposition ausgeübt.So wurden z. B. in Südkorea am 18. Mai 1980 mindestens 40 Menschen von Fallschirmjägern der Armee bei einer friedlichen Studentendemonstration in Kwangju umgebracht — erschlagen, erstochen und erschossen. In den darauf folgenden Tagen starben über 1200 Menschen bei als Folge dieses Gemetzels entstandenen Unruhen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4899
HoracekIn der Nacht vom 9. Dezember 1982 haben südafrikanische Streitkräfte in Lesotho einen Überfall auf Häuser verübt, in denen die Mitglieder des Afrikanischen Nationalkongresses vermuteten. Es wurden 42 Menschen getötet, darunter mindestens zehn Bürger Lesothos, darunter eine Frau und fünf Kinder.Im Iran gab es Folter, Verfolgung, Ermordung und Hinrichtungen unter der Herrschaft von Schah Reza Pahlewi; unter der Herrschaft von Ajatollah Khomeini geht das Morden weiter. Offiziell liegt die Zahl der Hinrichtungen bei 4 500. Die Anzahl der Ermordeten ist jedoch weit höher. Neben politisch motivierten Morden sind auch Liquidierungen aus politisch-religiösen Gründen von Anhängern der Bahai-Glaubensgemeinschaft bekanntgeworden.Nach einem Militärputsch und der Regierungsübernahme durch die Demokratische Volkspartei in Afghanistan 1978 „verschwanden" Tausende von Menschen. Inzwischen wurde amnesty international von Regierungsbeamten in Kabul mitgeteilt, daß es eine Liste von 4 500 Umgebrachten gibt; aber das ist schon lange her. Dies passierte infolge einer Entwicklung, in der im Oktober 1979 Präsident Taraki vom späteren Präsidenten Amin gestürzt wurde, der wiederum am 27. Dezember 1979 vom jetzigen Präsidenten Babrak Karmal gestürzt wurde. Dieser letzte Wechsel fand mit kräftiger Hilfe der Sowjetunion statt, die Weihnachten 1979 in Afghanistan einmarschierte und seitdem an der Seite der Regierungstruppen einen Krieg gegen die afghanischen Widerstandskämpfer und Oppositionellen führt, der unzählige Tote, Verwundete und Flüchtlinge fordert. Auch dies ist eine Variante politischen Mordes durch eine Regierung.In Indonesien wurden unter General Suharto im Laufe eines einzigen Jahres 1965/66 an die 500 000 Menschen umgebracht.In Kamputschea wurden unter der Herrschaft der Roten Khmer von 1975 bis 1979 über 300 000 Menschen umgebracht.In Uganda wurden während der Regierungszeit von Idi Amin von 1971 bis 1979 nach offiziellen Angaben mindestens 100 000 Menschen umgebracht. Nach inoffiziellen Berichten verschiedener Organisationen ist die Zahl viel höher.Viele dieser Massenmorde wurden jeweils erst später nach dem Sturz der jeweiligen Regierung bekannt.In Chile nach Pinochets Putsch 1973 wurden Tausende von Chilenen umgebracht, nach Schnellgerichtsverfahren hingerichtet, alles unter Mithilfe des US-amerikanischen Regierungsapparates bzw. der CIA. Dies wurde sofort weltweit bekannt.Dagegen leugnete die argentinische Militärregierung jahrelang, daß in Argentinien Menschen „verschwinden", d. h. umgebracht werden. Am Tag unseres Einzugs in den Deutschen Bundestag am 29. März 1983 begleiteten uns Menschen aus den verschiedensten Bürgerinitiativen hier, aber auch Menschenrechtler aus Ost und West. Darunter war auch die Vizepräsidentin der Mütter von der Plaza del Mayo, Frau Maria Adela Gard. Uns war dadurchschon lange vorher bekannt, daß es in Argentinien sogenanntes „Verschwinden" gibt, das Umbringen von Menschen. Das ganze Ausmaß dieser Morde kommt allerdings erst jetzt voll ans Tageslicht. Wir haben die Menschenrechtsbewegungen in Südamerika unterstützt und werden es weiterhin tun. Wir unterstützen deshalb auch die Anträge politisch Verfolgter auf Asyl in der Bundesrepublik und müssen unsere Regierung kritisieren, die dieses Asyl verweigert oder nur unter menschenunwürdigen Bedingungen gewährt. Ich schließe mich natürlich dem Appell von Freimut Duve an unsere ausländischen Vertretungen an: Dies muß besser gemacht werden.In El Salvador morden die Todesschwadronen, ebenso in Guatemala. Sie werden von Sicherheitskräften der Regierungen unterstützt. Es gibt Zehntausende von Toten. So ist es in vielen südamerikanischen Ländern. Die konkrete materielle und politische Unterstützung bekommen die Todesschwadronen aber nicht nur von den eigenen Herrschenden, die ihre Macht, ihr Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis gegenüber der Bevölkerung erhalten wollen. Sie werden vielmehr durch die offizielle amerikanische Außenpolitik eines Präsidenten Reagan gestützt.
— Ja, wissen Sie, darauf kommen wir noch!Bezeichnend, entlarvend und deutlich wird diese Tatsache durch die Position von Elliot Abrams, dem Unterstaatssekretär gerade für Menschenrechte und humanitäre Angelegenheiten, durch die Position, die dieser vor dem Rat für Auslandsbeziehungen in New York 1982 vertreten hat. Für ihn ist es selbstverständlich — und nicht nur für ihn —, daß die USA menschenrechtsverletzende Regierungen unterstützen, wenn diese nur antikommunistisch und somit antisowjetisch genug sind. Er spricht vom „Bösen", „noch Böseren" und „permanent Bösen", und in diesem Stil finden sich in dem Bericht über Menschenrechte, der 1982 vom State Department herausgegeben wurde, viele Erklärungen und Rechtfertigungen für die unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen in El Salvador und anderswo in Zentral- und Südamerika.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klein ?
Nein, mit geht die Zeit aus.Dies reicht bis hin zur Verminung von Häfen in Nicaragua. Vorsorglich werden Urteile des Internationalen Gerichtshofes in den nächsten Jahren nicht anerkannt. Da stellt sich natürlich die Frage, wie weit es uns hilft, daß wir Institutionen haben, die verschiedene Dinge klären sollen, wenn sie — wie z. B. jetzt von Amerika — nicht anerkannt werden. Das ist dann die wahre amerikanische Politik der Menschenrechte!
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4900 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
HoracekWir finden den Antrag der SPD zur staatlichen Sanktionierung von Morden in der Tendenz richtig. Uns fehlt jedoch eine wichtige Konsequenz aus all diesen Erkenntnissen. Wie wir inzwischen durch unsere Anfragen und auch aus früheren Antworten der Regierung Schmidt erfahren haben, leistete und leistet die Bundesrepublik Polizeihilfe und militärische Ausbildungs- und Aufrüstungshilfe für viele dieser schon genannten Staaten und ist auch sehr aktiv auf dem Gebiet des Rüstungsexports. Das beginnt bei Ländern wie Südkorea, für die Offiziere der Armee oder Polizeikräfte ausgebildet werden, und geht bis zur Lieferung von Schnellfeuergewehren der Firma Heckler & Koch an 40 Länder der Erde, von Chile und Bolivien über die Türkei bis zum Iran.Deshalb sind wir der Meinung: Wenn wir über die Opfer von Folterungen, Hinrichtungen und Morden sprechen, müssen wir auch über die schändliche und in letzter Konsequenz genauso verbrecherische Mitbeteiligung der Bundesrepublik reden. Deshalb fordern wir die Einstellung jeglicher Polizei- und Militär-, Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe für Drittstaaten und selbstverständlich auch den Stopp des Rüstungsexports.Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei, über dessen Inhalt es ja eine erfreuliche Übereinstimmung zwischen allen Fraktionen gibt, auch — das möchte ich gleich unterstreichen — mit der Fraktion der Freien Demokratischen Partei, gibt uns allen Gelegenheit, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das anhaltende Morden und Foltern und auf die immer schlimmer und grausamer werdenden Menschenrechtsverletzungen zu lenken.Meine Damen und Herren, ich glaube, wir alle müssen dazu beitragen, daß wir mit allen eigenen Kräften der großen Gefahr widerstehen, daß der angesichts dieser Grausamkeiten dem Menschen naheliegende Abstumpfungsprozeß eintritt.
Wir müssen das auch und vor allem deshalb, weil wir uns des großen, unermeßlichen Geschenks des Rechtsstaates und der Freiheit dadurch bewußt werden können, daß wir als Deutsche unserer Verantwortung gerade in der Frage der Menschenrechtsverletzungen in ganz besonderer Weise Rechnung tragen.
Was können wir also gemeinsam tun? Ich wollte ursprünglich auch noch etwas aus dem grausamen Taschenbuch vorlesen, das „amnesty international" herausgegeben hat. Ich erspare mir das und gehestatt dessen gleich auf die konkreten Vorschläge ein, die seitens der SPD vorgebracht worden sind.Der erste Vorschlag der SPD zielt auf die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte, d. h. im Zusammenhang mit dem Pakt über bürgerliche und politische Freiheiten auf die Einführung einer Individualbeschwerde. Nun hat sich Bundesaußenminister Genscher vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen seit 1976 wiederholt für die Einrichtung eines solchen Internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte ausgeprochen, und zwar aus dem Grunde, weil die bisherigen Institutionen und Verfahren zum Schutz der Rechte des einzelnen, des Individuums, des geschundenen Individuums unzureichend sind.Ich weiß aus meiner früheren Tätigkeit, daß es Herrn Genscher dabei vor allem darum ging, den Grundgedanken der Errichtung dieses Menschenrechtsgerichtshofs als eine langfristige Aufgabe der Vereinten Nationen herauszustellen. Ich bin mit der Kollegin Geiger auch der Meinung, daß eine Verwirklichung dieses anzustrebenden Gerichtshofs in naher Zukunft fast ausgeschlossen zu sein scheint, schon deshalb, weil die osteuropäischen Mitgliedstaaten eine solche Einrichtung aus grundsätzlichen staatsrechtlichen Überlegungen niemals mittrügen. Deshalb hat Herr Genscher in den letzten Jahren auch keine weiteren Initiativen ergriffen. Wir hoffen, daß das nur ein vorläufiger Zustand ist; denn wir sind der Meinung, daß das Fernziel, das wir gemeinsam anstreben sollten, ein solcher Menschenrechtsgerichtshof sein muß, und zwar nach dem Vorbild des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.Dann kommen wir zum zweiten Vorschlag, das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu ratifizieren. Zum Verständnis derjenigen Kollegen, die nicht immer mit diesen Dingen zu tun haben, ist es vielleicht ganz gut, einmal kurz zu erläutern, worum es sich dabei eigentlich handelt; denn es wird immer vorausgesetzt, daß jeder weiß, was dieses Fakultativprotokoll vorsieht. Es sieht nicht vor, daß rechtliche Entscheidungen getroffen werden, sondern es sieht vor, daß man bei Verletzung der Menschenrechte eine schriftliche Mitteilung zur Prüfung einreichen kann. Diese Mitteilung wird dem betroffenen Vertragsstaat zur Stellungnahme zugeleitet. Das Ziel dieses Verfahrens ist keine Rechtsentscheidung, sondern das Ziel soll — ich zitiere — ein gütlicher Ausgleich sein.Es handelt sich also um ein Minimalprotokoll, wenn man so sagen darf;
alles andere als befriedigend. In dem Menschenrechtsausschuß in Genf arbeiten ja 18 unabhängige Experten. Jeder kann sich davon überzeugen, daß sie sehr gut arbeiten, soweit es ihnen eben möglich ist. Diese Arbeit sollte hier einmal voll gewürdigt werden. Sie ist zu unterstützen.31 Staaten haben das Fakultativprotokoll bereits I ratifiziert. Ich bitte, diese Tatsache der Bundesre-
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Frau Dr. Hamm-Brüchergierung doch auch einmal nachdrücklich vor Augen zu führen. Unter diesen Staaten befinden sich auch westeuropäische Länder. Zuletzt haben Frankreich, Portugal, Italien, Luxemburg und die Niederlande das Protokoll ratifiziert. Diese Länder haben dabei, soweit sie Mitglieder der Europäischen Menschenrechtskonvention sind, ihre Vorbehalte erklärt. Danach geht das europäische Menschenrechtsverfahren der Individualbeschwerde vor. Es ist j a auch viel konkreter, und man kann in dem Verfahren auch eher sein Recht erhalten. Deshalb ist die Fraktion der Freien Demokratischen Partei der Meinung, daß in der Tat nun beschleunigt dieses Ratifizierungsverfahren eingeleitet werden soll. Vielleicht kommen wir nach den Beratungen in den Ausschüssen sogar zu dem Ergebnis, daß wir gemeinsam der Bundesregierung jetzt eine Frist setzten sollen:
denn natürlich muß das Justizministerium, muß der Minister seine Bedenken vortragen. Sie müssen abgewogen werden, sie müssen gewürdigt werden. Aber am Schluß haben wir eine Entscheidung zu treffen. Hier werden die menschenrechtspolitischen Aspekte eine entscheidende Rolle zu spielen haben.Ich möchte einige Gründe sagen, weshalb die FDP am Ende diesen Gründen den Vorrang vor möglichen Bedenken geben wird.Wir treten — das sagte ich schon — für die Fortentwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes innerhalb des Systems der Vereinten Nationen ein. Das ist ganz entscheidend wichtig.Nun haben wir uns bereits für die Schaffung eines Internationalen Menschenrechtsgerichtshofs ausgesprochen. Wir sind also schon einen wesentlichen Schritt weitergegangen. Es wäre völlig unglaubwürdig, meine lieben Kollegen, wenn wir das andere forderten und das Fakultativprotokoll nicht einmal ratifizierten.
Ich glaube, daß das Schlichtweg gar nicht durchzuhalten ist.Außerdem, meine Damen und Herren, könnten wir damit ja ein Signal geben, das sich auch auf die Dritte Welt positiv auswirken würde, ein solches Fakultativprotokoll zu unterzeichnen. Es würde uns, der Bundesrepublik Deutschland, sicher menschenrechtspolitisches Prestige einbringen.Ein weiterer Grund, der für die Ratifizierung spricht, ist folgender. Der Außenminister hat bei den Vereinten Nationen verschiedene Initiativen zur Abschaffung der Todesstrafe ergriffen, die wir in Form eines zweiten Fakultativprotokolls zum Zivilpakt konzipiert haben. Auch hier muß ich sagen: Wir wollen ein zweites fakultatives Protokoll einbringen und haben das erste nach so vielen Jahren noch nicht einmal unterzeichnet! Wir plädieren dafür, daß dieses nun zu geschehen hat, nachdem alle Bedenken geprüft sind.
Nach so vielen Jahren muß entschieden werden.Lieber Herr Kollege Duve, ich erinnere mich an Kabinettssitzungen und den Schriftwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesjustizminister. Es war in der Tat wirklich so, ob der Justizminister Vogel oder Schmude hieß: Die Bremser saßen leider im Justizministerium.
— Das können wir jetzt beschleunigen. Ich denke, daß sich der Justizminister am Schluß den übergeordneten Überlegungen, die ich hier vorgetragen habe, anschließen wird.
Zum dritten Punkt erkläre ich meine volle Zustimmung. Herr Kollege Duve, eine meiner ersten unvergeßlichen schmerzlichen Erfahrungen im Auswärtigen Amt war 1977 das Verschwinden von Elisabeth Käsemann. Ich darf Ihnen sagen: So ohnmächtig habe ich mich selten in meinem Leben gefühlt wie bei unseren immer wieder gescheiterten Bemühungen, herauszufinden, wo Elisabeth Käsemann verblieben und wie sie zu Tode gekommen ist.Deshalb stimmen wir mit allen Rednern in der Auffassung überein, daß wir mehr Konkretes tun müssen und daß das Parlament hierzu Impulse geben muß. Darum begrüßen wir diesen Antrag. Wir danken aber auch dem Außenminister, und wir danken auch den Diplomaten, die hier teilweise zu pauschal kritisiert wurden, für ihren großen Einsatz — ich habe es oft erlebt — in Fragen der Menschenrechte. Wir danken den Organisationen und den Medien.Meine Damen und Herren, die Freien Demokraten vertreten mit Ihnen allen die Überzeugung, daß gerade wir Deutschen bei der Durchsetzung, Erhaltung und Stärkung der Menschenrechte so entschieden, so konkret, so zäh und so unermüdlich wie nur irgend möglich handeln müssen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die Initiative der sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag zum Thema „Kampf gegen staatlich sanktionierten Mord". Die weltweite Verwirklichung und Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 sowie in den beiden internationalen Menschenrechtspakten von 1966 niedergelegt sind, gehören zu dem auf unserer Verfassungsordnung beruhenden Auftrag jeder Bundesregierung.Zum Kernbestand dieser Rechte zählt das Recht auf Leben, das in Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Art. 6 des Internationa-
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4902 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Staatsminister Möllemannlen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verankert ist. Für dieses Recht wie für andere Menschenrechte gilt leider, daß zwischen den bemerkenswerten Fortschritten bei der Kodifizierung der Menschenrechte und ihrer praktischen Verwirklichung eine große Lücke klafft. Selbst das elementare Recht auf Leben wird in vielen Ländern mißachtet. Ich kann nicht beobachten, daß die Zahl dieser Länder abnähme.Es erfüllt uns alle mit tiefer Sorge, daß die Verletzungen des Rechts auf Leben eher zunehmen als abnehmen und daß sich selbst staatliche Organe dieses schwersten Verstoßes gegen die Menschenrechte schuldig machen. So hat der von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eingesetzte Sonderberichterstatter 1983 in seinem Bericht an die Kommission festgestellt, daß in mehr als 40 Ländern willkürliche Hinrichtungen und Hinrichtungen im Schnellverfahren stattfinden.Andere Beispiele, auf die in dem vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion mit Recht hingewiesen wird, sind die zahlreichen Fälle des Verschwindens von Personen, Todesfälle als Folge von Folter, das Vorgehen militärischer und paramilitärischer Einheiten gegen die Zivilbevölkerung in manchen Ländern und die Morde der sogenannten Todesschwadronen. Daß hier teilweise Terror mit Gegenterror beantwortet wird, kann diese Gewaltakte in keiner Weise rechtfertigen.Es ist jedoch ein ermutigendes Zeichen, daß sich die Weltöffentlichkeit und jedenfalls Teile der Staatengemeinschaft in zunehmendem Maße mit diesen Gewalttaten beschäftigen und daß das Gefühl weltweiter Verantwortung und Solidarität gegenüber solchen Verbrechen wächst.Die Bundesregierung teilt die im vorliegenden Antrag vertretene Auffassung, daß diese Entwicklung zu einem großen Teil der Informationstätigkeit der Medien sowie der Arbeit all derjenigen zu verdanken ist, die sich allein oder in den zahlreichen Menschenrechtsorganisationen für den Schutz der Menschenrechte einsetzen. Ich möchte mich dem Dank meiner Kollegen, insbesondere auch an „amnesty international" und seinen Generalsekretär, für die geleistete Arbeit anschließen.
Aber auch die Tätigkeit der internationalen und regionalen Menschenrechtsgremien, die sich der Durchsetzung der auf beiden Ebenen geschaffenen Menschenrechtsinstrumente widmen, hat zu dieser Entwicklung in beachtlichem Maße beigetragen. In diesem Zusammenhang sollte nicht übersehen werden, daß auch Bundestag und Bundesregierung ebenso wie das Europäische Parlament und die Parlamentarische Versammlung des Europarates seit langem bemüht sind, die weltweite Achtung des Rechts auf Leben zu fördern.So unterstützt die Bundesregierung alle Initiativen, die geeignet erscheinen, den weltweiten Schutz des Rechts auf Leben zu verbessern. Dazu gehört die Initiative der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zur Eindämmung der willkürlichen Hinrichtungen und der Hinrichtungen im Schnellverfahren. Sie wurde bereits erwähnt.Die Bundesregierung wendet sich in den internationalen Menschenrechtsgremien gegen die Mißachtung des Rechts auf Leben in zahlreichen Ländern. Ihre Initiative zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe hat zum Ziel, den Schutz des menschlichen Lebens in der Staatengemeinschaft zu verstärken. Es hat keinen Zweck, darüber hinwegzureden: Diese Initiative ist schwer zur Geltung zu bringen. Staaten verschiedenster Gesellschaftsordnung, auch demokratisch orientierte Staaten, reklamieren positive Begründungen für die Todesstrafe. Ich meine, ein Staat, der anderen — seinen Bürgern — das Töten verbietet, macht sich selbst unglaubwürdig, wenn er für sich selbst das Recht zur Tötung von menschlichem Leben reklamiert.
Auch die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die vorhandenen Menschenrechtskodifikationen ohne praktische Maßnahmen und Sanktionen der Staatengemeinschaft ihre Wirkung weitgehend verfehlen.
— Er vertritt die Position der Bundesregierung zur Abschaffung der Todesstrafe.Die Bundesregierung setzt sich deshalb für den Ausbau der Institutionen und Verfahren zum Schutz der Menschenrechte ein. Einige Fortschritte sind dabei erzielt worden. Der Europarat hat ein vorbildliches Verfahren zum Schutz der Menschenrechte entwickelt. Für den Bereich der Vereinten Nationen verweise ich auf die Menschenrechtskommission und den Menschenrechtsausschuß nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Beide Gremien, in denen die Bundesrepublik Deutschland vertreten bzw. ein deutscher Experte Mitglied ist, sind für Verfahren zum Schutz individueller Menschenrechte einschließlich des Rechts auf Leben zuständig.In der Menschenrechtskommission, meine Kolleginnen und Kollegen, die aus Regierungsvertretern besteht, gibt es das sogenannte vertrauliche Verfahren. Wenn Eingaben an das Menschenrechtszentrum in Genf ein Gesamtbild von fortgesetzten schweren und zuverlässig bezeugten Menschenrechtsverletzungen erkennen lassen, kann die Menschenrechtskommission mit der Lage in dem betreffenden Land befaßt werden. Der aus unabhängigen Experten zusammengesetzte Ausschuß für Menschenrechte wirkt durch die Prüfung von Staatenberichten und von Individualbeschwerden nach dem Fakultativprotokoll zum vorgenannten Pakt an der Verwirklichung der Menschenrechte mit. Leider steht am Ende beider Verfahren keine rechtsverbindliche Entscheidung wie nach der europäischen Menschenrechtskonvention. Dennoch hat der moralisch-politische Druck, der von den Entschließungen und Entscheidungen dieser Gremien ausgeht, doch manche positiven Wirkungen erzielt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4903
Staatsminister MöllemannDie im vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion enthaltene Feststellung, daß insbesondere den Staaten, die den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen beigetreten sind, eine besondere Verpflichtung zukommt, stößt auf Bedenken, jedenfalls dann, wenn man aus ihr ableiten sollte, daß die übrigen Staaten das Recht hätten, sich gegenüber den Menschenrechten und deren Anwendung gleichgültig zu verhalten. Ich glaube, auch darüber gibt es hier ja keinen Dissens.Der Bundesminister des Auswärtigen hat sich seit 1976 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen für die im Antrag der SPD-Fraktion geforderte Gründung eines Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte als Kontrollinstanz mit weltweiter Zuständigkeit ausgesprochen. Freilich hat sich gezeigt, daß es sich bei der Verwirklichung dieses Ziels nur um eine langfristige Aufgabe handeln kann. Frau Kollegin Hamm-Brücher hat das bereits angesprochen. Nicht nur im öffentlichen Lager — das wäre ein Trugschluß —, sondern auch bei ungebundenen Staaten der Dritten Welt stoßen menschenrechtliche Initiativen zur Schaffung von Überwachungsmechanismen auf starken Widerstand, der häufig auf deren extensivem Souveränitätsverständis beruht.Kurzfristig angelegte Aktionen der Bundesregierung versprechen daher bedauerlicherweise bei dieser Sachlage keinen Erfolg. Statt dessen muß zunächst eine Basis geschaffen werden, auf der bei der Weiterverfolgung dieses Ziels aufgebaut werden könnte. Eine solche Basis könnte unseres Erachtens die Schaffung des Amts eines UN-Hochkommissars für die Menschenrechte sein, um die wir uns bemühen. Wenn man sich anschaut, wie etwa der UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen wirkungsvoll tätig sein kann, könnte — —
— Selbstverständlich. Sie wissen, daß die Bundesregierung mit ihm intensiv zusammenarbeitet, damit er seine Aufgabe erfüllen kann.Die Schaffung eines UN-Hochkommissars für Menschenrechte, um die wir uns bemühen, könnte einen Beitrag dazu leisten.Auch dieses Vorhaben kollidiert allerdings mit dem extensiven Souveränitätsverständnis vieler Länder, erneut nicht nur aus einer bestimmten politischen oder geographischen Region. Daher konnte es bei der diesjährigen 40. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen trotz beträchtlicher Anstrengungen nicht wesentlich vorangebracht werden. Die westlichen Länder werden in den kommenden Monaten über das weitere Vorgehen zu beraten haben.Hinsichtlich der Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte besteht das Problem — das hat die frühere Regierung davon abgehalten, das Ratifizierungsverfahren einzuleiten; das soll aber kein Argument sein; nicht alles, was die frühere Regierung gemacht hat, ist schon deswegen vernünftig; aber es ist auch nicht deswegen falsch,weil sie es gemacht hat —, daß sich dieses Beschwerdeverfahren mit der Individualbeschwerde nach der Europäischen Menschenrechtskonvention überschneiden kann. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich der europäischen Individualbeschwerde schon 1955 unterworfen. Eine Reihe westeuropäischer Länder, nämlich die nordischen Staaten, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Portugal, sind dem Fakultativprotokoll inzwischen beigetreten. Alle diese Länder, mit Ausnahme der Niederlande und Portugals, haben Vorbehalte zur Vermeidung solcher Überlagerungen beider Verfahren erklärt. Die frühere Regierung hat das Ratifizierungsverfahren nicht eingeleitet, weil sie die Erfahrungen dieser Länder abwarten wollte und den vorhandenen Menschenrechtsschutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht nur als ausreichend, sondern als stärker ausgestaltet angesehen hat als den Schutz nach dem Fakultativprotokoll zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte.So kann die europäische Individualbeschwerde in eine den Vertragsstaat bindende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs münden. Im anderen Fall geht das eben nicht. Ich denke, wir müssen uns vor einem hüten. Ich habe aus all den Reden gemerkt — wahrscheinlich ist dieser Eindruck draußen morgen bei der Berichterstattung noch viel stärker —: Alle sind sich einig, aber irgendwie ratlos, wie man das, was man gemeinsam will, hinbekommen kann. Ich glaube, eine solche Ratlosigkeit oder Frustration ist noch schlimmer, wenn man mit bestimmten Institutionen Erwartungen verbindet, sie schafft, und hinterher passiert nichts, jedenfalls nichts grundsätzlich Neues. Dieses Bedenken ist bisher vorgebracht worden.Es wird jetzt zu prüfen sein — da der Antrag hier im Hause von allen Fraktionen offenkundig positiv aufgenommen worden ist —, ob die Bundesregierung ihre abwartende Haltung ändern sollte, wenngleich infolge der geringen Zahl von Beschwerden gegen westeuropäische Länder das vorliegende Erfahrungsmaterial noch spärlich ist. Aber ich glaube, ein wirklich gravierender Punkt der Auseinandersetzung kann das nicht werden.Hinsichtlich der vorgeschlagenen Aufforderung an die Bundesregierung, zur Aufklärung von Fällen des staatlich sanktionierten Mordes nach Kräften beizutragen, kann ich Ihnen, meine Damen und Herren, versichern, daß die Bundesregierung auf Grund ihres Menschenrechtsverständnisses und ihrer von allen Parteien dieses Hauses geteilten Auffassung von der Notwendigkeit einer aktiven Menschenrechtspolitik die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt und weiterhin nutzen wird, um bei der Aufklärung solcher Verbrechen zu helfen.Abschließend lassen Sie mich darauf hinweisen, daß ein wirksamer Menschenrechtsschutz in jedem Land einer rechtsstaatlichen Infrastruktur, insbesondere einer handlungsfähigen Justiz auf demokratischer Grundlage bedarf. Es ist deshalb wichtig,
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4904 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Staatsminister MöllemannLänder zu beraten, die der Hilfe beim Aufbau einer solchen Infrastruktur bedürfen.
— Herr Kollege Fischer, ich würde dieses Anliegen nicht an Begriffe wie soziale Gerechtigkeit binden. Wenn wir anfangen, rechtsstaatliche und erst Menschenrechtsprinzipien, die kodifiziert sind, an vergleichsweise interpretationsfähige Begriffe wie soziale Gerechtigkeit zu binden, öffnen wir dem Mißbrauch dieser Rechte Tür und Tor.
Ein Ausbau dieser sogenannten beratenden Dienste war Gegenstand einer Initiative der Bundesregierung bei der letzten Tagung der Menschenrechtskommission.Die Bundesregierung würde es begrüßen, wenn der vorliegende Antrag zur weiteren Beratung an die zuständigen Ausschüsse überwiesen würde und wir dort die noch offenen Fragen gemeinschaftlich klären könnten.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/978 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
— Drucksache 10/1389 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. Sie sind damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stockhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir behandeln heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf, mit dem die Zusagen in Gesetzesform gegossen werden, die der deutschen Landwirtschaft im Zusammenhang mit denBrüsseler Agrarbeschlüssen von Ende März dieses Jahres gegeben worden sind. Ich will kurz in Erinnerung rufen: Nach langem Ringen hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft beschlossen, die Währungsausgleichsbeträge für landwirtschaftliche Erzeugnisse stufenweise herabzusetzen. Technisch geschieht dies durch eine Änderung des Umrechnungskurses von Mark in ECU ab 1. Januar 1985. Die Brüsseler Agrarbeschlüsse haben die monatelange ernste Krise der Gemeinschaft in einem wichtigen Punkt beendet. Sie haben damit den Weg für eine Lösung der anstehenden weiteren Probleme mit zu ebnen geholfen. Sie haben mit dazu beigetragen, den Europagedanken wachzuhalten und den Eindruck zu vermeiden, als sei die Gemeinschaft unfähig, sich zu einvernehmlichen Maßnahmen durchzuringen und ihre Probleme zu lösen.Vor diesem Hintergrund muß man auch aus der Sicht der Landwirtschaft den Umstand bewerten, daß auf EG-Ebene — ich betone: auf EG-Ebene — auch der deutschen Landwirtschaft Einkommenseinbußen zugemutet werden mußten. Die Bundesregierung hat jedoch durch zähe Verhandlungsführung in Brüssel erreicht, daß die den deutschen Landwirten auf EG-Ebene auferlegten Belastungen durch nationale Maßnahmen ausgeglichen werden dürfen. Das, meine Damen und Heren, ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein Erfolg, der uns Anlaß gibt, der deutschen Delegation und ganz besonders dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Ignaz Kiechle, für den Einsatz zu danken.
In diesen Dank möchte ich auch den Bundesfinanzminister Dr. Gerhard Stoltenberg einbeziehen, der es geschafft hat,
— Sie kommen gleich dran, warten Sie es ab — die für die innerstaatlichen Maßnahmen notwendigen Mittel bereitzustellen, obwohl er einen völlig zerrütteten Bundeshaushalt übernommen hat und obwohl mit der Tarifkorrektur bei der Einkommensteuer und der Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung der Familien mit Kindern noch große, Milliarden verschlingende Ausgaben im steuerlichen Bereich zu lösen sind.Hervorheben möchte ich auch, daß es diesmal gelungen ist, den deutschen Landwirten von vornherein die Gewißheit zu verschaffen, daß die Brüsseler Beschlüsse nicht allein auf ihrem Rücken ausgetragen werden, sondern daß für Opfer, die auf dem Altar der EG gebracht werden müssen, die Allgemeinheit, die Gesamtheit der Steuerzahler und nicht nur eine bestimmte Berufsgruppe einzustehen hat. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die im Zusammenhang mit dem Abbau des Währungsausgleichs zu erwartenden Einkommenseinbußen ausgeglichen werden. Die Anhebung der Vorsteuerpauschale für Landwirte hat nichts, aber auch gar nichts mit Subventionen zu tun. Ich möchte alle
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4905
StockhausenKolleginnen und Kollegen bitten, das auch draußen deutlich zu machen.
Hier wird, meine Damen und Herren, ein selbstverständlicher Ausgleich für eine Bevölkerungsgruppe vorgenommen, die von den Brüsseler Entscheidungen unmittelbar betroffen ist. Wir lösen heute einen Teil des Versprechens ein, das Bundeskanzler Kohl vor wenigen Wochen hier an dieser Stelle gegeben hat:Die Bauern können sich darauf verlassen, daß wir nicht zulassen, daß sie als Prügelknaben für die verfehlte Politik früherer Jahre herhalten müssen.
— Sie lachen gleich nicht mehr.
— Abwarten, abwarten! — Bundesminister Kiechle hatte bei den Brüsseler Verhandlungen einen außerordentlich schwierigen Stand. Die europäischen Probleme — nicht nur im landwirtschaftlichen Bereich — hatten ein Ausmaß angenommen, das schnelle Entscheidungen unumgänglich machte.Auch was den Umfang des Ausgleichs betrifft, besteht Grund, sowohl dem Ernährungsminister als auch dem Finanzminister Anerkennung zu zollen. Die Vorsteuerpauschale wird nicht erst ab 1. Januar 1985 erhöht, sondern bereits am 1. September 1984. Und jetzt hören Sie zu: Es ist wie eine kalte Dusche, wenn man heute, am 3. Mai im „Vereinigten Wirtschaftsdienst — Landwirtschaft und Ernährung" lesen muß, daß sich der SPD-Europaabgeordnete Fritz Gautier schärfstens gegen die Vorziehung der Erhöhung der Vorsteuerpauschale auf den 1. September ausspricht mit dem Argument, das sei eine Wettbewerbsverzerrung. Meine Damen und Herren von der SPD, ich weiß nicht, wie lange Sie diese Doppelstrategie durchhalten wollen. Sagen Sie bitte den Landwirten, was Sie ehrlich meinen. Jetzt können Sie lachen.
Meine Damen und Herren, durch diese Vorziehung wird zum einen dem Umstand Rechnung getragen, daß der Abbau des Währungsausgleichs bereits 1984 Vorwirkungen auf die Erzeugerpreise haben wird. Zum anderen ist das frühere Inkrafttreten der höheren Vorsteuerpauschale eine nicht zu unterschätzende Hilfe, um die Einkommenseinbußen verkraften zu können, die im laufenden Wirtschaftsj ahr durch schlechte Ernten und niedrige Preise in wichtigen Bereichen, insbesondere der tierischen Produktion, eintreten können. Diese Einkommenseinbußen gegenüber dem Vorjahr, unabhängig von den Brüsseler Beschlüssen, werden in einer Größenordnung von mehr als 20% geschätzt. Wir hätten uns deshalb gewünscht, daß das Inkrafttreten der Neuregelung um weitere zwei Monate vorgezogen worden wäre. Wir haben aber noch die Hoffnung, daß es im Verlauf der Beratungen möglich sein wird, den 1. Juli, den Beginn des Wirtschaftsjahres der Landwirtschaft, zu wählen. Solltedas nicht möglich sein, bitten wir das Finanzministerium, dafür Sorge zu tragen, daß es durch Richtlinien ermöglicht wird, die neue Ernte problemlos aufzufangen, damit hier keine Einbußen für die Landwirte entstehen.
Durch die Gesetzesformulierung wird sichergestellt, daß die erhöhte Pauschale nicht auf die einzelnen Erzeugnisse, sondern auf die landwirtschaftlichen Erzeuger bezogen ist. Dadurch werden die gewerblichen Erzeugerfabriken, die weder im Interesse der Verbraucher noch des Umweltschutzes liegen und die auch keinen Anteil an der Leistung der Landwirtschaft im Bereich der Landschaftspflege haben, ausgeschlossen.
Auch dies ist ein Punkt, meinen Damen und Herren, der von den Landwirten nicht übersehen werden sollte.
Für die vorgesehene Regelung müssen im Haushaltsjahr 1985 insgesamt etwa 1,6 Milliarden DM aufgewendet werden. Der Betrag weist für die Folgejahre eine steigende Tendenz auf. Allein die Vorverlegung vom 1. Januar 1985 auf den 1. September 1984 beansprucht 600 Millionen DM zusätzlich.
Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß die Vorsteuerpauschale nicht die einzige Maßnahme ist, die im nationalen Bereich getroffen wird und die aus der Bundeskasse finanziert wird. Daneben wird die volle Übernahme der alten Last bei der Unfallversicherung ab 1985 sichergestellt. Sie, meine Damen und Herren, hatten in der mittelfristigen Finanzplanung ein Auslaufen der Beiträge zu dieser alten Last vorgesehen.Auch die Milliarde, die der Ankauf von Milchquoten in den nächsten zehn Jahren kosten wird, fällt ins Gewicht: 100 Millionen DM jährlich. Ich bin zuversichtlich, daß diese Maßnahmen eine wesentliche Hilfestellung für die deutschen Landwirte sein werden, um die Belastungen zu verkraften, die auf sie zukommen.Durch die Bereitschaft, diese Mittel trotz des nach wie vor bestehenden Sparzwangs im Haushalt bereitzustellen, hat die Bundesregierung bewiesen, daß sie das Vertrauen, das die Landwirte gerade in unsere Partei gesetzt haben, rechtfertigen will.
— Ja, Sie werden so einige bekommen, die Sie wählen, meine liebe Frau Vollmer. Aber ich rate den Wählern, vorher Ihr Parteiprogramm zu lesen. Da können sich sich ein Stück Ihrer Argumente heraussuchen. Ich glaube, dann werden sie sehr schnell wissen, was sie bei Ihnen in Zukunft zu erwarten haben.Wir haben als CDU/CSU-Fraktion großes Verständnis für die Sorgen der deutschen Landwirte,
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Stockhausenvor allen Dingen der jüngeren Generation. Der Weg, der jetzt beschritten werden mußte, wird sich als richtig erweisen,erstens, wenn es gelingt, dieses unselige Wachsen-oder-Weichen-Prinzip des vorigen Jahrzehnts in der Landwirtschaft zu beenden,zweitens, wenn der bäuerliche Familienbetrieb damit für die Zukunft eine Chance erhält, durch am Bedarf orientierte Produktionsmengen in einer vertretbaren Arbeitszeit ein vergleichbares Einkommen zu erarbeiten,drittens, wenn auf Grund dieses Schrittes eine aktive Preispolitik für die Erzeugnisse in Anlehnung an die gestiegenen Kosten in den Betrieben möglich sein wird,viertens, wenn der Weg zum vereinigten Europa den Bürgern der Bundesrepublik eine Chance gibt, auch in Zukunft in Frieden und Freiheit zu leben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ehe ich auf diesen Gesetzentwurf eingehe, möchte ich einige Diskussionsbeiträge zu dem Ergebnis von Brüssel vorlesen. Da heißt es u. a.:In einem dpa-Gespräch bezeichnete er die europaweit getroffene Regelung zur Begrenzung der Milchüberschüsse als einen ungeheuren Vertrauensbruch für die bayerischen Kleinbetriebe, die besonders hart getroffen seien.
Wir sichern den Absatz der Großen. Die Kleinen bestrafen wir ... Unsere norddeutschen Vertreter haben natürlich in erster Linie ein Interesse daran, daß die Großen nicht zu kurz kommen.Wer das gesagt hat? Das war der bayerische Landwirtschaftsminister Eisenmann.
Ich will Ihnen dazu noch vorlesen, was der Präsident des Deutschen Bauernverbands gesagt hat:Die Abschaffung des sogenannten Grenzausgleichs, den die Bauern bisher wegen unterschiedlicher Inflationsraten der EG-Währungen erhielten, komme einer Kriegserklärung an die deutsche Landwirtschaft gleich.So Herr Heereman.Dies nur, Herr Kollege Stockhausen, weil Sie dieses Ergebnis so begrüßt und Herrn Kiechle so herzlich für seinen Einsatz gedankt haben. Es wäre dann doch vertretbar, wenn die deutsche Landwirtschaft das auch so sähe.
Nun, Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierung und den Koalitionsparteien, haben uns den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes vorgelegt. Sie haben es sehr eilig.
Und das ist verständlich. Denn Sie müssen den Landwirten draußen eine Beruhigungspille verpassen. Proteste und die Kritik der Bauern gehen Ihnen unter die Haut.
Überstürztes Handeln aber führt selten zu einem guten Ergebnis. Wir werden den Gesetzentwurf noch eingehend prüfen. Deswegen will ich mich heute zu Einzelheiten gar nicht äußern.Aber einige Anmerkungen möchte ich Ihnen doch zumuten. Der Preissenkungsausgleich über die Umsatzsteuer in Höhe von 3% soll jetzt also schon am 1. September in Kraft gesetzt werden. Aber gerade dieses Vorziehen zeigt, wie konzeptionslos Sie, Herr Minister Kiechle, in Brüssel verhandelt haben; denn dort wurde einstimmig, auch mit Ihrer Stimme, vom Rat — übrigens erst vor vier Wochen — der 1. Januar 1985 beschlossen. Haben Sie sich, Herr Minister Kiechle, in Brüssel für das frühere Inkrafttreten abgesichert? Ist Ihnen bewußt, daß Sie einen Verstoß gegen höherrangiges EG-Recht riskieren?
Aus Brüssel hört man inzwischen, daß der vorgezogene Mehrwertsteuerausgleich von den EG-Partnern und der Kommission wohl nicht problemlos hingenommen werden würde.
— Lassen Sie mich doch einiges sagen, Herr Kollege Eigen. Die Meinung des Bauernverbandes kennen wir doch inzwischen. Sie sind doch Präsident, und wir wissen, wie Sie das alles einschätzen.Aber deswegen möchte ich aus „VWD" vom 3. Mai zitieren. Da heißt es:Brüssel — Die Absicht der Bundesregierung, den deutschen Landwirten schon vom 1. September an drei Prozent Vorsteuerpauschale zu gönnen, ist in Brüssel noch nicht notifiziert. Bei der EG-Kommission fragt man sich, was eigentlich die deutsche Absicht dabei ist. Und man will natürlich auch Bonn danach fragen. Ein Brief an den Bundesernährungsminister ist in Arbeit. In informierten Kreisen in Brüssel gibt man sich erstaunt, weil es die Bundesregierung war, die im EG-Ministerrat für den 1. Januar 1985 als Termin plädiert hatte.— Also vor vier Wochen. —
Dieses Datum mitten im Wirtschaftsjahr dermeisten Agrarprodukte hätte die Kommissionselbst nie vorgeschlagen, heißt es. Wenn nun
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Müller
die Bundesregierung argumentiere, daß der Zeitpunkt ungünstig sei, müsse sie auch konsequent sein und die gesamte Prozedur vorziehen. Gegen einen vorgezogenen Abbau des deutschen Währungsausgleichs hätte man in Brüssel nichts einzuwenden.
In diesem Fall könnte nach Brüsseler Auffassung auch die Mehrwertsteuerregelung früher angewandt werden.Ich bin neugierig. Denn was werden Sie tun, wenn sich Brüssel nun querlegt? Ihnen ist doch bewußt, daß auch das Europäische Parlament bei der Anpassung der Mehrwertsteuerrichtlinie gehört werden muß. Und die gehen in einen Wahlkampf und werden wahrscheinlich wohl vor Oktober nicht zusammentreten.Eine ganz interessante Situation, Herr Eigen. Darauf wollte ich hinweisen, weil Sie vorhin so neugierig waren.
Sie begründen den vorgezogenen Mehrwertsteuerausgleich damit, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition und auch Sie, Herr Minister, daß Preissenkungen durch den Grenzausgleichsabbau zum 1. Januar 1985 von der Wirtschaft vorgenommen würden. Eigentlich hätten Sie doch wissen müssen, daß die Ankündigung des Grenzausgleichsabbaus um fünf Prozentpunkte, ein Dreivierteljahr vor Inkrafttreten, die Märkte durcheinander bringt. Sie sind doch jetzt schon durcheinander. Und heute ist uns eine Meldung vom Zentralverband Getreide ins Haus geflattert, in der genau diese Punkte stehen. Was geschieht zwischen September und Dezember, und was geschieht ab Januar? — Ich brauche vor lauter Sachverständigen nicht näher darauf einzugehen.Aber jetzt, Herr Minister, beklagen Sie, daß Preissenkungen herbeigeredet würden. Warum eigentlich? Sie haben sie doch zu verantworten. Die Ankündigung von Preissenkungen in Höhe von 5 % hat auf die Agrarmärkte dieselbe Wirkung wie die Ankündigung einer kommenden Aufwertung. Sie reizen die Spekulation an, und Sie bringen die Märkte durcheinander.Wie Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, es auch drehen und wenden: Der verantwortliche Minister hat in Brüssel miserabel verhandelt.
Die deutsche Landwirtschaft und der deutsche Steuerzahler müssen die Zeche dafür bezahlen.
