Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich drei Punkte:Wir haben Anlaß, an einen für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bedeutsamen Tag zu erinnern. Vor 35 Jahren, am 7. September 1949, trat der erste Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Mit diesem Tage gab es in Deutschland wieder ein frei gewähltes, handlungs- und entscheidungsfähiges zentrales Parlament.Wir alle wissen, daß dieser parlamentarische Neuanfang nicht leicht gewesen ist. „Schier unüberwindlich scheinen die Hindernisse" stellte der ehemalige langjährige Reichtagspräsident Paul Löbe, der als Alterspräsident die Sitzung eröffnete, in seiner Begrüßungsansprache fest. Er erwähnte die Verstümmelten und Verwaisten des Krieges, die Opfer des Nationalsozialismus, die Millionen der Heimatvertriebenen und weitere ungezählte Scharen unserer Landsleute, die von der Arbeit des Bundestages eine Minderung ihrer Sorgen erwarteten. Die Erblast der Vergangenheit war schwer und drückend.Von den 410 Mitgliedern des ersten Deutschen Bundestages hatten 29 schon dem Reichstag bis 1933 angehört. Sie vor allem besaßen, zusammen mit den ehemaligen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates und des Frankfurter Wirtschaftsrates, parlamentarische Erfahrung; und das war wichtig, denn oft schon war der parlamentarischen Demokratie ein baldiger Untergang vorausgesagt worden. Um so mehr ist die Leistung dieser ersten Parlamentariergeneration des ersten Deutschen Bundestages zu würdigen, die mit unüberwindlich scheinenden Hindernissen mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie fertiggeworden ist. Diese Leistung sollte uns und den Nachkommenden ein Ansporn sein.Ich freue mich, daß zwei Kollegen noch unter uns sind, die seit damals ununterbrochen dem Deutschen Bundestag angehören. Es sind dies die Kollegen Dr. Martin Schmidt und RichardStücklen. Ich spreche ihnen die herzlichen Glückwünsche des Deutschen Bundestages aus.
Uns allen aber wünsche ich, daß unsere parlamentarische Arbeit auch weiterhin von der Zuversicht und dem Vertrauen in die Fähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie getragen ist, die uns in dieser Zeit für die Zukunft gestellten Aufgaben und Probleme erfolgreich zu bewältigen. —Meine Damen und Herren, Sie haben gehört, daß Vizepräsidentin Frau Annemarie Renger sich einer Operation unterziehen mußte. Es geht ihr besser. Sie werden mir sicherlich erlauben, ihr auch von dieser Stelle aus die besten Wünsche zu sagen. Wir hoffen, sie bald mit ihrem Charme und ihrer Liebenswürdigkeit wieder unter uns zu haben. —
Meine Damen und Herren, auf unserer Ehrentribüne hat heute ein Herr Platz genommen, den Sie sonst rechts hinter mir zu sehen sich seit Jahren angewöhnt hatten. Ich grüße den Direktor a. D. des Deutschen Bundestages, Herrn Schellknecht.
Herr Schellknecht ist, wie es das Gesetz bestimmt, am 31. August 1984 in den Ruhestand getreten. Seit dem 1. Mai 1970 hatte er den Platz hinter dem Präsidenten inne. Er hat in vorbildlicher Weise die Verwaltung geleitet und fünf verschiedenen Bundestagspräsidenten Rat und Hilfe gegeben.Herr Schellknecht, ich mache es so schlicht, wie wir gearbeitet haben: Ich danke Ihnen und versichere Sie des Dankes und des Respekts und der Sympathie des Deutschen Bundestages, um den Sie sich hochverdient gemacht haben.
Meine Damen und Herren, ich nehme die Gelegenheit wahr, den neuen Direktor des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Bücker, herzlich zu begrüßen und ihm eine glückliche Hand und gute Arbeit zu wünschen.
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5856 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Präsident Dr. Barzel— Sie haben ihn lange Zeit auf dieser Seite sitzen gesehen.Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1985
— Drucksache 10/1800 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschußb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungDer Finanzplan des Bundes 1984 bis 1988— Drucksache 10/1801 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußIm Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte vereinbart worden. Es ist weiter vorgesehen, daß diese Aussprache heute um 20 Uhr und morgen um 21 Uhr unterbrochen wird und am Freitag gegen 13 Uhr beendet sein soll. Sind Sie damit einverstanden? — Widerspruch erhebt sich nicht. Es ist so beschlossen.Das Wort zur Einbringung hat der Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fristgerecht kann ich heute vor dem Hohen Hause die Grundzüge des Etatentwurfes 1985 und der neuen mittelfristigen Finanzplanung darlegen. Wir haben Anfang Juli die erforderlichen Beschlüsse im Bundeskabinett einmütig gefaßt und zugleich auch eine positive Zwischenbilanz unserer Finanzpolitik ziehen können.Vor einem Jahr, am 7. September 1983, erwähnte ich bei der Einbringung des Bundeshaushalts 1984, daß wir die geltende Kreditermächtigung für 1983 in Höhe von 40,9 Milliarden DM nicht voll in Anspruch nehmen müßten. In der Tat, das Jahr 1983 schloß mit einem Ausgabenzuwachs von 0,9 % und einer Neuverschuldung von 31,5 Milliarden DM ab. Auch für 1984 werden wir die eingeplante Kreditaufnahme von 33,6 Milliarden DM bei weitem nicht ausschöpfen, sondern die Neuverschuldung auf deutlich unter 30 Milliarden DM absenken können.
Für 1985 möchten wir sie auf höchstens 24 Milliarden DM begrenzen.Ausschlaggebend für diese raschen Konsolidierungsfortschritte ist die Begrenzung des Zuwachses der Ausgaben. In den ersten acht Monaten stiegen sie gegenüber der Vorjahreszeit um 0,8 % an. Im Jahresergebnis erscheint aus heutiger Sicht ein Zuwachs von voraussichtlich etwa 2 % denkbar. Der neue Etatentwurf und die mittelfristige Finanzplanung zeigen, daß wir diesen Kurs grundsätzlich beibehalten wollen. Damit leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur überfälligen Gesundung nicht nur der öffentlichen Finanzen, sondern auch derwirtschaftlichen und sozialen Grundlagen unseres Gemeinwesens.
Konsolidierungspolitik ist im Ergebnis Stabilitätspolitik. Sparbeschlüsse tun zunächst weh, aber alle Bürger können bereits heute positive heilsame Wirkungen unserer Sanierungsentscheidungen feststellen.
Denn, meine Damen und Herren, die einschneidendste Veränderung der letzten zwei Jahre ist der nachhaltige Rückgang der Inflationsrate von 5,4 % im Sommer 1982 auf jetzt 1,7 %.
Hier wirken zweifellos mehrere Faktoren zusammen, aber einen entscheidenden Beitrag leistete neben der Geld- und Kreditpolitik der Bundesbank unsere neue Haushalts- und Finanzpolitik.
Stabilitätspolitik ist soziale Politik. Es waren vor allem die sozial schwächeren Mitbürger, die in früheren Jahren unter der Last rasch steigender Preise, unter der fehlenden Abstimmung von Finanz- und Währungspolitik, unter den schlimmen Folgen einer maßlosen Schuldenmacherei litten.
Manche versuchen, diese bitteren Erfahrungen und die Folgen eigener Fehler zu schnell zu verdrängen. Ich appelliere an unsere sozialdemokratischen Kritiker, diese bitteren Erfahrungen aus ihrer Regierungszeit, als die Inflationsrate auf 5 und 6 und 6,5% anstieg, jetzt in der Opposition nicht zu vergessen.
Ich appelliere an Sie, bei aller Einzelkritik an unserem Weg eine vertrauensbildende Stabilitätspolitik grundsätzlich zu unterstützen.Es bleibt also in der Perspektive der kommenden Jahre bei einem niedrigen Wachstum der Bundesausgaben und einer weiteren Verringerung der Nettokreditaufnahme, jedoch mit einer ganz wesentlichen Verbesserung: In den vergangenen Jahren mußten wir gesetzliche Leistungen kürzen, um Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu korrigieren. Jetzt schaffen wir die weiteren notwendigen Konsolidierungsfortschritte ohne erneute gesetzliche Eingriffe, weil die bisherigen Entscheidungen als dauerhafte Entlastung weiter wirken.
Damit haben wir im Haushalt 1985 und im Finanzplan bis 1988 wieder begrenzten Handlungsspielraum für die Zukunft gewonnen. Diesen nutzen wir insbesondere für zwei Schwerpunktbereiche unserer Politik: die notwendige Entlastung bei der Einkommen- und Lohnsteuer für die berufstätigen Menschen sowie wesentliche Verbesserungen im
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5857
Bundesminister Dr. StoltenbergBereich der Familienpolitik. Hinzu kommen höhere Leistungen für die Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der jüngsten Reformentscheidungen für ihre Festigung und ihren Ausbau.
— Das kommt alles noch; seien Sie geduldig!
Der Entwurf des Bundeshaushalts 1985 sieht ein Ausgabevolumen von 260,2 Milliarden DM vor. Damit steigen die Bundesausgaben gegenüber dem Soll 1984 um 1,2 %. Gegenüber dem voraussichtlichen Ist-Ergebnis dieses Jahres ergibt sich eine Steigerungsrate von etwa 2,5%, also etwas weniger als jene 3%, die wir zu Anfang der Legislaturperiode als verbindliche Obergrenze für den mittelfristigen Ausgabenzuwachs der Bundesausgaben festgelegt haben. Diese Linie ist übrigens Ende Juni dieses Jahres im Finanzplanungsrat von Bund, Ländern und Gemeinden erneut ausdrücklich bestätigt worden.Die Nettokreditaufnahme des Bundes soll — wie schon erwähnt — 1985 auf knapp 24 Milliarden DM zurückgeführt werden. Man darf jedoch nicht außer acht lassen, daß dieses relativ günstige Zahlenbild durch einen erneuten sehr hohen Bundesbankgewinn von voraussichtlich rund 10,5 Milliarden DM verschönt wird.Der Bundesbankgewinn fließt dem Bundeshaushalt nach dem Bundesbankgesetz zu.
Seine Größenordnung und starke Schwankungsbreite erfordern aber höchste geld- und finanzpolitische Wachsamkeit. Unerwünschte Auswirkungen auf den Geldmarkt werden nach Absprache mit der Deutschen Bundesbank vermieden. Wir haben vereinbart, daß die Gewinne im Jahr der Feststellung nur noch ratenweise an den Bund ausgezahlt werden. Ich darf an dieser Stelle der Deutschen Bundesbank für die vertrauensvolle Zusammenarbeit danken.
Wir gehen im Finanzplan für die folgenden Jahre weiterhin von einem spürbaren Rückgang des Bundesbankgewinnes aus.So unterstellen wir für 1988 eine Nettokreditaufnahme von 22,4 Milliarden DM bei einer geschätzten Einnahme aus dem Gewinn der Bundesbank von 5 Milliarden DM. Aber, meine Damen und Herren, auch ein solches Ergebnis wäre noch nicht das Ende der Konsolidierungspolitik. Zufrieden können wir erst sein, wenn die Neuverschuldung des Bundes ohne Einbeziehung des Bundesbankgewinns wieder deutlich unter 20 Milliarden DM liegt.Für das reale Bruttosozialprodukt haben wir ab 1984 einen jährlichen Anstieg von 2,5 % unterstellt. Im Frühsommer, vor dem Kabinettsbeschluß zum Haushalt, haben wir gut daran getan, jenen Optimisten — und es waren angesehene Persönlichkeiten unter ihnen — nicht zu folgen, die glaubten, die Einschätzung unseres Jahreswirtschaftsberichts würde erheblich übertroffen. Jetzt besteht, weil wir in der Prognose vorsichtig waren, keine Notwendigkeit,die Wachstumsannahme unter dem Eindruck des jüngsten Tarifkonflikts nach unten zu revidieren. Die jüngsten Daten über Auftragseingänge und die sich verbessernde Ertragssituation der meisten Unternehmen lassen nach dem Rückschlag des Frühjahrs wieder ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum erwarten.Bei den Preisen haben wir wieder stabile Verhältnisse wie zuletzt in der 60er Jahren. Die positive Entwicklung der Verbraucherpreise wurde von mir schon hervorgehoben. Besonders günstig sieht es auch bei dem Preisanstieg der inländischen Produktionsleistung aus. Hier rechnen wir mit nur noch rund 2 %. Damit haben wir einen Zustand nahezu erreicht, der — wie es der Präsident der Deutschen Bundesbank kürzlich formulierte — „auch bei Anlegung ehrgeiziger Maßstäbe als Preisstabilität zu bezeichnen ist". Wir nähern uns wieder den besten Jahren in der Verantwortung Ludwig Erhards, meine Damen und Herren.
— Er war 17 Jahre lang ungewöhnlich erfolgreich wie keiner seiner Nachfolger, meine Damen und Herren!
Dank der sich verbessernden Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen steigen die Ausfuhren in diesem Jahr besonders kräftig. Auch im Jahr 1984 wird die Bundesrepublik Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuß erwirtschaften können.Wenn wir die heutige Wirtschaftslage am Zielkatalog des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes messen, wird die gesamtwirtschaftliche Aufwärtsentwicklung der letzten Zeit besonders deutlich. 1981, im letzten Jahr unter der vollen Verantwortung der früheren Bundesregierung, wurde keines der Ziele des Stabilitätsgesetzes erreicht: weder Vollbeschäftigung noch Preisstabilität noch außenwirtschaftliches Gleichgewicht noch gar Wachstum. 1982 war diese Bilanz nur im außenwirtschaftlichen Bereich besser. Diese Bundesregierung hat nach zwei Jahren schon bei drei von vier Zielen des Stabilitätsund Wachstumsgesetzes wichtige Erfolge errungen: bei Wachstum und Stabilität sowie im Außenhandel.
Wir schauen mit Genugtuung auf das Erreichte. Aber wir sind mit der Zwischenbilanz noch keineswegs zufrieden,
über zwei Millionen unserer Mitbürger sind immer noch ohne Arbeit.
Diese Zahl, hinter der sich eine Vielzahl von Einzelschicksalen verbirgt, bleibt für uns alle eine nachdrückliche Aufforderung, die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft weiter zu verstärken, damit wir trotz aller demographischen
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5858 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundesminister Dr. StoltenbergProbleme und strukturellen Verwerfungen der 70er Jahre auch auf dem Arbeitsmarkt endlich zu einer deutlichen Entlastung und Verbesserung kommen.
Ich sage das, meine Damen und Herren, vor allem jenen, die heute schon wieder lautstark nach kreditfinanzierten Ausgabeprogrammen zur Konjunkturbelebung rufen. Das ist nach allen Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit nicht der richtige Weg.
Glaubwürdige, vertrauenbildende Stabilitätspolitik tut not, nicht ein Kurswechsel zurück in die 70er Jahre.
Zu dieser Alternative sagte kürzlich der Direktor des Internationalen Währungsfonds, Jacques de Larosière: „Je mehr Zeit verstreicht und je mehr die Verschuldung zunimmt, desto größer müssen die Steuererhöhungen oder Ausgabekürzungen werden."Meine Damen und Herren der SPD, wenn Sie sich an bestimmte Fraktionssitzungen aus dem Frühjahr 1982 erinnern, wissen Sie, daß der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt Ihnen zum Schluß seiner Amtszeit dasselbe gesagt hat, freilich zu spät.
Die meisten Länder Europas und viele Staaten der Dritten Welt haben die Richtigkeit dieses Satzes heute begriffen.Wir fühlen uns durch eine Reihe wichtiger Stellungnahmen der jüngsten Zeit in dieser Einschätzung bestärkt. Ich verweise auf die jüngsten Erklärungen des Präsidenten und Vizepräsidenten der Bundesbank, aber auch ein stark beachtetes Interview des früheren Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen, Professor Karl Schiller, vom 2. September. Er betonte, „tatenlos" könne man eine Stabilitätspolitik nicht nennen. Karl Schiller sagte — ich zitiere —:Ich glaube, nachdem man sich Anfang der achtziger Jahre ... überall entschieden hat für Konsolidierung, für Angebotspolitik, für Desinflation, muß man jetzt durchhalten, kann man jetzt nicht, nachdem ja kein Einbruch bevorsteht, sondern möglicherweise nur ein langsameres Wachstum für das nächste Jahr am Horizont erschienen ist, das Ruder völlig umwerfen und auf Nachfragepolitik völlig umschalten!Dieser Appell Karl Schillers steht im völligen Gegensatz zu den jüngsten Erklärungen des Kollegen Apel.
Herr Apel hat in der vergangenen Woche mit kräftiger Polemik unsere Haushaltspolitik wegen angeblicher Tatenlosigkeit attackiert
und wieder nur die alten, unbrauchbaren Rezepte seiner eigenen Regierungszeit angeboten. — Es ist schon bezeichnend, daß sich bei einem Zitat von Karl Schiller keine Hand mehr bei Ihnen regt. Meine Damen und Herren, Sie klatschen an der falschen Stelle.
Herr Kollege Apel hat Journalisten — ich habe das gelesen — in der ihm eigenen naßforschen Art gesagt, der Finanzminister müsse heute in dieser Debatte einmal kräftig Prügel bekommen.
Nachdem ich das gelesen habe, Herr Apel, will ich Ihnen noch einige zusätzliche Sätze widmen, als Einstimmung in Ihre folgende Rede.
Herr Kollege Apel, Sie hätten bereits 1972 auf Karl Schiller hören sollen, als er vergeblich vor einer ungezügelten Ausgabenexpansion warnte und dann zurücktrat. Sie haben seine und unsere Warnungen in den Wind geschlagen, als Sie im Amt des Bundesfinanzministers die Konsolidierungspolitik viel zu früh abbrachen und damit die Krise 1980 mit allen ihren bösen Folgen vorprogrammierten. Der Kollege Apel ist bereits in die Finanzgeschichte der Bundesrepublik Deutschland als der fröhlichste, aber auch schlimmste Schuldenmacher der Nachkriegszeit eingegangen, meine Damen und Herren.
Ich muß nach Ihren flotten Reden in den letzten Tagen gegenüber der Presse sagen: Etwas mehr Mäßigung und Selbstkritik stünde Ihnen im Rückblick auf Ihre eigenen Leistungen ganz gut an.
Meine Damen und Herren, die Gesundung der Staatsfinanzen war für uns und für die breite Öffentlichkeit von Anfang her mehr als eine rein finanzwirtschaftliche Aufgabe. Sie ist für uns maßgebender Teil einer langfristigen Strategie der marktwirtschaftlichen Erneuerung für mehr Arbeitsplätze, Wachstum, Stabilität und Freiheit. So verstehen wir dies. Es muß wieder Klarheit geschaffen werden über die Rollenverteilung zwischen Staat und privatem Sektor. Unsere marktwirtschaftliche Ordnung muß vor einer allmählichen Auszehrung durch zuviel staatliche Eingriffe und zuviel Administration geschützt werden.Diese Grundsätze führen auch zu einer Neubestimmung der Aufgaben des Bundes als Unternehmer. Wir werden noch in diesem Jahr konkrete Vorschläge für die Privatisierung von Bundesbeteiligungen vorlegen.
Wir lassen uns darin auch nicht durch unangebrachte Aktivitäten des einen oder anderen Vor-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5859
Bundesminister Dr. Stoltenbergstandsmitgliedes des einen oder anderen Unternehmens beirren. Das will ich nur hinzufügen.
— Herr Kollege Roth, so wie Sie die Rolle des Bundes als Unternehmer in Ihren Papieren immer definiert haben, aber in der Praxis nie ausgeübt haben, muß Ihnen dieser Satz doch sehr sympathisch sein.
— Jawohl, ich stimme Ihnen zu; auch das ist wichtig.Das ganze Ausmaß der staatlichen Expansion dokumentiert sich in zahlreichen Vorschriften und Programmen, die fast jede wirtschaftliche Handlung zu einer Begegnung mit dem Staat werden lassen. Als grobe, als ungefähre Richtschnur für den Umfang der Staatstätigkeit dient uns ja der Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt: Von 1969 bis 1982 stieg diese Quote von 39% auf fast 50%, im Durchschnitt Jahr für Jahr um fast einen Punkt. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Steuern und vor allem der Sozialabgaben am Bruttosozialprodukt, also die Abgabenquote, von 37,4 % auf 42,5%. Im Vergleich zur Ausgabenquote nur scheinbar eine moderate Entwicklung: Die Schere zwischen Ausgaben- und Einnahmendynamik wurde durch eine ausufernde öffentliche Neuverschuldung und die hemmungslose Auszehrung der finanziellen Grundlagen der Sozialversicherung geschlossen.
Im letzten Jahr konnte die Staatsquote wieder um einen Punkt auf rund 49 % gesenkt werden, und sie wird in diesem Jahr aller Voraussicht nach um einen weiteren Punkt auf rund 48% zurückgehen. Bis Ende 1988, dem Ende des laufenden Finanzplans, hoffen wir, eine spürbare Verringerung auf rund 45% zu erreichen.Die Umkehr ist langwierig und schwierig, doch sie lohnt. Beweglichkeit und Dynamik unserer Volkswirtschaft hängen entscheidend davon ab, daß sich private Investitionen, persönliche Anstrengungen und Initiative, berufliche Leistung und auch die Bereitschaft zur Übernahme von Risiken auszahlen. Jedes Stück zumutbarer Verantwortung, das der Staat im Vertrauen auf seine mündigen Bürger wieder in private Hände geben kann, ist ein neuer Anreiz für den einzelnen auf der Suche nach eigenverantwortlichen und solidarischen Lösungen und auch ein Mehr an persönlicher Freiheit.
Meine Damen und Herren, eine besonders wichtige Voraussetzung für mehr Wachstum, für Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft ist eine sorgfältige Abstimmung von Geld- und Finanzpolitik. Die deutsche Geldpolitik ist durch gesetzlichen Auftrag auf das Ziel der Währungsstabilität festgelegt. Eine nicht mit der Geldpolitik harmonierende Haushaltspolitik kann, wie die Erfahrungen der Vergangenheit ebenso wie aktuelle ausländische Beispiele zeigen, fatale Folgen haben. Wenn die öffentlichen Finanzen aus den Fugen geraten und Inflationsdruck erzeugen, gerät auch die Geldpolitik unter Druck. Hohe Zinsen, rückläufige Investitionen und stark steigende Arbeitslosigkeit sind die unausweichliche Konsequenz. Wir haben dies in den Jahren 1981/82 leidvoll erfahren.In den letzten beiden Jahren haben die Konsolidierungserfolge der öffentlichen Hand neuen geldpolitischen Handlungsspielraum geschaffen. Gegenüber dem Zinshöhepunkt von 1981 gaben die langfristigen Zinsen um mehr als drei Prozentpunkte nach. Deutlicher werden die hier an dieser wenig beachteten Front erzielten Erfolge an der Zinsdifferenz zum Ausland: Von Anfang 1983 bis heute stieg beispielsweise der Abstand zum langfristigen US-Zins um etwa zwei auf rund fünf Prozentpunkte.
Ohne die Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung und bei der Inflationsbekämpfung wäre eine solche Entwicklung überhaupt nicht denkbar gewesen.
Die Bereitschaft breiter Anlegerschichten, sich wieder längerfristig am Kapitalmarkt zu engagieren, ist beträchtlich gewachsen. Dieses höhere Aufkommen längerfristiger Spargelder schafft — auch nach dem Urteil der Deutschen Bundesbank — eine solidere Finanzierungsbasis für eine verstärkte Investitionstätigkeit. Erheblich zugenommen hat auch das Interesse privater Sparer am Aktienmarkt.Vor allem der erwähnte hohe Zinsabstand zu den USA ist Ausdruck eines wachsenden Vertrauens in die Finanz- und Geldpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Vertrauen ist ein kostbares Gut. Es muß erhalten und gefestigt werden. Meine Damen und Herren, viele von Ihnen erinnern sich aus der Zeit der früheren Regierungen an die dramatischen Warnungen — etwa des früheren Bundeskanzlers Schmidt —, die im Kern ja auch begründet waren, wegen der Zinsentwicklung in Amerika und ihre schlimmen Folgen. Wir haben uns nicht auf diese Warnungen beschränkt: Wir haben den Handlungsspielraum erweitert und damit einen Abstand von den US-Zinsen erreicht, der vor wenigen Jahren noch unvorstellbar erschienen wäre.
Vertrauensbildende Politik stärkt das Selbstvertrauen der Menschen, Probleme zu lösen. Eine schöpferische Entfaltung dieses Selbstbewußtseins setzt die Erfahrung von erweiterten Handlungsmöglichkeiten voraus. Diese Grundlage zu schaffen ist der ordnungspolitische Kern unserer Stabilitätspolitik.Da die Verbesserung der allgemeinen Wirtschaftslage nur mit zeitlicher Verzögerung auf den Arbeitsmarkt durchschlägt, hat die Bundesregierung mehrere wichtige zusätzliche Initiativen für diesen Bereich beschlossen. Ich will sie hier einmal kurz in Erinnerung rufen, damit das Reden von der
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5860 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundesminister Dr. Stoltenbergangeblichen Tatenlosigkeit noch einmal überprüft werden kann.Mit dem zeitlich befristeten Vorruhestandsgesetz wurde ein Rahmen geschaffen, der es Arbeitnehmern, die 58 Jahre oder älter sind, ermöglichen soll, freiwillig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, damit jüngere Arbeitslose wieder Platz erhalten. Zur positiven Bilanz der jüngsten Tarifrunde gehört, daß zahlreiche Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dieses Angebot angenommen haben. Kurzfristig können 240 000 ältere Arbeitnehmer — wenn sie es wollen; es ist natürlich freiwillig — diese Möglichkeit nutzen.Auf der anderen Seite haben uns die Arbeitskämpfe bei Metall und Druck in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und auf dem Arbeitsmarkt zunächst zurückgeworfen. Ob die dabei ausgehandelte Wochenarbeitszeitverkürzung auf Dauer wirklich von Vorteil ist, bleibt sehr zweifelhaft. Meine Damen und Herren, die Wirkung linearer Arbeitszeitverkürzungen kann j a nur im internationalen Vergleich beurteilt werden. Ich will hier einfach sagen: Diese Forderung steht jedenfalls in der Schweiz, in den USA und Japan, den drei Ländern — mehr sind es nicht! —, die eine besonders erfolgreiche Beschäftigungsentwicklung zu verzeichnen haben, nicht auf der Tagesordnung der Gewerkschaften.Der Arbeitsmarkt wird auch durch das Gesetz zur Förderung der freiwilligen Rückkehr von Ausländern entlastet. Nach den vorliegenden Anträgen kehren jetzt etwa 300 000 Ausländer freiwillig in ihre Heimat zurück. Ich unterstreiche noch einmal, daß es sich um eine freiwillige Entscheidung handelt. Es ist deshalb vollkommen abwegig, wenn einige Kritiker innerhalb und außerhalb des Parlaments dieses Gesetz immer wieder als Ausdruck vermeintlicher Ausländerfeindlichkeit zu diffamieren versuchen.
Für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen setzen wir über 1,6 Milliarden DM ein. Damit werden im Jahresdurchschnitt voraussichtlich 70 000 Personen beschäftigt. Hinzu kommen gut 200 000 Plätze für Maßnahmen der beruflichen Fortbildung und Umschulung.Auch zur Verbesserung der Ausbildungssituation unserer Jugend leistet dieser Haushaltsentwurf einen wichtigen Beitrag: Durch Leistungen an überbetriebliche berufliche Ausbildungsstätten, durch steigende Mittel für das Benachteiligtenprogramm und eine verstärkte eigene Ausbildungsanstrengung des Bundes. Der Bund selbst wird die Zahl seiner Ausbildungsplätze 1984 noch einmal um gut 2 000 auf fast 30 000 steigern.Die Hauptlast der beruflichen Ausbildung liegt selbstverständlich bei den Ausbildungsbetrieben. Mit einem Rekordangebot an neuen Plätzen und abgeschlossenen Verträgen sind sie ihrer Verantwortung im vergangenen Jahr voll gerecht geworden. Auch für 1984 liegen bisher erfreuliche Zwischenergebnisse vor. Schon jetzt zeichnet sich einweiterer Anstieg der Zahl der Ausbildungsplätze ab. Wir alle sollten auch als Bürger bis zum Jahresende jede sinnvolle Initiative unterstützen. Wer statt dessen voreilig Katastrophenmeldungen verbreitete, hat den jungen Menschen, die eine Chance suchen, nicht geholfen, sondern geschadet.
— Entschuldigen Sie, es liegt in Ihrer Mentalität, nur in Katastrophenbegriffen zu argumentieren, aber man sollte die große Leistung der Handwerker, der Kaufleute, der Bauern, der Industriellen, der Vertreter der Gewerkschaften und Schulen, die daran mitwirken, endlich einmal anerkennen und von dieser Stelle mit Dank quittieren.
Meine Damen und Herren, mehrere wichtige Entscheidungen prägen die neue mittelfristige Finanzplanung.Unsere Steuerpolitik hat das Ziel, die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Bürger und Unternehmen stärker anzuerkennen. Mit dem Sofortprogramm 1982 und mit dem Steuerentlastungsgesetz 1984 setzen wir wichtige Akzente zur Entlastung der Wirtschaft und zur Verbesserung der Investitionskraft. In der nunmehr vorgesehenen dritten Stufe nutzen wir den finanzpolitischen Handlungsspielraum, den wir mit unserer Konsolidierungspolitik gewinnen, zur Entlastung der Familien und zur allgemeinen Verbesserung des Steuertarifs.In einem Gesetz soll die Einkommen- und Lohnsteuer in zwei Stufen — 1986 und 1988 — um insgesamt 20,2 Milliarden DM gesenkt werden.Im Mittelpunkt der ersten Stufe wird mit der Erhöhung der Kinderfreibeträge auf 2 484 DM eine grundsätzliche Neuorientierung der Familienbesteuerung stehen.
Steuerpflichtige mit Kindern sollen bei gleichem Einkommen deutlich weniger als Steuerpflichtige ohne Kinder belastet werden; wir bekennen uns dazu.
Ich weiß, Herr Kollege Apel — Sie machen es hier deutlich —, daß das Ihre Mißbilligung findet. Aber Sie müssen dann hier einmal erklären, weshalb Sie in den vergangenen Jahren Steuerabzugsfähigkeit für alle möglichen Zwecke, vom Frankfurter Zoo bis zum Hamburger Tiergarten, für richtig hielten, nur nicht Steuerabzugsfähigkeit der Leistungen der Eltern für ihre Kinder. Ich will das hier einmal in aller Deutlichkeit sagen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5861
Bundesminister Dr. StoltenbergMit dem gleichzeitigen Wegfall der Kinderadditive bei den Vorsorgeaufwendungen wird ein weiterer Schritt zur Steuervereinfachung getan.
— Das trifft sogar statistisch zu, Herr Kollege. Aber darüber können wir uns dann in den nächsten Monaten unterhalten, wenn das auf der Tagesordnung steht.
— Das trifft statistisch sogar zu. Da Sie bei keiner früheren mitgewirkt haben, können Sie da — im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Kollegen — ganz unbefangen sein.Wir setzen für diesen Bereich der Familienentlastung insgesamt 5,2 Milliarden DM ein.Die Tarifkorrektur soll eine nachhaltige Abflachung des progressiven Tarifverlaufs bringen. Wir wollen mit diesem neuen Tarif die Grenzbelastung für den Durchschnittsverdiener, also vor allem für qualifizierte Arbeiter, Angestellte und Beamte, um etwa 5 Prozentpunkte absenken. Fünf Prozentpunkte bedeuten für sie faktisch in vielen Fällen eine Absenkung um mehr als 10 % bei der Grenzbelastung; wohlgemerkt: bei Durchschnittseinkommen.Zugleich kommen wir dem langfristigen Ziel eines Tarifs mit einem gleichmäßigen Anstieg der Grenzsteuersätze einen wichtigen Schritt näher.Nach ersten überschlägigen Beispielsrechnungen wird ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmer mit zwei Kindern — Bruttolohn 1984 rund 35 000 DM — 1986 eine Steuerentlastung in der Größenordnung von rund 900 DM erhalten. Man muß schon sehr weltfremd gegenüber der sozialen Situation solcher Mitbürger mit Kindern sein, um zu behaupten, das sei überhaupt nichts, wie ich es aus Ihren Reihen höre, meine Damen und Herren.
— Herr Kollege Spöri, man kann die sozialen Wirkungen dieses neuen Tarifs nur in der zeitlichen Perspektive richtig bewerten. In den letzten Jahren ist die Mehrzahl der Arbeitnehmer aus der unteren Proportionalzone in die Progressionszone hineingewachsen. Sie werden von Jahr zu Jahr immer stärker von der bis jetzt überdurchschnittlich zunehmenden Grenzsteuerbelastung betroffen. Der neue vorgesehene Tarif hilft ihnen immer nachhaltiger— in der zeitlichen Perspektive —, da sich j a bis Anfang der 90er Jahre ihre Einkommen voraussichtlich um 20 bis 30 % erhöhen werden.
— Ich bin gern bereit, Herr Kollege, wenn wir in der ersten Lesung des Gesetzes Anfang nächsten Jahres eine Detaildebatte haben, auf eine Fülle von Entlastungsbeispielen einzugehen. Ich werde dann aber auch an Hand von Unterlagen die Entlastungswirkungen darstellen, die Sie einmal in den 70er Jahren beschlossen haben. Dann werden die kritischen Debatten etwas vertiefter als heute mit Zwischenrufen.
Im übrigen ist es eine betont soziale Politik, wenn wir in der Kombination von Steuer- und Haushaltsentscheidungen besonders die Familien fördern, deren soziale und ethische Leistung in den 70er Jahren nur in unzureichender Weise berücksichtigt wurde.
So sind die Maßnahmen der Familienpolitik auf der Ausgabenseite des Etats ein zweiter Schwerpunkt. Das Mutterschaftsgeld soll zu einem Erziehungsgeld für alle Mütter bzw. Väter von 600 DM erweitert werden;
1986 und 1987 für zehn Monate, ab 1988 für 12 Monate, ab dem siebten Monat mit einer Einkommensgrenze.Für geringer Verdienende, bei denen der erhöhte steuerliche Kinderfreibetrag nicht voll zum Tragen kommt, wird ab 1986 ein zusätzlicher Kindergeldzuschlag eingeführt.Arbeitslose Jugendliche bis 21 Jahre erhalten schon ab 1985 wieder Kindergeld.
Wir machen punktuell hier eine Kürzung rückgängig, meine Damen und Herren von der SPD, die Sie beschlossen haben. Ich will das nur zur Klarstellung sagen.
Wir müssen uns im Lande ja schon damit auseinandersetzen, daß Ihre Parteifreunde uns die Wirkung der Kürzungen vorhalten, die Sie selbst ab 1981 veranlaßt haben. So kann es j a auch nicht sein.
Zweifellos kosten die erwähnten Beschlüsse für die Familie viel Geld. Aber sie sind nach unserer Überzeugung eine wichtige Zukunftsinvestition, wenn wir über den Tag hinaus unsere Verantwortung für die nächste Generation wahrnehmen wollen.
Umweltschutz hat zu Recht immer mehr an Bedeutung gewonnen. Die Aufgabe des Bundes besteht vor allem darin, wirksamere Rechtsgrundlagen für die Verbesserung der Umweltbedingungen zu schaffen.
Im Haushalt konzentrieren wir uns vor allem aufdie Förderung von Demonstrationsvorhaben, um
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5862 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundesminister Dr. Stoltenbergdie von Altanlagen ausgehende Umweltbelastung zu vermindern.
— Kommt alles dran — ich hätte fast gesagt: lieber Freund, sehr geehrter Herr Kollege und Amtsvorgänger. Kommt noch alles.So werden die Maßnahmen der Luftreinhaltung ab 1985 erweitert und die Ansätze ab 1986 spürbar angehoben.
In diesem Zusammenhang ist auch das finanzielle Engagement des Bundes beim Kraftwerk Buschhaus zu sehen, soweit er dort nicht in seiner Eigenschaft als Anteilseigner ohnehin beteiligt ist. Wie wir am 31. Juli 1984 hier im Deutschen Bundestag ausführlich erörtert haben, soll dort erstmals eine neue Anlage zur Entschwefelung bei der Salzkohleverstromung eingesetzt werden, für die es nach Auskunft der Experten international kein Beispiel gibt. Es ist deshalb vollkommen abwegig, wenn jetzt die nordrhein-westfälische Landesregierung hieraus Milliardenforderungen an den Bund zur Verbesserung des Umweltschutzes bei Kohlekraftwerken herzuleiten versucht.
Diese Verantwortung, diese Kosten müssen die Elektrizitätsversorgungsunternehmen, gutgehende Monopolbetriebe mit glänzenden Bilanzen und Spitzendividenden, selbst tragen. Wer denn sonst eigentlich?
Das sind nun wirklich die Reichen im Lande — um das einmal etwas polemisch zu sagen —, von denen Sie sonst immer reden und behaupten, sie würden einseitig gefördert.
Die müssen die Kosten nach dem Verursacherprinzip, an dem wir festhalten, tragen. Wer denn sonst, meine Damen und Herren?
Ich will hier auch anmerken, daß sich die Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke ausdrücklich von dem Subventionsbegehren der Düsseldorfer Landesregierung distanziert hat.
Bei den anstehenden Entscheidungen über die Einführung umweltfreundlicher Kraftfahrzeuge stehen zwei Punkte im Vordergrund. Wir müssen in der Europäischen Gemeinschaft die Voraussetzungen für eine umfassende grenzüberschreitende Lösung zum frühestmöglichen Zeitpunkt erreichen und für eine Übergangszeit diese Umstellung auf abgasarme Autos national fördern.
Auf ausdrücklichen Wunsch aller Länder — HerrKollege Apel, aller Länder — wartet die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung die Bundesratssitzung am 14. September 1984 ab.Aber ich muß Ihnen nach Ihren Zwischenrufen doch einmal eine Frage stellen. Können Sie eigentlich erklären, wie es zu dieser Vorgeschichte gekommen ist? Im Jahr 1972 hat die Regierung der USA Grenzwerte für umweltfreundliche Autos eingeführt und schrittweise durchgesetzt. 1976 hat Japan — mit kürzeren Übergangszeiten — das umweltfreundliche Auto, das Katalysatorenauto, eingeführt. Ich muß Sie einmal fragen, meine Damen und Herren von der SPD: Wie kommt es eigentlich, daß der Kollege Zimmermann, der Bundesfinanzminister und alle, die damit befaßt sind, vor 18 Monaten praktisch am Nullpunkt anfangen mußten? Weil Sie in den Jahren, in denen Sie Verantwortung getragen haben, nichts getan haben.
Wir haben in den letzten Monaten im Bundesfinanzministerium alle steuerlichen Überlegungen in sehr komplizierten Abstimmungsvorgängen, auch mit den Ländern, vom Nullpunkt an erörtern müssen.
— Nein, wir müssen da auch hinsichtlich der GRÜNEN Fehlanzeige vermelden. Ich will Ihnen das nur zur Chronologie und um der Wahrheit willen sagen. Sie sind gegen Brokdorf marschiert, Sie haben sich um die Kohleverschmutzung nicht gekümmert. Sie haben andere Protestbewegungen initiiert und haben auch das Problem des umweltfreundlichen Autos auf der grünen Front des Hohen Hauses verschlafen. Das will ich Ihnen nur in aller Deutlichkeit sagen.
Die Bundesregierung wird in diesem Jahr einen Gesetzentwurf für die künftige Besteuerung des eigengenutzten Wohnraums vorlegen. Ziel ist eine nachhaltige Förderung der Familien mit Kindern und eine wesentliche steuerliche Vereinfachung, vor allem durch Wegfall der Nutzungswertbesteuerung.Eine weitere Gesetzesvorlage für Unternehmensbeteiligungsgesellschaften soll der verbesserten Kapitalausstattung von kleineren und mittleren Unternehmen dienen. Wir arbeiten daran, die Möglichkeiten für Existenzgründungen zu erweitern, und beziehen ein Existenzgründungssparen in diese Überlegungen ein.
Der Etat des Forschungsministers steigt mit 2,9 % mehr als doppelt so stark an wie der Ausgabenrahmen des Gesamthaushalts. Die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung werden damit auch im Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung besonders nachhaltig gefördert.Die Verteidigungsausgaben wachsen mit 3,7 % ebenfalls überdurchschnittlich. Das ist notwendig, um Vorsorge für eine angemessene Personalstärke — unter erheblich schwierigeren demographischen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5863
Bundesminister Dr. StoltenbergBedingungen — zu treffen, um die von der früheren Bundesregierung in Auftrag gegebenen modernen Waffensysteme zu bezahlen und insbesondere Forschung und technische Entwicklung auch in diesem Bereich im Hinblick auf die Verteidigungserfordernisse der 90er Jahre zu fördern.Schließlich steigt auch der Entwicklungshilfeetat um 3,3 % überdurchschnittlich.
— Nicht nur, Frau Kollegin, bei weitem nicht.
Wenn Sie einmal unsere Verhandlungsposition für Lomé, für die Förderung der ärmsten der armen Ländern sehen, können Sie nicht sagen, daß wir hier in erster Linie eigenen Interessen dienen wollen.Durch diese Erhöhung des Entwicklungshilfeetats können neue Schwerpunkte in der bilateralen finanziellen und technischen Zusammenarbeit verstärkt und in mehr Partnerschaft mit der Weltbank und anderen internationalen Organisationen Hilfsprogramme für besonders hart bedrängte Länder der Dritten Welt entwickelt werden.Die Mittel für die soziale Sicherung bilden weiterhin den größten Ausgabenblock im Bundeshaushalt. Die Finanzlage der Bundesanstalt für Arbeit macht 1985 keine Bundeszuschüsse mehr erforderlich.
Das erklärt im wesentlichen den Rückgang des Ausgabevolumens beim Etat des Arbeitsministers gegenüber 1984.
Andererseits steigen die Mittel im Bundeshaushalt für die Arbeitslosenhilfe stärker an, als 1984 vorgesehen. — Ich will Ihnen sagen, woher das kommt, Frau Fuchs. Diese Regierung hat unter dem Eindruck der dramatischen Verschlechterung der Arbeitsmarktlage Ende 1982, kurz vor der Bundestagswahl, eine mittelfristige Finanzplanung veröffentlicht, die von einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 2,49 Millionen für die nächsten Jahre ausging.
Das war unsere Prognose, die wir vor 18 Monaten für redlich und nötig hielten.
Bei aller Sorge um die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt können wir feststellen, daß der tatsächliche Verlauf der Arbeitslosigkeit diesen Befürchtungen nicht entsprochen hat.
Das will ich zur Erläuterung auf Ihre Zwischenfrage sagen.
Andererseits — und da nehme ich Ihren Zwischenruf, Herr Wieczorek, auf — steigen die Mittel im Bundeshaushalt für die Arbeitslosenhilfe erheblich stärker als veranschlagt, was mit der Tatsache zusammenhängt, daß ein Teil der Arbeitslosen immer längere Zeiten der Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen muß.
— Ich habe es in meinem Manuskript. Es ist ein unbestreitbarer, uns alle besorgender Tatbestand, Herr Kollege Vogel, unbestreitbar.Meine Damen und Herren, wir können längerfristig keinen angemessenen politischen Handlungsspielraum für neue Schwerpunkte der Politik und weitere Steuersenkungen gewinnen, wenn wir nicht den bedrohlichen Anstieg der Zinsausgaben abbremsen. Mit den erwähnten Entscheidungen ist ohnehin der Rahmen für Steuerentlastungen in dieser Wahlperiode ausgeschöpft. Ich will das gegenüber zuviel Anregungen in jüngster Zeit hier ausdrücklich als Ergebnis der Koalitions- und Kabinettsverhandlungen festhalten.
Die Zinsausgaben stiegen von 1969 bis 1984 von 2,2 Milliarden DM auf 28,7 Milliarden DM im Haushalt des Bundes,
von 2,7% auf 11,2% unserer Gesamtausgaben. Bund, Länder und Gemeinden sowie Bahn und Post gaben 1969 zusammen 71/2 Milliarden DM für ihre Zinszahlungen aus. 1984, in diesem Jahr, werden es bereits über 60 Milliarden DM sein,
meine Damen und Herren, eine geradezu bestürzende Zahl, auch in der weiteren Zukunftsperspektive. Selbst bei strengster Ausgabendisziplin müssen wir bis 1988 allein beim Bund mit einem weiteren Anstieg der Zinszahlungen auf über 37 Milliarden DM rechnen.In meiner ersten Haushaltsrede habe ich darauf hingewiesen, daß 1983 die Zinsausgaben soviel wie die Etats des Wirtschaftsministers, des Entwicklungshilfeministers, des Forschungsministers, des Bildungsministers und des Bauministers zusammen beanspruchen.
Bis 1988 werden trotz unserer Sparentscheidungen noch die Etats des Innenministers, des Außenministers und des Finanzministers hinzukommen.
Bedeutsam ist auch, daß trotz einer Rückführungder Neuverschuldung die Bruttokreditaufnahmedes Bundes zunächst noch ansteigt, weil umfangrei-5864 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984Bundesminister Dr. Stoltenbergche kurzfristige Kreditaufnahmen aus früheren Jahren zur Umschuldung anstehen. Auch das, meine Damen und Herren, sind die Spätfolgen einer übersteigerten Verschuldungspolitik, die Langzeitwirkungen und -belastungen keinerlei Beachtung geschenkt hat.
Wenn das Wachstum der Zinszahlungen der letzten Jahre nicht drastisch verringert wird, wäre gegen Ende des Jahrhunderts die Hälfte aller Ausgaben des Bundes durch die Verpflichtungen für Zinszahlungen gebunden.Der Anteil der Finanzhilfen des Bundes an den Gesamtausgaben geht kontinuierlich zurück von 7,8% im Jahre 1974 über 5,8 % im Jahre 1981 auf 5,2 % bis 1985. Unsere Finanzplanung sieht eine weitere Verringerung auf 4 % im Jahre 1988 vor. Unabweisbare neue Hilfen wie z. B. bei Stahl und Landwirtschaft sind im wesentlichen befristet beziehungsweise degressiv gestaltet. Das gilt freilich nicht für Subventionen als soziale Leistungen. Nach unserem im Gesetz festgelegten Subventionsbegriff sind ja — was viele in den öffentlichen Debatten übersehen — auch wichtige soziale Leistungen Subventionen.
— Immer schon. Das ist eine Definition, Herr Kollege Haehser, über die es nie Streit gegeben hat. Ich hebe das nur hervor, weil manche es sich hier etwas leicht machen.Daß wir es bei der Förderung von Unternehmen mit der Befristung und Degressivität ernst meinen, wird in der Stahlpolitik deutlich. Die Hilfen werden Ende 1985 auslaufen, wie beschlossen. Erhebliche Eigenbeiträge der Stahlunternehmen werden gefordert, und die Vorlage detaillierter Umstrukturierungspläne war Voraussetzung. Wir bestehen darauf — ich unterstreiche die Aussage des Kollegen Bangemann aus den letzten Tagen —, daß der europäischen Subventionskodex in allen Punkten, einschließlich der vereinbarten Fristen, eingehalten wird, damit ab 1986 in Europa Stahl wieder unter den Bedingungen eines fairen Wettbewerbs produziert werden kann.
Steuerliche Sonderregelungen wurden in jüngster Zeit durch die Reform der Grunderwerbsteuer sowie die Konzentration von Vergünstigungen bei der Energieeinsparung auf neue Technologien abgebaut. Der Schuldzinsenabzug beim Bau und Erwerb von Eigenheimen läuft nach dem Kabinettsbeschluß vom 3. Juli im Einvernehmen mit der Koalition wie vorgesehen zum 31. Dezember 1986 aus.Die Konsolidierungspolitik bleibt auch für die kommenden Jahre ein gemeinsames Ziel von Bund, Ländern und Gemeinden. Das ist in der letzten Sitzung des Finanzplanungsrates gerade auch von sozialdemokratischen Kollegen nachdrücklich bekräftigt worden. Die Neuverschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts geht von über 70 Milliarden DM, also etwa 4,5% des Bruttosozialproduktes, im Jahre 1982 auf voraussichtlich 50 Milliarden DM, das sind3 % des Bruttosozialproduktes, im laufenden Jahr zurück. 1985 können wir wahrscheinlich mit einer geringeren Neuverschuldung in Höhe von 2 bis 2,5% des Bruttosozialproduktes rechnen.Grundsätzlich ist natürlich jede Gebietskörperschaft selber für ihren Haushalt verantwortlich. Aber auch hier ist die Neigung, gelegentlich in die Tasche des anderen zu greifen, deutlich erkennbar. Wir sehen auch, daß der Bund in einigen Bereichen seine Mitverantwortung für die Finanzentwicklung von Ländern und Gemeinden zu praktizieren hat. Das gilt beispielsweise für den vertikalen Finanzausgleich und den Bereich der Personalausgaben. Der öffentliche Dienst hat in den letzten vier Jahren einen erheblichen Beitrag zur Gesundung der Haushalte leisten müssen. Trotz dieser Belastungen haben Beamte, Angestellte und Arbeiter ihre Aufgaben in vorbildlicher Weise erfüllt. Ich möchte das auch heute mit Dank und Anerkennung hervorheben.
Der starke Rückgang der Inflationsrate kommt ihnen jetzt ebenso wie den anderen Berufstätigen zugute. Man kann deshalb, ohne den Ergebnissen der bevorstehenden Besoldungs- und Tarifrunde vorzugreifen, hoffen, daß erstmals seit 1980 die Realeinkommen in diesem Bereich zumindest stabil bleiben.
Im Haushaltsentwurf 1985 sind weitere Stellenkürzungen oder eine Wiederbesetzungssperre nicht vorgesehen.Besonders erfreuliche Fortschritte haben die Gemeinden bei ihrer Konsolidierung gemacht. 1981 mußten sie noch über 6 Milliarden DM Kredite aufnehmen. In diesem Jahr wird es nur noch rund eine Milliarde DM sein.
Dieser positive Trend dürfte sich fortsetzen, und er zeigt, daß — im Gegensatz zu den Attacken der Sozialdemokratischen Partei — wir in Bonn eine wesentlich kommunalfreundlichere Politik verwirklichen als unsere sozialdemokratischen Vorgänger.
Ich appelliere an die Verantwortlichen in der kommunalen Selbstverwaltung, wieder verstärkt in sinnvolle Vorhaben zu investieren, vor allem beim Umweltschutz.
Aber auch bei der Stadt- und Dorferneuerung, die der Bund mit höheren Mitteln fördert, sind wichtige Aufgaben zu meistern. — Sie fragen: „Wovon?" Wenn die Verschuldung in drei Jahren nicht um, sondern auf 15% zurückgeht, wenn 70% der kommunalen Gebietskörperschaften erfreulicherweise in der Lage sind, alte Schulden abzubauen und Rücklagen zu bilden, dann können sie auch wieder mehr sinnvoll investieren für Umweltschutz, Stadt-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergund Dorferneuerung und andere vernünftige Zukunftsinvestitionen.
