Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Petitionsausschuß! Es ist mal wieder soweit! Nachdem wir ein Jahr lang ein Schattendasein in diesem Hohen Haus geführt haben, ziehen wir heute wieder unsere verkannten Schätze ans Licht und polieren sie kräftig auf. Jedes Jahr aufs neue versuchen wir unseren Kollegen näherzubringen, wieviel wir schuften und wie wichtig unsere Arbeit ist, einmal für den Bürger, aber mindestens ebenso
für das Ansehen des Parlaments. Wir erläutern, daß unser Arbeitsfeld die ganze Palette der Politik einschließt und hochinteressant ist. Jedes Jahr üben in der Regel die jungen Spunde des Ausschusses — wozu auch ich gehöre — Kritik an seiner Arbeitsweise und zerbrechen sich vor ihrer Rede den Kopf, um tiefschürfende Verbesserungsvorschläge zu machen, die leider ebenso regelmäßig im Verlauf des kommenden Jahres im Getriebe verschwinden. Und natürlich loben wir uns alle gegenseitig. Das haben wir auch nötig. Denn wir haben einen undankbaren Job: viel Arbeit, wenig Ehre.
Oft beschleicht mich als Mitglied des Petitionsausschusses das Gefühl, zu einer ganz besonderen Gattung von Abgeordneten zu gehören: zu den Parlamentseseln, auf denen das Volk seinen gesammelten Volkszorn mit ausdrücklicher Erlaubnis und grundgesetzlicher Garantie abladen darf und sogar soll. Ganz nach Art guter, fleißiger Esel sind die meisten Ausschußmitglieder ausdauernd, genügsam und fleißig, zum Nutzen und Frommen ihres Herrn, in unserem Fall des Parlamentarismus. Denn unser Ausschuß ist der einzige direkte Weg des eigentlichen Souveräns, des Volks, zu seinen gewählten Volksvertretern, denen er seine Macht auf vier Jahre geliehen hat.
Entsprechend hoch sind die Erwartungen der Petenten an unseren Ausschuß, oft zu hoch. Sie erwarten, daß wir ihnen gegen Schlamperei und Behördenwillkür wirksam beistehen, Unrecht unter pfundschweren Akten ausgraben, anprangern und wiedergutmachen, daß wir schlechte Gesetze verhindern oder beseitigen und bessere einsetzen.
Die Bürger wissen meistens nicht, daß wir dazu in aller Regel weder die persönliche Courage — was im Grundgesetz Gewissensfreiheit des Abgeordneten genannt wird — noch die nötigen Befugnisse besitzen, zumindestens nicht, wenn es um Bitten zur Gesetzgebung geht. Wenn der Petent darum bittet, können, ja müssen wir uns mit allen möglichen Feldern der Politik befassen. Wir haben die Pflicht — zur „Entgegennahme, Benachrichtigung, sachlichen Prüfung und Verbescheidung" bei einer Petition, wie es im schönsten Amtsdeutsch heißt.
Bei Beschwerden klappt die sachliche Prüfung ganz gut, weil es sich da oft um menschlich nachvollziehbare Schlamperei, Fehler oder Ungereimtheiten im Umgang des Bürgers mit einem übermächtigen bürokratischen Apparat handelt. Regelrechte Befugnisse und Machtmittel zur Beseitigung haben wir dagegen nicht, außer unserer Fähigkeit, der Institution, gegen die sich die Beschwerde richtet, mit lästigem Herbeizitieren, hochnotpeinlichen Befragungen und öffentlicher Blamage zu drohen. Davon machen wir mit großer Energie zum Nutzen des Bürgers Gebrauch; denn hinter jeder Petition steht ja immer ein Menschenschicksal.
Außerdem aber ist unser Ausschuß Adressat von Bitten zur Bundesgesetzgebung, ein scheinbar plebiszitäres oder, wie wir GRÜNEN sagen, basisdemokratisches Element, wo der einzelne Bürger un-
4864 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 3. Mai 1984
Frau Nickels
mittelbar auch seine politischen Vorstellungen einbringen kann, aber eben nur scheinbar, und das aus folgenden Gründen. Eine neutrale Prüfung von Gesetzesvorschlägen gibt es nicht; denn diejenigen, die zu prüfen haben, sind hochpolitische Menschen, unterliegen in aller Regel einem absoluten Fraktionszwang und spiegeln als Gesamtausschuß getreu die parlamentarischen Mehrheiten wider. Außerdem werden Stellungnahmen in aller Regel nur von den zuständigen Ministern eingeholt, was eine wertfreie Beurteilung auch nicht gerade erleichtert. Darum ist es auch kein Wunder, daß genau solche Petitionen als erledigt betrachtet werden, weil sie — ich zitiere — „offensichtlich nach Sach- und Rechtslage erfolglos bleiben werden", von denen die jeweilige Regierungsmehrheit gerade das eben will. Da können selbst Massenpetitionen mit Zehntausenden von Unterschriften nichts ausrichten, wie z. B. die zur konsultativen Volksbefragung oder zur Nachrüstung im letzten Jahr.