Auch wir von der SPD halten Hilfsmaßnahmen für die Landwirtschaft für unumgänglich. Das haben wir schon in der Agrardebatte bekräftigt. Bei Einkommenseinbrüchen von 22 % im laufenden Wirtschaftsjahr, bei zu erwartenden Einkommensrückgängen von 10 bis 20% im kommenden Wirtschaftsjahr ist die Existenz vieler landwirtschaftlicher Betriebe gefährdet. Warum aber helfen Sie dann nicht der Landwirtschaft direkt? Warum lassen Sie sich auf das unsichere Spiel eines vorgezogenen Mehrwertsteuerausgleichs ein? Warum wollen Sie mit einem umsatzbezogenen Mehrwertsteuerausgleich auch diejenigen beglücken, die von Preis- und Einkommenswirkungen gar nicht betroffen sind?Sie reden immer davon, daß den kleinen und mittleren Betrieben, daß den Einkommensschwachen geholfen werden sollte. Aber Sie tun genau das Gegenteil. Sie tun nichts, um die riesigen Einkommensunterschiede in der Landwirtschaft abzubauen. Und es ist nun einmal ein Unterschied, ob einer im oberen oder im unteren Viertel ist. Aber genau dieser Weg über die Mehrwertsteuer hilft doch denen im oberen Viertel. Wo, Herr Minister, bleibt eigentlich Ihr Herz des bayerischen Kleinbauern, von dem Sie immer so viel geredet haben?Wir halten den Mehrwertsteuerausgleich für den falschen Weg. Wir sind dafür, daß die deutsche Landwirtschaft für das von Ihnen verursachte indiskutable Verhandlungsergebnis einen Ausgleich bekommt. Aber wir befürworten eine gerechtere Ausgleichsregelung, und gerechter wäre ein Direktausgleich über die Fläche, wie er 1969 gewährt wurde, mit einer sozialen Komponente. Mit einem solchen Ausgleich würde die bodengebundene Agrarproduktion begünstigt, könnten Sie die knappen Haushaltsmittel auch viel gerechter einsetzen. Sie würden kleinen und mittleren Betrieben, die schwere Einkommensprobleme haben, wirksam und direkt helfen.Herr Kollege Stockhausen, Sie haben uns aufgefordert, wir sollten nicht von Subventionen reden. Wir tun das gar nicht. Aber ich will Ihnen vorlesen, was der Präsident des unterfränkischen Bauernverbandes gesagt hat. Er sagt, daß die Steuervergünstigung einen denkbar schlechten Eindruck in der Öffentlichkeit mache. Ich möchte Ihnen auch vorlesen, was der Kreisverband des bayerischen Bauernverbandes Unterallgäu — da kommt doch Herr Kiechle her — dazu sagt. Da heißt es:Die inzwischen vorgesehenen nationalen Ausgleichszahlungen ersetzen den angerichteten Schaden nur teilweise und in einer Form, bei der wir Bauern wieder vor dem ganzen Volke als Subventionsempfänger abgestempelt werden.So ist es, und so denken die Landwirte. Also bitte nicht uns irgend etwas in die Schuhe schieben!
Sie verkünden lauthals, daß der vorgesehene Mehrwertsteuerausgleich den gewerblichen landwirtschaftlichen Betrieben nicht zugute kommt. Sie glauben, damit die weitere Konzentration verhindern zu können. Das stimmt doch einfach nicht.
Denn der umsatzbezogene Mehrwertsteuerausgleich begünstigt doch die großen Betriebe, die um-
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4908 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
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satzstarken Betriebe und nicht die kleinen; die werden benachteiligt.
— Von Obergrenzen, Herr Kollege Eigen, ist in Ihrem Gesetzentwurf keine Rede. Und Sie wissen doch, welche Umsätze große landwirtschaftliche Betriebe haben, was dort 3 % bedeuten und was sie bei einem Umsatz von 100 000 DM bedeuten.
— Augenblick! — Sie, Herr Kollege Kiechle, haben Prüfung der Frage angekündigt, ob nicht für Veredelungsbetriebe, unabhängig von der Fläche, eine absolute Zahl für die Tierbestände festgelegt werden sollte. Das zeigt doch, daß Sie das Problem kennen. Nun frage ich mich: Warum haben Sie das nicht in den Gesetzentwurf hineingeschrieben? Das wäre doch möglich. Warum immer nur Prüfung?
Es kommt noch hinzu: Bei dem von Ihnen vorgesehenen Mehrwertsteuerausgleich müssen auch die Bundesländer mitbezahlen. Das sind ganz schöne Beträge: von 360 Millionen DM 1984 bis 830 Millionen DM 1986. Mit welcher Berechtigung sollen nun die Bundesländer für Ihr Verhandlungsergebnis geradestehen? Das trifft dann auch die Gemeinden. Was Sie hier tun, ist eine Zumutung für die Finanzen der Länder und der Gemeinden.
Der Gesetzentwurf muß jetzt in den Ausschüssen im Eilverfahren geprüft und beraten werden. Wir werden uns nicht verweigern. Die von Ihnen zu verantwortende und in Brüssel mitverursachte schwierige Einkommenslage der deutschen Landwirte machen schnelle Maßnahmen notwendig, aber was uns hier die Regierung und die Koalitionsparteien zumuten, das ist schon ein starkes Stück.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Paintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bedingt durch die Notwendigkeit einer Agrarreform in Europa — und dies, meine ich, ist die Grundlage —, müssen wir uns heute unterhalten. Ich kann mich entsinnen, daß alle Fraktionen des Deutschen Bundestages einschließlich der Fraktion der SPD und unseres sehr verehrten Herrn Rudi Müller auch für diese Ein-ProzentMehrwertsteuer-Regelung gestimmt haben. Mit Ausnahme einiger FDP-Mitglieder, meiner Wenigkeit, Herrn Holsteg und Herrn Gallus. Nun meine ich, auf Grund dieser Situation sind in unserem Lande heute Unruhen und Demonstrationen der Bauern, die Ausdruck ernster Sorgen um die Zukunft der Betroffenen sind. Sie fragen sich: Wie geht es
weiter? Tausende von Landwirten in unserem Lande zweifeln daran, daß sie diese Gesellschaft überhaupt noch braucht. Sicher, Sie wissen, was vor Ihnen steht und was zu bewältigen ist, sie haben nämlich im laufenden Wirtschaftsjahr mit einem Rückgang des durchschnittlichen Einkommens von 22 % plus Einkommensverlusten — —
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter.
Ich möchte doch bitten, hier vorne die Gespräche einzustellen. Dann gehen Sie doch bitte hinaus. Bei diesen paar Zuhörern sollte man doch Ruhe wahren.
Herr Roth, das stört mich keineswegs. Ich habe eine laute und kräftige Stimme. Auch wenn wir eine kleine Fraktion in der Koalition sind, so wissen wir uns doch durchzusetzen, und zwar auch sprachlich.
Nun: 21 % Einkommensverlust plus jene Einkommensverluste, die durch die Preisbeschlüsse in Brüssel entstehen. Mit diesen Fakten muß gerechnet werden. Die Verluste durch die Brüsseler Beschlüsse waren der Preis, um die Einheit des Marktes nicht zu zerstören und die Krise in Europa zu verhindern.
Dies, meine ich, war ein ganz zentraler agrarpolitischer Punkt.
Unseren Bauern kann man diese Verluste nicht zumuten. Das Bundeskabinett hat deshalb bereits einen Monat nach den Beschlüssen von Brüssel — hier möchte ich dem zuständigen Ressortminister Kiechle und dem Finanzminister meinen Respekt erweisen, daß dies so schnell gegangen ist — einen Gesetzentwurf verabschiedet, der vorsieht, den Landwirten für den Abbau der deutschen Währungsausgleichsbeträge einen Einkommensausgleich von 3% der Umsätze zu gewähren. Dies ist der Preis für Europa und soll den Landwirten nicht als Subvention angerechnet werden. Die Entschädigung soll am 1. September 1984 in Kraft treten; sie ist bis 31. Dezember 1991 befristet. Sie kostet den Bund im Jahr rund 1,6 Milliarden DM und ist in den kommenden Jahren in der Tendenz steigend.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Roth.
Nein, die Zeit ist immer knapp, das wissen Sie ja.Zum Schutz der tierischen Veredlungsproduktion der bäuerlichen Familienbetriebe sind gewerbliche Massentierhaltungen von dieser Maßnahme ausgeschlossen. 5 % Grenzausgleichsabbau bedeuten zum 1. Januar 1985 einen Einkommensrückgang von ca. 2,2 Milliarden DM. Deshalb fordert die FDP — und es ist angedeutet worden, daß dies auch schon in Bearbeitung ist — zusätzliche Ausgleichsmaßnah-
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Paintnermen, z. B. die Ausdehnung der Bergbauernförderung und die Übernahme der durch den Strukturwandel bedingten alten Last bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft durch den Bund.Dieser Gesetzentwurf ist einer der Beweise dafür, daß die FDP-Fraktion alles tut, um viele bäuerliche Familienbetriebe zu erhalten. Ich sage Ihnen: Nur selten war es so notwendig und so wichtig wie heute, immer wieder auf die Bedeutung einer bäuerlich strukturierten Landwirtschaft für unseren Staat hinzuweisen. Ein moderner Industriestaat wie die Bundesrepublik Deutschland kann auf eine leistungsfähige und zukunftsorientierte Landwirtschaft nicht verzichten. Die Bürger in unserem Staate, auch die Verbraucher in unseren Städten, wollen mit guten Nahrungsmitteln zu angemessenen Preisen versorgt sein und wollen unsere Kulturlandschaft erhalten wissen.
Jeder, der dies will, muß wissen, daß die Ernährungssicherung und die Erhaltung der Kulturlandschaft ihren Preis fordern.
Bis jetzt mußte der deutsche Steuerzahler für die Ernährungssicherung und die Erhaltung der Kulturlandschaft jährlich ca. 12 Milliarden ausgeben. Dazu sage ich — was ich schon so oft getan habe — als Vergleichsbeispiel nur: Die Bundesbahn kostete bis jetzt immer im Durchschnitt 14 Milliarden jährlich.Eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß auch in Zukunft unsere Bürger mit optimaler Versorgung mit Lebensmitteln rechnen können und daß die Kulturlandschaft erhalten bleibt, sind viele bäuerliche Familienbetriebe mit — das füge ich bei jeder Gelegenheit hinzu — einem ausreichenden, mit dem anderer Berufsgruppen vergleichbaren Einkommen.Weiter muß bedacht werden, daß Europa eben seinen Preis hat. Was für Europa, was für die EG gut ist, dient auch unserer Bundesrepublik. Die Bundesrepublik ist auch Nutznießer der Gemeinschaft, wirtschaftlich und politisch. Ohne Gemeinschaft hätten wir sicher mehr als 3 Millionen Arbeitslose. Unsere Handelsbilanz in der Gemeinschaft ist mit 12 Milliarden positiv. Belgien und Luxemburg kaufen bei uns fast so viel ein wie die USA. 50 % unseres Außenhandels finden in der Gemeinschaft statt. Dies sind, so meine ich, Fakten, die die Entscheidung der Bundesregierung, einen Ausgleich für die Verluste, die durch den Abbau des Währungsausgleichs für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse entstehen, zu gewähren, rechtfertigen.Mich freut es auch ganz besonders, daß unser Parteivorsitzender Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher erneut für unsere bäuerliche Landwirtschaft eingetreten ist. Er setzt damit die gute Tradition unserer Partei fort, um die Landwirtschaft besonders besorgt zu sein, wie es auch Josef Ertl als FDP-Minister über ein Jahrzehnt praktiziert hat.Auch dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß spreche ich die Sorge um dieLandwirtschaft nicht ab, und auch ihm danke ich für jedes Wort, das er für die Landwirtschaft verwendet, denn es können gar nicht genug Kräfte in unserem Staate sein, die endlich einsehen, wie wichtig eben die bäuerliche Landwirtschaft ist.
Herr Müller hat eben versucht, den Termin des 1. September 1984 in ein Licht zu setzen, in dem er noch viele Fragezeichen hat. Sehr verehrter Herr Müller, ich würde mir eigentlich wünschen, daß Sie uns mehr helfen, damit das Bild erhellt wird und der Termin des 1. September 1984 möglich ist.
Ich meine eben nur, daß der Termin 1. September 1984 kein Verdienst von Franz Josef Strauß allein ist, sondern ein Verdienst des Bundeskabinettes. Es faßte den Beschluß, und es setzt sich ja bekanntlich aus unserem Bundeskanzler Kohl, Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher und den übrigen Ministern zusammen. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals den zuständigen Minister Ignaz Kiechle und den Finanzminister besonders herausheben.
Zu dieser besonders schlechten Situation hat nicht zuletzt die Agrarreform geführt, die wir ja alle wollten. Wir waren doch der Meinung, daß sie gar nicht schnell genug durchgeführt werden kann. Ich möchte für meinen Kollegen Bredehorn und mich als Agrarpolitiker unserer Fraktion sagen: Wir sind durchaus bereit, diesen Termin sogar noch vorzuverlegen, ja wir bitten Sie sogar darum, mit uns in dieser Richtung zu wirken. Das wäre in der heutigen Situation der Landwirtschaft sicherlich eine gerechte Maßnahme.Ich möchte abschließend nochmals sagen: Die Agrarpolitik ist voll in der Bewährung. Wir als Agrarpolitiker, alle Fraktionen sind gefordert, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Auch heute ist wieder Zeit und Gelegenheit — man kann es nicht oft genug sagen —, den Verbraucher aufzufordern, sich endlich zu entscheiden, was er nun will. Will er diese bäuerliche Landwirtschaft, und welchen Preis will er dafür bezahlen?Die FDP-Fraktion ist der Meinung: Wir brauchen diese bäuerliche Landwirtschaft. Wir werden alles tun, um viele landwirtschaftliche bäuerliche Betriebe erhalten zu können. Das ist, meine ich, unsere agrarpolitische Aufgabe.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An der Drucksache, die wir jetzt beraten, klebt sozusagen noch die Druckerschwärze. Parlamentarisch ist es nicht unproblematisch, solche Vorlagen in solcher Eile durchzuhauen.
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4910 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Dr. VollmerSie werden sagen: Es ist auch besonders dringlich, den Bauern nach den dramatischen Beschlüssen in Brüssel und in Bonn nun eine wirksame Unterstützung zukommen zu lassen. Kenner behaupten, daß wir die Eile dieser Hilfsmaßnahmen insbesondere dem bayerischen Ministerpräsidenten Strauß und seinem Landwirtschaftsminister zu verdanken haben.Nun ist die Lage der Bauern wirklich so dramatisch — auch uns haben viele Briefe von Ortsverbänden und einzelnen Bauern erreicht —, daß man sagen könnte: Egal von wem, wir unterstützen jede Maßnahme, die den Bauern wirklich hilft. Als ich aber diese Ihre Maßnahmen, diese „frisch gedruckten", bei der Vorbereitung dieser Debatte genauer überprüft habe, habe ich entdeckt, daß wir hier ein richtiges Lehrstück vor uns haben: wie etwas mit großem Theaterdonner als Hilfe verkauft wird, das redlicherweise nicht oder doch nur ganz begrenzt Hilfe für Bauern genannt werden darf.
Dazu erstes Argument: Die Ursache für dieses ganze Programm besteht darin, daß den deutschen Bauern durch den Abbau des Währungsausgleichs in Höhe von 5 % ab Januar 1985 eine drastische — drastische! — reale Preissenkung für ihre Produkte ins Haus stände. Während der deutschen Landwirtschaft durch diesen Währungsausgleich insgesamt 4 Milliarden DM verloren gehen, werden durch die jetzt beschlossenen Ausgleichsmaßnahmen des Kabinetts nur etwa 2 Milliarden DM abgedeckt. Es ist also keineswegs eine Einkommenshilfe, die hier geplant wird, sondern ein — nicht einmal ausreichendes — Auffangen der hohen Einkommensverluste, die für das nächste Jahr vorbereitet werden. Dies als echte Zulage, als echte Bauernhilfe zu verkaufen, ist, meine ich, unredlich.
Zweites Argument: Unredlich ist es weiterhin, diese Zulage als eine Durchschnittszulage von 3 600 DM pro Betrieb zu verkaufen, wie wir dies lesen konnten. Offensichtlich macht es sich gut, so zu reden, angesichts der Tatsache, daß wir in unseren Verhandlungen in Hessen für einen Kleinbetrieb real und nachprüfbar 2 500 DM im Jahr an Einkommenszuwachs erstritten haben. Offensichtlich wollen Sie uns damit ausstechen. Während aber diese 2 500 DM bei einem Betrieb mit zehn Kühen in Hessen real ankommen werden, ist Ihre Durchschnittszahl von 3 600 DM pro Betrieb rein fiktiv. Das werden die Bauern auch merken.Was wird mit dieser Erhöhung des Mehrwertsteueransatzes eigentlich begünstigt? Kurz einiges zum Hintergrund: Während die Industrie zur Zeit einen Mehrwertsteuersatz von 14 % in Rechnung stellt, werden landwirtschaftliche Erzeugnisse bisher mit 8 % Mehrwertsteuer gehandelt. Dieser Satz soll jetzt auf 11 % erhöht werden.Diese neue Vorsteuerpauschale begünstigt eindeutig umsatzstarke Betriebe. Rechnen wir einmal durch:Erstes Beispiel: Milchbetriebe. Ein Boxenlaufstallbetrieb mit 60 Kühen und 350 000 1 erhält jetzt, wie ich durchgerechnet habe, 7 000 DM bis 7 500 DM mehr. Ein Betrieb mit zehn Kühen erhält 1 000 bis 1 200 DM mehr, also keineswegs3 600 DM.
Zweites Beispiel: Schweinezuchtbetriebe. Ein Schweinezuchtbetrieb mit 1 000 Liegeplätzen erhält an die 25 000 DM mehr. Ich habe mir sagen lassen, solche hätten wir auch hier im Bundestag vertreten.
Dies war auch der . Grund, warum die Bauern in Vechta mit dem neuen Landwirtschaftsminister aus Bayern sehr, sehr zufrieden waren. Ein kleiner Betrieb mit 500 Schweinen pro Jahr erhält dagegen nur knapp 5 000 DM.Drittes Beispiel: Getreidebaubetriebe. Ein Getreidebaubetrieb mit 30 ha erhält etwa 6 000 DM im Jahr mehr; ein Getreidebaubetrieb mit 20 ha erhält1 500 DM im Jahr mehr.Mein Ergebnis: die 3 600 DM Durchschnitt, die Sie angekündigt haben, verteilen sich so auf die landwirtschaftlichen Betriebe, daß die großen, umsatzstarken Betriebe viel und die kleinen wenig bekommen — wie gehabt.
Drittes Argument — damit kommen wir zu einem Spezialfall der Auswirkung dieser Mehrwertsteuerregelung —: Durch den Unterschied zwischen den 11 % Mehrwertsteuer beim Verkauf und den 7 % Mehrwertsteuer beim Einkauf wird außerordentlich dazu angereizt, das gesamte Getreide zu verkaufen, es an den Markt zu geben und nicht etwa im eigenen Betrieb einzusetzen. Schon in der Vergangenheit haben sich erhebliche Handelsvorteile für die Betriebe ergeben, die ihr Getreide an die Genossenschaften verkauften, um es dann mit Mehrwertsteuervorteilen von der Genossenschaft zurückzukaufen. Dieser Vorteil, der in der Vergangenheit etwa 0,50 DM pro Doppelzentner ausmachte, ist nun durch die neue Regelung stracks auf2 DM pro Doppelzentner gestiegen. Bei einem Getreidebaubetrieb mit 30 ha ergäbe sich damit die Möglichkeit, das Getreide an die Genossenschaft zu verkaufen, es von ihr wieder zurückzukaufen und damit einen Handelsvorteil von 3 000 DM zu erzielen, den der Betriebsleiter einfach dazwischen wegnehmen kann.Bei der Masse der Betriebe wird dies so aussehen, daß sie ihr Getreide mit 11 % Mehrwertsteuer an die Genossenschaft verkaufen
und dann durch billige Substitutenankäufe ersetzen, wodurch auch der Substitutenankauf gesteigert wird. Die Genossenschaften liefern dann dieses Getreide auf Staatskosten in die Intervention. Sie wissen, daß dieses gerade in den nächsten Monaten erheblich drohen wird. Der hohe Verbrauch von Futtermitteln und Substituten und damit von Im-
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Frau Dr. Vollmerporten aus den USA und aus der Dritten Welt bliebe also erhalten.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stockhausen?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß die aufnehmende Hand, der Handel als Beispiel, für 40 DM einkauft und dann die Gewinnspanne draufschlägt, und wenn es der gleiche wiederkauft, sind pro Doppelzentner 5 DM Gewinnspanne zu zahlen, so daß Ihre Rechnung gar nicht stimmt?
Gerade auf Ihr Beispiel komme ich gleich noch. Das habe ich nämlich bedacht.
Selbst wenn die Betriebe ihr eigenes Getreide verfüttern wollen, ist es für sie von großem Vorteil, es wenigstens buchmäßig über den Zwischenhandel in der Genossenschaft laufen zu lassen. Genau das ist nämlich der Fall. und genau dies machen auch große Betriebe, die bei den Genossenschaften besondere Bedingungen aushandeln können. Sie wissen alle, daß das in der Praxis passiert.
Es ist in der Vergangenheit sogar passiert, ohne daß das Getreide überhaupt einen Zentimeter vom Platz bewegt worden ist, indem das einfach mit der Genossenschaft abgemacht worden ist.
Insbesondere haben sich die Genossenschaften bei den Betrieben auf diese Geschäfte eingelassen, die bei ihnen einen besonderen Einfluß hatten. Damit ist hier eine Möglichkeit geschaffen, völlig legal mit Staatsgeldern Schindluder zu treiben.
Wer aber hat den Nachteil davon? Es sind vor allem die Betriebe — das ist uns sehr wichtig —, die eine Kreislaufwirtschaft betreiben wollen, die also nicht nur und vorrangig für den Markt wirtschaften, vor allem die Kleinbetriebe, die ihr eigenes Getreide direkt verfüttern, vor allem die Futterbaubetriebe ohne Marktfrüchte. Das heißt, alle diejenigen, die sich nicht voll auf den Markt konzentrieren, haben den Nachteil.
So entpuppt sich diese Regelung der Mehrwertsteueranhebung gleichzeitig als eine Gesetzesvorlage zur strengeren Anbindung der Bauern an die Genossenschaften und an den Markt. Die Bauern werden zum Handel mit der Genossenschaft regelrecht gezwungen, ein Handel innerhalb von bäuerlichen Betrieben und ebenso die Nutzung eigener Mahl- und Mischanlagen, bei denen man diesen Vorteil nicht in Anspruch nehmen kann, werden damit unrentabel.
Ganz besonders negativ sind auch die Auswirkungen auf die Direktvermarkter. Bei ihnen müßte
sich die Erhöhung des Mehrwertsteueranteils in direkten Preiserhöhungen auswirken, die sie dann vom Verbraucher direkt einfordern. Während die Genossenschaften, wenn sie mehr Getreide in das Mischfutter einmischen, den erhöhten Mehrwertsteueranteil direkt vom Staat zurückbekommen, muß der Bauer, der seine Produkte direkt an den Mann oder — häufiger — an die Frau bringt, von diesem oder dieser direkt einen erhöhten Preis fordern, was sicher nicht ganz einfach ist, weil es ihm dann angekreidet wird.
Fassen wir zusammen. Diese Gesetzesvorlage gibt an, sie nutze der gesamten deutschen Landwirtschaft. Wenn wir näher hinsehen, verläuft es aber genau nach der Devise: Wachsen, Produzieren, Verkaufen, Umsatzmachen, denn nur der Umsatz wird honoriert. Diese Gesetzesvorlage begünstigt die Betriebe, die sich voll auf den Markt eingestellt haben, die im rein betriebswirtschaftlichen Sinn nach Unternehmerkriterien perfekt funktionieren. Sie benachteiligt die Betriebe, die noch bäuerlichen Kriterien verpflichtet sind, nämlich die kleinen Futterbaubetriebe ohne Marktfrüchte, die Kleinbetriebe, die nicht gewohnt sind, bei den Genossenschaften Handelsvorteile auszunutzen, die ökologischen Betriebe mit Kreislaufwirtschaft und die Bauern, die von alters her gewohnt waren, untereinander Handel zu treiben, die Direktvermarkter, die den Direktverkehr zum Verbraucher aufrechterhalten oder neu aufbauen wollen.
Diese Maßnahme — das sollten Sie ehrlich zugeben — wird zwar ab September einen Einkommenszuwachs, wenn auch sehr ungleich verteilt, in die bäuerlichen Betriebe bringen, dieser wird aber, wenn der Grenzausgleichsabbau von 5 % voll durchschlägt, ab 1. Januar 1985 durch die Preissenkungen mehr als aufgefressen, die dann zu erwarten sind. Wir haben jetzt schon Briefe von Genossenschaften aus dem Süden Deutschlands bekommen, die ihren Bauern Preissenkungen bei der Milch um 10 Pfennig angekündigt haben.
Daher können wir diesem Programm nicht zustimmen, selbst wenn wir gern jeder Hilfe zustimmen würden, egal, von wem sie käme, die den Bauern in ihrer schwierigen Einkommenssituation Erleichterung schaffen würde.
Ich will enden, wie ich angefangen haben, mit einem Spruch von Franz Josef Strauß. Dieser hat mal gesagt: „Wenn der Zug in die falsche Richtung fährt, ist jede Station falsch". Ich will dem ausnahmsweise einmal zustimmen, denn dieser Zug fährt in die falsche Richtung.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
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4912 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages stehen heute verschiedene Punkte aus dem Agrarbereich: das internationale Übereinkommen über Pflanzenzüchtungen, das Pflanzenschutzgesetz, das Seefischereigesetz und der Bericht über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". Von besonderer Bedeutung für die deutsche Landwirtschaft ist der Gesetzentwurf zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes und das die Brüsseler Agrarbeschlüsse flankierende nationale Programm der Bundesregierung. Beides wurde und ist notwendig, um negative Einkommensentwicklungen für die deutschen Bauern auf Grund der letzten Brüsseler Beschlüsse erheblich abzumildern und erträglich zu machen.Krisenhafte Zustände der gemeinsamen Agrarpolitik werden leicht zu Krisen der Gemeinschaft. Wir haben dies im zurückliegenden Jahr schmerzhaft erlebt. Bei wichtigen Agrarprodukten verstärkt sich in der EG seit Jahren das Ungleichgewicht zwischen ständig wachsender Produktion und stagnierendem Verbrauch. Die Marktordnungsausgaben der Gemeinschaft schnellten von 28 Milliarden DM im Jahre 1982 auf 36 Milliarden DM im Jahre 1983 hoch. Angesichts der Überschußsituation auf den Agrarmärkten und der drohenden Erschöpfung der Finanzmittel der Gemeinschaft wurde der Zwang zum Handeln unausweichlich. Ein Zusammenbruch des Marktordnungssystems, der bei weiterem Hinausschieben der Entscheidungen unausweichlich geworden wäre, hätte für die Landwirte massive Preiszusammenbrüche zur Folge gehabt, und viele bäuerliche Betriebe hätten das nicht überlebt.Die Bundesregierung nahm die Herausforderung zum Handeln an: im Bewußtsein ihrer Verantwortung für das europäische Einigungswerk, aber auch in der Verantwortung für die deutsche Landwirtschaft. Die Bundesregierung hat ihre Bemühungen bei den Verhandlungen in der EG von Anfang an unter das Ziel gestellt, die Funktionsfähigkeit und die Finanzierbarkeit der EG-Agrarmarktordnungen wiederherzustellen.Leider war es unter den gegebenen Umständen — daran sollten Sie, Herr Müller, der Sie lange genug im Ernährungsausschuß sind und Zahlen und Fakten kennen, denken, bevor Sie hier polemische Reden halten — nicht möglich, eine an sich erforderlich gewesene Erhöhung der Erzeugerpreise durchzuführen. Im Gegenteil, bei einer Reihe von Erzeugnissen mußten Preisermäßigungen hingenommen, im übrigen alles in allem eine Null-preisrunde in Kauf genommen werden. Der Einschnitt, den wir haben machen müssen, ist deshalb so hart ausgefallen, weil er so spät vorgenommen worden ist.
Vor einigen Jahren wäre ein Stopp beim Produktionszuwachs noch ausreichend gewesen; jetzt ging es nicht mehr ohne eine Rücknahme der vorhandenen Produktionsmenge.Für die Bundesrepublik Deutschland wurde außerdem — ich sage das ausdrücklich — aus übergeordneten europapolitischen Gesichtspunkten die Neuregelung des umstrittenen Währungsausgleichs unabweisbar.Die Bundesregierung hat Teile der Brüsseler Agrarbeschlüsse nur unter erheblichen Bedenken — ich sage es noch einmal — aus übergeordneten politischen Gesichtspunkten mitgetragen. Opfer für Europa können aber nicht einseitig unseren Bauern zugemutet werden.Um Einkommenseinbrüche für die deutsche Landwirtschaft zu verhindern, hat die Bundesregierung auf nationaler Ebene ein flankierendes Programm zur Verbesserung der Einkommenssituation der Landwirtschaft und zur Durchführung der EG-Marktpolitik beschlossen. Wir haben also gehandelt. Die Gemeinschaft wird sich an dem von der Bundesrepublik national zu finanzierenden Ausgleich 1985 mit rund 270 Millionen und 1986 mit rund 220 Millionen DM beteiligen. Auch dies haben wir verhandelt, Herr Müller.Ein wesentlicher Bestandteil dieses nationalen Programms ist, daß der Einkommensausgleich für den zum 1. Januar 1985 vorgesehenen Abbau des deutschen Währungsausgleichs durch die Anhebung der Umsatzsteuervergütung um drei Prozentpunkte auf alle landwirtschaftlichen Umsätze bereits zum 1. September 1984 in Kraft gesetzt wird. Hierzu haben die Fraktionen von CDU/CSU und FDP heute einen Gesetzentwurf eingebracht. Ich möchte das Hohe Haus bitten, diesen Gesetzentwurf zügig zu beraten und zu verabschieden.Diese Maßnahme stellt eine schnelle Hilfe für die bäuerlichen Familienbetriebe dar. Die gesetzliche Regelung wird so gestaltet werden, daß gewerbliche Viehhalter, die ohne ausreichende Verbindung mit selbstbewirtschaftetem Grund und Boden produzieren, nicht begünstigt werden.Wegen der Marktabläufe ist leider davon auszugehen, daß der Abbau des deutschen Währungsausgleichs bereits 1984 erhebliche Vorwirkungen auf die Erzeugerpreise auslösen wird. Es ist daher wichtig, daß die neue Ernte auch bei frühzeitigerem Verkauf bereits in den Genuß dieser neuen Regelung kommt. Es bedarf dazu einer entsprechenden Kaufvertragsgestaltung.Der Gesetzentwurf sieht vor, daß diese Maßnahme bis Ende 1991 laufen wird. Es handelt sich also um eine langfristige Maßnahme. Rechtzeitig vor Auslaufen der Frist wird geprüft werden, ob und gegebenenfalls welche Anschlußregelung erforderlich ist.Im Milchsektor kam es vor allem darauf an, ein möglichst kurzfristig wirksames und für die übrigen Mitgliedstaaten konsensfähiges Vorgehen zur Begrenzung der Belastungen des EG-Haushalts aus Überschüssen zu finden. Deshalb haben wir die von der Kommission vorgeschlagene Begrenzung der Milchmenge, für die der garantierte Preis bezahlt wird, unterstützt. Ich habe immer Preissenkungen, die eine andere Konzeption gewesen wären und von der SPD hier im Hause durchaus präferiert wurden,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4913
Bundesminister Kiechleabgelehnt; ich lehne sie auch weiterhin ab. Die nunmehr festgesetzten Garantiemengen sind im Rahmen des Gemeinschaftshaushalts gerade noch finanzierbar.Ausgangsbasis für die Garantiemenge des einzelnen Erzeugers in der Bundesrepublik ist seine Milchanlieferung im Jahre 1983. Bei allen Erzeugern muß von dieser Menge — ich sage: leider —ein Basisabzug von 4 % als Solidaritätskomponente vorgenommen werden. Der Abzug erhöht sich unter Berücksichtigung der Steigerung der Milchanlieferung von 1981 bis 1983 im Sinne einer Verursacherkomponente und unter Berücksichtigung der Betriebsgröße im Sinne einer sozialen Komponente. Der Höchstabzug bei einer Steigerung der Milchanlieferung um mehr als 15 % beträgt z. B. in Betrieben mit 180 000 kg jährlicher Milchanlieferung 11 % und in Betrieben mit 300 000 kg und mehr 12,5 %.Ich wäre Frau Kollegin Vollmer dankbar, wenn sie mir zuhören könnte, da ich zu ihrer „grünen Berechnung", die sie aufgemacht hat, nachher noch ein paar Worte sagen möchte.Besondere Härtefälle können bei der Festlegung der einzelbetrieblichen Referenzmengen berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere bei bestimmten Fällen höherer Gewalt, z. B. Naturkatastrophen, Brand, Seuchen, und bei in der Durchführung befindlichen Betriebsentwicklungsplänen mit baulichen Investitionen im Bereich der Milcherzeugung.Mit der Garantiemengenregelung wurde ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung des Gleichgewichts auf dem EG-Milchmarkt getan. Die Garantiemengenregelung verhindert einen weiteren Verdrängungswettbewerb in der Milcherzeugung und sichert somit auch weiterhin die Existenz kleinerer bäuerlicher Betriebe.Um im Bereich der Milchproduktion die zur Regelung der Härtefälle erforderlichen Referenzmengen bereitstellen zu können, wird Landwirten, die die Milcherzeugung endgültig aufgeben wollen, eine Prämie von 1000 DM je 1000 kg Milchanlieferung in 10 Jahresraten aus Bundesmitteln gewährt, allerdings nur bis zu einer Höchstgrenze je Betrieb von 15 000 DM jährlich. Die Bundesregierung wird für diese Prämien zehn Jahre lang 100 Millionen DM jährlich bereitstellen. Diese Prämie stellt in Höhe und Ausgestaltung für eine Vielzahl von Betrieben eine geeignete, sozial vertretbare Entscheidungshilfe dar.Durch diese sogenannte Milchrente wird die Lösung der Härtefälle nicht zusätzlich den Bauern aufgebürdet, die in der Milchproduktion bleiben wollen. Sie ist vielmehr ein Solidaritätsbeitrag der Allgemeinheit zur Erleichterung der den Bauern aus übergeordneten politischen Gründen abverlangten Einschränkungen.Betriebsleiter, die teilweise oder völlig in einen außerlandwirtschaftlichen Beruf überwechseln wollen, erhalten in diesen ersten zehn Jahren eine nicht unerhebliche Starthilfe. Schließlich erhalten Milcherzeuger, die aus dem Erwerbsleben ausscheiden, eine fühlbare zusätzliche Altersversorgung.In den Wirtschaftsjahren 1984/85 und 1985/86 werden im Gegensatz zur bisherigen Praxis nur noch Milcherzeuger, die weniger als 100 000 kg Milch jährlich anliefern, für die ersten 60 000 kg Anlieferung eine Entlastung von der Mitverantwortungsabgabe in Höhe von 0,7 Pfennig je Kilogramm aus EG-Mitteln erhalten. Damit wird die Erhöhung der Mitverantwortungsabgabe um einen Prozentpunkt im Wirtschaftsjahr 1984/85 für diese Betriebe aufgefangen und für 1985/86 eine entsprechende Erlösverbesserung erzielt. In den Genuß dieser Milderung der Mitverantwortungsabgabe kommen übrigens 80 % aller milcherzeugenden Betriebe der Bundesrepublik Deutschland. Sie alle liegen unter 100 000 kg Milchanlieferung.Das dritte Element des nationalen Programms der Bundesregierung stellt neben dem Vorziehen der Mehrwertsteuerregelung und der Prämie für aussteigende Milcherzeuger die Erhöhung der Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallversicherung dar. Im Jahre 1985 wird — ausgehend von der mittelfristigen Finanzplanung — der Bundeszuschuß um 280 Millionen DM auf 400 Millionen DM erhöht. Dieser Zuschußbetrag von 400 Millionen DM, der übrigens in der Vergangenheit gekürzt worden war, wird bis zum Ende der mittelfristigen Finanzplanung festgeschrieben. Für die landwirtschaftlichen Betriebe kann damit 1985 der Beitrag zur Unfallversicherung erheblich gesenkt werden. Dies wird sich ganz besonders für die kleineren Betriebskategorien positiv auswirken. Mit der Wiederaufstockung der Bundesmittel wird die besondere strukturbedingte Belastung aus der großen Zahl der Leistungsempfänger im Vergleich zur rückläufigen Zahl der aktiven Landwirte aufgefangen. Damit wird eine langfristige Zusage des Bundeskanzlers bereits ab 1985 erfüllt.Im Rahmen ihres nationalen Programms wird die Bundesregierung schließlich gemeinsam mit den Ländern Möglichkeiten eröffnen, innerhalb des für 1985 und die Finanzplanung bis 1988 geltenden Betrages für die Gemeinschaftsaufgabe die Förderung der Landwirtschaft in den benachteiligten Gebieten zu verbessern. Damit wird ein Beitrag zur Sicherung der Einkommen der Haupt- und Nebenerwerbsbetriebe in diesen schwierigen Gebieten geleistet.Zusammenfassend kann ich feststellen: Wir standen in der Europapolitik, insbesondere in der gemeinsamen Agrarpolitik, vor außerordentlich schwierigen Entscheidungen. Es ging darum, einen Zusammenbruch des bisher in der EG Erreichten zu vermeiden. Mit den Beschlüssen von Brüssel und den flankierenden Maßnahmen der Bundesregierung sind Unsicherheiten in der EG-Agrarpolitik beseitigt worden. Ein drohender Zusammenbruch des gesamten Marktordnungssystems und ein Chaos bei den Erzeugerpreisen konnten damit verhindert werden.Mit der Gesundung der Agrarmärkte werden neue Zukunftsperspektiven eröffnet und die Grundlagen für eine aktive, an den Kosten und Einkommenserfordernissen orientierte Preispolitik gelegt. Trotz einschneidender EG-Reformmaßnahmen ist
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4914 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Bundesminister Kiechledie deutsche Landwirtschaft damit nicht im Stich gelassen worden.Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben Wort gehalten.Die deutsche Landwirtschaft erhält die entsprechenden Hilfen, die in diesem Falle wirklich und wahrhaftig überhaupt nichts mit Subventionen zu tun haben, so daß sie keine einseitigen, unzumutbaren Opfer für Europa zu tragen hat. Die Bundesregierung legt damit im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Grundlagen dafür, daß unsere Landwirte wieder mit Zuversicht in die Zukunft blicken können.Ich darf mir erlauben, noch ein paar persönliche Anmerkungen zu machen: Herr Kollege Müller, vermutlich wider besseres Wissen, so befürchte ich, werfen Sie mir hier vor dem Deutschen Bundestag vor, in Brüssel konzeptionslos und miserabel verhandelt zu haben. Ich bedaure diese Ausdrucksweise gerade von Ihnen. Denn Sie mögen zwar mit unserer Konzeption nicht einverstanden sein, aber daß es in unserer Verhandlungsstrategie keine gebe, können Sie hier ernsthaft nicht sagen.Sie hätten auf längere Sicht Preise senken wollen, um damit Mengen zu regulieren. Ich zitiere damit nur, Sie haben für die SPD-Fraktion an diesem Pult vor einem Dreivierteljahr so gesprochen.
Dagegen bin ich allerdings.Sie haben gefragt: Was machen Sie hinsichtlich der Durchsetzbarkeit gegenüber Brüssel? Ich versichere Ihnen: Da Brüssel durch seine flankierenden Beschlüsse in eigener Zuständigkeit dafür gesorgt hat — nicht wir mit den Beschlüssen im Ministerrat —, daß Preise bei einigen Produkten vorzeitig und sogar überproportional gesenkt wurden und gesenkt werden mußten — ich nenne nur Zahlungsziele, ich nenne Zuschlagsverhinderungen bei Getreide und anderes mehr —, werden die Herren in Brüssel für unser Anliegen Verständnis haben. Sollten sie das nicht haben, werden wir das auf dem Gipfel regeln. Denn diese Möglichkeit haben wir uns vorbehalten.
Sie haben hier gesagt, der Kreisverband Unterallgäu, aus dem ich käme, habe Ihnen geschrieben. — Ich komme zwar nicht daher, aber ich kenne ihn sehr gut; das stimmt. — In diesem Schreiben komme zum Ausdruck, daß die Bauern eine gewisse Sorge — um nicht zu sagen: Angst — vor dem Subventionsvorwurf hätten. Nun, Sie können einen guten Schritt tun, sie vor diesem Vorwurf zu bewahren, indem Sie hier, statt über Subventionsangst zu reden, deutlich erklären, daß dies aus der Sicht der SPD keinerlei Subventionen sind. Dann haben wir wenigstens einmal eine einstimmige Feststellung.
Sie haben außerdem gefragt: Wo bleibt die Obergrenze? Da wir dies vorher mit den Ländern absprechen müssen und in der Schnelligkeit keine ressortübergreifenden, abschließenden Gespräche führenkonnten, werden wir dies im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens als Entwurf nachreichen.Da Sie über diesen Gesetzentwurf im Grunde genommen nur Kritik ausgegossen haben, habe ich nur die Frage, ob Sie denn nun zustimmen oder nicht. Wenn Sie zustimmen, dann sollten Sie die positiven Elemente betonen.Ich darf noch einmal hinzufügen: Nicht Konzeptionslosigkeit, sondern hohe Berge auf der einen und finanzielle Ebbe der anderen Seite waren die Ursachen für das Verhandlungsergebnis.Nun noch ein paar Sätze zu Ihnen, Frau Vollmer. Molkereien, die den Bauern auf Grund der Brüsseler Beschlüsse zehn Pfennig Preissenkung ankündigen — ich sage dies hier ganz deutlich —, handeln total verantwortungslos.
Dies ist in keiner Form gerechtfertigt. Ich hoffe nur, daß sich die Lieferanten und Bauern gegen solche Molkereien zur Wehr setzen. Es gibt Gott sei Dank auch andere. Total verantwortungslos! Dafür gibt es nicht die geringste Ursache.
— Es gibt eine ganze Menge!)
Und dann sollten Sie so freundlich sein und dies auch noch nennen, statt hier nur über „Molkereien" zu reden. Sie sollten sagen, wo das ist und wer das macht. Dann können sogar wir der Sache nachgehen.Zweitens. Sie haben hier eine Rechnung zu Getreide aufgemacht. Ich widerspreche Ihnen völlig. Entweder ist es richtig, daß bei Getreide der Preis durch Brüsseler Beschlüsse und flankierende Beschlüsse der Kommission erheblich gesenkt wird. Hier sind die Rechnungen sehr verschieden. Sie gehen von ungefähr 5°A) bis zu 7 %, 8 %. Wir leisten eine Hilfe über die Mehrwertsteuer in der Größenordnung von 3%. Dann liegt darin kein Gewinn, sondern es verbleibt den Getreideerzeugern eine ganze Menge an Opfern, soweit sie dieses Getreide verkaufen. Oder sie haben keine Verluste. Dann wär's ein Gewinn. Aber wie Sie die Rechnung aufmachen, kann sie wirklich nicht stimmen. Das erzeugt in der Öffentlichkeit wieder den Eindruck: Große oder solche, die direkt verkaufen, haben unangemessene Gewinnmöglichkeiten aus einer staatlichen Unterstützungssache. Aber dies stimmt nicht.