Ich bestreite dabei nicht, Herr Kollege Vogel, daß es eine Reihe insbesondere großer Städte in Problemgebieten gibt, die noch in einer schwierigen Lage sind.
Aber die Zahlen sprechen für sich. Freuen wir uns doch alle miteinander, daß die Konsolidierung dort noch schneller vorankommt als bei uns, damit die Bekenntnisse zur kommunalen Selbstverwaltung nicht nur Lippenbekenntnisse bei Festreden bleiben.Mit einem Anteil von rund zwei Dritteln der gesamten Sachinvestitionen der öffentlichen Hände kommt hier den Gemeinden bei der Belebung der öffentlichen Investitionen natürlich eine Schlüsselrolle zu.Der Bund wird seine Ansätze für Investitionen 1985 noch einmal verstärken. Insbesondere im Verkehrsbereich sollen die Ausgaben um eine halbe Milliarde D-Mark erhöht werden. Dennoch wird in bestimmten Bereichen immer deutlicher, daß der Bund bei wichtigen klassischen Investitionsaufgaben und Förderungsvorhaben auch an gewisse Bedarfsgrenzen stößt.Im Rahmen unserer gesamtstaatlichen Verantwortung wollen wir dem Saarland in den nächsten drei Jahren Hilfen für besonders bedeutsame Investitionen zur Stärkung der Wirtschaftskraft des Landes gewähren.
— Frau Kollegin, hieraus können von anderen Bundesländern keine Forderungen hergeleitet werden. Warum? Ich will Sie daran erinnern, daß auch die Regierung Schmidt, der Sie angehört haben, der besonderen Lage des Saarlandes durch spezielle Finanzentscheidungen Rechnung getragen hat.
So wurde über viele Jahre hinweg dem größten Industrieunternehmen. des Landes ein Milliardenbetrag an Zuschüssen und Bürgschaften bewilligt — dem größten Industrieunternehmen des Saarlandes und keinem anderen vergleichbaren Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben, wie ich erwähnte, bei der Stahlhilfe für drei Jahre den Unternehmen in allen Stahlstandorten, auch in Bremen und Nordrhein-Westfalen, erstmals eine Finanzhilfe zur Umstrukturierung gegeben. Uns scheint nun die jetzt vorgesehene Form der befristeten Investitionshilfe für das Saarland für drei Jahre mit je 100 Millionen DM überzeugender zu sein als eine weitere Beteiligung des Bundes an Subventionen für Arbed Saarstahl, die nicht mehrvorgesehen ist. Ich will das hier ausdrücklich sagen.
— Nein, ich glaube, das ist ein großer Irrtum, Herr Kollege Vogel. Dies sind im Gesetz und Haushalt definierte Einzelvorhaben.Aber ich bin doch sehr erstaunt, wenn ich auch einige Stimmen aus sozialdemokratisch geführten Ländern höre, daß die sozialdemokratisch geführten Bundesländer über Jahre hinweg diese exzeptionelle Sonderförderung des Saarlandes in Verbindung mit Subventionen für ein Unternehmen stillschweigend hingenommen haben, während jetzt, wo wir sie beenden und eine befristete Finanzhilfe folgt, plötzlich riesige Forderungen an den Bund gerichtet werden. Glaubwürdig ist das bei dem Verhalten der entsprechenden Bürgermeister und Ministerpräsidenten in früheren Jahren nicht. Das muß ich hier einmal ganz deutlich sagen!
Meine Damen und Herren, die bisherigen Wirkungen unserer Politik zeigen nicht nur im eigenen Lande Konsequenzen. Auch im Ausland gewinnt die Deutsche Mark und gewinnt unser Stabilitätskurs wachsendes Vertrauen. Es zu erhalten und zu festigen, ist für ein so eng mit der Weltwirtschaft verflochtenes Land wie die Bundesrepublik Deutschland eine ständige Herausforderung, wenn wir unseren hohen Wohlstand, unsere Wirtschaftskraft erhalten und den Weg zur Vollbeschäftigung zurückfinden wollen.Mit einem Anteil am Welthandel von rund 10% liegen wir nach den Vereinigten Staaten von Amerika an zweiter Stelle. Ein Drittel der Güter wird für den Export produziert, ein etwa gleichhoher Anteil der im Inland verbrauchten Güter importiert. Diese starke internationale Verflechtung begründet besondere Mitverantwortung für weltweite Entwicklungen, die wir bejahen und ausüben.Im Mittelpunkt der weltwirtschaftlichen Kräfte stehen auf Grund ihres Gewichts die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr hohes Haushaltsdefizit und die hohen Zinsen bleiben nicht ohne problematische Rückwirkungen auf andere Staaten, auch und insbesondere auf die hochverschuldeten Entwicklungsländer. Wir reden hierüber offen mit unseren amerikanischen Freunden, und wir hoffen, daß nach den Neuwahlen bei ihnen endlich — und schnell — Entscheidungen vor allem zum deutlichen Abbau des Haushaltsdefizits getroffen werden. Wir hoffen das mit Ihnen, Herr Kollege Vogel; in dem Punkte sind wir uns ja einig.
Es wäre allerdings verfehlt, an unserem wichtigsten Partner nur Kritik zu üben und ihn für alle Probleme verantwortlich zu machen.
5866 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984Bundesminister Dr. StoltenbergDer Konjunkturaufschwung in den USA ist eindrucksvoll.
Auch wir profitieren von diesem Aufschwung, vor allem durch steigende Exporte.
— Herr Kollege Vogel, ich bin darüber erstaunt, daß Sie bei jeder positiven Analyse bestimmter Entwicklungen in den USA sofort in Zwischenrufen nur negative Akzente setzen.
Das scheint mir für eine sorgfältige Analyse von Licht und Schatten nicht sehr sinnvoll zu sein.
Wir profitieren davon!Niemand sollte den grundlegenden Wandel, die Revitalisierung und die neue Dynamik in den USA übersehen. Ich denke an den unternehmerischen Leistungswillen und die Kreativität, mit der dort neue Verfahren und neue Produkte entwickelt werden. Hervorzuheben ist die Rolle der kleinen und mittleren Unternehmen, die nach einer Gründungswelle der letzten Jahre viele neue Arbeitsplätze geschaffen haben.
Beachtung verdient die hohe Mobilität der Arbeitnehmer in räumlicher und beruflicher Hinsicht. Hinzu kommen eine stärkere Lohndifferenzierung in den einzelnen Branchen und eine größere Beweglichkeit bei der Lohngestaltung. Das sind wesentliche Gründe für die eindrucksvolle Zunahme der Beschäftigung in den Vereinigten Staaten seit den ausgehenden 60er Jahren und für die jüngsten Erfolge ihrer Arbeitsmarktpolitik.Nicht alle Ansätze der amerikanischen Wirtschaftspolitik sind übertragbar oder nachahmenswert. Wesentliche ökonomische Ergebnisse, vor allem auf dem Arbeitsmarkt, geben den Amerikanern jedoch recht, und in vielen Punkten können wir auch von ihnen lernen.Weitere Regionen starker wirtschaftlicher Dynamik sind der ganze pazifische und südostasiatische Raum geworden. Zu Japan kommen neu aufstrebende Industrienationen wie Korea, Malaysia, Singapur, Taiwan und zunehmend auch Indonesien.
Länder, die wir noch vor kurzer Zeit im wesentlichen als Antragsteller für Entwicklungshilfe ansahen, sind heute starke, selbstbewußte Konkurrenten im Kampf um Marktanteile und Arbeitsplätze geworden. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen,
die Chancen wachsender Kaufkraft und die Investitionsbedürfnisse in diesen Regionen durch eigeneAnstrengung und Leistungsfähigkeit nutzen und in fairem Wettbewerb annehmen.
Vor diesem Hintergrund haben wir Europäer allen Grund, über unsere eigene Zukunft nachzudenken. Der in manchen Kreisen üblich gewordenen Arroganz, auf die Amerikaner oder andere Völker herabzublicken, folgt aus der Sicht der neuen Welt zunehmend eine recht kritische Betrachtung der geistigen ökonomischen Verfassung Europas.
Der Zeitgeist des Europessimismus, manche bizarren Ausdrucksformen der alternativen Strömungen mit ihren Fluchtbewegungen aus der modernen Zivilisation, rufen dort Verwunderung und gelegentlich schon betonte Geringschätzung hervor. Aber es gibt in Europa auch hoffnungsvolle Zeichen dafür, daß die neuen Herausforderungen im geistigen ökonomischen Wettbewerb mit Amerika, Japan und den anderen Zentren neuer Dynamik erkannt und angenommen werden. Ich will hier darauf verweisen — es kommt mir in unserer innenpolitischen Debatte zu kurz —: Die meisten westeuropäischen Länder unternehmen nachhaltige gleichgerichtete Anstrengungen in ihrer Wirtschaftspolitik trotz unterschiedlicher politischer Zusammensetzung ihrer Regierungen.In Frankreich, unserem wichtigsten Partner in Europa, vertritt das neue Kabinett jetzt mit allem Nachdruck als wichtigste Aufgabe die Modernisierung der französischen Volkswirtschaft, die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und den Abbau staatlicher Interventionen. Das Haushaltsdefizit und der Anstieg der öffentlichen Ausgaben sollen vermindert, die Steuer- und Sozialabgabenquote gesenkt werden, wobei es für die sozialistische Mehrheit in Frankreich selbstverständlich ist, auch Unternehmenssteuern zu senken, wobei es für sie selbstverständlich ist, zu sagen: Die Leistungsstarken, die höhere Steuern zahlen, müssen auch in die Steuersenkung einbezogen werden. „Je weniger Staat, um so besser", stellte Ministerpräsident Laurent Fabius vor kurzem in einem Interview fest. Diese Formel eines sozialistischen Regierungschefs, Herr Kollege Brandt, könnte vielleicht auch zu einem Denkanstoß für die deutsche Sozialdemokratie werden, wenn sie ihr nächstes Godesberg vorbereitet.
— Denkanstoß, Herr Kollege Vogel. Damit Sie Ihre Anregungen nicht nur aus Hessen beziehen, ist vielleicht auch einmal ein Blick auf Paris ganz gut.
Im Vereinigten Königreich unterstützt die Finanzpolitik seit Jahren das zentrale geldpolitische Ziel stabiler Preise.
Im Vordergrund stehen eine strikte Begrenzung derStaatsausgaben sowie Erleichterungen auch für die
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Bundesminister Dr. StoltenbergBetriebe, eine konsequente Umstrukturierung der Wirtschaft auf Wachstumsbereiche. Diese Strategie hat die englische Volkswirtschaft immerhin seit 1982 wieder auf spürbaren Wachstumskurs gebracht.
Auch andere Länder wie insbesondere Belgien, die Niederlande und Dänemark unternehmen große Anstrengungen in dieser Richtung. Noch sind die wirtschaftspolitischen Erfolge sehr unterschiedlich. Vielfach müssen — wie bei uns — Probleme der Vergangenheit aufgearbeitet werden, vor allem die bisher nicht gelöste Frage der Arbeitslosigkeit. Wenn die ansteigenden Wachstumsraten, die in diesem Jahr in fast allen Ländern der Gemeinschaft zu verzeichnen sind, nun vom privaten Sektor und nicht von dem künstlichen Strohfeuer staatlicher Programme ausgehen, liegt auch darin ein Stück Übereinstimmung.
— Ich sprach im Augenblick von Westeuropa; entschuldigen Sie. Der Blick war hier auf Westeuropa gerichtet.
Das Thema Haushaltsdefizit habe ich kritisch angesprochen, was die USA anbetrifft, Herr Vogel.
— Das bezog sich also nicht zuletzt auf Europa. Ich möchte das nur klarstellen, falls es da einen Irrtum geben sollte.Ich hoffe, daß diese ersten Anzeichen einer abgestimmten wirtschaftlichen Entwicklung in Europa in den kommenden Jahren zu einer wirklichen Konvergenz führen. Damit erhielte das Europäische Währungssystem das für die angestrebte Zone größerer Währungsstabilität notwendige Fundament. Welche Zwischenresultate jetzt schon zu verzeichnen sind, spiegelt sich übrigens auch in der Kursentwicklung im Europäischen Währungssystem wider: Abgesehen von kurzfristigen Spannungen ist sie seit Anfang 1983 bemerkenswert stabil verlaufen.Zunehmende Übereinstimmung in der wirtschaftspolitischen Grundausrichtung der Mitgliedsstaaten war eine wesentliche Voraussetzung für die Lösung dringender Probleme der Europäischen Gemeinschaft im Juni dieses Jahres. Über die Beschlüsse des Europäischen Rates in Rambouillet hat der Bundeskanzler dieses Hohe Haus im Juni eingehend unterrichtet.
Konsequenzen für die Finanzplanung des Bundes ergeben sich aus der Entscheidung, die Eigenmittel der EG zum 1. Januar 1986 um 0,4 Prozentpunkte anzuheben. Damit wird die Bundesrepublik Deutschland ab 1986 bis zu 41/2 Milliarden DM jährlich mehr als bisher, und zwar ausschließlich aus Mitteln des Bundes, an die EG übertragen. Wirgehen davon aus, daß die neue Obergrenze 1986 und 1987 noch nicht voll ausgeschöpft wird. Für die Übergangszeit bis zum 1. Januar 1986 ergeben sich Probleme bei der Sicherstellung der unabweisbaren finanziellen Verpflichtungen der Gemeinschaft. Sobald hierüber eine Verständigung erzielt ist — ich hoffe, daß es sich mehr um Tage als um Wochen handelt —, werde ich dem Hohen Haus darüber berichten, auch über eventuelle Konsequenzen für unseren Haushalt.Meine Damen und Herren, zu den grundlegenden Entscheidungen gehörte auch die Verständigung über eine erstmalige deutliche Einschränkung der agrarischen Überschußproduktion der Gemeinschaft.
— Nein, kein frommer Wunsch! Nein, das wird kein frommer Wunsch sein. Die ersten Zahlen vom Milchmarkt zeigen das.
Dies führte in der Konsequenz zu einem notwendigen Ausgleich für die deutsche Landwirtschaft, der in letzter Zeit mehrfach kritisiert wurde.Ich hebe deshalb hervor, daß die deutschen Landwirte durch diese Brüsseler Agrarbeschlüsse ganz besonders von dem schnellen Abbau des Währungsausgleichs betroffen sind. Sie müssen somit weit höhere Einkommenseinbußen hinnehmen als ihre Berufskollegen in anderen Ländern. Wir werden — ich bin davon überzeugt, Herr Kollege Apel — bei der EG in Zukunft erhebliche Mittel gegenüber dem vorher geltenden Recht einsparen, weil wachsende Überschüsse nicht mehr automatisch finanziert werden. Unter diesen Vorzeichen ist die zeitlich befristete Anhebung der Vorsteuerpauschale notwendig und sinnvoll. Im übrigen muß ich unsere sozialdemokratischen Kritiker nun wirklich einmal daran erinnern, daß sie aus wesentlich geringerem Anlaß
— aus wesentlich geringerem Anlaß, Herr Kollege Vogel! — im Jahr 1969 die Vorsteuerpauschale als Ausgleichselement für die Landwirtschaft eingeführt haben. Ich habe die Rede, Herr Bundeskanzler a. D. Brandt, mit der Sie das damals unter großem Beifall der SPD ankündigten, noch einmal im Protokoll des Deutschen Bundestages nachgelesen.
— Die Vorsteuerpauschale war das, Herr Spöri! Entschuldigen Sie! Wir wollen doch die Spuren nicht verwischen. Das war die Einführung eines höheren Vorsteuerabzugs. Sie können doch heute nicht im Grundsatz verdammen, was Sie damals selber gemacht haben. So kann man ja nicht vorgehen.
Schatten werfen nach wie vor die internationalen Verschuldungsprobleme. Allerdings ist es in eindrucksvoller Zusammenarbeit zwischen Schuldner- und Gläubigerländern, Zentralbanken, Geschäfts-
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5868 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundesminister Dr. Stoltenbergbanken und internationalen Organisationen bisher gelungen, zu vorläufigen Vereinbarungen zu kommen. Die befürchtete krisenhafte Entwicklung im internationalen Finanzsystem ist nicht eingetreten. Viele Länder haben durch Unterstützungsaktionen eine Atempause erhalten, die sie unter großen Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Zahlungsbilanzsituation nutzen. Die Leistungsbilanzdefizite der nichtölproduzierenden Entwicklungsländer haben sich von 1981 bis 1983 halbiert. Dennoch erfordert die Überwindung der Verschuldungskrise weiterhin erhebliche Anstrengungen aller Beteiligten und einen langen Atem. Ziel muß es sein, Schuldenlast und Schuldendienstfähigkeit der betroffenen Länder wieder in Einklang zu bringen. Hierzu gibt es keine Patentrezepte und keine globalen Lösungen, weil jeder Fall anders liegt. Aber es gibt natürlich gemeinsame Kriterien, vor allem für die Industrieländer, und es gibt Solidarität.Insgesamt hat sich die eingeschlagene Strategie aus Anpassung und Finanzierung bewährt. Die Anpassungsaufgabe verbleibt den betroffenen Ländern; die Industrieländer müssen eine Politik der Marktöffnung und des dauerhaften inflationsfreien Wachstums verfolgen; die Finanzierungsströme dürfen nicht abreißen.Eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Schuldenkrise nimmt der Internationale Währungsfonds wahr. Durch die Bindung seiner Kredite an wirtschaftliche Anpassungsprogramme trägt er dazu bei, daß die Defizite der Schuldnerländer nicht nur finanziert, sondern allmählich auch abgebaut werden können.An diesen Hilfs- und Stützungsaktionen hat die Bundesrepublik Deutschland einen maßgeblichen Anteil, vor allem durch die Leistungen der Bundesbank, die wenig bekannt sind, aber auch des Bundeshaushalts. Wir beteiligen uns an Umschuldungen durch finanzielle Beiträge an internationale Organisationen im Rahmen der Entwicklungshilfe und ergänzend durch Ausfuhrbürgschaften. Wir zahlen dafür einen Preis, wie Sie im Haushaltsvoranschlag feststellen können, mit wachsenden Risiken und auch Zuschüssen aus Mitteln des Bundes.Meine Damen und Herren, vor einem Jahr konnte ich in meiner Haushaltsrede feststellen, daß die Rezession überwunden sei und eine neue Periode des Wachstums beginne. Heute sind wir auf dem Weg zur Stabilität der Finanzen und der Preise ein gutes Stück vorangekommen.
1984 dürfte die volkswirtschaftliche Gesamtleistung etwa doppelt so stark zunehmen wie 1983. Wir können den Rückschlag vom Frühjahr überwinden, wenn alle — Regierung, Parlamente und vor allem auch die großen gesellschaftlichen Gruppen — ihren Beitrag leisten.Freiheit bedeutet auch Verantwortung für die vorrangigen Gemeinschaftsziele. Der französische Ministerpräsident Laurent Fabius sagte vor wenigen Tagen, niemand habe ein Heilmittel gegen die Arbeitslosigkeit, diese Krebskrankheit. Notwendig — so fügte er hinzu — sei zu ihrer Überwindungeine langfristige, konsequente Politik für höhere Investitionen, zur Leistungssteigerung und zur Begrenzung eigener Ansprüche.
Meine Damen und Herren, ich zitiere das im Hinblick auf jene, die bei uns immer wieder ihre ebenso bequemen wie falschen Rezepturen anbieten. Es ist ein Irrglaube, daß wir die Arbeitslosigkeit durch immer kürzere Arbeitszeiten bei zugleich immer weiter steigenden Einkommen und erneut zunehmender Schuldenmacherei überwinden können.
Das Ergebnis wäre — Herr Kollege Duve, deshalb habe ich die internationalen und europäischen Fragen hier ausführlicher behandelt — ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit mit unabsehbaren sozialen Folgen.
— Darüber habe ich mir erlaubt eine Stunde Ausführungen zu machen.
Herr Kleinert, Sie haben in der Zeit intensive Gespräche mit Ihrem Nachbarn geführt; aber Sie sollten jetzt, zum Schluß nicht fragen, wie wir es machen.Wir müssen vielmehr mit der von uns begonnenen und hier noch einmal verdeutlichten Politik alles uns Mögliche tun, damit das Angebot an bezahlbarer Arbeit wieder vergrößert wird. Stabilitätspolitik stärkt die Angebotsseite unserer Volkswirtschaft. Sie kräftigt aber durch Geldwertstabilität auch die private Nachfrage.Unsere Finanzpolitik soll weiter die Stabilität fördern und so einer guten Zukunft für die Bürger unseres Staates dienen.
Meine Damen und Herren, ich habe eben zu meinem Bedauern vergessen, unserem Kollegen Schulze zu seinem 65. Geburtstag am 1. September 1984 zu gratulieren. Ich hole dies von Herzen gerne nach, meine Damen und Herren.
Außerdem haben wir die Ehre, auf der Ehrentribüne eine Delegation beider Häuser des japanischen Parlaments zu begrüßen. Ich heiße Sie herzlich willkommen im Deutschen Bundestag.
Meine verehrten Kollegen, wir sehen in diesem Besuch das Zeichen der guten Zusammenarbeit und der guten Beziehungen zwischen den Parlamenten und unseren Ländern. Wir freuen uns, daß Sie nach
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5869
Präsident Dr. BarzelBerlin gehen werden. Wir wissen dies besonders zu schätzen.
Dies ist das Zeichen des ungebrochenen Willens des deutschen Volkes, die unselige Teilung Deutschlands friedlich und durch freie Selbstbestimmung zu überwinden.Ich wünsche Ihnen nützliche Gespräche und einen guten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.Meine Damen und meine Herren, ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Stoltenberg, beginnen wir einmal mit dem, was Sie zwischendurch eingeführt haben: mit dem „fröhlichsten Schuldenmacher".
Ich bin natürlich einigermaßen enttäuscht darüber, daß Sie als damaliger Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, als Mitglied des Bundesrates die damalige massive Strukturkrise, die doch überall — in der Bundesrepublik Deutschland, bei unseren Nachbarn, im Lande Schleswig-Holstein — zu massiven Einbrüchen nicht nur in der Konjunktur, sondern auch in der Haushaltswirtschaft geführt hat, auf diese Art und Weise behandeln.
Herr Kollege Stoltenberg, ich will mich vorübergehend aber gerne einmal auf dieses, wie ich finde, platte Niveau begeben
und auf diesem platten Niveau mit Ihnen argumentieren. Herr Kollege Stoltenberg, dann müssen wir vielleicht einfach mit Zahlen arbeiten.
Der Bundesfinanzminister Hans Apel war für vier Bundeshaushalte verantwortlich.
In diesen vier Bundeshaushalten hat es saldiert, also insgesamt, eine Nettokreditaufnahme von 103,3 Milliarden DM gegeben. Der Bundesfinanzminister Dr. Stoltenberg, der für die Haushalte 1983 bis 1986, also auch für vier Bundeshaushalte die Verantwortung trägt — ich gehe davon aus, daß Sie bis 1986 Finanzminister bleiben —, wird nach seinen eigenen Angaben 115 Milliarden DM Nettokreditaufnahme machen.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, während wir damals
einmal einen Bundesbankgewinn von 400 Millionen DM zur Verfügung hatten, haben Sie in diesen vier Jahren einen Bundesbankgewinn von sage und schreibe 42 Milliarden DM zur Verfügung.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, nun sind j a diese 42 Milliarden DM Bundesbankgewinn keineswegs Ihr Verdienst. Sie sind j a das Ergebnis einer unerträglichen Schulden- und Haushaltspolitik der USA, die die Zinsleistungen an die Deutsche Bundesbank nach oben bringt. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie haben ja selber davon gesprochen, daß die Bundesbankgewinne Ihre Nettokreditaufnahme verschönen; sie sind also nicht Ihr Verdienst. Wenn Sie diese Gewinne dazurechnen, werden Sie in vier Jahren tatsächlich eine Nettokreditaufnahme von über 150 Milliarden DM haben,
denn die Bundesbankgewinne können Sie nicht herausrechnen, während ich damals eine solche von 104 Milliarden DM hatte. Ich bin fröhlicher als Sie, das gebe ich zu.
Ansonsten sollten Sie aber auf dieser Ebene wirklich nicht argumentieren, um so mehr, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, als Sie, als Sie das Land SchleswigHolstein 1982 verlassen haben,
ein Land hinterlassen haben, das nach dem Saarland das am stärksten verschuldete Flächenland im Bundesgebiet war und es noch ist.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, wenn Sie mit uns auf diesem Niveau debattieren wollen, dann können wir das gerne tun.
Es fällt nur auf Sie zurück, denn, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen.
— Na gut, ich bin durchaus in der Lage, auch auf dem Niveau von Herrn Dr. Stoltenberg zu argumentieren, aber ich denke, wir sollten heute über den Haushalt 1985 reden.
Herr Kollege Stoltenberg, arbeiten Sie doch bitte nicht mit Papiertigern. —
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Dr. ApelHerr Präsident, ich sollte vielleicht einen Augenblick unterbrechen, da es vernünftig ist, mit dem Finanzminister in einen Dialog einzutreten. —
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, unterlassen Sie bitte Polemik und nehmen Sie vielmehr zur Kenntnis: Für die Sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist eine solide Haushaltspolitik eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Finanzpolitik.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie können doch überhaupt nicht bestreiten — wir haben das hier wiederholt debattiert —, daß Haushaltskonsolidierung bereits unter den Finanzministern Matthöfer und Lahnstein eingeleitet wurde und bis heute fortwährende positive Konsequenzen hat. Ich unterstreiche: Haushaltskonsolidierung war und ist geboten, aber in einem Punkt unterscheiden wir uns von Ihnen: Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck.
Sie muß der wirtschaftlichen Lage und der erwarteten wirtschaftlichen Entwicklung entsprechen.Herr Kollege Dr. Stoltenberg, wenn man Ihre Haushaltsrede heute gehört hat, dann stellt man doch fest, daß Sie für all die dringenden Herausforderungen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, für die beängstigende Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit, für die Risiken des internationalen Welthandels und für die absehbare Abschwächung der Binnenkonjunktur doch kaum gestaltende Antworten haben.
Dafür aber fordern und sprechen Sie immer wieder über Haushaltskonsolidierung. Das ist, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, unzureichend und wird Ihrer Aufgabe als Bundesfinanzminister nicht gerecht.
Aber, Herr Kollege Stoltenberg, wie haben Sie denn nun Haushaltskonsolidierung wirklich betrieben?
Sie haben in skandalöser Weise unsozial und einseitig Einschnitte bei den Leistungen für Arbeitslose, Rentner, Behinderte, Schüler und Familien vorgenommen.
Sie haben das immer wieder damit begründet, daß das erforderlich sei, um in der Haushaltskonsolidierung voranzukommen. Aber, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, in Wirklichkeit war das doch nur ein Vorwand. Jetzt zeigt sich nämlich, daß diese Einsparungen zum übergroßen Teil gar nicht der Haushaltskonsolidierung zugute gekommen sind. Der Finanzminister hat die freigewordenen Mittel statt dessen freigiebig für Steuergeschenke an kapitalkräftige Großunternehmen, für Milliarden-Subventionen an die Landwirtschaft und zur Finanzierung einersinnlosen Agrarüberschußproduktion in der EG weitergereicht.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, die Zahlen entlarven Ihre Politik: Den Behinderten nehmen Sie durch Ihre Beschlüsse 1985 mehr als 600 Millionen DM.
Bei den Arbeitslosen sparen Sie durch Ihre Kürzungen 1985 mehr als 1,5 Milliarden DM. Aber für die deutsche Landwirtschaft gibt es 1985 2,8 Milliarden DM mehr,
ohne — das füge ich hinzu, Herr Kollege Dregger — die Not der einkommensschwachen Bauern zu beseitigen.
Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann hören Sie auf die Worte Ihres CDU-Kollegen, des Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes, der am 3. September die Korrektur Ihrer Politik gefordert hat.
Er hat davon berichtet, daß es bei vielen Betrieben Existenznot gibt.Bei den Familien mit Kindern macht der Verlust durch Ihre Familienpolitik 1985 2,2 Milliarden DM aus. Den deutschen Unternehmen geben Sie 1985 etwa 6 Milliarden DM zusätzlich, vor allem durch die massive Senkung der Vermögensteuer, ohne daß das konjunkturell irgend etwas bewegt hat.
Das alles hat mit Haushaltskonsolidierung überhaupt nichts zu tun.
Das ist reine Umverteilung aus den Taschen der Arbeitslosen, Rentner, Behinderten, Schüler und Familien in die Taschen der Großunternehmen und der einkommensstarken Landwirtschaft.
Die Verringerung der Nettokreditaufnahme, die sich der Bundesfinanzminister zugute hält, ist doch, Herr Kollege Dr. Stoltenberg — das wissen Sie ganz genau —, auf ganz andere Ursachen zurückzuführen.
Die Bundesregierung und Sie, Herr Dr. Stoltenberg,haben diesen Abbau von Defiziten vor allem da-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5871
Dr. Apeldurch erreicht, daß Sie kurzerhand alles vergessen haben, was Sie noch als Opposition lautstark gefordert haben. Wenn man Ihre Haushaltsrede genau liest,
dann stellt man fest, daß all das, was Sie in IhrenGrundsatzreden beschwören, in der täglichen Praxis Ihrer Finanzpolitik schnell beiseite gelegt wird.
Die Haushaltskonsolidierung hat — im Gegensatz zu allen Versprechungen — vor allem zu Lasten der Lohnsteuerzahler und der Beitragszahler stattgefunden und ist durch massive Überweisungen der Bundesbank aus Frankfurt kräftig gefördert worden.
Als Opposition haben Sie doch, meine Damen und Herren von der CDU
— ich will gern hinzufügen: CSU
— das weiß ich; das merkt man in Ihrem internen Streit täglich —,
immer wieder die sofortige Rückgabe der Einnahmen aus heimlichen Steuererhöhungen, die Rückgabe der inflationsbedingten Steuermehreinnahmen gefordert. Was ist nun daraus geworden?
Diese Bundesregierung nimmt es jetzt sehr gern hin, daß die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer weitaus stärker steigt als ihr Einkommen.
Die durchschnittliche Steuerbelastung der Lohnsteuerzahler liegt 1985 um 10 % höher als 1982.
Allein 1985 müssen die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen mit einer zusätzlichen Steuerlast von 14 Milliarden DM rechnen. Das ist dann eine 10%ige zusätzliche Belastung bei den Lohnsteuerzahlern.
— Herr Kollege Glos, ich will Ihnen anschließend gern den Nachhilfeunterricht geben, den Sie augenscheinlich brauchen. —
Und eines bleibt bestehen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg: Sie kassieren bei den Lohnsteuerzahlern und nennen das Haushaltskonsolidierung.
Auch als Beitragszahler in der Sozialversicherung dürfen die Arbeitnehmer einen Konsolidierungsbeitrag leisten. Was hatte denn die Union vorher nicht alles versprochen! Die Zerstörung der Leistungsbereitschaft durch den Abgabenstaat müsse verhindert werden; deshalb dürfe es keine Beitragserhöhung bei der Sozialversicherung geben. Dreimal haben Sie in Ihrer kurzen Regierungszeit die Sozialabgaben erhöht.
Allein diese drei Abgabenerhöhungen belasten die Arbeitnehmer 1985 mit 6 Milliarden DM zusätzlich
— und die Arbeitgeber auch. Aber wozu haben Sie diese Beitragserhöhungen benutzt?
Sie haben sie benutzt, um vom Bundeshaushalt Lasten auf die Sozialversicherungsträger abzuwälzen.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Ihre Erklärung für die Überschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit war doch schon makaber.
Faktisch bedeutet es doch, daß der Bund immer mehr bei der Arbeitslosenversicherung spart, wenn immer mehr Arbeitslose in die Dauerarbeitslosigkeit abgetrieben werden, damit zur Sozialhilfe gehen müssen und dadurch die Kassen der Gemeinden auffressen.
Wie kann man eigentlich als verantwortlicher Politiker auf eine solche Entwicklung auch noch stolz sein?
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, es wäre mir sehr recht gewesen, wenn Sie bei dieser Gelegenheit auch über die Kassen der Rentenversicherung gesprochen hätten.
Hier hat doch Ihre Verschiebepolitik der starken Kürzung von Überweisungen aus der Arbeitslosenversicherung in die Rentenversicherung für die Beiträge der Arbeitslosen Finanzlöcher von Milliardenhöhe gerissen.
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5872 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Neben der Erhöhung der Steuer- und Beitragslast stützt sich dieser Haushalt auf den Bundesbankgewinn. Was hatte die Union damals in der Opposition nicht alles gegen den Bundesbankgewinn und seine Einbeziehung in den Bundeshaushalt zum Zwecke seiner Finanzierung gesagt: Das sei doch schlimmer als eine Neuverschuldung, als eine Nettokreditaufnahme.Wie konsequent der Bundesfinanzminister in dieser Frage ist, können wenige Zahlen deutlich machen. In sechs Jahren — von 1977 bis 1982 — wurde von der sozialliberalen Koalition ein Bundesbankgewinn von 13 Milliarden DM in den Bundeshaushalt eingesetzt. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie setzen für die nächsten sechs Jahre — von 1983 bis 1988 — 54 Milliarden DM zur Finanzierung Ihres Bundeshaushalts ein.
Das ist mehr als das Vierfache. Ich sage Ihnen: Diese Summe wird vermutlich noch beträchtlich größer sein.
Meine Damen und Herren, es gibt eigentlich nur eine Einnahmequelle, an die der Bundesfinanzminister überhaupt nicht herangegangen ist, nämlich den Abbau von Steuervorteilen und die Einschränkung von Mißbrauchsmöglichkeiten im Steuerrecht.
Aber gerade hier, Herr Kollege Stoltenberg, wären beträchtliche Einnahmen zu erzielen gewesen. Hier wäre es auch geboten gewesen, der eigenen Forderung der Union als Oppositionspartei nach einem linearen Subventionsabbau — 5 %, 10 %; es konnte Ihnen doch gar nicht schnell genug gehen — endlich einmal Rechnung zu tragen.
Was aus diesem Versprechen geworden ist, zeigen wenige Zahlen. Das Gesamtvolumen der Steuervergünstigungen des Jahres 1982 — des letzten Jahres der sozialliberalen Koalition — lag bei 29,5 Milliarden DM; 29,5 Milliarden DM Steuersubvention in 1982. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, wie wird es im nächsten Jahr aussehen? Dort werden die Steuersubventionen mindestens auf 39 Milliarden DM steigen. Das sind 10 Milliarden DM oder ein Drittel mehr. So halten Sie es mit dem Subventionsabbau: außer Worten nichts gewesen!
Wie es die Regierung mit dem Subventionsabbau hält, wird an einem anderen Beispiel eigentlich noch viel deutlicher. Vor einem Jahr hat der Bundestag, haben alle Fraktionen des Deutschen Bundestages die Bundesregierung beauftragt zu prüfen, welche weiteren Maßnahmen gegen Verlustzuweisungsgesellschaften getroffen werden könnten. Der Bundestag hat folgendes formuliert: „... fordert die Bundesregierung auf festzustellen, wie sichergestellt werden kann, daß sich niemand mehr durch Beteiligung an volkswirtschaftlich nicht erwünschten Verlustzuweisungsmodellen einschließlich Bauherrenmodellen seiner Steuerpflicht ganz oder vorübergehend oder überwiegend entziehen kann."Herr Kollege Stoltenberg, jetzt liegt der Bericht vor. Wir stellen fest: Die bestehenden Mißbrauchsmöglichkeiten im Steuerrecht für sehr gut Verdienende aus den Steuersparmodellen werden überhaupt nicht beseitigt. Da freuen sich aber die sehr gut Verdienenden. Sie können nämlich auch künftig selbst entscheiden, ob und wieviel Steuern sie überhaupt zahlen wollen;
denn der Weg in die Steuersparmodelle bleibt ihnen ja offen. Das führt zu beträchtlichen Steuerausfällen, die die Normalverdiener, die Lohnsteuerzahler, mit ihrer schnell wachsenden Steuerlast abdecken müssen. Das „Handelsblatt" teilt dann auch nach Vorlage Ihres Berichts den Kunden des Bauherrenmodells am 24. August 1984 mit — ich zitiere —: „Ertragsmäßig bleiben die Steuervorteile gleich."Das alles hindert Sie, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, aber doch nicht daran, am 14. August 1984 vor der Bundespressekonferenz zu erklären — ich zitiere den Bundesfinanzminister —: „Der Abbau von Subventionen bleibt ein wichtiges Ziel unserer Politik."
So können Worte und Wahrheit auseinanderfallen.
Die „Süddeutsche Zeitung" hat recht, wenn sie feststellt: „Die Konturen der Finanzpolitik von Herrn Dr. Stoltenberg verschwimmen im Nebel der Subventionen."Wir Sozialdemokraten lassen es nicht zu, daß von der Regierung eine Legendenbildung in Sachen Haushaltskonsolidierung betrieben wird.
Erstens hat die Bundesregierung im Gegensatz zu allen Ankündigungen und Versprechen einen Abbau der Defizite vor allem durch eine höhere Belastung der Lohnsteuerzahler und der Beitragszahler erreicht und auch die riesenhaften Milliardenüberweisungen der Bundesbank mit Selbstverständlichkeit einkassiert.
Der von uns geforderte und von der Regierung vielfach versprochene Subventionsabbau findet nichtDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5873Dr. Apelstatt. Mit konsequenter Finanzpolitik hat das wirklich überhaupt nichts zu tun.
Zweitens hat das Ziel der Haushaltskonsolidierung der Regierung offenbar nur als Vorwand gedient, um eine skandalöse Politik der Umverteilung zu betreiben, bei der die Schwächsten in unserer Gesellschaft Mittel gekürzt bekommen, um sie dann an gut Verdienende weiterzureichen.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Ihre Finanzpolitik verfährt nach dem Prinzip: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Anspruch und Wirklichkeit fallen weit auseinander.
Das gilt im übrigen auch hinsichtlich der Frage der öffentlichen Investitionen, über die Sie in Ihrer Haushaltsrede ja gesprochen haben und die doch angeblich gesteigert werden sollen. Aber, Herr Kollege Stoltenberg, schauen Sie sich doch einmal Ihren eigenen Finanzplan an. Da können Sie doch nicht leugnen, daß im Finanzplan die Investitionen Jahr für Jahr zurückgehen und einen neuen Tiefstand in der Finanzgeschichte der Bundesrepublik erreichen.Auch bei den Städten und Gemeinden, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, setzt sich der Rückgang der Investitionen fort. Wenn Sie sagen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, das glaube ich nicht, dann will ich Sie mit den Aussagen des CDU-Abgeordneten Theo Magin konfrontieren, der gleichzeitig der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes ist. Theo Magin — ich empfehle das der Bundesregierung zur Lektüre — hat Anfang August mitgeteilt, daß sich 1983 die Investitionen der Gemeinden um 10 % verringert hätten. Er hat festgestellt, daß sich das 1984 fortsetzt: Auch 1984 gehen die Investitionen der Gemeinden — Bauinvestitionen im wesentlichen — um weitere 8 % in der ersten Hälfte des Jahres zurück.
Magin, Ihr Kollege — reden Sie mit Ihrem Kollegen Magin —, begründet das unter anderem damit — bitte hören Sie zu, ich zitiere Herrn Magin —, daß immer mehr langfristig Arbeitslose Sozialhilfe beantragen müssen; das frißt die Finanzkraft der Gemeinden auf. Deswegen fordert Magin, daß die Bundesregierung ihre Kürzungen beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe rückgängig macht. Damit schließt sich der Städte- und Gemeindebund den Forderungen der SPD-Fraktion an. Ich bin neugierig, ob der Kollege Magin seine CDUFraktion zum Handeln bringen kann.
Herr Kollege Apel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Magin?
Ja.
Herr Kollege Dr. Apel, nachdem Sie einige Passagen aus dieser Presseerklärung zitiert haben, sind Sie auch bereit, andere Passagen zu zitieren, beispielsweise meine Äußerungen darüber, wo die Kommunen heute stehen würden, wenn nicht in den letzten eineinhalb Jahren eine Änderung der Politik und damit eine wesentliche Verbesserung der kommunalen Finanzen, die sie auf den Weg der Konsolidierung gebracht haben, eingetreten wäre?
Herr Kollege Magin, ich werde Sie im Laufe meiner Ausführungen mit weiteren Ausführungen von Ihnen konfrontieren. Dann werden Sie feststellen, daß Sie das, was Sie soeben gesagt haben, zumindest auf dieser Pressekonferenz nicht gesagt haben.
Aber ich verstehe natürlich, daß Sie jetzt Angst haben vor Klassenkeile.
— Wenn das zweite Zitat kommt, können wir uns gern erneut unterhalten.
— Nein, ich komme auf Herrn Magin zurück, und dann kann Herr Magin hier erneut eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Stoltenberg, wo ist denn nun die Konsequenz und Stetigkeit, die der Finanzminister für seine Politik in Anspruch nimmt? Es ist doch schon bemerkenswert, wenn in den letzten Wochen mehrere große Wirtschaftsforschungsinstitute darauf hingewiesen haben, daß der Verlust an Vertrauen in die Politik der Bundesregierung inzwischen zu einem echten Konjunkturrisiko geworden ist. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hat erst vor wenigen Tagen festgestellt, „daß der Schwund an Vertrauen in die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Bundesregierung den Erholungsprozeß erheblich beeinträchtigt".Typisch dafür ist die Diskussion im Regierungslager um die Steuerreform. Ich will hier nicht das endlose Gezerre in der Koalition über Zeitpunkt, Umfang, Ausmaß, Finanzierung der Steuerentlastung nachzeichnen.
Aber, meine Damen und Herren, allen in Erinnerung ist doch sehr wohl, wie sehr der Bundeskanzler, aber auch der Bundesfinanzminister diese Diskussion haben treiben lassen.
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5874 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Dr. ApelMeine Damen und Herren, kaum ist der Kompromiß gefunden, da geht es doch schon wieder los. Der Koalitionskompromiß wird in Frage gestellt, von Herrn Haussmann, dem künftigen Generalsekretär der FDP!
— Er ist es schon.
— Herr Mischnick, ich muß zugeben, daß ich die FDP zu wenig im Auge habe, daß sie in der Politik eine Quantité négligeable ist.
Deswegen habe ich das nicht gewußt. Aber jetzt weiß ich es.
Also: Der amtierende Generalsekretär der FDP stellt den Steuerkompromiß in Frage.
Der amtierende Wirtschaftsminister stellt den Steuerkompromiß in Frage.
Und Sie, Herr Mischnick, und Sie, Herr Genscher, haben sich auch geäußert, daß Sie lieber die Steuerreformen in einem Schritt hätten.
Der Bundeskanzler hat angedeutet, eventuell solle das ganze Steuerpaket schon am 1. Januar 1986 in Kraft treten. Vor diesem Hintergrund kann ich gut verstehen, daß der bayerische Finanzminister Streibl von der CSU den Bundeskanzler im August aufgefordert hat, endlich für Ruhe an der Steuerfront zu sorgen. Und Streibl fügt hinzu — ich zitiere —:Das Vertrauen der Wirtschaft in den Konjunkturaufschwung darf nicht durch tägliches Gerede aus Bonner CDU- wie FDP-Kreisen über die geplante Steuerreform zerstört werden.
Das beeinträchtigt die Investitionsbereitschaft der Unternehmen und ruiniert die Arbeitsmarktlage.Dem ist nichts hinzuzufügen.
Der Bundeskanzler hat von der größten Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik gesprochen. Meine Damen und Herren, da wird der Mund wieder einmal zu voll genommen, denn, Herr Bundeskanzler, Sie können doch nicht übersehen,daß seit 1982, dem Amtswechsel, die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung steigt.
Sie steigt seit der Wende ununterbrochen.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ich frage den Bundesfinanzminister, was denn eigentlich so großartig daran ist, wenn die Koalition 1988 durch eine Steuerreform die Steuerbelastung wiederherstellt, die wir im Jahre 1982 hatten und die Sie damals in der Opposition als völlig überhöht und leistungsfeindlich bezeichnet haben.
Wenn man sich diesen Sachverhalt vor Augen führt, wird deutlich, wie hohl die Phrase von der größten Steuerentlastung in Wirklichkeit ist.Wenn man aber mit der Steuerentlastung argumentiert, darf man aber nicht übersehen, daß sich hinter der Steuerquote 1988 ein gegenüber 1982 stark verändertes Steuersystem verbirgt. Die Lasten werden anders verteilt sein. Unser Steuersystem wird nach dem Willen der Bundesregierung immer ungerechter.
Die Mehrwertsteuer, die vor allem von den breiten Schichten der Bevölkerung zu tragen ist, wurde erhöht, gleichzeitig wurden die Unternehmenssteuern und vor allem die Vermögensteuer gesenkt. Die Steuervergünstigungen für Unternehmen und die Landwirtschaft werden stark ausgeweitet. Das senkt natürlich statistisch die Steuerbelastung — statistisch! —, dafür aber tragen die Lohnsteuerzahler einen größeren Teil der Lasten.Herr Kollege Stoltenberg, es ist doch wirklich nicht gerecht, wenn nach den Entlastungsvorschlägen, die Sie jetzt vorgelegt haben, für 1986/88 ein Spitzenverdiener das Vielfache von dem an Entlastung erhält, was der Durchschnittsverdiener bekommt. Nur ein Beispiel: Ein verheirateter Durchschnittsverdiener wird dann monatlich um 12 DM entlastet sein, beim Großverdiener mit einem Jahreseinkommen von 200 000 DM sind es jedoch 540 DM.
Das ist 45mal mehr, als der Durchschnittsverdiener an Steuerbelastung erhält — und das soll gerecht sein?
Herr Kollege Stoltenberg, nun werden Sie einwenden, das liege eben an der Progression. Dann, Herr Kollege Stoltenberg, bitte ich aber, folgendes mit einzubeziehen. Sie haben die Durchschnittsver-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5875Dr. Apeldiener bisher dreimal — hoffentlich in Zukunft nicht noch einmal — mit einer Erhöhung von Sozialversicherungsbeiträgen überzogen. Die Summe, die der Durchschnittsverdiener im Jahre 1988 für die Sozialversicherungen mehr zu zahlen hat, wird dreimal so hoch sein, wie er 1988 an Steuerbelastung von Ihnen erhalten wird.
Das heißt, für ihn wird sich nichts verbessern, im Gegenteil. Deswegen lehnen wir Ihre Vorschläge zur Steuerreform ab.
Sie haben, Herr Kollege Stoltenberg, breit über die Familienpolititik und die Entlastung für Familien mit Kindern gesprochen.
Wenn in einem Punkte die Wendepolitik, die unsoziale Wendepolitik, jetzt in der Steuerreform sichtbar wird, dann im Bereich der Familienpolitik dieser Regierung.
Hier ist das Wort „Wende" wirklich angebracht. Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben 1974 hier im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion eingebracht. Damals haben Sie für alle das gleiche Kindergeld verlangt, also unabhängig vom Einkommen. Wir haben dann alle gemeinsam das beschlossen. Wir haben die unsozialen Kinderfreibeträge abgeschafft. Nun kommt die „Wende". Sie führen die unsozialen Kinderfreibeträge wieder ein.
Das führt dazu, daß das Kind des Spitzenverdieners von Vater Staat über die Kinderfreibeträge zweieinhalbmal mehr bekommt als das Kind des Durchschnittsverdieners.
Für uns ist diese Politik unsozial.
Wir bleiben beim Kindergeld als der richtigen Lösung der Familienpolitik mit Staatshilfe. Es darf nicht soweit sein, daß das Kind des Millionärs dem Staat zweieinhalbmal mehr wert ist als das Kind des Durchschnittsverdieners.
Bei der Entscheidung über die Senkung der Lohn- und Einkommensteuer muß die angespannte Finanzsituation einer Reihe von Bundesländern und vieler Städte und Gemeinden besondere Beachtung finden. Schließlich haben Länder und Gemeinden 57,5% der Steuerausfälle zu verkraften. Deshalb fordern wir, daß wir die geplante Steuersenkung mit einer Anpassung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs verbinden. Wir Sozialdemokraten meinen — hoffentlich finden wir hier auchIhre Zustimmung —, die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs kann und darf nicht anstehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts überlassen werden. Das ist vor allem eine Aufgabe aller politischen Kräfte in unserem Lande, und sie ist dringlich.Ebenso dringlich, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, ist aber auch die Neuordnung unserer Gemeindefinanzen. Deshalb haben wir Sozialdemokraten bereits 1983 Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Gemeindefinanzen und ihrer mittelfristigen Neuordnung vorgeschlagen. Herr Kollege Stoltenberg, Sie lehnen unseren Weg ab. Aber wo sind Ihre Vorschläge? Nichtstun kann doch aktive Finanzpolitik nicht ersetzen.
Ich bin einigermaßen erstaunt, wenn Sie in Ihrer Haushaltsrede einen flammenden Appell an die Gemeinden richten, doch mehr zu investieren. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, warum investieren die Gemeinden denn nicht? Es gibt doch genügend Nachholbedarf. Straßen müssen repariert werden, Schulen müssen repariert werden, Kindertagesheime, Altenheime sind in einem schlimmen Zustand. Sie investieren nicht, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, weil Sie durch Gewerbesteuerkürzungen, durch Maßnahmen des Hineinschiebens von Lasten bei der Arbeitslosigkeit in die Gemeindefinanzen die Gemeindefinanzen ruinieren.
Deswegen können Sie überhaupt nur etwas bewegen, wenn Sie hier tätig werden.Nun komme ich noch einmal auf unseren Kollegen Theo Magin zurück. Herr Kollege Magin, Sie haben als Präsident des Städte- und Gemeindebundes folgendes gefordert: Reform der Gemeindefinanzen, Neuordnung der Gewerbesteuer, keine Abschaffung der Gewerbesteuer. Ich frage Sie, Herr Kollege Magin, wann Ihre Forderungen endlich Eingang in die Finanzpolitik der Koalition finden. Unsere Konzepte liegen vor. Wir sind bereit, mit Ihnen darüber zu sprechen.
Dieser Haushalt wird zu einem Zeitpunkt vorgelegt, in dem die Unsicherheit über den weiteren Konjunkturverlauf wächst. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, dies ist bei Gott keine Schwarzmalerei der Opposition, denn der rechts neben Ihnen sitzende Bundeswirtschaftsminister selbst hat doch erst vor einigen Wochen über die schwankende und schwierige Konjunkturlage gesprochen. Diese Beurteilung teilen wir. Aber, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, der Entwurf .des Bundeshaushalts, den Sie hier eingebracht haben, verstärkt die bereits vorhandenen konjunkturellen Risiken. Dazu einige Zahlen: Die Ausgaben des Wirtschaftsministers werden 1985 um 10% gekürzt. Scharf zurückgefahren werden die Ausgaben für Arbeit und Soziales und für Jugend, Familie und Gesundheit. Die Bundesausgaben steigen von 1984 auf 1985 insgesamt um gut 3 Milliarden DM. Davon geht fast die Hälfte in den Verteidigungsetat. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie wollen
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5876 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Dr. Apelmir doch nicht weismachen, daß dies ein Haushalt ist, der in die Konjunkturlandschaft paßt!