An klugen Vorschlägen, wie man zu einer objektiven Beurteilung solcher Gesetzesinitiativen von unten kommen könnte, hat es seit den 60er Jahren nicht gefehlt. Leider würde aber wahrscheinlich auch diese Prozedur nicht allzuviel ändern. Weil man das genau weiß, hat man es vielleicht auch nicht energisch genug weiter verfolgt ... — Und zwar deshalb, weil sich die Regierung auch um die objektivsten und sachverständigsten Beschlüsse keinen Deut kümmern muß, wenn sie sich nicht kümmern will.
— Es ist schwierig. Und es ist auch ärgerlich für uns, und zwar deshalb, weil die Regierung sehr oft sogar bei Beschlüssen, die wir alle zusammen der Regierung zur Berücksichtigung empfehlen, den Sachen nicht nachgeht, weil sie es nicht will.
Aber was soll dann dieser gesamte Petitionsapparat und dieser Aufwand? Wozu dient er?, fragt sich mancher. Ist er nicht bloß ein gut inszeniertes Theaterstück von der direkten Beteiligung der Bürger am parlamentarischen Machtapparat? Im Grunde ist genau das unser Glanz und unser Elend. Rechtsgelehrte drücken das etwas gewählter aus. So spricht Dr. Wolfgang Graf Vitzthum in einem Rechtsgutachten, das die Frau Vorsitzende eben schon erwähnte, davon, daß das Petitionsrecht „zugleich Durchbrechung und Anerkennung des Gewaltenteilungsprinzips des Grundgesetzes ist", also nicht Fisch und nicht Fleisch, sozusagen ein parlamentarischer Zwitter. Nach Graf Vitzthum ist dieses ganze Schauspiel aber doch von großem Wert, in erster Linie komme dem Petitionsrecht — ich zitiere — eine Repräsentations- und Integrationsfunktion zu. Sein eigentlicher Urgrund sei „die besondere Nähe der Volksvertretung zum Volk". Seine Repräsentationsfunktion sei angesprochen und seine Legitimierungs- und Integrationsleistung, wie das schon im konstitutionell monarchistischen Regierungssystem gefordert gewesen sei. In normales
Deutsch übersetzt bedeutet das, daß der Petitionsausschuß erstens der Regierung zeigt, wo der Volkszorn dringend besänftigt werden muß, und zweitens vor allem eine Art Kummerkastentante des Parlamentarismus darstellt, die den enttäuschten Souverän, das Volk, anhört, tröstet und ihm das Gefühl seiner Bedeutsamkeit für diesen seinen Staat vermittelt.
Nur, ob das auf Dauer ausreicht, wenn sich immer mehr Bürger durch unsere Art, Parlamentarismus zu betreiben, zunehmend abgestoßen fühlen, ist die Frage. Der Bürger will nämlich nicht getröstet werden, der Bürger will mitgestalten.
Tatsächlich ist die Entwicklung des Petitionsrechts im Verlauf der Jahrhunderte ein ausgezeichneter Gradmesser für die zunehmende Demokratisierung, für den Freiheits- und Mitgestaltungswillen der Bürger gewesen. Im Zuge der Restauration — nach 1850 — in Deutschland ging man gegen die damaligen Sturmpetitionen staatlicherseits energisch vor, Massenpetitionen, mit denen das Volk direkten Einfluß auf die Politik nehmen wollte. Dahinter stand nach Graf Vitzthum die nur aufgeschobene Souveränitätsfrage, die Frage, wer die Politik originär gestalten soll; der Bürger oder sein Vertreter.
Ich glaube, diese Frage steht auch heute wieder — oder sollte man sagen: immer noch? — unausgesprochen hinter dem Petitionsrecht.
Wir werden dieser Frage in der Debatte, die wir hier um den Parlamentarismus führen, die Herr Präsident Barzel angeregt hat,
große Bedeutung zumessen.