Und: Wenn Sie hier über 3 000 DM reden, dann zitieren Sie bitte sehr, gnädige Frau, den Satz ganz. Wir haben gesagt: Bei 120 000 DM Umsatz entsteht eine Hilfe von 3 600 DM zu den Opfern, die — selbstverständlich — gebracht werden müssen. So,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4915
Bundesminister Kiechlewie Sie es dargestellt haben, waren es „grüne" Grimms Märchen, sonst gar nichts.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/1389 federführend an den Finanzausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich rufe die Punkte 9 und 10 der Tagesordnung auf:
9. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der in Genf am 23. Oktober 1978 unterzeichneten Fassung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz von Pflanzenzüchtungen
— Drucksache 10/817 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 10/1252 —
Berichterstatter: Abgeordneter Rode
10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Kulturpflanzen
— Drucksache 10/1262 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 9 und 10 und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wünscht ein Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Rode .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Internationale Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen ist ein wertvolles Instrument für die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet desSchutzes von Züchterrechten. In den Jahren 1957 bis 1961 wurde die erste Fassung dieses Gesetzes ausgearbeitet und beschlossen. Diese „Pariser Fassung" hat als Hauptziel, den Schutz von Züchterrechten nach gleichartigen Grundsätzen in allen Ländern zu fördern.In seiner Konzeption folgte das Übereinkommen bis dahin fast ausschließlich Vorstellungen der europäischen Unterzeichnerstaaten. So ist Deutsch eine der Amtssprachen des Verbands.Viele Staaten traten dem Abkommen nicht bei, weil nationale Gesetze und nationale Rechte in diesen Staaten nicht mit dem Inhalt des Übereinkommens in Einklang zu bringen waren. Um diesen Staaten nun den Eintritt zu erleichtern, wurde 1978 eine neue — die jetzt vorliegende — Fassung des Gesetzes erarbeitet. Sie liegt uns heute als „Genfer Fassung" zur Beschlußfassung vor.Zu den wichtigsten Änderungen gehört der Verzicht auf das Pflichtartenverzeichnis. Nun können die Staaten den Schutz auf Sorten von Gattungen und Arten ihrer Wahl anwenden. Allerdings müssen die Verbandsdaten in festgelegten Zeiträumen bestimmte Mindestzahlen an Arten in die Schutzregelungen einbeziehen. Sehr wichtig ist, daß nunmehr der Verband nicht mehr der Aufsicht der Schweizer Regierung unterstellt ist, sondern mit der WIPO, der Weltorganisation für geistiges Eigentum, zusammenarbeitet. Schließlich betrifft eine weitere wesentliche Änderung die Verlängerung der Neuheitsschonfrist für Sorten, die neu in das Artenverzeichnis aufgenommen werden.Im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wurden keine Bedenken gegen das Übereinkommen erhoben. Kosten entstehen dem Bund nicht.Nach dem bisherigen Übereinkommen und dem Sortenschutz nach deutschem Recht bedeutet das Übereinkommen keinen Schritt zurück, sondern eröffnet im Gegenteil der Vielzahl mittlerer Unternehmungen deutscher Pflanzenzüchter den Zugang zu vielen anderen Ländern, die sich nun eher der Fassung dieses Übereinkommens anschließen werden.Meine Damen und Herren, die Züchtung von neuen Pflanzensorten gewinnt zunehmend an Bedeutung. Die Menschheit ist weithin von Hunger bedroht. Der enorme Zuwachs der Weltbevölkerung kann nicht durch eine ausreichende Vermehrung der verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzfläche ausgeglichen werden. Unsere Nahrung kann knapper werden. Viele Länder erwarten in der Tat Engpässe für die kommenden Jahrzehnte.Die Züchtung neuer Pflanzensorten, die höhere Ernte, eine verbesserte Qualität und größere Sicherheit vor Witterungseinflüssen und Krankheiten gewährleisten, spielt bei der Bewältigung dieser Herausforderung eine bedeutsame Rolle. Der Schutz neuer Pflanzensorten und der Schutz der Pflanzenzüchtung insgesamt tragen dazu bei, den erwarteten weltweiten Nahrungsmittelmangel zu überwinden.
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4916 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Rode
Zum zweiten. Die Öffentlichkeit wird sich immer mehr bewußt, welche Gefahr die zunehmende Umweltverschmutzung für die Menschheit darstellt. Ein übertriebener und rücksichtsloser Gebrauch von Chemie würde diese Gefährdung vermehren. Dieses Dilemma muß überwunden werden; denn ganz kann eine Welt, die Nahrungsmittel benötigt, bei der Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten und Schädlingsbefall nicht auf die Hilfe der Chemie verzichten.
Hier liegt eine weitere Aufgabenstellung für den Züchter. Die Erzeugung neuer, gegen Insektenbefall und andere schädliche Einflüsse resistenter Pflanzensorten könnte die übermäßige Verwendung chemischer Stoffe auf ein Maß zurückführen, das der Umwelt nicht schädlich wäre.Bei der Vielzahl von Merkmalen wie Ertrag, Qualität, Resistenz, Anbauverbesserung und Klimaverträglichkeit kann natürlich das Endprodukt einer Züchtung nicht allen Wünschen entsprechen. Jede Sorte enthält daher immer nur ein optimales Bündel vom Markt gewünschter Eigenschaften.In der Bundesrepublik Deutschland wird Pflanzenzüchtung zumeist privatwirtschaftlich betrieben und ist durch eine gesunde mittelständische Struktur geprägt. Bei uns befassen sich mehrere tausend private Betriebe mit der Pflanzenzüchtung. Viele sind Familienbetriebe mit Ursprung im Ackerbau, im Gartenbau oder im Saatenhandel. Einige wenige gehören zu Spezialabteilungen größerer Unternehmungen, nur wenige zu großen nationalen oder internationalen Konzernen. Die Neufassung dieses Übereinkommens sichert unseren vielen kleinen Züchtern ein gleichartiges, patentähnliches und zeitlich begrenztes Schutzrecht und gewährt unseren Firmen in all den anderen Staaten sozusagen Inländerbehandlung.
Das, meine Damen und Herren, ist geradezu eine Chance für einen erfolgreichen und weltweiten Austausch zwischen den Züchtern.Pflanzenzüchter, meine Damen und Herren, können nicht nur kaltherzig nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten, sondern die wichtigsten Eigenschaften des Züchters sind Können, Spürsinn und immer und immer wieder Geduld.
Aus einer Vielzahl von Versuchen und Nachkommenschaften wird man immer nur wenige Einzelpflanzen selektieren, die erfolgversprechend sind. Es können trotz guter handwerkschaftlicher Eigenschaften, trotz eines natürlichen Spürsinns, trotz Blicks und Sinns für Züchtungsmethoden weit über zehn Jahre ins Land ziehen, bis es zu einer Sortenfindung kommt. Das erfordert hochqualifizierte Mitarbeiter und beträchtlichen Kapitaleinsatz. Auch deshalb haben die Züchter Anspruch auf Schutz durch dieses neue Übereinkommen.Meine Damen und Herren, sowohl der Bericht „Global 2000" an den US-Präsidenten als auch die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands von vor wenigen Wochen weisen auf die Bedeutung der Pflanzenzucht hin. Auf der Grünen Woche in Berlin fand die Diskussion des Arbeitskreises 1 — Pflanzenzüchtung — große Beachtung. Die beiden letzten Sitzungen der FAO im April dieses Jahres standen teilweise noch unter kontroversen Diskussionen zu diesem Thema. Ich bin froh, daß hier gerade der Vorstoß der großen Weltfirmen durch die deutschen Vertreter zurückgewiesen wurde und eher der Vielfalt der Genbanken der mittleren Züchterfirmen in Deutschland Bedeutung und Schutz gewährt wird.Die FAO setzte vor wenigen Tagen noch Zeichen, wenn sie sich unter vielen anderen Anliegen besonders für die Saatgutverbesserung und der Kleinbauern in Afrika eingesetzt hat. Hier bedeutet Pflanzenzucht eben auch in hohem Maße Entwicklungshilfe und Welternährungshilfe.
Es ist auf das Problem der Anfälligkeit von Kulturpflanzen, auf die Abhängigkeit von durch Inzucht gezogenen Arten und die Gefahr von Monokulturen hinzuweisen. Die Forderung nach großer genetischer Vielfalt ist wichtig zu nehmen. Der Trend zu einer genetischen Uniformität führt zu einer gefährlich schmalen genetischen Basis. Hier kann das Übereinkommen ebenfalls Abhilfe schaffen, weil gleichartige Vorschriften und somit Austausch und Zusammenarbeit zwischen den vielen Genbanken — auch kleiner Pflanzenzüchter — möglich werden.Es ist auch bei uns dafür Sorge zu tragen, daß der Schutz unberührter Standorte und der Schutz von Biotopen mehr Möglichkeiten zur Erhöhung der Zahl verfügbarer genetischer Ressourcen erbringt, damit solche Kreuzungen höhergradige, krankheitsresistente Arten und Sorten ergeben.Die Bevölkerungsexplosion ist unumstößlich Realität. Aber durch bessere Züchtungen konnte — ich will das mit zwei Beispielen sagen — die Weltreisernte von 153 Millionen t im Jahre 1950 auf heute 375 Millionen t erhöht werden. Maniok ist das Hauptnahrungsmittel für mehrere hundert Millionen Menschen. Bei alten Sorten hatte man einen Hektarertrag von 2 bis 10 t, heute hat man schon Züchtungsergebnisse von 60 t pro Hektar: ein Erfolg von Züchtungen.Wenn wir schon viele ähnliche Erfolge der Pflanzenzüchtungen aus der Vergangenheit loben können, so ist es mir ein persönliches Anliegen, zu hoffen, daß wir unseren Züchterfirmen für die Zukunft den Auftrag geben, für Pflanzen zu sorgen, die günstig Agraralkohol erzeugen können, damit der Kreislauf Agraralkohol zur Minderung von Waldkrankheiten auch den besten Naturschützern zugute kommt, die ich kenne, nämlich unseren Bauern.
Der Hunger der Welt ist eine Herausforderung auch für die Pflanzenzucht. Dieses Übereinkommen ist ein gutes Instrument gegen den Welthunger, für eine gesunde Ernährung und für eine Verbesserung
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4917
Rode
der Umwelt durch Vielfalt und durch Resistenz einer erfolgreichen Züchtung. Dieses Übereinkommen schützt die mittelständische und vielfältige Struktur unserer Züchterbetriebe und gibt ihnen eine Chance, auch in vielen anderen Ländern wirksam zu werden.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich bitte um Verzeihung, daß ich den zweiten Teil wegen der abgelaufenen Zeit nicht mehr einbringen kann. Es war mir aber wichtig, den ersten Teil besonders hervorzuheben, weil er nun zur Beschlußfassung ansteht. Ich hätte sonst gerne auch noch die wichtigen Punkte des Pflanzenschutzgesetzes vorgetragen.Ich bitte Sie, so abzustimmen, wie es Ihnen der Landwirtschaftsausschuß einstimmig empfiehlt.
Das Wort hat der Abgeordnete Kißlinger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ähnlich verhalten wie mein Vorredner. Ich möchte mich mehr auf den zweiten Teil konzentrieren, denn dem ersten Teil können wir zustimmen, weil es begrüßenswert ist, wenn noch andere Staaten beitreten und mittun wollen.Unsere Bevölkerung ist für Umweltfragen höchst sensibilisiert. Das Waldsterben lenkt unsere Aufmerksamkeit auch auf die Probleme von Landwirtschaft und Umwelt. Hier gilt es, zwei Aspekte zu beachten: Einmal wird die Landwirtschaft selbst zunehmend durch Schadstoffe belastet. Sie gelangen über Luft oder durch Klärschlamm unkontrolliert in Boden und Pflanzen. Der Landwirt kann nichts dagegen tun. Auch er ist Betroffener der zunehmenden Umweltbelastung.Aber auch die Landwirtschaft selbst trägt durch ihre Produktionsweise, die in den letzten Jahren in ungeheurer Weise an Intensität zugenommen hat, zu Belastungen bei. Der Einsatz von chemischen Pflanzenbehandlungsmitteln gehört zweifellos zu den die Umwelt am stärksten belastenden Faktoren in der Landwirtschaft. Wert und Risiko liegen beim Einsatz chemischer Behandlungsmittel eng beieinander. Um Nutzen und Schaden des Einsatzes dieser Mittel in ein ökologisch vertretbares und ökonomisch zumutbares Verhältnis zu bringen, bedarf es einer erheblichen Verschärfung des geltenden Rechts: Die Diskussion über die Chemie in der Landwirtschaft sollte — hier stimme ich der kürzlich veröffentlichen Denkschrift der Evangelischen Kirche zu — ohne Vorurteile und sachbezogen geführt werden.
Wenn ich mir allerdings den Gesetzentwurf der Bundesregierung ansehe, so komme ich leider zu dem Ergebnis, daß er mir mehr interessenbezogen vorkommt. Die Bundesregierung war seit den Beratungen des Bundestages am 7. Oktober des vergangenen Jahres recht lange mit ihrem eigenen Gesetzentwurf beschäftigt, der 42 Paragraphen enthält. In insgesamt 53 Stellungnahmen hat der Bundesrat um Änderungen und weitere Überprüfungen gebeten. 31mal hat die Bundesregierung in ihren Gegenäußerungen den Vorschlägen des Bundesrats zugestimmt. Zwölfmal wurde eine weitere Prüfung im Gesetzgebungsverfahren zugesichert. Ich führe diese Daten auf, weil ich der Meinung bin, daß sie deutlich zeigen, daß man sich im Regierungslager über die eigentliche Zielrichtung nicht einig oder nicht klar war.
Wir meinen auch, daß nationale Regelungen eine entsprechende Absicherung und Koordinierung im Rahmen der EG finden müssen, weil nationale Maßnahmen sonst zumindest störanfällig werden. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie in den zuständigen Gremien der EG mit Entschiedenheit gemeinsame Regelungen anstrebt; denn Umweltpolitik wird im europäischen Raum nur in recht unzureichendem Maße sichtbar gemacht.
Ich habe schon zum Ausdruck gebracht, daß wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung und ihre Gegenäußerungen zu den Stellungnahmen des Bundesrats skeptisch betrachten und daß wir meinen, daß noch einige Dinge umgeschrieben werden müssen. So fehlen im Regierungsentwurf wichtige Regelungen, ohne die das zur Debatte stehende Gesetz nach unserer Meinung ein Torso bleiben muß:Erstens. Der nach dem Wortlaut des vorliegenden Entwurfs formulierte Zweck des Gesetzes spiegelt nicht die Intentionen meiner Fraktion wider. Wir wollen ein Gesetz, dessen Hauptzweck der Schutz von Mensch und Tier und Umwelt vor den Gefahren der Anwendung von jedweden Pflanzenbehandlungsmitteln ist.
Daß die Bundesregierung diesen Aspekt in § 1 ihres Entwurfs erst an vierter Stelle erwähnt, noch hinter den Schäden durch den Bisam, halten wir für sehr seltsam und verfehlt.
Zweitens. Durch das Gesetz müßte ein obligatorischer Sachkundenachweis für alle in diesem Bereich Betroffenen eingeführt werden, also für Hersteller, Händler und Anwender. Die Notwendigkeit derartiger Maßnahmen wurde nicht zuletzt kürzlich durch den Lindan-Unfall in der Nähe von Bayreuth drastisch vorgeführt.
Drittens. Eingeführt werden müßte auch eine obligatorische Typeneignungsprüfung, eine Typenzulassung und ein Geräte-TÜV für alle Geräte, mit denen Pflanzenschutzmittel ausgebracht werden.Viertens. Es müssen dringlichst Exportregelungen getroffen werden, die es verhindern, daß bei uns produzierte Pflanzenbehandlungsmittel Gesundheit und Leben Zehntausender von Menschen
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4918 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Kißlingerin den Anwenderländern, insbesondere der Dritten Welt, gefährden.
Daß wir so auch vor gefährlichen Reimporten geschützt sind, macht diese Forderung noch dringlicher. Die butterweiche Kann-Bestimmung des § 20 Abs. 3 ist bestenfalls eine Augenwischerei.Fünftens. Als letzter Punkt in diesem Zusammenhang soll die Frage einer Gefährdungshaftung analog zum Arzneimittelgesetz erwähnt werden. Wir sind der Auffassung, daß eine solche Bestimmung aufgenommen werden muß, um erstens Hersteller und Einführer von Pflanzenbehandlungsmitteln zu noch größerer Sorgfalt schon beim Inverkehrbringen zu veranlassen und zweitens die Anwender haftungsrechtlich noch besser zu schützen.Einige aus unserer Sicht unverzichtbare Bestandteile eines sinnvollen Pflanzenbehandlungsmittelgesetzes sind zwar im Entwurf der Bundesregierung oder in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrats aufgeführt, wir halten sie aber zum Teil für unzureichend.Erstens. So fordert der Bundesrat, daß Herbizide außerhalb landwirtschaftlich, forstwirtschaftlich oder erwerbsgärtnerisch genutzter Flächen nicht angewandt werden dürfen. Die SPD-Fraktion hält das für eine richtige Forderung und wird auf diesen Punkt insbesondere deshalb achten, weil die Bundesregierung eine Überprüfung im weiteren Verfahren zugesagt hat.Zweitens. Mit dem Bundesrat ist meine Fraktion der Meinung, daß es keine Ausnahme von Anwendungsverboten für Bundesfernstraßen, Bundeswasserstraßen, Bundesbahnlinien sowie auf Flugplätzen und militärisch genutzten Freiflächen geben darf,
wie es der Regierungsentwurf leider vorsieht.Drittens. Eine Überprüfung zugesagt hat die Bundesregierung auch in der Frage, ob behandeltes Saat- und Pflanzgut den Pflanzenbehandlungsmitteln gleichzustellen ist. Auch dieser Punkt wird unsere besondere Beachtung finden.Viertens. Wir fordern mit dem Bundesrat, daß das Umweltbundesamt bei der Beurteilung der schädlichen Auswirkungen von Pflanzenbehandlungsmitteln auch den Wirkungszusammenhang mit dem Boden berücksichtigt.Fünftens verlangen wir generell eine Verschärfung der Zulassungsbedingungen für neue Pflanzenbehandlungsmittel.
Anläßlich der Behandlung des vorliegenden Gesetzentwurfs im Bundesrat hat der Parlamentarische Staatssekretär Gallus gesagt, daß sich die Bundesregierung von niemandem darin übertreffenlasse, Ökonomie und Ökologie in das richtige Verhältnis zu bringen.
— Kollege Eigen, die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Wir meinen, daß auch dieses Gesetz dazu beitragen müßte, zu verhindern, daß unsere unausbalancierten Agrarökosysteme immer anfälliger werden und nach immer mehr chemischem Pflanzenschutz verlangen. In den letzten acht Jahren hat z. B. die dem Boden zugeführte reine Pestizidwirkstoffmasse um über 50% zugenommen; jährlich sind das 32 000 t. Wenn dabei ein Schädling tödlich getroffen werden soll, müssen unter Umständen gleichzeitig bis zu 1 000 andere Organismen sterben. Unsere Akker leben aber nur, wenn unsere Böden leben.
Unsinnige Überproduktion um jeden Preis hat ganz und gar nichts mit dem richtigen Verhältnis von Ökonomie und Ökologie zu tun.Noch eines von vielen Beispielen, die man anführen könnte: Wenn Sie das Kohlekraftwerk Buschhaus anlaufen lassen, erzeugen Sie in diesem Land 0,4 % Strom, aber Sie haben die größte Dreckschleuder mit 6% Schwefeldioxidausstoß in Betrieb gesetzt. Die Berliner werden sich über den neuen Smog freuen! Auch das ist ein „schönes", „richtiges" Verhältnis. Die Menschen in unserem Land haben kein Verständnis dafür, daß in vielen Bereichen sehr vordergründiges Wirtschaftsdenken über zwingendes Handeln im umweltpolitischen Bereich gestellt wird.
Diese Regierung ist zur „Wende" mit dem hohen Anspruch angetreten, für die Zukunftssicherung unserer Menschen zu sorgen. Das heute zur Debatte stehende Gesetz könnte mit dazu dienen. Bis zur Stunde aber haben Sie auf fast allen Feldern nur für Verunsicherung gesorgt.
Verspielen Sie nicht weiter das Vertrauen unserer Bürgerinnen und Bürger! Das würde uns allen nicht guttun und auch nicht unserer Demokratie.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bredehorn.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kißlinger, Sie haben gesagt, ein Hauptzweck dieses Gesetzes müsse der Schutz von Mensch, Tier, Pflanze und Boden sein. Ich stimme Ihnen zu; wir sehen das auch so. In den kommenden Beratungen im Fachausschuß haben
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4919
Bredehornwir sicherlich Gelegenheit, miteinander um den besten Weg zu ringen,
und ich bin davon überzeugt, auch wenn Ihnen augenblicklich noch der Glaube an uns fehlt, werden Sie ihn im Anschluß an diese Beratungen haben.Bevor ich nun auf das Pflanzenschutzgesetz näher eingehe, einige Sätze zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen: Da das Internationale Übereinkommen in seiner neuen Form noch mehr als bisher dazu beiträgt, daß die Züchter zusammenrücken, daß Sie sich jeweils gegenseitig besser über die Züchtungsentwicklungen in Ihren Ländern informieren und daß damit eventuell doppelte Forschungsarbeit verhindert wird, werden wir diesem Gesetz zustimmen. Die rasanten Fortschritte in der Züchtung und in der Gentechnologie, die wir bereits in den vergangenen Jahren verzeichnen konnten, werden sich in der Zukunft fortsetzen.Verfolgt man in den Medien die Darstellung von Erfolgen von Züchtungsexperimenten, an die bisher keiner gewagt hat zu glauben, wird einem — zumindest mir — fast unheimlich zumute. Hier muß die Politik davon ausgehen können, daß sich unsere Forscher immer verantwortungsbewußt verhalten und sich ihrer ethischen Verantwortung bewußt sind.Die Ertragssteigerung galt lange Zeit als ein Meilenstein des züchterischen Erfolges. Angesichts der derzeitigen Getreideüberschüsse müssen wir in Westeuropa diese Richtung der Züchtung sicher neu überdenken. Bei der Produktion sollte auf letzte Intensitäten verzichtet werden. Heute müssen wir in der Forschung mehr auf die Produktqualität ein besonderes Schwergewicht legen.Ein weiterer Meilenstein und für die agrarische Fortentwicklung in der Dritten Welt von besonderer Bedeutung sind die Resistenzzüchtungen. Hier, so meine ich, gewinnen die alten Landsorten eine neue Wertschätzung. Bei dem Aufbau und weiteren Ausbau von internationalen Genbanken sollte ihnen besondere Aufmerksamkeit gelten.Wenn ich jetzt zur Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes komme, so sage ich Ihnen anfangs mit Paracelsus nichts Neues: Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist. Trotz häufigen Zitierens verliert dieser Ausspruch nichts an seiner Aktualität. Chemischer Pflanzenschutz ist dann sinnvoll, wenn keine Schädigungen auftreten. Das reicht von der Rückstandsproblematik in der Nahrungsmittelkette bis hin zu Belastungen der Umwelt.Ich möchte mich zuerst den einzelbetrieblichen und Detailaspekten zuwenden, um hinterher auch noch auf die internationalen Verflechtungen im Handel mit Pflanzenschutzmitteln einzugehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der der Kontrolle.Sie können sich vorstellen, daß es gerade für mich als Liberalen von besonderer Bedeutung ist, zu entscheiden, inwieweit Kontrollen notwendig oder gar unerläßlich sind, aber auch zu entscheiden,wo sie überflüssig sind. Die Frage der Kontrollen ist, wie mir scheint, ein ganz heißes Eisen bei der jetzigen Gesetzesnovelle. Das betrifft sowohl die Herstellung als auch Anwendung und Vertrieb.Eine Vielzahl von Gesetzen haben wir und unsere Vorgänger an dieser Stelle verabschiedet, um eine Schädigung von Pflanzen, Tieren, von Menschen und der Umwelt zu verhindern. Da ist das Chemikaliengesetz. Es gibt die Höchstmengenverordnung, das DDT-Gesetz, Anwendungsverbote und -beschränkungen, eine Bienenschutzverordnung, einige Landesverordnungen über Gifte und schließlich auch das Lebensmittelgesetz. Als Liberaler sage ich aber ganz deutlich: Wir sollten bei gesetzlichen Regelungen, die dann mangels finanzieller oder sachspezifischer Möglichkeiten nicht richtig vollzogen werden können, sehr skeptisch sein. Wir sollten uns allerdings intensiv mit der Frage befassen, wie es zu dem Umfang des heutigen Einsatzes von Agrarchemikalien kam und wie man wirtschaftliche Bedingungen, verfestigte Auffassungen so ändern kann, daß das Unerwünschte unterbleibt. Dazu gehört z. B. auch die dringende Forderung, wieder mehr Pflanzenarten für die Landwirtschaft rentabel zu machen, um gesündere Fruchtfolgen zu bekommen.Weiterhin möchte ich darauf hinweisen, daß schon heute manches besser sein könnte, wenn die personellen und finanziellen Voraussetzungen im öffentlichen Bereich pflanzenschutzoptimal wären. Es werden immer wieder neue Forderungen bezüglich Überprüfungen gestellt, die die vorhandenen Kapazitäten binden und kaum noch Möglichkeiten lassen, sich intensiver mit zukunftsträchtigen, praxisorientierten Maßnahmen zur Verringerung des Einsatzes von Agrarchemikalien zu befassen.Für meine Fraktion fordere ich eine Intensivierung der Forschungsarbeiten vor der Zulassung eines Pflanzenschutzpräparates sowie eine Intensivierung der Beratertätigkeit bei dem Anwender, nämlich dem Landwirt. Gerade in der Forschung vor der Zulassung eines Pflanzenschutzmittels sehe ich ein großes Aufgabenfeld für behördliche Tätigkeit, um Gefahrenquellen frühzeitig zu erkennen. Je nach Pflanzenschutzmittel wird derzeit eine Entwicklungsphase von zirka acht bis zehn Jahren angegeben. Man kann in dieser Zeit sicher Schadensursachen minimieren, aber beseitigen wird man sie nie; denn der Stand der Forschung, die Erkenntnisse der Forschung sind ständig im Fluß. Beispiele aus jüngster Vergangenheit zeigen uns, daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu neuen gesetzlichen Entscheidungen führen können.Nach wie vor ist ein Zulassungszeitraum von zehn Jahren im Gespräch. Dieser Zeitraum ist nach Ansicht der Liberalen aus folgendem Grund zu verkürzen: Wenn ein Präparat unbedenklich ist, wird es nach den Routinekontrollen — sagen wir, z. B. nach acht Jahren — eine weitere Zulassungsfrist bekommen. Wenn es allerdings Gefahrenursachen in sich birgt, ist es sinnvoll, dieses Produkt vor Ablauf einer zehnjährigen Frist aus dem Markt zu nehmen.
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4920 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
BredehornNun zu den Benutzern von Pflanzenschutzmitteln, hier zuallererst zu den Landwirten. Ich warne davor, den Landwirten durch eine restriktive Gesetzesregelung neue Kosten aufzubürden. Daß der inländische Absatz an Wirkstoffmengen im Pflanzenschutzbereich in den letzten fünf Jahren gesunken ist, zeigt doch zweierlei. Zum einen sind die Landwirte noch umweltbewußter geworden, zum anderen aber kalkulieren sie mit einem noch spitzeren Bleistift als früher. Schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen wird der Landwirt beim Einkauf seiner Pflanzenschutzmittel nach der Devise „soviel wie nötig, aber so wenig wie möglich" verfahren.Nach Pflanzenschutzpräparaten fragen aber nicht nur die Landwirte, sondern auch — und das in zunehmendem Maße — die Hobbygärtner. Herr Weiger vom Bund Umwelt und Naturschutz Deutschland behauptet, daß in Kleingärten dreimal soviel Pestizide pro Quadratmeter gespritzt werden wie auf landwirtschaftlichen Nutzflächen. Ich kann das nicht nachvollziehen, aber wenn das Spritzen im nicht gewerbsmäßigen Gartenbau derart zunimmt, muß der Gesetzgeber darauf reagieren.Wie es in der Gesetzesvorlage steht, sollte die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln nach guter fachlicher Praxis erfolgen. Ich habe Zweifel, ob dies bei Klein- und Hobbygärtnern immer der Fall ist.Ich habe bei meinen Besuchen in landwirtschaftlichen Absatzgenossenschaften in Stadtrandgebieten immer wieder gehört, daß Käufer aus diesem Bereich teilweise nur sehr geringe Kenntnisse über die Möglichkeiten und über die Gefahren der Pflanzenschutzmittel haben. In vielen dieser Unternehmen werden die Käufer allerdings sehr sachkundig beraten. Dies ist aber leider nicht überall der Fall.Nun will ich keinen Landwirt davon ausnehmen, daß auch er Anwendungsfehler bei der Verwendung von Pflanzenschutzpräparaten macht.
Aber neben seiner Ausbildung und seiner ökonomischen Vorsicht wird er auch noch angehalten, seine Ausbringungsgeräte regelmäßig zu überprüfen. All dies ist bei Kleingärtnern nicht der Fall.Ich meine, man sollte dieser Zielgruppe in Gartencentern und ähnlichen Verkaufsstätten Kleinpackungen mit biologischen Wirkstoffkombinationen, die natürlich auch einen höheren Aufwand bedingen, anbieten. Meines Erachtens läßt sich aber per Gesetz nicht anordnen, daß in Kleingärten keine chemischen Pflanzenschutzmittel benutzt werden dürfen. Wie wollen Sie, meine Damen und Herren, ein solches Verbot kontrollieren?Der Einsatz von Herbiziden in Privatgärten ginge allerdings meiner Meinung nach deutlich zurück, wenn diese nicht mehr mit Düngemitteln gemischt angeboten würden.In der Gesetzesnovelle wird auch die Kontrolle von Ausbringungsgeräten angesprochen. Es heißt dort, daß jede Landesregierung entscheiden kann, ob sie eine Gerätekontrolle obligatorisch einführt oder nicht. Dies halte ich allerdings für die schlechteste aller Lösungen. Eine solche Regelung mußbundesweit gelten. Die Überprüfung sollte allerdings nicht dem TÜV, sondern den einzelnen Landmaschinenwerkstätten überlassen bleiben, die hier bisher immer gute Arbeit geleistet haben.Über 70% der Pflanzenschutzmittel werden ins Ausland exportiert. Das ist ein so hoher Prozentsatz, daß wir nicht achtlos und verantwortungslos eine gesetzliche Grauzone entstehen lassen dürfen. Ich meine, als hockentwickelte Industrienation haben wir eine große — wenn Sie so wollen: sogar ethische — Mitverantwortung für den Verbleib dieser Pflanzenschutzmittel. Es darf nicht sein, daß wir die Dritte Welt sozusagen als Ausweichbahnhöfe für Mittel nutzen, die bei uns verboten sind.
Auf der anderen Seite werden wir den klimatischen Voraussetzungen der Agrarproduktion in den Entwicklungsländern nicht gerecht, wenn wir dort dieselben Verbote auferlegen wie hier. Es ist ein Dilemma, daß nur wenige Länder der Dritten Welt überhaupt über Pflanzenschutzregelungen verfügen. Hier gilt es, den Sachverstand unserer Pflanzenschutzexperten anzubieten, damit ein korrekter Umgang mit diesen Mitteln erfolgt. Der Vorwurf, man erhalte nicht abgebaute Rückstände per Futtermittel oder Lebensmittel wieder wie einen Bumerang zurück, ist berechtigt. Diese Gefahr sehe ich jetzt deutlicher denn je; denn wir haben gerade in Niedersachsen den Fall von verseuchter Milch gehabt.Deshalb fordere ich hier noch einmal ganz eindringlich, zukünftig die Einfuhr von Futtermittelrohstoffen nur dann zu gestatten, wenn in eingehenden Untersuchungen die Unbedenklichkeit für die Verwendung des Rohstoffes als Futtermittel feststeht. Denn was nützen uns ein strenges deutsches Lebensmittelgesetz oder ein perfektes Pflanzenschutzgesetz, wenn sie von außen unterlaufen werden können?Am Schluß meiner Ausführungen möchte ich noch einmal kurz die Forderungen der FDP darstellen. Uns scheinen die seit 1978 begonnenen Maßnahmen des integrierten Pflanzenschutzes langfristig ein gangbarer Weg zu sein, mögliche Auswüchse eines Zuviel an Chemie im Pflanzenschutz zu unterbinden. Dieser integrierte Pflanzenschutz muß nach Kräften weiterentwickelt werden. Seine Einführung in die Praxis muß auf breiter Basis gefördert werden. Wir meinen aus Gründen des Verbraucherschutzes, daß die Kontrollen bei Reimporten in unser Land verstärkt werden müssen.Wir wollen bei der Kostenausdehnung, die dieses Gesetz mit sich bringt, keine Ausweitung der Bürokratie. Wenn finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, dann müssen diese in die Beratung und in die Forschung einfließen. Wir fordern eine Verringerung der chemischen Pflanzenschutzmittel im nicht gewerbsmäßigen Gartenbau genauso wie in öffentlichen Grünanlagen und im Straßenbaubereich. Diese Hauptforderungen werden wir in die Beratung in den zuständigen Ausschüssen einbringen und hoffen auf Ihre Unterstützung.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4921
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jannsen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Manchmal kommen uns die Zeitereignisse zur Hilfe, auch wenn sie besonders negative Lehrmeister bilden. Zwei große Skandale, die in den letzten Wochen Schlagzeilen machten, haben unmittelbar mit dem Thema Pflanzenschutzgesetzgebung zu tun. Der eine ereignete sich auf dem Bahnhof von Fulda. Hier wurden Waggons der Firma Bayer sichergestellt, die von den DDR-Behörden auf dem Transport nach Polen zurückgewiesen wurden. Aus diesen Waggons tropfte ein offensichtlich hochgiftiges Pflanzenschutzmittel, dessen Name bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten wird. Bis heute wissen wir nicht, wer der Auftraggeber dieses Transportes war, wer die skandalöse, ja kriminelle Verpackung zu verantworten hat, um welches Mittel es sich handelt. Wir haben sogleich die Frage gestellt, ob es sich dabei um ein Mittel handelt, das bei uns vielleicht verboten ist, das aber der polnischen Landwirtschaft noch als Segnung der Firma Bayer und des goldenen Westens angedient werden soll.
Bis heute wissen wir nicht, welche Schäden dieses Pflanzenschutzmittel bei seinem unverantwortlichen Transport hervorgerufen hat.Zweites Beispiel: In den schwergeschädigten bayerischen Wäldern trat in diesem Jahr verstärkt ein Borkenkäferbefall auf. Darauf hat das bayerische Wirtschaftsministerium kostenlos Lindan — ausgerechnet Lindan — an die Waldbauern ausgegeben. Als Nexit und Ernzin nicht nur in Bayern an Waldbesitzer verschenkt, sondern z. B. auch von Hubschraubern im Harz und in Baden-Württemberg ausgestreut, wird es auf die billigste Art dazu beitragen, das hochgefährdete Ökosystem Wald vollends zu zerstören. Lindan ist das kostengünstigste, am schlechtesten abbaubare und bienengefährlichste Insektizid, das bei uns zugelassen ist. Lindan ist eine der Hauptursachen der Verseuchung von Frauenmilch, Lindan ist einer der Hauptbestandteile, der zur Belastung der reimportierten Futtermittel geführt hat.Die lawinenartige Vermehrung der Borkenkäfer in unseren Wäldern ist eindeutig eine Folge des Waldsterbens. Jeder nachdenkliche Mensch weiß das. Die massenhafte Ausbringung von Lindan wird ein lawinenartiges Sterben von Kleinlebewesen und Vögeln im Wald bewirken. Die ersten Vergiftungsfälle an Waldbauern in Bayern sind bekanntgeworden.
Der kriminelle Leichtsinn dieser ganzen Maßnahme wird auch dadurch unterstrichen, daß weder Behandlungsmöglichkeiten noch Behandlungsinstitute bekannt sind. Dafür beschimpft die herstellende Firma die geschädigten Bauern, sie hättenselbst leichtsinnig gehandelt, was erwiesenermaßen nicht stimmt.Die Borkenkäfer sind keine Erfindung des Jahres 1984. Immer wieder hat es periodisch auftretenden Borkenkäferbefall gegeben, und seit Jahrzehnten und Jahrhunderten sind die Menschen damit fertiggeworden.
Die einzige wirklich wirkungsvolle Maßnahme dagegen ist es, kranke, befallene Bäume zu fällen, zu entrinden und auszubrennen. Es wäre ja möglich, war offensichtlich auch angeboten, etwa die Bundeswehr zu solchen Einsätzen heranzuziehen, wenn man es anders nicht schafft. Dies wäre mal eine sinnvolle Beschäftigung für die Bundeswehr, die wir GRÜNEN ausdrücklich begrüßen würden.
Aber auch sonstige Möglichkeiten der Schädlingsbekämpfung, z. B. biologische Behandlungsmethoden oder Lockstoffallen, wurden nicht einmal erwogen,
selbst wenn sie von der Biologischen Bundesanstalt bereits erprobt wurden.Diese beiden Fälle, der Bayer-Skandal an der deutschen Grenze und der Lindan-Skandal in den bayerischen und niedersächsischen Wäldern, zeigen eindeutig, womit wir es bei dieser Novelle des Gesetzes zu tun haben, die sich schönrednerisch Pflanzenschutzgesetzgebung nennt. Wir GRÜNEN können es nicht akzeptieren, die chemischen Mittel, um deren Einsatz es hier geht, als Pflanzenschutzmittel zu titulieren.
Der einzig zutreffende Namen für diese chemischen Produkte ist von unseren Freunden in Brasilien geprägt worden. Es sind weder Pflanzenschutzmittel noch Pflanzenbehandlungsmittel, es sind Agrargifte. Das klingt nicht schön, entspricht aber sehr viel mehr der Wahrheit.Wir haben heute die erste Beratung dieses Gesetzes. Darauf haben wir uns vorbereitet, und wir nennen hier die Forderungen, die wir zu stellen haben:Erstens. Es muß ein Produktions- und Exportverbot für solche Agrargifte geben, die in unserem Land und in anderen Ländern bereits verboten sind.
Zweitens. Diese Agrargifte müssen umfassend auf ihre ökotoxische Wirkung überprüft werden.Drittens. Diese Agrargifte
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4922 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Dr. Jannsengehören keinesfalls in die Hand von Laien und haben in Privat- und Kleingärten überhaupt nichts zu suchen.
— Herr Eigen, Sie sind nicht mein Zensor.
Viertens. Als Alternative zum Einsatz dieser Agrargifte ist biologischen und mechanischen Unkrautbekämpfungsmitteln der absolute Vorrang in der Forschung und in der Lehre und in der Ausbildung einzuräumen.
Fünftens. Der Anwenderschutz muß umfassend ausgebaut werden — sowohl bei uns
als insbesondere auch für den Gebrauch der Mittel in der Dritten Welt. Dabei gebührt der Aufklärung der Bevölkerung darüber, daß es sich um gefährliche und problematische Gifte handelt, zu denen es viele gute Alternativen gibt, absoluter Vorrang.Für die Umweltschutzbewegung und die GRÜNEN ist dieses Gesetz von ganz besonderer Bedeutung. Wir werden im Ausschuß und in der Öffentlichkeit alles tun, um Sie zu überzeugen, daß auf kaum einem Gebiet die Notwendigkeit einer Alternative so dringend ist wie auf dem Gebiet des Umgangs mit chemischen Agrargiften. Soweit zu der Novelle zur Pflanzenschutzgesetzgebung.Noch einige Bemerkungen zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen. Die Hauptbegründung, warum wir diesen Gesetzentwurf zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen ablehnen, liegt darin, daß die Entwicklungsländer gegenüber den entwickelten Ländern durch dieses Übereinkommen in einen nicht aufholbaren Rückstand und dadurch längerfristig in eine nahezu totale Abhängigkeit beim Saatgut geraten.Durch die im Übereinkommen vorgesehene Möglichkeit, Wildsorten quasi patentieren zu lassen, stehen für Länder mit entwickelter Saatgutindustrie alle Türen offen, in anderen Ländern Pflanzen zu sammeln und unter Schutz stellen zu lassen. Da gerade in den Entwicklungsländern noch die größte Artenvielfalt besteht, sind diese Länder von diesem Raub ihrer Ressourcen in ganz besonderer Weise betroffen.Ein Beispiel dafür: Die überwältigende Mehrheit der in den USA auf Zierpflanzen gewährten Patente bezieht sich auf in Entwicklungsländern entdeckte Wildpflanzen. Der genetische Reichtum der Ursprungsländer, den diese gerade erhalten haben, weil sie keine agrarindustrielle Landwirtschaft haben, wird hierdurch enteignet.Doch diese Enteignung geht noch weiter: Nicht nur die im Handel befindlichen Sorten stehen unter Schutz, sondern auch deren Vorstufen: die Kreuzungssorten. Zuchtmöglichkeiten, falls daran Interesse besteht, hat also nur noch der Inhaber der Schutzrechte. Hier geht also das Patentrecht für Pflanzen weit über das industrielle Patentrecht hinaus, in dem nur fertige Produkte, nicht aber deren Grundstoffe geschützt sind.Die Gefährlichkeit dieses Gesetzes ist die fehlende Garantie des freien Zugangs zu den genetischen Reserven, eine Garantie, die nur durch eine internationale Genbank unter supranationaler Aufsicht — z. B. durch die FAO — zu erreichen wäre. Im Augenblick besteht aber die Gefahr, daß solche Genbanken, beispielsweise in den USA, in der Privatverfügung von Konzernen angelegt werden und von diesen auch als Eigentum behalten und nicht für alle zugänglich werden.Auf der FAO-Konferenz 1983 in Rom versuchten die Industrienationen — allen voran die USA, die Schweiz und Japan, alles Länder mit starken Saatgutkonzernen — die grundsätzliche Forderung der Entwicklungsländer nach einer internationalen Genbank unter Aufsicht der FAO zu blockieren. Doch diese Forderung der Entwicklungsländer konnte durchgesetzt werden — ein außerordentlich wichtiger Erfolg zur Wahrung ihrer natürlichen Reichtümer.Solange aber noch keine gleichberechtigten Möglichkeiten für Entwicklungsländer und Industrienationen bestehen, sind wir strikt gegen ein solches Internationales Übereinkommen, durch das bestehende Ungerechtigkeiten fixiert und zukünftige vorprogrammiert werden.Meine Damen und Herren, früher war der Saatgutpreis etwa gleich dem Getreidepreis. Vielleicht ist er es auch heute noch. Stellen Sie sich aber einmal die Frage, zu welchen Preisen Saatgut verkauft werden würde, wenn hier eines Tages vollständige Abhängigkeit von den großen Saatgutkonzernen erreicht wäre. Wenn Sie diese Frage beantworten, werden Sie begreifen, warum wir dieses Gesetz ablehnen müssen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und zur Schlußabstimmung über den Punkt 9 der Tagesordnung. Ich rufe das Gesetz mit seinen Artikeln 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei einigen Gegenstimmen angenommen.Zu Punkt 10 der Tagesordnung schlägt der Altestenrat Überweisung des Gesetzentwurfes an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Hinzu kommt gemäß § 96 der Geschäftsordnung Überweisung an den Haushaltsausschuß. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4923
Vizepräsident Frau RengerIch rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Seefischereigesetzes— Drucksache 10/1021 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 10/1335 —Berichterstatter: Abgeordneter Eigen
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat für diese Aussprache einen Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wünscht der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eigen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Seefischereigesetz soll das Seefischereivertragsgesetz von 1971 abgelöst werden. Es geht bei diesem Gesetz um die Kontrolle der jeweiligen Fischereizone, unterschiedlich, ob die Fischer eine EG-Flagge oder eine Drittlandsflagge führen. Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat in den Beratungen die Interessen der deutschen Fischerei selbstverständlich in den Vordergrund gestellt und aus diesem Grund die Geldbuße für eine Ordnungswidrigkeit von früher bis zu 50 000 DM auf bis zu 150 000 DM erhöht.Der Ernährungsausschuß hat darüber hinaus einvernehmlich festgestellt, daß die Kontrolle der Fischerei in den Küstenmeeren so durchgeführt werden sollte, daß die Belastung der Fischer ein vernünftiges Maß behält. Hier sollten die verschiedenen Kontrollinstanzen des Bundes, der Länder, des Bundesgrenzschutzes etc. besser koordiniert werden, als es bisher geschehen ist. Die Erhöhung der Geldbuße bei Ordnungswidrigkeiten soll einen besseren Schutz der Fischereibestände im Küstenmeer gewährleisten. Wir wissen, daß auch befreundete EG-Nationen teilweise in der für sie verbotenen Fischereizone mit besonders schwerem Geschirr sehr rücksichtslos vorgegangen sind. Hier sollen die Interessen der deutschen Fischerei besser gewahrt werden.Ich möchte hierzu in aller Klarheit und Deutlichkeit unseren Fischern sagen, daß sie keine potentiellen Verbrecher sind, und ich fordere die Kontrollorgane des Bundes und der Länder, aber auch die Kontrollorgane anderer Länder herzlich, aber dringend auf, unsere Fischer vernünftig zu behandeln, damit sie nicht das Gefühl haben müssen, als wären sie potentielle Verbrecher. Ich höre die Klagen unserer Fischer. Das sind schwer arbeitende Bürger unseres Landes, die unseren Schutz vor solchen Verdächtigungen dringend brauchen. Wir geben ihnen diesen Schutz mit dieser Aussage.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit diesem Gesetz — da nun einmal über Fischer, Fischerei und Fischereigesetz diskutiert wird — auch ein paar Worte zur Situation der Fischerei im allgemeinen sagen. Wir anerkennen ausdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung. Der hier sitzende Staatssekretär Herr von Geldern ist daran sehr beteiligt gewesen, daß im Rahmen der Verhandlungen mit Dänemark und Grönland Auffangmöglichkeiten für die deutsche Fischerei erreicht wurden. Wir wollen nur hoffen, daß diese Fischereiquoten langfristig genug angelegt sind. Sie sollten nach unserer Meinung mit dem Status Grönlands zur Europäischen Gemeinschaft — nachdem es als Mitgliedsland ausgeschieden ist — gekoppelt sein.Die Kutterfischerei in Ost- und Nordsee steht nach wie vor vor allergrößten Problemen, zumal jetzt auch noch die Krabbenfischerei seit einem Jahr in allergrößter Notlage ist, da die Krabbenbestände katastrophal zurückgegangen sind. In der Ostsee besteht nach wie vor das Handicap der mangelnden Fischereizonen für die deutsche Kutterfischerei. Wir sollten gemeinsam alles tun — das sage ich jetzt besonders auch an die Adresse der SPD —, über parteipolitische Grenzen hinweg, um die Fischereizonen für unsere Fischer in der Ostsee zu erweitern. Dazu sollte mit der DDR und Polen nicht spektakulär, sondern erfolgreich verhandelt werden. Vordergründige politische Effekthascherei hilft unseren Fischern überhaupt nicht!Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU wird sich, wie bisher, auch weiterhin mit aller Kraft und Energie dafür einsetzen, daß auch deutsche Fischer ein Lebensrecht erhalten. Solange die Notlage bei unseren Fischern besteht, wird sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wie im Haushaltsjahr 1984, auch in Zukunft für beide Bereiche einsetzen, für die Hochseefischerei wie für die Küstenfischerei. Ich glaube, wir haben dies auch dadurch bewiesen, daß wir im Haushalt 1984 alles herausgekämmt haben, was nur möglich war, um die Förderung der Fischerei zu verstärken. Dabei haben wir auch sichergestellt, daß die Küstenfischerei mit jeweils 25 % an den Mitteln beteiligt ist, das heißt bei 12 Millionen DM mit 3 Millionen DM, weil wir ganz genau wissen, daß es sich hier um einen Berufsstand handelt, meine Damen und Herren, der mittelständisch strukturiert ist, dessen Menschen fleißige Arbeit leisten, die überhaupt keine Schuld an den Problemen haben, in denen sie stecken.Weil wir hier eben über Pflanzenschutz gesprochen haben, möchte ich ausdrücklich sagen, daß wir alles unternehmen wollen — wir, die Bundesregierung, wir, die Fraktionen der CDU/CSU und FDP —, daß sich die Umweltbelastungen nicht noch negativer auf die Meere, sprich hier Nordsee und Ostsee vor allen Dingen, auswirken, als es bisher schon der Fall ist.