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben — in Ihrer Haushaltsrede vornehmer als draußen — versucht, den Arbeitskampf, die IG Druck und die IG Metall, für die schleppende Konjunktur und die unerträglich hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Stoltenberg: Diese Behauptung ist nicht nur falsch, diese Behauptung ist böswillig.
Nehmen wir doch zur Kenntnis, wie es war: Größere Verantwortung für den Arbeitskampf als die Gewerkschaften tragen diejenigen in der Bundesregierung, die durch einseitige Parteinahme zugunsten der Arbeitgeber den Kompromiß erschwert haben.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, ich empfehle Ihnen Lektüre. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des IfoKonjunkturtests aus dem Juli 1984. Dort steht — ich zitiere —:Wichtige gesamtwirtschaftliche Anzeichen haben schon vor dem Arbeitskampf in der Metallindustrie und in der Druckindustrie auf eine weniger günstige Entwicklung als im Winterhalbjahr 1983/84 hingewiesen. So zeigte der IfoKonjunkturtest bereits ab März deutlich nach unten.Herr Kollege Stoltenberg, ich empfehle Ihnen eine weitere Lektüre; vielleicht kann Herr Bangemann sie Ihnen geben. Der Bundeswirtschaftsminister hat am 7. August festgestellt — diese Aussage, Herr Kollege Bangemann, findet sich im Monatsbericht des Wirtschaftsministeriums wieder —:Der Tarifkonflikt in der Metall- und Druckindustrie endete mit einem gesamtwirtschaftlich noch vertretbaren Kompromiß.So Herr Bangemann. Herr Kollege Stoltenberg, was soll denn angesichts dieser Aussage Ihre Polemik? Warum laufen Sie denn Amok? Ich vermute, weil Sie selbst wissen, daß Ihre Finanzpolitik den konjunkturellen Herausforderungen nicht entspricht.
Herr Kollege Stoltenberg, zu den Ursachen für den schleppenden Konjunkturverlauf gehört sicherlich die Unsicherheit über die weitere Entwicklung des Welthandels und der Weltkonjunktur, obwohl Sie in Ihrer Eingangsrede zu Recht darauf hingewiesen haben, daß die Exporte derzeit sehr gut laufen. Also geht es derzeit bei der schleppenden Konjunktur vor allem um hausgemachte Ursachen. Hier ist die Finanzpolitik besonders in der Verantwortung. Eine Politik wie die Politik der Bundesregierung, die immer wieder Kaufkraft abschöpft, die die private und die öffentliche Nachfrage schwächt, die die öffentlichen Investitionen verringert, führtzwangsläufig zur Dämpfung des wirtschaftlichen Wachstums.
Herr Kollege Stoltenberg, auch mit allzu großer Beredsamkeit werden Sie die Zusammenhänge des volkswirtschaftlichen Kreislaufs nicht außer Kraft setzen können.
Besonders deutlich zeichnet sich die Krise in der Bauwirtschaft ab, und hier ist doch die Verantwortung der Finanzpolitik bei Gott nicht zu leugnen. Der Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie erwartet für diesen Wirtschaftszweig — ich zitiere — „die tiefste Rezession seit dem Bestehen der Bundesrepublik und die höchste Arbeitslosenquote". Die Bauaufträge — wir haben das gestern lesen können — gingen im ersten Halbjahr 1984 gegenüber dem Vorjahr real um fast 6 % zurück. Der Bauminister erwartet 200 000 zusätzliche Arbeitslose in der Bauwirtschaft. Besonders dramatisch ist der Rückgang der gemeindlichen Bauausgaben. Wir haben darüber gesprochen. Nach Ansicht der Bauindustrie ist das — ich zitiere — „eine investitionspolitische Katastrophe".Der Monatsbericht des Bundesministers für Wirtschaft spricht am 22. August 1984 zur Baukonjunktur von großen Sorgen. Deshalb stößt Herr Bangemann folgenden Hilferuf aus — ich zitiere wörtlich —: „Hier sollten angesichts der miserablen Lage in der Bauwirtschaft öffentliche Investitionsaufträge zukünftig ein. stärkeres Gegengewicht bilden." Da nicken Sie, Herr Kollege Bangemann. Aber fragen Sie doch mal Herrn Kollegen Stoltenberg, wo in der vor uns liegenden Zeit, im Jahre 1986, 1987 und 1988, die höheren Bauaufträge zu erwarten sind!
Dann sorgen Sie doch endlich dafür, daß Ihr Kollege Dr. Stoltenberg ein Konzept vorlegt, damit die Investitionskraft der Gemeinden so gestärkt wird, daß sie nicht nur Appelle, sondern Geld bekommen, Herr Dr. Stoltenberg, damit sie investieren können, damit es vorangeht!
Diese Bundesregierung hat Millionen von sozial Schwächeren massive Opfer abverlangt. Sie hat die sogenannten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft durch massive Steuererleichterungen verbessert. Obwohl die Unternehmensgewinne kräftig gestiegen sind, die Lohnstückkosten nahezu konstant sind, trotz realen Wirtschaftswachstums nimmt doch, Herr Kollege Stoltenberg, die saisonal bereinigte Arbeitslosigkeit zu. Ich kann es nicht akzeptieren,
wenn der Verantwortliche für Finanzpolitik, fürWährungspolitik, für Bundesunternehmen hier larmoyant über Arbeitslose redet, aber nicht bereit ist,Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5877Dr. Apelin seinem Haushalt auch nur Ansätze zu zeigen, um dieser Massenarbeitslosigkeit zu begegnen.
Herr Kollege Stoltenberg, nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Wir sind in einer Situation, in der trotz realen Wirtschaftswachstums die Arbeitslosigkeit zunimmt. Wachstum und Beschäftigung haben sich entkoppelt,
und darauf müssen Antworten gegeben werden. Die derzeitige Konjunktursituation läßt doch befürchten — ohne Schwarzmalerei, meine Damen und Herren —, daß wir mit einer Arbeitslosigkeit von rund 2,3 Millionen
in das nächste Konjunkturtal hineingehen, und dann ist ein weiterer deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit unvermeidlich.
Schauen Sie sich die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit an: Die Jugendarbeitslosigkeit hat ein skandalöses Ausmaß erreicht.
Jetzt muß die Finanzpolitik ihre Untätigkeit aufgeben, jetzt muß gehandelt werden.
— Ich möchte gern wissen, wie lange Sie noch von der „Erblast" leben wollen.
Sie leben von der Untätigkeit des Bundeskanzlers und Ihrer Koalition. Handeln Sie endlich, und entschuldigen Sie sich nicht ununterbrochen für Nichtstun und Konzeptionslosigkeit!
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten fordern ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Unser Programm liegt Ihnen vor. Wir fordern eine Stärkung der kommunalen Investitionskraft. Wir haben dazu konkrete Vorschläge eingebracht.
Wir fordern die Verwirklichung unseres Sonderprogramms Arbeit und Umwelt, das mehrere hunderttausend Arbeitsplätze schafft
und zur schnellen Verbesserung der Umwelt beiträgt.
Herr Kollege Stoltenberg, hören Sie endlich auf, im Hinblick auf dieses Programm davon zu reden, daß wir neue Schulden machen wollen. Sie kennen dieses Programm hoffentlich besser. Und wenn Sie es kennen, dann wissen Sie, daß Sie mit dieser Behauptung die Unwahrheit sprechen.
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben dann in einem mehr improvisierten Beitrag darüber gesprochen, daß wir in unserer Zeit umweltpolitisch manches haben liegen lassen. Ich kann das nicht bestreiten. Es gibt Versäumnisse. Aber eines will ich hier mal klipp und klar hinzufügen: Immer dann, wenn von Sozialdemokraten auch weiter reichende Vorschläge gemacht wurden,
haben Sie über Systemveränderung, Zerstörung der Marktwirtschaft, Zerstörung der Glaubwürdigkeit geredet.
Im übrigen: Wie wollen Sie sich denn eigentlich herausreden? Sie sind es doch, die mit Herrn Zimmermann nicht einig werden.
Sie sind es doch, die mit Herrn Bangemann und dem Rest des Kabinetts Probleme haben.
Sie sind es doch, die in der Umweltpolitik derzeit ein klägliches Bild bieten.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt den Beschluß der Kreditanstalt für Wiederaufbau, ein Programm für Umweltschutz aufzulegen. Wir nehmen mit Befriedigung zur Kenntnis, daß die Kreditanstalt damit unsere Pläne aufnimmt, die wir mit unserem Sonderprogramm Arbeit und Umwelt bereits im Jahr 1983 vorgelegt haben. Nur: Das Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau reicht nicht aus. Sie werden, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, 1985 nicht nur 10,5 Milliarden
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5878 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Dr. ApelBundesbankgewinn haben. Wir wissen: Es werden etwa 2 bis 3 Milliarden DM mehr sein.
Deswegen fordern wir Sie auf — und dies ist dann keine Erhöhung der Netto-Kreditaufnahme —, wenigstens einen Teil der zusätzlichen Bundesbankgewinne
der Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen, damit wir wirklich in einer großen Anstrengung Arbeitslosigkeit und Waldsterben bekämpfen können.
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben Pläne des Landes Nordrhein-Westfalen abgelehnt. Nordrhein-Westfalen hat in diesen Tagen der Bundesregierung vorgeschlagen, eine entsprechende Aktion zur Abgasreinigung wie bei Buschhaus vorzusehen. Sie haben dazu süffisante Bemerkungen gemacht.
Sie haben das vor einigen Tagen als politische Propaganda abgetan. Im Namen der SPD-Fraktion sage ich: Das Thema Waldsterben ist zu ernst, als daß wir es Ihnen durchgehen lassen können, sich so billig aus der Affäre zu ziehen. Wir unterstützen die Vorschläge des Landes Nordrhein-Westfalen.
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben die Hoffnung ausgedrückt, daß es künftig in der EG-Agrarpolitik für uns alle billiger sein könnte. Wir müssen dann allerdings den Bürgerinnen und Bürgern sagen, daß vorab erst mal durch Ihre Schnellschüsse, an denen Sie, Herr Bundesminister, ja stark beteiligt waren,
bis 1981 mehr als 60 Milliarden DM
— bis 1991; schönen Dank, Konrad! — zusätzlich für die deutsche Landwirtschaft und die Finanzierung der verfehlten EG-Agrarpolitik in Bewegung gesetzt werden müssen.
Und, Herr Kollege Stoltenberg, nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß derzeit überall die Überproduktion bei Wein, bei Getreide, bei Rindfleisch, bei Zucker steigt. Herr Kollege, mit diesen 60 Milliarden DM zusätzlich für die deutsche Landwirtschaft und für die EG-Agrarpolitik bringen Sie überhaupt nichts in Ordnung. So schön es wäre; es ist aber falsch.
Herr Kollege Stoltenberg, wenn Sie dem nicht zustimmen wollen, dann wollen wir uns doch wenigstens über zwei Dinge im klaren sein. Der Bundestag hat im Juni einstimmig — — Ich warte gerne einen Moment, Herr Kollege Stoltenberg.
Der Bundestag hatte im Juni einstimmig beschlossen — einstimmig, wir alle —, daß nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die Bundesrepublik eine Obergrenze in ihren Zahlungen an die EG eingezogen werden müsse.
Die Bundesregierung hat das nicht erreicht. Die „FAZ" hat dazu festgestellt, Herr Kollege Stoltenberg:Völlig untergegangen ist auf dem Gipfel von Fontainebleau die deutsche Forderung nach Einführung einer Obergrenze für Nettozahlungen. Vielleicht— so vermutet die „FAZ" —war das der Preis, den die Bundesregierung für ihre Agrarsubventionen zu zahlen hatte.Herr Kollege Dr. Stoltenberg, hier liegt doch das eigentliche Problem: Wenn wir in der EG — das ist jetzt, nach Ihren Beschlüssen, die Situation — der einzige Zahler sind, der unbegrenzt zahlen muß, für den es eine Obergrenze nicht gibt — Englands Zahlungen sind plafondiert —,
dann frage ich Sie, wie wir unsere EG-Partner eigentlich auf den Pfad der Vernunft bringen wollen?
— Sofort, Herr Kollege Dr. Stoltenberg.In der Debatte nach dem Gipfel haben Sie selbst zugegeben, daß dies nicht erreicht wurde. Sie haben gesagt, Sie wollten das später versuchen. Ich wünsche Ihnen dazu viel Erfolg,
aber derzeit ist die Situation so, daß Sie eine Obergrenze für deutsche EG-Zahlungen nicht erreicht haben — im Gegensatz zu Frau Thatcher.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5879
Herr Abgeordneter Dr. Stoltenberg, bitte.
Herr Kollege Apel, darf ich Sie, weil Sie das offenbar nicht wissen, darauf verweisen, daß es durch die Neuregelung einen zweiten Nettozahler ohne Zahlungsbegrenzung gibt, nämlich Frankreich. Ist Ihnen nicht bewußt, daß das eine fundamentale Veränderung der politischen und finanziellen Wirkungen in der Gemein. schaft ist, die Sie kennen sollten, wenn Sie hier darüber reden?
Aber, Herr Kollege Stoltenberg, die französischen Nettozahlungen verhalten sich in der Größenordnung zu den unsrigen wie eine Mücke zu einem Elefanten. Verschieben Sie doch nicht das Problem!
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben davon geredet, daß Sie von unseren EG-Partnern die Einhaltung des Subventionskodex verlangen und erwarten. Ich finde das sehr gut. Ich unterstütze ausdrücklich diese Forderung. Aber, Herr Kollege Stoltenberg, was wird ihnen denn passieren können?
Wird man Ihnen nicht die Milliardensubventionen, die Sie für die deutsche Landwirtschaft national im Alleingang beschlossen haben, vorhalten, wenn Sie von den anderen die Einhaltung der Subventionspraktiken bei Stahl, Textil und bei der Landwirtschaft fordern?
Ich befürchte, diejenigen haben recht, die hier den Startschuß für einen neuen Subventionswettlauf vernehmen.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie hatten recht, als Sie vor einigen Tagen erklärten, die Probleme der internationalen Verschuldung seien keineswegs gelöst. Deshalb müssen wir auch konzeptionell wesentlich mehr tun, um dem immer wieder drohenden Kollaps entgegenzuwirken; denn die Bundesrepublik ist wegen ihrer großen Außenhandelsabhängigkeit — da sind wir uns ja einig — ganz besonders darauf angewiesen, daß der Welthandel offen bleibt.Herr Kollege Dr. Stoltenberg, seien wir uns aber auch darüber einig — ich bin zufrieden, daß das in Ihrer Haushaltsrede vorgekommen ist —: Der Schlüssel für viele dieser Probleme liegt in den USA. Ihre wirklich unvernünftigen Haushaltsdefizite halten weltweit die Zinsen hoch. Das reiche Land der USA ist massiver Kapitalimporteur und zieht sogar Kapital aus den Entwicklungsländernab. Die USA sind auf dem Wege, durch wachsenden Protektionismus den Welthandel einzuschränken. Hier entwickeln sich Risiken für die Weltwirtschaft, die in ihrem Ausmaß einmalig in der Wirtschaftsgeschichte sind. Da hilft kein Verkleistern und Verschweigen. Wir müssen den USA sagen, was wir von ihnen erwarten. Wir verlangen von der Bundesregierung, daß sie zusammen mit unseren europäischen Nachbarn mit Nachdruck auf die USA einwirken, damit die USA nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen die für die Zukunft der Weltwirtschaft gefährliche Finanzpolitik korrigieren.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Für uns Sozialdemokraten ist die Notwendigkeit einer mittelfristig angelegten Haushaltskonsolidierung unbestritten. Deshalb begrüßen wir es, wenn die Nettokreditaufnahme der Bundesrepublik Deutschland im Bundeshaushalt zurückgeführt wird. Die Bundesregierung hat dies aber im Gegensatz zu allen früheren Versprechungen vorwiegend durch höhere Steuern und Beiträge sowie durch Milliardenzuschüsse aus den Bundesbankgewinnen erreicht. Die Einsparungen, die durch massive Einschnitte im Sozialbereich vorgenommen wurden, hat die Bundesregierung nicht zur Haushaltskonsolidierung verwandt. Sie hat das Wort „Konsolidierung" bei den Sparaktionen als Vorwand benutzt, um den kleinen Leuten zusätzliche Belastungen aufzuerlegen und den Großen zusätzliche Vorteile zu geben.
Der versprochene Subventionsabbau findet nicht statt. Im Gegenteil!
In den zentralen Fragen der Finanzpolitik — angefangen bei der Steuerdiskussion über die Frage der konjunkturpolitischen Handlungsnotwendigkeiten und den Umweltschutz bis hin zur EG-Politik — redet die Koalition mit vielen Stimmen. Der Finanzminister und der Bundeskanzler werden ihrer Führungsverantwortung nicht gerecht.
Stetigkeit und Beständigkeit zeigt die Bundesregierung nur in zwei Punkten: erstens in der Untätigkeit gegenüber der Massenarbeitslosigkeit und der Umweltkrise, zweitens in der Ungerechtigkeit, die dem Normalverdiener immer neue Lasten auferlegt und den Spitzenverdiener begünstigt.
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5880 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Dr. ApelDie sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird sich dieser Politik mit Entschiedenheit entgegenstellen.
Unsere Alternativen sind bekannt. Wir werden sie während der Haushaltsberatungen erneut verdeutlichen. Wir wollen eine Politik, die in einer großen gemeinsamen Anstrengung entschlossen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angeht. Wir wollen gleichzeitig alle Kräfte mobilisieren, um der Umweltkrise Einhalt zu gebieten. Wir wollen die unvermeidbaren Lasten nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit so verteilen, daß jeder den Beitrag leistet, den er zu leisten vermag.
Wir wollen schließlich, daß die Bundesrepublik Deutschland in der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik eine konstruktive Rolle spielt und ihren Beitrag leistet, um die schwierigen Probleme zu meistern, mit denen die Europäische Gemeinschaft und die Weltwirtschaft zu kämpfen haben.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Waigel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Apel, ich möchte mich bei Ihnen ausdrücklich für Ihre Rede bedanken, denn sie war der beste Beweis dafür, daß sozialdemokratische Finanzminister ablösungsreif waren, daß es mit dieser Finanzpolitik und mit dieser Betrachtung der Volkswirtschaft so nicht weitergehen konnte.
Im übrigen erstaunt es mich, daß Ihre Rede so müde, so matt war. Sie sind j a gar nicht so viel im Wahlkampfeinsatz in Berlin, daß Sie bereits jetzt so müde sein können.
Aber das ist natürlich darauf zurückzuführen, daß Sie sachlich einfach schlechte Karten haben.
Herr Kollege Apel, Sie stellen sich hier hin und kritisieren unsere Finanzpolitik, vergessen dabei aber, daß Sie in der Zeit, als Sie Finanzminister waren, allein 87 Milliarden DM Schulden gemacht haben. Nach Ihnen hat ein Bundesfinanzminister Matthöfer 116 Milliarden DM Schulden gemacht. Wir hätten bei jedem Änderungsbescheid, bei jedem Kürzungsbescheid hinzuschreiben sollen: Sie verdanken das den Herren Apel, Matthöfer & Co.
Nun sind Sie natürlich in keiner beneidenswerten Lage, denn Sie müssen den Wählern erklären, warum die Arbeitslosigkeit in 13 Jahren auf 2 Millionen gestiegen ist und warum Sie von uns verlangen, diese 2-Millionen-Arbeitslosigkeit in 24 Monaten zu beseitigen. Sie wissen: Das geht nicht. Sie wissen auch ganz genau, daß der Rückgang der Arbeitslosigkeit der Spätindikator der Konjunktur ist, daß wir zuerst wieder für Wachstum sorgen müssen, daß wir Stabilität herstellen müssen und daß das außenwirtschaftliche Gleichgewicht bestehen muß. Erst wenn diese Ziele erreicht sind, können wir auch die Arbeitslosigkeit wieder zurückführen, die Sie durch die Vernachlässigung der anderen drei globalen Ziele verursacht haben. Sie tragen die Verantwortung dafür.
So unglaubwürdig wie Ihre Kritik sind auch Ihre Vorschläge. Sie verlangen von uns, daß wir Ihre Vorschläge übernehmen, also die gleichen Fehler machen, die zu der heutigen beklagenswerten Situation geführt haben. Das einzige, was Sie erreicht haben, waren nämlich zerrüttete Staatsfinanzen und eine hohe Arbeitslosigkeit. Das war auch der Grund, warum Sie um die Regierungsverantwortung gekommen sind.Jeder wird Verständnis dafür haben, daß eine Opposition natürlich bemüht ist, die ihr von den Wählern abgesprochene Kompetenz in Wirtschafts- und Finanzfragen wiederzuerlangen. Es ist j a nicht uninteressant, daß ein intelligenter Mann, dessen intellektuelles Niveau ich durchaus schätze, ihr Bundesgeschäftsführer Dr. Glotz, genau das als einen Schwerpunkt Ihres Defizits bezeichnet. Er hat nämlich gesagt, daß Sie keine wirtschaftspolitische Kompetenz mehr besitzen. Mit Reden dieser Art werden Sie sie in absehbarer Zeit auch nicht wiedererlangen können.
Wir haben mit unserer Politik den langjährigen Anstieg der Arbeitslosigkeit von 1975 bis 1982 endlich zum Stillstand gebracht. Wir haben die Wirtschaft nach der längsten Stagnationsphase der Nachkriegsgeschichte wieder in einen neuen Aufschwung geführt. Wir haben Preisstabilität in einem Umfang wiederhergestellt, wie dies letztmalig im Jahre 1969 unter Bundeskanzler Kiesinger und Finanzminister Strauß vorzuweisen war.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist immerhin interessant, wie die Inflation unter Ihrer Regierungsverantwortung vernachlässigt worden ist. Man muß eigentlich noch einmal kurz darüber nachdenken, was der größte Ökonom der Weltgeschichte damals erklärt hat. Er hat nämlich gesagt, dieses Volk könne leichter 5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit verschmerzen. Am Schluß seiner Regierungszeit hatten wir mehr als 5 % Arbeitslosigkeit und mehr als 5 % Inflation.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5881
Dr. Waigel— Mein lieber Kollege Roth, mir fällt immer noch mehr ein als Ihnen.
— Ich bitte um Entschuldigung. Den Kollegen Walther schätze ich fast noch mehr als den Kollegen Roth, weil ich von ihm weiß, daß er als Vorsitzender des Haushaltsausschusses eine ausgezeichnete Arbeit verrichtet. Im übrigen bin ich ganz sicher, daß er in Ihren Reihen wider eigene Erkenntnis Zwischenrufe macht, die er, wenn er allein bei uns wäre, nicht machen würde.
Die niedrigste Inflationsrate seit 15 Jahren bedeutet nämlich, daß Sparer, Arbeitnehmer und Rentner wieder mehr von ihren Einkommen haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist doch ein Riesenerfolg, daß der Realzins heute rund 6 % beträgt. Das ist mehr wert, als wenn die Einkommen von Rentnern, von Arbeitnehmern um 6 % oder 7 % stiegen, ihnen aber über die Inflation wieder 5 %, 6 % oder mehr weggenommen würden. Dieser Kaufkraftzuwachs ist eine soziale Tat, meine sehr verehrten Damen und Herren, und Ihre Inflationspolitik war eine Politik gegen die Sparer, gegen die Rentner, gegen die kleinen Leute.
Wir haben bei unserer Konsolidierungspolitik beachtliche Erfolge erreicht. Es ist in mehreren Schritten und im Einklang mit Ländern und Gemeinden gelungen, das Defizit des Bundeshaushaltes, das, als wir die Kasse übernahmen, 50 Milliarden DM zu übersteigen drohte, um etwa die Hälfte zu reduzieren. Wir haben die schwerste Krise unseres sozialen Sicherungssystems bewältigt, und wir werden weitere Maßnahmen, geeignete Maßnahmen ergreifen, daß dies so bleibt.Diese' Erfolgsbilanz kann sich sehen lassen. Sie ist nicht geschönt und nicht verfälscht, sie beruht auf Fakten und Zahlen. Auch brauchen wir nicht — wie Sie — jedes Jahr ein oder zwei Nachtragshaushalte, um unsere Irrtümer permanent zu korrigieren, wie es bei Ihnen notwendig war.
Man soll in der Politik nie vergeßlich sein. Darum ist es einmal ganz interessant, herauszuziehen, was der Kollege Apel vor einem Jahr zum gleichen Thema gesagt hat. Damals sagten Sie, Herr Apel, von einer konjunkturellen Wende könne keine Rede sein; wir würden 1984 „noch tiefer in die Depression abrutschen". Wie Sie das bei einem Wachstum von 2,5 % — ohne Streiks möglicherweise 3 %— wirklich behaupten wollen, ist mir unerklärlich.
Auch haben Sie sich mit Ihrem unverantwortlichen Gerede von mehr als 100 000 fehlenden Lehrstellen an der Panikmache beteiligt.
Herr Abgeordneter Waigel, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Apel.
Herr Kollege Waigel, wenn Sie schon über die Wirtschaftslage dieses Jahres reden, könnten Sie dann auch einige Bemerkungen zu der — saisonbereinigt — wachsenden Arbeitslosigkeit machen und sagen, wie Sie das bewerten?
Wird nicht konjunkturelles Wachstum bei den Bürgern am Ende nur- dann sichtbar, wenn Arbeitslosigkeit abgebaut wird, und sind Sie bereit, zuzugeben, daß hier in Ihren Konzepten — bisher auch in Ihrer Rede — absolute Fehlanzeige ist?
Nein. Ich werde Ihnen anschließend einige Zitate von Ihnen und Ihres Nachfolgers Matthöfer bringen, der am Ende seiner Zeit als Finanzminister genau unsere finanz- und wirtschaftspolitische Konzeption unterstützt hat und der zur Einsicht gelangt ist, daß Ihre Rezepte, nämlich die des staatlichen Aktionismus, nichts brächten und daß es gelte, private Innovations- und Investitionskräfte wieder in Bewegung zu setzen, um in einem langen Prozeß das zu wenden, was an Arbeitslosigkeit entstanden ist.
Was haben Sie denn, Herr Kollege Apel, wirklich vorgeschlagen? Sie unterstützen das 50-MilliardenProgramm des DGB, doch Sie können es nicht finanzieren.Sie wollen ein umweltpolitisches Beschäftigungsprogramm, das mit höheren Energieabgaben, insbesondere einer Erdgassteuer, finanziert werden soll.Sie verlangen ein staatliches Lehrstellenprogramm und die Erhebung einer Ausbildungsplatzabgabe — untaugliche Rezepte, wie wir wissen.
Ihr Ministerpräsident Rau aus Nordrhein-Westfalen fordert ein Vier-Milliarden-Programm für Umweltschutzinvestitionen im Bereich der Energieversorgung.
Sie verlangen eine insgesamt expansivere Gestaltung der öffentlichen Haushalte zur Stärkung der Nachfrage und der Beschäftigung. Sie werden doch einräumen müssen, daß Sie mit diesen Vorschlägen nichts Neues bringen. Es sind alte Ladenhüter, unbrauchbar, schädlich. Alles läuft auf mehr Staatsausgaben, auf mehr Schulden und mehr Abgaben hinaus.Die Folgen dieser Politik wären nicht anders als die Konsequenzen, die Sie uns mit Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik in den 70er Jahren beschert haben, nämlich kurze Strohfeuereffekte, aber keine dauerhaften rentablen Arbeitsplätze.Das einzige, was von einer solchen Politik bleibt, sind höhere Abgabenbelastungen der Betriebe und die Zinslasten der öffentlichen Haushalte. Das ist5882 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984Dr. Waigeljene Erblast, mit der wir uns noch Jahre und fast Jahrzehnte herumschlagen müssen, die wir von Ihnen übernehmen mußten und die uns jenen Spielraum nimmt, den wir gern hätten, um mehr für die Beschäftigungspolitik zu tun.
Nun komme ich zu dem, Herr Kollege Apel, was Ihr Nachfolger Matthöfer am 23. Januar 1981 hier vor dem Deutschen Bundestag gesagt hat:Entscheidend sind nicht staatliche Ausgaben, sondern unternehmerische Entscheidungen, Initiativen, Investitionen und Innovationen.Er sagte weiter am 16. September 1981 — ebenfalls hier —:Eine Ausweitung der öffentlichen Defizite über das gegenwärtige und gar nicht so unbeachtliche Maß hinaus würde positive Zukunftserwartungen vermutlich eher untergraben. Denn die für Investitionsentscheidungen in der Wirtschaft Verantwortlichen würden kaum Vertrauen in die Dauerhaftigkeit einer mit wachsender Verschuldung finanzierten öffentlichen Nachfrage haben.Herr Apel, wenn Herr Matthöfer hier recht hat — ich hoffe, daß er zwischenzeitlich nicht zu einem Einzelkämpfer in Ihrer Fraktion geworden ist —, dann können Sie doch nicht mit dem alten Ladenhüter auf eine Zeit vor Matthöfer, vor Ihnen zurückfallen und die Erkenntnisse, auch die schmerzlichen Erkenntnisse, die Sie eigentlich hätten gewinnen müssen, so völlig außer acht lassen.
Die Beschlüsse der neuen Bundesregierung vom 3. Juli zum neuen Finanzplan sowie zu den geplanten Steuerentlastungen verdeutlichen in stärkster Weise die raschen Erfolge unserer Haushaltspolitik. Die Haushaltskonsolidierung ist schneller vorangebracht worden, als wir uns das selbst vorgestellt haben. Aber wir haben dies nicht um der Konsolidierung willen betrieben. Wir sparen nicht um des Sparens willen und schon gar nicht, meine Damen und Herren — um einmal auf diese bösartige Unterstellung einzugehen — weil wir damit die kleinen Leute belasten wollten. Nein, wir sparen, um Spielräume für Politik zu bekommen. Wir sparen, um den kleinen Leuten über eine verringerte Inflation ihr Geld zu lassen. Wir sparen, um das soziale System insgesamt leistungsfähig zu erhalten, während unter Ihnen alle sozialen Sicherungssysteme zusammengebrochen wären.
— Herr Kollege Schily, auf Ihre Zwischenrufe kann ich nur sagen: Wenn es eine Wirtschafts- und Finanzpolitik nach Ihrem Muster gäbe oder nach dem Muster Ihrer Nachfolger, wenn Sie demnächst rotieren, dann könnten Sie aus den Erträgen Ihrer Anwaltskanzlei nicht einmal ein Minimum für Ihren Lebensunterhalt finanzieren.
Sie hatten damals keine Sekunde Angst, diese Bundesbankgewinne — ich glaube, damals auch in der Größenordnung von über 10 Milliarden DM — in der Haushaltsbilanz anzusetzen. Das, was Sie damals nach der Gesetzeslage getan haben, tun wir jetzt auch.
Wir tun nichts anderes, und der Betrag ist nicht einmal viel höher, als er es damals gewesen ist.
— Es wäre natürlich gut, Herr Kollege Schily, wenn Sie sich um Ihr Geschwätz von gestern nicht kümmern würden. Dann würden Sie uns nämlich für den Rest der Legislaturperiode erhalten bleiben. Ich würde das begrüßen. Aber ich fürchte natürlich, daß es Ihre Situation an der Basis noch schwieriger macht, wenn ich das begrüße.
Wir halten, was wir versprechen. Unsere Haushaltsplanung ist realistisch und verläßlich. Wir beschönigen nicht, und wir täuschen nicht.Ich will Ihnen in Erinnerung rufen, wie sozialdemokratische Finanzminister in den letzten drei Haushaltsrunden vorgegangen sind. Für den Haushalt 1981 versprach Bundeskanzler Schmidt in seiner Regierungserklärung vom November 1980 eine Ausgabensteigerung von 4 % und eine Neuverschuldung von 27 Milliarden DM. Er fügte seinerzeit hinzu: Damit halten wir uns exakt an die Linie, die wir vor der Wahl aufgezeigt haben.Tatsächlich aber stiegen die Bundesausgaben mit einer Zuwachsrate von 8% doppelt so schnell wie versprochen. Und die Neuverschuldung belief sich nicht auf 27, sondern auf über 37 Milliarden DM.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5883
Dr. WaigelDamit wurden alle bisherigen negativen Rekordmarken überboten. In einem einzigen Jahr sozialistischer Finanzpolitik wurden nahezu dreimal soviel neue Schulden aufgenommen, wie Unions-geführte Regierungen in insgesamt 20 Jahren getätigt hatten.Die Aufstellung des Haushalts 1982 übertraf dann alle bisherigen haushaltspolitischen Fehlleistungen sozialdemokratischer Finanzminister. Nur durch neue Abgabenerhöhungen, einen nochmaligen Griff in die Rentenkasse und die Lastenverschiebung auf die Länder und Gemeinden konnte ein Rechenwerk vorgelegt werden, das eine Neuverschuldung von 27 Milliarden DM auswies. Aber dann folgte Schlag um Schlag: zunächst ein erster Nachtrag mit einer Erhöhung der Nettokreditaufnahme, der Neuverschuldung, um rund 7 Milliarden DM. Dann kamen Regierungswechsel und Kassensturz. Und siehe da, es fehlten weitere 6 Milliarden DM, die wir in einem zweiten Nachtrag für 1982 schnellstens bereitstellen mußten.Den Finanzplan von 1983 hat dann der damalige Finanzminister Lahnstein als stocksolide bezeichnet. Das war wirklich der Gipfel einer Haushaltsplanung à la sozialistischer oder sozialdemokratischer Finanzpolitik.
Natürlich hat heute wieder einmal der Vorwurf nicht gefehlt, dieser Haushalt enthalte zu wenige Elemente für die Beschäftigung, für die Vollbeschäftigung. Nur eines will ich hierzu klar sagen: Wir halten uns an die Verpflichtungen, die uns Verfassung und Stabilitätsgesetz auferlegen, nämlich bei unseren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Das ist geschehen. Das haben wir getan, und das werden wir auch weiter tun. Wir sehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen zusätzlichen konjunkturpolitischen Handlungsbedarf.Ich will Herrn Apel, vor allen Dingen auch wegen der Kritik und der Attacken, die er auf den CDUFinanzminister und auf unsere Finanzpolitik losgelassen hat, doch mit zwei Aussagen der Deutschen Bundesbank und des Sachverständigenrates konfrontieren. Ich will jedenfalls die Aussage der Bundesbank vom Februar 1984 wörtlich zitieren:Die Strategie, durch eine Politik der Haushaltskonsolidierung, flankiert von speziellen Maßnahmen zugunsten der privaten Investitionen, die Rahmenbedingungen für das Wirtschaftswachstum zu verbessern, schuf mit die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Belebung, die nun ihrerseits Abbau der Haushaltsdefizite fördert. Mit anderen Worten: Die Entwicklung widerlegte die nicht selten vorgebrachte These von einer „Überkonsolidierung" der öffentlichen Haushalte.Im Jahresgutachten 1983/84, Ziffer 22, findet sich ein entsprechender Passus der Sachverständigen. Meine Damen und Herren, was kann eigentlich einer Regierung Positiveres passieren, als wenn sie mit ihrer nicht immer populären Politik im Einklang mit der Deutschen Bundesbank und mit den Sachverständigen steht? Hätten Sie sich rechtzeitig an diesen Rat — diese Herrschaften sind ja geradezu Ausdruck des Ratsgrundsatzes in der Politik — gehalten, dann wäre Ihnen und uns das erspart geblieben, womit wir uns im Moment quälend und schwierig herumschlagen müssen.
Es gibt aber auch andere Äußerungen aus Ihrem Bereich. Der Finanzminister Posser von Nordrhein-Westfalen hat sich immerhin besorgt geäußert, daß Nordrhein-Westfalen vom bisherigen Konsolidierungspfad abweichen könnte. Er mahnte seine SPD-Kollegen, daß diese Entwicklung nicht hinnehmbar sei und bis zu den abschließenden Beratungen des Kabinetts im Oktober 1984 korrigiert werden müsse. Er unterstrich den für den Landeshaushalt Nordrhein-Westfalen noch über Jahre hinaus bestehenden Konsolidierungszwang.Nun, meine Damen und Herren, stimmt das, was Herr Posser sagt, im eigenen Bereich, dann stimmt es auch hier. Sie können doch nicht hier die Konsolidierung bekämpfen, sie aber dann als notwendig durchführen, wenn Sie irgendwo selber an der Regierung sind. Natürlich kommt bei Ihnen jede Konsolidierung zu spät und mit zu großen Opfern.
Es ist ein riesiger Erfolg, wenn wir Ende 1985 das strukturelle Haushaltsdefizit des Bundes weitgehend beseitigen können. Bis Ende 1985 werden wir dem Ziel, eine Neuverschuldung in Höhe von 1 des Bruttosozialprodukts zu haben — das werden 1985 etwa 20 Milliarden DM sein —, bereits sehr nahe kommen. Allerdings — das will ich gar nicht bestreiten — besteht dann immer noch eine in unseren Augen zu hohe Abhängigkeit der Bundesfinanzen von den Gewinnabführungen der Deutschen Bundesbank. Gerade deswegen ist Konsolidierung auch heute noch notwendig; denn wir wollen nicht in eine zu starke Abhängigkeit geraten und wollen uns bei der Konsolidierung nicht nur darauf verlassen, was von der Bundesbank zurückkommt.
Nun glaube ich, man muß den Damen und Herren von der SPD schon noch eines sagen. Wir haben natürlich von Ihnen eine ungeheure Zinslast als Dauerhypothek übernommen.
Die Zinsbelastung des Bundeshaushalts wird bis 1988 von jetzt 291/2 Milliarden DM auf dann über 38 Milliarden DM ansteigen. Diese Zahlen, die uns Spielraum wegnehmen, und ihre Entwicklung sind Ausdruck dieser traurigen finanzpolitischen Erblast, die Sie uns hinterlassen haben und die wir Ihnen permanent vorhalten, vorhalten müssen, weil Sie sich jetzt nämlich aus der Verantwortung stehlen wollen.
Das einzige, was Sie erreicht haben, ist die Erhöhung der Staatsquote auf 50%. Nur, meine Damen
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5884 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Dr. Waigelund Herren: Mit der Erhöhung der Staatsquote haben Sie nicht erreicht, daß sich die Investitionen verbessert haben, sondern ganz im Gegenteil: Auch die öffentlichen Investitionen sind auf einen Tiefpunkt abgesunken, für den Sie verantwortlich sind, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die Investitionsquote ist von 1969, als wir Ihnen die Regierung übergeben mußten, von 25,8 % auf 20,2 % in 1982 gesunken.Ich will auch noch etwas zu den Zahlenspielen des Kollegen Apel bemerken, dessen vorbereitende Umgebung natürlich nicht mehr so stark ist wie früher. Das merkt man sehr deutlich an der Qualität der Reden.
— Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Apel, mache ich mir schon immer noch die Mühe, meine Reden zum Teil ganz selber zu machen, zum Teil sehr genau anzusehen. Die Ihre kann von Ihnen gar nicht sein; denn so schwach, wie Sie sich heute dargestellt haben, sind Sie nicht.
— Ich kann Ihnen, Herr Apel, nur eines sagen. In bayerischen Bierzelten wird nicht so dumm dahergeredet,
wie ich das manchmal von Ihnen höre, wirklich nicht.
Das ist eine Beleidigung bayerischer Bierzeltatmosphäre. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn man Ihre flotten Aussprüche der letzten zehn Jahre aneinanderreihen würde, könnten Sie die in einem bayerischen Bierzelt nicht geschlossen vortragen.
Zurück zum Ernst. — Ich will Ihnen einmal die Zahlen der Finanzpläne vorlesen, und zwar des Finanzplans 1984 bis 1988 unter Minister Stoltenberg und des Finanzplans 1982 bis 1986 unter Matthöfer und Lahnstein, und hier die Investitionen darstellen. Bei Ihnen im Jahre 1984 32,6 Milliarden DM, bei uns 35,3 Milliarden DM. Bei Ihnen für 1985 32,6 Milliarden DM, bei uns 36,2 Milliarden DM. Bei Ihnen für 1986 32,1 Milliarden DM, bei uns 35,7 Milliarden DM. Wir liegen mit unseren Investitionen jedes Jahr um Milliarden höher als Ihre Finanzplanung. Und dann kommen Sie und wollen uns diese Höhe vorwerfen. Herr Apel, so billig dürfen Sie sich die Auseinandersetzung einfach nicht machen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Matthöfer?
Bitte schön.
Herr Abgeordneter Waigel, sind Sie auch so liebenswürdig, die Zahlen für die geplante Verschuldung und den abgeführten Bundesbankgewinn im Vergleich vorzutragen?
Ich habe Sie nicht verstanden, ich bitte um Entschuldigung.
Sind Sie so freundlich, für die von Ihnen genannten Jahre auch den Vergleich von geplanter Verschuldung und abgeführtem Bundesbankgewinn vorzutragen?
Herr Kollege Matthöfer, wir sahen bisher keine Notwendigkeit, einen Nachtragshaushalt aufzustellen. Bei uns haben die Annahmen bisher gestimmt, und auch die Annahme für heuer und das nächste Jahr ist nach bestem Wissen und Gewissen vom jetzigen Bundesfinanzminister getroffen worden.
Ich sehe den Sinn Ihrer Frage nicht. Ich wäre Ihnen dankbar — weil ich Sie sachlich schätze —, wenn Sie dies anschließend in der Debatte vorbringen könnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch in der Steuerpolitik verwirklichen wir Zug um Zug die Regierungserklärung. Wir haben den steuerpolitischen Spielraum genutzt und am Anfang eine Umstrukturierung zugunsten wachstumsfördernder Elemente in der Besteuerung durchgeführt. In zwei Stufen — das ist zum Teil leider schon wieder in Vergessenheit geraten —, Anfang 1983 und Anfang 1984, haben wir Maßnahmen zur Verringerung der ertragsunabhängigen und deshalb arbeitsplatzschädlichen Besteuerung durchgeführt. Wir haben Maßnahmen zur Förderung der Eigenkapitalbildung und der Investitionskraft der Unternehmen und zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ergriffen und verwirklicht.
— Die Mehrwertsteuer haben wir voll zur Umstrukturierung der Steuern verwendet,
aber nicht dazu, damit Haushaltslöcher zu stopfen, wie Sie es früher laufend getan haben.
Sie, Herr Kollege Apel, haben als Bundesfinanzminister Anfang 1976 massive Steuererhöhungen bei der Mehrwertsteuer, der Branntweinsteuer und der Tabaksteuer betrieben, weil nach Ihren eigenen Aussagen die auf der Ausgabenseite ergriffenen Maßnahmen nicht für eine dauerhafte Konsolidierung ausreichten. Damals planten Sie — Sie wer-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5885
Dr. Waigelden sich erinnern — eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um volle zwei Prozentpunkte, ferner eine Erhöhung der Tabaksteuer und der Branntweinsteuer um jeweils ein Fünftel. Bemerkenswert aber war die Rechtfertigung dieser Steuererhöhungspläne. Ich zitiere aus Ihrer Rede vom 4. November 1975 vor dem Deutschen Bundestag:Wer freut sich schon, wenn er mehr an Steuern bezahlen muß. Aber dieses Mehr an Steuern ist keine Überbelastung der Bürger, und sie ist auch keine unsoziale Belastung. Wir leben eben nicht mehr im 19. Jahrhundert, wo die Masse der Arbeitnehmer nicht über das physische Existenzminimum hinauskam. Das muß in die Überlegungen mit einbezogen werden.Damals wären Sie in der Lage gewesen, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Punkte durchaus zu vollziehen, genau eine Erhöhung, die die kleinen Leute, die die Familien getroffen hätte. Wir sind diesen Versuchungen widerstanden und werden unsere Steuerentlastung ohne Kompensation und ohne Erhöhung der Mehrwertsteuer durchführen und damit wirklich etwas an die Bevölkerung zurückgeben.
Die Steuerbeschlüsse der Regierung und der Koalition zeichnen sich in folgender Hinsicht aus:Erstens. Das Volumen der Gesamtentlastung in Höhe von 20 Milliarden DM übertrifft alle bisherigen Steuerentlastungen.Zweitens. Wir haben auf Steuererhöhungen verzichtet, und auch eine teilweise Finanzierung der Steuererhöhung wie bei allen vorangegangenen Steuerpaketen der SPD-geführten Bundesregierungen findet nicht statt.Drittens. Wir haben neben der Erhöhung des Grundfreibetrages und der Absenkung des Tarifverlaufs deutliche familienpolitische Akzente gesetzt. Meine Damen und Herren von der SPD, es ist seit Jahrzehnten nicht mehr in einem Wurf so viel für Familienpolitik passiert, wie wir dies im letzten und im heurigen Jahr durchführen. Darauf sind wir stolz.
Das ist unser entscheidender Akzent zur Gesellschaftspolitik. Wir sehen keinen Gegensatz zwischen ökonomischen Notwendigkeiten und dem, was wir familienpolitisch tun. Beides ist verzahnt, beides bedingt einander. Wir brauchen die Förderung der Familie, um das Gemeinwesen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten überhaupt finanzieren zu können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
Ich bitte um Verständnis. Es dauert sonst zu lange. Sie müssen mir sonst noch länger zuhören, und das möchte ich Ihnen nicht zumuten.
— Das das natürlich für die GRÜNEN eine große Freude ist, kann man sich denken. Sie sollten sich über jeden Redner, der noch spricht, freuen, denn lange sind Sie nicht mehr dabei.
Wir verhindern mit diesem Steuerentlastungsprogramm eine Verschlechterung der Steuerstruktur, und wir tragen dazu bei, die Wachstumskräfte der Wirtschaft zu stärken. Der Verzicht auf nachfrageabschöpfende Steuererhöhungen, z. B. eine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder anderer Verbrauchsteuern, bedeutet kräftige Nachfrageimpulse in den Jahren 1986 und 1988. Die Koalition hat nach eingehender Diskussion diese Eckwerte beschlossen und damit Klarheit geschaffen.Meine Damen und Herren, die Haltung der Opposition zu diesen Steuerbeschlüssen ist zwiespältig. Auf der einen Seite hören wir vom Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, daß er die Steuerentlastung ablehne, und auf der anderen Seite hören wir, es müsse in diesem Bereich der Steuerentlastung mehr getan werden. Sie sollten hier selbst Klarheit in Ihren eigenen Reihen schaffen.Jedenfalls erhält die Familienpolitik unter dieser Bundesregierung wieder den ihr gebührenden Stellenwert. Mit einem familienpolitischen Paket von zusätzlich über 8 Milliarden DM für die Familien mit Kindern verwirklichen wir das, was die Union seit Jahren gefordert hat. Wir kehren zurück zu einem System von Kindergeld und steuerlichen Kinderfreibeträgen, weil dies genau dem Subsidiaritätsgrundsatz entspricht. Mit dem Kinderfreibetrag von 2 484 DM jährlich wird ein beträchtlicher Teil der Unterhaltsaufwendungen für Kinder nicht mehr von der Lohn- und Einkommensteuer erfaßt. Es muß doch eigentlich unser Ziel sein, daß die notwendigen Aufwendungen der Eltern für ihre Kinder, soweit sie nicht durch Kindergeld abgedeckt sind, nicht auch noch zusätzlich der Besteuerung unterliegen.
Auch die sozialdemokratischen Kollegen werden doch nichts gegen den Satz einwenden können, daß Familien mit Kindern weniger Steuern zahlen sollen als Familien ohne Kinder. Nichts anderes als das verwirklichen wir mit der Einführung des Kinderfreibetrages.
Aber das ist nicht alles, sondern neben den Kinderfreibetrag tritt ein Kindergeldzuschlag für alle Familien, um die soziale Ausgeglichenheit zu gewährleisten.
— Aber es ist notwendig, das hinzuzufügen.
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5886 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Dr. WaigelDrittens. Wir führen ein Erziehungsgeld in Höhe von 600 DM pro Monat für die Dauer eines Jahres für Mütter oder Väter ein und leisten damit einen ganz entscheidenden Beitrag auch für das Verhältnis von Mutter oder Vater und Kind gerade in dessen ersten Lebensmonaten.
Viertens. Jugendliche bis zu 21 Jahren, die keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben, werden wieder Kindergeld erhalten. Das möchte ich insbesondere der SPD in Erinnerung rufen, denn das Kindergeld ist diesem Personenkreis durch einen Beschluß der SPD-geführten Bundesregierung gestrichen worden. Wir korrigieren diese damalige Fehlentscheidung.
Fünftens. Durch die Stiftung „Mutter und Kind" werden wir finanzielle Hilfen zum Schutz des ungeborenen Lebens gewähren.Sechstens werden wir eine Neuregelung der Besteuerung bei Alleinerziehenden vornehmen. Alleinerziehende werden für das erste Kind bis 4000 DM und für jedes weitere Kind bis jeweils 2000 DM an zwangsläufigen Betreuungsaufwendungen steuerlich berücksichtigen können.Siebentens — das liegt uns ganz besonders am Herzen — werden wir auch die Familienheimförderung kinderfreundlicher gestalten und die sogenannte Kinderkomponente im Rahmen der steuerlichen Förderung des Familienheims erhöhen. Dabei sollte neben der Kinderkomponente auch an eine Elternkomponente gedacht werden. Familienfreundlicher gestalten, das heißt in meinen Augen, auch wieder das Zusammenleben mehrerer Generationen in der Familie zu fördern und den älteren Menschen ein möglichst langes Zusammenleben mit ihren Kindern und Enkeln in ihrer vertrauten Umgebung zu erleichtern.
Wir sollten deshalb ernsthaft prüfen, ob im Rahmen der Neugestaltung des Wohnungssteuerrechts auch diesem Gesichtspunkt Rechnung getragen werden kann.Achtens. Noch in diesem Herbst werden die Entscheidungen über die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung fallen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das alles zusammen ist ein echter Durchbruch in der Familienpolitik. Damit schaffen wir die materiellen Voraussetzungen, mit denen der Familie wieder stärker geholfen wird.Aber wir wissen auch, daß allein materielle Verbesserungen für die Familie nicht ausreichen.
— So ist es! Vielleicht haben Sie von den GRÜNEN dafür kein so großes Verständnis,
aber es kommt ja alles wieder. Bei Ihrer geistigen Rotation kann ich mir vorstellen, daß Sie in Ihrer Programmatik uns durchaus noch ein paar Punkte stehlen und noch zu den profundesten Vertretern der Familie werden.
Wir werden das Vergnügen allerdings leider nicht mehr mit Ihnen erleben.