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4924 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
EigenWir meinen, daß auch einige große Städte, die im Bereich des Meeres liegen, die langfristig sozialdemokratisch regiert sind, eigentlich noch wesentlich mehr tun müßten, um bei der Saubermachung der Nordsee zum Beispiel noch energischer mitzuhelfen. Wir alle wissen, welcher Nachholbedarf hier zum großen Teil besteht.
— Frau Blunck, Sie wissen das auch ganz genau.Wir fordern auch das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen auf, noch energischer mit der DDR zu verhandeln in bezug auf die Verschmutzung letztlich der Weser, letztlich der Elbe. Aber es kommen auch aus Hamburg noch zusätzliche Frachten; Sie alle wissen das ganz genau. Mein Appell ging eben an Hamburg.
— Wenn Hamburg so gut im Umweltschutz wäre wie die daneben liegenden Gebiete Schleswig-Holsteins, dann wäre der Nordsee mehr damit gedient, als wenn Sie hier auch noch versuchen, die Versäumnisse Hamburgs in dieser Hinsicht zu verteidigen.
Mein Appell, meine Damen und Herren Kollegen, geht an alle Anrainer sowohl der Nordsee als auch der Ostsee, in jeder Hinsicht — sei es Verklappung, seien es ungeklärte Abwässer, seien es zusätzliche Chemikalien —, für die See alles zu tun,
um unsere Seen wieder gesund zu machen. Die Landwirte von Schleswig-Holstein betreiben ihren Pflanzenschutz in der Form des integrierten Pflanzenschutzes. Darüber müßten Sie mal lesen und lernen, dann würden Sie hier nicht so etwas sagen. Aus Schleswig-Holstein kommen Pflanzenschutzgifte nicht in die Nordsee und nicht in die Ostsee; das kann ich Ihnen garantieren.
Dafür sind unsere Bauern viel zu klug und vor allen Dingen auch viel zu sehr Kaufmann, als daß sie unnötig Geld für Pflanzenschutzmittel ausgeben, die nicht der Pflanze zugute kommen und damit dem Ertrag, sondern die ausgewaschen werden und damit der See schaden.Ich sehe, ich habe noch zwei Minuten. Da möchte ich doch noch einmal in diesem Zusammenhang — ich habe den jetzt gefunden durch die Nordseereinhaltung, Frau Präsidentin — ein Wort zu meinem Vorredner in Sachen Pflanzenschutz sagen. Was man sich hier alles so anhören muß, wissen Sie!
Reine Polemik, nur unser Volk zu verunsichern, die Angst vor Giften zu schüren! Ich sage dagegen allen: Essen und trinken Sie, was in Deutschland vom fleißigen Bauern an Nahrungsmittel geschaffenwird! Wir vergiften unsere Kunden nicht. So blöd sind wir noch lange nicht, wie Sie immer glauben.
Die Menschen sind in den letzten 50 Jahren im Durchschnitt doppelt so alt geworden. Das liegt ja wohl nicht an den furchtbaren Giften im Pflanzenschutz.
Ich sage hier noch einmal mit aller Deutlichkeit: Ich lehne das Wort „Gift" in diesem Zusammenhang ab. Das ist eine Polemik. Entweder sagen Sie „Pflanzenschutzmittel", wie es im Gesetz steht, oder Sie sagen „Pflanzenbehandlungsmittel", dagegen habe ich auch nichts einzuwenden. Jedenfalls, neue Formeln aufzubringen, nur um unsere Bevölkerung zu verhetzen, das ist Brunnenvergiftung.
Ich sage noch einmal allen Verbrauchern: Lassen Sie sich nicht von diesen paar Leuten Ihr Leben vermiesen!Wenn Sie selbst ein schlechtes Leben führen wollen, tun Sie das, aber unsere Bevölkerung soll ihr Leben genießen dürfen.
Das Wort hat nun Frau Abgeordnete Blunck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es würde mich reizen, auf Herrn Eigen zu antworten,
aber ich glaube, man sollte es lassen, weil die Qualität eigentlich schon in Ihrem Zwischenruf mit dem süßen Gift enthalten war. Das ist die Schwierigkeit. Sie sollten sich überlegen, ob das richtig war.
Der vorliegende Gesetzentwurf macht im Grunde sehr froh; denn er vermittelt die Hoffnung, daß nun endlich eine Handhabe gegen die Raubfischerei von Fischereifahrzeugen fremder Staaten in unseren eigenen Fischereizonen möglich sein wird. Die Erinnerung an die dänische Gammelfischerei und die mit schwerem Fanggeschirr den Meeresboden umpflügenden und dann leider auch noch fliegenden — man sollte vielleicht fast sagen: fliehenden — Holländer ist uns allen noch gegenwärtig. Die katastrophalen Folgen dieser Art von Seefischerei kann jede Hausfrau am eigenen Portemonnaie spüren, wenn sie auf dem Markt Fisch kaufen will. Seezungen beispielsweise sind inzwischen teure, kaum bezahlbare Raritäten geworden,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4925
Frau Blunckallerdings nicht nur wegen der Praktiken der Fischerei, sondern auch wegen Eindeichungsmaßnahmen,
wegen der Verklappungen und wegen Verschmutzungen, die das ihre dazu beitragen.
Das Gesetz ermöglicht, daß diese Art unzulässiger Seefischerei zukünftig verhindert oder doch zumindest geahndet wird. Erfreulicherweise ist der Ausschuß dem Antrag der SPD-Fraktion gefolgt, die Höchststrafe für Verstöße gegen das Seefischereigesetz von 50 000 auf 150 000 DM heraufzusetzen.
Ob dieser Beitrag ausreichend sein wird, um jedem Fischer den wirtschaftlichen Anreiz zur Übertretung dieses Gesetzes zu nehmen, muß in Zukunft sehr genau beobachtet werden. Im Hinblick auf die Sicherung unserer Fischbestände und die Erhaltung der Zukunftschancen unserer Fischer wäre es in jedem Fall wünschenswert, daß mit der Verhängung der Höchststrafe nicht zimperlich umgegangen wird und daß die vorgesehenen Sanktionen dieses Gesetzes, wie Einziehung des Fanges und des Fanggeschirrs, voll ausgeschöpft werden.
Nach Auskunft der Küstenländer haben sich die Gerichte in der Vergangenheit damit nur sehr schwer getan. Offenbar ist den Richtern der Wert beispielsweise eines Seezungenfanges nicht ausreichend klar. Eine Ladung repräsentiert immerhin einen Wert von 200 000 bis 300 000 DM,
so daß bei den möglichen Sanktionen des Gesetzes immer noch die Verlockung bestehen könnte, angesichts des wirtschaftlichen Vorteils im wahrsten Sinne des Wortes im trüben zu fischen.Es bleibt zu hoffen, daß das Gesetz im Hinblick auf die Erhaltung von Fischbeständen nicht graue Theorie bleibt und seine Berechtigung nur mit Hilfe des Schlagwortes „mehr Bürokratie wagen" nachweisen kann.
Erhebliche Bedenken bestehen nämlich, ob die in § 6 des Gesetzes vorgesehene Überwachung der Fischerei in den deutschen Fischereizonen die notwendige Wirkung haben wird. Die vom Bund offensichtlich für die Ausübung der Überwachung vorgesehenen Behörden dürften, soweit es sich um Schutzboote und Forschungsfahrzeuge handelt, rein zahlenmäßig der Aufgabe nicht gewachsen sein. Soweit an den Zoll oder den Bundesgrenzschutz gedacht sein sollte, meine ich, daß es hier an den erforderlichen Kenntnissen fehlt. Wie einem Schreiben des Deutschen Fischerei-Verbandes an die Obleute der Fraktionen zu entnehmen ist, führt eine Fischereikontrolle durch Zoll und Bundesgrenzschutz nur zu Schwierigkeiten, da diese, soweit sie sich mit Fischereiaufgaben beschäftigen müssen, sachfremd sind und somit die Fischer mehr reizen als tatsächlich zu kontrollieren.Hier könnte übrigens die Bundesregierung von den Erfahrungen des preußischen Staates zehren, der im vorigen Jahrhundert glaubte, die Fischereikontrolle durch die Marine ausüben lassen zu können. Aber er hat sehr bald einsehen müssen, daß es zur Fischereikontrolle Personen bedarf, die Fachleute sind, die sich in der Fischerei auskennen, die eine Angel von einem Netz zu unterscheiden wissen.Ich meine, wir sollten die Fischereikontrolle da lassen, wo sie hingehört: bei den ausgebildeten Fischern, die über den nötigen Sachverstand, aber auch das entsprechende Fingerspitzengefühl verfügen.Was nützen die schönsten Beschlüsse am Ratstisch in Brüssel über Fanggeschirr und Quotenverteilung, wenn ihre Durchführung nicht vernünftig überwacht wird? Ist sichergestellt, daß Bund und Länder immer an einem Strang ziehen, daß sich Bundes- und Länderbehörden wegen überschneidender Zuständigkeiten nicht ständig ins Gehege kommen und die Fischer nicht durch Mehrfachkontrolle unnötig behindert werden? Hier mein herzlicher Appell an die Bundesregierung, für eine klare Kompetenzregelung Sorge zu tragen.
Die Zukunft unserer Fischerei ist keineswegs sicher. Da hat uns Herr Eigen ja ein sehr düsteres, wenn auch zutreffendes Bild gezeichnet. In der Ostsee gibt es viele ungelöste Probleme. Ich empfehle Ihnen — Herr Minister Kiechle ist nicht da, aber der Herr Staatssekretär von Geldern kann es ihm vielleicht übermitteln —, sich der bewährten Verhandlungsführung eines Egon Bahr zu versichern,
um beispielsweise mit der DDR zu einer einvernehmlichen Lösung im Hinblick auf die Fangrechte vor der Mecklenburger Küste zu kommen. Gleichzeitig wünsche ich Herrn Kiechle — vielleicht sind Sie so nett, dies auch zu übermitteln — das nötige Rückgrat und das Beharrungsvermögen, um dringend notwendige umweltpolitische Schutzmaßnahmen wie den sofortigen Stopp der Verklappung und die weitere Verschmutzung der Fischgründe im Geltungsbereich dieses Gesetzes durchzusetzen; denn für tote oder kranke Fische bedarf es keines Seefischereigesetzes mehr.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Seefischereigesetzes folgt die Bundesregierung dem Abschluß der EG-Fischereiverhandlungen und trägt damit zur Durchführung der gemeinsamen Fischereipolitik bei. Im wesentlichen regelt das Gesetz rechtliche
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BredehornFragen und Zuständigkeiten. Die Höhe der EGFangquoten, um die sich mein Kollege Ertl in jahrelangen Verhandlungen zäh bemüht hat, bleibt davon unberührt.Die deutsche Hochseefischerei beschäftigt allein 2 000 Menschen. Die Flotte selbst ist auf 25 Schiffe zusammengeschrumpft. Nur noch ganze 635 Kutter und Küstenfischereiboote sind im Betrieb; ein schrumpfender Wirtschaftszweig also. Doch mit insgesamt 28 000 Beschäftigten — das sind Personen, die in der Fischverarbeitung, im Handel, in den dazugehörigen Ausrüstungsbetrieben usw. arbeiten — ist dieser Wirtschaftszweig außerordentlich wichtig für unsere Küstenregion.Sie wissen, meine Damen und Herren, daß wir an der Küste leider eine Arbeitslosigkeit zu verzeichnen haben, die weit über dem Bundesdurchschnitt liegt. Dies ist auch der Grund dafür, daß wir als Bundesparlamentarier an Fischereiproblemen nicht achtlos vorbeigehen dürfen, gerade weil sie regional von so hoher Bedeutung sind. Selbst wenn die traditionelle Freiheit des Fischfangs durch die gemeinsame Fischereipolitik ein Ende gefunden hat oder vielmehr durch Fangquoten reglementiert wurde, erscheint es mir jetzt wichtig, daß innerhalb der vorgegebenen EG-Regelungen den Fischereiunternehmen größtmögliche wirtschaftliche Planungsfreiheit überlassen bleibt.Deshalb plädieren wir Liberale auch für eine sachlich notwendige Kontrolle und für einen möglichst niedrigen Verwaltungsaufwand. Natürlich bedeutet das Zusammenspiel zwischen EG, Bund und Ländern bei detaillierten Verwaltungsmaßnahmen immer einen gewissen Verwaltungsaufwand. Wenn allerdings die Zahlen stimmen, die mir von der Fischereiwirtschaft zur Verfügung gestellt wurden, daß für die genannten 635 Kutter und Küstenfischer über 1000 Kontrolleure — man höre und staune! — tätig sind, finde ich ein solches Verhältnis nicht mehr angemessen. Draußen munkelt man schon, daß die Vielzahl von Kontrolleuren direkt mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Verbindung stehe. Man befürchtet, daß der Unmut der Kutterbesatzungen darüber eher zu einem Abschotten bei den Kontrollen als zu einer Mithilfe führen wird. Hier, meine ich, ist es dringend erforderlich, daß der Gesetzgeber einen Schlußstrich unter zu viel Kontrolle und Verwaltungsaufwand setzt.Meine Damen und Herren, in dem uns vorliegenden Gesetzentwurf wird auch die Höhe des möglichen Bußgeldes bei Ordnungswidrigkeiten angesprochen. Wir haben uns in den Beratungen des Ernährungsausschusses dafür stark gemacht, daß diese Geldbußen von den zunächst vorgesehenen 50 000 DM auf 150 000 DM erhöht werden — und das sowohl im Hinblick auf ökologische Schäden als auch im Hinblick auf Verstöße gegen die Fischereiregelung.Frau Kollegin Blunck, wenn Sie hier sagen, die 150 000 DM müsse man zum Fang in Beziehung setzen, und das sei dann alles gar nicht so schlimm, dann muß ich dagegenstellen, daß in diesem Bereich auch der Fang eingezogen wird. Das ist alsoetwas anderes, als wenn Sie einen Ölverschmutzer haben.
— Eben. Nur wenn jemand überführt wird, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, wird der Fang eingezogen. Ganz klar.
In dem uns vorliegenden Gesetzentwurf hat die vorgesehene Kontrollregelung — ich habe hier auf die Probleme hingewiesen — sicher einige Schwachstellen. Trotzdem wird die FDP dem Seefischereigesetz ihre Zustimmung geben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauermilch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man ganz unbefangen das erste Mal den Entwurf des Seefischereigesetzes liest,
dann reibt man sich erstaunt die Augen. Man fragt sich, ob nicht die Überschrift verwechselt wurde; denn eigentlich kann es sich bei der Art der Regelungen zur Kontrolle der Fischer bei diesen nicht um normale Menschen handeln, sondern um eine Art Seeräuber.
Da heißt es z. B. in § 6 Abs. 4 des Entwurfs:
Wenn der Führer oder ein Besatzungsmitglied eines Fischereifahrzeuges in einer Fischereizone eine Überwachungsmaßnahme nicht duldet oder nicht unterstützt oder die Weisung eines Kontrollbeamten nicht unverzüglich befolgt, können die Kontrollbeamten unmittelbaren Zwang gegen Personen und Sachen anwenden.In § 8 Abs. 2 des Gesetzentwurfs wird ausdrücklich festgestellt, daß die Kontrollbeamten überall Zutritt haben. Das Grundrecht des Artikels 13, Unverletzlichkeit der Wohnung, wird selbstverständlich eingeschränkt.
Durch wen alles die Fischer, einst ein angesehener Berufsstand — da gebe ich Herrn Eigen recht —, kontrolliert werden können, ist schon respektabel: durch den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, durch die von ihm bestimmten Behörden des Bundes, durch Behörden der Länder auf der Hohen See, durch Behörden des Bundes innerhalb des Küstenmeeres, Zoll, Bundesgrenzschutz und Wasserschutzpolizei, wei-
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Sauermilchter: die Fischereiforschungsschiffe und die Fischereiaufsichtsdienste fremder Staaten. Diese groteske Kontrollapparatur wird denn auch vom Deutschen Fischerei-Verband kritisiert, wie das Frau Blunck eben schon zitiert hat. Wie die Praxis dieser Kontrolleure aussieht, gerade davon, Herr Eigen, meine ich, können wir ein Lied singen.Wie verträgt sich denn eigentlich diese Überkontrolle auf einem Gebiet, hinter dem massive wirtschaftliche Interessen stehen, mit der angeblich nicht ohne weiteres möglichen und angeblich so schrecklich schwer finanzierbaren, seit Jahren verschobenen Überwachung und Ahndung der Ölverseuchung in der Nordsee? Da sind doch offenbar Kräfte frei für das wirklich Wichtige.Was bringt nun 1984 an Reglementierungsmöglichkeiten zum Fischfang selber? Wie zu erwarten war, für den Gesetzgeber alles, für den Fischer nichts. Die Erbsünde der übermäßigen Ausbeutung der Flüsse und Meere schlägt heute auf diejenigen zurück, die am wenigsten dafür verantwortlich gemacht werden können.
Die Fischer, die jahrehundertelang für eine sinnvolle Fangmenge schon aus uralter Berufserfahrung gesorgt hatten, werden nun von anonymen Institutionen gemaßregelt. Aber nicht nur das. Durch die totale Ermächtigung zur Fangbegrenzung, wie es in § 2 beschrieben ist, die, wenn sie nach ökologischen Erfordernissen praktiziert würde, ein gutes Instrument zum Schutz der Meere vor dem Menschen sein könnte, werden die Fischer zu Erfüllungsgehilfen der anonymen Staatsmacht degradiert. Aber auch damit noch nicht genug: Neben der allgemeinen Fangerlaubnis nach § 3 kann durch die Möglichkeit der Delegation von Fangerlaubnissen auf Dritte der Knebel endgültig zugezogen werden.Es ist ja auch kein Wunder, wenn man sich mal ansieht, wer eigentlich die Drahtzieher im Hintergrund dieser Ausbeutung sind. Im wesentlichen handelt es sich um eine Art Kartell dreier multinationaler Konzerne: erstens Nestlé mit Findus, Seefrost Tiefkühl-Kontor, Bremerhaven-Cuxhaven GmbH, Iglo, zweitens Unilever mit Nordsee Laden- und Restaurantkette, Seeadler Fischindustrie GmbH, Nordsee Heringshandel GmbH, Fisch ins Land GmbH, drittens die Oetker-Gruppe mit Dr. Oetker Tiefkühlkost, Hanseatische Hochseefischerei AG, Seefrost Vertrieb GmbH. Diese Leute haben in der Bundesrepublik tatsächlich alle Meeresfrüchte im Griff.Was sich in der Landwirtschaft abspielt, hat seine Parallele in der Fischerei. Die Großen werden immer größer, die Reichen immer reicher, die Kleinen immer kleiner und ärmer.
Die beschriebenen Multis sorgen mit Hilfe von Gesetzen über den Staat für den Ruin der Fischer mit kleinen Kuttern. — Das sollten Sie sich ruhig einmal anhören, Herr Eigen. — So reduziert sichnämlich auch die Flotte immer mehr auf Kosten der kleinen Fischer.Und wenn sie dann schließlich losfahren, diese Fischer, was fangen sie denn dann? § 1 dieses Gesetzentwurfs sagt ganz tiefsinnig, daß derjenige Seefischerei ausübt, der berufsmäßig Fische fängt oder zu fangen versucht.
Letzteres wird immer mehr die Praxis.
Nachdem die letzten Elbfischer bereits praktisch Berufsverbot erteilt bekommen haben, weil ihre Fänge wegen Vergiftung mit Quecksilber, DDT, PCB, HCH usw. nicht mehr zum menschlichen Verzehr freigegeben werden dürfen, haben die Fischer in Nord- und Ostsee große Schwierigkeiten, noch Fische und andere Meerestiere zu finden, deren Vergiftungsgrad relativ gering ist. Unverseuchten Fisch, meine Damen und Herren, gibt es überhaupt nicht mehr. Nach Feststellung des Instituts für Sedimentforschung in Heidelberg, des Instituts für Lebensmittelchemie Münster, des Instituts für Meeresgeologie und Meeresbiologie Senckenberg in Wilhelmshaven ist die Ostsee — und jetzt hören Sie bitte mal genau zu! — eines der am meisten verschmutzten Meere dieser Welt.In der mittleren Ostsee sind nach Feststellung des Instituts für Meereskunde der Universität Kiel 100 000 qkm Meeresboden ohne jeden Sauerstoff und damit auch ohne jedes höhere Leben. Das entspricht einem Drittel der gesamten Ostsee, in dem jegliches Leben nahezu beendet ist.
— Herr Eigen, ansonsten sind die Meere vor unserer Haustür sehr belebt. Beispiele: Ostsee: 20 000 Curie Caesium 137, Strontium 90, eine unbekannte Menge Plutonium, Senfgas, Phosgen, Tabun in Tausenden von Tonnen, alte Munition aller Art, 1,2 Millionen t Stickstoff, 85 000 t Phosphor,
dazu als Beigabe jährlich 40 000 t Öl von Tankern und unvorstellbare Mengen Fäkalien-Abfälle.
Vielleicht noch ein Wort zur Nordsee. Die Nordsee ist der am stärksten befahrene Schiffahrtsweg der Welt. In ihr werden etwa 4 % der Welterdölförderung gewonnen. Sie ist Mülldeponie und sogenannter Vorfluter in ungeheuerlichem Ausmaß. 65 000 t gefährlichster Industrieabfälle werden jährlich auf ihr verbrannt. Der Dünnsäureskandal zieht immer weitere Kreise.
Die Ölverschmutzung durch Tanker stinkt gen Himmel. Der Schadstoffeintrag allein aus der Luft in die Nordsee entspricht etwa dem Schadstoffstrom aus der Elbe. Diese Kloake ist gleichzeitig unser bedeutendstes Fischfanggebiet. Was soll da
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Sauermilchdie Mikrometerschraube der Fangquotierung, wenn mit der Brechstange gegen verantwortungslose Industrie und hörige Politik vorgegangen werden müßte?Solange die Fischer ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre Blockade der Firma Kronos Titan von den Wasserschutzpolizisten aufgelöst und gleichzeitig unter Polizeischutz das Dünnsäureverklappungsschiff mit tödlicher Fracht seinen Weg Richtung Helgoland aufnehmen darf, so lange müssen wir es ablehnen, diesen Entwurf eines Seeräubergesetzes losgelöst aus dem Gesamtzusammenhang der Zerstörungsmechanismen zu diskutieren.
Die Seeräuber sind jedenfalls nicht die Fischer. Aber bald werden die letzten Expemplare dieser Spezies Fischer neben den aussterbenden Fischadlern in Hagenbecks Tierpark ausgestellt werden müssen. Eine Welt, in der Fischkutter von U-Booten, die diese Regierung an Diktaturen liefern läßt, versehentlich in die Tiefe gerissen werden, muß von uns grundsätzlicher in Frage gestellt werden.
Unsere Alternative: Die Lebensgrundlagen für die Fischer und die ganze Natur müssen saniert werden. Schluß mit allen Gesetzen, die die weitere Verschmutzung und Vergiftung unserer Lebensgrundlagen zulassen, Einbindung einer ökologisch orientieren Fangquotenregelung in eine umfassende internationale Regelung gegen die Ausbeutung und Aufteilung der Meere durch die Mächtigen, Schluß mit den großtechnischen Betrieben im internationalen Massenfang, konsequente Ächtung der Staaten, die sich nicht daran halten, und schließlich Fangquotenregelungen unabhängig vom Einfluß Dritter unter besonderem Schutz der Kleinbetriebe, z. B. durch Begrenzung der Kutterlänge, durch Mindestmengengarantie und dezentrale Vertriebs- und Verarbeitungsstrukturen, z. B. kleine Genossenschaften.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf eines Seefischereigesetzes. Ich rufe die §§ 1 bis 15, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — In zweiter Lesung angenommen.
Wir treten in die dritte Beratung
ein. Ich komme zur Schlußabstimmung. Wer dem
Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte
ich, sich vom Platz zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen einige Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die künftige Gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"
hier: Rahmenplan 1984 bis 1987 — Drucksachen 10/626, 10/1250
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Schmidt
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat für die Aussprache eine Runde vereinbart. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wünscht der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Sauter.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Agrarpolitik steht zur Zeit im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Wir haben im Zusammenhang mit den Beschlüssen des Agrarrates auch heute eine Debatte über die Änderung des Umsatzsteuergesetzes gehabt. Durch diese öffentliche Debatte ist die Strukturpolitik etwas in den Hintergrund gedrängt worden. Dennoch meine ich, daß diese Agrarstrukturpolitik eine wichtige Aufgabe für die Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch für die Europäische Gemeinschaft ist.Es ist jetzt gerade 15 Jahre her, daß dieses Gesetz beschlossen worden ist. Wir erinnern uns noch, daß es Debatten über die Änderung des Grundgesetzes gegeben hat. Über diesen Komplex hat es dann auch eine Enquete-Kommission Verfassungsreform gegeben, die sich mit diesen Fragen beschäftigt hat, ohne besondere Ergebnisse zu zeitigen.Immer wieder ist sowohl in diesem Hause als auch in den Landesparlamenten Kritik laut geworden, weil man gemeinsam der Auffassung gewesen ist, daß der Einfuß auf die Gestaltung dieses Gesetzes fast gleich Null ist. Wir haben uns im federführenden Ausschuß bemüht, etwas Einfluß auf die Gestaltung dieses Gesetzes zu gewinnen. In der Beschlußempfehlung, die Ihnen vorliegt, wird nun empfohlen, daß, bevor der PLANAK, dieser BundLänder-Ausschuß, endgültig entscheidet, die Möglichkeit besteht, daß das Parlament bzw. der zuständige Ausschuß gehört wird. Insofern haben wir ei-
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Sauter
nen bescheidenen Versuch unternommen, das in die Tat umzusetzen, was der Bundestagspräsident wünscht, nämlich daß das Parlament in seiner Bedeutung aufgewertet wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in dieser Beratung auch beschlossen, daß wir eine verstärkte Förderung der strukturschwachen Gebiete wünschen, auf die ich nachher noch zurückkommen werde. Gleichzeitig ist eine alte Forderung des Ausschusses erfüllt worden: daß die Dorferneuerung in die Gemeinschaftsaufgabe einbezogen wird. In diesem Zusammenhang hat es ein Scharmützel zwischen dem federführenden Ausschuß und dem Städtebauausschuß gegeben. Am Ende meiner Ausführungen möchte ich dazu noch einen Vorschlag unterbreiten.Positiv möchte ich vermerken, daß im Jahre 1984 und bei dem Rahmenplan bis 1987 eine Aufstokkung der Mittel wieder erfolgt ist und daß damit einiges korrigiert wurde, was in den Jahren 1982 und 1983 zu erheblichen Minderungen bei den Ausgaben für den Rahmenplan geführt hatte.Es ist eine beachtliche Summe, die im Verlaufe der Jahre von 1973 bis 1983 zur Verfügung gestellt wurde; es sind insgesamt 22 Milliarden DM. Ich meine, daß dies dem ländlichen Raum und zu beachtlichen Teilen auch der Landwirtschaft durchaus zugute gekommen ist.Andererseits hat es — dies ist kein Geheimnis — immer Kritik gegeben. Vor allen Dingen das einzelbetriebliche Förderungsprogramm war umstritten. In diesem Zusammenhang meine ich, daß die Vorgaben, die nun durch die europäische Agrarpolitik gegeben sind, berücksichtigt werden müssen.Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist der Küstenschutz. Wir messen ihm große Bedeutung zu. Ich meine, daß die drei Sturmfluten der letzten 20 Jahren gezeigt haben, daß dies richtige und notwendige Ausgaben gewesen sind, die wir fortsetzen müssen, um vor allen Dingen Menschenleben, aber auch Sachwerte unter Berücksichtigung der ökologischen Gesichtspunkte zu schützen.
Meine Damen und Herren, ich will ein Wort sagen, das inzwischen in mancher Diskussion ein Reizwort geworden ist. Ich will nämlich das Thema „Flurbereinigung" kurz ansprechen. Die betriebswirtschaftliche Bedeutung dieser Maßnahme ist unbestritten, aber die Kritik kommt vor allem daher, daß — so wird gesagt — bei mancher Flurbereinigung am Ende zuviel betoniert, zuviel begradigt, zuviel drainiert worden sei; am Ende stehe — so wird gesagt — eine ausgeräumte Flur.
Ich möchte sagen, daß diese Kritik, daß dieser Einwand bei früheren Verfahren berechtigt gewesen sein mag.
Ich möchte aber auch auf neue, positive Beispiele verweisen und möchte in Erinnerung rufen, daß wir bereits bei der Beratung und Verabschiedung des Naturschutz- und Landschaftspflegegesetzes, aber auch bei der Novellierung des Flurbereinigungsgesetzes auf dieses Problem hingewiesen haben. Die Kritiker möchte ich bitten, einmal die Gesetzestexte zu lesen. Ich füge aber gleich hinzu, daß ich auch an diejenigen, die für die Ausführung der Flurbereinigung verantwortlich zeichnen, appelliere, daß sie alles daransetzen, daß am Ende eines Verfahrens nicht die ausgeräumte Landschaft steht, sondern eine Flur mit einer reichen Artenvielfalt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die europäische Agrarpolitik hat — ich habe schon darauf hingewiesen — Akzente für das einzelbetriebliche Förderungsprogramm gesetzt. So sollen alle Maßnahmen verhindert werden, die zu zusätzlichen Überschüssen führen. Im Bereich der Milchvieh- und Schweinehaltung sind Kapazitätsausweitungen nicht mehr zulässig. Die beschlossenen — umstrittenen — Garantiemengenregelungen, füge ich hinzu, werden natürlich das Programm in seinem Volumen beschneiden. Ich bin aber dankbar — ich kann in dieser Debatte ganz offen sagen, daß sich unsere Fraktion dafür immer eingesetzt hat —, daß das außerlandwirtschaftliche Einkommen als Vergleichsmaßstab nicht mehr herangezogen wird.Wir unterstützen die Bundesregierung bei der Einführung des Agrarkreditprogrammes, mit dem kleine und mittlere Betriebe gefördert werden können. Auch hier gilt natürlich der Grundsatz, daß eine Stimulierung der Produktion nicht mehr stattfinden darf.Agrarstrukturpolitik darf nicht im luftleeren Raum betrieben werden. Trotz des unverkennbaren wirtschaftlichen Aufschwungs haben wir in den strukturschwachen Räumen natürlich eine relativ hohe Arbeitslosigkeit. Es ist auch eine realistische Einschätzung der Situation, wenn ich darauf aufmerksam mache, daß diese strukturellen Probleme nicht über Nacht gelöst werden können. Deshalb ist es richtig, daß dieses Agrarkreditprogramm auch dazu gedacht ist, Arbeitsplätze in der Landwirtschaft zu sichern.Die Bundesregierung beabsichtigt, im Zusammenhang mit den Beschlüssen des Agrarrates die Ausgleichszulagen für die Berg- und Kerngebiete auf alle benachteiligten Gebiete auszudehnen.
Der Herr Bundesminister hat heute darauf hingewiesen und gleichzeitig in Aussicht gestellt, die entsprechenden Mittel auf 240 DM für die Berg- und Kerngebiete zu erhöhen. Ich füge hinzu — ich möchte das als Wunsch zum Ausdruck bringen —, daß diese Mittel auch für die Betriebe gewährt werden sollten, die keine Viehhaltung mehr haben. Wir begrüßen diese Absicht der Bundesregierung auch und gerade im Interesse der Offenhaltung der Landschaft und des Umweltschutzes ausdrücklich.Gleichzeitig möchte ich in diesem Zusammenhang den Wunsch äußern — ich hege diese Hoff-
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nung —, daß damit viele Abgrenzungsprobleme, die es in der Vergangenheit immer wieder gegeben hat, etwas gemildert werden. Besondere Berücksichtigung — das steht in der Beschlußempfehlung — sollen die strukturschwachen Gebiete finden. Ich bin mir klar darüber, daß das noch zu heftigen Auseinandersetzungen in der Bund-Länder-Kommission führen wird. Aber ich erinnere Sie daran, daß Untersuchungen des Ifo-Institutes ergeben haben — entsprechend lautet auch eine Äußerung des Landwirtschaftsausschusses des Europäischen Parlamentes, die schon vor Jahren gemacht worden ist —, daß die bisherige Förderung in den Regionen am effektivsten war, die bereits über eine relativ gute Agrarstruktur verfügten. In der Tat ist es so, daß wir in den strukturschwachen Räumen die größte Zahl von Problembetrieben finden. Das sind die Zu- und die Nebenerwerbsbetriebe, aber das sind auch die vielen und zu kleinen Vollerwerbsbetriebe, die eben über keine zureichenden Alternativen verfügen.Wir werden bei der Beratung des Raumordnungsberichten — sie wird im Verlaufe dieses Jahres stattfinden — mit Sicherheit noch Gelegenheit haben, diese Fragen der strukturschwachen Räume intensiver zu beraten. Nur soviel lassen Sie mich jetzt schon in diesem Zusammenhang sagen: Die größten wirtschaftlichen Probleme haben wir dort, wo die Agrarwirtschaft dominiert, wo wirtschaftliche Entwicklung unterblieben oder wo sie verhindert worden ist. Ich sage das auch und vor allem im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft, auf die Länder, die in den nächsten Jahren dieser Gemeinschaft beitreten werden.Wir müssen uns in der aktuellen Diskussion um neue Technologien auch fragen und überlegen, welche Konsequenzen diese neuen Technologien einerseits und der Rückgang der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten andererseits haben.In der Beschlußempfehlung wird gesagt, daß wir die Attraktivität der strukturschwachen Räume stärken müssen. Wenn das kein Lippenbekenntnis ist, bedeutet das vor allem und in erster Linie, daß wir in diesen Räumen Arbeitsplätze schaffen müssen. Die Fragen der Erholung — Urlaub auf dem Bauernhof — und andere Probleme werden in dem Bericht zur Gemeinschaftsaufgabe angesprochen. Aber lassen Sie mich auch einmal in aller Offenheit und mit allem Freimut dies sagen: Mir ist es lieber, wir haben in einem Raum 100 neue zusätzliche Arbeitsplätze als 30 000 zusätzliche Übernachtungen im Fremdenverkehr. Ich will die Bedeutung des Fremdenverkehrs nicht mindern. Aber ich glaube, daß wir die Landschaft mit neuen Technologien eher schonen können als mit einer überzogenen Erholungswirtschaft.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte nun, wie ich es angedeutet habe, noch eine kurze Bemerkung zur Stellungnahme des Vorsitzenden des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau machen. Ich möchte das nicht vertiefen. Ich meine, daß hier ein Gespräch zwischen den betroffenen Ressorts und auch eine Diskussion beider Ausschüsse nützlich und sinnvollsind, um die Mißhelligkeiten, die hier entstanden sind, auszuräumen.Ich möchte zum Schluß darauf hinweisen, daß im Verlauf der letzten Jahre im Zusammenhang mit der Debatte um die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" immer wieder darüber diskutiert wurde, ob diese Gemeinschaftsaufgabe eines Tages abgeschafft werden soll. Ich halte diese Debatte eigentlich für müßig. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir davon ausgehen, Herr Kollege Müller — das ist übrigens ein Problem, das quer durch die Parteien geht —, daß auf mittlere Sicht diese Gemeinschaftsaufgabe fortgeführt wird. Ich füge hinzu: Im Interesse der Landwirtschaft und im Interesse des ländlichen Raums ist dies in der gesamten Bundesrepublik Deutschland wünschenswert.Die Mitwirkung der Länder, die j a die Komplementärmittel zur Verfügung stellen müssen — dies hat auch mit der aktuellen Steuerdiskussion etwas zu tun —, setzt natürlich voraus, daß diese Länder auch finanziell in der Lage sind, die Komplementärmittel zur Verfügung zu stellen.Die Gemeinschaftsaufgabe kann dazu beitragen — ich bin überzeugt: Sie wird auch in Zukunft dazu beitragen —, die schwierige Lage der Landwirtschaft und des ländlichen Raums zu verbessern.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Immer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im Ausschuß der Beschlußempfehlung einmütig zugestimmt. „Einmütig" bedeutet natürlich nicht, daß wir jeden Punkt dessen, was die Bundesregierung hier vorschlägt, auch so sehen.Ich glaube, Herr Sauter, es müßte nicht nur ein Gespräch zwischen den beiden Ausschüssen stattfinden. Ich habe sehr genau verfolgt, wie seit etwa einem Dreivierteljahr der Herr Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau kaum eine Gelegenheit ausgelassen hat, über die Bedeutsamkeit der Dorferneuerung zu sprechen. Ich habe mir das einmal herausziehen lassen; es gibt ja so einen Computerdienst. Das ist weit mehr als das, was der Herr Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu diesem Problem gesagt hat.Ich hatte den Eindruck, daß die beiden CSU-Minister im Clinch miteinander liegen, wer nun eigentlich das Tauziehen um die Dorferneuerung eines Tages gewinnt. Ich werde darauf in den weiteren Ausführungen noch zurückkommen.Meine Damen und Herren, angesichts der blamablen Ergebnisse — darauf ist schon in der vorvorigen Debatte hingewiesen worden —, mit denen Herr Kiechle aus Brüssel heimgekommen ist, soll nun die Gemeinschaftsaufgabe als Nonplusultra neben dem gerade eingebrachten Gesetzentwurf zur Vorsteuerpauschale den Ärger der Landwirte beschwichtigen. In Bauernkreisen geht mittlerweile
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Immer
ein ganz böses und bitteres Wort um, das nicht von mir stammt. Aus Bauernkreisen ist das Wort vom „Bauernlegen" zu hören, das wir aus den 50er Jahren kennen.
Ich bitte, das zu beachten und auch bei den Entscheidungen, die hier getroffen werden, nicht einfach in den Wind zu schlagen.Kiechles Strukturpolitik als neue Strukturpolitik der Wende erweist sich leider als eine Wende mit Schrecken, die, mindestens für die kleinen und mittleren Betriebe, leicht zu einem Schrecken ohne Ende werden könnte.
Ich möchte auf einige Einzelheiten dieser Gemeinschaftsaufgabe eingehen: erstens auf die besondere Förderung strukturschwacher Gebiete, zweitens auf das Agrarkreditprogramm, drittens auf das Problem der Landabgaberente, viertens auf die Dorferneuerung.Zu Punkt 1: Was hier vorgeschlagen wird — ich sage das ganz hart — ist eine bessere Sterbehilfe, künstliche Ernährung zur Verzögerung des Exitus für kleine und mittlere Betriebe.
Da sollte man sich einmal die Vorschläge ansehen, die eine Vereinbarung der hessischen Sozialdemokraten mit den GRÜNEN enthält, nämlich eine Umsteuerung, von Grund auf andersherum zu gehen, nämlich die kleineren Betriebe primär durch unmittelbare Einkommensverteilungszuweisungen gegenüber einem minderen Zuschlag und einem endgültigen Stopp bei größeren Betrieben zu fördern. Ich glaube, es lohnte sich, das hier einmal mit zu beraten und es im Ausschuß im einzelnen mit zu überdenken.
Überdies ist zu fragen, was mit den Betrieben geschieht, die außerhalb dieser Grenzen liegen, die aber in derselben Lage sind. Ich denke an viele Betriebe, die nicht in diese Förderungsgebietkulisse eingebaut sind, etwa an Betriebe in Teilen des Westerwaldes, aber auch in Ostfriesland, die auf alten Marschen sitzen, Betriebe mit 80 % Dauergrünland, zwar größere Betriebe, die aber dennoch in desolatem Zustand leben.
Zu Punkt 2: Wer gehofft hat, daß das mit viel Tamtam verkündete Agrarkreditprogramm Alternativen ermöglicht, dann, wenn man seine Milchproduktion schon nicht ausweiten kann, in andere Produktionen einzusteigen, der sieht sich getäuscht, denn diese sind ausgeschlossen. Aber was soll denn ein Agrarkreditprogramm für einen Bauern bedeuten, der zwar rationalisieren kann, aber bestenfalls die Arbeitskraft der Oma und des Opas wegrationalisieren kann, die er aber nach wie vor bezahlen muß, da er sie unterhalten muß? Das kann doch nur ein Kreditprogramm für die Betriebe sein, die damit eine Fremdarbeitskraft wegrationalisieren können. Überdies wird es so sein, daß die Bauern animiert werden, in Fehlinvestitionen hineinzuschlittern,
denn die Kredite müssen j a bezahlt werden. Die Kredite sind kein verlorener Zuschuß. Sie werden angelockt, und sie müssen bezahlen. Sie können doch eigentlich nur durch Mehrproduktion verzinst werden.
— Moment. Wer einen solchen Kredit nicht durch Mehrproduktion verzinsen kann, der muß eines Tages seinen Bankrott erklären. Er kann doch nicht zurückzahlen. Das ist ein Gesetz der Betriebswirtschaft, das wir nicht vergessen dürfen.
Im übrigen bleibt die vielverachtete Förderschwelle bei diesem Programm. Sie nennen das nicht mehr Betriebsentwicklungsplan, sondern Betriebsverbesserungsplan,
mit allen Kautelen, die von den Landwirtschaftsämtern wieder geprüft werden und die genau dasselbe bedeuten, was einmal dieser ominöse Begriff einer Förderschwelle bedeutet hat.Zu Punkt 3: Die Bundesregierung hat ein wichtiges strukturpolitisches und humanes Instrument verworfen, nämlich die Landabgaberente. Die Franzosen — so habe ich gerade gelesen — stocken diese Landabgaberente auf, die Bundesregierung ist dagegen. Statt dessen führt sie eine Kuhrente ein. Was soll eigentlich dieser Quatsch. Sie fördert nicht mehr den Strukturwandel im Blick auf eine junge Generation und läßt die Altbauern nicht mehr in einem humanen Übergang in die Rente gehen. Während sie im gewerblichen Sektor für eine Vorruhestandsregelung ist, will sie das den Landwirten verwehren. Wir müssen das noch einmal überprüfen, meine Damen und Herren. Ich glaube, wir kommen wieder dazu, daß wir das eines Tages machen.Nun zur Dorferneuerung, Herr Sauter. Wir haben zwar das Ansinnen des Bundestagsausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau einvernehmlich zurückgewiesen, nämlich die Ressortumwidmung dieser Dorferneuerung. Aber das bedeutet doch nicht, daß wir unser Fernziel aus den Augen verlieren. Wir sagen einfach: ein Spatz in der Hand ist uns sicherer als eine Taube auf dem Dach.
Das bedeutet: Solange noch Geld aus der Gemeinschaftsaufgabe für eine Dorferneuerung aufgewandt wird, ist das eine prima Sache. Wir sind dafür.