Die Familie braucht ein neues gesellschaftliches Ansehen. Wir müssen in allen Bereichen der Politik dafür sorgen, daß wir dem verstärkt Rechnung tragen. Wir schaffen damit nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit; wir stärken auch die Grundlagen und sichern die Zukunft unseres Gemeinwesens.Meine Damen und Herren, wer heute über Arbeitslosigkeit spricht und kritisiert, daß es uns in wenigen Monaten nicht gelungen ist, von der viel zu hohen Zahl von über 2 Millionen schneller herunterzukommen,
muß sich über die Ursachen dieser Arbeitslosigkeit klar werden.
Das hängt mit der ausufernden Staatstätigkeit zusammen, die Sie zu verantworten haben.
Das hängt mit dem Rückgang der Investitionskraft der öffentlichen Haushalte zusammen, mit dem Rückgang der privaten Investitionstätigkeit, mit der Erosion des Eigenkapitals, mit der Ertragsschwäche der Betriebe, mit der ganzen wirtschafts- und unternehmerfeindlichen Haltung, die die SPD über ein Jahrzehnt eingenommen hat. Das hängt mit einer technologiefeindlichen Haltung zusammen, mit technologischen Lücken, mit einer Vielzahl administrativer Investitionshemmnisse, das hängt auch mit einer undifferenzierten Lohnpolitik zusammen und nicht zuletzt mit einem Bildungssystem, das zu einem beträchtlichen Teil an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes vorbei die Ausbildung unserer Jugend betrieben hat.
Diese über ein Jahrzehnt währenden strukturellen Verwerfungen unserer Gesellschaft und Wirtschaft können nicht in ein oder zwei Jahren abgebaut werden. Hier brauchen wir einen langen Atem, um wieder jenes Gleichgewicht herzustellen, das es der Volkswirtschaft ermöglicht, genügend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, nachdem Arbeitsplätze durch eine falsche Rahmenpolitik vernichtet worden sind.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5887
Dr. WaigelMeine Damen und Herren, wer angesichts dieser Vorgeschichte von uns verlangt, in 24 Monaten die Beschäftigungspolitik umfassend ändern zu können, der muß sich jede Kompetenz in Beschäftigungsfragen absprechen lassen. Es stellen sich für uns ernste Fragen. Wir müssen uns die Frage stellen, ob eigentlich die Politik der letzten Jahre die älteren Arbeitnehmer, die jugendlichen Arbeitsplatzsuchenden ohne abgeschlossene Ausbildung, die Schwerbehinderten, die Teilzeitarbeit suchenden Mütter wirklich berücksichtigt hat. Ist unsere Arbeitswelt nicht so gestaltet, daß sie zwar die Arbeitsplatzbesitzer in jeder Hinsicht schützt, den Arbeitsplatzsuchenden aber den Zugang durch manche Schutzrechte verwehrt, die sich letztlich gegen den kehren, der arbeitslos ist?
Wie wollen wir angesichts des ganzen wirtschaftspolitischen Umfeldes, das Sozialdemokraten und leider auch GRÜNE geschaffen haben, junge Menschen ermuntern, sich eine selbständige Existenz aufzubauen, wenn die Risiken und Belastungen einer selbständigen Tätigkeit unverhältnismäßig groß sind im Vergleich zu gesicherten Arbeitsplätzen mit vielen Vergünstigungen unseres sozialen Leistungssystems?Wie wollen wir den Anforderungen des Strukturwandels nachkommen, wenn unser Arbeitsmarkt zu unflexibel, zu immobil ist und unsere Lohnstruktur nur wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Bedingungen der Branchen und der Regionen nimmt? Was hat ein Arbeitsloser von einem Kündigungsschutz, wenn er keinen Arbeitsplatz hat? Wie können wir jemandem Schutzrechte wegnehmen, die er gar nicht besitzt? Das sind ernste Fragen, die wir uns stellen müssen und die auch Norbert Blüm mit seinem Beschäftigungsgesetzentwurf angeht, den wir wirklich miteinander diskutieren sollten und der ein erster Ansatz ist, um mehr Flexibilität, mehr Möglichkeiten in den Arbeitsmarkt wieder hineinzubringen.
Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich schafft keine neuen Arbeitsplätze. Sie führt zu verstärkten Rationalisierungsinvestitionen und kann damit Arbeitsplätze gefährden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lutz?
Nein.
Gilt das für den Rest Ihrer Rede?
Ja.Die Finanzkraft der kleinen und gerade der mittleren Unternehmen, in denen das kostensenkende Rationalisierungspotential relativ gering ist, würdedadurch erheblich getroffen. Arbeitszeitverkürzung kann zusammen mit vielen anderen Komponenten ein Weg zu mehr Beschäftigung sein, aber entscheidend ist die Ausgestaltung, wichtig ist das Tempo der Arbeitszeitverkürzung, und entscheidend ist, daß alle Bemühungen um Arbeitszeitverkürzung im Ergebnis zu mehr Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeitsbedingungen beitragen sollten. Das Beschäftigungsförderungsgesetz weist genau in diese Richtung, und ich hoffe, daß die Ausgestaltung der jüngsten Tarifverträge zu einer solchen flexibleren Arbeitszeitgestaltung genutzt wird.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Ausgabenstruktur des Bundeshaushalts finden sich eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigung und Ausbildung, zur Erleichterung der Umstrukturierung strukturschwacher Regionen, zur Förderung mittelständischer Betriebe, zur Förderung von Forschung und Entwicklung und zur Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur. In diesem Haushalt findet sich eine Reihe von verstärkten Maßnahmen gerade für kleine und mittlere Betriebe. Die mittelständischen Betriebe stellen heute schon 64 % der Arbeitsplätze und 80 % der Ausbildungsplätze. Es ist deswegen nicht mehr als recht und billig, wenn wir mit Existenzgründungsprogrammen, Eigenkapitalhilfeprogrammen eine Unterstützung dieser Betriebe gewährleisten, auch auf den Gebieten Forschung und Entwicklung mehr als bisher tun, die mittelständischen und handwerklichen Betriebe aus Forschung und Innovation nicht ausgrenzen und ihnen über mehr indirekte Förderung die Entscheidung über Forschung, Technik und Entwicklung anheimzugeben.
Genau darauf setzt j a auch die Forschungspolitik von Bundesforschungsminister Schmidhuber — —
— Entschuldigung! Riesenhuber! Aber Sie wissen genau: Auch Schmidhuber ist ein guter Mann, ein sehr guter Mann.
Der Bund macht erhebliche Anstrengungen, um strukturschwachen Branchen bei ihrer Umstellung zu helfen.Meine Damen und Herren, eines geht nicht: Man kann nicht für Werften, für Stahl, für Kohle und für andere Dinge notwendige Ausgleichsmaßnahmen fordern und sich auf der anderen Seite über die Subventionen, die ausgegeben werden, beschweren. Das geht nicht.
Lassen Sie mich hier ein sehr ernstes Wort zur Landwirtschaft sagen. Ich bin eigentlich, Herr Kollege Apel, über die Art und Weise betroffen, wie Sie hier versuchen, die Landwirtschaft gegen andere Gruppierungen auszuspielen.
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Dr. WaigelSie werden damit diesem Thema nicht gerecht. Wir sollten uns auf allen Seiten dieses Hauses vor einem hüten: daß wir Subventionen nur da für gerechtfertigt halten, wo unsere Wählerklientel etwas stärker vertreten ist.
— Nein, nein! Nein, nein! Auch Sie wären um die notwendigen Hilfen für die Landwirtschaft nicht herumgekommen.
Sie wissen doch ganz genau, Herr Kollege Apel, daß auch der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt sich einmal daranmachen wollte, das Problem der EG und ihrer Finanzen in den Griff zu bekommen, und daß er sich zurückgezogen und die Aufgabe nicht gemeistert hat. Sie haben bis zum Jahr 1982 doch nichts Entscheidendes getan, um die Überschußproduktion wirklich abzubauen. Sie haben doch gewußt, wohin es führt, und Sie haben nach dem Motto gehandelt: Nach uns die Sintflut; sollen doch die bereinigen, was wir vorher angestellt haben.
Das ist doch das Problem: daß die Europäische Agrarpolitik auf den Strukturwandel und die Mehrproduktion nicht reagiert hat. Man ließ die Dinge treiben und verzichtete auf die nicht einfachen, aber notwendigen Korrekturen in der Agrarpolitik.Meine Damen und Herren, heute müssen sich Bundesminister Ignaz Kiechle, das Kabinett und unsere Agrarpolitiker für schwierige, unpopuläre Maßnahmen hinstellen, weil wir insgesamt wenigstens das System retten wollen und weil wir mittelfristig die Landwirtschaft wieder dahin bringen wollen, daß ein vernünftiger Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage herrscht und dann auch wieder eine vernünftige Preispolitik betrieben werden kann.
Ende 1983 saß die Gemeinschaft auf rund 900 000 t Butter, knapp 1 Million t Magermilchpuver, 9 Millionen t Getreide und 400 000 t Rindfleisch. All das ist nicht bezahlt, und die Chancen, das auf dem Weltmarkt unterzubringen, sind gering. Darum hat kein Weg mehr an einschneidenden Maßnahmen vorbeigeführt. Nur mit der Einschränkung der Überproduktion eröffnen sich neue Perspektiven für unsere landwirtschaftliche Bevölkerung. Kein vernünftig denkender Mensch kommt eigentlich an der Konsequenz vorbei, daß unsere Bauern diese notwendige, leider viel zu spät vorgenommene Operation aus eigener Kraft allein nicht bewältigen können.
Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit an einen Satz von Wilhelm Röpke; weiß Gott ein Verfechter der freien Marktwirtschaft. Wilhelm Röpke hat gesagt: Am Ende meines Lebens gestehe ich zu, daß meine lebenslange Forderung, auch die Landwirtschaft müsse voll in die Marktwirtschaft überführt werden, nicht verwirklichbar ist. Ich sehe ein, daß wir angesichts der Struktur, der Umstände, der Verzahnung mit der Politik für die Landwirtschaft Sonderregelungen und auch Sonderausgaben durchführen müssen. Das tun wir. Wir lassen die Landwirtschaft nicht im Stich. Wir werden ihr aber natürlich auch immer wieder sagen, wo ihre Freunde sitzen. Bei Ihnen sind sie jedenfalls nicht vorhanden.
Meine Damen und Herren, wir haben die Gemeinschaftsaufgaben aufgestockt. Wir haben hier mehr getan als Sie. Wir haben die Investitionskraft des Bundes verbessert, und wir haben — ich sage nur noch eines — auch die Mittel für den Straßenbau in diesem Haushalt um 150 Millionen DM aufgestockt. Wir haben damit eine gute Quote und können damit die revierfernen, die strukturschwachen Gebiete auch einmal berücksichtigen, die in den letzten 10 bis 15 Jahren nicht genügend berücksichtigt worden sind.
Wir verweisen darauf, daß unsere Politik auch zu einer Entlastung der Kommunen geführt hat. Wie hat denn Ihre Politik in den letzten zehn Jahren ausgesehen? Es gab Gesetzentwürfe, auf denen unten stand: „Kosten: keine". Meine Damen und Herren, das hat zwar dem entsprochen, was das Gesetz fordert, aber im Grunde war es doch eine heimliche Lüge; denn es stand nicht drin, welche Kosten für die Kommunen, welche Kosten für die Länder und welche Kosten für die Betroffenen selber entstanden sind. Wir haben zum erstenmal wieder eine Politik betrieben, bei der wir bei jedem Gesetz an die Länder, an die Kommunen und an die Betroffenen gedacht haben. Das hat zur Rückführung des Defizits gerade bei den Kommunen geführt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, den Kritikern des Leistungsprinzips, auf dem die soziale Marktwirtschaft beruht, kann ich nur sagen: Freiheit, höhere Löhne und soziale Verbesserungen lassen sich weder durch Revolution noch durch Sozialisierung herbeiführen, sondern einzig und allein durch eine Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die Sie nicht wahrhaben wollen. Ich sehe Sie immer nur an den Töpfen der sozialen Sicherung der Volkswirtschaft. Ich sehe Sie aber nicht als Beteiligte, die zum Sozialprodukt etwas Positives beitragen.
— Ich weiß nicht, Herr Fischer, ob Sie mit Schwerarbeit schon in Berührung gekommen sind.
Ich weiß es nicht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5889
Dr. WaigelWenn Sie je mit Schwerarbeit in Verbindung gekommen sind, haben Sie sich jedenfalls relativ früh davon getrennt; sonst würden Sie nicht so dummes politisches Zeug reden.
Die Bundesregierung und diese Koalition haben mit ihrer Finanzpolitik, mit diesem Haushaltsplan ihren Beitrag zur Bewältigung der Wirtschaftskrise geleistet.
Sie hat damit auch einen notwendigen und unabdingbaren Beitrag zur geistigen und politischen Führung in unserem Gemeinwesen geleistet.
Wir brauchen die Zusammenarbeit der Finanz- und Wirtschaftspolitik mit den Arbeitnehmern, mit den Arbeitgebern und mit der Bundesbank. Wir brauchen aber auch die Aktivierung jener Werte, auf denen diese Freiheit, dieser Wohlstand und diese soziale Sicherheit beruhen. Das sind Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft, Mut, Fleiß und Sparsamkeit.
Auch Tapferkeit gehört zu den Sekundärtugenden, ohne die ein Gemeinwesen nicht existieren kann.
Es waren tapfere Leute, die der Diktatur widerstanden. Es sind auch heute noch tapfere Leute, die den Ansätzen von beginnender Unfreiheit bei uns widerstehen, Ansätzen, die auch bei Ihnen zu spüren sind.
Die SPD — das hat die Rede des Kollegen Apel bewiesen — besitzt keine finanz- und wirtschaftspolitische Kompetenz. Das, was sich Herr Glotz erhofft, ist bis heute nicht sichtbar geworden. Die Grünen sind ausschließlich Sammler des Protestpotentials ohne jeden Beitrag zur Lösung der Probleme.
Allein diese Koalition besitzt die politische Kraft, die Zukunft zu gestalten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Verheyen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnenfür den Beifall, den Sie mir schon im voraus haben zukommen lassen.
Als diese Bundesregierung vor rund zwei Jahren ihr Amt antrat, hatte sie zwei Nachrichten für das Volk parat, eine gute und eine schlechte. Die gute Nachricht hieß: Mit der Gesundung der Staatsfinanzen wird ein neuer Aufschwung, eine neue dynamische Wachstumsphase eingeleitet, die eine Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und Wohlstand für alle bringen wird. Die schlechte Nachricht: Hierfür müssen vor allem die sozial Schwachen, also Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und andere einkommensschwache Gruppen, drastische Opfer bringen.Heute nun wendet sich der Bundesfinanzminister erneut mit zwei Nachrichten an die Bevölkerung. Die gute Nachricht heißt heute, daß die Neuverschuldung des Bundes erfolgreich reduziert wurde. Die schlechte Nachricht: Es gibt nicht die geringsten Anzeichen dafür, daß die Massenarbeitslosigkeit noch in diesem Jahrzehnt überwunden und die soziale Schlechterstellung gerade der ärmsten Teile der Bevölkerung wieder rückgängig gemacht werden kann.Die Einsparungen im Sozialbereich der Jahre 1982 bis 1984 belaufen sich für Bundeshaushalt und abhängige Sozialversicherungen auf weit mehr als 100 Milliarden DM. An Opfern für Ihre Aufschwungpolitik hat es also nicht gefehlt.
Dennoch liegt nach Berechnungen des Ifo-Instituts die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen heute bei mehr als 3,5 Millionen.
Denn über eine Million, Herr Kollege, haben schon resigniert und melden sich bei den Arbeitsämtern schon gar nicht mehr. Über 600 000 Arbeitslose zählen mittlerweile zu den Dauerarbeitslosen, die länger als ein Jahr vergeblich Arbeit suchen.Das wirtschaftspolitische Credo dieser Bundesregierung besagt, daß die Rückführung der Neuverschuldung die Investitionstätigkeit des privaten Sektors belebt und damit den Aufschwung einleitet. Selbst wenn es so wäre — was wir bezweifeln —: Wo bleibt eine plausible Perspektive, wie die Massenarbeitslosigkeit innerhalb eines überschaubaren Zeitraums abzubauen ist? Bei einer erwarteten Zunahme der Arbeitsproduktivität von jährlich 2 % wäre eine durchschnittliche Wachstumsrate des Sozialprodukts von mindestens 6 % erforderlich, um bis 1990 einen nennenswerten Rückgang der Arbeitslosigkeit zu erreichen.Nach Überzeugung der GRÜNEN führt dieses Konzept des Wachstums zu einer weiteren Verschärfung des Problems. Unter realistischen Annahmen errechnet sich bis 1990 eine weitere drasti-
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sche Steigerung der Arbeitslosenzahlen. Arbeitslosigkeit und Abbau sozialer Sicherungen ergeben dann Zustände, die wir nur als Amerikanisierung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnen können.
In den USA Ronald Reagans ist es derzeit möglich, daß der größte Aufschwung der Nachkriegsgeschichte mit dem größten Anwachsen der Armut verbunden ist.
Ein solcher Aufschwung ist in Wirklichkeit ein gesellschaftlicher Abstieg und ein historischer Rückschritt.Die GRÜNEN haben angesichts des zentralen Problems der Massenarbeitslosigkeit Arbeitszeitverkürzungen befürwortet, weil dies der einzige Weg ist, mit den Produktivitätszuwächsen vernünftig umzugehen.
Der Bundesregierung dagegen fällt zu diesem Thema nichts anderes ein als die blinde Vertretung von Unternehmerinteressen.
Die Bundesregierung rühmt sich, ihre Sparpolitik habe, wie sie es nennt, neue finanzpolitische Handlungsspielräume geschaffen. Wir GRÜNE fragen: wofür eigentlich? Für die geplanten Steuergeschenke an Besserverdienende im Rahmen der angekündigten Einkommensteuerreform, die Sie fälschlich auch noch als Familienförderung bezeichnen? Oder für die Förderung von Modernisierung und Rationalisierung, einzig darauf ausgerichtet, auf den Weltmärkten erfolgreich zu konkurrieren, und zwar ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen?
— Auch auf die sozialen Folgen, Herr Kollege Friedmann, in der Dritten Welt? — Oder für die Verkabelung und das Kabelfernsehen, mit der Folge, daß der Vereinzelung der Menschen Vorschub geleistet wird ohne jede wirtschaftliche Perspektive? Oder für die Kommerzialisierung der Gentechnologie, für die Sie im Verein mit der SPD Märkte der Zukunft erobern wollen, ohne vorab ausreichende Sicherheitsstandards festzuschreiben? Oder für eine Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennelemente, deren Gefährlichkeit sich derzeit ja vor aller Augen zeigt, wenn man die Tatsache bedenkt, daß der französische Atomfrachter vor der belgischen Küste gestern zerbrochen ist?Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung bietet Wirtschaftswachstum aber nicht nur als Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit an. Auch für den Umweltschutz erklären Sie es zur Voraussetzung. Nur bei ausreichendem Wachstum — so lautet das Argument — könnten wir uns Umweltschutz überhaupt leisten. Für diese Regierung sind Umweltschutzmaßnahmen nichts anderes als ein Kostenfaktor, eine negative Größe. Der Haushaltsansatz für Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes erreichte 1984 gerade die Größenordnung von 0,4 % des Gesamtetats.In keinem Verhältnis dazu steht das Ausmaß der Zerstörung, das die natürlichen Grundlagen unseres Lebens — Luft, Wasser und Boden — ergriffen hat. Bereits heute sind mehr als 50 % unserer Wälder unrettbar verloren. Die rasche Zerstörung greift derzeit in großem Umfang auch auf andere Pflanzen über, so daß wir heute schon von Natursterben statt von Waldsterben sprechen müßten. Schäden in der Landwirtschaft sind bereits heute absehbar. Die Fruchtbarkeit unserer Ackerböden geht zurück. In zunehmendem Maße leiden Menschen unter Umweltkrankheiten: Allergien, Pseudo-Krupp und chronische Lungenkrankheiten sowie Leber- und Nierenschäden nehmen in bedrohlichem Maße zu.Wie wollen Sie eigentlich Menschen, die an umweltbedingtem Krebs erkrankt sind, Herr Stoltenberg, Ihre Sparpolitik in Sachen Umweltfürsorge plausibel machen?
Daß der Krebs heute schon die zweithäufigste Todesursache bei Kindern ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Grad der Vergiftung der Umwelt.
Hier helfen auch die beliebten Ausreden der Politiker nichts, die die Zunahme des Krebses gerne auf das Rauchen und auf den Alterskrebs zurückführen. Gerade die letzten Monate haben diese Problematik für alle Zeitungsleser unübersehbar gemacht. Meldungen über Dioxinverseuchungen reißen nicht ab. Keine Region und keine Gegend der Bundesrepublik ist vor Krebsgiften sicher. In Kindergärten und Wohnungen, in Stadtbezirken wie in Erholungsgebieten, in der Kleidung und in der Nahrung haben Wissenschaftler lebensgefährliche Giftkonzentrationen aufgespürt.Giftmülldeponien wurden sogar als Baugrundstücke verkauft, wie Beispiele in Dortmund oder in meiner Heimatstadt Bielefeld belegen.
Neben den mangelhaft abgesicherten Giftmülldeponien gefährden zirka 50 000 Altmüllplätze das Trinkwasser. Hinzu kommen zahlreiche Müllverbrennungsanlagen, die als Giftbeseitigungsanlagen konstruiert waren, sich aber heute als Giftverbreitungsanlagen erwiesen haben.Trotz dieser Hypothek geht die chemische Produktion immer neuer, zum Teil noch völlig unbekannter Gifte weiter. Hinzu kommt der Atommüll des angeblich sauberen Atomstroms, für den es bis heute noch keine sichere Entsorgung gibt.Die Bundesregierung macht — und das ist das eigentliche Problem — keinerlei Anstalten — sie nimmt nur Ankündigungen vor —, dieses gigantische Giftproblem in den Griff zu bekommen. Sie ist
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weder gewillt, die Produktion von weiteren Giften zu stoppen, noch bereit, ein umfassendes Entsorgungsprogramm durchzuführen, das weiteren Schaden von der Bevölkerung abwenden könnte.
Kurz und schlecht: Diese Bundesregierung ist dabei, den kommenden Generationen eine Gifthypothek unvorstellbaren Ausmaßes zu hinterlassen.
Deshalb meinen wir, es muß schnell, ja, sehr schnell gehandelt werden. Daher fordern wir Sofortmaßnahmen zur umfassenden Entgiftung der Umwelt. Die wichtigsten möchte ich Ihnen hier kurz vorstellen:Erstens. Maßnahmen zur Entgiftung der Luft und zur Rettung des Waldes: Unverzüglich und nicht erst in den 90er Jahren ist mit dem Bau von Entschwefelungs- und Entstickungsanlagen für alle Kohlekraftwerke zu beginnen. Parallel dazu muß eine rationellere Energieverwendung, z. B. durch Wärmedämmung und Nutzung der Abwärme, gefördert werden. Biogas, Solarzellen und Windenergie sind schnellstmöglich weiterzuentwickeln.Außerdem geht es um eine drastische Verringerung der Autoabgase: durch Tempolimit, und zwar auf Autobahnen 100 km/h und auf Landstraßen 80 km/h, durch den Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme und durch die Einführung des Abgaskatalysators für alle Kraftfahrzeuge, nicht nur für Neuwagen.
Zweitens. Maßnahmen zur Lösung der Giftmüllprobleme: Wir halten ein Sonderprogramm des Bundes zur Sanierung alter Giftmülldeponien und zur Einführung neuer Müllentsorgungsmethoden für dringend erforderlich.
Hierzu gehören die bundesweite Einführung der Müllvorsortierung nach giftigen und ungiftigen Bestandteilen sowie die Förderung des Recycling, insbesondere bei Papier, Glas und Metallen. Außerdem gehört hierzu die Sanierung der mehr als 50 000 Altmüllanlagen und Giftmülldeponien. Schließlich treten wir für eine Verstaatlichung des gesamten Bereichs der Giftmüllentsorgung ein. Denn die Erfahrungen haben gezeigt, daß die Durchführung derart gefährlicher Aufgaben nicht von privaten Wirtschaftlichkeitserwägungen abhängig gemacht werden darf.
Drittens. Wir fordern ein Sonderprogramm zur Umstellung der Landwirtschaft auf biologischen Landbau. Es ist durch Umfragen zweifelsfrei erwiesen, daß die Mehrheit der Verbraucher durchausbereit ist, für höherwertige, biologisch angebaute Nahrungsmittel höhere Preise zu bezahlen.
Auch gibt es viele Landwirte, die ihren Betrieb gerne auf biologischen Landbau umstellen würden, wenn sie in der schwierigen Übergangsphase finanzielle Hilfestellung erhalten könnten.
Angesichts der Überlastung der landwirtschaftlichen Böden mit chemischen Stoffen und der dadurch drohenden Gefährdung des Trinkwassers ist ein solches Programm mehr als überfällig.
Viertens. Wir fordern eine bundesweite Informationskampagne über Gifte in Haushalt und Wohnung.
Jeder von uns muß täglich mit chemischen Stoffen umgehen, deren Gefährlichkeit kaum jemand einschätzen kann. Die jüngsten Skandale im Zusammenhang mit Dioxin und Formaldehyd haben diese Tatsache sehr eindrucksvoll belegt. Deshalb fordern wir ein 100-Millionen-DM-Programm, das den Verbraucherschutzverbänden für eine bundesweite Aufklärung zur Verfügung gestellt wird. Nur hier können wir sicher sein — im Gegensatz zur Bundesregierung —, daß Verbraucheraufklärung nicht zur Verbraucherberuhigung mißbraucht wird.Fünftens. Wir fordern ein Sonderprogramm zur Untersuchung giftiger Stoffe am Arbeitsplatz.
Gerade Arbeitnehmer sind in besonders hohem Maße den Giften in besonders hohen Konzentrationen ausgesetzt. Hier besteht noch ein großer Forschungsbedarf, da viele verdächtige Stoffe in ihrer Wirkungsweise nur ungenügend untersucht sind.In diesem Zusammenhang begrüßen wir das von den Gewerkschaften geforderte Forschungsprogramm zur Untersuchung krebserzeugender Stoffe. Gerade diese Substanzen sind besonders tückisch, da sich ihre Krankheitswirkungen oft erst nach zehn oder mehr Jahren feststellen lassen.
Sechstens fordern wir ein Sonderprogramm „sanfte Chemie". Wir meinen, daß die Zeit reif ist für einen Einstieg in den Umbau der chemischen Industrie.
Die Chemiekonzerne zählen zu den größten und wachstumsintensivsten Betrieben in der Bundesrepublik. Somit geht es hier um einen Kernbereich unserer Industriegesellschaft, dessen Umbau ebenso notwendig wie schwierig ist.
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Niemand kann zur Zeit sämtliche hierfür notwendigen Schritte exakt vorhersagen. Dazu ist dieses Problem zu vielschichtig. Techniker, Wirtschaftler, Gewerkschaftler und Politiker müssen hier mit den Beschäftigten der Chemieindustrie Hand in Hand arbeiten und nach neuen Wegen suchen. Das von uns geforderte Programm soll es ermöglichen, daß in jedem Chemiebetrieb ein Konversionskomitee finanziert werden kann, das eigenständig Forschungsmittel vergeben und Modellversuche zur Umstellung auf umweltverträgliche Produktionen durchführen kann.
Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas zu dem bekannten Argument sagen, derartige Sofortmaßnahmen seien nicht zu bezahlen. Wir sind davon überzeugt, daß dieses Programm auch bei einer strengen Sparpolitik relativ einfach zu finanzieren wäre.
— Ich komme darauf. — Die Maßnahmen zum Stopp des Waldsterbens würden bis 1990 ungefähr 20 Milliarden DM kosten. Davon können in dem entsprechenden Zeitraum allein 14 Milliarden DM durch den Abschied von den Verkabelungsplänen dieser Regierung aufgebracht werden.
Die restliche Summe könnte aus einer Schadstoffabgabe der Energiewirtschaft finanziert werden, die dazu dient, daß der Umstellungsprozeß noch schneller vorangeht.
Die politische Alternative lautet für uns also: Rettung des Waldes statt Verkabelung der Republik.
In die Maßnahmen zur Lösung der Giftmüllprobleme sollen nach unseren Vorstellungen vom Bund jährlich 1 Milliarden DM fließen, zusätzlich zu den Mitteln, die von der Chemieindustrie aufgebracht werden müssen.
Das wären bis 1990 für den Bundeshaushalt 6 Milliarden DM. Allein 7 Milliarden DM steckt die Bundesregierung in demselben Zeitraum in die Atomtechnologie.Hier lautet der politische Entscheidungsspielraum: Giftmüllentsorgung oder Produktion weiteren zusätzlichen Atommülls.Für die Maßnahmen zur Umstellung auf biologischen Landbau sollen jährlich 2 Milliarden DM vom Bund eingestellt werden. Diese können aus einem Teil jener Zusatzsubventionen finanziert werden, welche diese Bundesregierung erst kürzlich für die Landwirtschaft bereitgestellt hat;
denn diese Mittel kommen zu mehr als der Hälfte nur den Großbauern und den industriell produzierenden Betrieben zugute.
Wir wollen, daß ein Teil dieser Ausgaben den klein- und mittelbäuerlichen Betrieben zugute kommt. Der andere Teil soll der Umstellung auf biologischen Landbau dienen.Unsere Alternative lautet also: Umstellung auf biologischen Landbau statt weitere Subventionierung der Großbauern!
Für das Sonderprogramm „sanfte Chemie" fordern wir die Bereitstellung von jährlich 2 Milliarden DM.
Die Subventionen für den Ausbau von Flugtechnologien, für Airbus, Spacelab und bemannte Raumstation verschlingen in den nächsten Jahren fast 10 Milliarden DM. Diese Mittel können von den interessierten Industrien selbst aufgebracht werden.
Gegen die bemannte Raumstation hat sich sogar der Forschungsminister persönlich ausgesprochen.
Wir empfinden es als einen riesigen Skandal, daß diese 2 Milliarden DM nur deshalb ausgegeben werden, weil sich Herr Kohl von seinem Freund Ronald Reagan hat beschwatzen lassen, ein im Grunde amerikanisches Programm mitzufinanzieren.
Sie müssen sich vorstellen, daß diese 2 Milliarden DM viel mehr als den Betrag ausmachen, den Sie beim Mutterschaftsgeld gekürzt haben.
Für uns lautet die Alternative auf jeden Fall: statt überflüssiger und kostspieliger Raumfahrt Entgiftung der Schlüsselindustrie Chemie.
Schließlich würde eine Informationskampagne über Gifte im Haushalt rund 100 Millionen DM kosten, das Sonderprogramm zur Untersuchung giftiger Stoffe am Arbeitsplatz 300 Millionen DM. Allein der Verzicht auf die geplante Volkszählung würde uns 371 Millionen DM ersparen. Weitere 15 Millionen DM könnte man aus der Öffentlichkeitsarbeit der Ministerien abzweigen; denn mit diesen Titeln wird j a bekanntermaßen alles andere gemacht als eine sachgerechte Informierung der Öffentlichkeit.
Unsere Alternative lautet hier: Volksaufklärung statt Volksauszählung.
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Was wir zeigen wollen, ist nichts anderes als die Tatsache, daß Alternativen möglich sind. Auch zu den Problemen sozialer Ungerechtigkeit und Arbeitslosigkeit könnten wir hier Alternativen darstellen, wenn wir dazu die Zeit hätten.Zeigen Sie endlich Mut und Bereitschaft zu einer grundlegend anderen Politik, die der Erhaltung der sozialen Substanz und der Natur absolute Priorität einräumt. Machen Sie eine Politik, die die Langzeitfolgen der Industrieproduktion zum zentralen Kriterium macht, und wälzen Sie die Entsorgungs- und Deponieprobleme nicht auf kommende Generationen ab.Wir haben nicht die Hoffnung, daß diese Bundesregierung zu einer so grundsätzlich neuen Orientierung bereit ist. Im Gegenteil: Sie gibt dem Druck nach, der von bestimmten Industrieinteressen auf sie ausgeübt wird, wie die Beispiele Buschhaus und Abgaskatalysator zur Genüge gezeigt haben.
Deshalb begrüßen wir es auch, daß die Umweltschutzverbände zum Boykott von Neuwagen aufrufen wollen, solange die Autoindustrie keine Abgaskatalysatoren einbauen will.
Genauso wichtig sind die für den Herbst geplanten großen Demonstrationen gegen das Waldsterben; denn der wachsende Widerstand in der Bevölkerung ist die einzig realistische Hoffnung für eine Änderung der Politik dieser Regierung.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Haushaltsentwurf 1985 wird der im Herbst 1982 eingeschlagene Weg der Gesundung der Staatsfinanzen und der schrittweisen Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft konsequent fortgesetzt.
Wenn ich den Kollegen Apel richtig verstanden habe, hat er sich als förderndes Mitglied derjenigen Institutionen angemeldet, die diesen Konsolidierungskurs konsequent und noch besser als bisher zum Erfolg führen wollen. Wir sollten für jede Unterstützung dankbar sein; denn hier brauchen wir noch einen langen Atem und Geschlossenheit. Auch wenn Sie, Herr Kollege Apel, künftiger Oppositionsführer in Berlin sind, werde ich dabei nie von einer Quantité négligeable sprechen.
Bei der Konsolidierungspolitik wird mühsam Stein auf Stein gesetzt. Die Erledigung dieser Aufgabe bereitet mehr Last als Lust. Und doch haben die finanzpolitischen Entscheidungen der Koalition aus den Jahren 1982, 1983 und 1984 den Haushalt wieder auf ein solides Fundament stellen können.
Begleitet von der Kritik der Opposition und verständlicherweise der Betroffenen drängt sich hier und da schon wieder der Wunsch auf, den unbequemen Rotstift aus der Hand zu legen und wieder zum freudespendenden Füllhorn zu greifen.
Wir haben aber allen Anlaß, uns zur Konsolidierungspolitik zu bekennen und ihr auch weiter Priorität zu verschaffen.
Meine Damen und Herren, dieses Schmuckstück unserer Politik ist sicher auch nicht ohne Makel. Aber mir scheint, wir haben hier einen Stein, aus dem man Funken schlagen kann, auch Funken der Begeisterung.
Es geht ja schließlich um mehr als nur um den Budgetausgleich. Letztlich hat die Konsolidierung, recht verstanden, eine ordnungspolitische Dimension. Die ordnungspolitische Aufgabenstellung lautet doch wohl, den Anteil des Staates an der von der Volkswirtschaft erbrachten Gesamtleistung wieder auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen. Es gilt sorgfältig abzuwägen, wo die Grenzen des staatlichen Fürsorgeprinzips mit ausgeuferten Ansprüchen an den Staat kollidieren und wo ein größeres Maß an Selbsthilfe nicht nur zugemutet werden kann, sondern im Sinne von mehr Eigenverantwortung, von mehr Liberalität auch zugemutet werden muß. Ob uns das gelingt, läßt sich an der Staatsquote messen.Bisher haben wir trotz der Anfangserfolge bei der Konsolidierung noch keine nachhaltige Absenkung der Staatsquote bewerkstelligen können. Deshalb dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. „Sparsamkeit ist eine gute Einnahme", sagte schon Cicero.Der Haushaltsentwurf 1985 und die mittelfristige Finanzplanung basieren auf realistischen Annahmen. Ich will deshalb jetzt auch nicht darüber spekulieren, in welchem Maße der Streik bei der Auseinandersetzung über die 35-Stunden-Woche die konjunkturelle Entwicklung beeinträchtigt hat. Ich will auch dahingestellt sein lassen, ob die durchgesetzten Tarifabschlüsse die Arbeitsmarktsituation tatsächlich begünstigt oder erschwert haben. Allerdings sollten wir darüber einig sein, daß die Form der Auseinandersetzung wahrlich nicht Modellcharakter haben sollte. Ideologisch und dogmatisch geführte Auseinandersetzungen sind in der Politik genauso unbekömmlich wie im Tarifstreit.
Da es doch letztlich um die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geht, sind Vernunft und Einigungswille gefragt und immer wieder Vernunft. Möge das Verhalten also abschrecken und keine Nachahmung finden.
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5894 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
HoppeOffene Fragen und zusätzliche Belastungen liefert aber nicht nur die noch ausstehende Tarifrunde im öffentlichen Dienst, sondern auch Europa. Der Jubel in Fontainebleau hat seinen finanziellen Ausdruck noch nicht gefunden. Die Stagnation aber kann nur überwunden werden, wenn der Kollaps vermieden wird. Dazu werden wir uns sicher noch in diesem Jahr beim Nachtrag für Europa wiedersehen.Schon jetzt erkennbar sind die Mehrkosten für die verabredete Erhöhung der Eigenmittel der EG aus der Mehrwertsteuer von derzeit 1 % auf 1,4 % ab 1986 und nach dem Eintritt von Spanien und Portugal von 1988 an auf 1,6 %. Wir wissen, daß die Anhebung der Grenze jeweils um 0,1 Prozentpunkte 1 Milliarde DM Steuermindereinnahmen für den Bund bedeuten.Darüber hinaus haben die getroffenen Entscheidungen für die Landwirtschaft, wie berechtigt sie auch immer gewesen sein mögen, doch das Mißverständnis entstehen lassen, daß man nur richtig gegenhalten muß, um auch in der Konsolidierungsphase für einzelne Gruppen etwas nach Hause holen zu können.
Dabei können wir es uns wahrlich nicht leisten, schon wieder mit Bastelarbeiten an neuen Forderungskatalogen zu beginnen. Wir sparen j a schließlich nicht aus Jux und Tollerei, und es ist deshalb schon verwunderlich, daß das Wort vom Totsparen selbst in den Reihen der Koalition wieder Einzug hält.
Nein, Sparen ist nicht Selbstzweck. Wir schaffen dadurch nur mühsam den Handlungsspielraum, um den Würgegriff der heimlichen Steuererhöhungen langsam lockern zu können.
Die Grenzsteuerbelastung erdrosselt schließlich den Leistungswillen. Aber Steuersenkung und Familienlastenausgleich müssen in den durch Einsparung finanzierbaren Grenzen gehalten werden. Eine Finanzierung über eine neue Verschuldung ist ausgeschlossen.
Diese Maßnahmen sind andererseits als ordnungspolitische Klarstellung zur Erneuerung und Belebung der Marktwirtschaft unumgänglich. Sie gehören ebenso dazu wie künftige Schritte zur Entbürokratisierung und die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Entfaltung wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Energien.Die Opposition setzt hier ihre Kritik an. Ihr ist die Haushaltspolitik zu statisch, sie vermißt gestaltende Maßnahmen. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, nicht zuletzt der Jugendarbeitslosigkeit, und die Ausbildungsproblematik liefern die Stichworte für die Kritik und die Forderung nach Beschäftigungsprogrammen.
Die Not der zwei Millionen Arbeitslosen kann in der Tat niemanden unberührt lassen. Die Gewährleistung einer qualifizierten Berufsausbildung ist für die Chancen der Jugendlichen gleichermaßen wichtig wie für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft.
Darum ist es in der Tat die Pflicht aller verantwortungsbewußten Kräfte, in einer Phase des industriellen Umbruchs nach Lösungen zu suchen. Der kritische Dialog ist sicher geboten, und auch durch den politischen Meinungsstreit können wir zur bestmöglichen Lösung kommen. Aber ein wenig mehr Selbstkritik und etwas weniger Selbstgerechtigkeit sollten doch am Anfang dieser Diskussion stehen. Die Probleme und der Jammer am Arbeitsmarkt sind nun wahrlich nicht wie eine Sturzgeburt über uns gekommen. Wenn es denn Fehler und Mängel zu registrieren gibt, dann haben wir sie doch wohl alle gemeinsam zu verantworten.
Auch angesichts der gemeinsam gemachten Erfahrungen der Vergangenheit wirkt es wenig überzeugend, wenn die alten Rezepte neu aufpoliert wieder auf den Markt kommen.
Peinlich ist in diesem Zusammenhang immer wieder das Schlagwort von der sozialen Demontage. Auch auf diesem Feld waren in der Vergangenheit kritische Ansätze vorhanden, die politischen Konsequenzen wurden aber nie gezogen.
Ich darf in diesem Zusammenhang an die bohrenden Fragen erinnern, die Hans Matthöfer bei seinem Ausscheiden aus dem Amt als Finanzminister sich und der Öffentlichkeit gestellt hat.
Er hat damals gefragt — das war im Mai 1982 —:Sind heute Rentenbezieher noch die Unterprivilegierten unserer Gesellschaft, die — weitgehend befreit von Sozialabgaben und direkten Steuern — oft genug neben ihrer bruttoangepaßten Rente weitere Einkünfte kulminieren können? Wie groß müßte eigentlich der Anreiz sein, damit es attraktiv bleibt, sich auch unter schwierigen Bedingungen um eine Arbeit zu bemühen und dann motiviert zu werden, die besten Arbeitsergebnisse zu erzielen?Und er hat weiter gefragt:Und wie hoch ist heute noch das Differential zwischen der Nettoposition eines Facharbeiters nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben und der Nettoposition derer, die soziale Versorgung mit Nebeneinkünften und Nebentätigkeit kombinieren können?
Eine weithin noch zuwenig betrachtete, abergerade in unserer gegenwärtigen Lage viel-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5895Hoppeleicht fatale Folge von Sozialsystemen, die immer mehr Menschen erfassen, ist, daß sie vielleicht diese Menschen davon abhalten, ihre eigenen Kräfte so zur Entfaltung zu bringen, wie es ihnen eigentlich möglich wäre.Meine Damen und Herren, wenn wir heute versuchen, darauf eine Antwort zu geben, dann wirkt doch die Kritik der Opposition etwas fad.
Was nun das „Totsparen" angeht, so hat der Bundesfinanzminister in seiner Einbringungsrede wie schon auf der Pressekonferenz am 14. August die Fakten beim Namen genannt. Der sich aus der Schuldenlast ergebende Zinsdruck wird gleichwohl in der allgemeinen Diskussion immer wieder vernachlässigt, j a, Vergeßlichkeit wird hier geradezu kultiviert. In Wahrheit ist es uns bisher nicht gelungen, den Zinsausgaben Paroli zu bieten, im Gegenteil, der Anstieg der Zinslastquote ist ungebrochen. Im Jahre 1988 rechnen wir mit einem Anschnellen auf über 37 Milliarden DM. Das sind dann über 13 % der nach dem Finanzplan vorgesehenen Gesamtausgaben. Mit Recht hat Herr Stoltenberg darauf hingewiesen, daß von den rund 3 %, um die die Ausgaben von 1986 an steigen sollen, 1 % für die Zinsausgaben draufgeht. Wer bei diesem Zinsdruck und der Schuldenlast immer noch von „Totsparen" redet, der macht sich eigentlich lächerlich.
Meine Damen und Herren, allein der Vergleich der jährlichen Zinsausgaben mit den Mitteln, die den einzelnen Ressorts zur Verfügung stehen, muß jedem den Handlungsbedarf einprügeln. Der Staat kann nicht unbegrenzt Schulden machen.Hier hat die neue Koalition den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, und die erkennbaren Erfolge geben uns recht. Sie basieren auf dem Vertrauen, das in unser Handeln gesetzt wird. Deshalb sage ich an unsere Adresse: Enttäuschen wir es nicht!
Solides Haushalten und Wirtschaften sind Mittel zum Zweck, Voraussetzung und Instrument politischen Gestaltens. Das gilt für die Innen- wie für die Außenpolitik. Die Freien Demokraten werden alles daransetzen, damit auf beiden Feldern Fortschritte erzielt werden. Daß Hans Apel der erste Sprecher der Opposition war, hat in einer gewissen Weise die Haushalts- und Finanzpolitik mit der deutschen Frage nahtlos verbunden. Beides sind wahrlich offene Fragen.
Meine Damen und Herren, die Diskussion über den Honecker-Besuch vor und nach der Absage möchte ich nicht verlängern. Wer das erlebt hat, kann sich wirklich nur mit Eugen Roth helfen, der in einer Goethe-Betrachtung geschrieben hat:Nur ungern leuchten wir hinein in die Affäre Frau von Stein,wo sich die Welt den Kopf zerbricht: Hat er nun oder hat er nicht?
Hier lautete die quälende Frage „Kommt er nun, oder kommt er nicht?"Die Fixierung auf den Termin ist nun obsolet. Entscheidend aber ist, meine Damen und Herren, daß der Wille, den Dialog fortzusetzen, hüben und drüben fortbesteht und daß aufgeschoben nicht aufgehoben ist.
Die Enttäuschung über das reichlich konfuse Theater um Honeckers Beinahe-Besuch sollte aber nicht vergessen machen, daß beide deutschen Staaten heute so etwas wie ein wärmender Hort der Hoffnung inmitten eines kalten Ost-West-Gegensatzes sind.Um in der Deutschland- und Außenpolitik auch künftig nachhaltig Einfluß nehmen zu können, brauchen wir weiterhin innenpolitisch stabile Verhältnisse. Die Finanz- und Wirtschaftspolitik bestimmt aber nicht nur hier den Wirkungsgrad. Wir brauchen insgesamt neuen Schwung, um als gestaltende Kraft im internationalen Wettbewerb akzeptiert zu werden. Das geht in hohem Maße an die Adresse der Schulen, Universitäten und Unternehmen. Die Herausforderung, die mit der neuen technologischen Revolution zu bestehen ist, läßt sich nicht durch staatliche Direktive meistern.
Der Staat muß allerdings die politischen Rahmenbedingungen verbessern, damit sich wirtschaftliche und wissenschaftliche Talente und Energien entfalten können.
Bei der Umsetzung in die Tagespolitik sind Realitätssinn, Dialogfähigkeit und Kompromißbereitschaft gefragt und unverzichtbar. Es darf kein neuer Fanatismus entstehen, der demokratische Regeln nicht mehr gelten lassen will, weil die Ergebnisse ihm zuwider sind. Die Auseinandersetzungen darüber müssen offensiv, aber auch fair geführt werden, denn für die Sache der Demokratie können wir erfolgreich nicht mit Totschlagargumenten werben.
Im übrigen ist es nicht die Aggressivität der Gegner, die am Anfang eines politischen Niedergangs steht, sondern immer die Schwäche der eigenen Überzeugung.Meine Damen und Herren, für die anstehenden Haushaltsberatungen — und warum nur dort? — sollten wir vielleicht eine Lebensregel beherzigen, die mir auch heute noch durchaus brauchbar erscheint: Der Blick zurück im Zorn kann einem auf5896 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984Hoppedie Galle schlagen, der Blick voraus in Zuversicht erhöht das Wohlbehagen.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Aussprache wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung, die Aussprache über die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b, Haushaltsgesetz 1985 und Finanzplan des Bundes 1984 bis 1988, fort.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Neben der Gefährdung der Umwelt, neben der Arbeitslosigkeit und Ungewißheiten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit gibt es in diesem Augenblick nichts, was viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger so interessiert wie die rapide verschlechterte weltpolitische Lage, nun auch ganz akut in ihrer Auswirkung auf das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten. Es gibt Grund zu ernster Besorgnis, und zwar unabhängig davon, ob wir hier im Bundestag zur Mehrheit oder zur Minderheit gehören. Aber es gibt auch die alte, immer noch einmal bestätigte Erfahrung, daß einem dauerhafter Erfolg nicht beschieden ist, wenn man einander widersprechende Ziele verfolgt.Auch der Bundeskanzler hat erfahren müssen, daß man auf einmal viel Durcheinander haben kann. Über kritische Stimmen dürfte er, der Bundeskanzler, sich eigentlich nicht wundern; denn man kann doch nicht gut einen Besuch erst zerreden lassen, bevor er überhaupt stattgefunden hat,
bedauern, daß er nicht stattfindet und gleichzeitig zweckoptimistisch so tun, als stehe gleichwohl alles zum besten, die Absage auffangen wollen, indem man auf einen sicher bevorstehenden osteuropäischen Besuch verweist, um dessen Absage dann dafür ins Feld zu führen, daß man die sowjetische Politik schon immer richtig eingeschätzt habe.
Realistische Klarheit mußte ergeben, daß wir von den Folgen des neuen Kalten Krieges zwischen den Weltmächten nicht verschont bleiben würden.Meine Damen und Herren, auf einem solchen Feld Recht zu bekommen, macht keinen Spaß. Ich hätte lieber gesehen, wir hätten hier nicht Recht bekommen. Aber bei allem Verständnis für Unbekümmertheit und fröhliches Gemüt: Daß auf dem Gebiet der Deutschlandpolitik und der Ostpolitik nichts kaputtgegangen sei, wird man ernsthaft nicht vorbringen können.
Und daß sich die Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen erneut gerade auch zu Lasten der Deutschen auswirkt, läßt sich schlechterdings nicht bestreiten. Die deutsche Politik hat es mit einem Rückschlag zu tun; es hat keinen Sinn, das wegreden zu wollen.Doch ich denke nicht daran, hier einseitige Schuldzuweisungen vorzunehmen.
Wenn es bei Regelungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland vorangehen soll, sind mindestens zwei Seiten gefordert, in Wirklichkeit noch mehr. Doch aus unserem parlamentarischen Auftrag ergibt sich zwingend, auch darüber offen zu reden, ob auf unserer, der bundesrepublikanischen, Seite alles so gelaufen ist, wie es hätte laufen sollen.
Zunächst komme ich allerdings zu dem, was manche Übervereinfacher seit der Absage vom vorigen Dienstag vorzubringen hatten. Da hört man, der Staatsratsvorsitzende von drüben, Herr Honecker also, habe aus Moskau die Order bekommen, nicht zu reisen. So leicht glauben manche dann, die Welt wieder stimmig erscheinen lassen zu können.Gewiß, ohne Einwirkung von außen hätte ja wohl die DDR ihre Sportler auch gern nach Los Angeles geschickt. Aber — ohne Vergleich im übrigen —: Hätten wir wohl ganz ohne Ratschläge von außerhalb beschlossen, den vorigen Olympischen Spielen fernzubleiben?
Die Abhängigkeit von anderen ist ein Gesetz dieser Zeit; anderswo zweifellos mit erheblich anderer Ausprägung als bei uns im Westen.
Deutschland nicht mehr als nötig abhängig bleiben zu lassen, gehört zum Inhalt der Politik zurückliegender Jahre.
Die Dinge sind komplizierter, als sie von denen mit den ganz simplen Antworten dargestellt werden. Dies waren sie auch schon im vorigen Jahr, als man unsereinem die Einschätzung nicht abnehmen wollte, die zusätzliche Stationierung auf beiden Seiten und die zunehmende Vereisung zwischen den Weltmächten würden uns in Mitleidenschaft ziehen. Im November vergangenen Jahres, in der Stationierungsdebatte, habe ich gefragt, ob es wirklich notwendig sei, daß Europa noch einmal stärker auseinandergerissen werde, statt endlich wieder und weiter auf dem Wege der Zusammenarbeit und des Abbaus von Spannungen voranzukommen. Aus dem Lager der Regierung oder der Regierungsmehrheit in diesem Hause ist solchen von Sorge getragenen Fragen, milde gesagt, wenig Verständ-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5897
Brandtnis entgegengebracht worden. Der Sprecher der Union — ich denke, es war der Kollege Rühe — hat mir in jener Debatte entgegengehalten, es sei vorgesorgt; die befürchtete Belastung des Ost-West-Verhältnisses werde nicht stattfinden.Der Bundeskanzler hat bis in die vorletzte Woche ziemlich ungnädig bis beleidigt auf alles reagiert, was sich ihm wie ein Angriff auf seine unbeschwerte Weltsicht darstellte.
Dann plötzlich hörte man Herrn Kohl am Freitag in der norwegischen Hauptstadt erklären, die Absage oder, wie er sagte, Verschiebung werde man — ich zitiere — „der gespannten Atmosphäre zurechnen müssen, die die Relationen der letzten Jahre zwischen den Großmächten geprägt habe". Dagegen läßt sich gewiß nichts sagen. Aber wenn das so ist, stimmt es nicht mit vielem von dem überein, was aus dem Regierungslager vorgebracht wurde, als es so aussah, der Honecker-Besuch werde mit Aussicht auf Erfolg vorbereitet.Ich bin bei einem der inhaltlichen, wie ich meine: konzeptionellen Fehler, über die hier geredet werden muß. Teile der Union und der gegenwärtigen Bundesregierung jedenfalls haben kaum zur Kenntnis nehmen wollen, in welchem Maße die Deutschlandpolitik weiterhin in die weltweiten Probleme von Rüstung und Spannung, Entspannung und Abrüstung eingebunden ist. Ich denke, es wäre eine Illusion, in der Mitte Europas ein besonderes deutsch-deutsches Verhältnis kultivieren zu können, wenn man im übrigen die Politik einer weiteren Konfrontation für unvermeidbar hält.
Deutsch-deutsche Politik ohne eine Entspannung in Europa hängt in der Luft. Verankert in den Realitäten ist sie im übrigen nur, wo es gelingt, sie nach der einen wie nach der anderen Seite hin abzusichern. Widerspruch muß übrigens auch geltend gemacht werden, wo immer mal wieder die Illusion auftaucht, im Umgang mit kommunistisch regierten Staaten lasse sich mit Geld so gut wie alles erreichen.
Im Verhältnis zwischen Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnungen gibt es Positionen, die sich nicht abkaufen lassen. Das gilt übrigens auch für beide Seiten.Nun gibt es anderswo Leute, die es für angebracht halten, das Gespenst des Revanchismus wieder in Bewegung zu setzen. Für die deutschen Sozialdemokraten sage ich: Wir weisen diese Kampagne zurück.
Wir weisen sie zurück, wo sie sich allgemein an die Adresse der Bundesrepublik Deutschland wendet, die große Mehrheit unserer ostdeutschen Landsleute ausdrücklich einbezogen.
Wir weisen diese Kampagne auch da zurück,
wo sie sich pauschal gegen die Bundesregierung richtet. Ich weiß nicht, was Sie eigentlich dagegen vorzubringen haben.
Wir lassen das, was wir vorzubringen haben, nicht durch das kompromittieren, was sich wie ein peinliches Aufwärmen antideutscher Stimmungen und Vorurteile ausnimmt. Deutsche Sozialdemokraten sind auch in dieser Situation zur Stelle, die große überwältigende Mehrheit ihres Volkes vor abwegigen, ungerechten Beschuldigungen in Schutz zu nehmen.
Es stünde dem Bundeskanzler nicht schlecht zu Gesicht, wenn er auch den Teil unseres Volkes, der durch die Sozialdemokraten repräsentiert wird, nicht mit abstrusen Beschuldigungen überzöge.
Dieser Tage haben wir ja auch wieder mancherlei Unfreundliches aus nicht-östlichen Ecken nachlesen müssen und registrieren können. Das mag denen zu denken geben, die meinen, beim jeweiligen 40. oder 50. Jahrestag die schlimme Vergangenheit ganz und gar hinter sich gelassen zu haben, das Geburtsjahr vor sich hertragen und den Blick nur noch — mehr oder weniger entschlossen — nach vorne richten zu können.
Man läßt uns nicht. Die immer wieder neue Auseinandersetzung mit den Außenfaktoren, von denen die deutsche Zukunft eben entscheidend abhängt, bleibt uns nicht erspart, auch nicht die geduldige, die beharrliche Auseinandersetzung mit wichtigen Auslandskräften, die uns ungerecht beurteilen. Aber immerhin: Anfang der 70er Jahre hat unsere Vertragspolitik objektiv dazu geführt, daß die sowjetische Führung und ihre Paktpartner die antideutsche Karte aus dem Spiel nahmen. Das gehört zu unserer positiven Hinterlassenschaft. Die antideutsche Karte ist jetzt leider wieder im Spiel drin. Sich bloß darüber zu erregen, reicht als Ersatz für politisches Handeln nicht aus.
Anfang der 60er Jahre hatte es eine Bundesregierung, der ich dies jetzt nicht weiter ankreiden will, versucht, Ostpolitik gewissermaßen um die DDR herum zu machen. Die Rechnung ging nicht auf. Heute ist vor dem Irrglauben zu warnen, Deutschlandpolitik lasse sich an der Sowjetunion vorbei machen.
Denn diese Rechnung ginge ebenfalls nicht auf. Als einer, der 1967 als Außenminister die Beziehungen zu Rumänien aufgenommen hat, und der sich natürlich freut, wenn der erste Mann von dort zu uns
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5898 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Brandtkommt, will ich hinzufügen: Hoffentlich versteht man es, jenen willkommenen Besuch richtig einzuordnen, und verzichtet darauf, ihn gegen andere auszuspielen.
Meine Damen und Herren, wer sich über die friedliche Zukunft der Deutschen Gedanken macht, ist alles andere als ein Revanchist. Auch nicht derjenige ist es, der durch Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten das Leben der Menschen erleichtern und die Situation in Europa entlasten will. Nicht nur mit Moskau, auch mit den anderen Hauptstädten der Staaten des Warschauer Paktes muß hierüber und über vieles mehr, vor allem über solches, was nach vorn führt, neu gesprochen werden. Dies gilt nicht zuletzt für Warschau, übrigens auch in Erinnerung daran, daß von dort, von Warschau, schon in den 50er Jahren jene Aufforderung zum europäischen Sicherheitsdialog ausging, für den die Zeit damals leider nicht reif war und heute hoffentlich nicht schon wieder vorüber ist.Die Aufrichtigkeit gebietet, dies hinzuzufügen: Für die deutsche Sache im ganzen und für die Deutschen dort, wo sie heute leben, bewirken wir nichts, jedenfalls nichts Gutes, wenn wir an der Oder-Neiße-Grenze — und sei es auch nur verbal — herummachen.
Man setzt sich — ich möchte auch das in aller Offenheit sagen dürfen — Fehldeutungen aus, wenn man am 2. September für Ostdeutschland in Anspruch genommen wird, aber am 1. September zur 40. Wiederkehr des Tages, an dem Polen überfallen wurde, nichts zu erklären hatte.
Eine Kollegin aus der Fraktion der GRÜNEN hat im Vorfeld dieser Debatte für mich erstaunliche Erwartungen gegenüber der SPD zum Ausdruck gebracht. Da war zu lesen — wenn ich es richtig verstanden habe, Frau Kollegin Vollmer —, die SPD habe eine Deutschlandpolitik geführt, die die von der CDU-geführte Regierung bruchlos übernommen habe. Die SPD hätte, so hieß es, den Widerspruch zur CDU in der Frage der deutschen Einheit längst deutlich machen müssen.Worum ging es wirklich in den 60er Jahren? Der Meinungsstreit darüber, ob und welche Chancen es in den frühen 50er Jahren gegeben haben könnte, war unfruchtbar geworden. Man hatte positiv von der Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis, von der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft auszugehen, also nicht nur von den allgemeinen freiheitlichen Vorstellungen, die unser Volk nach den Jahren der Knechtschaft erfaßt hatten. Wir Sozialdemokraten — aber nicht wir allein — verstanden uns dazu, die neuen Bindungen zu akzeptieren, aber auch die anderen Realitäten in der Welt zur Kenntnis zu nehmen und darauf zusetzen, daß Spannungen wieder abgebaut würden, daß die Bündnissysteme, in die die beiden Teile Deutschlands einbezogen waren und sind, verhandlungs- und friedensfähig gemacht werden könnten.Zumindest hier mag eine zuweilen unbekümmerte Kritik der GRÜNEN mit einem für eine junge Partei vielleicht verständlichen Mangel an zeitgeschichtlicher Erfahrung zusammenhängen. Wir haben nicht geglaubt, Entspannung mit dem einen gegen den anderen machen zu können, sondern, nur in voller Offenheit gegenüber den westlichen Partnern bessere Zusammenarbeit auch mit dem Osten erreichen zu können.
Ich, gehe weiter und sage: Wer glaubt, aus der Aneinanderreihung von bilateralen Beziehungen, also von Beziehungen von Staat zu Staat, ergebe sich schon eine Ost- oder eine Ost-West-Politik, kann nicht behaupten, er verfüge über ein Konzept. Das gilt auch für den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Fragen. Einige der Hauptbeteiligten in Ost und West — ich denke an die ganz frühen 70er Jahre — waren wie ich selbst der Meinung, es werde für OstWest entweder ein Gesamtkonzept geben oder gar keines. Davon war leider schon 1975 in Helsinki nur noch andeutungsweise die Rede.Meine Damen und Herren, was den geplatzten Spitzenbesuch aus dem anderen Teil Deutschlands angeht und zusätzlich zu den konzeptionellen Fragen: Ich bin in nicht schlechter — übrigens auch konservativer — Gesellschaft, wenn es um Kritik an der Geschwätzigkeit geht, die ärgerlich war und ärgern mußte.
Herrn Kollegen Dregger nehme ich von dieser Kritik aus. Ich nehme ihn von dieser Kritik insofern aus, als er ja wohl das Unbehagen des Teils der CDU bzw. der Union artikulierte, dem im Grunde die ganze Richtung nicht paßte.
Aber ich halte es für zweifelhaft, hieraus einen Fall Dregger gegen DDR und umgekehrt zu machen. In dieser Hinsicht wären wohl die politischen Relationen zwischen dem Bundeskanzler und seinem Fraktionsvorsitzenden zu klären gewesen.
Im übrigen, das Standardargument vom freien Wort in einer freien Gesellschaft wird dem, womit man es zu tun hatte, nicht gerecht. Klugheit spricht auch in der Demokratie nicht für zügelloses Durcheinander.
Was sich hier in den letzten Wochen nahezu chaotisch darbot — ich weiß nicht, ob Herr Geißler mit seinem Chaos anwesend ist —, konnte wohl doch
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5899
Brandtals eine Zumutung empfunden werden, von welchem erwarteten Staatsgast auch immer.
Nun frage ich: Bezieht sich auch hierauf die denunziatorische Parole von den Stichwortgebern und von einem Zusammenspiel mit der anderen Seite, die Herr Dregger gestern in Berlin ausgegeben hat? Ich lehne es ab, mit einem vergifteten Pfeil zurückzuschießen.
Für manche — nicht nur in der Opposition — bleibt wenig überzeugend, wie zu Fragen der gemeinsamen Veröffentlichtung, des Termins und des Protokolls taktiert wurde. Ich würde übrigens nie unterstellen, Herr Bundeskanzler, hier seien nützliche Idioten am Werk gewesen — ich denke nicht daran, das zu unterstellen —, aber daß in Teilen Dilettantismus praktiziert wurde, ist vor dem Hintergrund dessen, was der Öffentlichkeit dargeboten wurde, eine fast freundliche Bemerkung.
Es ist ein kurzer Hinweis am Platze, um festzuhalten, daß ich mit der Ausklammerung der Berliner aus den im Sommer bekanntgewordenen Verbesserungen im Besuchsverkehr nicht einverstanden sein kann.
Ich wundere mich noch heute über den von wenig zurückgreifender Sachkenntnis getrübten Hinweis, das sei bei den Sowjets nicht oder jetzt nicht erreichbar gewesen. Herr Bundeskanzler, das zeugte nicht von einem Meisterstück aus Ihrem Amt. Egon Bahr hätte damit nicht nach Hause kommen dürfen.
— Jetzt hören Sie einmal zu. — Er ist damit auch nicht nach Hause gekommen, sondern er hat uns seinerzeit vorgeschlagen, den Moskauer Vertrag im zeitlichen Ablauf mit den Vereinbarungen zu koppeln, die für Berlin besonderes Gewicht hatten.
Wir haben auf diesen Zusammenhang auch geachtet, als die Vier Mächte 1971 über ihr Berlin-Abkommen verhandelten. Ich habe mich damals, ohne es an die große Glocke zu hängen, persönlich an Breschnew gewandt, um Verschlechterungen, Veränderungen zu Lasten der Berliner zu verhindern und frühere Verschlechterungen — wie bei den Bundespässen — nicht festschreiben zu lassen, sondern rückgängig zu machen. Es wäre gut, wenn sich Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, auch auf diesem Gebiet von einer soliden Tradition ihrer sozialliberalen Vorgängerinnen nicht hätte abbringen lassen.
Unser Freund Hans Apel, der sozialdemokratische Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters, hatte völlig recht, hierzu ein deutliches Wort zu sagen. Es war in hohem Maße unfair, ihm als Retourkutsche unterstellen zu wollen, er habe es an Eifer und Klarheit in der Frage der deutschen Einheit mangeln lassen; ich muß das zurückweien.
Hans Apel hat nämlich zutreffend darauf hingewiesen, daß die deutsche Frage nicht einfach „offen", sondern daß sie in verfassungsmäßige und internationale vertragliche Bestimmungen
eingeordnet ist und natürlich auch nicht von dem unbezweifelbaren Wunsch der Deutschen zu trennen ist, Europa möge zusammenwachsen
und die Folgen von Überrüstung, Konfrontation und Spaltung hinter sich lassen.
Wir Sozialdemokraten widersprechen nicht, sondern wir sind einverstanden, wenn die Regierung sagt: Die Einladungen bestehen, und technische Gespräche gehen weiter, das gilt dann nicht nur für die DDR. Aber wir könnten nicht einverstanden sein, würden neue Illusionen geweckt. Die Frage der in nationalen Fragen zu wünschenden Gemeinsamkeit ist heute in erster Linie von der Regierung und von der Union zu beantworten.
Ich wiederhole hier das, was ich in meiner eigenen Partei gesagt habe: Es ist kein Nachteil, sondern es ist ein Vorteil, wenn ein wichtiger Bereich aus dem innenpolitischen Streit herausgehalten werden kann; es bleibt ja genug übrig.Die Regierung hatte erklärt, sie wolle — anders, als zahlreiche, frühere Einlassungen der damaligen Opposition es hätten vermuten lassen — die Deutschlandpolitik aus den Jahren der sozialliberalen Koalition fortführen. Die Gemeinsamkeit wurde hier also durch die Fortsetzung — warum hätte ich das beklagen sollen, sollte ich es heute beklagen? — einer vorher heftig umstrittenen Politik begründet. Der Bundeskanzler könnte sich in seiner Deutschlandpolitik auf eine große Mehrheit in diesem Hause stützen. Er konnte es ja sogar
bei einem Schritt, für den er und seine Freunde das Erstgeburtsrecht beanspruchen können, nämlich für die Vergabe von zwei bedeutenden Krediten an die DDR.
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5900 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
BrandtIch möchte hier im Namen meiner Fraktion und im Namen aller meiner politischen Freunde feststellen: Die SPD wird ihre Linie nicht verlassen.
Wir werden eine als richtig und notwendig erkannte Politik auch künftig konsequent verfolgen und unterstützen, solange die Bundesregierung sie weiter betreibt.Wenn der Bundeskanzler vorgestern in Berlin erklärt hat, die Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik mit der SPD sei zerbrochen, so gibt es darauf nur zwei mögliche Antworten: Entweder hat er sich geirrt
oder e r zerbricht die Gemeinsamkeit.
Ob sich der Bundeskanzler geirrt hat und wir in Wirklichkeit eine Gemeinsamkeit weiter haben oder ob er sie nicht mehr will oder nicht mehr kann, das wird diese Debatte erweisen. Das ist die Frage nach der Substanz.Es bedarf ja keines besonderen Geheimnisschutzes oder der Vertraulichkeit eines Ausschusses, um hier vor dem Bundestag zu erklären, ob die Substanz des Kommuniques vom Werbellinsee, also der Begegnung Schmidt/Honecker vom Dezember 1981, für die Bundesregierung unbestritten ist.Wenn einige bisherige Auslassungen aus der Bundesregierung ein Zeichen dafür sein sollten, daß sie die Substanz dessen verläßt, was Ende 1981 schon gemeinsam mit der anderen Seite formuliert worden ist, dann wird jedenfalls die SPD diese frühere Politik fortsetzen, und die Regierung würde die Gemeinsamkeit verlassen, was zu bedauern wäre.
Aber gut wäre das für alle nicht: nicht für die Bundesrepublik, nicht für die DDR, übrigens auch nicht für das Gewicht der Bundesrepublik im Verhältnis zu Moskau oder Washington, zu Paris oder Warschau.Also geht es — ich sage es, Herr Bundeskanzler und meine Damen und Herren, noch einmal — um Inhalte, nicht um Rhetorik. Die Frage nach der Substanz und Weiterführung der Politik, wie sie Helmut Schmidt und Erich Honecker zu formulieren begonnen hatten, stellt sich rückwirkend und nach vorn gerichtet. Welche Rolle, frage ich, haben die damaligen Feststellungen besonders zu Fragen der europäischen Sicherheit bei der Vorbereitung des nicht zustande gekommenen Honecker-Besuchs gespielt?Ist man, frage ich weiter, etwa mit Formulierungen zur Sicherheit und Abrüstung erst übergekommen, als die andere Seite den Termin für schon „nicht mehr real" erklärt hatte? Wie weit war man wirklich mit der Formulierung eines auf die wackelige Konferenz in Stockholm bezogenen substantiellen europäischen Gewaltverzichts, also eines Themas, zu dem der Bundesaußenminister vor gut zwei Wochen Entscheidungen angemahnt hatte?Dabei war es wiederum nicht realistisch, sondern illusionär, die veränderten Fakten, im besonderen durch die Stationierungen, außer Betracht lassen zu können. Auf welche Inhalte bezog sich übrigens Bundeskanzler Kohls öffentliche Ankündigung, daß er bei gewissen Themen „weghören" wolle? Das galt doch wohl nicht Themen der Sicherheit.Für den, der die Akten kannte, Herr Bundeskanzler, wäre das aber auch z. B. bei einer rechtlich einwandfreien Respektierung der Staatsangehörikeit weder nötig noch vernünftig gewesen.
Eine Politik des eher Oberflächlichen ist an ihre Grenzen gelangt.
Man wird sich den Problemen neu stellen müssen; und die sind verdammt schwierig geworden. Das wirft dann noch einmal die Frage auf, Herr Bundeskanzler, wer im eigenen Lager wen hinter sich hat.Die Sozialdemokraten sind der Meinung, daß die deutsch-deutschen Beziehungen, das Kernstück der Friedenspolitik unseres Staates, systematisch entwickelt werden müßten. Aber daraus wird nichts, Herr Bundeskanzler, wenn die Substanz der Politik ins Unklare gerät. Wir Deutschen sind dazu verdammt, jede Chance zu nutzen — jeder nach seinem Können und jeder in seiner Verantwortung —, eine uns belastende und bedrückende Entwicklung zu stoppen, wenn wir es können. Das heißt doch aber, daß wir Vereinbarungen über staatliche Regelungen treffen müssen, an die sich alle halten, Regelungen, die die Grenzen von Staaten und Grenzen von Bündnissen überschreiten. Anders gesagt: Angesichts wachsender Erfahrungen dürfen wir nicht Grenzen in Frage stellen, die heute Staaten trennen, sondern müssen nach Verträgen suchen, die die Grenzen überspannen.
Ich lese wenn ich das noch sagen darf — mit Interesse, daß der amerikanische Präsident in seiner zweiten Amtsperiode die Kernwaffen reduzieren und, wenn möglich, alle abschaffen will. Übrigens, wenn dasselbe über die Abschaffung der Atomwaffen von Anhängern der Friedensbewegung gefordert wird, müssen sie sich von ganz großen Strategen belehren lassen, daß auf Atomwaffen überhaupt nicht verzichtet werden kann.
Niemand weiß, wie nach den amerikanischen Wahlen im November die Dinge zwischen den beiden Großen weitergehen. Das heißt doch aber, daß es gerade in dieser Periode vor dem November und in dem dadurch geschaffenen politischen Windschatten vielleicht eine Möglichkeit für die Deutschen gab, die beiden deutschen Staaten, eingeordnet für eine nicht überschaubare Zeit in ihren Bündnissen, aber in der Mitte Europas, zu zeigen, daß bei aller weiter bestehenden Unterschiedlichkeit völker-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5901
Brandtrechtlicher Gewaltverzicht in Europa geeignet sein kann, Vertrauen zu bilden, ein kleines Stück voran auf dem Wege zum Stopp der Rüstungen, der sich nur bündnisüberwölbend vereinbaren läßt.Ich habe vermißt, daß sich die Bundesregierung mit ihrem Bundeskanzler an der Spitze energisch genug bemüht hat, um für uns in den beiden Staaten in der Mitte Europas diese Chance zu bekommen. Statt dessen hört man den Bundeskanzler auf seiner Pressekonferenz sagen, er habe kein Problem beim Warten. Dies, Herr Bundeskanzler, war in der gegebenen Situation zu wenig, und zwar ganz unabhängig davon, welche anderen Faktoren für die Absage Honeckers eine Rolle gespielt haben mögen. Wer immer sonst noch Verantwortung haben mag: Sie können Ihrem Teil der Verantwortung in dieser Situation nicht entrinnen.
Daß der Dialog sachlich und fachlich weitergehe, ist eine dünne Ausrede. Nichts gegen die — übrigens tüchtigen — Beamten. Aber wenn sie Spitzenbegegnungen ersetzen könnten, dann brauchte man ja keine Spitzenbegegnungen mehr. Es wäre richtig, uns mit der Wirklichkeit zu konfrontieren: daß mit dem Besuch in diesem Jahr auch nicht mehr zu rechnen ist und daß insoweit das Jahr 1984 nicht nur ein verlorenes Jahr für die Rüstungskontrolle, sondern ein verlorenes Jahr für einen seit langem anstehenden Besuch gewesen sein wird, der im deutschen wie im europäischen Interesse wirklich wünschenswert war.
Wir Sozialdemokraten meinen, Deutschlandpolitik kann nur im Zusammenhang mit einer umfassenden Politik der Rüstungskontrolle und Entspannung erfolgreich entwickelt werden, also dem, wofür die deutsche Friedensbewegung in diesem Herbst erneut eintritt und wofür sie unsere Unterstützung hat, wo immer es um an beide Seiten gerichtete friedliche und gewaltfreie Manifestationen geht,
ohne Konfrontation mit den Soldaten und deshalb selbstverständlich ohne die Behinderung von Manövern.
Schon weit bevor sich Alfred Dregger über das Thema oberflächlich hatte unterrichten lassen — nämlich am 17. August —, hat der Vorsitzende der Sozialdemokratie — Sie werden zugeben, der 17. August ist vor Ihrer Äußerung in Berlin — im Informationsdienst seiner Partei an alle Vertrauensleute wörtlich geschrieben:Wir unterstützen die Friedensbewegung, wo esmöglich ist, ohne daß SPD und eigenständigeFriedensbewegung ihre eigenen Vorstellungen aufgeben.
Wir werden uns aber auch kritisch mit einzelnen Aktionen auseinandersetzen, die falsch interpretiert werden können oder aus denen gar militante Aktionen gemacht werden können.
17. August 1984. — In der von Herrn Dregger hochgezogenen Resolution des Parteivorstandes vom letzten Freitag, also vom 7. September, heißt es wörtlich:Es muß alles vermieden werden, was zu einer Konfrontation von Soldaten und Friedensbewegung führen könnte.Herr Dregger, wiederum im Informationsdienst meiner Partei ist hinzugefügt — nicht, weil Sie es gesagt haben; es stand schon da —:Dies ist eine deutliche Warnung vor Manöverbehinderungen.
Herr Dregger, insofern kopieren Sie hier Herrn Geißler.
Insofern versuchen Sie von substantiellen politischen Fragen abzulenken und Scheingefechte zu inszenieren.
Es ist ja eine alte politische Taktik, eine andere Sau durchs Dorf zu jagen.
Die deutsche Öffentlichkeit darf auf dieses Manöver, ja, auf diese Ablenkungshetze nicht hereinfallen.
Wir sind an der Seite derer, die mit Nachdruck sagen, daß den deutschen Interessen durch Entspannung und Rüstungsbegrenzung gedient ist — ganz abgesehen davon, daß eine europäische Abrüstungsinitiative auch im Interesse der armen Entwicklungsländer dringend geboten ist.
Wir meinen, heute wie gestern, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Netz vielfältiger Kontakte zu den Nachbarländern in West- und Osteuropa braucht. Nur dadurch gewinnt die Deutschlandpolitik ihre Perspektive.
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BrandtHerr Bundeskanzler, wir sind gespannt: Wo bleibt die Perspektive und wo — im Sinne von Können — die Kunst des Regierens?
Das Wort hat der Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Brandt, ich muß mit einer gewissen Bewunderung feststellen, daß Sie es einmal mehr von diesem Pult aus verstanden haben, die Antworten, die am heutigen Tag von allen Seiten des Hauses zu geben sind, zu umgehen
— wir werden jetzt gleich über die Themen sprechen —, daß Sie sich in Andeutungen ergangen haben, die uns aber in der Frage, ob Gemeinsamkeit möglich ist oder nicht — das ist ein Thema —, nicht weiterführen.Dann haben Sie natürlich, Herr Kollege Brandt, auch in einer Weise gesprochen, daß die Chance noch übrigblieb, richtig zu holzen, und zwar auf Ihre Weise den Kollegen Dregger als Buhmann darzustellen, wie es Ihnen gefällt,
und den Kollegen Geißler in die Debatte einzubeziehen. Wissen Sie, wenn man so in getragenem Ton von Gemeinsamkeit spricht, dann soll man auch den Inhalt seiner Worte nach dieser Gemeinsamkeit wählen.
Es ist ganz gewiß richtig, Herr Kollege Brandt — das ist ein Punkt, bei dem wir übereinstimmen —, daß sich die gegenwärtigen Ost-West-Beziehungen schwierig gestalten und daß jeder in beiden Teilen Deutschlands und auch jeder in diesem Hause sehr darauf bedacht sein muß, seinen Beitrag in dieser Zeit mit Verstand, mit Vernunft, mit Bedachtsamkeit und auch mit Verantwortungsbewußtsein zu leisten.Aber, Herr Kollege Brandt, es besteht gar kein Anlaß, in dieser konkreten Situation nach der Verschiebung der beiden Besuche — schon allein, wie Sie das Wort „Verschiebung" hier gebraucht haben, war sehr interessant — die Lage so zu dramatisieren, wie Sie es getan haben.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst einmal an die Tatsachen erinnern. Die beiden Gesprächstermine für den Besuch des Staatsratsvorsitzenden Honecker und für den Besuch des Staatsratsvorsitzenden Schiwkow sind auf deren Wunsch und in Abstimmung von beiden Seiten zustande gekommen. Es kann also gar keine Rede davon sein, was im Vorfeld zur heutigen Debatte aus Ihrem Lager zu diesem Punkt verbreitet wurde. Die Termine wurden zwischen der Bundesrepublik Deutschland einerseits und der DDR beziehungsweise Bulgarien andererseits gemeinsam abgestimmt. Die Besuchsvorbereitungen, Herr Kollege Brandt, waren in beiden Fällen sehr weit fortgeschritten beziehungsweise abgeschlossen.
— Herr Kollege Vogel, über das, was wir früher gemerkt haben, reden wir jetzt drei Tage mit Ihnen.— Beide Seiten legen jeweils Wert auf die Feststellung — das ist doch immerhin eine Feststellung, die Sie hier in Ihre Rede hätten aufnehmen können —, und zwar nachdrücklich Wert auf die Feststellung, daß die Besuche nur verschoben sind und nachgeholt werden sollen.
Herr Brandt, Sie wissen so gut wie ich, denn Sie verfügen über ein beachtliches Maß an Informationen — ich begrüße das —, daß das, was Sie versucht haben in diese Debatte einzubringen, einfach unwahr ist. Es handelt sich um eine Verschiebung dieses Besuches, und das ist sehr wichtig gerade für die Situation zwischen beiden Staaten in Deutschland, die Sie beschworen haben. Beide Seiten haben gleichzeitig unterstrichen, daß sie an einer Fortentwicklung konstruktiver Beziehungen interessiert bleiben.Herr Kollege Brandt, auch das ist doch wahr, und Sie haben es eben nicht angeführt: Die entscheidende Begründung für die Verschiebung der Besuche wurde in beiden Fällen maßgeblich unter Hinweis auf die gesamtpolitischen Umstände gegeben. Wer für die Verschiebung des Besuchs des Staatsratsvorsitzenden Honecker andere Gründe geltend machen will, nun, Herr Kollege Brandt, der muß doch spätestens seit dem vergangenen Sonntag nach der Verschiebung des Termins durch Sofia eines Besseren belehrt worden sein.
Wenn ich beispielsweise, weil Sie gerade den Zwischenruf machen, höre, daß einer der Gründe die Abhaltung der NATO-Manöver sei: Die bulgarische Seite hat noch am vergangenen Freitag bestätigt, daß der Besuch stattfindet, Herr Kollege Brandt. Die NATO-Manöver wurden aber nach den KSZE-Vereinbarungen fristgerecht vor 21 Tagen angemeldet.
Das heißt also: Sie versuchen hier, aufgrund einer internationalen Entwicklung, die zum wenigsten von den beiden Teilen Deutschlands zu beeinflussen ist, ein parteipolitisches Süppchen zu kochen. Das ist doch die Tatsache.
Es war in Ihrer Rede unüberhörbar, daß Sie den kläglichen Versuch unternommen haben, etwa zwi-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5903
Bundeskanzler Dr. Kohlschen Alfred Dregger und mir oder anderen in dieser Frage einen Zwiespalt herbeizureden.
Wir haben als CDU Deutschlands erst vor wenigen Monaten auf unserem Bundesparteitag in Stuttgart über diese Frage diskutiert und beschlossen. Wir in der Christlich Demokratischen Union wissen sehr genau, welchen Kurs der Vernunft und der Mitte wir in diesem Zusammenhang steuern wollen. Wir brauchen weder Ihre Belehrungen noch Ihre Verteufelung in diesem Zusammenhang.
Niemand kann übersehen, daß es sich im Zusammenhang mit diesen Besuchen um Wechselwirkungen handelt, die ihren Ursprung zunächst und vor allem in den internen Beziehungen der Staaten des Warschauer Paktes untereinander haben. Und darin sind wir uns hoffentlich einig, meine Damen und Herren: ich denke, wir bedauern gemeinsam die eingetretene Entwicklung. Die Bundesregierung wird sich in ihrer auf Frieden gerichteten Politik und in Ihrer Bereitschaft zum Dialog, zum Ausgleich und Zusammenarbeit auch gegenüber dem Osten nicht beirren lassen. Wir sind bereit, das Gespräch wiederaufzunehmen, die Zusammenarbeit fortzusetzen, soweit sich die östlichen Gesprächspartner dazu imstande sehen. Wir gehen davon aus, daß die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes zu ihrer erklärten Politik zurückkehren werden, weil es zur Politik wirklicher Entspannung und zu Verhandlungen keine Alternative gibt.Herr Kollege Brandt, wenn Sie hier klagen, im Jahre 1984 sei kein wesentlicher Fortschritt zu erzielen gewesen, so wissen Sie so gut wie ich — und auch das muß man dann fairerweise aussprechen —, daß weder die sowjetische noch die amerikanische Seite im Vorfeld der Wahlen am 6. November dieses Jahres zu wesentlichen Fortschritten und Entscheidungen bereit waren. Wenn das so ist — und wenn Sie nicken —, dann sprechen Sie es doch hier aus! Verweisen Sie doch diese Diskrepanz nicht in unsere Diskussion.
Die Bundesregierung wird das Ihre dazu beitragen, daß die Beziehungen zur Sowjetunion und mit den übrigen Staaten des Warschauer Pakts durch diese politische Großwetterlage sowenig wie möglich Schaden nehmen. Enttäuscht über diesen Vorgang, Herr Kollege Brandt — darin unterscheiden wir uns offensichtlich in der Tat —, kann doch nur der sein, der die Ursachen der Spannungen zwischen Ost und West niemals richtig eingeschätzt oder der geglaubt hat, sie in wenigen Jahren überwinden zu können. Sie wissen so gut wie ich, daß Entspannungspolitik in der konkreten Lage der Weltpolitik heute nicht mehr leisten kann als die Begrenzung und Kontrolle der Spannungen und Konflikte sowie Zusammenarbeit dort, wo gemeinsame Interessen sie ermöglichen. Ich finde, das ist schon ein Programm, das, wenn es erfüllt werden soll, einen hohen Anspruch erhebt. Meine Damen und Herren, unsere Politik, die Politik dieser Bundesregierung und dieser Koalition bleibt ein Angebot an die Staaten des Warschauer Pakts, das nicht neues Mißtrauen säen, sondern neues Vertrauen schaffen sollte.Herr Kollege Brandt, auch das soll klar ausgesprochen werden — Sie arbeiten j a immer mit Andeutungen —: Ich weiß wirklich nicht, wen Sie in diesem Hause meinten, als Sie so allgemein davon sprachen, es gebe politische Kräfte, die es für möglich hielten, mit der DDR — ich sage es jetzt mit meinen Worten — Sonderbeziehungen zu eröffnen, ohne die Sowjetunion einzubeziehen. Meine Politik ist das nicht, unsere Politik ist das nicht. Ich habe nie eine solche Stimme in der FDP, in der CSU oder in der CDU gehört. Die Sowjetunion ist unser wichtigster und mächtigster Nachbar in Mittel- und Osteuropa. Wir wissen ganz genau, daß alle nur denkbaren bilateralen Möglichkeiten, sei es im Gespräch mit der DDR, sei es mit Polen, mit Ungarn, mit Rumänien und mit wem auch immer, letztlich nur erfolgreich sein können, wenn sie eingebunden sind in das Gesamtgespräch mit der Sowjetunion. Und Sie wissen, daß dies unsere Politik ist! Was soll es also, wenn Sie von diesem Pult aus so sprechen, als gäbe es irgendwelche imaginären Kräfte, die einen weltpolitischen Alleingang gehen wollten? Wenn ich es recht verstanden habe und mich richtig erinnere, gab es in den frühen 70er Jahren einmal eine solche Diskussion, aber die, Herr Kollege Brandt, bezog sich auf bestimmte Kräfte der deutschen Sozialdemokratie,
ganz gewiß nicht auf CDU, FDP oder CSU.
Dann haben Sie, Herr Kollege Brandt, vom Revanchismus gesprochen. Man muß sorgfältig noch einmal nachlesen, wie Sie das formuliert haben.
Sie haben es nämlich tunlichst vermieden, das Thema anzusprechen, um das es hier geht.
Sie haben ganz allgemein gesprochen und unser Volk vor den massiven Propagandavorwürfen in Schutz genommen. So weit, so gut; wir stimmen überein. Aber der Vorwurf des Revanchismus zielt ja ganz bewußt auf bestimmte Persönlichkeiten, auf bestimmte Gruppen, auf Teile unserer Bevölkerung und richtet sich damit natürlich auch gegen das ganze Land.Herr Kollege Brandt, ich stimme Ihnen völlig zu: Ich bin sehr dafür, daß wir bei all dem, was uns trennt, immer wieder den Versuch unternehmen, Felder zu gewinnen, auf denen Gemeinsamkeit möglich ist. Ich bin absolut einverstanden, wenn es möglich sein sollte, Gemeinsamkeit mit der deutschen Sozialdemokratie in diesen entscheidenden Fragen zu finden.Aber, Herr Kollege Brandt, in den letzten 14 Tagen oder drei Wochen konnte ich auf diesem ganzen
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5904 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundeskanzler Dr. KohlFeld beim besten Willen keine Gemeinsamkeit erkennen.
Ich habe im Vorfeld des geplanten Besuchs des Staatsratsvorsitzenden Honecker erklärt. daß wir selbstverständlich über alles sprechen werden — das liegt doch in der Natur eines solchen Gesprächs —,
aber ich habe auch erklärt, daß es Felder der Politik nicht — das habe ich übrigens in Moskau mit Herrn Honecker selbst besprochen; er weiß das — —
— Meine Damen und Herren, ich denke, wir wollten hier ein ernsthaftes Gespräch führen!
Wenn Ihr Gemeinschaftsverständnis in dem besteht, was Sie eben dokumentieren, brauchen wir das Gespräch nicht fortzusetzen.
Herr Kollege Brandt hat dazu eingeladen, und ich will es ja aufnehmen. Er ist ja noch Ihr Parteivorsitzender. Wenigstens der Respekt vor ihm sollte die Chance eröffnen.Herr Kollege Brandt, wenn Sie also von Gemeinsamkeit sprachen, müssen wir schon einmal die Frage stellen: Auf welchen Fundamenten ruht denn diese Gemeinsamkeit? Wenn ich mich beispielsweise an Äußerungen aus der SPD in den letzten Tagen zu den sogenannten Geraer Punkten — die Staatsbürgerschaft ist ein Beispiel, und es gibt weitere Beispiele — im einzelnen erinnere, muß ich Ihnen ganz einfach sagen: Darüber können wir miteinander reden, aber im Ergebnis finden Sie in diesen Grundfragen keine Gemeinsamkeit mit uns. Das muß man um der intellektuellen und politischen Redlichkeit willen klar und offen aussprechen.Herr Kollege Brandt, Sie haben es auch für nötig gehalten, in einer etwas gedämpfteren Sprache als einige aus Ihren Reihen in den letzten Tagen — nämlich ohne es auszusprechen, aber mit Andeutungen auf Brandtsche Art — auf meine Teilnahme an der Vertriebenenkundgebung in Braunschweig hinzuweisen. Nun, Herr Kollege Brandt, ich finde es völlig normal, daß ein deutscher Bundeskanzler vor den Vertriebenen spricht, vor einer Gruppe unseres Volkes, die Millionen von Menschen umfaßt, die sich große Verdienste um den demokratischen und wirtschaftlichen Aufbau unseres Landes erworben haben.
Daß allein schon die Tatsache, daß ich dort spreche,von Ihrer Partei als Skandal bezeichnet wurde —einen Tag, bevor ich überhaupt dort war, als Siealso meine Rede noch gar nicht kannten —, das ist in der Tat skandalös.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich könnte ihnen jetzt noch einige Äußerungen aus Ihrem Lager vorwerfen. Es sind doch — und das, Herr Kollege Brandt, ist das, was Alfred Dregger und andere meinten — zu diesem Vorgang aus Ihrer Partei die gleichen Formulierungen zu hören gewesen, die auch von jenen kamen die — beispielsweise in Warschau — unser und mein politisches Tun verleumden wollen.
Herr Kollege Brandt, ich weiß nicht, wie die Einstellung der deutschen Sozialdemokratie heute zum Thema der Vertriebenen ist. Ich weiß es wirklich nicht.
— Fragen Sie doch Ihren Kollegen Karsten Voigt. Ich will ihm doch nicht die Ehre antun, ihn hier zu zitieren. Er sitzt doch im Saal; er kann sich selbst wehren.
Meine Damen und Herren, ich weiß es wirklich nicht.
Können Sie mir einmal erläutern, was daran skandalös ist, wenn ich zum Tag der Heimat spreche, mit einer Rede, die selbst von polnischen Stellen als ausgewogen bezeichnet wurde? Sie, Herr Kollege Brandt, haben immerhin zum Tag der Heimat einmal so formuliert — ich will das einmal sagen, um die Veränderungen, die in diesen Jahren eingetreten sind, deutlich zu machen; ich zitiere Willy Brandt am Tag der Heimat in Berlin 1965 —:So wie der Tag der Heimat in Berlin zur Tradition geworden ist, so sind auch die Angriffe gegen diesen Tag zur Tradition geworden. Dazu stelle ich fest: Kundgebungen, durch die um das Recht gerungen wird, gefährden den Frieden nicht. Und hier ging es im Laufe der Jahre immer wieder um die Menschenrechte, um das Selbstbestimmungsrecht, um das Heimatrecht. Mit Revanchismus hat das Bekenntnis zum Volk, zur Heimat, zum Füreinandereinstehen nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Wir haben der Gewalt abgeschworen, aber wir haben nicht dem Recht abgeschworen.Jetzt ein anderes Zitat. Es ist schon bemerkenswert — ich habe mich bei der Vorbereitung dieser
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5905
Bundeskanzler Dr. KohlRede sehr gewundert —, welchen Weg Sie, die Sozialdemokratie, genommen haben.
Ein anderes Zitat:Breslau — Oppeln — Gleiwitz — Hirschberg — Glogau — Grünberg, das sind nicht nur Namen, das sind lebendige Erinnerungen, die in den Seelen von Generationen verwurzelt sind und unaufhörlich an unser Gewissen klopfen. Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten? Hundert Jahre SPD heißt vor allem hundert Jahre Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Das Recht auf Heimat kann man nicht für ein Linsengericht verhökern. Niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder geflüchteten Landsleute Schindluder getrieben werden. Das Kreuz der Vertreibung muß das ganze Volk mittragen helfen. Vertriebene oder geflüchtete Landsleute sind keine Bürger zweiter Klasse,
weder in der Wirtschaft noch in der Gesellschaft. Daß es ihr ernst damit ist, hat die SPD bewiesen. Der Wiedervereinigung gilt unsere ganze Leidenschaft. Wer an diesem Feuer sein kleines Parteisüppchen zu kochen versucht, kann vor dem großen Maßstab der Geschichte nicht bestehen.
Meine Damen und Herren, wo war denn in diesen letzten drei Wochen eine Stimme der Sozialdemokratie gegen die Verleumdungen der deutschen Vertriebenen und ihrer Verbände?
Sie haben doch mit wesentlichen Sprechern Ihrer eigenen Partei in diesen Chor mit eingestimmt.
Das ist doch der Punkt, der uns trennt, Herr Kollege Brandt.
Wenn Sie über Gemeinsamkeiten reden, dann gibt es auch eine Gemeinsamkeit zugunsten der Vertriebenen in unserem Volk, und das sollten Sie hier sagen.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Im übrigen, Herr Kollege Brandt, wissen Sie genau, in welch einer Form Sie in den letzten Wochen gegen die Vertriebenen in der Öffentlichkeit aufgetreten sind. Jetzt wollen Sie es nicht wahrhaben, wenn man Sie mit den Dokumenten Ihrer eigenen Geschichte,
jenen Dokumenten, von denen Sie aus Gründen des Opportunismus abgerückt sind, konfrontiert.
Herr Kollege Brandt, ich stimme Ihnen zu: 39 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg haben wir Deutsche keinerlei Anlaß, den Versuch zu unternehmen, aus der Geschichte auszusteigen. Was im deutschen Namen geschehen ist, trifft jede Generation, und Ihr Hinweis auf spätere Geburtsdaten sollte Sie nicht daran hindern, zuzugeben, daß die Kontinuität der Geschichte für alle Generationen gilt.
Für mich, Herr Kollege Brandt, ist dies völlig selbstverständlich. Und für mich ist völlig selbstverständlich,
daß jenes wichtige Prinzip, das zuerst die Vertriebenen — nicht die CDU und nicht die SPD — in ihrer Cannstatter Erklärung 1950 niedergelegt haben, nämlich — ich sag's mit meinen Worten — daß Krieg und Gewalt keine Mittel der Politik für die Deutschen sein dürfen, daß wir nicht Blut und Blut und Tod und Tod aufrechnen und daß wir keine neuen Leiden begründen wollen, ein gemeinsames Prinzip ist und daß keine Gruppe im Land ausgeschlossen werden darf.
Der Herr Präsident hat zu Beginn der heutigen Sitzung daran erinnert, daß dieses Parlament vor Jahrzehnten zum ersten Mal zusammengetreten ist. In einer der Sitzungen danach hat Konrad Adenauer über Friedenspolitik und Aussöhnung gesprochen. Er hat damals gesagt, daß wir Deutschen Frieden und Aussöhnung mit allen unseren Nachbarn und mit den Kriegsgegnern von gestern wollen und daß wir, wenn möglich, neue Freundschaften gründen wollen. Er nannte drei Völker insonderheit; er nannte das Volk und den Staat Israel, er nannte Frankreich und Polen.
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5906 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundeskanzler Dr. KohlEs ist durch unsere gemeinsame Politik — ich hoffe, ich darf das so sagen — gelungen, Frieden und Aussöhnung und Freudschaft, und zwar nicht nur zwischen den Regierungen, sondern zwischen den Völkern mit Israel und mit Frankreich zu begründen. Das Beispiel der jungen Generation spricht für sich.
— Ich weiß nun wirklich nicht, was dabei zu lachen ist. Meine Damen und Herren, entweder: Wir wollen hier ernsthaft über deutsche Probleme reden. Oder: Sie machen hier eine Aufführung wie in einer SPDUnterbezirkskonferenz.
Sehen Sie, Herr Kollege Brandt, Sie kennen die geschichtlichen Gründe, die verhindert haben, daß wir in der Aussöhnung mit Polen — ähnlich wie in der Aussöhnung mit Frankreich und Israel — so wesentliche Schritte unternehmen konnten, daß sie vollständig hätte gelingen können.
Aber es gibt doch gar keinen Zweifel, daß der Wille zu friedlicher Nachbarschaft, zur Aussöhnung, ja zur Freundschaft im deutschen Volk wie im polnischen Volk gleichermaßen stark ist und daß wir gemeinsam bereit sind, aus der Geschichte zu lernen. Lassen Sie mich das in aller Ruhe angesichts der Angriffe sagen, die ganz pauschal aus Warschau geführt werden — völlig unzutreffend, wie jeder weiß.
Die Bürger der -Bundesrepublik Deutschland haben in den letzten Jahren ihr Beispiel für friedliche Aussöhnung gegeben. Als Herr Jaruzelski aus seinen Gründen das Kriegsrecht verhängte, ist in den folgenden drei Monaten — es sind jetzt fast drei Jahre her — in den katholischen und den evangelischen Kirchen, von Bürgergruppen, Jugendgruppen der Betrag von immerhin rund 300 Millionen DM für Liebesgaben nach Polen gesammelt worden. Es war die Bundesrepublik Deutschland unter der Regierung meines Vorgängers und zu meiner Regierungszeit, die zur Weihnachtszeit die Sendungen nach Polen portofrei gestellt hat. Wir sind das einzige Land in Europa, das dies in dieser Form getan hat.
Ich sage das nicht, damit wir uns hier einer guten Tat rühmen. Aber ich sage das angesichts mancher Stimmen, die aus Polen kommen und die ein Bild von Deutschland zeichnen, das der Wirklichkeit überhaupt nicht entspricht.
Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keinen Revanchismus. In keiner Gruppe!
Weder bei den Älteren, die die bittere Erfahrung des Kriegs gemacht haben, noch bei denen, die als Flüchtlinge Haus und Hof und alles verloren haben, noch bei denen, die das Glück hatten, in ihrer Heimat leben und bleiben zu können. Es gibt keinen Revanchismus.Nur, Herr Kollege Brandt, wenn Sie von Gemeinsamkeit sprechen, dann sprechen Sie bitte für alle diese Gruppen, und reden Sie nicht von Teilen der Regierung, von Teilen der CDU, von Teilen der Bevölkerung. Ich spreche Ihnen das Recht ab, so über unsere Bevölkerung zu sprechen.
Ziel unserer Politik bleibt es, wie es im Brief zur deutschen Einheit formuliert ist, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Herr Kollege Brandt, wenn das die Formel von Gemeinsamkeit ist, können wir uns sehr rasch darauf verständigen. Zu dieser Formel füge ich hinzu, daß die Verträge — ich sage das jetzt ganz bewußt, so wie ich es auch bei den Vertriebenen in Braunschweig gesagt habe — für alle gelten, auch für jene, die — aus welchen Gründen auch immer — gegen diese Verträge gestritten haben. Diese Verträge, Herr Kollege Brandt, sind geltendes Recht.
Wir sind vertragstreue Partner.Gerade weil wir wissen, welch ein Elend zur Zeit der Nazis wegen der vielen Vertragsbrüche über unser Volk gekommen ist, ist es so wichtig, daß wir vertragstreue Partner sind. Ich spreche aber von Partnern, Herr Kollege Brandt, und das heißt, daß die Verträge für beide Seiten bindend sind
und daß nicht zehn Jahre danach die eine Seite in diese Vertragstexte Interpretationen hineinlegen kann, die zu Ihrer Zeit, als Sie die Verträge abgefaßt, unterschrieben, vorgelegt und verteidigt haben, eben nicht existierten. Es gilt alles, was mit den Verträgen zusammengehört. Wir als Bundesregierung und Bundesrepublik haben klar und deutlich die Position in den Grenzfragen definiert.
Auch das habe ich vor den Vertriebenen in Braunschweig sehr deutlich gesagt.
— Herr Professor Ehmke, niemand hat etwas in Frage gestellt. Sie wollen das dem Kollegen Zimmermann unterschieben, weil Sie einen Buhmann brauchen. Das ist doch das, was Sie damit erreichen wollen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5907
Bundeskanzler Dr. KohlIch sage noch einmal, Herr Kollege Brandt: Für uns gelten diese Verträge. Wir versuchen, sie mit Leben zu erfüllen. Wir können darüber streiten, wie wir sie in jeder Frage mit Leben erfüllen. Es ist aber niemandem gestattet, weder gegenüber einem deutschen Sozialdemokraten noch gegenüber einem christlichen Demokraten, einem Freien Demokraten oder einem Christsozialen, von draußen Zweifel an seiner Verfassungstreue zu erheben.
— Ich spreche bewußt von Verfassungstreue, weil sie für mich selbstverständlich Vertragstreue beinhaltet.
Unser zentrales nationales Interesse bleibt es, das Bewußtsein der Einheit der Nation wachzuhalten, damit sich die Menschen im geteilten Deutschland weiterhin zusammengehörig fühlen, zueinander kommen können. Deswegen wollen wir auch auf dieser Durststrecke der Geschichte selbstverständlich den Dialog, das Gespräch mit der DDR fortführen und, wenn möglich, intensivieren.Ich bedaure es, daß Generalsekretär Honecker jetzt aus seinen Gründen nicht zum Besuch in die Bundesrepublik kommt. Ich kann allerdings die Begründung der DDR — das wird jedermann verstehen — nicht akzeptieren. Ich habe dazu das Notwendige gesagt. Ich halte es für wenig sinnvoll, weitere öffentliche Betrachtungen darüber anzustellen. Unser Angebot zur Fortsetzung des Dialogs und der Zusammenarbeit mit der DDR steht. Wir werden uns beharrlich weiter bemühen, das Geflecht der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland auszubauen und, wo es möglich ist, zu Verbesserungen zu gelangen.Herr Kollege Brandt, Sie meinten, da sei manches mit Dilettantismus geschehen. Ich will Ihnen jetzt einmal sagen, zu welchen Erfolgen dieser „Dilettantismus" geführt hat. Ich wünschte mir, Sie hätten zu einer früheren Zeit die gleichen Erfolge gehabt. Wir wären dankbar, wenn Sie früher Ähnliches erreicht hätten. •
Wir haben mehr Kontakte und Begegnungen über die Grenzen möglich gemacht.