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4932 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Immer
Der Vorsitzende Dr. Möller hat recht, wenn er feststellt, der Satz im Bericht des Ernährungsausschusses, seit 1949 liege die Zuständigkeit für die Entwicklung des ländlichen Raumes und damit die Verbesserung der Situation der Dörfer beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, widerspricht sowohl der Gesetzeslage als auch der Staatspraxis. Das ist korrekt.
— Das ist völlig korrekt. Ich stimme ihm ausdrücklich zu. — Er vergaß eigentlich zu sagen, wie es denn zu der Dorferneuerung in der Gemeinschaftsaufgabe kam. Das ist ja eine Sache, die heute von beiden Koalitionspartnern abgelehnt wird. Im Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogrammes, das der Schaffung von Arbeitsplätzen diente,
ist das Dorferneuerungsprogramm erstmalig eingeführt worden.
Heute wollen Sie so etwas gar nicht, und heute sagen Sie: Aber das Dorferneuerungsprogramm muß bleiben.
Aber es müßte auf eine Dauerbasis gestellt werden. Damals brauchte die FDP für ihren Ertl auch ein Stück Kuchen, und darum ist das zum Ertl gewandert, was damals eigentlich zum Haack gehört hätte. Der Schneider möchte das wiederhaben, was sein gutes Recht ist.Es gibt mehrere Gründe, die gegen das Verbleiben des Dorferneuerungsprogramms in der Gemeinschaftsaufgabe sprechen.Erstens. Hier findet eine totale Unterordnung unter das Prinzip der Agrarstruktur statt. Es wird vielen Dörfern überhaupt nicht mehr gerecht, wenn die Bundesregierung in der Berichterstattung erklärt:Die Bundesregierung beabsichtigt, im Rahmenplan 1984 auch die Dorferneuerung zu fördern. Es sollen solche Dorferneuerungsmaßnahmen gefördert werden, die durch eine Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft die Lebensverhältnisse der in diesen Betrieben Tätigen und ihrer Familien verbessern, damit zur Erhaltung einer bäuerlichen Landwirtschaft beitragen und somit für die gesamte Land- und Forstwirtschaft bedeutsam sind.
— Moment, im Dorf leben doch nicht nur Bauern. Bei den Kautelen, die genannt werden, wird die Bevölkerung des Dorfes, die heute zu 80 oder 90% in den Dörfern wohnt, vergessen. Das bedeutet also: Wo keine Bauern sind, erfolgt keine Förderung der Dörfer. — Das kann doch wohl nicht wahr sein! Eskann doch bei der Dorferneuerung nicht nur um die Förderung landwirtschaftlicher Belange gehen.
— Ja, Herr Sauter, in dem Katalog steht, die Förderung der Dorferneuerung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe sei darauf gerichtet,ländliche Siedlungen als Standort land- und forstwirtschaftlicher Betriebe zu erhalten und zu verbessern, die Wirtschaftserschwernisse land- und forstwirtschaftlicher Betriebe zu beseitigen sowie deren Arbeitsaufwand zu verringern, die Umweltwirkungen land- und forstwirtschaftlicher Betriebe mit den Erfordernissen zeitgemäßen Wohnens und Arbeitens in Einklang zu bringen, nachteilige Umweltwirkungen auf die land- und forstwirtschaftlichen Betriebe zu beseitigen oder zu mildern,— und schließlich, ganz am Ende —die innerörtlichen Verkehrs- und Gewässerverhältnisse zu regeln und die Identität der Gemeinden ... zu stärken.Ja, was soll denn das? Das ist doch ein Vorrang agrarstruktureller Belange, während es einen Vorrang des Wohnwertes der Dörfer geben müßte, wobei natürlich auch die berechtigten Forderungen der Landwirtschaft berücksichtigt werden müßten. Diese Belange sind im nachhinein im Zusammenhang, wie es übrigens auch im Städtebauförderungsgesetz vorgesehen ist, zu bedenken. Ich sehe das überhaupt nicht ein und ich trete nach wie vor— das habe ich schon vor drei Jahren in diesem Hause gesagt — für eine Regelung ein, die im Rahmen des Städtebauförderungsgesetzes eine feste Quote festlegt, ausgewiesen für Dörfer, dörfliche Gemeinden und in einem vereinfachten Verfahren verfügbar. Das habe ich immer vertreten, das werde ich auch weiterhin vertreten, aber ich stimme dem zu, was wir im Ausschuß beschlossen haben: Solange das auf lange Sicht nicht geregelt ist, so lange bin ich dafür, daß das in der Gemeinschaftsaufgabe verankert ist. Das kann ein Land tun, muß es aber nicht.
In jeder Verordnung, in jedem PLANAK-Gespräch kann das im nächsten Jahr wieder gestrichen werden. Ich möchte eine Dauerregelung, eine gesetzliche Regelung haben, die dem Land, den Dörfern eine Zukunft ermöglicht.Ich komme zu den Schlußbemerkungen.Erstens. Die neue Struktur der Gemeinschaftsaufgabe — wie es heißt — kann die Misere der deutschen Landwirtschaft, durch eine falsche EG-Politik hervorgerufen, nicht verschleiern.Zweitens. Die ersatzweise vorgesehenen Einkommensübertragungen sind in ihrer Pauschalität so nicht akzeptabel. Die hessischen Vorschläge sind viel genauer an den Bedürfnissen der Klein- und
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Mittelbetriebe orientiert und bedürfen unserer Prüfung. Ich meine, daß wir hier einiges in der Bundesregierung bewegen könnten.Drittens. Die Dorferneuerung muß auf Dauer von den agrarstrukturellen Auflagen befreit werden. Der Wohnwert der Dörfer ist für ihre Zukunft vorrangig — sonst sterben sie nämlich aus; Bauern machen heute kein Dorf mehr. Erst danach rangieren die sicher auch wichtigen agrarstrukturellen Belange.Viertens. Das Agrarkreditprogramm muß im Blick auf seine Auswirkung auf die Verschuldung der bäuerlichen Betriebe ständig überwacht und überprüft werden. Der Betriebsverbesserungsplan bedarf der Konkretisierung, damit nicht hintenherum wieder das passiert, was Sie immer beklagt haben.
— Jawohl, es ist nämlich eine echte Förderschwelle, und diese bleibt. Herr Hornung, Sie können noch soviel reden. Das ist eine echte Förderschwelle.Fünftens. Die Bundesregierung wird aufgefordert, gemeinsam mit dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten die Maßnahmen zu erörtern, die nach Meinung des Ausschusses in die nationale Kompetenz gehören. Wir haben im Ausschuß über die EG-Richtlinie gesprochen. Wir haben viele Dinge abgewehrt. Wir haben gesagt: Das gehört nicht in die EG-Kompetenz; das gehört in die nationale Kompetenz. Ich vermisse hier Herrn Schartz. Er hat hier einen Beitrag betreffend Hilfen für den Weinbau in extremen Hanglagen geleistet. Wir haben waldbauliche und ökologische Maßnahmen der nationalen Kompetenz zugewiesen. Das müssen wir erörtern.Sechstens. Wir legen Wert darauf, daß die Bundesregierung auch weiterhin dem Fachausschuß rechtzeitig ihre Vorstellungen über die Fortschreibung der Gemeinschaftsaufgabe zur Erörterung mitteilt. Es ist für ein Parlament unerträglich, daß, wenn es schon nicht mehr über EG-Vorlagen entscheiden kann — diese sind bisher jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzogen —, von der Bundesregierung für den von uns doch letztendlich zu verantwortenden Bereich vollendete Tatsachen geschaffen werden können, ohne daß die Ausschüsse — ich meine nicht nur diesen — ihre Meinung rechtzeitig äußern können.Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Geschichte. Dafür haben wir in diesem Parlament schon vor einigen Jahren gestritten. Wir werden dies weiter verfolgen. Aber wir haben die Zusage des Ministers und des Staatssekretärs, daß das erfolgen wird, wir meinen, zum 15. September, in Anlehnung an das, was die Bundesregierung dazu geäußert hat.Mit diesen Einschränkungen und Ergänzungen stimmen wir der Beschlußempfehlung zu.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Agrarstruktur hat sicherlich für den ländlichen Raum und für die Landwirtschaft, besonders für die bäuerliche, eine ganz besondere Bedeutung. Darum begrüßen wir es als FDP, daß diese Beschlußvorlage heute diskutiert wird.Die 1972 in Kraft getretenen EG-Agrarstrukturrichtlinien werden nach zehnjähriger Laufzeit und eineinhalbjähriger Verlängerung am 30. Juni dieses Jahres ihre Gültigkeit verlieren. Die künftige Agrarstrukturpolitik der Gemeinschaft muß den positiven und negativen Erfahrungen, die wir mit diesen Richtlinien sammeln konnten, sowie den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Es ist Zeit, konsequenter als bisher die Strukturpolitik der EG auf deren Marktpolitik abzustimmen.Aus der Sicht der Bundesrepublik ist es zunächst einmal wichtig, daß sich das neu zu schaffende Recht im Bereich der Agrarstrukturpolitik der bestehenden Verteilung der Gesetzgebungs-, Finanzierungs- und Verwaltungskompentenzen auf die drei Ebenen Gemeinschaft, Bund und Länder optimal anpaßt. Als FDP-Fraktion legen wir allerdings größten Wert darauf, daß der neue Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Effizienz der Agrarstruktur die Rechtsform einer Verordnung zumindest im Bereich der Förderungsverbote in Überschußbereichen erhält. Wir haben nur einen gemeinsamen Markt; er kann nur einmal gesättigt werden. Wenn wir weiter zulassen, daß einzelne Regionen in der EG eigene Programme vorlegen können und wir diese auch noch finanziell untermauern, nur weil in dieser Region der Selbstversorgungsgrad angeblich zu niedrig ist, dann finanzieren wir über diesen Weg einen tödlichen Verdrängungswettbewerb, der am Ende zu Lasten des bäuerlichen Familienbetriebes gehen muß.In den Bereichen außerhalb der Investitionen zur Produktionsausdehnung hätten wir gegen eine fakultative Handhabung nichts einzuwenden. Ich fordere die Bundesregierung auf, bei ihren Verhandlungen darauf hinzuwirken, jegliche Investitionsförderung im gesamten Agrarsektor, auch wenn sie auf dem Vehikel der Steuerpolitik daherkommt, zu unterbinden. Diesmal muß die Gelegenheit beim Schopf gepackt werden. Ich empfehle der Bundesregierung, hartnäckig zu verhandeln, was die Einbeziehung der holländischen Steuerregelung betrifft. Es ist unerträglich, wie die Holländer nach dem WIR-Gesetz ihre Schweinekapazitäten weiter ausbauen. Was sich hier anbahnt, ist nackter, staatlich subventionierter Verdrängungswettbewerb, der das Ende der selbständigen bäuerlichen Familienbetriebe bedeuten wird.Investitionsförderung sollte nur im Rahmen der neu zu schaffenden Bestimmungen möglich sein. Das bedeutet, daß vernünftige Ausschlußkriterien für die Investitionsförderung erarbeitet werden können. So sollten Kapazitätsausweitungen bei Produkten, für die keine Absatzmöglichkeiten zu normalen Bedingungen auf den Märkten der Gemeinschaft bestehen, einem Beihilfeverbot unterzo-
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Paintnergen werden. Die Betonung liegt dabei auf Kapazitätsausweitungen. Ich halte eine Förderung von Investitionen in der Milchviehhaltung für durchaus mit dem eingangs genannten Ziel vereinbar, wenn z. B. Garantiemengen aus zwei Betrieben zu einer neuen Einheit verschmolzen und mit den dabei erforderlichen Investitionen keine neuen Kapazitäten geschaffen werden. Auf die Förderung neuer Kapazitäten muß im dringenden Interesse der Landwirte selbst künftig auch in der Schweineproduktion verzichtet werden. Ich appelliere an die Bundesregierung, die Partnerländer davon zu überzeugen, daß staatlich geförderte Kapazitäten zu Überangeboten und diese zu unerträglich niedrigen Preisen führen, so daß unsere bäuerlichen Familienbetriebe an der Schweinehaltung nichts mehr verdienen könnten.In der Geflügelhaltung bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis; das ist gut so. Auch hier darf nicht durch staatliche Förderung ein neuer Kapazitätsboom entstehen. Ich erinnere wieder an die Schlupflöcher des WIR-Gesetzes in Holland. Allenfalls könnte man solche Fälle fördern, in denen die Kapazitäten nicht erweitert werden, sondern Investitionen aus Gründen der Energieeinsparung, des Umwelt- oder Tierschutzes erforderlich sind. Die Strukturpolitik muß hier flexibel auf die Anforderungen reagieren. die aus gesellschaftspolitischen Gründen an unsere landwirtschaftlichen Betriebe gestellt werden.Darüber hinaus müssen in Europa solche Betriebe von der Förderung ausgeschlossen werden. die bestimmte Größenordnungen überschreiten. Die bisherigen Grenzen könnten hier als Richtschnur dienen. Auch darf wiederum nicht auf Prosperitätsgrenzen bei der Förderung verzichtet werden. Um außerlandwirtschaftliches Kapital von der Investition im landwirtschaftlichen Veredlungsbereich fernzuhalten, muß von der Bundesregierung die Einführung von Höchstbestandsgrenzen, insbesondere bei Schweinen, in ganz Europa — das betone ich — gefordert werden.Eine gemeinschaftsweite Diskussion über administrative Verfahren, wie die Wirtschaftlichkeit geförderter Investitionen vorab mit hinreichender Genauigkeit eingeschätzt wird, halte ich für müßig. Die Mitgliedstaaten müßten hier ein ausgeprägtes eigenes Interesse haben.Von Förderungsverboten kann und darf es keine regionalen Ausnahmen geben. Es wäre fatal, es z. B. einigen Regionen oder ganzen Mitgliedstaaten zu gestatten, ganz offiziell neue Kapazitäten auch in Überschußbereichen zu errichten. Selbst in der Milchviehhaltung kann man sich nicht auf die beschränkende Wirkung der Garantiemengenregelung verlassen. Es steht sonst zu befürchten, daß Mitgliedstaaten mit staatlicher Förderung zunächst Kapazitäten aufbauen und hinterher deren Ausfüllung mit Garantiemengen zu einem Anliegen von nationaler Tragweite erklären.An dieser Stelle möchte ich nicht mißverstanden werden: Natürlich muß es differenzierte Förderungsmöglichkeiten in Europa geben, die sich den regionalen Verhältnissen anpassen. Aber die Differenzierung sollte bei den Konditionen und nicht beiden Förderungsverboten vorgenommen werden. Die Einführung des Betriebsverbesserungsplanes statt des Betriebsentwicklungsplanes wird uns nur dann vor Überraschungen bewahren, wenn den Beratern trotz aller Beweglichkeit, die wir uns in Zukunft erhoffen, gewisse Kriterien an die Hand gegeben werden, wie die Betriebe zu beurteilen sind. Bei der Prosperitätsentwicklung muß nach Auffassung der FDP das Gesamteinkommen und nicht nur das Einkommen aus dem landwirtschaftlichen Betrieb herangezogen werden, weil wir meinen, daß die Zahl der Nebenerwerbslandwirte in Deutschland zwangsläufig zunehmen wird.Die schon bisher verbesserten Förderungskonditionen für die benachteiligten Gebiete haben sich bewährt und sollten beibehalten werden. Auch für junge Landwirte sind bessere Konditionen vorzusehen. Diese lassen sich sachlich auch damit begründen, daß Betriebsübernehmer mit vielfältigen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, denen mit besserer Zinsverbilligung oder günstigen Darlehen begegnet werden kann. Auf eine besondere Niederlassungshilfe sollte verzichtet werden, weil hier nur falsche Signale gesetzt würden.Bewährt hat sich auch die Förderung der Landwirte nach der sogenannten Bergbauern-Richtlinie. Wir können auch künftig nicht darauf verzichten, zumindest einen Teil der natürlichen Benachteiligung mit direkten Einkommensübertragungen seitens des Staates zu kompensieren. Im Gegenteil! Die Bundesregierung ist gut beraten, wenn sie die Einkommensminderungen, die sich im Gefolge der jüngsten marktpolitischen Brüsseler Beschlüsse ergeben, durch eine Aufstockung der BergbauernFörderung abmildert. Es besteht sowohl die Möglichkeit, die Förderungsgebiete auf alle benachteiligten Gebiete auszudehnen, als auch die Möglichkeit, den Höchstsatz auszuschöpfen und über neue Höchstsätze nachzudenken. Auch diejenigen Bundesländer, die einer Ausdehnung der BergbauernFörderung bisher nicht zustimmen wollten, sollten hier ihr Einsehen zeigen.Die Bergbauern-Richtlinie bietet einen guten Ansatzpunkt zu einer wechselseitigen Ergänzung von Agrarstrukturpolitik sowie Umwelt- und Naturschutzpolitik. Dies kann jedoch nur im nationalen Rahmen geschehen, da eine Ausdehnung der Agrarstrukturpolitik auf Gemeinschaftsebene in Richtung auf eine gemeinsame Forstpolitik oder gemeinsame Naturschutzpolitik nicht wünschenswert ist. Im Gegenteil! Ich möchte sogar davor warnen. In der Bundesrepublik jedoch möchte ich mir hier ein bißchen mehr Flexibilität wünschen. So wäre es z. B. vorteilhaft, die Ausgleichszulage aus der Bergbauern-Richtlinie auch dann zu gewähren, wenn jemand dadurch zu bestimmten Verhaltensweisen veranlaßt wird, die aus Umwelt- und Naturschutzgründen wünschenswert sind. In dieser Richtung ließe sich noch weiterdenken.Aus Angst vor der gemeinsamen Forstpolitik dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, daß in Europa Flächen aus der Produktion genommen werden müssen. Soweit sie nicht zur Produktion nachwachsender Rohstoffe dienen können, müssen
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Paintnersie aufgeforstet werden oder für Naturschutzzwecke Verwendung finden. Den Landwirten müssen allerdings entsprechende Entschädigungen gezahlt werden. Gerade hinsichtlich dieses Bereiches möchte ich noch hinzufügen, daß wir täglich von der Überproduktion reden und dabei völlig vergessen, daß wir ein rohstoffarmes Land sind. Ich meine, daß wir von unseren 11 Millionen Hektar, die wir zur Zeit bewirtschaften, sicherlich einige Millionen Hektar aus der Produktion für Überschüsse herausnehmen könnten, um sie anderen Verwendungszwecken zuzuführen. Hier meine ich besonders die Biomasse; hier meine ich Biosprit. Hier müßte, wie ich schon einmal angedeutet habe, zunächst die Forschung noch schneller in Gang gesetzt werden. Hier wäre noch mehr möglich. Wenn diese Gesellschaft trotz des Hungers in der Welt diese Überschüsse nicht will, dann sollte man in diese Richtung arbeiten und diese Überschußproduktion in andere Kanäle leiten.Die FDP-Fraktion begrüßt, daß die Dorferneuerung weiterhin möglich ist.Ihnen, Herr Kollege Immer, möchte ich sagen, daß wir nach unserer Meinung gut beraten sind, wenn wir den ländlichen Raum, die landwirtschaftlichen Betriebe, die Landwirtschaft bei dem Ministerium lassen, wo sie hingehören,
nämlich beim Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Hier soll es gar keinen Streit zwischen den einzelnen Ministerien geben, sondern hier soll so entschieden werden, daß die Sachen dahin kommen, wo die Sachkompetenz und die Fachleute vorhanden sind. Ich möchte das besonders herausheben.Mit dem Erstattungssatz von 25% sind wir völlig einverstanden.Abschließend stelle ich nochmals fest, daß die FDP-Fraktion die Agrarstrukturpolitik als ein ganz wichtiges Instrument für den ländlichen Raum und für die Landwirtschaft betrachtet und hier alles tun wird, daß wir zur richtigen Entscheidung kommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Programm, über das wir hier beraten, hat in der Vergangenheit der Landwirtschaft der Bundesrepublik wahrlich Geschichte gemacht. Es hat in der Agrarstruktur, in den ländlichen Räumen, in unseren agrarischen Landschaften und in den Küstenregionen Deutschlands gewirkt wie die Axt im Walde oder — vielleicht müßte man jetzt besser sagen — wie Lindan im Walde. Es ist aus heutiger Sicht und aus unserer Sicht nicht mehr möglich, dieses Programm, ein Programm zur „Verbesserung" der Agrarstruktur zu nennen. So wie es gewirkt hat, war es ein Programm zur Zerstörung der traditionellen Agrarstruktur, die wir gehabt haben.
Ganz besonders verheerend — das ist heute von allen Seiten anerkannt — hat dabei das einzelbetriebliche Förderprogramm mit seiner Förderschwelle gewirkt. Durch dieses Programm wurde der Wertmaßstab des Wachstumsbetriebs des betriebswirtschaftlich hochgeschulten Betriebsleiters zur Norm in der bäuerlichen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland gemacht. Gefördert wurden Betriebe, die in den für uns eher grausamen Zukunftsentwurf einer Landwirtschaft in Europa hineinpaßten, die aus schlagkräftigen, gut rationalisierten, hochspezialisierten Betrieben bestand, deren Betriebsleiter voll die Ideologie des Landwirts als Unternehmer gefressen hatten. Nicht gefördert wurden die Betriebe, die auf kleinen Flächen mit geringer Kapitalausstattung vielseitige Kreislaufwirtschaft betrieben oder gar ökologisch orientiert waren. Gefördert wurden damit je nach Region 5 bis 10 % der Betriebe. Nicht gefördert wurden, wieder je nach Region, 90 bis 95% der Betriebe, in manchen Gegenden noch mehr.Das soll nun alles ganz anders werden. So heißt es. So steht es in den Zeitungen. Die Agrarpolitik der neuen Regierung, so hört man, hat eine ganz andere Zielrichtung.
Lassen Sie uns dies einmal an Hand des vorliegenden Entwurf überprüfen. Festzuhalten bleibt erst einmal: Das einzelbetriebliche Förderungsprogramm wird nicht abgeschafft. Immerhin — was zu begrüßen ist; was auch ich begrüße —: Die Förderschwelle soll endlich, endlich beseitigt werden.
Sehr gut.Bestehen bleibt, daß der Begünstigte nachweisen muß, daß er in der Vergangenheit mit Erfolg gewirtschaftet hat. Das ist ja schon ein sehr dehnbarer Begriff. Was heißt unter den heutigen Kriterien, daß einer mit Erfolg gewirtschaftet hat?Auch Investitionen im Bereich der Milchviehhaltung, die zur Kapazitätsausweitung führen, sollen nicht mehr unterstützt werden. Sehr gut, sehr gut! Nur möchte ich darauf hinweisen, daß noch nie so viele Anträge auf Kapazitätsausweitung auch im Milchsektor auf den Tisch lagen wie gerade in den letzten Monaten. Wie wir hören, kommen alle diese Betriebe in die Härtefallregelung der Festlegung der Quoten für den Milchbereich, selbst wenn sie nur den Antrag gestellt haben. Das Landwirtschaftsministerium, denke ich, weiß genau, wie viele Anträge dort liegen und daß deshalb das Auftragspolster für Investitionen im Milchbereich so gut gefüllt ist, daß die entsprechenden Industrien damit schon einige Jahre Quotenregelung ganz gut überstehen können.
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Frau Dr. VollmerDer Kernpunkt der Erneuerung der Agrarpolitik des Ministers Kiechle ist das Agrarkreditprogramm in Höhe von 40 Millionen DM. Deshalb möchte ich darauf auch etwas ausführlicher eingehen. Dieses Programm ist in seinen Einzelheiten vom Ministerium geradezu liebevoll ausgearbeitet worden.
Es ist in der Öffentlichkeit als vollkommene Wende angekündigt worden, als Hilfsprogramm und Unterstützungsprogramm für kleine, ja sogar für Nebenerwerbsbetriebe. Sogar — man höre und staune — ökologische Betriebe sollen davon provitieren.
Viele Kritikpunkte an der bisherigen Agrarpolitik scheinen in diesem einen Programm endlich Gehör gefunden zu haben. Die Sache hat nur einen einzigen Pferdefuß: Es ist eben kein Unterstützungsprogramm für Klein- und Mittelbetriebe, kein Programm, mit dem bei diesen Betrieben direkt mehr Geld einkommt; es ist und bleibt ein Kreditprogramm,
gemacht zu dem Zweck, Landwirte anzuhalten, zu investieren und Kredite aufzunehmen, und dies sogar in ganz erheblichem Ausmaß.
Die Zinsverbilligungen — Sie wissen ja, ich liebe diese Rechnungen —,
sollen 3%, teilweise 5% in den benachteiligten Gebieten umfassen. Nehmen wir nur einen Durchschnitt von 4 %, so soll damit ein Kreditvolumen von 1 Milliarde DM von der Landwirtschaft aufgenommen werden.
Eine Milliarde, das ist keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, wie hoch der landwirtschaftliche Sektor insgesamt bereits mit Krediten belastet ist, nämlich so hoch wie noch zu keiner Zeit seiner Geschichte.Eine Milliarde, das ist vor allem keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, daß dieses Mal Klein- und Nebenerwerbsbetriebe Kreditnehmer sein sollen, die davor in der Regel bisher noch zurückgeschreckt sind.
Vor allen Dingen: eine Milliarde, das ist ein schier unmögliches Ding in einer Zeit, in der gleichzeitig die Quotenregelung und die real zu erwartende Preissenkung im Milchbereich durchgesetzt wird. Eine Milliarde soll an Krediten aufgenommen werden von landwirtschaftlichen Betrieben, die laut Agrarbericht kein Einkommen haben. Ich möchte einmal eine Prophezeiung versuchen, obwohl es immer schwierig ist, in der Landwirtschaft Prophet zu sein.
— Es ist nick so schlimm. — Wahrscheinlich werden die 40 Millionen DM gar nicht ganz in Anspruch genommen werden. Man muß es aus Vorsicht den Betrieben sogar raten, dieses Geld bei den unsicheren Zukunftsaussichten der jetzigen agrarpolitischen Situation nicht in Anspruch zu nehmen.Nehmen wir doch einmal ein Beispiel der Vergangenheit: Mit in dieses Programm eingehen sollen ja die Zuschüsse für Überbrückungshilfen von Betrieben, die aus dem Vollerwerb aussteigen, für Investitionshilfen von Nebenerwerbslandwirten und Verbesserungsmaßnahmen von Wohnteilen, die es in der Vergangenheit gegeben hat.
Ich habe einmal nachgeguckt, wie hoch die Anforderungen an diese drei Programme waren. Als diese Möglichkeit im letzten Jahr bestand, wurden ganze 2 Millionen DM Bundesanteil in Anspruch genommen. Das gibt doch zu denken, warum die Landwirte so vorsichtig waren, diese Gelder in Anspruch zu nehmen. Wofür soll eigentlich ein Milchbauer im nächsten Jahr diese Kredite in Anspruch nehmen?
Es wäre zwar wünschenswert, daß auf vielen Betrieben Investitionen zur Arbeitserleichterung eingesetzt würden,
gerade in vielen kleineren Betrieben, wo die Arbeit, wie wir wissen, sehr schwer ist. Woher soll man aber die Hoffnung nehmen, diese Kredite jemals abzahlen zu können — in einer Zeit, in der diese Investitionen eben gerade nicht zur Steigerung der Produktion und damit zur Verbesserung der Einkommensverhältnisse führen dürfen? Wem soll man zu Investitionen im Schweinebereich raten? Wem würden Sie dazu raten in einer Zeit, in der auch das Ministerium von sieben mageren Jahren spricht? Das ist ja auch eine Art von Prophezeiung.
Welche Betriebe können garantieren, daß sie die — wenn auch verbilligten — Zinslasten in drei, in fünf, in zehn Jahren überhaupt noch tragen und ihren Kindern überlassen können?
Da haben wir also die Quadratur des Kreises: ein schönes Programm mit guten Vorsätzen, sogar mit guten bäuerlichen Überlegungen. Wenn es voll in Anspruch genommen würde, so würden sich erst einmal die Banken und die Investitionsgüterindu-
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Frau Dr. Vollmerstrie freuen; für die Kleinbetriebe, für die Nebenerwerbsbetriebe brächte es aber Unsicherheiten und auch Sorgen für die Zukunft.Vergleichen Sie damit einmal das Existenzsicherungsprogramm, das wir in den Verhandlungen mit der SPD in Hessen durchgesetzt haben. Auch dieses Programm umfaßt — das ist ja eine schöne Parallele der Zahlen — 40 Millionen DM im Jahr. Aber diese 40 Millionen DM kommen ohne jede Rationalisierungsmaßnahme, ohne Kreditaufnahme bei den Kleinbetrieben an als Bezahlung ihrer Arbeit und ihrer Produkte. Das nenne ich ein wirkliches Existenzsicherungsprogramm.
Ich komme zu einem weiteren neuen Punkt in diesem Rahmen, der Wiederaufnahme der Förderung der Dorferneuerung. Dazu haben ja auch schon andere gesprochen. Dieses Programm liegt auch mir ganz besonders am Herzen, weil die Gestalt und die Kultur der Dörfer äußerst wichtig sind für all das, was wir unter ländlicher Kultur verstehen.
Jedermann weiß, daß in diesen Dörfern in der Vergangenheit schreckliche Kultursünden begangen wurden. Dazu gehören auch Ihre so lieben Laternen. Jeder kennt inzwischen die Schnellstraßen, die durch ehemals stille Dörfer führen, die grausam betonierten Wasserstraßen, die Ausgestaltung von Dorfplätzen nach dem Muster, wie sich so ein städtischer Planungsrat, der die Bauern und die Dörfer nicht kennt, ein typisches idyllisches deutsches Dorf vorstellt, bis zu der nicht geringen Tyrannei, die der Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden" in vielen Dörfern in der Vergangenheit mit sich gebracht hat.
Diese kulturzerstörerische Wirkung der Dorferneuerungsprogramme der letzten Jahre waren offensichtlich auch der Grund, warum der Bauausschuß sich jetzt um die Verwaltung dieses Programms beworben hat.
Dabei denke ich allerdings, daß auch die Bau- und Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte mit den unbewohnbar gewordenen Städten und Stadtrand-Slums keinerlei Anlaß bietet, nun ausgerechnet diesem Ausschuß noch die Kultur der Dörfer anzuvertrauen.
Sehen wir nun aber einmal, was im Rahmen des jetzt ausgeschriebenen Dorferneuerungsprogramms an Förderungsmaßnahmen vorgesehen ist, so haben wir da die guten, alten, schlimmen Bekannten, z. B. Maßnahmen zur Verbesserung der innerörtlichen Verkehrsverhältnisse — sprich: Schnellstraßen —, Maßnahmen zur Sanierunginnerörtlicher Gewässer — sprich: Bachbetonierung.
Sogar Abbruchmaßnahmen sollen gelegentlich gefördert werden. Dabei hätte man sich doch so vieles zur Dorferneuerung wirklich wünschen können — als GRÜNE und als eine, die die Dörfer wirklich gern hat,
z. B. die Unterstützung von Modellvorhaben für eine dezentrale, eigene, unabhängige Energieversorgung der Dörfer auf der Basis der eigenen Energiereserven — sehr interessant auch für alternative Industrieprojekte —,
z. B. die Wiedereinrichtung all dessen, was ein Dorf eigentlich lebenswert macht: die Landarztpraxis z. B., die Dorfschule, die Turnhalle, der Lebensmitteleinzelhandel, ein Dorfkulturprogramm, z. B. ein Kino, die Wiedereinrichtung des öffentlichen Verkehrssystems im Dorf, so daß zu jedem Dorf wenigstens ein Bus fährt, die Förderung der sehr wohl doch prägenden ländlichen Kleinindustrie. Kurzum, wozu wir Sie gerne auffordern möchten, ist, etwas radikaler, etwas zu den Wurzeln gehender nachzudenken darüber, was das eigentlich ist, ein Dorf, was dazu gehört und was dieses Dorf lebenswert, aber auch wirtschaftlich lebensfähig macht. Wir werden dazu in der nächsten Zeit in diesem Parlament Anträge vorlegen.Aus unserer Kritik an diesen zwei Kernpunkten des Rahmenplans, wozu als ein ganz wichtiger Bereich, den ich hier nicht mehr ausführen kann, noch die Kritik an den Flurbereinigungsverfahren gehört, werden Sie verstehen, daß wir diesen Rahmenplan nur ablehnen können, und das aus tiefer Überzeugung.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/ 1250 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe. — Stimmenthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDPÜbersiedlung von Deutschen aus der DDR und Ost-Berlin in die Bundesrepublik Deutschland— Drucksache 10/1321 —
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4938 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Vizepräsident WestphalMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat als erter der Abgeordnete Reddemann.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Zum erstenmal seit 20 Jahren erleben wir eine von den DDR-Behörden genehmigte größere Zuwanderungswelle aus Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Mehr als 23 000 Menschen, fast soviele wie im Jahre 1964, durften die DDR verlassen und sich in dem Teil Deutschlands niederlassen, in dem sich keine Regierung das Recht herausnehmen kann, die Freizügigkeit der Menschen zu beschränken.Ich halte es für eine selbstverständliche Aufgabe des Deutschen Bundestages, den neu zu uns gekommenen Landsleuten ein herzliches Willkommen zu sagen.
Ich erweitere dieses Willkommen auf diejenigen, die in Zukunft die Möglichkeit erhalten, die Grenze zwischen Deutschland und Deutschland zu überschreiten.Meine Damen, meine Herren, es besteht kein Zweifel, die große Zahl der Zuwanderer stellt für uns alle eine Herausforderung dar. Wir erleben Pro- bleme, wie wir sie ähnlich zum letztenmal im Jahre 1981 zu lösen hatten, als binnen eines Jahres mehr als 70 000 Aussiedler aus Osteuropa in die Bundesrepublik Deutschland kamen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir damals die nicht leichte Integration der neu Ankommenden erreicht haben, läßt uns erwarten, daß wir auch dieses Mal auftretende Schwierigkeiten beseitigen können.Ich möchte in diesem Zusammenhang den Beamten in den Notaufnahmelagern herzlich für ihre außerordentliche Einsatzfreude danken und für die Freundlichkeit, mit der sie versucht haben, die ersten Tage für die Zuwanderer leichter zu machen.
— Darf ich fragen, Frau Kollegin? Ich habe Sie leider nicht verstanden.
— Es mag ein Unterschied zwischen Ihnen und mir sein. Ich bedanke mich gern bei jemandem, der hilfreich war, und habe nicht nur das Negative zu sehen.
Ich fahre natürlich fort mit dem Dank. Ich bedanke mich nämlich sowohl bei der Bundesregierung als auch beim Senat von Berlin und bei der Regierung des Landes Hessen, die alle unsere Anregungen für eine reibungslosere Hilfe schnell und sachgerecht aufgenommen haben.
Meine Damen und Herren, dessen ungeachtet sind der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung, die Bundesanstalt für Arbeit und die Länderregierungen aufgefordert, über die bisherigen Leistungen hinauszugehen. Wir müssen ohne jeden Zweifel einige gesetzliche Maßnahmen überprüfen. Wir müssen Richtlinien erneut bedenken, und wir müssen vesuchen, eine großzügige, weil sachgerechte Auslegung verschiedener rechtlicher Bestimmungen zu erreichen. Denn der größte Teil der zu lösenden Probleme besteht ja nicht in der Unterbringung, wie der eine oder andere geglaubt hat. Er besteht vielmehr in der Tatsache, daß das völlig andere Gesellschaftssystem in der DDR berufliche und schulische Qualifikationen geschaffen hat, die ausschließlich auf das Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem eines kommunistisch geprägten Staates ausgerichtet sind und daher vielfach mit den Maßstäben der Bundesrepublik Deutschland kaum gemessen werden können.Viele der Zuwanderer — ich glaube, das ist ein außerordentlich wesentlicher Punkt — sind junge Menschen unter 18 Jahren. Sie konnten mit ihren Eltern ausreisen oder sie können durch die Familienzusammenführung zum erstenmal seit Jahren wieder mit ihren Eltern zusammen sein. Ihr Weg zum Abitur wird allerdings jetzt schwierig, weil ihre zweite Fremdsprache in der DDR-Schule ausschließlich die Sprache der sowjetischen Okkupationsmacht, also russisch, sein mußte, eine Sprache, die bei uns verständlicherweise weniger Zuspruch findet und damit in weniger Schulen gelehrt wird. So erfreulich es ist, daß die schulische Eingliederung durch besondere Förderungsmaßnahmen in den einzelnen Bundesländern unterstützt wird, beim speziellen Fall der Fremdsprachenanrechnung wird von der Kultusministerkonferenz möglichst schnell Sorge dafür zu tragen sein, daß den Schülern durch die Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland keine Nachteile entstehen.
Mindestens so bedeutsam muß die berufliche Förderung für die Zuwanderer gesehen werden. Vor allem Angehörige kaufmännischer Berufe kommen in die Bundesrepublik ohne die hier nun einmal erforderlichen Kenntnisse im Marketing, bei aktuellen Produkten und der Struktur der verschiedenen Branchen. Wir haben schnell Wege zu finden — ich glaube, dies ist eine gemeinsame Aufgabe, die uns alle angeht —, ihnen ergänzende Bildungsmöglichkeiten zu geben, wie wir das bei zuwandernden Facharbeitern — etwa auf dem Gebiet der modernen Technologie — zu tun haben, damit sie ebenfalls die Möglichkeit finden, möglichst schnell in den Arbeitsprozeß integiert zu werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4939
ReddemannDie Notwendigkeit zum Überdenken setzt sich allerdings fort bei der notwendigen Feststellung der Gleichwertigkeit von Studienabschlüssen, bei der Anerkennung des in Volkshochschulen erworbenen Abiturs, bei der Problematik der Fachschulreife und der Fachhochschulreife. Hier geht mein dringender Appell an die Kultusminister, möglichst rasch zu sachgerechten Lösungen zu kommen und nicht wieder Vorlagen für eine spätere Zukunft zu fabrizieren.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in dem Zusammenhang ein weiteres, wie ich glaube, sehr wichtiges Problem anschneiden. Wohl die meisten Zuwanderer haben in den letzten Jahren ein fast gleichartiges Schicksal erlitten. Wenn sie ihren ersten Ausreiseantrag abgegeben hatten, folgte die Vorladung vor die Kaderabteilung und anschließend vor die Sicherheitsbehörde. Eine gesellschaftliche Isolierung wurde weitgehend eingeleitet. Die Töchter erhielten in vielen Fällen keine Erlaubnis, zur weiterführenden Oberschule zu gehen; den Söhnen wurde die berufliche Ausbildung erschwert. Nicht erst am Schluß dieses Prozesses stand dann die eigene berufliche Degradierung, die immer mit erheblichen materiellen Verlusten verbunden war. Heute stehen diese Menschen, die oft über Jahre von den Behörden in der DDR drangsaliert wurden, mit ihren schmalen Verdienstbescheinigungen in unseren Arbeitsämtern, um ihre Arbeitslosenunterstützung zu beantragen. Es wäre eine Fortsetzung der Strafaktionen des SED-Staates, wenn ihre Unterstützungsgelder nicht nach dem Einkommen berechnet würden, das sie vor ihrer politisch motivierten Herabstufung erhalten hatten, sondern nur nach den Einnahmen, die ihnen der Apparat des DDR-Staates als Lebenshaltungsminimum zugestanden hatte.
Ähnliches gilt für die Zulassung zum Studium. Wir haben alle in den letzten Wochen mit jungen Menschen gesprochen, die nachweisen konnten, daß ihre Schulnoten sich dann automatisch verschlechtert hatten, wenn sie sich der FDJ nicht zur Verfügung gestellt hatten, oder wenn sie nicht in der vormilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik tätig wurden. Wir kennen die daraus resultierenden Benachteiligungen beim Studium. Es ist nicht hinzunehmen, wenn junge Menschen wegen dieser politisch gedrückten Noten nun in der Bundesrepublik nicht die Bildungschancen zugestanden erhielten, die ihnen auf Grund ihres Könnens und ihrer Leistungsfähigkeit tatsächlich zustehen.
Der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen, der für morgen die Gesamtproblematik auf der Tagesordnung stehen hat, wird sich nicht mit dem Registrieren der entstandenen Probleme begnügen. Wir werden die Regierung — sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierungen — kritisch bei der Lösung der neuen Aufgaben begleiten.Aber nicht nur Regierungen, nicht nur Parlamente, haben eine neue Verantwortung durch die Ankunft der Zuwanderer erhalten. Ich wende mich daher an alle unsere Mitbürger in der Bundesrepublikmit der dringenden Bitte, die Landsleute, die sich bei uns eingewöhnen wollen und eingewöhnen müssen, nicht ins Abseits geraten zu lassen.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten eine Reihe wirklich bewundernswerter Formen der Hilfsbereitschaft erlebt. Wir haben nicht nur gesehen, daß die großen karitativen Vereinigungen tätig wurden, sondern wir haben viele kleine und mittlere Organisationen und Gruppen erlebt, die ganz selbstverständlich bewiesen haben, was Nachbarschaftshilfe sein kann. Zum Dank an diese Gruppen gehört die Bitte an uns alle, den Beispielen zu folgen und mit Rat und Tat dann zur Verfügung zu stehen, wenn der neue Nachbar nicht weiß, wie er sich in unserer so anderen Umwelt Bundesrepublik Deutschland zurechtfinden kann.
Gestatten Sie mir eine Schlußbemerkung, die über diese Frage hinausgeht. Freizügigkeit ist für uns eines der Grundrechte des Menschen. Die Beziehungen zwischen den Staaten in Deutschland verbessern sich, je näher wir in allen Teilen Deutschlands der Verwirklichung dieses Grundrechts kommen.
Die Beziehungen leiden indessen, je weniger sich die DDR-Regierung um die Erfüllung des Menschenrechts auf Freizügigkeit kümmert. Damit appelliere ich an die Behörden der DDR, nicht das wieder rückgängig zu machen, was sie in den letzten Monaten an Positivem getan haben.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Terborg.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, Fragen, die zwischen uns nicht im Streit stehen, müssen nicht künstlich zwischen den Fraktionen dieses Hauses kompliziert werden. Jeder von uns hat jenen Mitbürgern aus der DDR von Herzen Glück gewünscht, die — in ungewöhnlich großer Zahl — ihren Ausreisewunsch in die Bundesrepublik Deutschland verwirklichen konnten.Allein von Januar bis April dieses Jahres konnten 23 457 DDR-Bürger in die Bundesrepublik ausreisen. In den letzten Tagen jedoch ist diese Zahl drastisch zurückgegangen. Waren es im April noch an die 200 bis 500 Personen, die täglich in Gießen willkommen geheißen werden konnten, sind es derzeit täglich 43 Mitbürger, die ausreisen durften; in Berlin beispielsweise von gestern auf heute 71.Das mag an manchen Stammtischen bei uns Erleichterung ausgelöst haben. Denn die Brüder und Schwestern aus der DDR werden plötzlich als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt angesehen. Wir Sozialdemokraten sehen das nicht so. Wir fühlen uns im Gebot des Grundgesetzes, und das unter-
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Frau Terborgscheidet nicht zwischen solchen Deutschen und solchen Deutschen.
Eine derartige Haltung birgt aber auch Verpflichtungen. Wir müssen nach Wegen suchen, wie wir den Neubürgern bei uns die Eingewöhnung erleichtern können. Um es klar zu sagen: Wir wollen ihnen keine Teppiche auslegen, aber Anspruch auf unsere solidarische Hilfe haben sie. Wir täten Unrecht, sie ihnen nur zähneknirschend zu gewähren.Wir halten es für richtig, daß nach zehn Jahren die einmalige Begrüßungsgabe von derzeit 150 DM pro Erwachsenen und 75 DM je Kind mindestens verdoppelt wird;
denn die eingefrorenen Beträge sind zu einer peinlichen Morgengabe verkommen.
Außerdem muß die Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern entfallen. Wir alle wissen, was 75 DM heute sind, wenn man ein Kind neu anziehen soll.