Die Signale mit den beiden Krediten des vergangenen und dieses Jahres sind mit einer ganzen Reihe positiver Gegensignale beantwortet worden. Was ist das eigentlich für eine Aussage in dieser Debatte, Herr Brandt, wenn Sie sagen, mit Geld könne man nicht alles machen? Das brauchen Sie uns nicht zu sagen. Eine solche Denkart steht weit mehr einem Sozialisten an als uns.
Ich erinnere an die Erleichterungen im Reiseverkehr, welche die DDR vor wenigen Wochen in Kraft gesetzt hat. Warum erwähnen Sie das nicht, Herr Brandt? Ich erwähne die spürbare Verbesserungbei der Abwicklung im Reise- und Besuchsverkehr. Besonders erfreulich ist die beachtliche Steigerung der Zahl der Reisen aus der DDR in dringenden Familienangelegenheiten im vergangenen Jahr, auch wenn nicht alle Wünsche erfüllt wurden. Ich erinnere an das sehr sensible Feld der Familienzusammenführung und der Lösung humanitärer Härtefälle. Herr Kollege Brandt, wenn dieser „Dilettantismus" — lassen Sie sich vielleicht einmal von Herrn Bahr oder Herrn Wischnewski einweisen — dazu geführt hat, daß in diesem Jahr 30 000 Landsleute aus der DDR zu uns kommen konnten, werden Sie doch nicht bestreiten können, daß das eine absolute Rekordzahl in den letzten zehn Jahren war.
Wenn Ihre meisterhafte Gesprächsführung, wie Sie sie selbst verstehen, zu wesentlich weniger geführt hat, die unsrige aber zu mehr, ist es mir ziemlich gleichgültig, wie Sie es bezeichnen.
Ich denke an den Abbau der Selbstschußanlagen.Ich erinnere an die Vereinbarungen im Bereich des Umweltschutzes zur Reinhaltung der Röden und an die Expertengespräche über Fragen des Umweltschutzes. Meine Damen und Herren, ich erinnere an die Tatsache, daß nach acht Jahren Stillstand die Verhandlungen über ein Kulturabkommen wieder aufgenommen werden konnten, daß Postvereinbarungen getroffen werden konnten, die bisher nicht möglich waren. Herr Kollege Brandt, ich erinnere Sie als den früheren Bürgermeister von Berlin an die Übernahme der S-Bahn und das weitere Offenhalten des Grenzübergangs Staaken. Meine Damen und Herren, wenn Helmut Schmidt ein solches Ergebnis erreicht hätte, hätten Sie hier stehende Ovationen dargebracht.
Wer von Gemeinsamkeit spricht und jeden Erfolg einer — aus Ihrer Sicht verständlicherweise nicht geliebten — Regierung mit Häme verfolgt, soll aufhören, von Gemeinsamkeit zu reden.
Wir werden unsere Deutschlandpolitik nüchtern und stetig fortführen, mit den Zielen, die ich schon früher in meinen Regierungserklärungen beschrieben habe. Die Weiterentwicklung unserer Beziehungen zur DDR dient den Menschen. Sie trägt zur Vertrauensbildung in Europa bei. Sie gibt positive Impulse für ein konstruktives West-Ost-Verhältnis. Wir bleiben dabei, daß mit dieser Politik der Verständigung, der langfristigen Zusammenarbeit und des Ausgleichs mit allen Vertragspartnern im Osten ein Beitrag für den Frieden und für eine zukünftige freundschaftlichere Beziehung zwischen den Staaten in Europa möglich ist. Meine Damen und Herren, auch das lassen Sie mich sagen: Ich bin sicher, daß dieses Ziel nicht zuletzt von unseren Landsleuten in der DDR verstanden wird. Es gibt viele Zeug-
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5908 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundeskanzler Dr. Kohlnisse für dieses Verständnis aus den letzten Wochen, das ich dankbar erwähnen möchte.Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalition der Mitte ist in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Ziel angetreten, die Freiheit zu bewahren und den Frieden in Europa zu festigen. Wir lassen uns dabei von dem Grundsatz leiten, daß Friedenspolitik geradlinig, berechenbar, vertragstreu und zuverlässig sein muß, nach West wie nach Ost. Ich kann heute mit großer Genugtuung feststellen, daß es uns gelungen ist, Verständnis und Freundschaft mit unseren Partnern im Atlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft nicht nur zu festigen, sondern erheblich zu vertiefen. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist wieder fest in die Politik des Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft eingebettet. Dies entspricht dem nationalen Interesse unseres Landes.Die Klarheit und Zuverlässigkeit der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung hat mit dazu geführt, daß unsere Partner diesseits und jenseits des Atlantiks bereit sind, ihre Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik erheblich zu intensivieren und stärker denn je auch auf unsere Interessen einzugehen.Herr Brandt, Sie fragten: Was haben Sie getan? Unsere Konsultationen über die Genfer Verhandlungen über den Abbau nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa waren beispielhaft eng und intensiv. Sie wissen dies, aber Sie sagen wider besseres Wissen das Gegenteil. Die Bundesregierung konnte maßgeblichen Einfluß ausüben, und sie hat ihn ausgeübt. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Regierungen ist dergestalt, daß dies erst recht in Zukunft möglich sein wird.Das Atlantische Bündnis ist heute wieder gefestigt und stark. Die Bundesregierung bestimmt die Politik der Allianz aktiv mit, weil sie eben bereit ist, Mitverantwortung zu übernehmen. Friedenssicherung in Europa und weltweit wird erfolgreich sein durch eine Politik des Gleichgewichts und der Verhandlungsbereitschaft, eine Politik der Verteidigungsfähigkeit und der Abrüstung und Rüstungskontrolle, des Dialogs und der Zusammenarbeit. Die politische Übereinstimmung im Bündnis wird es uns ermöglichen, den Zusammenhalt der NATO und damit ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu festigen, die Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle in ein Gesamtkonzept der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzubinden und neue Initiativen für konstruktive West-Ost-Beziehungen und für die Reduzierung der Waffensysteme auf allen Ebenen einzuleiten.Meine Damen und Herren, es bleibt das Ziel dieser Koalition und dieser Bundesregierung, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen.
— Sie sehen ja, Herr Brandt, wie es mit der Gemeinsamkeit steht; schon allein die Zielsetzung ineinem solchen Bereich führt j a zum Protest bei den Ihren.
— Herr Kollege Vogel, bei dem Begriff „Mimose" brauche ich nur Sie anzuschauen.
Selbst Ihre eigenen Kollegen, die hinter Ihnen sitzen, müssen bei diesem Vergleich mühsam um Haltung ringen.
Meine Damen und Herren, die sowjetische Führung konnte zu keinem Zeitpunkt Zweifel an der Haltung der Bundesregierung haben. Ich habe in meiner Regierungserklärung am 4. Mai 1983 von dieser Stelle aus unmißverständlich erklärt:Wenn die Sowjetunion nicht bereit ist, Sicherheit in Europa durch Abrüstung herzustellen, dann müssen wir uns Sicherheit durch die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen verschaffen.Herr Kollege Brandt, dieser Satz war ja nicht völlig frei erfunden. Er bedeutet die Fortführung einer Politik, die immerhin von Ihrem Stellvertreter Helmut Schmidt begründet wurde. Wir wollen doch ein Jahr danach nicht so tun, als hätten Sie mit einer solchen Politik nie etwas zu tun gehabt. Sie sind doch von dieser Politik abgerückt. Sie unterstützen doch heute einen Teil der Friedensbewegung, zwar mit der Begründung, das sei nur friedlich gemeint, aber an den Ergebnissen werden wir ja sehen, wohin der Weg führen wird.
Es lag nicht zuletzt an der Politik wichtiger Teile der deutschen Sozialdemokratie — ich spreche hier bewußt von Teilen —, wenn die sowjetische Führung im vergangenen Jahr Illusionen gehabt haben sollte und die Durchsetzungskraft der Teile der deutschen Bevölkerung, die sich gegen den NATODoppelbeschluß aussprachen, falsch eingeschätzt hat.Die Bundesregierung hat gemeinsam mit dem Bündnis wiederholt erklärt, daß unsere Bereitschaft zur Abrüstung und Rüstungskontrolle unvermindert fortbesteht. Herr Kollege Brandt, die Genfer Verhandlungen — das wissen Sie so gut wie ich — können, wo und wann auch immer, sofort wieder aufgenommen werden,
wenn die Sowjetunion dazu bereit ist. Wir sind bereit, auch über neue Verhandlungsforen zu sprechen, wenn dies gewünscht wird.Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern haben wir im letzten Jahr die KSZE-Folgekonferenz in Madrid zu einem erfolgreichen Abschluß geführt. Damals sagten Sie von der SPD — das klang heute ganz anders —, daß die Stockholmer Konferenz notwendig ist für vertrauens- und sicherheitsbildendeBundeskanzler Dr. KohlMaßnahmen. Wir bejahen das heute noch genauso. Der Westen hat dazu unter maßgeblicher Mitwirkung unserer Regierung ein gemeinsames Verhandlungspaket auf den Tisch gelegt.Im Frühjahr dieses Jahres konnte auf unsere Initiative hin bei den Wiener Verhandlungen über den Truppenabbau in Mitteleuropa ein neuer Verhandlungsvorschlag eingereicht werden.Wir haben erheblichen Anteil daran, daß die USA bei den Genfer Verhandlungen einen Vertragsentwurf über ein weltweites Verbot chemischer Waffen vorgelegt haben.Wir haben die amerikanische Bereitschaft unterstützt, jetzt im September in Wien ohne Vorbedingungen Verhandlungen mit der Sowjetunion über Rüstungskontrolle im Weltraum aufzunehmen.Schließlich haben sich die westlichen Verbündeten einschließlich der USA bereit erklärt, im Rahmen der Stockholmer Verhandlungen die Frage weiterer Vereinbarungen über die Bekräftigung des allgemeinen Gewaltverzichts zu prüfen, wenn Absprachen über konkrete, militärisch relevante und nachprüfbare sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen möglich werden. Das ist in diesen knapp zwei Jahren ein wesentlicher Beitrag zu dem Versuch, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen. Ich bin ganz sicher, Herr Kollege Brandt — auch wenn Sie das als Optimismus abtun —, daß nach den amerikanischen Wahlen — wenn die Führer der Sowjetunion dies wollen — eine gute Chance besteht, alsbald zu wirklichen Verhandlungen zu kommen, und wir werden dazu unseren Beitrag zu leisten haben.Wir haben ihn nicht nur in der NATO geleistet, sondern wir haben diesen Beitrag auch in der Europäischen Gemeinschaft geleistet. Wir haben die Politik der Regierung nie so gesehen: hier Europa und dort Amerika. Es war nie ein Entweder-Oder, sondern selbstverständlich ein Sowohl-Als auch. Es war ein deutscher Beitrag, der wesentlich dazu führte, daß es in Fontainebleau möglich war, in die festgefahrene Entwicklung in der EG wieder Bewegung zu bringen. Die Art und Weise, wie sich Ihre Sprecher dazu geäußert haben — nicht zuletzt z. B. hinsichtlich der Agrarpolitik —, zeigt doch, daß Sie gar nicht bereit sind, eine solche Linie zu unterstützen. Ich kann Ihnen doch die Frage stellen: Warum hat mein Amtsvorgänger, warum haben Sie zu der Zeit, in der Sie die Verantwortung hatten, nicht einen solchen Beitrag geleistet, um die Dinge in Europa wieder flottzumachen?
Die deutsch-französische Freundschaft hat sich in einer besonderen Weise bewährt. Sie bleibt für uns ein tragender Pfeiler für den Ausbau der europäischen Integration. Wir sind uns darüber im klaren, meine Damen und Herren, daß Europa — besser und korrekter gesagt: das EG-Europa — gerade nach der Europa-Wahl und nach der Mahnung, die die Bürger Europas uns allen auch durch ihre Abwesenheit von den Wahlurnen gegeben haben, einen neuen Anlauf zur politischen Integration nehmen muß. Ich gehe diesen Weg ohne jede Illusion,weil ich sehr deutlich sehe, daß in der Gemeinschaft, so wie sie sich heute darstellt, die Bereitschaft, im Sinne der Römischen Verträge neben der wirtschaftlichen Komponente die politische Entwicklung Europas zu fördern, sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.Wir haben gerade in diesen Tagen eine instruktive Lehre erhalten. Der französische Präsident wie auch ich hatten in Fontainebleau den Vorschlag gemacht, nach den Erfahrungen der späten 50er Jahre in einer Neuauflage oder Kopie der damaligen Spaak-Kommission eine Reihe von hervorragenden Persönlichkeiten, die nicht in ein Regierungsamt eingebunden sind, zu bitten, sozusagen eine Art Standortbestimmung der europäischen Institutionen vorzunehmen und uns entsprechende Anregungen zu geben.Bei der Benennung der Mitglieder dieser Kommission hat sich gezeigt, daß ein beachtlicher Teil unserer europäischen Partner nicht bereit war, unabhängige Persönlichkeiten zu benennen, sondern daß man von vornherein den Versuch unternahm, eine Gruppe zusammenzusetzen, von der keine europäische Inspiration — das sage ich hier in aller Offenheit — ausgehen würde. Wir nehmen dies zur Kenntnis. Aber es ändert nichts an der Notwendigkeit, gemeinsam mit jenen Partnern und Freunden in der Gemeinschaft einen neuen Anlauf zur politischen Integration zu nehmen, die dazu bereit sind. Ich hätte es begrüßt, wenn eine Zahl von hochangesehenen und kompetenten Persönlichkeiten — von unserer Seite war unser früherer Präsident, Karl Carstens, vorgeschlagen — diese Aufgabe des Ratgebers übernommen hätte.Meine Damen und Herren, ich danke Karl Carstens, daß er dazu bereit war. Aber es zeigt sich — —
— Meine Damen und Herren, es ist ja wirklich so, daß Sie zu der einfachsten Sachdiskussion unfähig sind. Ich dachte, Herr Kollege Brandt, zur Gemeinsamkeit gehört wenigstens, daß wir bereit sind, für die politische Einigung Europas einen neuen Anlauf zu nehmen. Wenn ich als Regierungschef hier korrekt darüber berichte und dann diese infantilen Äußerungen dazu höre, dann kann ich nur fragen: Wie wollen Sie da von Gemeinsamkeit reden?
Unsere Vision bleibt ein politisch und wirtschaftlich geeintes Europa, ein Europa, das mit einer Stimme spricht, ein Europa, das seine Vielfalt nicht aufgibt, ein Europa, das seinen Beitrag zum Frieden, zur Stabilität in der Welt leisten kann, ein Modell für Freiheit und Menschenrechte, für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Wohlstand bildet, ein Europa, das auch ein Partner, ein gesuchter Partner für die Staaten der Dritten Welt sein kann: für Asien, Lateinamerika und Afrika.Meine Damen und Herren, neben diesen beachtlichen Erfolgen unserer Außen-, Sicherheits- und
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5910 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundeskanzler Dr. KohlDeutschlandpolitik steht — auch das gehört in diese Debatte — die sehr ermutigende Bilanz unserer Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik. Der Kollege Stoltenberg hat vieles von dem, was dazu zu sagen ist, hier deutlich gemacht. Es war gut, daß er es vorgetragen hat, weil er einen wesentlichen und entscheidenden Anteil an dieser Politik hat.
Herr Kollege Apel, das, was Sie dazu gesagt haben, ist in der Tat so, daß man darauf nicht zurückzukommen braucht. Es ist hier in einer Form vorgetragen worden, als hätten Sie nicht gestaltend die Jahre 1981 und 1982 miterlebt.Sie haben heute protestiert, daß man immer wieder über die Erblast spricht. Meine Damen und Herren, das ist halt so im Leben: Wenn man eine solche Erblast hinterlassen hat, wie Sie das getan haben, dann denken die Leute noch nach Generationen daran. Das ist so.
Es war doch die deutsche Sozialdemokratie — Helmut Schmidt hat es in seiner zu Recht berühmten Rede vor Ihrer Fraktion dargestellt —, die das Land so heruntergewirtschaftet hat.Meine Damen und Herren, wir haben unter schwierigsten Bedingungen 1982 mit einer Neuorientierung dieser Politik begonnen. Wir sind bewußt das Risiko eingegangen, eine Neuwahl herbeizuführen und dem Wähler vor der Wahl zu sagen, was zu tun ist. Wir haben eine klare Mehrheit für diese Politik bekommen. Wir werden diese Politik im Auftrag dieser Mehrheit auch gestalten.
Meine Damen und Herren, es gibt wieder wirtschaftliches Wachstum. Es gibt Perspektiven — trotz großer Schwierigkeiten — für eine anhaltende Aufwärtsentwicklung. Herr Kollege Brandt, was hätten Sie hier gesagt, wenn Sie in den letzten Jahren hätten darauf hinweisen können, daß trotz eines Arbeitskampfes und trotz aller Probleme im Innern und nach außen eine Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts von 2,5% im Jahr erreicht wurde?Was wäre geschehen, wenn ein sozialdemokratischer Kanzler in der Lage gewesen wäre, von diesem Pult aus zu erwähnen, daß innerhalb der letzten 18 Monate praktisch Preisstabilität erreicht wurde, daß die Inflationsrate zuletzt auf 1,7 % zurückgegangen ist? Das ist doch wirklich sozial gerechte Politik, die wir damit gemacht haben.
Dieser Politik der Preisstabilität ist es doch zu verdanken, daß die Realeinkommen der Arbeitnehmer in diesem Jahr erstmals seit 1980 wieder zugenommen haben, und sie werden weiter zunehmen. Der Stabilitätsgewinn — Herr Kollege Apel, auch davon haben Sie nicht gesprochen — sichert den Bürgern eine Kaufkraft in Höhe von nicht weniger als 30 Milliarden DM. Das ist weit mehr, als alleIhre Programme in den letzten Jahren überhaupt zu bewegen vermochten.
Gerhard Stoltenberg hat hier eingehend über die Entwicklung beim Haushaltsdefizit Bericht erstattet.Meine Damen und Herren von der SPD, Sie brauchen doch nur Ihre eigenen Reden vom Dezember 1982 zum Nachtragshaushalt nachzulesen — soweit wird man sich in einem deutschen Parlament doch noch erinnern dürfen —, um zu wissen, daß alle Ihre Prophezeiungen nicht eingetreten sind. Was Sie in diesen Jahren geboten haben, war nicht Perspektive, sondern begleitende Häme zu unserer Politik.
Herr Kollege Apel, der Zinsabstand zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Kapitalmarkt — ich sage das, weil Sie sofort zu der für einen Sozialdemokraten heute selbstverständlichen Amerikaschelte kamen — hat sich zuletzt auf fünf Prozentpunkte erhöht. Abgesehen von der Schweiz und Japan sind die Zinsen in der Bundesrepublik heute weltweit die niedrigsten. Das ist ein starker Impuls für die Investitionen in unserer Wirtschaft.Unser Hauptproblem — das ist wahr; hier sind wir noch lange nicht über den Berg — heißt Arbeitslosigkeit. Wir alle sind uns darüber im klaren, daß es für die Überwindung der Arbeitslosigkeit, vor allem der strukturellen und regionalen Probleme, keine Patentrezepte, keine schnellen Lösungen gibt.Unsere Sprecher — mein Freund Waigel —, haben heute früh darauf hingewiesen, daß das, was über viele Jahre gewachsen ist, doch nicht in wenigen Monaten beseitigt werden kann. Wenn wir heute in der Bundesrepublik darüber diskutieren müssen, daß wir ein Süd-Nord-Gefälle in der Wirtschaftsstruktur haben, muß man doch die Frage stellen, was in Hamburg, was in Bremen, was in Nordrhein-Westfalen im letzten Jahrzehnt an Strukturpolitik geschehen ist. Ich kann unbefangen darüber reden, weil ich viele Jahre als Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes Verantwortung getragen habe und dieses Bundesland jedenfalls in der Entwicklung seiner Struktur der letzten 15 Jahre sehr wohl vorzeigbar ist. Auch das gehört j a ins Bild unserer Politik.
Es ist uns gelungen — auch wenn Sie das bestreiten —, innerhalb von eineinhalb Jahren den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu stoppen. In den zwei Jahren zuvor waren 800 000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Die Arbeitslosenzahl war um 1 Million gestiegen. Im Herbst 1982 war ein Ende des verhängnisvollen Trends zu mehr Arbeitslosigkeit nicht in Sicht. Wir konnten diese dramatische Entwicklung stoppen.
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Bundeskanzler Dr. Kohl— Ich nenne Ihnen gerade ein Beispiel, wenn Sie bereit sind, das zur Kenntnis zu nehmen. Die Kurzarbeiterzahl
ist seit Januar 1983 sogar von 1,2 Millionen auf zuletzt 212 000 zurückgegangen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, verstehen diese Zahlen doch genauso wie wir. Sie wissen, daß die Vorstufe zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit der Abbau der Kurzarbeit ist,
daß im betrieblichen Alltag doch zunächst der Kurzarbeiter wieder in ein normales Arbeitsverhältnis überführt wird. Das ist eine positive Entwicklung, auch wenn Sie durch Ihre Sprecher entweder glauben machen oder herbeireden wollen, daß es ganz anders ist.
Wir beobachten auch bei aller Sorge, die wir haben, ermutigende Zeichen beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit liegt jetzt, anders als 1982, unter derjenigen aller Arbeitnehmer.
— Ich komme auf das Thema Lehrstellen.
Darüber spreche ich mit Ihnen besonders gerne.Auch die Entwicklung bei den offenen Stellen signalisiert die Bewegung auf dem Arbeitsmarkt.Wir überschätzen diese Zahlen nicht. Wir sind — ich sage es noch einmal — noch lange nicht über den Berg. Aber die Bilanz zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Mit solider Haushaltspolitik, mit der bewährten Politik der Sozialen Marktwirtschaft haben wir erreicht, daß die Wirtschaft wieder wächst, und zwar bei stabilen Preisen. Das ist sozial gerecht. Es gibt nichts sozial Gerechteres als stabile Preise.
Daß die gewerbliche Wirtschaft wieder höhere Erträge erzielt, daß wieder investiert wird und daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessert wurde, ist gelungen, obwohl unsere Volkswirtschaft in diesem Jahr erheblichen Belastungen durch die Arbeitskämpfe ausgesetzt war. Ich will auch dazu ein Wort sagen. Die Tarifautonomie ist unverzichtbarer Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört — ich sage das, obwohl einige es nicht gerne hören — selbstverständlich das Recht der Tarifpartner, ihre Interessen auch mit den Mitteln des Arbeitskampfes zu vertreten. Wer ja sagt zur freien Gesellschaft, muß auch ja sagen zu den Kampfmitteln der Tarifpartner. Man hat es nicht mit einer wirklich freien Gesellschaft zu tun, wenn das nicht selbstverständlich einbezogen wird.Eine ganz andere Frage ist, inwieweit die Tarifpartner verpflichtet sind, sich etwa hinsichtlich des Zeitpunkts eines solchen Streiks an ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung zu orientieren.
Wir, die Bundesregierung, sagen ohne Wenn und Aber ja zur Tarifautonomie. Auf der anderen Seite gehört es zur gesamtpolitischen Verantwortung der Regierung — das muß ich an Ihre Adresse gerichtet sagen —, daß die wirtschaftlichen Risiken und die Gefährdungen als Folgen eines Arbeitskampfes auch von ihr kommentiert werden können. Freie Gesellschaft und Tarifautonomie heißt nicht, daß die eine Seite handelt und die andere, die die politische Verantwortung trägt, zu allem zu schweigen hat. Das ist ein völlig undenkbares Modell einer freien Gesellschaft.
Nach Beendigung des Arbeitskampfes wird es notwendig sein, den Dialog zwischen den Tarifpartnern, zwischen den Gewerkschaften, den Arbeitgebern und der Politik, zu intensivieren.
— Meine Damen und Herren, er war nie abgebrochen. Das wissen Sie doch auch. Reden Sie sich doch nichts ein. Sie haben doch Gewerkschaftsführer in Ihrer eigenen Fraktion, die Ihnen bestätigen können, daß das Gespräch immer weitergegangen ist. Was soll also eine derartige Darstellung der politischen Situation?Alle Beteiligten, Gewerkschaften wie Unternehmer, haben ihre Bereitschaft dazu signalisiert. Wir brauchen diese Gemeinsamkeit bei all dem, was wir kontrovers diskutieren müssen. Ich denke auch, daß die Erfolgsaussichten einer solchen Zusammenarbeit günstig sind. Es gibt gute Beispiele. So wurden für die 60 000 Bergleute im Steinkohlenbergbau in Zusammenarbeit mit der IG Bergbau und Energie Anpassungsschichten vereinbart. Sie verhindern, daß ein strukturmäßig besonders schwieriges Gebiet, nämlich das Ruhrgebiet, durch arbeitslose Bergleute zusätzlich belastet wird. Die Bundesregierung, der Steuerzahler, leistet hierzu einen erheblichen Beitrag. Auch in anderen Branchen wurden Fortschritte erzielt. Gerhard Stoltenberg, Theo Waigel und andere sprachen schon von den Stahlunternehmen. Das gilt auch für Teile der Werftindustrie und für viele andere Bereiche.Mein Amtsvorgänger pflegte bei solchen Gelegenheiten immer gern die internationale Presse zu zitieren. Er pflegte besonders gerne die „Financial Times" zu zitieren.
Ich will mich heute diesem großen Vorbild anschließen
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5912 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundeskanzler Dr. Kohlund die „Financial Times" vom 3. August zitieren, die da schlicht und einfach kommentiert — ich zitiere —:
Wenige Länder haben heute bessere wirtschaftliche Aussichten als Westdeutschland. Die Regierung Kohl hat nahezu alles richtig gemacht.Meine Damen und Herren, ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Stellen Sie sich einmal vor, was hier im Saal los gewesen wäre, wenn einer hätte vorlesen können: Die Regierung Schmidt hat alles richtig gemacht.
Ich denke nicht, daß uns dieser Kommentar dazu bringen muß, auszuruhen. Zeitungskommentare veralten, wie Sie wissen, sehr schnell, und das weiß ich sehr genau. Aber es ist ein guter Ansporn. Es ist vor allem ein Hinweis darauf, daß die Grundlinie unserer Politik richtig ist. Neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze können nur durch mehr Investitionen geschaffen werden. Diese Investitionen wird es ohne Wirtschaftswachstum nicht geben. Es gibt zwar einige hier im Saal, die von anderem träumen. Aber das bleibt eben ein Traum. Denn wer erweitert schon seine Kapazitäten ohne hinreichende Aussicht darauf, daß seine Produkte einen vernünftigen Absatzmarkt finden?Die Bundesregierung hat die Bedingungen für wirtschaftliches Handeln nachhaltig verbessert. Sie hat damit Wirtschaftswachstum und Investitionen wieder möglich gemacht. Wir haben mit der Konsolidierung der Staatsfinanzen neuen Handlungsspielraum für die Politik geschaffen. Den nutzen wir jetzt. Wir verwirklichen weniger Staat und mehr Freiraum für private Initiativen, insbesondere durch die Senkung von Steuern und Abgaben. Was ich von Herrn Kollegen Apel dazu gehört habe, war schon erstaunlich. Es ist eben wahr: Für einen Sozialisten ist die Vorstellung, daß jemand kommt und Abgaben senkt, völlig undenkbar. Auch das ist eine Erfahrung.
Wir stellen das System der sozialen Sicherung auf eine dauerhafte und tragfähige Grundlage. Wir sorgen für mehr soziale Gerechtigkeit durch die stärkere Öffnung des Arbeitsmarktes für die, die draußen stehen.
— Ich komme noch zu Ihrem Thema. — Wir verwirklichen die angekündigte Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft, und das heißt für uns: Einsatz für mehr Strukturwandel.Meine Damen und Herren, wir setzen mehr Umweltschutz durch und sichern damit die natürlichenLebensgrundlagen für uns und die nachfolgende Generation.
Ich weiß gar nicht, warum Sie bei diesem Thema unruhig werden. Was haben Sie in diesen 13 Jahren denn gemacht, als Sie hier die Regierungsverantwortung hatten?
Warum, meine Damen und Herren, ist bei uns das umweltfreundliche Auto nicht — wie in Japan und in Amerika — bereits eingeführt? Weil Sie in der deutschen Sozialdemokratie zu einer solchen Entscheidung doch nicht fähig waren!
Es bleibt bei der Politik der Haushaltskonsolidierung. Wir werden die Entlastung der Arbeitnehmereinkommen durchführen. Wir machen ernst mit der Devise, die auch unsere Wahlparole vor der Wahl war: weniger Staat, mehr Freiraum für private Initiative; Leistung muß sich wieder lohnen. Mit einem Gesamtvolumen von 20,2 Milliarden DM werden wir die Familien mit Kindern entlasten sowie den Steuertarif spürbar und dauerhaft absenken. Beides sind wichtige Teile unserer Reform.Herr Kollege Apel, der familienpolitische Teil dieser Steuerreform ist für uns von weittragender gesellschaftspolitischer Bedeutung. Wer einem Kind im Elternhaus Sprachschatz, Denkvermögen und ein Stück Glück auf den Lebensweg vermittelt, wer ihm das Hineinwachsen in die menschliche Gesellschaft ermöglicht, wer es die ganze Liebe einer verantwortungsbewußten Erziehung durch Eltern erfahren läßt, der hat Anspruch darauf, daß diese Leistung genauso anerkannt wird wie jede Leistung in einer beruflichen Aufgabe.
Deshalb wollen wir die besondere Förderung der Familie. Für den Lastenausgleich zugunsten der Familie stellen wir ab 1986 jährlich rund 8 Milliarden DM zusätzlich zur Verfügung. Ich frage Sie auch zu diesem Punkt: Wenn Sie das alles immer gewußt haben, warum haben Sie denn keine familienfreundlichere Politik im letzten Jahrzehnt gemacht?
Neben einer familiengerechten Gestaltung der Lohn- und Einkommensteuer haben wir einen Kindergeldzuschlag für die Bezieher geringer Einkommen beschlossen. Wir erweitern das Mutterschaftsgeld zu einem Erziehungsgeld für alle Mütter und Väter und heben den Höchstbetrag an, und wir werden Kindererziehungszeiten als rentensteigernd anerkennen. Das ist ein in sich geschlossenes Programm.
Es ist wahr, daß unser Land heute bei vielen als familien- und kinderfeindlich gilt. Wir sollten alles tun, damit Kinder wieder als Segen verstanden wer-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5913Bundeskanzler Dr. Kohlden — als Segen für das ganze Land und seine Zukunft. Die Familie ist das unentbehrliche Fundament für den Staat und die Gesellschaft. Das soziale und das menschliche Klima des Landes hängt entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, unsere soziale Umwelt wieder kinder- und familienfreundlich zu gestalten.
Wir stellen das System der sozialen Sicherung auf eine solide und dauerhafte Grundlage.Die Wahl am 6. März letzten Jahres hat gezeigt, daß die große Mehrheit der Bürger begriffen hat, was von vielen Sozialisten immer noch nicht begriffen wird: daß man eben auf die Dauer nur verbrauchen kann, was vorher erarbeitet wurde, und daß eine Sanierung des Ganzen nur mit Opfern möglich ist.Wir haben wichtige Schritte getan. Der Bundesarbeitsminister hat sowohl für die Rentenversicherung als auch für die Krankenhausfinanzierung konkrete Vorschläge fristgerecht auf den Tisch gelegt. Für mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sorgen wir auch mit einer stärkeren Öffnung des Arbeitsmarktes für die, die noch draußen stehen. Denn es muß uns doch zunächst einmal um jene gehen, die keinen Arbeitsplatz besitzen. Worauf es ankommt, ist, den Betroffenen möglichst rasch zu helfen und gleichzeitig den Arbeitsmarkt und seine Bedingungen so zu gestalten, daß tatsächlich ein Maximum an Beschäftigung erreicht wird. Eine kurzfristige Entlastung des Arbeitsmarkts hat die Bundesregierung mit der Anwendung aller Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes erreicht. Über 80 000 Männer und Frauen finden Arbeit durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Auch das ist eine Zahl, die weit über dem liegt, was Sie je in dem Jahrzehnt, als Sie hier in der Verantwortung waren, erreicht haben. Die Förderung der beruflichen Bildung wurde verstärkt. Insgesamt wird der Arbeitsmarkt durch solche Formen direkter Unterstützung heute um rund 370 000 Arbeitssuchende entlastet.Diese Politik schneller, kurzfristiger Hilfen wird ergänzt durch ein Konzept, das auf dauerhafte Bereitstellung von Arbeitsplätzen zielt. Ein ganz wichtiger Schritt — von Ihnen j a auch lange genug mit Häme begleitet — ist die Vorruhestandsregelung. Im Rahmen der bisher geschlossenen Tarifverträge besteht bereits für 240 000 ältere Arbeitnehmer die Möglichkeit, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Dies ist ein wesentlicher Beitrag zu mehr Beschäftigung. Dies gilt auch für das Bündel von Maßnahmen, die wir im sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz zusammengefaßt haben.Heute, in einer Aufschwungphase, lassen viele Betriebe Überstunden leisten und Sonderschichten fahren. Die Möglichkeit von Zeitarbeitsverträgen ist sehr wesentlich, weil sie eine Hilfe für Neueinstellungen bedeutet. Wir wollen für eine Übergangszeit diese Möglichkeit zur einmaligen Befristung von Arbeitsverträgen erleichtern. Ich habe von Ihrer Seite noch nicht ein einziges vernünftiges Argument zu der sehr einprägsamen Feststellung meines Freundes Norbert Blüm gehört, der sagt, es seigrundsätzlich besser, befristet Arbeit zu haben, als unbefristet arbeitslos zu sein.
Ich will in der Kürze der Zeit die vielen anderen Maßnahmen, die wir getroffen haben — freiwillig vereinbarte Teilzeitarbeit, Jobsharing, variable Arbeitszeit, alles, was eine Öffnung zu mehr Flexibilität im Arbeitsmarkt bedeutet — hier nicht im einzelnen aufführen. Ich weiß, daß das Ihre Kritik findet, weil Sie aus den altvertrauten Gleisen nicht heraustreten können.
Wer jetzt in dieser Situation nicht den Mut hat, neue, sozialverträgliche Wege zu gehen, wird das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen können.
Eines der wichtigsten Themen in diesem und noch im nächsten Jahr ist die Bereitstellung von genügend Lehrstellen.
Das ist auch so ein Thema, bei dem sich weite Teile der deutschen Sozialdemokratie im letzten Jahr nicht durch Mitarbeit, sondern durch Häme ausgezeichnet haben.
Es war die gemeinsame Leistung von vielen verantwortlichen Männern und Frauen in der Wirtschaft, Unternehmern, Handwerkern, Betriebsräten, Einzelhändlern, Leuten aus den freien Berufen, daß sie die Rekordzahl von 700 000 Ausbildungsplätzen im letzten Jahr erreichen konnten. Wir haben sie ohne gesetzlichen Zwang erreicht. Wir haben sie ohne Auflagen erreicht. Wir haben sie mit dem Appell an die Verantwortungsbereitschaft unserer Mitbürger erreicht.
Wir wissen, daß wir in diesem Jahr noch mehr Plätze zur Verfügung stellen müssen, weil der Jahrgang, der jetzt ansteht, eine höhere Zahl umfaßt und weil zum zweiten das Problem durch eine an sich höchst erfreuliche Entwicklung potenziert wird. Zum erstenmal stellen wir nämlich bei den Abgängern aus den Gymnasien fest, daß der Weg zum dualen System der praktischen Ausbildung dem Weg zur Universität vorgezogen wird. Im Blick auf die drohende Jungakademikerarbeitslosigkeit ist das eine höchst erfreuliche Entwicklung.
Deswegen müssen wir alles tun, um die notwendigen Stellen bis Ende dieses Jahres auf allen nur denkbaren praktischen Wegen bereitzustellen.Meine Damen und Herren, wir werden als Bundesregierung mit gutem Beispiel vorangehen. Wir werden auch gemeinsam mit den Kammern, den Handwerks- und den Industrie- und Handelskammern, im dualen System nach unorthodoxen Mög-
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5914 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundeskanzler Dr. Kohllichkeiten und Wegen suchen müssen, um das Problem zu lösen.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weisskirchen?
Nein.
Ich appelliere von dieser Stelle aus eindringlich an alle Verantwortlichen, ihr Angebot an Ausbildungsplätzen noch einmal zu überprüfen. Mein Appell richtet sich besonders auch an diejenigen, die bisher noch nicht ausgebildet haben und die diese Chance noch wahrnehmen könnten.
— Ich habe keine Garantieerklärung abgegeben.
— Entschuldigung, es ist doch nun wirklich meine freie Entscheidung, wie ich mein Angebot formuliere. Da brauche ich nicht Ihren Rat.
Meine Damen und Herren, wir verwirklichen die angekündigte Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft und unterstützen damit auch den notwendigen Strukturwandel. Wir haben seit 1949 die Erfahrung gemacht, daß die Soziale Marktwirtschaft wie keine andere Ordnung geeignet ist, persönliche Freiheit, Gleichheit der Chancen, Eigentum, Wohlstand und sozialen Fortschritt für alle zu verwirklichen. Wir wissen auch, daß in diesem Jahrzehnt und für den Rest dieses Jahrhunderts die Entscheidung auch im ökonomischen Bereich in einem vernünftigen Verhältnis zwischen Ökologie und Ökonomie zu suchen ist. Wir wissen, daß die Unternehmungen die Anpassung an veränderte Marktbedingungen am besten bewältigen, wenn der Staat sie nicht mit viel Bürokratie überzieht, sondern ihnen einen möglichst großen Freiraum gewährt. Wir werden auf diesem Wege voranschreiten, genauso wie wir die Ankündigung wahrmachen werden, daß wir weitere Betriebe, die in Staatsbesitz sind, reprivatisieren werden. Wir halten dies für einen wichtigen Weg einer wirklich freien sozial geordneten Gesellschaft.
Erfreulicherweise ist die Zahl der Betriebe, die neu gegründet wurden, wieder erheblich gestiegen. Die Neueintragungen im Handelsregister haben 1983 um 11% zugenommen. Die geförderten Existenzgründungen sind um ein Drittel auf 16 000 Unternehmen angestiegen. Damit wurden 80 000 neue Arbeitsplätze errichtet. Dieser Trend wird sich sicherlich auch in diesem Jahr fortsetzen.
Meine Damen und Herren, den größten Nachholbedarf im Bereich der Innenpolitik fanden wir in der Umweltpolitik vor. Es ist eine seltsame Sache, daß wir hier von Ihrer Seite Ratschläge erhalten, wo doch niemand im Ernst behaupten kann, daß das Waldsterben nach meiner Wahl zum Kanzler am 1. Oktober 1982 entstanden ist. Ich habe Ihnen schon gesagt: In allen wesentlichen Fragen hat Ihre
Regierung, Herr Kollege Brandt, nichts unternommen, auch die des Kollegen Schmidt nicht.
Was die Frage nach dem umweltfreundlichen Auto betrifft, so waren zu Ihrer Amtszeit, als Sie Kanzler waren, die Entscheidungen in Amerika und in Japan getroffen. Daß in Ihrer Koalition nichts geschah, können Sie wahrlich nicht auf den Kollegen Baum und die FDP schieben. Schauen Sie sich die Akten an; dann werden Sie feststellen, wo es hakte.
Wir in der Koalition haben bereits wenige Monate nach Amtsantritt die GroßfeuerungsanlagenVerordnung verabschiedet und haben damit eine Entscheidung getroffen, über die zuvor nur geredet wurde. Bis 1988 wird allein durch diese Entscheidung die Schwefelabgabe aus Kraftwerken um 1 Million t reduziert. Das bedeutet eine Verringerung um rund 50 %.
Das neue Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau — Herr Kollege Apel, Sie sprachen davon — geht in die gleiche Richtung. Es fördert Umweltschutzinvestitionen im Gesamtbetrag von 10 Milliarden DM. Die Anstalt stellt dazu ein Kreditvolumen von 3,5 Milliarden DM zur Verfügung.
Noch in diesem Jahr werden wir trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Emissionswerte der TA Luft verschärfen. Dadurch wird die Belastung der Luft durch Schadstoffe aus Industrieanlagen weitgehend abgebaut werden. Wir handeln, obwohl wir wissen, daß wir damit in dieser schwierigen, kritischen Zeit unserer Wirtschaft zusätzliche Kosten auferlegen.
Meine Damen und Herren, in den allernächsten Wochen werden wir unsere Entscheidung über das umweltfreundliche Auto treffen. Wir haben durchgesetzt, daß diese Frage jetzt auf der Tagesordnung der Europäischen Gemeinschaft steht. Die Diskussion zu diesem Thema in der Bundesrepublik geht — lassen Sie mich das offen aussprechen — zu stark von einer nationalen Alleinkompetenz aus, die im Zeitalter der EG eben nicht mehr gegeben ist. Für uns ist entscheidend, daß wir hier zu Hause die richtigen Entschlüsse fassen, und zwar sehr rasch fassen, damit sie im Jahre 1986 — mit all den Vorbereitungen, die in der Wirtschaft, nicht zuletzt in der Mineralölindustrie, notwendig sind — greifen können. Zum anderen müssen wir unsere Partner in der EG für diese Politik gewinnen.
Meine Damen und Herren, ich sage dies ohne jede Illusion: In der Frage der Ökologie befinden wir uns auf Grund der besonderen Schadenssituation in der Bundesrepublik — ich sage: leider — in einer Art von Pilotfunktion in der EG. Es wird große Kraft kosten, unsere Partner in der EG von der Notwendigkeit frühestmöglicher Entscheidungen zu überzeugen. Die bis jetzt für die Einführung des umweltfreundlichen Autos in der Europäischen Gemeinschaft genannten Daten sind für mich nicht akzeptabel. Das will ich klar und deutlich aussprechen.
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Bundeskanzler Dr. Kohl
Meine Damen und Herren, daran, daß wir mehr Umweltschutz brauchen, kann es keinen Zweifel geben.
Aber es geht darum, daß wir einen vernünftigen Mittelweg zwischen Ökologie und Ökonomie finden. Arbeit und nicht zuletzt soziale Sicherheit hängen in der Bundesrepublik Deutschland davon ab, ob wir unseren Rang als führende Industrienation in der Welt behaupten können. Umweltschutz ist wahrlich kein Privileg — auch kein moralisches Privileg — bestimmter Einzelgruppen und auch kein Vorwand, die Gesellschaft politisch verändern zu wollen.
Umweltschutz ist eine Aufgabe unserer modernen Industriegesellschaft, aber es geht in dieser Industriegesellschaft nicht nur um Umweltschutz, sondern immer auch um Arbeit und Brot.
Meine Damen und Herren, nach den Erfahrungen mit der Debatte um Buschhaus habe ich erhebliche Zweifel, ob die Opposition in diesem Hause in diesem Punkt überhaupt handlungsfähig ist.
Meine Damen und Herren, Umweltschutz mit Augenmaß ist in der heutigen Sozialdemokratie offensichtlich nicht denkbar.
Ich zitiere das, was von dieser Stelle aus der Vorsitzende der IG Bergbau und Energie, Adolf Schmidt, in seiner Eigenschaft als Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion sagte:
Die dortigen Kollegen
— er meinte die Arbeitnehmer in Buschhaus —
behalten Arbeit, die sinnvoll ist, die erfüllt und am Ende auch glücklich macht ...
Nach diesem Zitat eines führenden deutschen Sozialdemokraten lese ich in Ihrem offiziellen Parteiorgan, im „Vorwärts", Herr Kollege Brandt, folgendes, was sich auf die Äußerung des Kollegen Schmidt bezieht — Zitat —:
Mit einer solchen Argumentation kann man auch für die Todesstrafe eintreten, weil man dem Scharfrichter die Freude an der Arbeit nicht nehmen will.
Meine Damen und Herren, was sollen wir von einer Partei halten, die behauptet, die Interessen der deutschen Arbeitnehmer zu vertreten, und die aus Gründen des Opportunismus jedem Zeitgeist in dieser Weise nachrennt?
Herr Kollege Brandt, das wäre ein Feld der Gemeinsamkeit, wo wir gemeinsam vernünftige ökologische Beschlüsse und vernünftige ökonomische Daten setzen könnten.
Meine Damen und Herren, in den knapp zwei Jahren unserer Amtszeit haben wir wichtige Ziele erreicht. In unserer Außenpolitik stehen wir fest auf der Seite der Freiheit, an der Seite unserer Freunde im Bündnis und sind berechenbare Partner für unsere Nachbarn im Osten.
Zwischen den beiden Staaten in Deutschland gibt es einen intensiven Dialog, vielfältige Kontakte, konstruktive Zusammenarbeit auf vielen Feldern.
Bei unserem Einsatz für eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht haben wir mehr Freiräume für die Bürger geschaffen, Freiräume für Eigeninitiative und kreatives Handeln, für die Entfaltung der Persönlichkeit, für die Mitverantwortung für den Nächsten. Wir haben wieder Ordnung in den Staatsfinanzen. Wir haben solides Wirtschaftswachstum, und der Aufschwung ist da, und er geht weiter. Die Bundesrepublik Deutschland hat alle Chancen für die Zukunft. Wir müssen die Chancen nur gemeinsam nutzen.
Ich bin davon überzeugt, meine Damen und Herren, daß dieser Weg der politischen Mitte der richtige Weg ist, und ich bin sicher, daß die Koalitionsfraktionen, daß FDP, CSU und CDU diesen Weg gemeinsam mit dem in dieser Legislaturperiode erreichbaren Ziel gehen werden. Unsere Politik ist ein Angebot an alle Bürger, an die Unternehmer wie an die Arbeitnehmer, an die Jungen wie an die Alten. Wir wollen, daß unsere Bundesrepublik Deutschland, wir wollen, daß unser Vaterland seine Chance hat, und wir wollen dazu beitragen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, wir haben mit Ihrer langen Rede sehr viel Zeit verloren.
Diese Rede hat für mich den Eindruck von IhrerRegierungskunst nicht wesentlich verbessert,
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5916 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Frau Dr. Vollmerebenso wie das, was wir in der Sommerpause von Ihnen und Ihrer Regierung erlebt haben, einen sehr schlechten Eindruck gemacht hat. Alle Gelassenheit und alles froh-getroste Holdrio des Kanzlers täuscht doch nicht darüber hinweg, daß er, wenn ich richtig sehe, einen politischen Herbst des Mißvergnügens vor sich hat und daß er politisch geschwächt aus dieser Sommerpause in diesen Herbst geht.
Wenn ich es richtig sehe, so gab es allein in diesen letzten zwei Monaten drei Waterloos dieser Regierung, und wie weiland Napoleon hüpft sie nun von Insel zu Insel, um eine Fluchtburg zu finden.
Das erste war das demokratisch-parlamentarische Waterloo: der offene Sprung rückwärts über den Zaun gegenüber den eigenen parlamentarischen Entscheidungen im Fall Buschhaus. Das zweite war das ökonomische Waterloo: ein rasanter Kniefall vor der Autoindustrie in der Frage des Katalysator-autos bis zur Lächerlichmachung des Innenministers. Das dritte war das deutschlandpolitische Waterloo: die Absage des Honecker-Besuchs nach über einem Jahr reger deutsch-deutscher Frühlingsschwalben; und es hat mich nur gewundert, Herr Bundeskanzler, wie viele Federn davon Sie sich in Ihrer Rede an Ihren Jägerhut haben heften wollen, die Sie sich gar nicht erarbeitet haben.
Ich habe bei diesen Niederlagen der Regierung keinen Anlaß, unsere Rolle als Opposition dabei herunterzuspielen. Aber das Interessanteste an diesen drei Ereignissen ist, daß sie jeweils die heftigsten Brüche und Verwerfungen gerade im konservativen Lager, gerade in Ihren Reihen gezeigt haben. Da kann man beim Zusehen schon atemlos werden.
Insbesondere in der Frage der Deutschlandpolitik haben wir lange darauf gewartet, daß der Streit endlich, endlich da losgeht, wo er von Anfang an seine entscheidende Ursache und seinen Sitz im Leben hatte, nämlich in Ihren Reihen selber, im konservativen Lager.
Wie tiefgreifend dieser Bruch in Ihren Reihen ist, will ich Ihnen allein an den verschiedenen Erklärungsmustern zeigen, die für diese Absage herangezogen wurden.Das erste Erklärungsmuster lautet: Entscheidend für die Absage war massiver Druck — eine Kampagne aus Moskau — auf Erich Honecker und die DDR. So lautet die Erklärung von Alfred Dregger, natürlich auch vom Bundeskanzler, der sein Freund ist, und von all denen in der CDU, denen Herr Dregger zwar voll aus dem Herzen gesprochen hatte, die dann aber doch etwas über die Wirkungen erschraken. Auch ein großer Teil der Bevölkerung siehthierin noch die Hauptursache — was ich nicht vergessen will.
— Ich denke, das müßte Ihnen doch passen, daß ich dies so erwähne.
Das zweite Erklärungsmuster: Es gab auf bundesdeutscher Seite bei der Vorbereitung dieses Besuchs einen katastrophalen, unverantwortlichen Dilettantismus, eben jene „diplomatische Großmeisterei", die von Herrn Strauß, von Herrn Genscher, von dem Großteil der SPD und wohl auch von dem Bundespräsidenten so getadelt wurde. Da wurden mögliche Gesprächsthemen schon vorher ausgegrenzt oder schon vorher öffentlich beantwortet; Protokoll- und Statusfragen wurden in einer Weise erörtert, die nur einer Herabsetzung des Besuchers dienen konnten; ja, sogar die Grenzfestsetzung am Nordostufer der Elbe mußte vorher amtlich und öffentlich hinausposaunt werden.
Das dritte Erklärungsmuster lautet: Es gab offensichtlich auch bei unseren westlichen Bündnispartnern Unbehagen über dieses Wachsen des deutschdeutschen Dialogs, zumal sich die Bundesrepublik damit auch wirtschaftlich eine Sonderstellung im Ost-West-Handel erkaufte. Das brachte die gegenüber westlicher Kritik immer ganz besonders willfährige Bundesregierung dann zum Trudeln und zu den bereitwilligen öffentlichen Äußerungen, es werde sowieso nur über einige deutsch-deutsche „Spezereien" wie Umweltschutz und Reiseerleichterungen geredet — was die Gespräche für die DDR politisch völlig unattraktiv in schwieriger Zeit machen mußte; ganz zu schweigen von dem provozierenden Faktum, daß ausgerechnet zwei Wochen vor dem geplanten Besuchstermin zum ersten Mal seit 17 Jahren ein deutscher Bundeskanzler auf einem Vertriebenentreffen auftreten mußte.
Es gibt in der Vorgeschichte dieses Besuchs Ereignisse, die zu denken geben. Gerade wenn man der Einschätzung war, daß die Sowjetunion derzeit eine deutsch-deutsche Annäherung keineswegs unterstützt, hätte man um so sensibler darauf achten müssen, jeden Anschein der Abwertung oder Beschränkung dieses Besuchs und seiner Gesprächsthemen zu vermeiden. Gerade dann hätte man nicht den peinlichen Eindruck erwecken dürfen, die DDR lasse sich einfach Grundpositionen durch Kredite abkaufen. Sie, Herr Dregger, waren daran sehr wohl beteiligt.
Oder aber man muß zu dem Schluß kommen, daß esbestimmte Kreise in der CDU gibt, die mit der Behandlung des Honecker-Besuchs im politischen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5917
Frau Dr. VollmerVorfeld diesen Besuch geradezu unmöglich machen wollten.
Ich versuche im folgenden, zu begründen, warum wir der Überzeugung sind,
daß gerade beim heutigen Stand der Friedens-, der Ost- und der Deutschlandpolitik die Bundesregierung sich notwendigerweise genau in den Fallen verfangen mußte, die sie sich von Anfang an durch die Anlage und das Konzept ihrer Deutschlandpolitik selber aufgestellt hatte.Meine Damen und Herren, die Situation, in der wir uns im Augenblick, knapp ein Jahr nach der Bewilligung der Raketenstationierung durch diesen Bundestag, befinden, erscheint mir merkwürdig ähnlich derjenigen in der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1945 bis 1955. Wir stehen wieder vor einer entscheidenden Frage von Krieg und Frieden. Wir stehen wieder vor der Frage: Welche Rolle soll eigentlich eine deutsche Republik in der Mitte Europas spielen? Auf Grund unserer Geschichte, auf Grund unserer Lage und unserer Kultur, aber auch auf Grund der Völker und Landsmannschaften, die sich im Ein- und Auswanderungsland Deutschland, bei uns, gemischt haben,
— wir waren immer ein Einwanderungsland —
gab es immer zwei Möglichkeiten: Entweder sind wir ein fester Bestandteil des Westens, oder wir sind ein Land in der Mitte Europas mit der ausdrücklichen Aufgabe, eine Brückenfunktion zu erfüllen. Die nationalsozialistische und kaiserlich-imperialistische Variante, diesem Konflikt zu entfliehen, indem wir uns Ost wie West in gleicher Weise militärisch unterzuordnen versuchen, will ich einmal auslassen.Beide Positionen aber — das ist mir wichtig — sind immer mögliche konservative Positionen gewesen. Die CDU Adenauers hatte sich eindeutig für das Erstere entschieden. Die Begründung hieß damals — ich nehme das jetzt positiv —: Wir müßten aufhören mit der Schaukelpolitik oder mit der Politik von Rapallo, wir seien eben keine Wanderer zwischen beiden Welten; ein Satz, der in den Zitatenschatz unseres Kanzlers sehr gut einging.Möglich war diese Position, weil ein westliches halbes Deutschland damals den Alliierten weniger bedrohlich erschien, und leicht fiel diese Position einem Mann wie Konrad Adenauer, weil er von Naturell und Herkunft her eindeutig ein Mann des Westens, ein Mann des Großkapitals und ein Antikommunist war; ein Mann des Westens, weil für ihnsowieso jenseits der Elbe schon halb Sibirien begann
und weil er Berlin und die Preußen nicht mochte; ein Mann der Großindustrie, weil für die von ihm angestrebte wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zur Nummer eins in Europa der westliche Teil Deutschlands Ressourcen und Arbeitskräfte genug hatte, und ein Mann des Antikommunismus, weil für ihn die Sowjetunion immer ein Stück politische Unkultur und Tyrannei darstellte, das er weder verstehen konnte noch wollte.
Ebenso fiel es ihm, Adenauer, sicher nicht allzu schwer, beim Aufbau seines neuen Deutschlands auf die Menschen aus den ehemaligen Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung in Sachsen, Thüringen und Berlin zu verzichten.Aber es gab schon damals in Ihren Reihen eine Gegenposition, von Jakob Kaiser und der „Frankfurter Zeitung", von Heinemann und Helene Wessel, vorformuliert auch in den Kreisen der Widerstandsbewegung des 20. Juli. Dieser Teil des deutschen Konservativismus und Liberalismus wollte Deutschland ganz bewußt als Land in der Mitte Europas sehen: dezentral und föderal organisiert mit einer Stützung der agrarischen und der mittelständischen Wirtschaftsformen gegenüber den Interessen der Großindustrie. Die weitestgehenden Positionen vertraten eine strenge politische Neutralität, einen deutschen Sonderweg, und bekämpften die Wiederaufrüstung. Auf diese Kräfte zielte Stalins Note 1952. Mit diesen Kräften rechnete auch Churchill noch 1953, wie neuere Dokumente deutlich bewiesen haben.Wollte man die Einheit Deutschlands wirklich erhalten — das war j a das Thema des heutigen Nachmittags von Ihrer Seite —, damals bestand die Chance, sie wenigstens auf dem Verhandlungsweg auszuloten als reale politische Möglichkeit. Daß es dazu damals nicht gekommen ist, ist weder dem Druck der Sowjetunion noch dem Druck der Westalliierten allein, noch dem diplomatischen Dilettantismus Ihres „Großvaters" zu verdanken gewesen, sondern es war die erklärte politische Absicht eines Teils der CDU, die Absicht Adenauers und der sich entwickelnden deutschen Großindustrie.Es gehörte zu den politischen Meisterstücken der Adenauerschen Ara, dieses Faktum der bewußten, gezielten, geplanten Aufgabe der Einheit Deutschlands durch einseitige Westintegration und wirtschaftliche und militärische Wiederaufrüstung immer noch zu verbinden mit den Forderungen in der Präambel des Grundgesetzes und dem darin enthaltenen Wiedervereinigungsgebot.
Ich kann es ganz persönlich sagen, daß meine Generation und ich lange gebraucht haben, um dieseLüge, von der Wiedervereinigung Deutschlands zu
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5918 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Frau Dr. Vollmerreden und die endgültige Spaltung zu wollen und zu zementieren, zu entlarven und den damit verbundenen Antikommunismus, mit dem wir alle aufgewachsen sind, zu überwinden.
Ich verfolge weiter den Streit im konservativen Lager um die Richtung der Ost- und Deutschlandpolitik. Er brach in dem Streit um die Deutschlandpolitik Willy Brandts neu auf, nur daß er sich hier leichter hinter lautstarken Angriffen auf diese Ostpolitik verstecken konnte. Der heutige Bundeskanzler war, wie man hört — er ist stolz darauf —, damals Gegner der Ostverträge, der Bundespräsident war Befürworter. Geändert hatte sich im wesentlichen die Haltung der deutschen Industrie, da sie durch die Möglichkeit des beginnenden Osthandels die wirtschaftspolitischen Interessen der Bundesrepublik in Zeiten wirtschaftlicher Krisen gut gewahrt sah. Wir kriegten bei dem beginnenden Osthandel die Nase sozusagen gut in den Wind. Die zentrale Rolle von Erzkapitalisten wie Berthold Beitz spricht dabei ebenso für sich wie die Leichtigkeit, mit der gerade Franz Josef Strauß in die Fußstapfen einer solchen SPD-Ostpolitik als offensiver Wirtschaftspolitik schlüpfen konnte. Herr Kollege Brandt, das hatte ich gemeint, als ich gesagt habe, ob es Sozialdemokraten nicht wenigstens zu denken gibt, wie leicht sich ein Herr Strauß in diese Tradition hineinstellen kann. Ich meine — damit auch das klar ist — allerdings, daß die Zeiten heute anders sind als damals.Der Bruch im konservativen Lager über diese Politik blieb auch deshalb begrenzt, weil ja die Ostpolitik der SPD die eindeutige Westbindung der Bundesrepublik keineswegs in Frage stellte und auch damals nicht in Frage stellen konnte, die weitergehenden und interessanten Positionen von Egon Bahr über die Sicherheitspartnerschaft in der Mitte Europas einmal ausgenommen. Nein, diese SPD-Politik trieb diese sogar in der Person von Helmut Schmidt mit seinem aktuellsten Vorschlag aus dem letzten Jahr, wir sollten uns doch unter den atomaren Schirm der Force de Frappe begeben, regelrecht auf die Spitze.Meine Damen und Herren, die in diesem Hause viel beschworene sogenannte Gemeinsamkeit der Demokraten in der Deutschlandpolitik hat ihren entscheidenden Knacks durch die Entscheidung im letzten Herbst über die Stationierung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden bekommen. Ich wünschte, Sie würden begreifen, daß dies für uns der Anlaß ist, diese Gemeinsamkeit nicht mehr mit tragen zu können; denn seit der genannten Entscheidung ist die Hauptaufgabe der Deutschlandpolitik die Friedenspolitik geworden. Sie haben es nur noch nicht gemerkt, daß es zu diesem entscheidenden Knacks gekommen ist.Das gemeinsame Konzept der Westintegration der Bundesrepublik hatte ja zwei Säulen. Diese beiden Säulen sollten der Bevölkerung dieses Konzept akzeptabel machen. Die eine Säule war die, daß wirdurch diese Westintegration eine wirtschaftliche Prosperität erlangten, die uns zu einem der reichsten Länder dieser Erde machte.
Die andere war die Illusion, daß diese Integration in das westliche Bündnis uns europapolitisch größere Stabilität, Sicherheit und dauerhaften Frieden in der Mitte Europas verleihen würde.
Nun, der wirtschaftliche Lack bröckelt, und die Illusion der größeren Sicherheit ist in weiten Teilen unserer Bevölkerung zerbrochen. Die Friedensbewegung hat ihren entscheidenden Einbruch in breiteste Teile der Bevölkerung — gerade auch der konservativen Bevölkerung — nur deshalb erzielen können, weil sie klarmachen konnte, daß für uns das Durchboxen der Pershings und Cruise Missiles etwas äußerst Wertvolles weiter abbauen mußte, nämlich unsere nationale Souveränität. Wir haben uns mit dieser Entscheidung in die Situation begeben, daß über Sein oder Nichtsein der Länder in der Mitte Europas die Herrschenden in Washington und Moskau entscheiden. Seit diesem Faktum ist offenbar: Der alte Satz, der immer gegolten hatte: Was den Westen stärke, nütze auch unseren deutschen nationalen Interessen, hat sich genau in sein Gegenteil verkehrt. Heute gilt: Was die Interessen der USA stärkt, bedroht uns auf die elementarste Weise, in der ein Volk bedroht werden kann.Allen leichtfertigen Beteuerungen des Kanzlers zum Trotz hatte diese Stationierung erhebliche Folgen für unsere nationale Souveränität. Sie hat auch Folgen für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander. Sie hat die Kriegsgefahr erhöht.Ein Lieblingswort unseres Kanzlers ist dieses: Wir haben die Lektion der Geschichte gelernt. Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler: Das Ergebnis Ihres Lernens ist nicht überzeugend, nicht für meine Generation.
Die Bundesrepublik zum wirtschaftlichen Koloß zu machen, sie in zentralen politischen Fragen von der US-Regierung — noch dazu von einer Reagan-Regierung — abhängig zu machen, sie für drohende militärische Auseinandersetzungen zum Niemandsland zwischen den Blöcken zu erklären und sie gleichzeitig kulturell völlig dem „American way of life" auszuliefern — das kann für uns kein überzeugendes Ergebnis des Lernens aus der deutschen Geschichte sein.
Ich will versuchen, zu sagen, welche Lektion wir aus der Geschichte lernen wollen:Erstens. Wir fühlen uns der Tradition eines anderen Deutschlands verpflichtet, eines Deutschlands
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5919
Frau Dr. Vollmer— in der Mitte Europas gelegen — mit einer durchaus bescheidenen Bedeutung im Rahmen der Weltpolitik und mit wichtigen kulturellen Traditionen. Dabei wissen wir, daß die Menschen, die dieses Deutschland in der Vergangenheit suchten, im Rahmen der deutschen Staaten eigentlich niemals so recht einen Platz hatten. Deshalb war und ist das Vertreiben und Ausbürgern in Deutschland noch immer groß im Schwange.
Nicht wahr, Herr Geißler und Herr Hennig, wenn Sie könnten, wie Sie wollten, dann würden Sie uns schon gerne ein bißchen Exil verpassen, wenigstens aus diesem Parlament.
Zweitens. Es ist kein Zufall, daß in den Reihen der GRÜNEN, der Ökologie- und der Friedensbewegung so viele Menschen aus dem Kreis der Gegner der alten Adenauer-Politik und der Ostermarsch-Bewegung sind neuerdings aber auch viele ehemalige Bürger der DDR; — nicht nur neuerdings; sie haben die GRÜNEN mit gegründet. Es sind solche, die keinesfalls zu beglückten Anhängern des bundesrepublikanischen Systems wurden. Wir verstehen uns deshalb auch personell als eine deutschlandpolitische Alternative zum sogenannten Konsens aller Demokraten in der Frage der bestehenden Deutschlandpolitik.Drittens. Wir sind keine Utopisten, sondern Realisten.
Als Realisten tragen wir auch die Konsequenzen einer Deutschlandpolitik, die fast 40 Jahre allein auf Westintegration gesetzt hat. Jetzt sage ich einen sehr harten Satz. Aber wir tragen sie in derselben Weise, wie wir auch die Hypothek mitschleppen, Töchter und Söhne einer Nation zu sein, die hauptverantwortlich zwei Weltkriege verursacht hat.
Konkret: Wie das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges in der Aufrichtung der Blocksysteme mitten in Europa gipfelte, so ist die Existenz zweier deutscher Staaten und zweier Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden das Ergebnis der 40 Jahre währenden Deutschlandpolitik unter Ihrer Verantwortung. Wir tragen diese Konsequenzen, und wir tragen sie durchaus mit Wut und auch mit Trauer.Viertens. Deswegen, gerade deswegen treten wir für die Anerkennung der Realitäten ein, wie sie in Deutschland entstanden sind: der zwei Staaten und der zwei Staatsbürgerschaften, der Grenze in der Mitte der Elbe, der gegenseitigen Botschaften; wir sind jedoch für die Beseitigung so anachronistischer Namen und Erscheinungen wie z. B. eines Ministeriums mit dem Namen „innerdeutsch" undsinnloser Protokollfragen bei gegenseitigen Besuchen.Fünftens. Wir halten es für falsch, es wieder für selbstverständlich zu erklären, über die Frage der nationalen Einheit Deutschlands nachzudenken,
wie es etwa der Bundespräsident — z. B. mit seinem Verweis auf die Geschichte der Polen und der Iren — tut. Der Zeitraum, in dem es viele Staaten auf deutschem Boden gab, ist unendlich viel länger als die Zeit der nationalen Einheit Deutschlands, die von 1871 bis 1945 gedauert hat. Letzteres war einer der unglücklichsten Zeitläufe in der deutschen Geschichte. Zehn Jahre verbrachten wir mit Weltkriegen, zehn Jahre mit Aufrüstungen für Weltkriege, die Auseinandersetzung mit Frankreich und den Kolonialismus nicht eingerechnet. Wir wünschen uns diese Zeiten nicht zurück.
Sechstens. Wir haben gelernt und noch zu lernen, daß die Stationierung amerikanischer Raketen auf unserem Boden Folgen hatte. Auch der Herr Bundeskanzler wird dies endlich lernen müssen. Es hatte Folgen: Unser Spielraum ist enger geworden. Die Einschränkung unserer politischen Souveränität in entscheidenden Lebensfragen und die Kriegsgefahr wiegen sehr viel schwerer als die Existenz zweier deutscher Staaten auf deutschem Boden.Siebtens. Nach einer Zeit großer gesellschaftlicher Auseinanderentwicklung in den 70er Jahren, in der sich die Menschen in Ost und West — wir bedauern das — auch schlecht verstanden haben, hat die augenblickliche extreme gemeinsame Bedrohung durch die Militärpotentiale der Supermächte und durch die ökologischen Zerstörungen der Umwelt die Deutschen in Ost und West gezwungen, im Bewußtsein ähnliche gemeinsame Entwicklungen aufeinander zu zu machen und nach ähnlichen gemeinsamen Lösungsvorstellungen und Zielperspektiven zu suchen.Auf der Basis der Anerkennung der politischen Realitäten treten wir deshalb für eine wachsende Annäherung der Menschen in beiden Gesellschaftssystemen ein. Wir streben Kontakte auf allen gesellschaftlichen Ebenen an, wo immer sie möglich sind, sozusagen eine Vernetzung von unten. Dabei sind wir der Meinung, daß es in der Bundesrepublik durchaus ein großes Defizit an Informationen über das Leben, die Arbeit und die politischen Hoffnungen der Menschen in der DDR gibt.
Auch von unserer Seite gibt es viele Mauern zu überwinden.
Achtens. Wir sind nicht der Meinung, daß die Auflösung der bedrohlichen Lage in der Blockkonfrontation nur in Washington und Moskau geschehen
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5920 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Frau Dr. Vollmerkönne. Das merken wir auch kritisch zu dem an, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Brandt. Wir erwarten von weiteren Gesprächen zwischen den verantwortlichen Staatsmännern in beiden deutschen Staaten wichtige Initiativen, die aus einer besonderen Verantwortung der Deutschen für den Frieden in Europa entspringen. Sie, Herr Bundeskanzler, reden so gern von dem, was Ihre Pflicht ist. Dies im Sinne des Friedens zu tun — das genau wäre Ihre Pflicht, aber Sie haben eine Chance dafür versäumt.
Eine solche Initiative könnte ein gemeinsames Gewaltverzichtsabkommen, eine Friedensinitiative auf der Stockholmer Konferenz sein. Als weitestgehende Perspektive wünsche ich mir eine gemeinsame deutsch-deutsche Friedensinitiative auf der Ebene der UNO.Neuntens. Das Konzept der einseitigen Westintegration haben wir durchgeführt — fast — bis zum bitteren Ende. Es hat uns auch aus der Sicht all dessen, was Konservativen wert und wichtig ist und sein müßte, nichts Gutes gebracht. Es wird Zeit, daß wir in der Deutschlandpolitik einen neuen Weg beschreiten. Wir möchten Sie bitten, diesen Weg mit uns zu überlegen. Wir sind — das sage ich bewußt — in der Frage des Friedens lieber friedenspolitische Wanderer zwischen zwei Welten als Geisel der einen oder anderen Supermacht.
Ich bin auch der Meinung, daß ein solches Konzept für eine Stadt wie Berlin ganz andere Aufgaben bietet als ihre jetzige Existenz als eine sozial ausblutende Stadt und ein bloßer Zankapfel zwischen den Supermächten.Ich komme zum Schluß: Warum ist der Honekker-Besuch gescheitert? Natürlich gab es eine Pressekampagne aus Moskau. Natürlich gab es einen erschreckenden Dilettantismus und unwürdige Statusdiskussionen auf unserer Seite. Natürlich hat die Bundesregierung die inhaltliche Bedeutung dieses Besuches auf Kosten ihres Gastes in unverantwortlicher Weise — zur Beruhigung der westlichen Alliierten — herabgesetzt. Aber der eigentliche Grund ist wohl, daß die verantwortlichen Deutschlandpolitiker und die Verantwortlichen in der Regierung nicht begreifen und nicht begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat und welche Chance angesichts der vollzogenen Raketenstationierung in einem deutsch-deutschen Dialog im Jahre 1984 wirklich gelegen hätte.Herr Bundeskanzler, ich werde den Eindruck nicht los, daß Erich Honecker diesmal mehr begriffen hatte von den Lehren, die man aus diesem letzten Jahr ziehen müßte, als Sie und Ihre Mannen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wohl jedem von uns in den letzten Wochen noch bewußter geworden, wie sehr unsere Lage im Herzen Europas und wie sehr unser Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn Gewicht für die West-Ost-Beziehungen insgesamt hat. Alles, was bei uns in diesem Zusammenhang gesagt und geschrieben wird, verfolgen und kommentieren unsere Nachbarn — übrigens in West und Ost, Frau Kollegin Vollmer — mit großer Aufmerksamkeit.Uns allen sind erneut die Verantwortung und die Probleme vor Augen geführt worden, die sich aus der Mittellage Deutschlands ergeben. Diese Lage verlangt von uns und unserer Politik zuallererst Behutsamkeit. Sie verlangt Stetigkeit, aber auch Augenmaß bei der Einschätzung unserer Möglichkeiten. Das müssen wir bei unserem Handeln und unseren Äußerungen bedenken. Dazu gehört auch, daß jeder unter uns zu unterscheiden weiß zwischen der unverzichtbaren Analyse und vordergründigen, auf innenpolitische Wirkungen abgestellten Schuldzuweisungen.Meine Damen und Herren, über 20 Jahre hat die Bundesrepublik Deutschland gebraucht, um in einer organischen Entwicklung ihr Verhältnis zwischen West und Ost in ein ausgewogenes Maß zu bringen, in ein Maß, das unserer geographischen Lage, unserer Geschichte, unseren Sicherheitsinteressen und unseren Überzeugungen entspricht.Was dabei erreicht wurde, darf jetzt nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Es war ein Gewinn für unser Land, Herr Kollege, daß das vorrangige Ziel der Westintegration nach harten Auseinandersetzungen schließlich zum Bestandteil innenpolitischer Übereinstimmung wurde.Hier muß heute die Frage ansetzen, ob wir das jetzt noch mit solcher Selbstverständlichkeit sagen können und welche Wirkungen es in West und Ost hat, wenn das nicht mehr so ist.
Ich denke, daß Frau Kollegin Vollmer heute die Position der GRÜNEN in einer Weise dargelegt hat, die nunmehr jeden Zweifel daran beseitigt, daß die GRÜNEN eine neutralistische Position außerhalb der westlichen Gemeinschaft anstreben und daß das ihr politisches Ziel ist.
— Es muß ja darüber gesprochen werden; die Aufstellung dieser Forderung allein reicht nicht, Herr Kollege.Die Auswirkungen, die sich daraus ergeben, müssen untersucht werden; die Auswirkungen, die sich daraus ergeben, daß unser Land ein weiteres Mal zu einem unberechenbaren Faktor der europäischen Wirklichkeit werden könnte.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5921
Bundesminister GenscherDie Entscheidung für die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland war ja zuallererst nicht einmal eine sicherheitspolitische, sondern eine Wertentscheidung, nämlich die Entscheidung, sich zu den Staaten in Europa zugehörig zu fühlen, denen es vergönnt ist, in Freiheit und Demokratie zu leben.
Deshalb, finde ich, ist es vordergründig und natürlich auch polemisch, wenn dann von Antikommunismus geredet wird, obgleich in Wahrheit der Unterschied zwischen einer freien und einer kommunistischen Staats- und Gesellschaftsordnung als ein wesentliches Element der Lage in Deutschland und in Europa herausgestellt wird.Sehen Sie, ich habe die Vertragspolitik der Bundesregierung seit 1969 von Anfang an und aus Überzeugung mitgetragen. Aber es wäre mir doch zu keiner Stunde eingefallen, darüber hinwegzusehen, daß ich — das war j a auch meine ganz persönliche Entscheidung — hier in Freiheit leben möchte. Ich wünschte mir, unsere Landsleute in der Deutschen Demokratischen Republik könnten das auch.Können wir uns darüber verständigen, dann, finde ich, werden wir die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr, wie Frau Kollegin Vollmer es getan hat, als eine Art Unterwerfung unter fremden Willen deklarieren und denunzieren, sondern als eine Freiheitsentscheidung des Teils unseres Volkes bewerten, das dazu aus den Gegebenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit hatte.
— Darauf kommen wir auch noch zu sprechen, Herr Kollege.
Im Augenblick spreche ich darüber, ob es ausreicht, von Antikommunismus zu sprechen, wenn die Organisation eines freiheitlichen Staatswesens auf deutschem Boden dort vollzogen wurde, wo das unter den gegebenen Umständen der zu Ende gehenden 40er Jahre möglich war.Aber wir würden unsere geschichtliche Verantwortung verfehlen, wenn wir es dabei beließen, festzustellen, daß hier ein demokratischer Staat entstanden ist und die DDR eine andere Entwicklung genommen hat. Das Wissen um den Unterschied der beiden Staats- und Gesellschaftsordnungen hat uns gerade nicht gehindert, jede Möglichkeit der Verständigung zu suchen. Die Unterzeichnung und der Abschluß des Grundlagenvertrages haben doch nicht ungeschehen machen wollen, was zwischen diesen beiden Staaten an unterschiedlicher Staatlichkeit, an unterschiedlichem Freiheitsgehalt steht.Dennoch bleibt die Einheit der Nation. Dennoch bleibt eine Realität, von der Sie, Frau Kollegin Vollmer, nicht gesprochen haben, die Realität, die deutsches Volk heißt
und von der auch der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, gerade in den letzten Monaten gesprochen hat.
Er hat das sehr bewußt gesagt. Das Wissen um die Fortexistenz einer einheitlichen Nation und eines Volkes gibt uns die besondere Verantwortung auf, uns um die Verbesserung unserer Beziehungen zur DDR zu bemühen.Das ist eine europäische Friedensfrage, das ist eine nationale Aufgabe. Das Ergebnis der Politik, die Sie eben so leidenschaftlich kritisiert haben, besteht darin, daß wir gerade als Teil der Europäischen Gemeinschaft, daß wir als Teil des westlichen Bündnisses in der Lage sind, diese Politik der Verständigung mit der DDR im Interesse des Friedens in Europa, im Interesse der Menschen in Deutschland — und übrigens auch in Europa — von einem Boden der Sicherheit aus betreiben zu können, und zwar in Übereinstimmung mit unseren Nachbarn in West und Ost.
Vielleicht ist uns in der deutschen Geschichte nicht immer bewußt gewesen, daß wir, von den Polen abgesehen, das einzige der größeren Völker sind, das in einer Mittellage lebt. Alle anderen großen Völker Europas — ob es die Engländer oder die Franzosen sind, die Italiener, die Spanier oder die Russen — leben in Randlagen in und zu Europa, wir im Herzen Europas, ausgesetzt den Spannungen, den Kräfteströmungen, den unterschiedlichen Interessen. Auch das polnische Schicksal ist ja von dieser Lage immer wieder bestimmt worden. Da haben wir uns oft im Gegensatz zu den Interessen unserer Nachbarn befunden. Wenn wir heute Deutschlandpolitik als europäische Friedenspolitik begreifen und betreiben, dann können wir dafür in Anspruch nehmen, daß wir uns mit dieser Politik ganz gewiß in Übereinstimmung mit allen Nachbarn in West und Ost in Europa befinden.
Das, meine Damen und Herren, macht den Kern der Deutschlandpolitik der Bundesregierung aus, einer Deutschlandpolitik, von der ich nach vielem, was ich gehört habe, hoffe, daß wir auch weiter über die Grenzen der Koalition hinaus Unterstützung haben werden.Wer jetzt diese Grundlagen in der Weise aufgeben will, daß er der Bundesrepublik Deutschland anrät, ihre Gemeinschaft, die Gemeinschaft der westlichen Demokratien, zu verlassen, wird schnell feststellen, wie kalt es wird, wenn man nicht in eine Gemeinschaft von Staaten gleicher Wertvorstellun-
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5922 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundesminister Genschergen eingebunden ist, der wird feststellen, daß im Alleingang nationale Politik, verstanden als europäische Friedenspolitik, nicht mehr zu betreiben ist, sondern daß dann unser Land Spielball der Interessengegensätze zwischen West und Ost werden wird und daß eine Rolle ausgespielt sein wird, nämlich, daß diese Bundesrepublik Deutschland an der Spitze derjenigen steht, die um Verständigung zwischen West und Ost in Europa ringen können.
Wenn wir diese Position aufgeben, meine Kollegen, schaden wir den eigenen Interessen, und wir schaden auch den Interessen Europas, mit dessen Schicksal wir so sehr verbunden sind.
Deshalb ist die Frage, ob diese Bundesrepublik Deutschland den Weg des Neutralismus gehen sollte, wie Sie es wollen, nicht nur eine Frage, die auf eine Definition der Interessen der Deutschen, die hier leben, begrenzt ist. Das geht die Deutschen der DDR an. Das geht unsere Nachbarn in West und Ost an. Deshalb wird man sehr genau darauf achten,
wie sich die Mehrheit des Deutschen Bundestages zu diesen Fragen stellt. Da hilft es nicht weiter, Streitigkeiten, Auseinandersetzungen, die hier im Deutschen Bundestag in den 50er, in den 60er Jahren ausgetragen worden sind, neu zu beleben.Frau Kollegin Vollmer, Sie haben auf die Stalin-Note vom März 1952 verwiesen. Sie haben an anderer Stelle fast den Anspruch erhoben, als sprächen Sie hier sozusagen für die Mehrheit der Deutschen aus der DDR, die jetzt hier leben, und vielleicht sogar für alle in der DDR.
Niemand von uns kann das in Anspruch nehmen; denn die Deutschen in der DDR können zu unserem Bedauern nicht zum Ausdruck bringen, was sie für richtig halten, wie wir es gewohnt sind.Auch jetzt spricht hier einer aus der DDR, der dort bis 1952 gelebt hat und der diese Stalin-Note 1952 noch dort erlebt hat. Ich will Ihnen sagen, daß mich damals diese Note und die Frage: Was kann man daraus machen, welche Chancen ergeben sich?, tief bewegt hat. Das war ein Thema, das mich lange beschäftigt hat.
Ich bin heute nach einer langen politischen Tätigkeit ganz sicher, daß der damals eingeschlagene Weg der Bundesrepublik Deutschland, ein Weg, für den meine Partei im Deutschen Bundestag mitverantwortlich gezeichnet hat und zeichnet, der richtige Weg war.
Denn er hat die Chance der Freiheit für die Deutschen hier erhalten
und die Hoffnung auf Freiheit für Europa in einem Prozeß, wie er in der Schlußakte von Helsinki niedergelegt ist, eröffnet. Denn ist nicht die Schlußakte von Helsinki eine Zusammenfassung von Verpflichtungen, die keiner dem anderen aufgedrückt hat, die alle gemeinsam übernommen haben und die doch das eine Ziel haben sollen — lesen Sie sie einmal durch —: die Rechte der Menschen zu verstärken, den Völkern ein friedliches Zusammenleben zu sichern, damit auch Grenzen durchlässiger zu machen? Ist das nicht ein Stück zusätzlicher Freiheit für die Menschen in ganz Europa — ich meine damit nicht nur in der DDR —, ein Stück mehr Freiheit — Liberalisierung sagt man; ich höre das gern, wenn das als Wort für Fortschritt in Richtung Freiheit gebraucht wird?Wir haben uns im Grundlagenvertrag eine Grundlage gegeben für die Zusammenarbeit mit der DDR. Zu diesem Vertrag stehen wir — so wie die Bundesregierung zu allen Verträgen steht, die wir abgeschlossen haben; genauso wie wir eine Politik machen, die auf einem Gesamtkonzept beruht. Übrigens nicht nur einem deutschen Gesamtkonzept, sondern auf einem Konzept, das in der NATO vereinbart wurde. Das ist das Harmel-Konzept, das Sicherheit und Zusammenarbeit zusammen sieht und nicht Zusammenarbeit auf der Grundlage sicherheitspolitischer Illusionen sucht. Deshalb bieten wir dem Osten eine breit und langfristig angelegte Zusammenarbeit an auf der Grundlage der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung legitimer Sicherheitsinteressen. Da schulden wir Deutschen in unserer geographischen Lage — es kann nicht oft genug gesagt werden — Stetigkeit in unserer Politik und Klarheit in unseren Zielen.Wenn heute diese Debatte in einer schwierigen West-Ost-Lage stattfindet — ich sage nicht in einer hoffnungslosen; ich werde nachher noch etwas zu den Einwänden des Kollegen Brandt, ob dieses Jahr 1984 ein verlorenes Jahr für die Abrüstungspolitik und auch für die Deutschlandpolitik war, zu sagen haben; darüber wird man noch zu sprechen haben —, dann ist es notwendig, daß die, die sich an dieser Diskussion beteiligen, die Antwort auf die Frage geben, ob es richtig ist, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, oder ob gefordert wird, ihn zu ändern. Sie haben die Änderung gefordert. Jeder, der mit Ihnen zusammenarbeiten will, wird sich darüber klarwerden müssen, ob er diesen Weg mit Ihnen zusammen gehen will. Das ist ein Problem für unsere Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei. Ich sage das ganz unpolemisch im Interesse der Klarheit der Positionen im Deutschen Bundestag.Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch diejenigen, die jetzt aus vielerlei Gründen dabei sind, alte Feindbilder neu zu beschwören, wissen:
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Bundesminister GenscherWir sind keine Revanchisten, und wir sind natürlich auch keine Revisionisten. — Niemand hier in der Bundesrepublik Deutschland sollte sich in diese Kampagne einspannen lassen. Aber es sollte auch niemand bewußt oder unbewußt dieser Kampagne Vorschub leisten.
Wir sollten das Echo sorgfältig bedenken, das wir in Ost und West finden.Nicht alles, was aus östlicher Richtung kommt, ist als Propaganda abzutun.
Man muß Sorgen, auch wenn sie uns nicht als berechtigt erscheinen, von Polemik zu unterscheiden wissen. Hier darf uns unsere geschichtliche Verantwortung nicht vergessen lassen, daß Hitler vor 45 Jahren mit dem Angriff auf Polen gegen unsere europäischen Nachbarn den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hat. Für die meisten unserer unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn steht der 1. September 1939 am Anfang einer Entwicklung, die durch Schmerz und Leid, durch Tod und Vernichtung gekennzeichnet war. Das gilt auch für uns. Die Bundesregierung hat natürlich am 1. September dazu ihr Wort gemacht.Das polnische Volk ist von dieser Entwicklung in besonders bitterer Weise betroffen. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Völker der Sowjetunion die größten Opfer haben bringen müssen. Alles das steht uns vor Augen, wenn wir uns um Zusammenarbeit und Abrüstung bemühen, wenn wir davon ausgehen, daß nicht nur wir, sondern auch andere Sicherheitsinteressen haben. Auch die anderen haben ihre Sicherheitsinteressen. Deshalb werden wir unsere Friedenspolitik in diesem Bewußtsein fortführen. Das muß ganz klar sein, und es bleibt dabei. Ich sage das für die Bundesregierung, um all denen das Letzte zu nehmen, die gegen uns eine neue Kampagne in Gang setzen wollen: Die Bundesrepublik Deutschland geht von der in Europa bestehenden wirklichen Lage aus. Sie achtet die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen. Sie hat keine Gebietsansprüche gegen irgend jemanden und wird solche auch in Zukunft nicht erheben. Sie betrachtet heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich.
Dabei wissen wir, daß sich in dem Wunsch nach dauerhaft gesicherten Grenzen alle in Polen einig sind. Der Warschauer Vertrag hat den Weg gewiesen, den unheilvollen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, die Aufrechnung von Unrecht und Gegenunrecht zu beenden. Was sich daraus für das Verhältnis von Deutschen und Polen ergeben hat, gehört wirklich zu den wertvollsten Ergebnissen der europäischen Nachkriegspolitik.
Es muß ja wohl unser aller Interesse für den Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sein, daß die Volksrepublik Polen ihren Platz im europäischen Staatensystem mit dem ihr zukommendenGewicht voll ausfüllt. Wir wünschen, daß sich die Kontakte und die Zusammenarbeit mit Polen wieder stärker entwickeln.
Wir erwarten, daß Vereinbarungen und Zusagen von beiden Seiten eingehalten werden, auch im humanitären Bereich.Meine Damen und Herren, hüben und drüben sollte man der Versuchung widerstehen, die deutsch-polnische Aussöhnung politisch und moralisch durch einen unnützen ungerechtfertigten Blick zurück zu verspielen. Und da möchte ich sagen, bei uns hier wollen alle in Frieden leben. Wir können wirklich sagen, es wollen alle in Frieden leben, nicht nur der größere Teil unseres Volkes. Alle wollen in Frieden leben!Die Vertriebenen haben ihren Willen zu Frieden und Versöhnung schon unter Beweis gestellt, als das Wort Entspannung noch nicht in aller Munde war. Frau Kollegin Vollmer, was Sie da gesagt haben über die Anwesenheit des Bundeskanzlers beim Vertriebenentreffen: Ich muß Sie fragen: Wollen Sie eigentlich die Vertriebenen ausgrenzen aus unserer Gesellschaft?
Die Liebe zur Heimat gehört doch wahrlich nicht zu den schlechtesten Bindungen, die menschliches Verhalten bestimmen können.
Wenn aus dem Schmerz über den Verlust der Heimat nicht Verbitterung wird, sondern Wille zur Versöhnung, ist das eine große moralische und friedenspolitische Leistung. Ich denke, daß wir in diesem Sinne Anlaß haben zu sagen: Ja, die Vertriebenen haben in der Bundesrepublik Deutschland den Wiederaufbau mitvollzogen, aber das ist nicht nur materiell zu verstehen; sie haben auch den Wiederaufbau einer freiheitlichen Demokratie mitvollzogen, und sie haben es durch ihre staatsbürgerliche Einsicht selbst dort, wo sie Bedenken hatten, überhaupt erst möglich gemacht, daß z. B. der deutschpolnische Vertrag ohne innere Erschütterung der Bundesrepublik Deutschland geschlossen werden konnte. Das ist eine große Leistung.
Das hätte auch anders sein können, und ich denke, das wollen wir nicht vergessen. Wenn wir über den Willen unseres Volkes zum Frieden sprechen, dann möchten wir auch feststellen, an alle, die es angeht: In unseren Schulen, in unseren Kasernen wird zum Frieden erzogen und nicht zum Haß! Wir wünschten, das wäre überall so.
Unser Wille, unsere Aufgabe und Verantwortung in Europa zu erfüllen, hat es uns möglich gemacht, zur europäischen Einigung in dem Teil beizutragen, wo das unter den von uns gewollten freiheitlichen Voraussetzungen möglich ist. Aber die Bundesre-Bundesminister Genschergierung hat auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie, wenn sie die Europäische Gemeinschaft meint, nicht von Europa sprechen kann, weil Europa eben mehr ist als die Europäische Gemeinschaft, weil die Staaten des Warschauer Pakts und andere zu diesem Europa mit hinzugehören.Was die Sprache, die wir verwenden, anlangt, sollten wir vielleicht auch beim Wort „Osteuropa" vorsichtig sein. Ich höre oft, daß wir Verhandlungen mit den „osteuropäischen Staaten" führen. — Ja, mit denen auch, aber das erfaßt nicht alles. Wir Deutschen sind in der Tat Mitteleuropäer. Die Polen sind es auch!
— Die Tschechen und andere sind es auch. Das heißt, Mitteleuropa ist viel. Europa ist mehr; dazu gehört auch Osteuropa. Die Sowjetunion, die an die Ostgrenze Polens grenzt, ist eben nicht Westasien, sondern dort beginnt Osteuropa. Das wird man Ihnen in Warschau so sagen!Wenn Sie das begreifen, wird deutlich, welch große Leistung es war, daß, ausgehend von der Schlußakte von Helsinki, in Stockholm eine Konferenz über sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen für ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural zustande kommen konnte, eine Konferenz, die damit deutlich macht, daß dieses Europa, wenn es um die Lösung sicherheitspolitischer Probleme geht, zusammen gesehen werden muß.Da ist eigentlich, Herr Kollege Brandt, die Bilanz des Jahres 1984 bezüglich Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht so schlecht, wenn man bedenkt, daß eben diese Konferenz, die Sicherheitsfragen für ganz Europa erfassen soll, doch in diesem Jahre 1984 begonnen hat, gewiß nicht mit den Ergebnissen, die wir uns am Ende wünschen; aber sie hat in einer schwierigen West-Ost-Lage stabilisierende Wirkungen, sie schafft Ausgangslagen für Ergebnisse.Auch in den anderen Fragen der West-Ost-Zusammenarbeit würde ich noch nicht so weit gehen, zu sagen, das Jahr ist schon vergeben. Lassen Sie uns am Ende des Jahres Bilanz ziehen. Wir werden keine falschen Hoffnungen erwecken, aber man sollte auch nicht schon jetzt das Jahr als gelaufen ansehen. Neue Entwicklungen deuten sich manchmal anders an, als mancher es erwartet hat. Ziehen wir also am Ende Bilanz!Lassen Sie mich nun auf das zurückkommen, was der Kollege Brandt gesagt hat, als er davon sprach — und dieser Teil seiner Feststellungen war richtig —, daß mit dem Abschluß der Ostverträge die antideutsche Karte von der Sowjetunion weggesteckt wurde — aber eben nicht vernichtet, nur weggesteckt. Und es ist eben nicht so, daß die Karte der Angriffe und Vorwürfe gegen die Bundesrepublik Deutschland etwa erst seit zwei Jahren wieder gezogen wäre. Nein, sie wurde schon vorher vorgezeigt; sie wurde in dem Augenblick vorgezeigt, in dem hier im Deutschen Bundestag die Entscheidung für die Nachrüstung fiel.Nun ist die Frage zu beantworten, ob die Tatsache, daß diese Politik von seiten der Sowjetunion mit Kritik bedacht wurde, Anlaß sein muß, diesen Teil unserer Politik, die Sicherheitspolitik. zu überprüfen und in Frage zu stellen. Was war denn der Ausgangspunkt dieser Entscheidung, die natürlich im Ost-West-Verhältnis heute ihre Bedeutung hat? War es die Hoffnung, Beifall aus Moskau zu bekommen? Ganz sicher nicht! Es war die schmerzliche Einsicht, daß die Bemühungen der damaligen Bundesregierung vor dem NATO-Doppelbeschluß, die Sowjetunion wenn schon nicht zur Rücknahme, so wenigstens zur Einstellung ihrer Raketenrüstung zu bewegen, ohne Erfolg geblieben waren. Das waren aufrichtige Bemühungen, unterstützt vom ganzen Haus. Wegen ihrer Erfolglosigkeit mußte die schmerzliche, aber sicherheitspolitisch unvermeidbare Entscheidung der Nachrüstung getroffen werden, zu der die jetzige Regierung steht.Wenn man die Frage untersucht, ob diese Regierung Kontinuität wahrt, ob sie gradlinig eine als richtig erkannte Politik fortsetzt, dann kann man sich nicht nur Teilgebiete heraussuchen, sondern unsere Politik ist schon ein Ganzes. Hier hängen politische Möglichkeiten, sicherheitspolitische Entscheidungen, Wille zur Zusammenarbeit eng miteinander zusammen. Deshalb hat sich ganz sicher die SPD diese Frage zu stellen. Aber auch wenn Sie sich heute zur Entscheidung der Nachrüstung anders als früher einlassen, kann das nicht unwillkommen machen, wenn Sie in anderen Bereichen die Politik der Bundesregierung unterstützen, soweit Sie das für möglich halten. Darauf kann und darf keine Regierung verzichten; das wollen wir auch nicht. Aber man muß die unterschiedlichen Punkte darlegen. Das ist in Ihrem Abweichen von den damaligen Entscheidungen der früheren Regierung geschehen.Ich denke, nach dem, was wir heute von der Frau Kollegin Vollmer über die politischen Ziele der GRÜNEN in der Außen- und Sicherheitspolitik gehört haben, was ein klares Ausscheiden aus der westlichen Gemeinschaft, Neutralismus, bedeutet, wird es wichtig sein, daß die sozialdemokratische Partei ihre Position dazu ganz klar macht.
Ich wäre gegen manchen Sprecher aus Ihrer Fraktion ungerecht, wenn ich ihm unterstellen müßte, er müsse das für seine Person klarmachen; aber ich wäre auch ungerecht, wenn ich verschweigen würde, daß es Sprecher aus Ihrer Partei gibt, die ähnliche Gedanken verfolgen. Schon deshalb ist es wichtig, diese Position klarzustellen. Das ist alles so, weil unsere Partner im Westen, weil die, mit denen wir im Osten Politik machen wollen, wissen müssen, woran sie mit der Bundesrepublik Deutschland und mit den Mehrheitsverhältnissen in unserem Lande sind.Ich denke, man sollte bei der Beurteilung der gegenwärtigen Lage, für die Bewertung nicht Argumente aus der Sicherheitspolitik austauschen, herausholen wollen, sondern man sollte sich bewußt sein, daß Abrüstungspolitik nicht im luftleeren Raum möglich ist, daß Abrüstungspolitik nur dannDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5925Bundesminister Genschererfolgreich sein kann, wenn in vielen Bereichen Vertrauen gebildet wird. Da meine ich nicht nur die vertrauensbildenden Maßnahmen im engeren sicherheitspolitischen Bereich, ich meine damit Zusammenarbeit, wirtschaftlich, technologisch, kulturell — im gegenseitigen Interesse, Frau Kollegin Vollmer. Sie haben hier fast kritisch die Möglichkeiten auch wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit der Sowjetunion genannt, sozusagen als eine konservative Variante der Ostpolitik. Ich muß Ihnen sagen: Als wir hier das langfristige deutsch-sowjetische Wirtschaftsabkommen verabschiedet haben, habe ich mich als Außenminister der damaligen Regierung dagegen verwahrt, die Bedeutung dieses Abkommens zuerst in den wirtschaftlichen Möglichkeiten zu sehen. Ich habe gesagt: Die gibt es auch, aber primär ist, daß langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit ein Stück Vertrauensbildung zwischen West und Ost bedeutet.
Diese politische Komponente sollten Sie erkennen. Nur wenn wir das breit tun, schaffen wir immer stärker gemeinsame Interessen
— hier möchte ich einmal ein Wort übernehmen, das man aus dem Osten hört —, die eine Politik unumkehrbarer machen, eine Politik, von der wir meinen, daß sie in Richtung auf eine europäische Friedensordnung führen muß.Es war das Anliegen der Schlußakte von Helsinki, den Menschen mehr Rechte zu geben, das Zusammenleben der Völker friedlich zu gestalten, frei von Angst und aus einem Nicht-Krieg durch Abschrekkung einen Frieden zu machen, der auf Vertrauen beruht. Das ist wichtig, und daran wollen wir arbeiten. Das ist die Politik dieser Regierung, und da wissen wir, das können wir nur gemeinsam mit anderen tun. Da handeln wir in dem festen Bewußtsein dessen, was in der Washingtoner Erklärung des NATO-Rates steht: Militärische Stärke allein kann keine friedliche Zukunft garantieren. Auf dieser Grundlage werden wir unsere Politik fortsetzen; wir erkennen die Bedeutung unserer Beziehungen zur Sowjetunion. Diese Bedeutung wurde schon bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1955 erkannt, übrigens fast auf den Tag genau vor 29 Jahren. Der Moskauer Vertrag hat das fortgesetzt. In der Tat hat dieses deutsch-sowjetische Verhältnis eine erhebliche Bedeutung für die Lage in Europa. Es kann aber niemals die Beziehungen der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion ersetzen. Dieses deutsch-sowjetische Verhältnis bedarf der Ergänzung durch ein gutes Verhältnis zu allen anderen Nachbarn, die dem Warschauer Pakt angehören.Wir bieten der Sowjetunion Zusammenarbeit in allen Bereichen. Je früher sie erkennt, daß wir dabei nicht einseitig Vorteile für uns, sondern Interessenausgleich wollen, daß wir einen ungleichen Sicherheitsstatus nicht hinnehmen, aber ihre legitimen Sicherheitsinteressen erkennen, um so positiver wird es für die Entwicklung in Europa sein.Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir den sowjetischen Anspruch auf Gleichberechtigung mit der anderen Weltmacht, den USA, für legitim halten. Das ist auch in der Nixon-Breschnew-Erklärung von 1972 zum Ausdruck gekommen. Eine Wiederbesinnung auf diese Erklärung könnte in der Tat ein neues Kapitel in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen aufschlagen. Hoffen wir, daß man damit beginnt, wenn jetzt ein Gespräch des sowjetischen Außenministers mit dem amerikanischen Außenminister und zwei Tage später mit dem amerikanischen Präsidenten stattfindet!
Aber so sehr wir die Legitimität dieses Anspruchs anerkennen, so sehr müssen wir auch auf der Feststellung bestehen, daß Stabilität in Europa bedeutet, daß es nicht eine große Sicherheit für die großen Staaten und nur eine kleine Sicherheit für die kleinen Staaten geben kann,
sondern daß der gleichberechtigte Anspruch auf Sicherheit für alle gelten muß.Der Dialog zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, der jetzt Offen deutlich wird, ist eine Entwicklung, die ganz sicher der Erkenntnis beider Großmächte ihrer Verantwortung für den Frieden und für Stabilität entspringt, wie der amerikanische Präsident in diesen Tagen gesagt hat.Dieser Verantwortung dürfen wir hier in Europa uns für unseren Bereich, für unsere Möglichkeiten nicht entziehen. Ich sage noch einmal: Unser Gespräch, unsere Beziehungen können den Großmächte-Dialog nicht ersetzen. Sie können ihn ergänzen. Sie können ihn vertiefen.Wir müssen, wenn wir uns über diese Frage unterhalten, Grenzen und Möglichkeiten natürlich auch der beiden deutschen Staaten sehen. Die von allen Rednern hier bedauerte Absage oder Verschiebung des Besuchs von Generalsekretär Honecker ändert eines nicht: Die Verantwortung der Deutschen für den Frieden in Europa bleibt davon unberührt.
Das Bekenntnis beider deutschen Staaten zu der Pflicht, durch ihre Politik und die Entwicklung ihrer bilateralen Beziehungen miteinander zur Stabilität im Zentrum Europas beizutragen, bleibt ein wichtiger Aktivposten.Ich kann mich der Wertung des Kollegen Brandt nicht anschließen, daß das Jahr 1984 ein verlorenes Jahr für die deutsch-deutschen Beziehungen ist. Wir hatten doch lange eine Verständigung darüber — und die gibt es eigentlich heute noch —, daß deutsch-deutsche Beziehungen Beziehungen sind, die den Menschen nutzen sollen. Da waren wir immer der Meinung, daß die Verwirklichung des Rechts einen jeden Menschen, von der Freizügigkeit Gebrauch zu machen und seine Wertentschei-
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5926 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundesminister Genscherdung zu treffen, ob er in der DDR oder in der Bundesrepublik leben will, ein Stück nationaler Verantwortung, ein Stück Freiheitspolitik, ein Stück Politik für den Menschen bedeutet. Und wenn das nicht nur einzelne sind, sondern Hunderte, Tausende, Zehntausende, dann rechnet jedes Schicksal für sich, aber zusammengenommen ist das eine beachtliche Erfolgsbilanz der Deutschlandpolitik im Jahr 1984.