Auch eine andere Bezeichnung für das Wort „Begrüßungsgabe" — z. B. „Übergangsgeld" — würde der Sache gerechter werden.Wir Sozialdemokraten denken auch an die Veränderung des einmaligen Zuschusses für die Einrichtung der Wohnung eines Neubürgers. Die Neuanschaffung von Möbeln wird bezuschußt, nicht aber die Umzugskosten. Das macht wenig Sinn und sollte schleunigst geändert werden. Das Land Nordrhein-Westfalen hat hier Lösungsmöglichkeiten für ein unkompliziertes Verwaltungsverfahren entwikkelt.Besondere Beschwerden entstehen den Umsiedlern bei ihren ersten Kontakten mit dem Arbeitsamt. In Gießen erhalten die DDR-Bürger Bescheinigungen, die ihnen das Recht einräumen, Leistungen des Arbeitsamts, des Sozialamts und des Wohnungsamts in Anspruch zu nehmen. Normalerweise genügt dieses Papier, nicht aber beim Arbeitsamt. Die Bescheinigungen werden oft nicht anerkannt, die Leistung wird mit großer zeitlicher Verzögerung ausgezahlt. Viele Übersiedler müssen auf die erste Leistung oft Wochen warten und geraten in Bedrängnis. Wir müssen das ändern, denn unsere Verfassung räumt auch diesen Bürgern einen eindeutigen Rechtsanspruch ein.Die ehemaligen DDR-Bürger haben Probleme, weil ihre berufliche Qualifikation, die sie drüben erworben hatten, hier nur zögernd anerkannt wird und nicht immer vergleichbar ist. Auch das Arbeitsamt hat Probleme, die Übersiedler in die richtige Leistungsgruppe einzuordnen. Gut, das gibt es; aber in solchen Fällen kann man mit Vorschüssen die Probleme überbrücken. Und die Länder könnten ihren Teil dazu beitragen, daß die Zertifikate, die drüben erworben wurden, beschleunigt bei uns anerkannt werden.Noch etwas sollte man meiner Meinung nach ändern: Die Neubürger, ohnehin von der ersten Begegnung mit dem Westen verwirrt, werden von den Diensten schon am ersten Tag ausgeforscht, ohne daß man ihnen Zeit läßt, ihre Gedanken zu ordnen. Ich meine, die Erkenntnisse, die auf solchem Wege gewonnen werden, sind höchst fragwürdig, und die Methode ist außerdem inhuman.
Nicht nur der Staat muß helfen, wir alle können das. Der Bund der Mitteldeutschen hat unter dem Kentwort „Deutsche helfen Deutschen" zu einer Spendenaktion aufgerufen. Bei allen Banken, Sparkassen und Postscheckämtern liegen Einzahlscheine bereit. Bitte, benutzen wir sie.Ferner sollten wir uns die Informationen ansehen, die einem Ausgereisten zur Eingewöhnung angeboten werden. Ich fürchte, hier wird nur sehr sporadisch mit dem Kopf eines DDR-Bürgers und statt dessen sehr bundesdeutsch gedacht.Wir haben vor der Ausreise keinem DDR-Bürger die Entscheidung erleichtern können, von Deutschland nach Deutschland ziehen zu sollen. Wir durften das auch nicht, denn die Rückfahrkarte gibt es nach Ost-Berliner Aussage nicht. Und wer kann es sich schon erlauben, die Entwurzelung von Menschen fördern zu wollen? Das muß deren eigene Entscheidung bleiben, denn sie allein und ihre Familien tragen die Konsequenzen.Es gibt übrigens unserer Ansicht nach ein probates Mittel, diese Form der neuen Völkerwanderung zu stoppen: Man gebe den Menschen die Möglichkeit, die beiden unterschiedlichen Systeme kennenzulernen. Die persönliche Begegnung ist allemal die beste Möglichkeit, sich ein klares Urteil zu bilden. Je eingesperrter sich ein Mensch vorkommt, desto stärker ist sein Drang, der Begrenzung zu entfliehen.Seit nunmehr zehn Jahren haben wir mit der Einrichtung Ständiger Vertretungen in beiden deutschen Staaten die Voraussetzung für mehr Verständnis im Umgang der Staaten miteinander geschaffen. Sie sind noch ausbaufähig. Natürlich kann man eine Normalisierung der Erfüllung von Reisewünschen nur in Etappen erreichen. Natürlich erschwert es die Normalisierung, wenn unsere Dienste an den Grenzen unsere Gäste aushorchen, weil es die DDR vielleicht auch tut. Auch da empfehlen wir Abstinenz.Die SPD wird immer für eine Politik zu haben sein, die dazu beiträgt, daß von Deutschland nach Deutschland in beide Richtungen Menschen aller Altersgruppen ungehindert reisen können. Wir sind nicht des albernen Glaubens, daß dererlei Begegnungen zur völligen Ausblutung der DDR führen würden. Das genaue Gegenteil wäre der Fall. Wenn aber drüben die Daumenschrauben wieder angezogen werden sollten, wächst der Drang, die Fronten zu wechseln, weil sie halt Fronten sind und nicht ein Streifen zwischen gleichberechtigten Nachbarn. Wir alle hoffen, daß die Weiterführung des deutschdeutschen Dialogs letztlich auch diese Frage löst. Das bedarf allerdings noch langer, geduldiger An-
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Frau Terborgstrengungen. Wir sollten nicht davor zurückschrekken.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz aller Freude darüber, daß eine so große Zahl — größer als in den vergangenen Jahren gewohnt — von Ausreiseanträgen im Laufe dieses Jahres genehmigt worden ist und zur Zeit genehmigt wird, liegt über der Tatsache, über die wir damit reden, ein Hauch von Bedauern, ja, wenn wir an die Frage der Teilung denken, ein Hauch von Trauer. Wir beraten wieder einmal über einen Antrag, der formuliert ist, um Symptome zu kurieren, die allein durch die Teilung unseres Landes verursacht werden. Diesmal handelt es sich um ein Symptom, das in unserem eigenen Hoheitsbereich auftritt. Wie so oft im Bereich der Deutschlandpolitik ist das auch unsere einzige Möglichkeit, weil uns eine ganzheitliche Therapie zur Zeit noch nicht möglich ist.Weil wir das grundsätzliche Ziel, daß die Lebensverhältnisse in der DDR durch freie Selbstbestimmung der Bürger dort so gestaltet werden, daß sie auch von Minderheiten akzeptiert werden können, im Augenblick nicht erreichen können, müssen wir wenigstens die Folgen dieses Mangels, soweit uns möglich, lindern. Eine dieser Folgen von solchen Mangelerscheinungen ist der Entschluß von Hunderttausenden von DDR-Bürgern, das Hoheitsgebiet der DDR zu verlassen und sich damit dort, wo sie jetzt noch leben, bis zur Erteilung einer Ausreisegenehmigung noch schwierigen Lebensbedingungen auszusetzen. Bis heute hat die DDR-Führung nach eigener Bekundung in Ausführung der KSZE-Schlußakte und des Madrider Dokuments nur einem Bruchteil der Antragsteller die Ausreise gewährt; aber schon diese Zahl war unerwartet hoch, kam unverhofft und fand uns an vielen Punkten unvorbereitet.Wenn auch sicher niemand von uns, meine Damen und Herren, diese Lockerung seitens der DDR als die Verwirklichung der Beschlüsse von Helsinki und Madrid ansehen wird, so sind die bisher getroffenen Maßnahmen im Interesse der betroffenen Menschen zu begrüßen. Zu Befürchtungen, angesichts eines Schneeballeffekts werde die DDR in absehbarer Zeit zu ihrer restriktiven Haltung zurückkehren, besteht nach meiner Meinung trotz der jüngsten Zahlen noch kein Anlaß, obwohl solche Befürchtungen, Frau Kollegin Terborg, sicherlich nicht unbegründet sind. Sollte die DDR aber zu ihren Restriktionen zurückkehren, muß sich ihre Führung darüber im klaren sein, welchem Begründungszwang sie gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit ausgesetzt sein wird, denn die Beschlüsse von Helsinki und Madridgelten auch zu einem solchen Zeitpunkt noch unverändert.
Sowohl der Gefahr einer Abstimmung mit den Füßen als auch dem Negativ-Image eines Staates, der seine eigene Bevölkerung einsperrt, vermag die DDR nur dann zu entgehen, wenn sie die Grenzen für Reise- und Besuchsverkehr hinüber und herüber durchlässiger macht. Eine solche vernünftige Lösung läge im Interesse der Menschen in beiden deutschen Staaten, wenn sie auch zur Zeit angesichts der Haltung der DDR als Utopie erscheint. Aber sie läge auch im Interesse der DDR selbst und ihres Ansehens in der Welt.Wir haben es heute damit zu tun, daß eine Vielzahl von Übersiedlern aus der DDR verstärkt durch die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik Deutschland Schwierigkeiten gegenübersteht, die sie nicht aus eigener Kraft meistern können. Hier, meine Damen und Herren, liegt unsere Aufgabe — einmal die des Staates in allen seinen Verwaltungseinheiten, in Bund, Ländern und Kommunen. Da müssen unter anderem Ungereimtheiten bei der Arbeitslosenunterstützung — um z. B. einen akuten Fall zu nennen — für Ehepaare mit Kindern gegenüber kinderlosen Ehepartnern bereinigt werden, oder es muß nicht nur die Unterstützung von Arbeitnehmern, die von drüben kommen, sondern auch derjenigen, die aus selbständigen Berufen — die es ja auch in der DDR noch gibt — in unseren Bereich kommen, geregelt werden.Es geht weiter im Hochschulbereich — der Kollege Reddemann hat schon darauf hingewiesen — um auftretende Probleme bei der Anerkennung von Zeugnissen, Studienzulassung und Ausbildungsförderung. Auch, Kollege Reddemann, wenn die Schüler der Gymnasien aus der DDR mit Russisch als zweiter Fremdsprache hierher kommen, sind sie selbst auf den Schulen, an denen Russisch bei uns gelehrt wird, noch nicht in der Lage, unbehindert in das völlig andere Unterrichtssystem einzutreten. Im Bereich der Ausbildungsförderung müssen auch die notwendigen finanziellen Mittel zügig bereitgestellt werden. Bezüglich all dieser Probleme gerade im Hochschulbereich verweise ich im Augenblick hier nur auf den Bericht der Otto-Benecke-Stiftung, der hier ja in eindrucksvoller Weise einen Überblick gibt.Ich will deswegen im Augenblick auch keine weiteren notwendigen Einzelmaßnahmen nennen. Wichtig ist, daß schnell geholfen wird.Zum anderen gibt es aber auch die menschliche Aufgabe, eine Aufgabe für uns alle. 1953 schrieb Marion Gräfin Dönhoff in der „Zeit":Es ist schwer in einer Zeit, die die Flüchtlinge nach Millionen zählt, die Vorstellung vor Augen zu haben, daß sich der Mengenbegriff Millionen aus Einzelschicksalen zusammensetzt, aus dem Schicksal einzelner Menschen, die leiden, sich fürchten, Sehnsucht haben, verzweifelt sind und die nun auf lange Zeit in einem Lager leben müssen. Es braucht nur
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Ronneburger— so schrieb Gräfin Dönhoff —ein wenig Liebe und ein bißchen Phantasie, um sich darauf zu besinnen, daß ihr Schicksal jeden einzelnen von uns angeht.In der Zeit des Wiederaufbaus der Bundesrepublik hat es die Bevölkerung dieses Staates geschafft, Millionen von Flüchtlingen zu integrieren. Heute, 30 Jahre danach, sind es nicht Millionen. Die Übersiedler müssen auch nicht lange Zeit in den Lagern verbringen, aber wie damals müssen auch diese heute bei Null anfangen, und das als Mitglieder einer freiheitlichen pluralistischen Gesellschaft, die ihnen ungewohnt und unübersichtlich ist. Es sollte daher für uns heute kein Problem sein, denen, die nun tatsächlich zu uns kommen, den Start in unserem Staat, in unserer Wirtschaft, aber auch in unserer Gesellschaft möglich zu machen. Gerade unsere freiheitliche Gesellschaft mit ihren vielen Gruppen und Einzelinitiativen ist in der Lage, da, wo sie gebraucht wird, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.Vor einigen Tagen erst habe ich — sicherlich nicht ich allein — einen Bericht eines eingetragenen Vereins mit dem Namen „Flüchtlingsstarthilfe" in Hamburg erhalten, der jetzt schon über 30 Jahre hinweg 19 000 Ostflüchtlingen, wie es in seinem Bericht heißt, mit 6,5 Millionen DM, mit persönlichen Vermittlungen und mit Sachspenden ihren Start bei uns ermöglicht und erleichtert hat. Ich glaube, es bedarf keines weiteren Beispiels dafür, daß es nicht immer Geld sein muß, das hilft. Allerdings muß es auch das sein. Wenn wir es zur Verfügung stellen, dann sollten wir es dort tun, wo die Wirkung vervielfacht wird, nicht durch anonyme Überweisung aus der Staatskasse.Wenn in Presse und Fernsehen vor einigen Wochen von Rückkehrwilligen berichtet wurde, die ihre Entscheidung hierherzukommen bedauerten, so zeigt das einerseits zwar, daß Schwierigkeiten entstehen können, die auch nicht verschwiegen werden sollen. Aber angesichts der geringen Zahl, die die Journalisten haben ausfindig machen können, und der Zahl der anderen Übersiedler sind solche Berichte für mich eher eine Bestätigung der Vorzüge unserer gesellschaftlichen Ordnung als ein geeignetes Mittel, die Flut vor Anträgen von DDR-Bürgern propagandistisch zu dämpfen, wie es die DDR-Führung mit auch noch verkürzten Zitaten versucht hat.Der vorliegende Entschließungsantrag ist ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/ CSU und FDP. Ich bin gespannt, wie die Fraktion der GRÜNEN begründen wird, warum sie einem solchen Antrag mit einem solchen Inhalt nicht hat beitreten können.Ich möchte hier meiner Genugtuung darüber Ausdruck geben, daß der große Konsens nicht nur das Verhältnis zum anderen deutschen Staat und der Menschen dort umfaßt, sondern auch die Haltung zu den Problemen der Übersiedler hier nicht Gegenstand parteipolitischer Profilierung ist. Die FDP-Fraktion wird selbstverständlich dem auchvon ihr mitgestellten — und begründeten Antrag zustimmen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schneider .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde hier heute wahrscheinlich Redezeit verschenken, nicht, weil es, wie üblich bei diesem Thema, so spät ist, und auch nicht, weil es, wie üblich, so leer im Hause ist, sondern, weil es sich bei dem vorliegenden Antrag um kaum etwas anderes handelt als um einen Anlaß, freundliche oder sentimale Schaufensterreden oder Danksagungen abzulassen.
Diesem möchte ich mich nicht anschließen.Wer das betreffende Papier einmal schnell überliest, mag vielleicht verständnislos den Kopf schütteln über die GRÜNEN, die für einen Antrag der Altparteien zur Deutschlandpolitik wieder einmal so wenig Begeisterung zeigen, obwohl doch alles, was da drinsteht, richtig und nötig zu sein scheint. Fürwahr, der Text besteht aus vielen schönen Worten. Nur werden diese Worte leider nichts bewirken. Sie sind wohlfeil zu haben. Sie kosten kein Geld.
Geld aber wird in zahlreichen konkreten Fällen nötig sein, weil viele, vielleicht sogar sehr viele, die jetzt mit großen Hoffnungen aus der DDR übersiedeln, Enttäuschungen erleben und zusätzliche Hilfe brauchen werden, die nicht durch die bestehenden Regelungen und Haushaltsansätze zu leisten sein wird.Wenn die Fraktionen dem vorliegenden Papier heute zustimmen, dann wird sich damit an der Wirklichkeit und an den persönlichen Problemen der betroffenen Menschen nichts, aber auch gar nichts ändern.
Warum aber kommt dieses Thema trotzdem heute auf die Tagesordnung? Doch nur, weil etwas nicht stimmt im Lande, weil die Politiker zwar die Neuen in der gelobten Freiheit begrüßen, die Bundesbürger und die Behörden aber viel weniger oder kaum. Die Bundesrepublik ist nicht das gelobte Land, für das es sich ausgibt. Da muß Tünche her. Deshalb diese Abstimmung und diese Reden heute.Wider Willen stellt der Bundestag mit dem vorliegenden Antragstext den Verhältnissen im Lande selbst ein Armutszeugnis aus, wenn er an alle Menschen appelliert, solidarisch, menschlich und hilfsbereit gegenüber den Übersiedlern aus der DDR zu reagieren. Offensichtlich fehlt es an echter Anteilnahme.
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Schneider
Muß man nicht aus den Ermahnungen, die in diesem Text stehen, ableiten, daß es mit der doch eigentlich selbstverständlichen zuvorkommenden Pflichtauffassung der Arbeitsämter, der Krankenkassen und der Sozialämter im argen liegt? Die Parteien haben die papierne Beschwörung, die hier vorliegt, fabriziert, um auf das deutliche Grollen des Unmuts zu reagieren, das den Neuankömmlingen aus der hiesigen Bevölkerung entgegentritt, einer Bevölkerung, die in den letzten Jahren geradezu dazu angehalten wurde, die Schuld für alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht bei Kabinett und Kapital zu suchen, sondern sie dem Umstand zuzuschreiben, daß in der Bundesrepublik angeblich zu viele Menschen leben, besonders zu viele Zugereiste, besonders zu viele Ausländer.Die Lebenswirklichkeit in dieser Bundesrepublik wird nämlich geprägt
— Herr Reddemann, hören Sie doch ruhig auch mal zu! — durch eine Ideologie des Konsums um jeden Preis, des Geldverdienens ohne Rücksicht auf den Mitmenschen, des Leistungsterrors und Konkurrenzdrucks um eines im wahrsten Sinne des Wortes mörderischen Wachstums willen. Diese Orientierung der kapitalistischen Leistungsgesellschaft bildet den Hintergrund zum vorliegenden Antrag. Diese Gesellschaftsform in der Bundesrepublik, erzeugt die Gleichgültigkeit oder auch Feindseligkeit der Menschen, die hier leben und Probleme haben,
gegenüber Menschen, die zu uns kommen mit noch größeren Schwierigkeiten, Problemen und Nöten.
Wenn Worte, wie sie hier gebraucht werden, auch einen Sinn stiften und die Wirklichkeit bestimmen sollen, dann müßten ihnen Taten vorangegangen sein oder doch folgen.
Ein großzügig ausgestatteter Sonderfonds für unbürokratisch zu leistende praktische Hilfen bei der Eingliederung wäre das mindeste. Da möchte ich mich auch Herrn Ronneburger anschließen. Was er hier über Hilfen gesagt hat, fand ich durchaus akzeptabel. Es geht nicht nur darum, mit Geld die Probleme zu lösen, aber es muß auch Geld her. Auch was er über Selbsthilfe gesagt hat, findet in einem gewissen Maße durchaus unsere Unterstützung, weil es hier um zusätzliche Hilfen geht
— die grüne Partei! —, die von den bestehenden Regelungen nicht geleistet werden können.
Die Lippenbekenntnisse der Parteien, die wir heuteauch hier wieder gehört haben, wären sicherlichglaubwürdiger, wenn sie sich mehr an den Bedürfnissen der Menschen orientieren würden und wenn das auch ablesbar wäre an Ihrer Politik gegenüber Übersiedlern, Flüchtlingen und Arbeitsemigranten.Besonders in bezug auf die CDU/CSU erscheinen die vorliegenden Antragsformulierungen für mich wie pure Heuchelei, wenn man sie zum Beispiel an den Taten eines Herrn Lummer mißt, der als Innensenator in West-Berlin die 8 000 aus Polen gekommenen Flüchtlinge mit beispielloser Härte und brutalem Druck zu Obdachlosen und zu Bettlern preßt und ihnen nur die Wahl läßt, entweder wieder nach Polen zurückzufahren — da werden großzügig Fahrkarten zweiter Klasse angeboten — oder die unmenschlichen Bedingungen von Asylbewerbern mit der ihnen dann auch drohenden Abschiebung auf sich zu nehmen. Das ist die Wirklichkeit in West-Berlin, von einer CDU-geführten Regierung, der natürlich mobile, zu allen Arbeitsbedingungen bereite, von der DDR gut ausgebildete Zuzüge aus den Lagern in Marienfelde und aus Gießen sehr viel lieber sind.
Dafür setzen Sie in Berlin alle Regeln der Solidarität und der Verpflichtung zu menschlicher Hilfe außer Kraft.
— Sie müssen wirklich mal nachlesen, was die Presse über die Verhältnisse bei den polnischen Flüchtlingen zu schreiben und zu sagen hat. Somit setzt dort in Berlin die CDU-geführte Regierung — ich wiederhole das noch einmal — alle Regeln von Solidarität und Verpflichtung zu menschlicher Hilfe außer Kraft, für die Sie sich hier im Bundestag so wortreich stark zu machen vorgeben.Wir lehnen den vorliegenden Antrag nicht ab, weil wir nachhaltig wünschen, daß die Menschen aus der DDR von den Behörden gut behandelt werden und daß sich die Menschen hier in der Bundesrepublik so verhalten, wie es nötig ist gegenüber Nachbarn, die Sorgen und Probleme haben. Wir stimmen aber auch nicht zu, weil die schönen Worte nur die wirklichen Probleme verdecken und als Alibi für künftiges Nichtstun herhalten werden. Die Fraktion der GRÜNEN wird sich an der Abstimmung nicht beteiligen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 10/1321 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist der Antrag einstimmig angenommen worden.
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Vizepräsident Westphal
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 14:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner, Dr. Althammer, Dr. Czaja, Dr. Jobst, Jäger , Sauter (Epfendorf), Petersen, Dr. Friedmann, Dr. Kunz (Weiden), Sauer (Stuttgart), Kroll-Schlüter, Graf Huyn, Brunner, Jagoda, Dr. Todenhöfer, Milz, Dr. Schwörer, Keller, Biehle, Graf von Waldburg-Zeil, Jung (Lörrach), Hornung, Tillmann, Rossmanith, Seehofer, Bühler (Bruchsal), Ruf, Höpfinger, Schneider (Idar-Oberstein), Dr. Kronenberg, Schlottmann, Weiß, Lemmrich, Dr. Unland, Dr. Möller, Hedrich, Müller (Wesseling), Gerlach (Obernau), Dr. Müller, Magin, Dr. Marx, Dr. Bötsch und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften über sonstige Hilfen (Sonstige Hilfen — Änderungsgesetz — SHAG)
— Drucksache 10/941 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Es erhebt sich dagegen kein Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache und erteile das Wort zuerst dem Abgeordneten Jäger .
Herr Präsident, ich darf meinen Ausführungen zur Sache vorausschikken, daß es mich überrascht, daß Sie mich als ersten aufrufen. Denn ich bin davon ausgegangen, daß ich als jemand, der sich außer der Reihe zu Wort gemeldet hat, erst nach den Rednern zum Zuge komme, die seitens unserer Fraktion gemeldet sind. Aber da Sie mir nun das Wort erteilt haben, werde ich zur Sache sprechen.Wenn heute über Abtreibungen diskutiert wird, ist fast immer viel zuwenig von denen die Rede, um deren Schicksal es zu allererst geht: von den ungeborenen Kindern. Für sie ist es eine Frage von Leben und Tod und nichts Geringeres, was dabei auf dem Spiele steht. Es geht also um nichts Geringeres als um das Grund- und Menschenrecht auf Leben, das sowohl nach unserem Grundgesetz als auch nach allen völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtsverträgen ein Rechtsgut von höchstem Range ist.Wie recht hat doch der Bischof von Augsburg, Dr. Stimpfle, der im November vergangenen Jahres in der Zeitschrift „Menschenrechte" schrieb — ich zitiere —:Es stimmt traurig und fordert den entschiedenen Protest heraus, daß der Schutzwall der Menschenrechte durch die gesetzlich erlaubte Abtreibung an der empfindlichsten Stelledurchbrochen wurde: beim Schutz wehrlosen Lebens.Daß das Menschenrecht auf Leben auch dem ungeborenen Kind zusteht, jedenfalls vom Zeitpunkt der sogenannten Nidation an, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur sogenannten Fristenregelung vom 25. Februar 1975 ausdrücklich bestätigt. Wie erinnerlich, hatte das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil das 5. Gesetz zur Reform des Strafrechts als verfassungswidrig aufgehoben, weil es die Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche ohne jeden rechtfertigenden Notlagengrund straffrei ließ.Dieser Deutsche Bundestag hat sich immer wieder mit Nachdruck für die Achtung und den Schutz der Menschenrechte in aller Welt eingesetzt. Müssen wir es nicht als ungeheuerliche Herausforderung ansehen, daß in unserem Staat nach neuesten Schätzungen jährlich über 200 000 gezeugte, aber noch nicht geborene Menschenleben unter Mißachtung ihres Menschenrechts auf Leben vernichtet werden?
Drei Viertel dieser vernichteten Menschenleben gehen auf das Konto der sogenannten Notlagenindikation. Sie hat sich inzwischen zu einer Art Fristenregelung durch die Hintertür entwickelt.Eine der wesentlichen Ursachen dafür ist die Ersatzpflicht, die den gesetzlichen Krankenkassen für Abtreibungen auf der Grundlage auch dieser Indikation durch Gesetz auferlegt worden ist.
Dieses Gesetz ist seinerzeit gegen den nahezu einmütigen Widerstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion durchgesetzt worden. Da und dort verbreitete Behauptungen, die von etwas anderem reden, sind gegenstandslos und haben keinen Bezug zur geschichtlichen Wahrheit.Es ist eine besonders heimtückische Folgewirkung dieser Abtreibung auf Krankenschein, daß alle Pflichtversicherten, auch diejenigen, denen es gegen ihre tiefste Gewissensüberzeugung geht, mit ihren Beiträgen zur Krankenversicherung sozusagen zu unfreiwilligen Helfershelfern Tausender von Abtreibungen gemacht werden,
die mit der Bekämpfung einer Krankheit nicht das mindeste zu tun haben.
Aber noch folgenschwerer hat sich die Veränderung
des allgemeinen Rechtsbewußtseins ausgewirkt, die durch diese gesetzliche Regelung zwar nicht ausgelöst, wohl aber massiv und nachhaltig gefördert worden ist.
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Jäger
In seinem bereits erwähnten Urteil zur Fristenregelung sagt das Bundesverfassungsgericht
im Hinblick auf die sozialrechtlichen Folgewirkungen einer Freigabe der Abtreibung durch den Strafgesetzgeber — ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten —:Gesetzliche Rechtsansprüche auf soziale Leistungen setzen voraus, daß der Tatbestand, bei dessen Erfüllung sie gewährt werden, keine rechtlich verbotene mißbilligte Handlung darstellt. Die vorgesehene Gesamtregelung kann deswegen nur so gedeutet werden, daß der vom Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch während der ersten zwölf Wochen nicht rechtswidrig, also vom Recht erlaubt sein soll.So wie hier das höchste deutsche Gericht bei der Abtreibung nach der Fristenregelung beurteilt heute die große Mehrzahl der betroffenen Mitbürger eine Abtreibung auf Grund der Notlagenindikation.
Was die Krankenkasse bezahlt — das ist allgemeines Denken —, kann nicht unrechtmäßig sein.
Nun könnte man dafür in jenen wenigen Fällen noch Verständnis aufbringen — —
— Meine verehrten Damen, die Lautstärke Ihrer Zwischenrufe steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Begründetheit dessen, was Sie sagen.
Nun könnte man dafür in jenen wenigen Fällen noch Verständnis aufbringen, in denen die Notlage entsprechend dem erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts von solcher Schwere ist, daß von der Schwangeren Opfer zugunsten des ungeborenen Lebens mit den Mitteln des Strafrechts nicht erzwungen werden können — um wiederum das Gericht zu zitieren.Aber leider läßt das Strafgesetz Abtreibungen auch dann zu, wenn diese strengen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
Und aus der täglichen Praxis der Beratungsstellenwissen wir, daß ein Großteil der Abtreibungen nachder sogenannten Notlagenindikation nichts mehrmit wirklichen Notlagen der betroffenen Mutter zu tun hat.
Es gehört überhaupt zu den Eigentümlichkeiten der Diskussion über diese Frage,
daß — —
— Dadurch, daß Sie das 25mal hintereinander wiederholen, beweisen Sie nur, daß Sie sich selber mit dieser Frage offensichtlich wenig befaßt haben.
Es gehört überhaupt zu den Eigentümlichkeiten der Diskussion über diese Frage, daß so argumentiert wird, als sei es ausschließlich oder weit überwiegend die schwangere Frau,
die an der Durchführung der Abtreibung interessiert sei und sie betreibe. In Wirklichkeit gibt es jedoch eine Fülle von Erfahrungen, die darauf hindeuten, daß weit mehr als die betroffene Mutter Dritte die eigentlichen Triebkräfte für die Tötung des ungeborenen Kindes sind,
sei es etwa der uneheliche Erzeuger, der Unterhaltsverpflichtungen befürchtet, seien es Eltern von unverheirateten Mädchen, die, wie sie meinen, Schande von der Familie wenden wollen, oder sei es auch da und dort der betriebliche Personalchef, der eine wichtige Mitarbeiterin nicht für die Zeit des Mutterschutzes entbehren zu können glaubt.Es sind wohl diese Fälle von sogenannten Notlagen
— von sogenannten Notlagen! —, deren Finanzierung durch die Krankenkassen den Bischof von Rottenburg, Dr. Georg Moser, veranlaßt hat, die Abtreibung auf Krankenschein als — ich zitiere ihn wörtlich — „Schande unseres Jahrhunderts" zu bezeichnen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Beck-Oberdorf?
Bitte schön.
Herr Kollege, können Sie dafür garantieren, daß keiner Ihrer Herren Kollegen schon einmal seine Freundin oder seine
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Frau Beck-Oberdorf
Ehefrau nach London zur Durchführung von gerade solchen Abtreibungen expediert hat, von denen Sie hier so heuchlerisch reden?
Ich kann hier für gar nichts garantieren. Ich kann nur dafür garantieren, daß die gesetzlichen Regelungen, die allerdings nicht unter Ihrer, sondern unter etwas weiter links angesiedelter Verantwortung geschaffen wordensind, leider nicht verhindert haben, daß im Jahr 200 000 Menschenleben sozusagen legal sterben müssen. Das ist die schauerliche Bilanz einer Gesetzgebung, die zwar für das Leben gedacht war, aber den Erfolg nicht gebracht hat.
Diese Zwangsverpflichtung der Krankenkassen ist in der Tat eine Vergewaltigung des Gewissens von Millionen von Menschen. Und deswegen wollen wir, die Antragsteller, sie mit unserem Gesetzentwurf beseitigen.
Wir können nicht die Hände in den Schoß legen und warten, was das Bundesverfassungsgericht tun wird, dem die Frage zur Entscheidung vorliegt.
Deshalb habe auch ich den Gruppenantrag von 74 Abgeordneten, der hier zur Beratung steht, mit unterzeichnet.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner, hat dazu dem federführenden Kollegen Werner einen Brief geschrieben, aus dem ich zitieren darf.
Kardinal Höffner schreibt:
Im eigenen Namen und im Namen der Deutschen Bischofskonferenz danke ich Ihnen und den Mitunterzeichnern des Gesetzentwurfes für Ihre Initiative und für Ihr Bemühen, den Gewissensbedenken von Millionen Bürgern Rechnung zu tragen und zumindest die Finanzierung der Abtreibungen auf Grund der sogenannten Notlagenindikation zu beseitigen. Sie dürfen bei diesem Bemühen mit der uneingeschränkten Unterstützung der Kirche rechnen.
— Diejenigen von Ihnen, die hier so laut dazwischenrufen, sind doch sonst diejenigen, die sich,
wenn es z. B. um die Frage des Friedens und der Verständigung geht, so gerne auf Bischofsworte berufen.
Ähnlich positive Stellungnahmen gibt es auch aus der evangelischen Kirche. Das bestärkt meine Freunde und mich in unserem Vorhaben.
Ich darf deswegen zum Schluß sagen: Mein Gewissen — ich beanspruche dies genau wie jedes andere Mitglied dieses Hauses für mich — gebietet mir,
in dieser Frage keine Ruhe zu geben, bis der Deutsche Bundestag die Abtreibung auf Krankenschein beseitigt und dem Menschenrecht auf Leben auch für die Ungeborenen Bahn bricht.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich meine, der Redebeitrag des Kollegen Jäger hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß der heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften über sonstige Hilfen eine Umschreibung zur Überschrift hat, um das wirkliche Ziel zu verschleiern. Diesen Entwurf haben 74 männliche Unionsabgeordnete eingebracht.
Den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU wollen wir unseren Respekt dabei nicht versagen. — Dies hat Methode. Aber nicht nur das, der Gesetzentwurf hat es auch in sich.Ein Mitglied der Bundesregierung war zu dem Zeitpunkt, als der Gesetzentwurf eingebracht wurde, noch nicht Parlamentarischer Staatssekretär. Trotzdem ist dieser Gesetzentwurf ein Spiegelbild der bisherigen Regierungspolitik. Und dies heißt Abbau der Liberalität und Belastung der kleinen Leute.
Er fügt sich nahtlos in den Reigen Ihrer bisherigen gesetzlichen Maßnahmen ein.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4947
KirschnerMeine Damen und Herren, die Kollegen, die diesen Gesetzentwurf unterstützen, argumentieren vordergründig mit dem Hinweis, daß es nicht Aufgabe der sozialen Krankenversicherung sein könne, Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen der Indikation der sonstigen schweren Notlage zu finanzieren.
Richtig daran ist, daß es in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Reihe von Maßnahmen und Leistungen gibt, die nicht zu ihrer originären Aufgabenstellung, also der Finanzierung der Behandlung von Krankheiten oder ihrer Verhütung, gehören. Richtig ist auch, daß in. vielen Fällen des Schwangerschaftsabbruchs keine Krankheit vorliegt und die Übernahme der Kosten nicht in die originäre Aufgabenstellung gehört.
Dies gilt aber — wenn Sie schon sagen: so ist das; hören Sie genau zu — ebenso für die Übernahme der Kosten der normalen Entbindung, die j a auch keine Krankheit ist. Das gilt für die Zahlung von Mutterschaftsgeld, das gilt für die Leistungen bei Mutterschaftsurlaub.
— Ja sicher.
— Entschuldigen Sie bitte. Ich habe davon geredet, daß Sie sagen — da war der Zwischenruf —, das sei sehr richtig. Und ich habe darauf hingewiesen — und das müssen auch Sie sich sagen lassen, Herr Dr. Marx; ich weiß nicht, ob Sie Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung sind —,
daß beispielsweise auch Leistungen der Kasse gezahlt werden, die mit Krankheit nichts zu tun haben, wie beispielsweise Entbindung.
Denken Sie beispielsweise auch an das Sterbegeld. Auch das hat mit Krankheit nichts zu tun, und seine Zahlung ist keine originäre Aufgabe der Krankenversicherung. Wenn Sie also dies schon in den Gesetzentwurf hineinschreiben, dann nennen Sie es doch beim Namen und betreiben Sie nicht diesen Etikettenschwindel!
Lassen Sie mich fortfahren. Kein Mensch würde auf die absurde Idee kommen, Leistungen im Rahmen der Mutterschaftshilfe aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu entfernen, nur weil sie eben nicht zu den Aufgaben der Krankenversicherung im engeren Sinne gehören. Die Übernahme dieser Aufgabe durch die Krankenversicherung ist sinnvoll und zweckmäßig. Darüber sind wir uns doch wohl einig. Nur bei der Frage der Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen, diedie Indikation „sonstige Notlage" tragen, fällt immer wieder das Stichwort, dies gehöre nicht zu den originären Krankenversicherungsaufgaben.Meine Herren, diese Argumentation macht doch klar, worum es eigentlich geht. Es geht nicht um den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, es geht um die Regelung des § 218 schlechthin.
Sie wollen über die Beseitigung der Kostenträgerschaft für Schwangerschaftsabbrüche die gesetzliche Regelung schlechthin aushobeln. Es geht Ihnen nicht um die in erster Linie den Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit unterliegende Frage der Kostenträgerschaft bei Schwangerschaftsabbrüchen, es geht Ihnen um die prinzipielle Frage der Schwangerschaftsabbrüche allgemein. Durch die Beseitigung des Krankenversicherungsschutzes für die Frauen in diesen Fällen wollen Sie die Regelung im Strafgesetzbuch unterlaufen.
Wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie das doch auch zu.Als die Reform des § 218 nach langen, schwierigen Beratungen endlich gelang, war für uns als Sozialdemokraten klar: Ohne sozial begleitende Maßnahmen, d. h. ohne eine zweckmäßige und für alle erreichbare Regelung hinsichtlich der Kostenträgerschaft bei Schwangerschaftsabbrüchen mußte die Reform ein Torso bleiben. Sie mußte deshalb ein Torso bleiben, weil sie zwar wohlhabenden Frauen, die die Kosten für den Schwangerschaftsabbruch selbst tragen konnten, Hilfe ermöglichte, aber finanziell weniger gut gestellten Frauen finanziellen Beistand verweigerte.
Dieses Problem wurde gelöst durch das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz, das die Übernahme der Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs durch die Krankenkassen sichergestellt hat.
Nur diese Regelung gewährleistet, daß allen Frauen unabhängig von ihrer finanziellen Situation Hilfe zuteil werden kann, wenn sie in Not geraten sind.Meine Herren von der Unionsfraktion, wenn es Ihnen wirklich nur um die Beschränkung des Aufgabenkatalogs der Krankenversicherung auf das eigentliche Maße ginge und wenn Sie soziale Härten bei Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollen, vermeiden wollten, niemand hätte Sie daran gehindert, Ihren Vorschlag auf Streichung der Kostenübernahme bei bestimmten Indikationen durch die Krankenversicherung zu verbinden mit einem weiteren Vorschlag, in welchem Sie sagen, wer die Kosten an Stelle der Krankenversicherung übernehmen soll. Aber dies haben Sie nicht getan, sondern sich allein auf die Strei-
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4948 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Kirschnerchungsvorschrift beschränkt. Auch dies belegt, daß es Ihnen nicht um den Aufgabenkatalog der Krankenversicherung geht — und über den reden wir eigentlich, das ist der Inhalt Ihres Gesetzentwurfs —, sondern um die Regelung des § 218 des Strafgesetzbuchs.
Von der Kostenbelastung — lassen Sie mich das auch einmal sagen, weil Sie dies in den Vordergrund schieben, bedeutet dies, was die Kassen betrifft, daß, wenn man von 100 Millionen DM ausgeht und 100 Milliarden DM Gesamtaufwendungen für Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 1984 zugrunde legt, daß das ein Promille der Gesamtaufwendungen ist. Bei einem Krankenversicherungsbeitrag von durchschnittlich 11% sind dies 0,01 % Beitrag. Dies ist doch die Summe, um die es Ihnen geht, und das schieben Sie hier im Grunde genommen vor.
— Entschuldigen Sie bitte, Sie brauchen das doch nur einmal selbst nachzurechnen. Hören Sie doch auf mit „1 %". Das ist doch eine Milchmädchenrechnung, die Ihnen niemand abnimmt. Wenn es Ihnen wirklich um Einsparungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geht — lassen Sie mich das einmal sagen —, dann fordere ich Sie auf, in den Bereichen kostensenkende Vorschläge zu machen, wo es wirklich die großen Brocken sind.
Sie haben bisher mit Ihren Kürzungen — ich erinnere hier an die Selbstbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten — ausschließlich den kleinen Mann zur Kasse gebeten. Sie haben dort, wo die großen Brocken sind und wo auch die großen Gelder verdient werden, nicht gekürzt. Darüber müssen wir uns doch einmal ehrlich unterhalten. Es geht doch um die ungleich höheren Ärzte- und Zahnärzteeinkommen, die Gewinne bei der Pharmaindustrie; dies haben Sie alles unangetastet gelassen.
Ich gehe wieder auf den Punkt: Ihre Begründung des Gesetzentwurfes, wonach die Schwangerschaftsabbrüche die Aufwendungen der Krankenkassen zu einem Zeitpunkt über Gebühr belasten, in dem den Versicherten im Krankheitsfall zusätzliche Kostenbeteiligungen abverlangt werden müssen, wobei „müssen" schon von unserer Seite mit einem großen Fragezeichen versehen wird, ist, das möchte ich noch einmal betonen, nichts anderes als ein Etikettenschwindel.
Meine Herren von der Unionsfraktion, Ihr Gesetzentwurf enthält zudem ein Element, aus dem ganz deutlich wird, daß Ihr Vorschlag in erster Linie Abschreckungscharakter gegenüber in Not geratenen Frauen haben soll, die vor der Frage eines Schwangerschaftsabbruches stehen. Das bisherige Recht bestimmt, daß die Krankenkasse die Kosten der ärztlichen Beratung der Schwangeren, ihre Begutachtung und die Kosten des Abbruchs selbst übernimmt.Sie wollen nun, daß die Kosten des Abbruchs selbst bei einer ganz bestimmten Indikation, nämlich der Indikation der „sonstigen Notlage", nicht mehr übernommen werden. Die Entscheidung über die Indikation, also die Entscheidung, ob eine Notlagenindikation oder eine der beiden anderen Indikationen vorliegt, trifft der beratende Arzt in eigener Verantwortung nach der Begutachtung. Diese Indikationsentscheidung wird begutachtet und dann das Vorliegen der Voraussetzung eines nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruches festgestellt. Erst mit dieser Feststellung weiß die Schwangere sicher, ob ein Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt ist und auf welche Indikation er sich stützt. Erst zu diesem Zeitpunkt also erfährt die Schwangere nach Ihrem Vorschlag, ob die Kosten von der Krankenkasse übernommen werden oder nicht. Liegt eine Notlagenindikation vor und kann die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch aus eigenen Kräften finanziell nicht bewältigen, wird sie also von ihrem Entschluß zurücktreten und muß gleichwohl die Kosten der vorangegangenen Beratung und Begutachtung zahlen.Ich sage Ihnen: Viele Frauen werden diese Ungewißheit nicht riskieren können und von Rat und Hilfe Abstand nehmen. Sie haben hier ein Abschreckungselement eingebaut, das ganz offenkundig die Frauen auch davon abhalten soll, überhaupt den Weg zur Beratung und zur Hilfe zu gehen.
Sie verunsichern die Frauen in einer Situation, in der sie dringend Vertrauen benötigen.
Ich sage Ihnen, dies ist würdelos.
Ich fordere Sie auf, seien Sie wenigstens so ehrlich: Verstecken Sie sich nicht durch taktische Finessen hinter sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen, wenn es Ihnen um anderes geht.
Ihnen geht es um die Rückwärtsrolle der Reform des § 218. Stellen Sie einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Beratung, und fummeln Sie nicht am Krankenversicherungsrecht herum. Ihnen müssen doch die Folgen klar sein, die Ihre Regelung heraufbeschwört. Wenn die Krankenkasse die Kosten des Schwangerschaftsabbruches bei der sogenannten Notlagenindikation nicht mehr tragen darf, werden Zustände heraufbeschworen, die wir eigentlich glaubten überwunden zu haben. Der Weg zur Engelmacherin und der Abtreibungstourismus — ich weiß, daß dies ein schreckliches Wort ist — werden zwangsläufig wieder zu zweifelhaften Ehren kommen. Dies kennen wir doch aus der Vergangenheit. Sie haben die Augen davor verschlossen und haben geglaubt, dies gebe es nicht. Seien Sie doch endlich einmal ehrlich. Ich sage Ihnen ganz deutlich, es ist
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4949
Kirschnerkeine Frage, daß sich die SPD-Bundestagsfraktion dem mit allen Kräften widersetzen wird.
Glauben Sie denn wirklich, daß Sie mit derart repressiven Instrumenten den Wunsch zum Kind in unserem Lande stärken können, einen Wunsch, der den Staat nichts angeht, sondern allein in die Verantwortung der beiden Partner gestellt ist?Sie reden in hehren Worten von Kindern und Familie, aber gleichzeitig streichen Sie Milliarden im Familienlastenausgleich und setzen dem 50 Millionen für die Schaffung einer Stiftung Mutter und Kind entgegen!
Ihre Minister reden in hehren Worten über neue Mütterlichkeit, und wenn es darauf ankommt, lassen sie die Frauen allein. Der Bundeskanzler ergeht sich in tönenden Worten über die Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft und läßt die Massenarbeitslosigkeit zu, die diese Familie in ernste finanzielle Bedrängnis bringt.
— Ja, das gehört doch zusammen! Natürlich paßt Ihnen das alles nicht. Aber wenn Sie gerade die Fernsehsendung gesehen hätten, in der Ihr Minister Dr. Blüm gesprochen hat, hätten Sie gesehen, daß hier kein Konzept vorliegt, sondern daß man alles laufen läßt. Ich sage Ihnen, auch dies ist etwas, was Sie mit zu verantworten haben.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Wenn Sie hier die Familienpolitik dieser Bundesregierung — der Bundesregierung, die Sie ja unterstützen — so hochhalten, so möchte ich Sie daran erinnern, daß erst jüngst, dieser Tage, die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen und der Familienbund der Deutschen Katholiken — Sie konnten es ja nachlesen — Ihre „Familienfreundichkeit" so gelobt haben.
So heißt es in der Kritik der beiden Präsidenten, Professor Keil und Siegmund: Eine Regierung, der es um den Schutz des werdenden Lebens und werdender Mütter zu tun ist, muß ihre Wertpriorität in einem wirkungsvolleren Engagement auf familienpolitischem Gebiet deutlich machen.
Das ist die Antwort! Die müssen Sie sich erst einmal genau durchlesen.
Sie alle, meine Herren Gesetzesinitiatoren, haben den Haushaltskürzungen in den Jahren 1983 und 1984 zugestimmt, haben Haushalten zugestimmt, die die Familien mit Milliarden belasten und mitder Vermögensteuersenkung die Vermögenden in unserem Land mit Milliarden entlasten.
Wenn Sie von Einsparungen reden, sage ich Ihnen:
Sparen Sie zuerst einmal dort, bevor Sie Milliarden verplempern. Das sind doch die Tatsachen!
— Schulden gemacht? Herr Jäger, ich will Ihnen eines sagen. Wir beide kommen aus dem gleichen Bundesland. Erinnern Sie sich denn daran, daß dort seit 1972 die CDU mit absoluter Mehrheit regiert? Sie sagen „Schulden". Dann hören Sie genau zu: 1972 hatte das Land Baden-Württemberg 5,6 Milliarden DM Schulden, Ende 1982 mehr als 25 Milliarden DM. Ich frage mich: Wer hat das denn gemacht?
Und wollen Sie hier eigentlich vergessen machen, daß Sie sämtlichen Sozialgesetzen zugestimmt haben, daß Sie sämtlichen Steuergesetzen zugestimmt haben? Wollen Sie vergessen machen, daß Sie hier letzten Endes Anträge in Milliardenhöhe gestellt haben? Sie reden vom Sparen und wollen sich im Grunde genommen aus der Verantwortung für Ihre eigene Politik davonstehlen. Das ist der Punkt!
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ? — Bitte schön.
Herr Kollege Kirschner, ist Ihnen bekannt,
daß das Land Baden-Württemberg im Jahre 1986
— ja, 1986 — als erstes und bis dahin wohl einziges Bundesland einen Nullschuldenzuwachs erreichen wird, den es in keinem anderen Bundesland geben wird, und daß deswegen Ihr Beispiel Baden-Württemberg wohl kaum ziehen dürfte?
Herr Kollege Jäger, mein Beispiel zieht sehr wohl. Sie wollen hier ablenken.
Sie haben hier das Stichwort „Schulden" in die Debatte geworfen, und ich habe Ihnen gesagt: Wir kommen aus dem gleichen Bundesland, und innerhalb von zehn Jahren hat die CDU, mit absoluter
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4950 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
KirschnerMehrheit regierend, in Baden-Württemberg den Schuldenstand des Landes verfünffacht.
Davon können Sie eben nicht ablenken, wenn wir hier ehrlich miteinander diskutieren.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Meine Herren von der Unionsfraktion, ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir als Sozialdemokraten werden auf jeden Fall alles in unseren Kräften Stehende tun, damit dieser Gesetzentwurf dieses Haus nicht verläßt. Ich hoffe und bin ziemlich sicher, daß uns dies gelingen wird. Sie aber sollten sich endlich klarmachen, was Sie mit solchen Denkanstößen und Vorstößen letzten Endes eigentlich anrichten.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte wieder zum Thema zurückführen. Ich meine, daß die bisherigen Mißfallens- oder auch Beifallskundgebungen dem Thema, um das es sich handelt, wohl nicht ganz angemessen waren.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die sogenannte Notlagenindikation des § 218 aus den Regelleistungen der Pflichtkrankenversicherung nach § 200f der Reichsversicherungsordnung herausgenommen werden. Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz, das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz, von 1975 hatte den Krankenkassen die Übernahme der Kosten für jeden Schwangerschaftsabbruch auferlegt. Es leistete damit dem weitverbreiteten Mißverständnis: was nicht verboten sei, sei erlaubt, und was finanziert werde, sei ja Rechtens, in verhängnisvoller Weise Vorschub.Dieses Finanzierungsgesetz steht nicht im Einklang mit der Forderung des Bundesverfassungsgerichtes,
wonach der Staat das Recht auf Leben aktiv wahren und die rechtliche Mißbilligung einer jeden Tötungshandlung stets und überall ausdrücken müsse.
Nach der Notlagenindikation wurden 1982 zirka 77 %, 1983 sogar 80 % der gemeldeten Abtreibungen durchgeführt. Zumindest für diese Indikation werden die Gelder der Krankenkassen zweck- und sachfremd verwendet.
Die Krankenkasse ist eine Solidar- und Zweckgemeinschaft mit dem Ziel der Wiederherstellung vonGesundheit, der Vorbeugung gegen Krankheit und der Rettung von Leben.
Abtreibung, verehrte Frau Kollegin, ist nicht Rettung von Leben,
nicht Wiederherstellung von Gesundheit oder Vorbeugung gegen Krankheit. Sie ist das Gegenteil. Sie tötet wehrlosestes Leben, und sie gefährdet in hohem Maße die Gesundheit der Schwangeren. Deswegen, verehrter Herr Kollege Kirschner, muß ich den Vergleich ablehnen, den Sie gezogen haben zwischen Abtreibung und Geburtshilfe, und zwar selbst dann, falls Sie das nur in versicherungsrechtlicher Hinsicht getan haben sollten.Die Mitwirkung an Tötungshandlungen und Gesundheitsgefährdungen darf einem Zweckversicherten in keinem Falle zugemutet werden. Die Krankenversicherung darf nicht durch ein von einer Minderheit wie auch immer gefordertes Versicherungsrisiko Abtreibung in eine Versicherung zur Finanzierung von Tötungen umgewandelt werden. Das war im übrigen die Meinung der CDU/ CSU während ihrer Oppositionszeit. Ich erinnere an den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Müller , der 1974 erklärt hat:Die Erhaltung des Lebens hat Vorrang und nicht die versicherungstechnische Begünstigung der Tötung des Lebens.Und weiter sagte er damals — ich zitiere —:Wenn sich also sämtliche Spitzenverbände der Krankenkassen wiederholt klar gegen die Übernahme der Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs in anderen als in Krankheitsfällen ausgesprochen haben, weil solche Leistungen weder zum Wesen noch zu den Prinzipien noch zum System der gesetzlichen Krankenversicherung gehören und weil das Erfordernis eines objektiv begründeten Bedürfnisses nach Leistungen in diesen Fällen nicht gegeben sei, dann haben wir als Abgeordnete und als Gesetzgeber schon aus diesen Gründen keine Möglichkeit, Ihren Vorstellungen zu folgen.Für die CDU/CSU erklärte Frau Kollegin Verhülsdonk am 19. Juni 1975:Die CDU/CSU hat schon bei der zweiten und dritten Lesung des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes am 21. März 1974 deutlich gemacht, daß sie eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht anerkennen kann, wenn diese mit dem Prinzip der solidarischen Krankenversicherung nicht das geringste zu tun hat. Das trifft aber auf alle nicht krankheitsbedingten Abbrüche zu. Das Wesenselement der gesetzlichen Krankenversicherung besteht darin, daß die gemeinschaftlich aufgebrachten Mittel ausschließlich für die Erhaltung und die Wiederherstellung der Ge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4951
Wernersundheit der Versichertengemeinschaft verwandt werden.Das ist auch heute die Meinung der Antragsteller. Nun an die Kollegen von der SPD, im Hinblick auf den sozialen Aspekt, ein Wort des Sozialdemokraten Claus Arndt, der einst schrieb:Welcher Unterschied besteht zwischen einem Staat, der die Geisteskranken und Krüppel vergast, weil sie ihm nur eine Last sind, und jenem, der sich seiner Verpflichtung, auch dem schwächsten Glied seiner Gemeinschaft, auch dem ärmsten Proletariersäugling ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren, dadurch entzieht, daß er den Mord an jenem unschuldigen Leben gesetzlich gestattet?
Wir Antragsteller, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, sehen im Vordergrund die Fragen des Rechts, der Moral, der Menschenwürde, und nicht die Höhe der Kosten für oder gegen Abtreibungen.
Dem Grundgesetz — Artikel 2 und 4 — sowie dem Solidarprinzip der Gemeinschaft der Krankenversicherten widerspricht es nun einmal, daß jemand gegen sein Gewissen zu ethisch wie gesundheitlich bedenklichen Schwangerschaftsabbrüchen,
also zu Tötungshandlungen, seinen Beitrag leisten muß. Damit werden die Gewissensfreiheit und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verletzt! Da nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Schutzpflicht des Staates nicht nur mittelbare staatliche Eingriffe in das ungeborene Leben verbietet, sondern dem Staat auch gebietet, sich schützend und fördernd auch vor das ungeborene Leben zu stellen, ist von Verfassungs wegen kein zwingender Grund dafür gegeben, daß die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch die Krankenkassen auf jeden Schwangerschaftsabbruch ausgedehnt werden soll.
Herr Abgeordneter Werner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Blunck?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, danke, ich bin sowieso schon wegen der Vorgänge zuvor zeitlich ein bißchen unter Druck geraten. — Zumal ist dies dann nicht zwingend, wenn soziale und medizinische Hilfen zur Abwendung einer Notlage vorhanden und angeboten, aber nicht aufgegriffen werden.
Damit, meine Damen und Herren, ist zumindest auch das Sozialstaatsprinzip unter dem Gesichtspunkt „Rettung des Höchstwerten Leben" verletzt.Nochmals: Die Krankenkassenfinanzierung einer jeden Abtreibung in Verbindung mit den geltenden Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch hat zu einem schleichenden Abbau des Rechtsbewußtseins geführt.
Eine Allensbach-Umfrage hat aufgezeigt, daß die ganz überwiegende Mehrheit sich der Tatsache noch bewußt ist, daß Schwangerschaftsabbruch Tötung menschlichen Lebens ist.
Die entscheidende Auswertungspassage dieses Artikels lautet:
Wenn trotzdem die große Mehrheit für die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs und sei es auf dem Wege der Indikationsregelung plädiert, dann heißt dies nichts anderes, als daß dieser Mehrheit menschliches Leben gegenüber anderen Werten zweitrangig erscheint,
zumindest, wenn es sich um ungeborenes menschliches Leben handelt. Wenn ein Prozeß des Umdenkens stärker um sich greifen soll, dann müßte er wohl an diesem sehr grundsätzlichen Punkt ansetzen:
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4952 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Werner) Schon die Meldungen werden nicht eingehalten Die Dunkelziffern betragen mindestens — —
— Ich habe Verständnis dafür, daß es Sie stört wenn man anders denkt als Sie, aber daß Sie se wenig Toleranz zeigen, dafür habe ich kein Verständnis.
Meine Damen und Herren, darf ich Sie ein bißchen darum bitten, diese Debatte in Ruhe weiterzuführen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Dunkelziffer beträgt mindestens die gleiche bis zweifache Zahl der gemeldeten Abbrüche, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Erhard hat für das Jahr 1981 bei 87 500 gemeldeten Abtreibungen an Hand glaubhafter Unterlagen 212 000 abgerechnete Abtreibungen ermittelt. Für 1982 errechnete der Präsident der Landesärztekammer Hessen bei 91 000 gemeldeten Abtreibungen bundesweit eine Gesamtzahl von 220 000 bis 250 000.
Für 1983 ist bei gemeldeten 86 529 Abtreibungen mit Gewißheit mit einer Gesamtzahl von 250 000 Abtreibungen zu rechnen.
Das heißt, manche Ärzte kommen ihrer Meldepflicht nicht nach und denken weniger an die Verbesserung des Schutzes des Lebens als unter Umständen an ihr Jahreseinkommen.
Groteskerweise wird mit dem Fingerzeig auf den Datenschutz die Überprüfung der Meldepraxis gezielt erschwert. Datenschutz scheint hier vor Menschenschutz zu gehen, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, Strafrechtsexperten— Berater und Ärzte — geben zu, daß mit der Notlagenindikation in hohem Maße Mißbrauch getrieben wird
und daß sie praktisch eine soziale Indikation ist.
Die bestehende Handhabung der Gesetze — —
— Das glaube ich Ihnen gleich.Die bestehende Gesetzgebung bietet wirklich kaum eine Handhabe, eine zur Abtreibung fest entschlossene Frau daran zu hindern. Eine weitere negative Folge des Gesetzes ist, daß eine Schwangere kaum noch dem Druck des Freundes oder der Verwandten, die sie zu einer Abtreibung drängen, Widerstand leisten kann.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß das Verfassungsgericht in Karlsruhe die Frage der Unzumutbarkeit sehr eng gefaßt hat. Es verlangte nämlich, daß grundsätzlich bezüglich der Schwere der Konfliktfälle der Indikationen die Kongruenz gegeben sein müsse. Ich glaube, niemand wird heute behaupten können, daß diese Kongruenz in der Masse der Indikationen gegeben ist.Ich verkenne nicht, meine Damen und Herren, daß die Probleme einer Schwangeren vielfältiger materieller wie psychischer Art sein können, doch zu 70% werden rein finanziell lösbare Motive für eine Abtreibung angegeben.
— Das ist so! Wann, außer in Notwehr und schwerster gesundheitlicher, durch Therapie nicht vermeidbarer Gefährdung sind eigentlich die Gründe für eine Straffreistellung objektiv so schwerwiegend, daß der Staat ohne nachhaltige Störung der Rechtsordnung auf die gewaltsame Durchsetzung der Rechtsnorm Lebensrecht des Ungeborenen verzichten kann?
Gewiß ist, daß in der überwältigenden Zahl aller Fälle mit einer Kombination von finanzieller und medizinischer Hilfe geholfen werden kann.
Dies muß möglich sein in einem Staat mit einem Bruttosozialprodukt von 1 660 Milliarden DM.
Die Abtreibungskosten spielen bei der Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung in der Realität keine Rolle.
— Bei der Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung!
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4953
WernerWenn schon Abtreibungen trotz aller Hilfen möglich sein sollen, dann müßten in allen sogenannten sozialen Notlagen die Schwangere oder ihre Familie oder der Freund die Kosten tragen. Wären beide dazu dann nicht bereit, meine Damen und Herren, dann müßte — da es sich j a wohl nicht um eine krankheitsbedingte Notlage handelt, sondern um eine soziale — das Sozialamt helfen.
Dort ihre Lage offenzulegen, bedeutet für die Schwangere und ihre Familie keine Zumutung. Eine Zumutung ist es vielmehr für viele Beitragszahler, heute Tötungen mitfinanzieren zu müssen.
Meine Damen und Herren, warum legen wir den Entwurf jetzt vor, wo doch Bundesregierung und Parteien das — wann auch immer zu erwartende — Urteil in Sachen Sozialgericht Dortmund abwarten wollen? Wir glauben, daß sich das Bewußtsein in unserem Volke ändern muß! Von alleine wird es sich aber auch in diesem Bereich nicht ändern. Andern — um den Wert des Lebens wieder in den Mittelpunkt zu stellen — müssen die Politiker dieses Bewußtsein. Wir, die Antragsteller, wollen die Diskussion um die politische Gestaltung der Zukunft auch im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs voranbringen! Wir können als Christen und Abgeordnete unser Gewissen nicht mit Ausflüchten, taktischen Überlegungen oder Erfolgsberichten beruhigen.
Alle Hilfen, meine Damen und Herren, werden wirkungslos bleiben, wenn sich dieses Parlament nicht energisch für das Menschenrecht auf Leben auch für den Ungeborenen einsetzt.Notwendig sind Rechtsbesinnung und Durchsetzung des Rechts ebenso wie die Schaffung zusätzlicher Hilfen.
Beides müssen wir angehen und schaffen! Deswegen dieser Entwurf.Der indische Philosoph Tagore sagte ermutigend: „Jedes Kind, das geboren wird, bringt von Gott die Nachricht mit, daß er an der Welt noch nicht verzweifelt."
Mögen wir alle in Zukunft — ich sage das auch ganz bewußt im Hinblick auf Ihre Zwischenrufe — in jedem Kind wieder Gottes Ebenbild sehen!Nunmehr danke ich Ihnen zum Schluß, daß Sie wenigstens nicht alles durch Ihre penetranten Zwischenrufe gestört haben.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Bard.
Nachdem sehr viel über Gewissen von Menschen geredet worden ist, in deren Situation Sie, meine Herren Antragsteller nie kommen werden, möchte ich jetzt — —
— Genau, deswegen können sie so reden.Ich bedanke mich sehr, daß Sie sich über unser Gewissen den Kopf zerbrechen, wie dem beizukommen und zu helfen ist. Ich habe darüber andere Vorstellungen.
Ich wünschte mir, bei Ihnen würde Ihr Gewissen woanders anfangen.
Im übrigen braucht niemand so zu tun, als ob 1 irgend jemand — auch Sie nicht, meine Herren! — gezwungen würde, sein Kind abzutreiben. Tragen Sie es aus!
Worum geht es eigentlich in diesem Entwurf vordergründig? Da wird von der Schutzpflicht des Staates gegenüber ungeborenem Leben geredet, dem Zwang der Mitglieder der Solidargemeinschaft, gegen ihr Gewissen Schwangerschaftsabbrüche zu finanzieren usw.
Geld — eine Entlastung von 100 Millionen DM wird versprochen — und Gewissen, das sind die Hauptschlagworte. Das sieht moralisch, das sieht sparsam aus und ist nichts, nichts als verlogene Scheinmoral.
Aufgenommen wurden die sonstigen Hilfen in die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen gleichzeitig mit der Reform des § 218, und zwar gemäß den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts. Die Reform des § 218 mit Anerkennung der sozialen Indikation und Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch die Krankenkassen gehören also zusammen. Erkennt man eine soziale und wirtschaftliche Not einer Frau an, dann kann man auch nicht von der Frau erwarten, daß sie ohne
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4954 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Dr. Bardfinanzielle Hilfe aus dieser Notlage herauskommen soll. Wie soll sie das können?
Jetzt reden wir einmal vom Geld, weil das ein bißchen vorgeschoben wird. Um wieviel geht es eigentlich? Laut Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen dieses Strafrechtsänderungsgesetzes entfallen zwei Drittel der Kosten auf Familienplanung, ein Drittel auf Schwangerschaftsabbrüche. Das sind etwa 50 Millionen DM pro Jahr. Da kommt man auf einen Betrag von 25 Pfennig pro Monat und Mitglied. Gespart wird dieses Geld auch nicht.
Und dann reden Sie in Ihrem Antrag von einer Ersparnis von 100 Millionen DM. Das Geld würde aber erstens nur gespart, wenn man die Eltern dieser zusätzlich geborenen Kinder davon abhalten würde, ärztliche Versorgung in Anspruch zu nehmen, bis sie selber in das Berufsleben eintreten. Auch Kinder aufzuziehen kostet nämlich entschieden mehr Geld, auch für die Krankenkassen.
Also können Sie überhaupt nicht von Einsparungen oder der Notwendigkeit von Einsparungen reden. Sagen Sie ehrlich, um was es Ihnen denn eigentlich geht.
Sinken würde die Zahl der Abtreibungen sowieso nicht. Was steigen würde, sind die illegalen Abtreibungen;
was steigen würde, sind die Komplikationen, bis hin zu Todesfällen,
durch unerfahrene Kurpfuscher usw.
Und diese Folgekosten lasten Sie ohne Gewissensbisse der Versichertengemeinschaft an.
Soweit der finanzielle Aspekt. Aber da war ja noch das Gewissen. Unumstritten war sie freilich nicht, die Reform des § 218, weder die Fristenlösung noch der Kompromiß Indikationslösung. Trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts wird sie immer noch als nicht rechtmäßig angegriffen. Wir sagen dazu, egal, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt: Die persönlichen Gewissenskonflikte sind Gewissenskonflikte, die in den ganz konkreten menschlichen individuellen Problemen der Frau liegen; sie können nicht per Strafe in irgendeiner Weise aus der Welt geschafft werden.
Immer wird unterstellt, abtreibende Frauen handelten gewissenlos. Zeugt es nicht eher von Gewissenlosigkeit, eine Frau in einer Notlage zu zwingen, gegen ihr Gewissen ein Kind auszutragen oder aus finanzieller Not beim Kurpfuscher ihr Leben aufs Spiel zu setzen oder vielleicht durch die schwierige Geldbeschaffung die Abtreibung solange hinauszuzögern und das Risiko von Komplikationen zu vergrößern? Hier steht Gewissen gegen Gewissen.Krankenversicherungsbeiträge haben mit Gewissen überhaupt nichts zu tun.
Sie sind Beiträge, die zu zahlen fast jeder und jede verpflichtet ist, abhängig vom Einkommen, aber unabhängig davon, wie oft jemand zum Arzt geht oder zur Ärztin, wieviel Pillen oder wieviel Alkohol er schluckt, wie oft jemand eine Entziehungskur macht usw. Auf Grund unseres Systems der sogenannten Solidargemeinschaft zahlen alle die gesundheitlichen Folgen des Lebenswandels aller mit, egal, ob sie nun aus Gewissensgründen antialkoholisch, in jeder Beziehung gesund leben oder ob sie mit ihrer Lebensweise ihre Gesundheit ruinieren und die Kassen belasten.Interessant ist, wo sich Ihr Gewissen, meine Herren, regt, wofür Sie sich angeblich verantwortlich fühlen. Würde man Ihnen sagen, sie seien verantwortlich für die Wirtschaftspolitik allgemein oder für diese oder jene Bauruine, für diesen oder jenen abgestürzten Starfighter, für diesen oder jenen Verkehrstoten, weil Sie ja alles das mit Ihren Steuern finanziert haben, Sie würden das rundweg ablehnen.
— Gut. — Geht es aber um die monatlichen 25 Pfennig, die es Frauen ermöglichen, das ihnen gesetzlich zuerkannte Recht auf Abtreibung in Anspruch zu nehmen, fühlen Sie sich so verantwortlich, daß Sie meinen, ihnen dieses Recht noch nehmen zu können.
Ein weiteres Argument fällt noch häufig; auch heute ist es gefallen: Krankenkassen seien nur zur Verhinderung und Heilung von Krankheiten da. Aber Schwangerschaft ist keine Krankkeit und Schwangerschaftsabbruch natürlich auch nicht unbedingt eine Sache der Vorsorge. Ein sorgfältig durchgeführter Abbruch unter allen notwendigen medizinischen und sozialen Bedingungen verhindert allerdings, daß Frauen nach Abbrüchen durch Kurpfuscher Ärzte in Anspruch nehmen müssen und eventuell an den Folgen sterben.
Tausend Frauen pro Jahr sind schätzungsweise auf diese Art jämmerlich verblutet. Das, was Sie mit diesem Antrag vorhaben, führt zu nichts anderem als zur Rückkehr zu solchen Zuständen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4955
Frau Dr. BardSie sind dann verantwortlich für die tausend Menschen im Jahr, die dann wieder verbluten werden.
Ihnen geht es nicht um Krankheit und Kosten. Ihnen geht es darum, einen Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau zu starten. Sie benutzen die Krankenkassenfinanzierung als einen Vorwand, die Indikationslösung zu stürzen.
Es gibt keine finanziellen Gründe, es gibt keine Ersparnisgründe, es gibt überhaupt keinen Grund, das anders zu sehen. Sie haben hier auch nichts anderes dargelegt. Immer noch wird Frauen hier auch nichts anderes dargelegt. Immer noch wird Frauen unterstellt, sie würden gedankenlos abtreiben und die Abtreibung als Mittel der Empfängnisverhütung benutzen, j a sie seien verantwortungslos — das wurde heute auch angedeutet —, Verlust des Rechtsbewußtseins, ja es mache ihnen vielleicht sogar Spaß.Aber hinter jedem scheinbar so einfachen und gedankenlosen Gang stehen eine konfliktbeladene Zeit des Abwartens, des Überlegens, der Beratung, des Wartens, der Anfeindungen, und ein gewaltsamer Eingriff, der leider häufig auch schmerzhaft ist, eine Zeit körperlicher Beschwerden nach dem Abbruch und der psychischen Aufarbeitung dieses Entschlusses. In die Situation kommen Sie nicht, um das beurteilen zu können. Die Entscheidung, ein Kind nicht zu bekommen, erfordert nicht weniger Verantwortung als die Entscheidung, ein Kind zu bekommen. Und diese Entscheidung kann niemand der einzelnen Frau abnehmen.
Ihr die Entscheidung aber wirklich zu überlassen, hieße eigentlich die ersatzlose Streichung des § 218. Die Indikationslösung ist immer noch nur ein Kompromiß, weil sie die Frau immer noch dazu zwingt, ihre gewissenhafte Entscheidung gegenüber anderen zu rechtfertigen. Wenn ich mir anschaue, vor welchen scheinmoralischen Ansprüchen der Männer sie da zu bestehen hat, ist es gar nicht so leicht für die Frau, dies zu rechtfertigen, ja sie muß es fast verkaufen, damit sie überhaupt unter die Paragraphen fällt. Und auf diesem Weg wird sie heute noch behindert, statt daß ihr geholfen wird. Es ist schon jetzt so, daß die Angebote an Beratungsstellen die Möglichkeiten noch erschweren.Sie sagen, wir wollen die Indikationslösung ja gar nicht ankratzen, wir wollen sie nur nicht finanzieren, und wir wollen nicht mitverantwortlich sein. Aber was immer Sie beschließen: Sie sind mitverantwortlich. Sie sind mitverantwortlich als Zeuger, Sie sind aber auch mitverantwortlich als Vertreter dieses Systems, als Abgeordnete, die hier zu entscheiden haben.
Statt sich jetzt Ihren Kopf zu zerbrechen über das Gewissen von uns Frauen, jeder einzelnen Frau, die sich in solche Konflikte begibt, sollten Sie sich, meine Herren, wirklich verantwortlich fühlen für den Schutz des Lebens, des geborenen und des ungeborenen, nämlich da, wo es anfängt wichtig zu werden, wo es dringend notwendig ist. Die Bedingungen dafür, daß mehr Kinder aufwachsen können, sind, in einer Gesellschaft zu leben, die nicht waffenstarrend ist, in der keine chemischen, biologischen und Atombomben lagern, ist soziale Sicherheit, ist die Möglichkeit der Kinder, in Frieden aufwachsen zu können, und ist es die konkrete Not der Mütter zu beseitigen, wo sie ihre Kinder eigentlich lassen sollen, wenn sie gezwungen sind zu arbeiten. Nicht zuletzt ist es auch die Frage, daß sie in einer gesunden Umwelt aufwachsen können.
Wenn Sie Ihr Gewissen drückt und wenn Sie was für den Schutz des Lebens tun wollen, dann fangen Sie da an. Damit werden Sie allerdings die Zahl der Abtreibungen herunterdrücken können. Damit werden Sie es allerdings mehr Frauen ermöglichen, auch wieder ja zu ihren Kindern zu sagen. Das, was Sie tun, ist eigentlich nur Strafe. Was Sie versuchen, ist garantiert nur der Weg der Frauen, die in Not geraten, in die Illegalität.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Althammer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zuerst etwas zum Stil der Debatte sagen. Die Frau Kollegin Bard hat gesagt, hier stehe möglicherweise Gewissen gegen Gewissen. Das glaube ich auch. Im Grunde kann sich niemand sein Gewissen über das Gewissen eines anderen zerbrechen. Aber Sie sollten bitte auch zugestehen, daß jeder von den Antragstellern auch sein Gewissen hat.
Wir haben über dieses Thema in diesem Hause Debatten von sehr hohem Niveau geführt.
Sie können davon ausgehen, daß diese Dinge von vielen interessierten Menschen sehr genau nachgelesen werden.
Darum meine ich, daß wir uns alle zusammen einen Dienst erweisen, wenn wir uns bemühen, diese Debatte auf diesem Niveau zu führen.
Ich möchte jetzt zunächst einmal etwas dazu sagen, was die Situation der CDU/CSU in sich anlangt. Denn Ihnen ist ja bekannt, daß es 74 Abge-
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Dr. Althammerordnete sind, die diesen Gruppenantrag eingebracht haben.
— Richtig. — Die CDU/CSU hat hinsichtlich der Abtreibung und der damit zusammenhängenden Fragen immer eine klare Linie vertreten. Wir haben uns mit Leidenschaft gegen die sogenannte Fristenlösung gewendet. Wir haben ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erreicht, das in diesen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung ist. Wir haben einen eigenen Antrag zu § 218 vorgelegt, der die medizinische Indikation im weitesten Umfang als Lösung vorgeschlagen hat. Wir haben schließlich in der Frage der sogenannten Abtreibung auf Krankenschein eine ganz klare, geschlossene Meinung unserer Fraktion vertreten; der Kollege Werner hat Zitate dazu vorgetragen.
Und nun ist es so, daß bei der Frage, ob dieser Gesetzesantrag jetzt eingebracht werden sollte, innerhalb der CDU/CSU gravierende Meinungsunterschiede vorhanden sind. Es gibt hier — die FDP wird darauf vielleicht noch zu sprechen kommen — eine Koalitionsvereinbarung. Ich möchte ganz klar sagen: Es gibt auch bei uns keinen Fraktionszwang, aber es gibt natürlich ein Loyalitätsgebot. Ich habe diesen Interessenkonflikt zwischen Loyalitätsgebot gegenüber meiner Fraktion, nämlich zu dieser Koalitionsvereinbarung zu stehen, und der Einbringung dieses Gesetzentwurfs hier wie meine Kollegen ganz persönlich austragen müssen. All denjenigen Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion, die diesen Gesetzesantrag nicht unterschrieben haben, kann man nicht unterstellen — darauf lege ich großen Wert —, daß sie in irgendeiner Form ein etwa anders geartetes oder geringer zu wertendes Gewissen haben als diejenigen, die das getan haben.
— Ich gehe so weit und unterstelle jedem von Ihnen, daß Sie genauso aus Ihrem Gewissen heraus zu Ihrer Haltung kommen.
Ich glaube, auf dieser Basis sollten wir über ein solches Thema miteinander diskutieren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf?
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident, ich hätte das gern getan, aber ich habe nur zehn Minuten Zeit.
— Ja, leider, ich hätte auch gern die Gelegenheit genutzt, darüber zu debattieren. Vielleicht können wir das ein anderes Mal tun. —
Ich möchte noch ein Zweites sagen: Dieser Gesetzesantrag muß bitte im Zusammenhang mit den anderen familienpolitischen Initiativen unserer Fraktion gesehen werden:
der Stiftung „Mutter und Kind", dem Antrag auf Hilfe für ungeborenes Leben und für Familien sowie dem, was wir jetzt im Zusammenhang mit der Steuerreform zugunsten der Familie tun wollen.
Ich darf eines mit Deutlichkeit sagen: Der Antrag auf Hilfe für Mütter, den die Koalition demnächst einbringen wird, ist auch von den Kollegen mit ausgearbeitet worden, die diesen Gesetzentwurf hier einbringen. Da ich in unserer Fraktion mit Familienpolitik sehr viel zu tun habe, darf ich den Kolleginnen meiner Fraktion jetzt sagen, wie dankbar ich ihnen für die gute Zusammenarbeit bin, die wir in allen Bereichen der Familienpolitik gehabt haben, und auch für die Fairneß, mit der wir die Meinungsunterschiede ausgetragen haben, ob dieser Weg, dieses Gesetz einzubringen, der richtige ist. Wir lassen uns da überhaupt nicht auseinanderdividieren, sondern jeder von uns respektiert, daß der andere aus anderen Motiven hier möglicherweise zu einem anderen Ergebnis kommt.
Und nun, meine sehr verehrten Damen und- Herren: Warum zwingt uns unser persönliches Gewissen dazu — und jeder hat nur sein persönliches Gewissen; er kann nicht für andere sprechen —, hier einen weiteren Schritt zu tun, das Bewußtsein für das, was hier notwendig ist, zu schärfen? Ich möchte das mit einem Zitat aus einer Verlautbarung des Caritasverbandes begründen; sie ist in der Nr. 3/1984 veröffentlicht. Sie wissen, der Caritasverband beschäftigt sich sehr viel mit der Beratung von Müttern
und hat auch hierzu bemerkenswerte Ausführungen gemacht. Es ist also eine Organisation, die in diesen Dingen sachkundig und tätig ist. Dieser Verband schreibt — ich darf zitieren —:Wie immer man selbst zu dieser Frage stehen mag, Tatsache ist, daß die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch die Krankenkassen Bewußtsein verändert hat. So läßt der Anspruch auf Kostenerstattung die Vorstellung aufkommen, es handle sich bei einem Schwangerschaftsabbruch um die Lösung gesundheitlicher Probleme oder Vorsorge. Nimmt man nur die Notlagenindikation als Ausgangspunkt der Überlegungen, so geht es in rund 77 % keineswegs um gesundheitliche Probleme.
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Dr. AlthammerDarüber hinaus führt die Verbindung von Straffreiheit, sofern bestimmte im Gesetz festgelegte Bedingungen erfüllt sind, und Kostenerstattung zu einem Fehlschluß, den nicht wenige Bürger auch tatsächlich ziehen: Was der Staat nicht unter Strafe stellt, muß sittlich einwandfrei sein,
um so mehr, als derselbe Staat seine Bürger sogar zur finanziellen Trägerschaft des Schwangerschaftsabbruchs heranzieht, kein Bürger aber von Staats wegen zu sittlich unerlaubten Dingen verpflichtet werden darf. Hier schließt sich der Kreis.Ich schließe noch mal die Bitte an: Wollen wir vielleicht die Diskussion auf dem Niveau führen, das eigentlich notwendig ist!
Und nun müssen Sie auch die Konfliktsituation einer ganzen Reihe von Menschen sehen, die als Zwangsmitglieder dieser Solidargemeinschaft Beiträge zu zahlen haben und die feststellen, daß in dieser Art heute Schwangerschaftsabbrüche hier vollzogen werden. Ich glaube, Frau Kollegin, auch Sie kennen Fälle eklantanten Mißbrauchs der Bestimmungen, die wir haben.Es hat eine Journalistin Klage beim Verfassungsgericht eingereicht.
Das Sozialgericht Dortmund hat in einem Beschluß vom 29. September 1981 festgestellt, daß diese Regelung ein Verstoß gegen die Menschenwürde und gegen die Gewissensfreiheit ist.
Rechtsanwalt Philipp, der eine der Klägerinnen vor dem Verfassungsgericht vertritt, hat folgendes formuliert: Es handelt sich hier — nämlich bei der Weigerung, Beiträge für diesen Zweck zu bezahlen, um den letzten Minderheitenschutz für Christen, nämlich um die Frage,
ob es ihnen erlaubt ist, die Beteiligung an hunderttausendfacher Tötung gesunden menschlichen Lebens zu verweigern.
— Ich will Ihnen damit ja nur sagen, in welchen Gewissensschwierigkeiten Menschen in unserem Land sind, und ich kann Sie nur herzlich bitten, diesen Gewissenskonflikt zur Kenntnis zu nehmen.
— Wenn Sie trotz allem nicht bereit sind, auf einem vernünftigen Niveau zu diskutieren, dann kann ich Sie daran nicht hindern.
Ich jedenfalls werde mich so um diese Frage bemühen. Die Frage, wie mit dem ungeborenen Leben umgegangen wird, ist auch für uns Männer, meine sehr verehrten Kolleginnen, obwohl wir keine Kinder bekommen können, ein moralisches Problem. Diese Frage müssen wir entscheiden, und wir haben sie entschieden.Es gibt Ortskrankenkassenvertreterversammlungen, die die Finanzierung dieser Art von Abtreibung, von denen wir hier reden, abgelehnt haben. Die Ortskrankenkassen Oberallgäu und die Ortskrankenkasse Essen sind zwei davon. Auch hieraus ersehen Sie, daß hier einfach Konfliktsituationen gegeben sind.Daß nur in diesem einzigen Fall Ärzten und Krankenschwestern erlaubt ist, eine entsprechende ärztliche Hilfeleistung abzulehnen, ist doch auch ein Hinweis, daß wir es hier mit einem sehr gefährlichen und neuralgischen Thema zu tun haben.Ich möchte abschließend sagen: Man spricht heute so viel von der Angst, die viele Menschen unter uns bewegt; die Frau Kollegin Bard hat ja einige Stichworte zu den Gründen dieser Angst gegeben. Vielleicht ist es so, daß im Unterbewußten auch die Tatsache wirkt, daß wir uns überhoben haben, in der Weise über ungeborenes Leben zu verfügen, wie wir es tun, daß wir auch hier eine Quelle — —
— Wir verfügen zum Teil mit, wenn wir moralisch nicht das leisten, was notwendig ist, um dieses Leben zur Welt zu bringen.
Aber selbst wenn diese Gesetzesinitiative keine Mehrheit in diesem Parlament finden sollte — es gab einmal einen Fall, nämlich bei der Todesstrafe bzw. der Verjährung, wo sich die Meinung in diesem Haus auch geändert hat —, meine ich, hätte sich diese Diskussion darüber, wo die Grenzen des Mißbrauchs der Abtreibung liegen, gelohnt, wenn sie dazu führte, daß Leben gerettet würden und zur Welt kommen könnten.Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der CDU/CSU, die Sie diesen Gruppenantrag unterschrieben haben, in keinem der Redebeiträge, die ich von Ihnen heute abend gehört habe, war ein Wort über die Not der Frauen zu hören in einer Konfliktsituation, in der sie nicht wissen, ob sie ein Kind annehmen oder eine andere Entscheidung treffen sollen.
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Frau Dr. Adam-SchwaetzerIch muß Ihnen sagen: Das macht mich betroffen; denn es erweckt den Eindruck, als hätten Sie noch nie mit einer Frau gesprochen, die in einer solchen Schwangerschaftskonfliktsituation steht, als hätten Sie noch nie das Erlebnis gehabt, wie es denn ist, wenn diese Frauen sich Tage und Nächte mit der Frage herumplagen; als würden alle Frauen leichtfertig von heute auf morgen einfach zu irgendwem hinlaufen, nur damit sie ihr Kind loswurden. Meine Herren, das geht an der Wirklichkeit, auch an der Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland, hundertprozentig vorbei.
Es ist viel — auf mich zumindest hat es diesen Eindruck gemacht — in Ihren Reden zum Ausdruck gekommen, was mir sehr selbstgerecht vorkam.
Gerade in einer solchen Debatte, wo es wirklich darum geht, daß Menschen ihrem Gewissen folgen, sollte man schon akzeptieren, daß unterschiedliche Entscheidungen möglich sind. Dann allerdings kann keiner für sich allein in Anspruch nehmen, Recht, Moral und Menschenwürde gepachtet zu haben, so wie das, Herr Werner, in Ihrem Beitrag leider zum Ausdruck gekommen ist.
Meine Damen und Herren, Recht, Moral und Menschenwürde, das sind in der Tat sehr hohe Werte, von denen wir uns bei unserer politischen Gestaltung leiten lassen müssen. Aber ich sage: Auch die Selbstbestimmung der Person, die wir in den Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen stellen, ist eine rechtlich einwandfreie, eine moralische Position, die die Menschenwürde in vollem Umfang berücksichtigt.
Die Freiheit des einzelnen verpflichtet ihn, auch die Verantwortung für alle diejenigen wahrzunehmen, die von ihm abhängig sind, für die zu sorgen er sich verpflichtet hat. Das ist doch der Grund, weshalb sich Mütter, aber auch Väter mit dieser Entscheidung so herumplagen, wenn es darum geht, die Entscheidung für oder gegen ein Kind zu treffen. Nur eines ist klar: Wir, die Politiker, oder der Staat können niemandem diese Entscheidung abnehmen.
Es ist eine Entscheidung, die jeder für sich selber treffen muß. Und wir begrüßen es, wenn die Frauen in dieser Frage nicht alleine gelassen werden, sondern diese Entscheidung gemeinsam mit dem Mann treffen können, für den sie sich entschieden haben.Meine Herren von der CDU/CSU-Fraktion: Die FDP kann Ihren Gruppenantrag nicht unterstützen.
Wenn legale Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt werden können, würden das dazu führen, daß wir in einen Zustand zurückkehrten, den wir mit der Reform des § 218 gerade hatten abschaffen wollen, nämlich dem, daß Frauen in die Illegalität getrieben werden.
Es ist zweifellos so, daß gerade die Tatsache, daß sich so vieles in der Illegalität abgespielt hat, dazu geführt hat, daß vielfach auch die Augen davor verschlossen wurden, welche Folgen dies gehabt hat. Folgen sowohl im gesundheitlichen Bereich für die Frauen, die sich einer solchen Operation unterzogen haben, als auch im seelischen Bereich. Dies hatten viele Frauen auszuhalten, weil sie noch viel stärker als heute mit der Entscheidung, aber auch mit den Folgen dieser Entscheidung allein gelassen worden sind.
Diesen unwürdigen Zustand haben wir allerdings mit der Reform des § 218 beendet. Wir wollen auf gar keinen Fall in diesen unwürdigen Zustand zurückkehren.
Man kann nun sehr lange darüber spekulieren, ob es eine originäre Aufgabe der Krankenversicherung ist, Schwangerschaftsabbrüche zu bezahlen oder nicht. Ich muß Ihnen gestehen: Ich halte von einer solchen Diskussion überhaupt nichts.
Es ist eine politische Entscheidung, zu sagen: Wir entscheiden, daß die und die Tatbestände zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören. In diesem ganz konkreten Fall, meine Herren, können wir nun allerdings leicht abwarten, was das Bundesverfassungsgericht zu dem Thema sagen wird. Denn dessen Urteil wird ja auf jeden Fall kommen. Aber letztendlich handelt es sich hier um eine politische Entscheidung, nämlich die Entscheidung darüber, wie wir den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung festsetzen. Diesen Auftrag werden wir uns sicherlich auch nicht nehmen lassen.
— Ich kann nur darüber spekulieren, wie die Bundesverfassungsrichter entscheiden werden. In der Kontinuität früherer Anträge erwarte ich allerdings, daß sie unsere Position bestätigen werden. Ich sage Ihnen auch: Ich hoffe, daß sie unsere Position bestätigen werden — im Interesse derer, die wir aus ihrer Verantwortung in einer solchen Konfliktsituation nicht entlassen können.Meine Damen und Herren, in der Diskussion wird ja denjenigen, die an dem bestehenden Rechtszustand festhalten wollen, immer wieder unterstellt, sie wollten ungeborenes Leben nicht schützen. Dieses ist eine so polemische Unterstel-
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Frau Dr. Adam-Schwaetzerlung, daß man sie mit allem Nachdruck zurückweisen muß.
Viele Kollegen — auch meiner Fraktion — haben sich bei der einige Jahre zurückliegenden Diskussion über die Reform des § 218 sehr lange damit herumgequält und große Entscheidungsprobleme gehabt, ob sie dieser Reform zustimmen sollen. Sie haben ihr zugestimmt, weil letztendlich ein gesamtes Paket zur Förderung des ungeborenen Lebens, das wir damals als die begleitenden Maßnahmen definiert haben, mitbeschlossen worden ist,
weil hier der Rahmen dafür geschaffen werden sollte, daß die Entscheidung der werdenden Mutter für das Kind erleichtert wird. Auch im Rückblick auf die letzten Jahre muß ich sagen: Es ist damit eine ganze Menge Positives bewirkt worden. Aber ich glaube auch, daß wir gut daran tun, sehr sorgfältig zu überprüfen, ob wir nicht noch mehr tun können, um die Entscheidung der werdenden Mutter für ihr Kind zu erleichtern.Das, meine Damen und Herren, ist der Grund, weshalb wir auch die Stiftung „Mutter und Kind" unterstützen, allerdings mit einer sehr sorgfältigen Diskussion darüber, wie denn die Vergabekriterien bei dieser Stiftung aussehen sollen. Das ist auch der Grund, weshalb wir uns mit den Frauen der Fraktion der CDU/CSU zusammengesetzt und darüber nachgedacht haben, was wir hier denn an zusätzlichen begleitenden Maßnahmen machen können, um eine Entscheidung für die Annahme des ungeborenen Lebens zu erleichtern. Ich bin sehr froh, sagen zu können, daß an dieser Diskussion einige Männer sehr lebhaft beteiligt gewesen sind, und zwar in einer Weise, wie man sie im Sinne einer guten Emanzipation und Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen eigentlich nur wünschen kann.
Wir werden noch über einige Kleinigkeiten dieses Antrags zu diskutieren haben. Aber über einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur Förderung der Familien und zum Schutze des ungeborenen Lebens sind wir uns in den Grundzügen einig. Einige Kleinigkeiten werden wir noch diskutieren. Wir werden diesen Antrag dann gemeinsam hier im Bundestag einbringen.Das ist in meinen Augen eine wertvolle Bereicherung der gesamten Diskussion. Ich würde mir sehr wünschen, daß auch die Kolleginnen und Kollegen der Opposition uns in unserem Bemühen helfen, hier ein Klima zu schaffen, in dem Familien sich Wohlfühlen, ein Klima, bei dem es nicht darum gehen kann, wieder alten Rollenbildern anzuhängen, alte Rollenbilder wieder aus der Mottenkiste zu zaubern. Die Wirklichkeit der Bundesrepublik dürfen wir natürlich nicht aus dem Auge verlieren, und die Wirklichkeit der Bundesrepublik ist eben, daß neben den Familien mit Vater, Mutter und ein, zwei, drei oder auch mehr Kindern mehr und mehr Familien leben, in denen alleinerziehende Elternteile mit ihren Kindern zusammen ihr Leben gestalten. Hier muß die Politik insgesamt die Rahmenbedingungen schaffen, daß es möglich wird, eine familienfreundliche Umwelt in der Bundesrepublik zu fördern.Ich möchte mich allerdings auch gegen die Behauptung wehren, die immer mal wieder in dieser Diskussion hochkommt, daß in der Zeit der sozialliberalen Koalition für die Familie nichts getan worden wäre. Meine Damen und Herren, ich möchte nur einmal daran erinnern, daß zu keiner Zeit in der Bundesrepublik Deutschland die direkten Hilfen für die Familien in Form von Transfereinkommen, speziell das Kindergeld, so hoch gewesen sind wie gerade zu der Zeit der sozialliberalen Koalition.
Mit der Kindergeldreform von 1975 und mit den nachfolgenden Erhöhungen ist in der Tat ein notwendiger und wichtiger Beitrag dazu geleistet worden, daß die Familien den ihnen zustehenden notwendigen finanziellen Ausgleich für die gesellschaftliche Leistung bekommen, die sie erbringen.Wir wollen auch nicht die Augen davor verschließen, daß vieles von dem, was wir für richtig gehalten haben, letztendlich nicht mehr dauerhaft finanziert werden konnte. Aber ich will ebenso nicht verehlen, daß auch für uns, die Freien Demokraten, im Zusammenhang mit der Tarifreform 1986 direkte familienfördernde Maßnahmen notwendig sind. Auch die Tarifreform ist eine familienfreundliche Maßnahme; denn gerade eine Entlastung bei den Beziehern von mittleren und kleinen Einkommen ist eminent familienfreundlich, verbessert das Einkommen gerade derer, die besonders darauf angewiesen sind, große Teile ihres Einkommens für die Sicherung des Lebensstandsards ihrer Familien aufzuwenden. Auf diesem Wege wollen wir weitermachen. Uns geht es darum, den Stellenwert der Familie in unserer Politik besonders deutlich zu machen. Das kann sich nicht allein und darf sich nicht allein in finanziellen Zuwendungen erschöpfen. Wir müssen dafür sorgen, daß insgesamt in den Köpfen der Menschen das Bewußtsein wächst, daß Familien mit Kindern eine Bereicherung sind und daß für unsere Gesellschaft insgesamt Kinder sehr, sehr wichtig sind, daß wir arm wären als eine Gesellschaft ohne Kinder. Aber dafür ist es notwendig, den ausreichenden finanziellen Ausgleich zu gewähren.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Gewissen steht gegen Gewissen. Wir sollten es uns nicht so schwer machen, indem wir unser eigenes Gewissen zum absoluten Maßstab setzen. Wir sollten aber auch dafür sorgen, daß wir die Not von Frauen draußen nicht noch dadurch vergrößern, daß wir ein staatlich festgesetztes Gewissen hier im Bundestag beschließen. Auch dies würde an der Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik vorbeigehen. Selbstbestimmung und Verantwortung gehören in einem liberalen demokratischen Staat zusammen; Selbstbestimmung und Verantwortung, das sind die Prinzi-
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Frau Dr. Adam-Schwaetzerpien, von denen sich liberale Politik auch in dieser Frage leiten läßt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehöre auch zu den 74 Abgeordneten, die den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften über sonstige Hilfen unterzeichnet haben.
Eben hat der Kollege Kirschner gefragt: Was wollt ihr damit erreichen? Ich will das deutlich sagen. Ich will mithelfen, draußen den Bürgern deutlich zu machen, daß es im Deutschen Bundestag eine maßgebende Zahl von Abgeordneten gibt, die nicht bereit ist, sich mit dem derzeitigen Zustand auf Dauer abzufinden.
Ich möchte gerade auch als Vorsitzender der Katholischen Arbeitnehmerbewegung aus dieser Überlegung heraus einige Anmerkungen zu diesem Thema sagen.
Es gibt kaum ein Problem, das in den letzten Jahren so leidenschaftlich diskutiert wurde wie die Fragen um den § 218. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen doch sehen — und das ist hier heute verschiedentlich angeklungen —, daß diese Regelung in der Praxis dazu geführt hat, daß mit Hilfe eines Gesetzes die sozial schwächsten, hilfslosesten und unschuldigsten menschlichen Wesen, nämlich die ungeborenen Kinder, auch aus rein materiellen Gründen getötet werden können. Oft werden auch Konflikte im persönlichen Bereich als schwerwiegende Notlage angesehen.
Ich kann nur das bestätigen, was hier gesagt wurde: Es ist erschreckend, feststellen zu müssen, daß durch diese Finanzierungsregelung eine Bewußtseinsänderung bei einem Teil der Bevölkerung in der Tat erreicht wurde.
Es entsteht zwangsläufig der Eindruck, alle Abtreibungen seien rechtmäßig und moralisch erlaubt, für viele Menschen ist inzwischen ja bereits die Abtreibung auf Krankenschein zu einem Rechtsanspruch geworden, und für viele gibt es bereits kein Rechtsbewußtsein mehr.
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Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfragender Frau Abgeordneten Blunck?
Nein, ich habe nur zehn Minuten Zeit; ich bitte um Nachsicht.
Meine Damen und Herren, wir sind doch, wenn wir ehrlich sind, in der öffentlichen Diskussion so weit gekommen,
daß man sich in unserem Lande über das Schicksal der Jungrobben und der Schildkröten mehr erregt als über die Tatsache, daß Jahr für Jahr über 200 000 Abtreibungen von den Krankenkassen finanziert werden.
Eben hat Frau Adam-Schwaetzer gesagt, es habe bisher niemand von der Betroffenheit der Frauen gesprochen, die in dieser Situation stehen.
Ich möchte bei allem Verständnis für die soziale Konfliktsituation der betroffenen Frauen doch sagen, Frau Adam-Schwaetzer: Schwangerschaft ist keine Krankheit, und der Schwangerschaftsabbruch ist auch keine Maßnahme, die von der Krankenversicherung finanziert werden darf.Es geht mir auch nicht nur um die Kosten, sondern ich meine, wir sollten auch einmal an die Frauen denken, die unter den Dauerfolgen leiden müssen, die eine Abtreibung bei ihnen hinterläßt. Ich kann Ihnen aus meinen Sprechstunden als Bürgermeister sagen, wie das so in der Praxis läuft. Ich kenne Frauen, die nach einer Abtreibung in schwierige Situationen gekommen und damit nicht fertig geworden sind,
die Alkoholikerinnen geworden sind. Ich meine, auch das sollten wir bei diesen Überlegungen mit berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, ich halte die Mitfinanzierung von wirtschaftlich begründeten Abtreibungen für einen schweren Verstoß gegen die in Art. 4 des Grundgesetzes garantierte Gewissensfreiheit, weil hier auch die Kassenmitglieder beteiligt werden, die in einer sozialen Abtreibung die Tötung menschlichen Lebens sehen, weil auch sie kraft Gesetzes zur Mitfinanzierung gezwungen werden.
Lesen Sie einmal in der Begründung zum Vorlagebeschluß des Sozialgerichts Dortmund nach, wasdazu gesagt wird. Da heißt es wörtlich: Auch die
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Müller
Finanzierung einer Abtreibung ist nämlich eine Mitwirkung an der Tötung des ungeborenen Lebens.Meine Damen und Herren, wir können daher nicht länger warten, bis irgendwann das Bundesverfassungsgericht ein Urteil gesprochen hat,
ein Urteil darüber, ob die §§ 200f und 200g der RVO mit dem Grundgesetz vereinbar sind,
soweit den Krankenkassen auferlegt ist, Kosten auch für Abtreibungen aus nichtmedizinischen Gründen zu tragen.
Meine Damen und Herren, für viele Arbeitnehmer ist dieser Zustand ein großes Ärgernis. Im Vorlagebeschluß des Sozialgerichts Dortmund heißt es dazu:Es ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar — ich zitiere wörtlich —,die öffentlich-rechtlichen Personalkörperschaften der Krankenversicherungsträger, deren Mitgliedschaft im wesentlichen aus kraft Gesetzes krankenversicherungspflichtigen Arbeitnehmern besteht, die den Aufwand der Personalkörperschaften entweder durch unmittelbare Beitragsabführung oder durch Duldung - von Abzügen von ihrem Arbeitseinkommen finanzieren müssen, mit der Leistungspflicht für medizinisch nicht indizierte Schwangerschaftsabbrüche im Umfange der §§ 200f, 200g RVO zu belasten, sofern diese Leistungen aus beitragsfinanzierten Betriebsmitteln, Rücklagen oder Verwaltungsvermögen der Krankenversicherungsträger erbracht werden müssen.Die Bürger draußen erwarten von uns, vom Gesetzgeber
— viele Bürger,
auch viele Frauen; ich erlebe das in Veranstaltungen —,
daß wir endlich tätig werden und eine Änderung der derzeitigen Regelung herbeiführen. Sie erwarten, daß der Staat sozialpolitische und fürsorgerische Mittel zur Sicherung des ungeborenen Lebens einsetzt.Der Kollege Werner hat eben die Zahl von 212 000 Abtreibungen genannt, die im Jahre 1981 auf Krankenschein abgerechnet wurden.
Das heißt doch über zweihunderttausendmal Tötung ungeborenen Lebens, und davon der überwiegende Teil, nämlich über 75 %, aus Gründen der sozialen Indikation. Da ist für mich die Bankrotterklärung des sozialen Rechtsstaats.
Wenn über 200 000 Abtreibungen in einem Wohlfahrts- und Sozialstaat,
der jährlich ein Bruttosozialprodukt von 1,5 Billionen DM erarbeitet, möglich sind, dann, meine ich, sollten wir uns darüber einigen können, daß die Tötung menschlichen Lebens kein Gestaltungsmittel des sozialen Rechtsstaats sein kann.Wir können uns über diese Tatsache nicht leichtsinnig hinwegsetzen. Der Schutz des ungeborenen Lebens muß, meine ich, der Mittelpunkt unserer Überlegungen sein.
Der vorliegende und heute zur ersten Beratung anstehende Gesetzentwurf kann und darf nicht losgelöst gesehen werden von dem Antrag von 150 Mitgliedern meiner Fraktion, in dem sowohl Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage der Familien, aber auch ideelle Hilfen gefordert werden. Nicht Abtreibung darf die Antwort auf sozial schwierige Situationen sein, sondern konkrete Hilfe für die betroffene Frau und Familie. Soziale Problemlagen müssen auch sozial ausgeglichen werden.
Ich begrüße mit Nachdruck, daß wir die Bundesstiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" bekommen. Diese Stiftung hat 1984 25 Millionen DM und ab 1985 jährlich 50 Millionen DM zur Verfügung. Wir werden sehen, ob dieser Betrag ausreicht.
Die Errichtung dieser Stiftung ist ein erster Schritt. Wir brauchen darüber hinaus eine neue Familienpolitik, damit Kinderlasten tragbar werden.
Wir brauchen ein Erziehungsgeld vor allem für Einkommensschwächere, und wir brauchen die Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht.
Darüber hinaus brauchen wir eine Verbesserung des Adoptionsrechts; denn Adoption ist immer besser als Abtreibung.Die Hilfe kann sich aber nicht in der Addition von Geldbeträgen erschöpfen. Ich meine, daß wir auch eine großangelegte Kampagne der Bewußtseinsbildung, der Aufklärung und der positiven Hilfen benötigen. Hier brauchen wir die Wende. Wir brauchen eine Neuorientierung der staatlichen Fami-
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lienpolitik, damit wir eine andere Einstellung beim Bürger auch zum Schutz des ungeborenen Lebens bekommen.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Czempiel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Lektüre des vorliegenden Antrags, unterzeichnet von so sehr vielen CDU/CSU-Abgeordneten,
war mir sehr beklommen zumute, steckt doch zwischen den Zeilen soviel Selbstgerechtigkeit, soviel von diesem uralten „Wie gut, daß wir nicht sind wie jene dort".
Außerdem läßt sich auch nicht der Eindruck vermeiden, daß jetzt durch eine Hintertür — mein Kollege hat das vorhin schon gesagt — die Diskussion um die Reform des § 218 erneut entfacht werden soll. Ich muß sagen, ich bin dankbar, daß wenigstens einer der Abgeordneten, nämlich eben Herr Müller, das auch offen zugegeben hat.
Es wäre ehrlicher, das direkt zu machen und nicht den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung als Vehikel zu benutzen. Ich jedenfalls kämpfe lieber mit offenem Visier.
Auf der anderen Seite ist es bemerkenswert, daß nicht eine einzige weibliche Abgeordnete der CDU/ CSU für einen solchen Antrag ihren Namen hergegeben hat.
Ich möchte es als ein Zeichen dafür verstehen, daß wir in dieser so wichtigen Frage vielleicht noch eine menschliche Antwort finden könnten,
eine Antwort, die die betroffenen Frauen nicht ins Abseits stellt, sie nicht wieder sich selbst überläßt, denn damit würden Sie unserem gemeinsamen Anliegen, dem Leben einen verbesserten Schutz zu geben, einen schlechten Dienst erweisen.
Was eigentlich bezweckt der Antrag? Zum einen sollen die Kosten für Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen der Indikation der sonstigen schweren Notlage nicht mehr von den Krankenkassen übernommen werden. Der Antrag spricht von Einsparungen in Höhe von 250 Millionen DM. Wenn man der Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Wolfgang Vogt, folgt, so hat die Bundesregierung allerdings nur Zahlen vorliegen, die den Gesamtbereich der durch die Änderung des § 218 eingeführten Leistungen erfassen.Die 250 Millionen DM — übrigens gerade 0,27 % der Gesamtleistungen — schlüsseln sich also auf in Kosten für ärztliche Beratung über Fragen der Empfängnisregelung einschließlich der ärztlichen Untersuchung und der Verordnung von empfängnisregelnden Mitteln, Kosten für die ärztliche Beratung über Erhaltung oder Abbruch der Schwangerschaft, für die Versorgung mit Arzneimitteln, für Krankenhauspflege usw.Die Kosten für den eigentlichen Abbruch machen in dieser Liste nur einen Bruchteil aus. Wenn man hier streicht, werden pflichtversicherte Frauen also wieder in Versuchung geraten, Kurpfuscher aufzusuchen und sich in lebensbedrohliche Situationen zu begeben.
Hier möchte ich Frau Adam-Schwaetzer recht geben, wenn sie sagt: Die soziale Gerechtigkeit ist hier gefragt. Aber ich möchte ihr auch sagen: Wenn Sie diese Erkenntnis stringent durchziehen würden, wäre viel in diesem Staate gewonnen.
Frauen aber, die beträchtliche Arzthonorare und Krankenhauskosten aus eigener Tasche zahlen können, werden legale Schwangerschaftsabbrüche auch weiterhin durch Fachärzte in Krankenhäusern durchführen lassen.Da die antragstellenden Abgeordneten ausnahmslos privatversichert sein dürften,
wird ihnen diese Problematik überhaupt noch nicht aufgegangen sein.Ebenfalls nicht einkalkuliert wurden die Folgekosten illegaler Schwangerschaftsabbrüche, mit denen wir dann in Zukunft, sollte dieser Antrag Realität werden, wohl wieder in hohem Maße zu rechnen haben; denn wer sagt Ihnen, daß durch Ihren Antrag die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zurückgeht?Außerdem wird folgerichtig gefordert, daß dann auch die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall entfallen müßten.In der Begründung werden ethische Gesichtspunkte angeführt, vermischt mit der in Aussicht gestellten enormen finanziellen Einsparung. Ich meine, so geht das nicht:
keine Alternative, keine Lösungsmöglichkeit für die in Not geratenen Frauen.Und was wird der Antrag draußen bewirken? Eine große Unsicherheit wird wieder erzeugt werden. Die Frauen werden sich wieder überlegen, ob
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Frau Dr. Czempielsie noch zum Arzt gehen, ob sie Krankenhäuser aufsuchen sollen oder ob sie lieber andere, illegale Wege beschreiten. Damit wird eine wichtige Station — ich meine: die wichtigste Station — umgangen, nämlich die der Beratungsstelle.
Sie zählt zu den flankierenden Maßnahmen. Man weiß, bestätigt durch die wissenschaftliche Begleitung der Modellberatungsstellen in den ersten Jahren nach der Reform des § 218, daß etwa 10 bis 20 % der Ratsuchenden — so viel waren es jedenfalls 1980 — nach der Beratung die Schwangerschaft fortsetzten und die angebotene Hilfe in Anspruch nahmen.
Ich weiß nicht, ob einer der Herren Antragsteller je eine solche Beratungsstelle besucht hat — Herr Jäger jedenfalls, der vorhin hier sprach, bestimmt nicht — und sich von der außerordentlich verantwortungsbewußten Arbeit überzeugen konnte.
Um den vielen Vorurteilen — ich werde Ihnen das gleich sagen — begegnen zu können, war ich im Laufe des letzten halben Jahres bei der Arbeiterwohlfahrt in Kassel, bei Pro Familia in Fulda, beim Sozialdienst katholischer Frauen sowohl in Fulda als auch in Marburg. Ich hatte nirgendwo den Eindruck, daß man mir etwas vormachen wollte.
Alle Beratungsstellen — ohne Unterschied — sahen ihre Aufgabe in erster Linie darin, den ratsuchenden Frauen in einer vertrauensvollen Atmosphäre Gelegenheit zur Aussprache zu geben.
Das Eingehen auf die ganz unterschiedlichen Nöte jeder einzelnen Frau ist Voraussetzung für das Erarbeiten von konkreten Hilfen.
Ziel der Beratungsgespräche sei es, so versicherte man mir, Entscheidungshilfen zu erarbeiten, um eine eigenverantwortliche, tragfähige Entscheidung überhaupt erst möglich zu machen.
Finanzielle Nöte, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse haben in den letzten Jahren zwar enorm zugenommen und werden auch als Gründe für eine Notlagenindikation angegeben; aber man möge doch bitte nicht die seelische Not derjenigenunterschätzen, die vom Ehemann, vom Freund oder von ihren Eltern bedrängt werden!
Überall wurde mir bestätigt, daß Unsicherheit und Angst vor der Zukunft vor allem diejenigen Frauen äußerten, die in ihrer näheren Umgebung keine Unterstützung fanden.So warnt beispielsweise die Generalsekretärin des Sozialdienstes katholischer Frauen, Frau Monika Pankoke-Schenk, davor, Frauen durch die Androhung, sie zu verlassen, in eine schuldhafte Ecke zu drängen. Wenn man von dieser Verantwortung der Väter nur einmal etwas aus dem Mund jener Politiker hören würde, die die Reform des Paragraphen so gern wieder rückgängig machen wollen!
Vergeblich mußte man bisher auf einen solchen Appell an die Väter und an die Männer der alleingelassenen Frauen warten.
Zielrichtung der Reform des § 218 war es in all den Jahren — darin sind sich hoffentlich noch alle ein diesem Hause einig —, einen verbesserten Schutz des Lebens zu erreichen. Man kann aber nicht einerseits über den Schutz des Lebens reden und andererseits die Basis für diesen Schutz zerstören.
Bisher hielten wir zwei Dinge für nötig: Abbau der Illegalität und Ausbau der flankierenden Maßnahmen. Was die Illegalität betrifft, so wird es immer schwierig sein, in einem solchen Bereich einen Erfolg oder einen Mißerfolg mit Zahlen zu belegen. Wir wissen beispielsweise, daß die Zahl der Fälle, die durch unsachgemäße Eingriffe zu schweren gesundheitlichen Schäden geführt haben, heute praktisch Null beträgt. Es gibt kaum noch Schwangerschaftsabbrüche, die nicht von Ärzten durchgeführt werden. Vor der Reform ging man im Schnitt — meine Damen und Herren, hören Sie — von 100 Todesfällen nach Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr aus. Ein Jahr nach der Reform berichtete die Bundesstatistik noch von acht Todesfällen, und im Jahre 1978 war es nur noch ein einziger Todesfall. Hieraus darf j a wohl der Schluß erlaubt sein, daß die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche nach der Reform stark zurückgegangen ist.
In gleichem Maße ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche deutscher Frauen im Ausland zurückgegangen. Auch hier läßt sich nur eine ungefähre Entwicklung aus den Statistiken der Niederlande und Englands ablesen: Waren es 1975 noch 61 000 deutsche Frauen, die in die Niederlande fuhren, um hier einen Eingriff vornehmen zu lassen, so waren es 1982 nur noch 18 000. Eine ähnliche Ten-
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4964 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Dr. Czempieldenn meldet England. Anfang der 70er Jahre fuhren mehr als 10 000 Frauen und Mädchen aus der Bundesrepublik dorthin, um einen Abbruch vornehmen zu lassen. 1981 waren es 514, und für 1982 — nur diese Zahl habe ich — rechnete man mit rund 250.
— Die Frauen werden wieder gezwungen, dies zu tun, wenn Sie Ihren Antrag durchbringen.
— Regen Sie sich doch nicht auf! Das ist die Realität, der Sie sich nicht stellen wollen.
Dies ist keineswegs zufriedenstellend — das möchte ich nicht behaupten —, aber es zeigt doch an, daß die Reform des § 218 nicht abwegig war. Die große Sorge, daß durch restriktive Maßnahmen, so wie im Antrag beschrieben, dies alles wieder in Frage gestellt wird, ist sehr groß.Noch wichtiger für den Schutz des ungeborenen Lebens allerdings sind die flankierenden Maßnahmen. Dies hat meine Partei auch bei allen Diskussionen immer wieder in den Mittelpunkt gerückt. Ausbau der Beratungsstellen und finanzielle Hilfen sind hier zu nennen.Grundvoraussetzung für eine wirksame Hilfe in Konfliktsituationen ist nämlich eine umfassende Beratung der Schwangeren. Diese scheitert oft daran, daß nicht genügend Beratungsstellen vorhanden sind. Besonders CDU-geführte Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg haben hier noch Nachholbedarf.
Erfahrungen in allen Beratungsstellen zeigen, daß Frauen auch nach erfolgtem Abbruch der Schwangerschaft, aber auch dann, wenn das Kind ausgetragen wurde, über längere Zeit hinweg Beratung in Anspruch nehmen, so daß hier auch einmal die Arbeit und die besondere Bedeutung der Berater erwähnt werden sollte.
Erst der gegenseitige Austausch mit dem Berater— in die Gespräche werden ja auf Wunsch verstärkt Partner oder Familienangehörige mit einbezogen — bietet der werdenden Mutter die Chance, zu einer eigenen und verantwortbaren Entscheidung zu kommen. Druck — von welcher Seite auch immer — und Beratung schließen sich aus. Ich möchte hier den Beratungsstellen wirklich einmal Dank sagen, und ich möchte sie hier aus der unberechtigten Kritik, die geübt worden ist, herausnehmen.
In jedem Fall wird der Berater der betroffenen Frau vermitteln, daß niemand ihr die Entscheidung abnehmen kann, und er wird sie, wenn sie sich zum Abbruch der Schwangerschaft entschließen sollte, auch achten und ihren Entschluß respektieren müssen. Die Aufgabe der Berater im Spannungsfeld zwischen den Interessen der Frau und denen der Kinder sind nicht hoch genug einzuschätzen.Ein zweiter Aspekt der flankierenden Maßnahmen, auf den wir großen Wert legten, war die finanzielle Hilfe.Wenn heute die Bundesregierung die Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" anbietet, so wäre dies als zusätzliche Leistung durchaus zu begrüßen. Leider aber handelt es sich nicht um eine zusätzliche Leistung. Die Kürzungen der jetzigen Regierung im Familiensektor erreichen nämlich Milliardenhöhe.
Sie mit 25 Millionen DM im Jahre 1984 respektive 50 Millionen DM im Jahre 1985 der Stiftung auffangen zu wollen, müßte eigentlich jeden aufschreien lassen, der sich wirklich Sorge um den Schutz des ungeborenen Lebens macht.
Diese 50 Millionen DM sind noch nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein,
ja sie unterscheiden sich kaum noch von den freiwilligen Leistungen der bisher schon engagierten Wohlfahrtsverbände und Kirchen,
die ihren Fähigkeiten entsprechend wirkliche Hilfen anbieten. Bei einer Leistung von etwa 4 000 DM bis 5000 DM pro Fall — das, glaube ich, ist die Vorstellung des Bundesfamilienministers — könnte allenfalls jeder siebenten schwangeren Frau, die eine Notlagenindikation in Anspruch nehmen will, vorübergehend geholfen werden. Als wirksame Hilfe für Schwangere dagegen und als echte flankierende Maßnahme zum Schutz des ungeborenen Lebens würde meine Fraktion die Rücknahme der unsozialen Kürzungen betrachten.
Wir fordern die Wiedereinführung des Mutterschaftsurlaubsgeldes in alter Höhe.
Wir fordern die längst überfällige Aufstockung des Kindergeldes.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4965
Frau Dr. CzempielWir fordern den vollen Ausbildungsfreibetrag.
Wir fordern aber vor allem ein familien- und damit kinderfreundliches Klima. das weder durch freundliche Sonntagsreden des Kanzlers noch durch starre Anträge der CDU/CSU-Abgeordneten erreicht wird.
Man kann nicht alles durch Geld erreichen. Weder helfen die Almosenbeträge der neuen Stiftung noch werden die Strafstreichungen im Bereich der Pflichtversicherung eine positive Änderung bringen.
Diese rein materialistische Politik der Regierung — man kann sie ja auch in anderen Bereichen beobachten — lehnen wir ab.
Besonders aber auf dem Gebiet, wo es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, ist mehr vonnöten. Man darf den Frauen nicht Steine statt Brot anbieten.
Sie warten auf unsere Hilfe, und sie nehmen unsere Hilfe auch an, wenn wir sie ihnen nur geben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Emotionen wird man dem Grundanliegen des Antrags nicht gerecht.
Vielmehr muß auch im Parlament der Dialog, und zwar der ernsthafte Dialog darüber eröffnet werden,
ob bei der vollen Würdigung der Belastung der Frau dem Schutz des ungeborenen Lebens dennoch der Vorrang gegeben werden sollte. Das scheint mir der zentrale Punkt zu sein.
Wir sind über die Reichsversicherungsordnung, nicht über die strafgesetzlichen Vorschriften hier in diesen Dialog eingestiegen.
— Ja, ich will etwas zu dem Dialog sagen. Vielleicht nehmen Sie das auf, Frau Kollegin. Ich will insbesondere mit den Frauen den Dialog versuchen.
Zuerst etwas rein Sachliches! Die Krankenkassen haben die Aufgabe der Heilung und des Lebensschutzes. Sie haben den Vorrang dem Schutz des Lebens zu geben. Das gleiche verlangt das Bundesverfassungsgericht vom Staat, also auch vom Gesetzgeber. Sinn eines Gesetzes ist es, Gutes und Richtiges, also auch das Leben zu wollen. Die Gesetzgebung ist vorrangig Sache des Parlaments, nicht des Bundesverfassungsgerichts.
Dieses läßt dem Parlament einen weiten Ermessensspielraum. Es beschränkt ihn nur beim Überschreiten des pflichtgemäßen Ermessens gegenüber der Verfassung.Das Recht auf Leben geht, wenn nicht das Gemeinwohl und das Wohl des Staates im Fundament bedroht sind, allen anderen Grundrechten vor.
Nun möchte ich einige Bitten, Frau Kollegin, zum ernsthaften Dialog vortragen.
Weil wir die Belastung der Frau, Frau Kollegin Adam-Schwaetzer, insbesondere der alleinerziehenden Frau, mehr als ernst nehmen, ist eines der wichtigsten Ziele des weiteren Dialogs, auf die gewandelte Einstellung einer oft gedankenlos hartherzigen Umwelt hinzuarbeiten,
auf einen Meinungswandel jener Männer, die die harte seelische Not der Frauen oft nicht beachten oder gar mißachten,
auf Hilfen der Gesellschaft gegen die Brutalitäten in Familie und Ehe,
auf wirksame Patenschaften in den bürgerlichen und kirchlichen Gemeinden für bedrängte Mütter und Kinder, insbesondere für alleinerziehende Mütter.
Wir wissen sehr wohl um den möglichen Schaden in Beruf, Studium, Arbeits- und Nervenbelastung, um Beschwernisse im allgemeinen Befinden, und wir wissen um die Tatsache, daß oft die ganze Last der Erziehung die Frauen zu tragen haben.
Ich meine, daß das insbesondere Politiker wissen.
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4966 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Dr. CzajaAllerdings sind die meisten Unterzeichner auch dagegen, alles nur grau in grau zu zeichnen und zu behaupten, es gäbe keine Hilfen für tapfere Mütter,
oder gar zu behaupten, ein Viertel unserer Wohlstandsbevölkerung sei in Not. Wir wissen um die Angst, wir wollen aber nicht, daß sie überhandnimmt.Eine weitere Bemerkung: Ich habe die Belastung der Frau angesprochen, aber ich habe etwas wenig über die Not des ungeborenen Kindes gehört.
Beim Blick auf die völlige Wehrlosigkeit des ungeborenen Kindes sollte man nicht die Tatsache verdrängen, daß auch das ungeborene Kind Empfindungen hat. Wir sind gegen die Folter in aller Welt, zu Recht. Wir sind berechtigterweise auch für vernünftiges Verhalten gegenüber Tieren und Bäumen, aber es wird oft übersehen, daß Zehntausende, Hunderttausende ungeborener unschuldiger Kinder bei solchen Eingriffen physischen und seelischen Qualen ausgesetzt sind. Es muß wieder bewußtgemacht werden, daß die Entscheidung über Tod oder Leben dieser wehrlosen Geschöpfe eine furchtbar schwere Entscheidung ist und daß viele Mütter jahrelang physisch und seelisch darunter leiden, wenn sie eine Fehlentscheidung getroffen haben. Es genügt nicht, mit guten Worten ein freundlicheres Klima für das Kind und die Familie zu wünschen,
sondern wir müssen die Härte und Schwere der Entscheidung gegen das Leben uns allen bewußtmachen.Es sollten Beratungsstellen nicht allein wegen des Gespräches und schon gar nicht, um zur schnellen Abspulung eines Bescheinigungsverfahrens beizutragen, gefördert werden.
Es sollten vielmehr jene Beratungsstellen, die konkrete Hilfen gegen Angst und Bedrängnis entweder selbst darbieten oder Hilfen materieller oder sonstiger Art in der Gesellschaft möglichst nachzuweisen versuchen, gefördert werden.Wir wenden uns auch gegen falsche Angaben in den Statistiken, die nicht von den Frauen stammen.
Hier müßte auch, genauso wie sonst bei Falschangaben, gegen Fälschungen vorgegangen werden.Der Dialog muß aber auch auf die verheerenden Folgen der Bevölkerungsentwicklung für die soziale Zukunft unseres Volkes aufmerksam machen,
für die Rentenfrage, Frau Kollegin, für die Fehlinvestitionen bei leerstehenden Schulen, Kindergärten, sozialen Einrichtungen, Verkehrsmitteln, auf die tiefen Gefahren absinkender volkswirtschaftlicher Leistung und vieles andere. Den großen Deutschenfreund Raymond Arond ängstigte vor seinem Tod die Frage, wie es in Europa in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts aussehen soll, wenn hier bei uns nur noch 38 Millionen Deutsche leben
und die Zahl auch der anderen Europäer abnimmt.
Wer soll und will dieses Europa geistig, materiell gestalten und für und mit anderen Völkern in Nord und Süd konstruktiv zusammenwirken?
Leichtfertig ist die Meinung, man löse die Arbeitslosenfrage damit, man solle die Renten zurückdrehen. Die solches sagen, sollten die Zahlen konkret auf den Tisch legen.Ich meine, wenn auch viele Unterzeichner des Antrags aus christlicher Verantwortung meinten, den Dialog führen zu müssen, so sind das doch auch Fragen, die jeder denkende Mensch, jeder freie Europäer und jeder Deutsche sich auch stellen sollte.
— Ja. Wir setzen auch nicht auf die Absenkung der Zahlen vor allem durch den Wegfall der Kassenzahlungen, sondern auf die Absenkung der Zahlen durch den Dialog. Selbst wenn bei den ersten Versuchen der Dialog nicht zum Durchbruch führt,
so hat er doch einen Stein ins Rollen gebracht. Von vielen Frauen wird der Dialog schon heute argumentativ und offen geführt. Es gibt viele junge Medizinstudentinnen und -studenten, die mit tiefer Erschütterung den ersten Beispielen der Abtreibung oder der Zerstückelung gegenüberstehen.Noch eines: Die Mütter der heute 38- bis 43jährigen, also die Mütter, die ihre Kinder in den Jahren zwischen 1942 und 1947 austrugen — es gibt ja auch heute 38- bis 43jährige in diesem Saal —, haben sich auf den eisigen Straßen der Flucht, in den Bombennächten, in den Hungerlagern, in den zerstörten Städten
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984 4967
Dr. Czajanicht der damals tatsächlich vorhandenen besonderen Notlage gebeugt,
sondern sie haben sich in bewundernswürdiger Tapferkeit für den Schutz des Lebens entschieden.
Manche Eltern von uns kennen diese Beispiele großer stiller fraulicher Menschlichkeit. Weil ich das beobachten durfte, möchte ich davon Kenntnis geben. Das habe ich mit „Tapferkeit" gemeint.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Däubler-Gmelin?
Ich möchte gerne zum Schluß kommen.
Aber bitte, wenn mir der Herr Präsident die eine Minute — —
Nein.
Herr Dr. Czaja, darf ich vielleicht als Angehörige des Jahrganges 1943 herzlich dafür danken, daß Sie besonders anerkennen, daß Mütter — z. B. meine Mutter, die vier Kinder hatte — natürlich Kinder unter sehr viel schwierigeren Bedingungen als viele Frauen meiner Generation bekommen haben? Würden Sie aber dennoch akzeptiren, daß sich beispielsweise meine Mutter schärfstens von der Art des Vorgehens Ihres Minderheitengesetzentwurfs distanzieren will?
Frau Kollegin, ich will nicht mit Ihrer Mutter rechten. Ich will nur auch Ihrer Frau Mutter Argumente vorlegen und möchte ihr sagen:
Wenn Sie sich unter solchen Umständen für das Leben entschieden haben, überlegen Sie bitte, ob wir nicht auch unter gelockerten Umständen die Frauen bitten müssen, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, dem Leben — die Entscheidung liegt bei ihnen — den Vorrang zu geben und an die Not und an die Schmerzen des ungeborenen Kindes zu denken,
Diese Bitte richte ich auch an Sie und an Ihre Mutter. Ich weiß, daß sie bei Ihnen fruchtet.
So ist unser Ziel die stetige Debatte zur Überwindung der Lebensangst, zur Hilfe der Gesellschaft für bedrängte Frauen, zur Ehrfurcht vor dem ungeborenen Leben, vielleicht auch hier und dort zur
Freude am Kind. Wir wollen den Dialog der Frauen und Männer, Frau Kollegin, um diesen Schutz.
Wir wollen keine hoffnungslose Zivilisation, keine gestaltungsunfähige Kultur und kein sterbendes Volk werden.
Der Antrag ist nicht gegen die Frauen gerichtet. Es geht darum,
gemeinsam mit den bedrängten Frauen um ihre richtige Entscheidung in ihrer höchsten Bewährung darum zu ringen,
daß sie den Vorrang dem Schutz des wehrlosen Lebens geben.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Roitzsch.
Meine Damen und Herren! Es ist die letzte Rednerin. Ich bitte doch um etwas Ruhe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über die Abtreibung ist bisher — auch heute abend — sehr emotional geführt worden. Ich meine, dies hat zu einer sehr häßlichen Polarisierung der gegensätzlichen Standpunkte geführt.
Abtreibungsbefürworter und Gegner der Abtreibung werden pauschal gegeneinander gestellt. So einfach dürfen wir uns dieses Thema nicht machen.
Die 74 männlichen Kollegen der CDU/CSU-Fraktion wollen mit ihrem Gesetzesantrag genau dasselbe erreichen wie alle Mitglieder unserer Fraktion, wie die überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung, wie meine 18 Kolleginnen und ich. Wir alle wollen dazu beitragen, daß die unerträglich hohe Zahl von geschätzt rund 100 000 Abtreibungen pro Jahr verringert wird. 100 000 Abtreibungen! Das ist die Einwohnerzahl einer Großstadt.
Was gäbe es für Schlagzeilen, wenn 100 000 Menschen durch, sagen wir einmal, eine Naturkatastrophe getötet würden!
Ich frage: Wo bleiben die Schlagzeilen und der Aufschrei, wenn jährlich 100 000 ungeborene Leben getötet werden? Wie kann es denn möglich sein, daß das Abschlachten von Robbenbabies und Meeresschildkröten uns allen so sehr zu Herzen geht, wäh-
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4968 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Frau Roitzsch
rend das Töten von 100 000 ungeborenen Leben keine richtige Bürgerinitiative mit diesem Echo findet!
Meine Unionskollegen haben mit ihrer Initiative einen Anstoß gegeben, daß über das Thema Abtreibung wieder gesprochen wird. Nur sehen meine Kolleginnen und ich sowie die Mehrheit meiner Fraktion in diesem Gesetzesantrag nicht den richtigen Weg zu dem uns allen, auch der Regierung, so wichtigen Ziel der Eindämmung der Schwangerschaftsabbrüche. Wir Frauen von der CDU/CSU sind der Auffassung, daß mit diesem Antrag, mit dieser Initiative nicht eine einzige Abtreibung aus schwerer Notlage verhindert werden kann,
nur wenn man versucht, diese Abtreibungen nicht mehr durch die Krankenkasse bezahlen zu lassen.Meine Damen, meine Herren, schaffen wir durch einen solchen Antrag nicht tatsächlich Mütter erster und zweiter Klasse?
Es ist doch so: Die finanziell bessergestellte Frau würde ihren Schwangerschaftsabbruch nach wie vor, medizinisch gut versorgt, in einer Klinik vornehmen. Landen die Frauen aber, denen die Mittel dazu fehlen, nicht wieder beim Kurpfuscher? Wer dies will, macht sich schuldig, schuldig womöglich auch am Tod von solchen betroffenen Frauen.
Dies ist also unserer Meinung nach nicht der richtige Weg. Denn er beseitigt nicht das Problem der Abtreibungen.Deshalb lehnen wir Frauen von der Unions-Fraktion diesen Antrag ab.Wir lehnen auch — und das möchte ich hier betonen — eine Änderung des § 218 ab.Einig sind wir uns aber alle — Fraktion und Regierung —, daß unser Staat, daß die Gesellschaft etwas gegen die alarmierend hohe Zahl der Abtreibungen tun muß.
Dazu brauchen wir aber wieder ein Wertebewußtsein, in dem unsere Entscheidungen — ich sage es noch einmal — von Ethik und Moral bestimmt sind. Und auch dies ist ein wichtiger Bestandteil der Wende.
Eine wirkliche Alternative zum Schwangerschaftsabbruch kann nur das Angebot des Staates und der Gesellschaft sein, der schwangeren Frau in ihrer Notlage wirksam und vor allem dauerhaft zu helfen, damit sie ja zum ungeborenen Leben sagen kann.Deshalb haben meine Kolleginnen und ich auch ein Konzept zur Förderung der Familie und zur Verbesserung des Schutzes des ungeborenen Lebens erarbeitet. Diesen Antrag hat die überwältigende Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion unterschrieben, auch meine 74 Kollegen. Die FDP stimmt mit diesem Antrag in den Grundzügen überein; Frau Adam-Schwaetzer hat es gesagt. Ich gehe davon aus, daß dies ein Koalitionsantrag wird. Darin geht es uns um eine deutliche Verbesserung der sozialen Lage der Familie, um eine Neuregelung des Familienlastenausgleichs, und zwar nicht nach dem Gießkannenprinzip, wie von der vorigen Regierung gehandhabt,
sondern wirklich endlich mal ein gerechter Familienlastenausgleich, der alle Bereiche berücksichtigt.
— Ja, meine Kollegen von der SPD, so wie Sie werden wir's nicht machen, daß wir vor der Bundestagswahl das Kindergeld erhöhen und es nach der Bundestagswahl wieder runterpacken; das machen wir nicht.
Ja, weil wir zunächst einmal — —
Wir wollen also einen echten Familienlastenaus gleich und eine familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt.
Wir wollen familiengerechtes Bauen und Wohnen und dessen Förderung.
Alle diese Maßnahmen werden dazu beitragen, daß Kinder zu bekommen und aufzuziehen wieder den Familien den Stellenwert gibt, der ihnen gebührt.
Neben der Bundesstiftung „Mutter und Kind" muß unsere Regierung die weiteren Grundlagen dafür schaffen — das ist hier schon angeklungen —, daß die Entscheidung für das Kind erleichtert wird. Und zu diesen Grundlagen zählen wir in unserem Antrag die Erhöhung des Kindergeldes, die Kinderfreibeträge, den Mutterschaftsurlaub für alle Mütter, nicht für die berufstätigen,
und dieses Mutterschaftsgeld als Einstieg in das Erziehungsgeld.
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Frau Roitzsch
Wir wollen ferner die Anrechnung der Erziehungszeiten auf den Rentenanspruch erreichen.
Doch die alleinige Verantwortung kann der Staat nicht tragen. Er kann und muß finanzielle Verantwortung dafür tragen, daß Frauen durch eine Schwangerschaft nicht in soziale Not geraten. Und der Indikationsbegriff „sonstige schwere Notlage" bedeutet meines Erachtens auch seelische und gesellschaftspolitische Notlage.
Hier ist die Gesellschaft — Sie werden gleich nicht mehr nicken —, hier sind wir alle gefordert, zu helfen. Und hier mache ich der SPD den Vorwurf, daß sie während ihrer Regierungsverantwortung das Rechts- und Unrechtsbewußtsein hat verkommen lassen.
Propagandistisch aufbereitete Strömungen und Bewegungen wie z. B. „Mein Bauch gehört mir" — ja, verdammt noch mal, wem soll er denn sonst gehören? —
oder die Aufforderung zu wirklich familienfeindlicher Selbstverwirklichung und falsch verstandener Emanzipation
haben das ethische und moralische Bewußtsein bei manchen jungen Menschen gar nicht erst aufkommen lassen können. Und hier hat sich die SPD schuldig gemacht.
Schuldig macht sich aber auch die Gesellschaft, machen wir uns, wenn wir nicht endlich Schluß machen mit den verlogenen Moralvorstellungen.
Wer ja zum Kind sagt und nein zur Abtreibung, muß auch ja zur ledigen schwangeren Frau sagen, zu den Alleinerziehenden.
Ganz besonders verantwortlich gemacht werden müssen die Männer; denn schließlich sind sie bekanntlich nicht ganz unbeteiligt.
Meine Damen und Herren, Schwangerschaftsverhütung und Geburtenkontrolle dürfen nicht durch Abtreibung geregelt werden. Aufklärung und Beratung sind erforderlich. Auch hier von dieser Stelle ein besonderer Dank für die Arbeit von Beratungsstellen. Nur kenne ich einige Beratungsstellen, de-nen ich angesichts dieser Situation niemals werde danken können.
— Ich nenne nur einmal Bremen. Da habe ich ganz andere Erfahrungen.
Da haben wir das berühmte Nord-Süd-Gefälle.
Schwangerschaftsverhütung und Geburtenkontrolle können also nicht durch Abtreibung geregelt werden. Wir wollen Aufklärung, rechtzeitige Aufklärung. Wir wollen Beratung und Hilfe;
denn diese sind die einzig wirksame Alternative zur Tötung des ungeborenen Lebens. Und, meine Damen und Herren, diese Alternative werden wir schaffen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/941 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? —
— Dann lasse ich über die Überweisung abstimmen. Wer für die Überweisung ist — —
— Wortmeldung zur Geschäftsordnung? — Bitte.
Herr Präsident, nach der Geschäftsordnung beantrage ich, die Beschlußfähigkeit des Hauses festzustellen.
Meine Damen und Herren, einen Augenblick! Es ist soeben Feststellung der
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4970 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Mai 1984
Vizepräsident WurbsBeschlußfähigkeit beantragt worden. Ich darf darauf hinweisen, daß die Feststellung der Beschlußfähigkeit nur im Zusammenhang mit einer Abstimmung möglich ist.
Der Bundestag ist beschlußfähig, Wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist.
— Einen Augenblick, meine Damen und Herren! Ich habe soeben klargestellt, daß die Beschlußfähigkeit nur im Zusammenhang mit einer Abstimmung festgestellt werden kann. Die Abstimmung hat durch Zählen der Stimmen zu erfolgen, und zwar nach § 51 unserer Geschäftsordnung. Wir müssen auszählen. Ich darf die Damen und Herren bitten, den Sitzungssaal zu verlassen. —Meine Damen und Herren, zur Klarstellung möchte ich noch sagen: Wer für die Überweisung ist, stimmt mit Ja.Ich bitte die Schriftführer, ihre Position einzunehmen. Ich darf bitten, mit der Auszählung zu beginnen. —Darf ich die Damen und Herren Schriftführer fragen, ob noch jemand draußen ist, der seine Stimme abgeben möchte.
Ich frage nochmals, ob alle Damen und Herren, die ihre Stimme abgeben wollen, dazu in der Lage waren. — Dann bitte ich, die Türen zu schließen. Die Abstimmung ist geschlossen.Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis bekannt. Abgegebene Stimmen: 169. Zur Beschlußfähigkeit sind 261 Stimmen erforderlich. Das Haus ist somit nicht beschlußfähig.Ich hebe die Sitzung auf und berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 4. Mai 1984, 8 Uhr ein.