Wir müssen Möglichkeiten und Grenzen der beiden deutschen Staaten nüchtern sehen. Das bedeutet nicht Verzicht auf Politik. Man hat ja auch gesehen, daß wir zur Stabilisierung der Lage in Europa einen Beitrag leisten können.Wir erinnern uns aber auch an die 50er und 60er Jahre, als wir Störungen aus Nichtbeziehungen, aus Reibungen erlebten, die zu einer Belastung der West-Ost-Lage wurden. Das hat sich geändert. Ich denke, das ist gut für Europa. Es ist auch gut für Berlin. Beide deutsche Staaten wollen auf der Grundlage des Viermächteabkommens von 1971 für praktische Regeln sorgen. Es bleibt im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR und umgekehrt noch viel nachzuholen. Die beiden deutschen Staaten sollten ihre Verantwortungsgemeinschaft so verstehen, daß sie weitergehen, daß sie bei der Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki geradezu ein Beispiel für den möglichen Fortschritt bieten. Sie können das in dem Bewußtsein tun, daß der KSZEProzeß kein Programm für den Export von Gesellschaftssystemen ist. Das sage ich noch einmal, weil ich vorhin Anmerkungen von Ihnen hörte, als sei da jemand am Werk, der etwas tun wollte, was gegen geschlossene Verträge verstößt.
Grundlage aber und Motor für den Aufbau einer europäischen Friedensordnung dürfen, können und müssen die beiden deutschen Staaten auf der Grundlage der Schlußakte von Helsinki sein.Je weniger Gegensätze es zwischen diesen beiden Staaten bei der Verwirklichung der Verpflichtungen aus der Schlußakte von Helsinki gibt, um so besser. Dazu gehört, daß sich der Dialog zwischen diesen beiden deutschen Staaten nicht nur auf die bilateralen Fragen beschränken kann. Das ist nicht die Position der Bundesregierung, wenngleich ich fand, Frau Kollegin Vollmer, daß Sie die Bedeutung deutsch-deutscher Umweltschutzvereinbarungen ein bißchen geringschätzig behandelt haben. Wenn wir für Umweltschutz sind — das sind wir ja wohl alle —, dann bitte auch im Verhältnis zur DDR. Dann sollte man nicht kritisch anmerken, der Bundeskanzler habe nur über diese Fragen sprechen wollen. Er hat auch darüber sprechen wollen, aber er hat ganz wesentlich darüber sprechen wollen.
Nein, zum bilateralen Gespräch gehört auch, daß wir über alle Fragen und Themen, die zum Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gehören, sprechen.Ein konstruktives Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR liegt objektiv im Interesse aller Nachbarn in West und Ost und natürlich vor allem im Interesse der Deutschen. Deshalb meine ich, daß sich diejenigen, die die Politik der Bundesregierung kritisieren, einer Tatsache bewußt sein sollten: Die Bemühungen der Bundesregierung und die Bemühungen der Führung der DDR, Gegensätze zwischen den beiden deutschen Staaten abzubauen, sind der wohl fast einmalige Fall, daß beide Regierungen durch gemeinsames Handeln sich der Unterstützung der Deutschen in West und Ost fast uneingeschränkt sicher sein können. Diesen Weg wollen wir deshalb mit Entschlossenheit weitergehen. Die Europäer in West und Ost haben den Wunsch, das in den letzten Jahren durch Verträge, durch die Schlußakte von Helsinki, durch Zusammenarbeit Erreichte zu bewahren. Wir werden ein Anwalt dieser Politik bleiben. Die Bundesregierung wird sich da auf gar keinen Fall auf den Pfad der Konfrontation bringen lassen, weder in unserer Sprache noch in unserem Handeln.
Wir werden jede Chance in Stockholm nutzen, wir werden das in Wien und in Genf tun.
— Wissen Sie, die Tatsache, daß heute die wesentlichen Ziele unserer Entspannungs- und Deutschlandpolitik gemeinsames Gut des westlichen Bündnisses geworden sind, ist nicht das Ergebnis der öffentlichen Kritik an der Politik anderer im Bündnis, sondern ein Ergebnis der Tatsache, daß die Bundesregierung einerseits ein verläßlicher Partner, andererseits aber auch ein überzeugender Anwalt der Verständigung zwischen West und Ost im Bündnis ist. Das ist die Ursache dafür.
— Sie haben Zweifel daran?
Dann würde ich Ihnen einmal raten, daß Sie alle Ihre Zweifel, die Sie früher geäußert haben, mit der inzwischen eingetretenen Entwicklung vergleichen.
Dann werden Sie sehen, welche Fortschritte im Bündnis erzielt worden sind.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5927
Bundesminister GenscherMeine Damen und Herren, ich denke, es besteht Anlaß, im kommenden Jahr, wenn sich der Jahrestag der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki zum zehntenmal jährt, einen neuen Impuls für den KSZE-Prozeß zu geben. Ich denke, daß der finnische Vorschlag, aus diesem Anlaß in Helsinki ein Treffen auf hoher oder höchster Ebene abzuhalten, von allen Beteiligten ernsthaft geprüft werden sollte.Wir jedenfalls werden unsere Politik der Arbeit für eine europäische , Friedensordnung fortsetzen. Wir wissen dabei, daß, wie der Bundeskanzler es hier dargelegt hat, eine erneute Bestätigung, eine Konkretisierung des Gewaltverzichts ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung der gegenwärtigen Belastungen des West-Ost-Verhältnisses sein kann. Gewaltverzicht bedeutet keinen Verzicht auf Überzeugungen, auf Wertvorstellungen und Standpunkte in streitigen Fragen. Er betrifft die Form und die Mittel, mit denen die Staaten bei der Austragung von Meinungsverschiedenheiten auf Grund ihrer unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Interessen miteinander umgehen. Meine Damen und Herren, das zu erreichen, lohnt neue Anstrengungen, denen wir uns stellen.Wir in der Bundesrepublik müssen erkennen: Deutschlandpolitik, Abrüstungspolitik und Politik der Verständigung verlangen einen langen Atem und verlangen vor allen Dingen Klarheit der Ziele und der Konsequenz. Diesen Weg werden wir, wie wir ihn eingeschlagen haben, weitergehen. Ich denke, daß alle, die an der Diskussion teilnehmen, hier die Frage werden beantworten müssen, ob sie diesen Weg weitergehen wollen oder ob sie anraten, von diesem Weg abzugehen. Dann ist es klarer für uns; es ist dann auch klarer für die Öffentlichkeit in unserem Lande, ihre Entscheidungen zu treffen.Diese Klarheit des Weges kann nicht nur für die Deutschland- und Außenpolitik gelten. Sie muß, da wir die Politik dieses Landes als Freiheitspolitik begreifen, auch für die innenpolitischen Aufgaben gelten, die uns gestellt sind. Die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland beruht auf ihrer wirtschaftlichen Stärke. Wir werden nach unserer wirtschaftlichen und nach unserer technologischen Leistungsfähigkeit bewertet. Es gibt keinen Zweifel, daß diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den Jahren der gemeinsamen Bemühungen der Koalition der Mitte zugenommen hat. Ich habe heute mit großer Aufmerksamkeit die Rede des Kollegen Apel angehört. Ich habe eines vermißt: daß er anerkannt hätte, daß die Wende, die hier eingeleitet wurde, die Staatsverschuldung zurückführt,
Herr Kollege Ehmke, daß die Zinsen sinken, daß wir Preisstabilität haben, daß wir Ermutigung zur Leistung schaffen, denn ohne Leistung wird es keinen Wiederaufstieg geben.
Herr Kollege Ehmke, ein neuer Marsch in die Staatsverschuldung, ein Marsch in höhere Steuern und höhere Sozialabgaben würde die eben wieder erstarkenden Kräfte unserer Wirtschaft strangulieren. Deshalb ist der Weg, den Sie vorschlagen, so falsch.
— Herr Kollege Ehmke, allerdings sind auch für eine Politik der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eine klare Zielvorgabe und ein langer Atem erforderlich.
Ich denke, daß Ihnen das fehlt.
Sie haben hier heute wieder den Begriff des Totsparens verwendet. Das ist ein Begriff, an dem Sie sich immer wieder festgehalten haben.
Ich muß Ihnen erneut sagen: Die Aufgabe, die unserem Lande zu Beginn der 80er Jahre gestellt war, war nicht Totsparen, sondern Gesundsparen. Das ist die Politik, die wir jetzt betreiben.
Diese Politik wird uns auch in die Lage versetzen, die großen Aufgaben des Umweltschutzes in unserem Lande zu erfüllen.
— Sie sagen „Buschhaus". Ich sage Ihnen etwas anderes, Herr Kollege Ehmke:
Die GRÜNEN, mit denen Sie ja von Land zu Land koalieren oder anders zusammenarbeiten wollen,
möchten die Kernenergie binnen sechs Monaten einstellen.
— Ja, Sie klatschen; ich weiß, daß Sie das auch denken und daß Sie es wollen. Jetzt müssen Sie die Frage beantworten, ob Sie uns im Falle der Einstellung der Kernenergie noch mehr Kohlekraftwerke ins Land setzen wollen oder ob Sie unsere Wirtschaft zum Erliegen bringen wollen. Um diese Frage geht es.
Aber alle diese Vorstellungen der GRÜNEN könnten ja nicht jenes Maß an Bedeutung erlangen, wenn sie nicht die Chance hätten, möglicherweise auf Landesebene verwirklicht zu werden.
Sehen Sie, je stärker unsere Wirtschaftspolitik, je stärker unsere Finanzpolitik auch hier im Deutschen Bundestag Ihre Unterstützung finden könnte,
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5928 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Bundesminister Genscherum so stärker wäre die Ermutigung. Die Verbraucher benötigen doch Ermutigung, und auch die Investoren bedürfen der Ermutigung.
— Herr Kollege Duve, heute ist ja schon über den Streik geredet worden. Ihre Zwischenrufe ermutigen mich, auch dazu noch einige Bemerkungen zu machen.Ich habe nie verstehen können, daß einzelne Gewerkschaften hier vom Pult des Deutschen Bundestages aus von sozialdemokratischer Seite geradezu aufgefordert worden sind, auch den Weg des Arbeitskampfes für die 35-Stunden-Woche zu gehen, obwohl doch andere Gewerkschaften mit allen Kräften versucht haben, diese Forderung jetzt nicht durchzusetzen, weil sie wußten, was das für die Arbeitsplätze in ihrer Branche bedeuten kann.
Die Auswirkungen des Streiks werden häufig zu kurzfristig gesehen:
— Es ist nicht nur der Produktionsausfall wenigerWochen, Herr Kollge Ehmke, es sind nicht nur die langfristigen Folgen der Tarifabschlüsse, die in diesem Zeitpunkt volkswirtschaftlich eben nicht vertretbar sind, sondern es ist auch die Entmutigung, die der Streik im Frühsommer dieses Jahres bei Verbrauchern und Investoren hervorgerufen hat.
Wir müssen die Verbraucher und Investoren jetzt ermutigen,
weil im kommenden Jahr manche außenwirtschaftlichen Impulse, die unsere wirtschaftliche Entwicklung heute begünstigen, auch aus den Vereinigten Staaten, nicht mehr in dem Maße vorhanden sein werden, wie das jetzt der Fall ist.
Darauf müssen wir uns schon jetzt einstellen.
Meine Damen und Herren, ich muß Sie wirklich bitten, nicht zu diffamieren, sondern die Bemühungen aller gesellschaftlichen Kräfte zur Überwindung der Arbeitslosigkeit zu unterstützen und zur Bereitstellung von Lehrstellen zu ermutigen. Ich hätte mir gewünscht, daß die Opposition hier auch einmal ein anerkennendes Wort für die großartige Ausbildungsleistung der Handwerksbetriebe in der Bundesrepublik Deutschland gefunden hätte.
Hier findet im Augenblick eine vorausschauendeBürgerinitiative für junge Menschen statt. VieleHandwerksbetriebe sind bereit, über ihre unmittelbaren Bedürfnisse hinaus auszubilden, weil sie wissen, daß junge Menschen ohne einen Ausbildungsplatz keine Zukunftschance haben. Aber Sie werden diese Menschen entmutigen, wenn Sie nicht mit uns dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Außenpolitik, Sicherheitspolitik und Deutschlandpolitik verlangen Stetigkeit. Außenpolitik, Sicherheits-und Deutschlandpolitik verlangen auch die klare Erkenntnis, daß unsere Politik nach innen und nach außen Freiheitspolitik ist. Weil wir sie als Freiheitspolitik nach innen und nach außen verstehen, sind wir nicht nur für die klare Fortsetzung der Entspannungs- und Abrüstungspolitik, sondern sind wir auch für die Fortsetzung einer Politik der Marktwirtschaft und der inneren Freiheit in unserer Bundesrepublik Deutschland. Und da wollen wir niemals vergessen, daß soziale Stabilität in unserem Land Voraussetzung für politische Stabilität ist.
— Ich wollte an dieser Stelle aufhören, Herr Kollege Ehmke.
Aber da Sie das Wort „Ausländerpolitik" hier jetzt einführen
— nein, nein, das ist mir zu ernst —, will ich Ihnen auch dazu etwas sagen.
In der Ausländerpolitik hat sich gezeigt, daß behutsame Maßnahmen zum Zwecke der Einschränkung der Zahl der Ausländer sehr wohl ihre Wirkung haben können. Ich kann, offen gesagt, die Politik der hessischen Landesregierung nicht verstehen,
die auf eine Öffnung angelegt ist und die in ihrer Wirkung dazu führen würde, daß die Zahl der Ausländer in unserem Lande größer wird.
Die Bundesregierung tritt für die Integration der Ausländer und für eine Herabsetzung der Ausländerzahl in unserem Lande ein — das hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt —, weil unser Land eben kein Einwanderungsland ist,
wie die Frau Kollegin Vollmer es zum Ausdruck gebracht hat, und angesichts der Dichte seiner Bevölkerung auch gar nicht sein könnte. Wir alle kennen doch die großen Probleme, die hinsichtlich derDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5929Bundesminister GenscherIntegration bestehen, und zwar für unsere deutschen Mitbürger genauso wie für unsere ausländischen Mitbürger.
— Deshalb, Herr Kollege Ehmke, war es richtig, daß wir schon in den 80er Jahren, zu Beginn der 80er Jahre Maßnahmen gegen den Ausländernachzug getroffen haben. Der Anwerbestopp war eine erste solche Entscheidung. Die Einführung der Visa-Pflicht für die türkischen Arbeitnehmer war eine zweite Entscheidung.
— Sie sagen: „keine gute" Entscheidung.
Herr Kollege, wissen Sie eigentlich, was es bedeutet hat, daß im Jahre 1981 200 000 türkische Staatsangehörige zusätzlich in unser Land kamen und nicht mehr integriert werden konnten, daß sie hier ohne Hoffnung leben mußten?
Das durften wir uns gegenüber nicht weiterlaufen lassen, und wir durften es auch gegenüber unseren türkischen Mitbürgern so nicht geschehen lassen. Deshalb haben wir die Visa-Pflicht eingeführt.
Das, Herr Kollege, hat dazu geführt, daß die Zahl der Ausländer in unserem Land zunehmend zurückgeht. Im Jahre 1983 sind mehr als 70 000 türkische Staatsangehörige mehr ausgereist als in unser Land gekommen sind.
Im Jahre 1984 werden mehr als 300 000 ausländische Mitbürger unser Land verlassen, die meisten davon sind türkische Staatsangehörige.Hier also wird mit einer behutsamen Ausländerpolitik — ohne Verletzung des freiheitlichen Gehalts unseres Grundgesetzes, ohne Beeinträchtigung unserer christlichen Verantwortung —
ein Ergebnis erzielt, das im Interesse der Deutschen hier und auch im Interesse der ausländischen Mitbürger bei uns liegt. Das ist eine konsequente, eine freiheitliche Politik. Ich bedaure, daß ausgerechnet in einem Zeitpunkt, in dem eine solche Politik, eine sehr behutsame und verantwortungsvolle Politik — übrigens: bis 1982 von der SPD in dieser Form mitgetragen — ihre Wirkungen zeigt, das Land Hessen auszuscheren versucht und nun wieder öffnet. Das nützt niemandem — ich wiederhole es —: Es nützt weder uns, noch nützt es unseren ausländischen Mitbürgern. Der Tatsache sind wir uns sicher alle bewußt — der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung 1983 gesagt —, daß wir die Leistungen unserer ausländischen Mitbürger bei uns anerkennen und, wie ich hinzufüge, daß wir die Ausländerfrage in einer Weise behandeln müssen, die weder die innere Liberalität unseres Landes noch den Geist unseres Grundgesetzes beschädigt. Das ist eine gemeinsame Verantwortung, der wir uns stellen werden, weil Freiheitspolitik durchgängig sein muß. Wir erkennen diese Verantwortung.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stobbe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwischen den Fraktionen dieses Hauses war verabredet worden, daß wir uns heute nachtmittag vorrangig mit der aktuellen Situation in der Berlin- und Deutschlandpolitik beschäftigen. Nun haben Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrem Redebeitrag zwar viele Minuten auf dieses Thema verwendet, aber Sie haben in der Sache, um die es uns hier heute gehen muß, substantiell leider sehr wenig gesagt
und sich statt dessen in eine Polemik gegen die SPD und gegen andere Mitglieder des Hauses geflüchtet, die mir jedenfalls über weite Strecken äußerst peinlich war.
Wir aber können Ihnen eine kritische Auseinandersetzung mit der innerdeutschen Politik und der Außenpolitik, wie sie jetzt betrieben wird, in keiner Weise ersparen. Wir haben uns die Debatte heute in diesem Hause so vorgestellt, wie sie sich gerade eben beispielsweise in dem Debattenbeitrag der Kollegin Vollmer, aber auch in dem Beitrag von Außenminister Genscher darstellte, nämlich sachlich und, wenn es geht, auf gutem Niveau und in die Zukunft weisend.Ich werde mich also bemühen, die Zeit, die mir zur Verfügung steht, ausschließlich dem Thema der Deutschlandpolitik zu widmen. Die SPD wird morgen auf die Teile der Reden des Bundeskanzlers und des Außenministers eingehen, die sich mit innenpolitischen Fragen beschäftigt haben. Dabei möchte ich allerdings voraussagen, Herr Bundeskanzler, daß das, was Sie hier vorgetragen haben und ganz offensichtlich als eine Erfolgsbilanz gewertet wissen wollen,
sich bei näherer Untersuchung als genauso papieren darstellen wird wie weite Teile dessen, was Sie in Ihrem Beitrag zur Deutschland- und Außenpolitik gesagt haben.
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5930 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
StobbeMeine Damen und Herren, die Absage des Honecker-Besuchs war von Aufgeregtheiten in der politischen Diskussion begleitet, brachte auch manches Ungereimte zutage; das ist wahr. Aber sie hat— und daran kommt diese Bunderegierung nicht vorbei — vor allem Unzulänglichkeiten, eine gefährliche Orientierungslosigkeit und auch Unerträglichkeiten im Handel dieser Bunderegierung und der sie tragenden Fraktionen aufgedeckt.
Das öffentliche Wälzen von Kommuniqueformulierungen — das ist hier schon gesagt worden — gehört genauso dazu wie eine Prioritätensetzung, die— das finde ich besonders schlimm — das Gesprächsinteresse des Gastes fast abschnüren mußte.Dazu kamen offene Widersprüche im Regierungslager, Widersprüche, die auch Sie nicht haben hinwegretuschieren können, Herr Bundeskanzler. Es waren Widersprüche, die Widerwillen, wenn nicht Widerstand gegen den Besuch überhaupt signalisierten.
Sie kommen auch nicht daran vorbei, daß das deutsche Volk ein peinliches wochenlanges Gezerre miterleben mußte, ein Durcheinander, das die Ernsthaftigkeit vermissen ließ, das deutsche Volk auf die Schwierigkeiten, auf die Risiken, aber auch auf die Chancen und auf den Stellenwert des Besuchs politisch angemessen vorbereiten zu wollen. Das hat die Bundesregierung vermissen lassen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben durch Ihren Beitrag den Vorwurf, in einer Frage von zentraler Bedeutung die Zügel schleifen lassen und dem Dilettantismus nicht Einhalt geboten zu haben, nicht entkräften können.
Herr Abgeordneter Stobbe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herr Abgeordneten Klein ?
Nein. Ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Wir haben uns hier versammelt, um aufzuarbeiten, um darüber nachzudenken, was denn schiefgelaufen ist, wo die tieferen Ursachen liegen. Wir sprechen hier doch gewiß auch miteinander, um aufzuzeigen, wie wir, das deutsche Volk, aus der Situation, in der wir stecken, herauskommen könnten.Willy Brandt, der in seiner Regierungszeit der Westbindung der Bunderepbulik Deutschland jene Ostpolitik hinzugefügt hat, die kontinuierlich weiterzuverfolgen Sie als jetziger Bundeskanzler versprochen haben, hat vorhin kritisiert, was angesichts des Vorgangs kritisiert werden muß. Aber er hat Ihnen doch auch die Chance gelassen, die Substanz der Gemeinsamkeit zu erhalten, Kontinuität zu wahren und vor dem Deutschen Bundestag auszuführen, wie Sie denn nun weitermachen wollen, Herr Bundeskanzler.
Und was haben Sie gemacht? Sie haben sich hier hingestellt — genauso wie zuvor vor Ihre Fraktion in Berlin — und den Versuch unternommen, von einem Fehlschlag, für den Sie zweifelsohne Mitverantwortung tragen, mit einer innenpolitischen Kampfansage an die Opposition abzulenken.
Übrigens abzulenken unter Zuhilfenahme von Verdächtigungen gegen die SPD, gegen die das deutsche Volk nach so vielen Jahren sozialdemokratischer Regierungstätigkeit gewiß immun geworden sein dürfte,
weil es nämlich weiß, daß sozialdemokratische Kanzler das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gemehrt haben.
Herr Bundeskanzler, dieser peinliche Ablenkungsversuch auf die Innenpolitik ist vor allen Dingen von der Sache her abwegig.
Er ist zudem gefährlich, weil er nämlich Sie und Ihre Regierung davon abhält, über die Grundvoraussetzungen einer richtig geführten Entspannungspolitik nachzudenken. Und das ist ganz offensichtlich notwendig.
Sie werden doch von der Deutschen Geschichte und von dem deutschen Volk nicht danach beurteilt, welche Tricks Ihnen angesichts des Scherbenhaufens, den wir zu beklagen haben, einfallen, um die SPD zu diffamieren.
Das ist doch zu billig.
Von Ihnen, Herr Bundeskanzler, wird verlangt, daß Sie politische Orientierung bieten,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5931
Stobbedaß Sie sagen, wie Sie die Probleme der Teilung jetzt, in dieser Situation erfolgreich mildern wollen.
Von Ihnen wird verlangt, daß Sie die komplexen Machtfaktoren richtig erfassen und sich dabei nicht vertun, wie es geschehen ist;
jene komplexen Machtfaktoren, die in Europa wirken und die unser Volk wie ein Geflecht überziehen.Ich muß Ihnen sagen: Von Ihnen wird auch verlangt, Herr Bundeskanzler, daß Sie Ihr Regierungslager auf ein außenpolitisches Konzept einigen, dessen Ziele, dessen Strategien, dessen Optionen und Handlungsanweisungen eben dieser Machtstruktur in Europa auch wirklich gerecht werden.Es war ja kein anderer als der Herr Bundespräsident, der jüngst sehr Bedenkenswertes über die Komplexität der Aufgabe gesagt hat, vor der wir stehen,
über den Stellenwert der innerdeutschen Politik im Verhältnis zur allgemeinen Außenpolitik.
Sehr wenig von dem, was Herr von Weizsäcker zur Orientierung, was er an Differenzierendem gesagt hat, haben wir in dem wiederfinden können, was Sie uns an Deutschlandpolitik vor der Sommerpause und auch in der Sommerpause bis zur Absage des Besuches geboten haben, Herr Bundeskanzler.
Die Dinge liegen doch so: Das Wort Richard von Weizsäckers — „hausbacken, ein bißchen eng" —
wird zu einer zutreffenden und einer charakterisierenden Feststellung Ihrer Berlin- und Deutschlandpolitik.
Meine Damen und Herren, die Absage des Besuchs zwingt uns alle einen Blick auf den Zustand der Ost-West-Beziehungen zu werfen.
Wir sehen zuallererst ein zutiefst gestörtes, ein aufNull tendierendes amerikanisch-sowjetisches Verhältnis. Ich hoffe, wir sind uns wenigstens in dieserFrage einig. Jedenfalls hat das Ihr Bundeskanzler j a auch anerkannt.
„Da kommt viel zusammen", hat Willy Brandt im Blick auf die Gründe gesagt, die zu dieser gefährlichen Lage geführt haben. Auch Herr Genscher hat darüber gesprochen. Was immer die Abkehr vom Weltbild der Supermächte — Parität mit der dazugehörigen Strategie der Entspannung — bewirkt hat: Wir sind alle miteinander gut beraten, hier keine einseitigen Schuldzuweisungen zuzulassen.
Was immer dazu geführt hat, daß heute dieser Tiefstand so besteht, wie er besteht, an einer Frage kommt der Herr Bundeskanzler, kommt diese Regierung, kommen wir alle nicht vorbei. Der Herr Bundeskanzler muß mit der Bundesregierung einer Verschlechterung des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses entgegenwirken. Von keiner Mittelmacht in Europa wird dabei mehr Engagement und mehr konzeptionelle Kraft erwartet als von der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Einsatz ist gewiß nach Osten zu leisten. Aber wenn Sie die Frage stellen: Wo kann die Bundesrepublik Deutschland dabei die größte Kraft entfalten?, dann kommt als Antwort: natürlich dort, wo sie eben diese Kraft hat als einer der starken Partner in der westlichen Allianz. Dort zuallererst muß dieser Einsatz geleistet werden.Wir müssen die Frage stellen, was das in der gegenwärtigen Situation bedeutet. Bedeutet das nicht, Herr Bundeskanzler, daß Sie vor der Aufgabe stehen, das, was wir die Ostpolitik nennen — was für unser Volk so viel bedeutet, angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die doch ohne Zweifel in Amerika stattgefunden haben, wofür wir doch alle nichts können, daß es dort passiert —, heute zuallererst nach Westen hin abzusichern, wenn ein Schuh daraus werden soll?
Ist es denn nicht auch wahr angesichts dieser tiefgreifenden Veränderungen, die Sie ja nicht leugnen können — lesen Sie doch, was die Amerikaner selbst sagen — —
— Wenn Sie nicht wahrnehmen wollen, was in der Führungsmacht des Westens wirklich an Veränderungen vorgeht, die ich nicht bewerte, sondern zunächst einmal nur feststelle, dann werden Sie sich auch mit der innerdeutschen Politik verheben, wie Sie es hier getan haben.
Denn Sie stehen als Bundesregierung vor der Aufgabe, mit Beharrlichkeit auf die unauflösliche Verkettung von Sicherheit und Entspannung hinzuwirken, mit einem Konzept, das Entspannung als ele-5932 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984Stobbementaren Bestandteil der europäischen Sicherheit belegt, Sicherheit gewissermaßen als ein Produkt der Ost-West-Zusammenarbeit darstellt. Diese Debatte, Herr Bundeskanzler, hätten Sie innerhalb des westlichen Bündnisses schon längst aufnehmen müssen, wenn Sie es mit der Kontinuität der Entspannungspolitik ernst meinen.Deshalb beklagen wir Ihr Abwarten, Ihre Passivität, Ihre unkritische Anpassung und auch Ihren Mangel an Eigenständigkeit gegenüber einer sich akzelerierenden Veränderung in der amerikanischen Sowjetunionpolitik. Zum Beispiel: Warum macht Ihre Bundesregierung nicht deutlich,
daß westliches Vormachtdenken das Disziplinierungspotential der Sowjetunion gegenüber den osteuropäischen Staaten, gegenüber Polen und gegenüber der DDR, erhöht und die Rückkehr der Sowjetunion zu einer Politik der starren Blockstabilisierung erleichtert? Hat dieser Zusammenhang etwa nichts mit dem zu tun, was wir heute hier diskutieren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Hatte die Opposition nicht recht, als sie ihm vorigen Herbst im Zusammenhang mit der Raketenstationierung vor einer Eiszeit in den Ost-West-Beziehungen warnte?
Welcher Ost-West-Dialog — beantworten Sie mir doch bitte diese Frage — funktioniert heute denn noch? Die INF-Verhandlungen über Mittelstreckenraketen — abgebrochen, die START-Verhandlungen über Langstreckenraketen — nicht wieder aufgenommen, die großen Ost-West-Konferenzen in Wien, Genf, Stockholm — treten sie nicht auf der Stelle? Die in gefährlicher Weise an den kalten Krieg erinnernden Propagandatöne im deutsch-sowjetischen Dialog — sind sie nicht unüberhörbar und signalisieren sie nicht deutlich für jeden, der zuhören will, daß es eben derzeit in der Substanz bei keinem einzigen Thema in den deutsch-sowjetischen Beziehungen Fortschritte gibt?
Kommt Ihnen nicht in den Sinn, Herr Bundeskanzler, daß die Bundesregierung bei ihrer Zustimmung zur Raketenstationierung vielleicht doch einen Fehler gemacht hat, indem sie dem westlichen Sicherheitsdenken Vorrang gab — das war die Entscheidung — vor den politischen Risiken, die gewiß in einem politischen Kompromiß gelegen hätten, der nach unserer Überzeugung in Genf aber zu erzielen war?
Der Herr Bundeskanzler hat hier doch gerade ausgeführt, welch starken Einfluß er auf diese Verhandlungen gehabt hat. Er hat doch selber nicht gewollt.
— Sie haben zusammen mit der amerikanischen Führungsmacht eine Entscheidung getroffen und einen Kompromiß nicht gewollt, Herr Dr. Marx; das haben Sie hier vor dem Deutschen Bundestag doch selbst ausgeführt, weil Sie eben eine andere Prioritätenentscheidung getroffen haben, die wir kritisieren.
Die heutige Bilanz über den Ost-West-Dialog ist leider niederschmetternd.
Betrachten wir nun das deutsch-polnische Verhältnis.
Es war sehr wichtig, fand ich, daß der Herr Bundesaußenminister eben von diesem Podium das gesagt hat, was er in einer sehr bemerkenswerten Debatte vor einigen Wochen im Bundestag auch gesagt hat und wo er gestanden hat bei der Frage der Grenzen von 1937. Aber es muß darauf hingewiesen werden, daß die Revanchismus-Debatte, die jetzt das Verhältnis belastet und zu der Willy Brandt das Nötige gesagt hat
— das Nötige gesagt hat —, nach einem unverantwortlichen Gerede über die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 begann.
Was unverantwortlich ist, werden wir auch unverantwortlich nennen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
War Ihnen als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, als Sie diese Äußerungen duldeten, denn nicht klar, daß die Anerkennung des territorialen Status quo in Europa die Elementarvoraussetzung für den Weitergang der Entspannung schlechthin ist?
Wie wollen Sie denn mit irgendeinem Land Osteuropas irgendein Verhandlungsergebnis zustande bringen, wenn Sie ihm und der Sowjetunion den Eindruck vermitteln, als wollten Sie seinen Besitzstand anzweifeln?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5933
StobbeIst Ihnen übrigens auch klar, Herr Bundeskanzler, daß die jetzt in den USA gemachten Äußerungen über das Jalta-Abkommen Sie in Kürze sozusagen politisch erreichen werden? Wollen wir denn zurück in eine Zeit von John Foster Dulles, in eine Zeit der großen politischen Worte, aber der De-facto-Vertiefung der Spaltung für unser Volk?
Und noch etwas. Einem Gesprächspartner anzukündigen — wie Sie das getan haben —, daß man gewillt sei, wegzuhören, wenn er die Punkte seines Interesses in einen Dialog einfließen läßt — drückt das etwa die innere Souveränität und die Gelassenheit eines Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland aus?
Herr Bundeskanzler, Sie haben die dringend notwendige Aufarbeitung der Probleme, wie Sie nach der Absage des Honecker-Besuches bestehen, in einer nicht gerade sehr überzeugenden Weise vorgenommen. Mir scheint, daß Wunschdenken bei Ihnen einzieht und Realitätssinn verdrängt. Der Ost-West-Dialog ginge weiter, sagten Sie, und würde Resultate produzieren. Allerdings, das sagten Sie auch zehn Monate zuvor nach der Entscheidung über die Raketen. Auf die damals angekündigten angeblichen, nur durch die Festigkeit der NATO zu erreichenden weitreichenden Konzessionen des Ostens warten wir noch heute.
Nein, meine Damen und Herren, die Lage ist nicht gut. Gemessen an der Situation, die Sie bei Ihrem Amtsantritt vorfanden, hat sich die Substanz der deutsch-deutschen, der deutsch-polnischen, der deutschsowjetischen Beziehungen leider verschlechtert. Wir Sozialdemokraten sind die letzten, die sich darüber freuen könnten, denn uns liegt an einer Mehrung der Entspannungsergebnisse.
Es ist deshalb die Pflicht der Opposition, das orientierungslose und auch dilettantische Hantieren Ihrer Regierung in einem so komplexen und schwierigen Gebiet der Deutschlandpolitik mit aller Härte zu kritisieren. Wir verbinden diese Kritik mit der Aufforderung, Herr Bundeskanzler, daß Sie in Ihrer Regierung endlich sicherstellen, daß ein Konzept erarbeitet und durchgeführt wird, welches Sicherheit und Entspannung so miteinander verbindet und im westlichen Bündnis absichert, das die Bundesrepublik Deutschland zur schrittweisen Verständigung und zum Interessenausgleich mit dem Osten und insbesondere mit der DDR auch weiterhin befähigt. Nur das würde Kontinuität bedeuten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit großer Mühe weiß ich der naheliegenden Versuchung zu widerstehen, jetztetwa einen Beitrag über unsere Arbeitsweise hier zu halten. Ich habe den Auftrag, im Namen der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, die bekanntlich die stärkste Fraktion im Hause ist, als erster Redner zur Deutschlandpolitik zu sprechen. Es ist kurz vor 18 Uhr. Ich danke, daß wir schon jetzt das Wort bekommen haben.
Ich habe die Absicht, zur Sache in fünf Punkten zu sprechen. Zuerst ein Wort an uns selbst. Ich fand in der Vordebatte und heute manches unvernünftig und unwürdig — mit Schuldzuweisungen eine öffentliche Debatte, gar noch polemisch, zu führen über die Absage des Besuchs des Staatsratsvorsitzenden Honecker, eine Absage, die doch hierzulande niemand verantwortet.
— Niemand verantwortet!
Herr Stobbe, statt daß Sie eben die große Chance genutzt hätten, auf Grund der Anregung des Herrn Außenministers sofort — er hat Sie dazu aufgefordert — etwas zu der Rede der Frau Kollegin Vollmer von den GRÜNEN zu sagen, statt sich da abzugrenzen, haben Sie sich — es tut mir leid, Herr früherer Regierender Bürgermeister — da angenähert, und darüber wird im einzelnen wohl noch folgenschwer zu sprechen sein.
Meine Damen und meine Herren, ich weiß, daß der Parteivorsitzende der SPD aus guten Gründen jetzt verhindert ist. Trotzdem muß ich ihm natürlich die eine oder andere Antwort geben, weil er Fragen gestellt hat. Ich will nicht, wie das andere vorgeschlagen haben, Debatten von früher wiederholen; aber Erinnerungen wachzurufen, wird doch noch erlaubt sein.Ich erinnere jetzt an den 19. März 1970, an den Tag von Erfurt. Die Kolleginnen und Kollegen, die damals schon hier waren oder die das alles bewußt miterlebt haben, erinnern sich an die emotionale Situation. Das waren Wälle; hier hieß es „Verrat", und da hieß es „Erwartung". Es war eine wirklich spannende Situation. Am Tag zuvor — ich sehe dort hinten Herrn Bahr; vielleicht hat er das gehört — hatten wir hier eine Bundestagsdebatte. Ich bin dann zu Bundeskanzler Brandt gegangen und habe ihm unter vier Augen gesagt — ich habe das inzwischen niedergeschrieben, das ist nicht bestritten, also ist es so —
— ja, Herr Duve, ein Autor sollte da immer vorsichtig sein —:
Herr Bundeskanzler, Sie fahren morgen nach Erfurt, Sie machen einen Besuch, den wir in nichts behindert haben. Was wir erwarten, wissen Sie, auch konkret. Ich suche Sie auf, um Ihnen zu sagen: Fühlen Sie sich morgen in nichts unter Erfolgszwang. Wenn man Ihnen morgen irgend etwas Un-5934 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984Dr. Barzelzumutbares sagt oder wenn Sie gar im Krach — wir wußten es ja nicht; es war ja ein Versuch — oder mit leeren Händen zurückkommen, so verspreche ich Ihnen: Die Opposition wird kein Wort der Häme sagen, sondern für diesen Fall wird unser erster Satz sein: Der Bundeskanzler hat etwas versucht, wir haben es nicht behindert, er hat leider keinen Erfolg gehabt.Wie gut hätte es Deutschland und den Deutschen angestanden, jetzt einen solchen Satz von dem früheren Bundeskanzler Brandt zu hören, der doch besser als alle anderen hier weiß, wie schwierig so etwas ist.
Statt dessen, meine Damen und Herren, hat er — im Ton heute gemäßigt, nicht so schrill wie andere vorher — folgende Worte gesagt — und wenn man als Debattenredner, der frei zu antworten hat, zuhört, schreibt man sich natürlich auf, was da gesagt wird —, all diese Worte: „geschwätzig", „denunziatorisch", „Dilettantismus" und „Hetze". Eines davon kann man ja noch durchgehen lassen, aber diese Summe ist eigentlich ein bißchen viel, nicht wahr?Was er dann über den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Dregger, gesagt hat, ist, meine Damen und Herren, eine Erfindung, die auch durch Wiederholung nicht besser wird. Ich wende mich an diejenigen unter den Sozialdemokraten — dort vorn sehe ich einige sitzen, so den Obmann im innerdeutschen Ausschuß —, die sich noch daran erinnern, wie wir damals, als ich nach dem Regierungswechsel die Ehre hatte, Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen zu sein, es miteinander zur Überraschung vieler geschafft haben, hier eine einstimmige Politik herzustellen. Das wäre mir natürlich ohne den Kanzler nicht möglich gewesen, aber sicherlich auch nicht ohne Alfred Dregger. Wer so etwas wie hier heute gegen ihn sagt, tritt ihm deshalb zu nahe. Das sollte man nicht wieder tun, meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Aber Herr Voigt, nun lassen Sie einmal! Ich komme zu all diesen Dingen. Nur mit der Ruhe!
— Ich habe Sie im Ausschuß schon viel ruhiger erlebt, nämlich auch schweigend, wenn ich geredet habe.
Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Willy Brandt, hat uns gefragt, ob die Kontinuität auch des Kommuniqué vom Dezember 1981 umfasse. Gemeint ist das Kommuniqué vom Werbellinsee über das Treffen Bundeskanzler Schmidt/Staatsratsvorsitzender Honecker. Nach dieser Frage habe ich mir den Text kommen lassen, habe ihn noch einmal durchgesehen und habe mich beim Kollegen Marx vergewissert, daß ich das noch richtig lese.
Ich muß da wirklich zurückfragen. Sie können doch — in einer intellektuell redlichen Diskussion — so gar nicht fragen, denn in diesem Kommuniqué — abgesehen von dem, was darin an allgemeinen Vorsätzen usw. alles steht, worin wir uns leichter als andere wiedererkennen können — ist die Basis doch die, in dem Kommuniqué auch beschriebene, Kontroverse zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker in der Frage der Nachrüstung. Da haben doch Sie, die Opposition die Position verlassen. Deshalb sind Sie es doch, die hier aus der Kontinuität gegangen sind und die deshalb auch bestimmte bündnispolitische Voraussetzungen der Deutschlandpolitik berührt haben. Dies muß gesagt werden.In dieser Abteilung des an uns Gerichteten würde ich mich dann gern noch an den besonders geschätzten Kollegen Egon Bahr — er wird das erwartet haben, denn wie sollte es anders sein, wenn wir hier über Deutschlandpolitik debattieren — wenden, und zwar nur in der Frage, daß er sich — Sie werden verstehen, wenn ich sage: erneut — bemüht, Statusfragen doch eher herunterzuspielen.Da will ich Ihnen, Herr Kollege Bahr, eine Erinnerung nennen. Wir hatten gestern und vorgestern die Sitzung unserer Bundestagsfraktion in Berlin. Sie wissen sehr gut, daß bei den Beratungen der vier Mächte das Recht der Fraktionen, sich aus eigenem Recht im Deutschen Reichstag zu versammeln, strittig und schon beinahe weg war. Sie wissen, daß es den Vorschlag gab, die Parteien in Berlin sollten selbständige Gliederungen sein, die natürlich freundschaftliche Beziehungen zu ihren Freunden im Bundesgebiet hätten halten können, und auf deren Einladung hätte man dann vielleicht auch einmal in Berlin arbeiten können. Dies war Absonderung und das Gegenteil von der von uns erwünschten und zu erstreitenden Zusammengehörigkeit. Man war damals dabei, hier nachzugeben.Ich bin damals, Herr Kollege Bahr, wie manche wissen, nach Washington gefahren und habe wegen dieses und eines anderen Berlin-Punktes den Präsidenten der USA Nixon besucht. Soeben war die Rede von einem Brief, den der damalige Kanzler an Breschnew geschickt hat. Ich akzeptiere das. Wir haben damals alle versucht, für Berlin zu kämpfen. Wenn wir das nicht zurückgeholt hätten, wäre dieses Stück, scheinbar Statusfrage, weggewesen. Wenn wir schon nicht mehr mit der Bundesversammlung und dem Bundestag in Berlin tagen können, so ist es eines der Essentials der Freiheit und Lebensfähigkeit Berlins, daß es ungestört zum Rechts-, Wirtschafts- und Finanzgebiet des Bundesgebiets gehört. Da müssen wenigstens Ausschüsse und Fraktionen aus eigenem Recht für alle Fragen in Berlin tagen können. Dies haben wir damals erreicht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5935
Dr. BarzelDies sage ich nur, meine Damen, meine Herren, um noch einmal deutlich zu machen, was Statusfragen sind. Das sind Lebensfragen, keine Zwirnsfäden, und es ist Ausdruck vitaler Interessen.
— Das kann man doch nachlesen, Herr Voigt, seien Sie ganz vorsichtig!
— Die war doch dabei, das wegzugeben.
— Herr Duve, seien Sie ganz vorsichtig, dies stimmt alles. Wir werden darüber debattieren können.Meine Damen, meine Herren, manchmal wird der Satz, den Konrad Adenauer gesagt hat, mißverstanden: Wir sind bereit, über vieles — das haben wir alle dann abgewandelt — mit uns reden zu lassen, wenn für die Menschen und für Deutschland etwas Besseres zu erreichen ist. Das ist alles richtig, aber das betrifft Geld, das betrifft Termine, das betrifft auch Protokollfragen. Darüber kann man immer reden. Über eines kann man dagegen nie reden: über den Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes.
Das sage ich jetzt an die Adresse des Kollegen Apel in seiner neu erstrebten Eigenschaft — er wird sie wohl nicht erreichen —:
Hierzu gehört — das ist nicht „juristischer Kram" —, daß die deutsche Frage offen ist, daß wir uns in der völkerrechtlichen Sphäre — worüber wir uns einig waren, Herr Kollege Bahr, als Sie zu verhandeln begannen — wegen der alliierten Hoheitsrechte, wegen der Freiheit Berlins zurückzuhalten haben. Deshalb wiederhole ich: Unsere Beziehungen zur DDR sind von besonderer Art. Wir sind füreinander nicht Ausland. Das ist nicht ein Staat wie jeder andere auch, sondern der zweite Staat in Deutschland. So haben wir hier noch am 9. Februar 1984 in der Bundestagsdrucksache 10/914 gemeinsam beschlossen. Wer davon runter will, der soll das hier sagen.Meine Damen, meine Herren, nun ist der Herr Bundeskanzler — zwischen den Zeilen mehr als direkt — wegen der Gemeinsamkeit mißverständlich angegriffen worden. Ich bin ein Zeuge dessen, was er in unserer Fraktion gesagt hat, und ich habe ihn hier heute gehört. Es war dasselbe. Er hat gesagt: Wenn sich in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Zustimmung zu den Geraer Forderungen als ihre Position in der Deutschlandpolitik durchsetzen sollte, dann ist dies das Ende von Gemeinsamkeit — nicht weil wir dies so wollen,sondern weil Sie das herbeigeführt hätten. Also bitte keinen Popanz!
— Herr Bundeskanzler, habe ich Sie falsch interpretiert? — Nein. Ich glaube, ich habe Sie richtig zitiert.Meine Damen, meine Herren, warum erwähne ich diese beiden Dinge im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Sphäre? Wenn man sich die Ge-raer Forderungen ansieht, stellt man fest, daß ihr politischer Gehalt doch ist, einige Fragen, die beim Abschluß des Grundlagenvertrages unlösbar schienen, nun durch Druck nachzuschieben und von den besonderen Beziehungen in die völkerrechtliche Sphäre zu kommen.
Ich würde die Verantwortlichen der DDR gern auch einladen, sich das alles noch mal zu überlegen! Denn die besonderen Beziehungen liegen im Interesse aller Deutschen und Deutschlands. Die DDR sollte sich auch überlegen — ich sage dies ganz schlicht und deute es mehr an —, daß natürlich bestimmte Zahlungen und bestimmte Zutrittsrechte zum Gemeinsamen Markt der Europäischen Gemeinschaft einem Staat wie jedem anderen wohl nicht möglich sein könnten! Wer im Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 unterschreibt — ich zitiere —: „unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage" und das in die Präambel nimmt, darf uns jetzt nicht „Revanche" zurufen, wenn wir an unserer Vorstellung von der Lösung der nationalen Frage festhalten.
Meine Damen, meine Herren, es ist leider wahr, daß bei Übernahme der Regierung durch diese Koalition die Deutsche Frage für die allermeisten, auch draußen, zusammengeschrumpft war auf die Frage nach der Auskunft über den Zustand der Beziehungen zwischen zwei deutschen Staaten. Wir haben dann wieder von Deutschland und auch von zwei Staaten in Deutschland gesprochen. Wir werden dies weiter tun.Nur so ist Kontinuität gemeint. Wir meinen die Kontinuität mit Geschichte und Grundgesetz und mit dem, was Adenauer begonnen hat und was in West- und in Ostverträgen steht — auch die Westverträge gelten; wenn ich das noch mal in Erinnerung rufen darf.
Ich möchte gern, Frau Vollmer, ganz wenige Sätze noch zu Ihnen sagen. Ich habe mich bemüht, vor Ihrer Rede das Programm Ihrer Partei zu lesen. Ich habe da eine Passage über Deutschlandpolitik nicht gefunden. Ich finde in Ihrer Politik hier, auch in Ihren programmatischen Äußerungen, viel Sensibilität für menschliche Probleme rund um den Glo-
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Dr. Barzelbus. Ich finde nichts an Sensibilität für die Lage der Menschen in Deutschland.
Ich lese in Ihrem Programm — ich zitiere —: „Nur wenn das Recht an die Stelle der Gewalt tritt, kann die Menschheit überleben." Ein schöner Satz! Was ziehen Sie für eine Konsequenz für Deutschland daraus, Frau Kollegin Vollmer?Sie sagen, die Westpolitik habe nichts Gutes gebracht. Nun, zum Beispiel dies: Ihren Freimut und Ihre Freiheit, hier zu sein und zu reden, Frau Vollmer. Das wollte ich doch sagen.
Meine Damen und Herren, in dem zweiten Punkt möchte ich ein Wort an einige sagen, die es angeht— es sind nicht alle —, zunächst im befreundeten Ausland. Da hat uns ja Rudolf Augstein dieser Tage einen ganzen Dornenstrauß von Zitaten aus dem Ausland zusammengeflochten, die belegen sollen, daß man draußen die deutsche Einheit nicht wolle. Und da ist zwischen den Zeilen, vor allem wenn man mehr als nur diese Auszüge kennt, — ich sage das offen — viel Ressentiment zu lesen. Freundschaft gebietet Offenheit. Deshalb sage ich dazu zwei Sätze.Erstens. Wir stehen endgültig auf der Seite derer, die Menschenrechte und Menschenwürde so wie wir auffassen und Politik als Dienst an Menschenrechten und Menschenwürde sehen. Da gibt es überhaupt kein Vertun.Deshalb das zweite. Meine Damen, meine Herren, wer noch mit vorgestrigen Ressentiments arbeitet, trotz einer nun 40jährigen deutschen Politik und Wirklichkeit, die demokratisch, verläßlich, friedfertig und berechenbar ist, der produziert nicht Fragezeichen gegen die deutsche Politik, sondern Fragen an sich selbst.
Vor allem aber — und das gehört in so eine Debatte— verkennen die, die so denken — ich richte es immer nur an die, die es angeht —, die Substanz der deutschen Frage.Aus guten Gründen haben sich in den 50er Jahren die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA im Artikel 7 des Deutschlandvertrags auf eine Politik der Wiedervereinigung im freiheitlichen Sinne geeinigt. Daß die Wiedervereinigung Deutschlands alle Nachbarn angeht und Sicherheitsfragen aufwirft und einschließt, war und ist allen bekannt. Ich komme darauf noch zurück. Ich sage aus guten Gründen — Herr Duve, da könnten wir uns doch vielleicht verständigen, weil die deutsche Frage sowohl eine — —
— Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Ich kann das nicht so schnell. Ich muß eines nach dem anderen aufbauen. Ich habe fünf Punkte. Am Schluß können wir sehen, wo wir miteinander oder gegeneinander stehen.Meine Damen, meine Herren, aus guten Gründen sagte ich, daß die deutsche Frage eine Frage von Menschlichkeit, eine Freiheitsfrage und eine Friedensfrage ist. Ich wiederhole: Uns stört nicht so sehr der zweite Staat in Deutschland. Die geschichtlichen Erfahrungen der Deutschen reichen aus, um mit solchen Wirklichkeiten zu leben, wenn sie für die Menschen annehmbar sind. Was uns stört und alle Gutwilligen rund um den Erdball ernsthaft stören sollte, ist die unannehmbare Lage für die Menschen in der DDR.
In Weimar, meine Damen und Herren, sind „Gedanken nicht frei" und „Männerstolz vor Königsthronen" ist auch literarisch nicht erlaubt. Sagen wir es darum ganz deutlich, — —
— Wo sind sie auch nicht frei? Hier?
— Das war damals literarisch noch nicht vorgesehen, meine Damen, meine Herren.
Sagen wir es ganz deutlich: Die deutsche Frage, Frau Hickels, ist nicht eine Macht —, nicht eine Grenz- und auch nicht eine Territorienfrage. Sie ist zuerst eine Freiheitsfrage.
Deutschlandpolitik heißt deshalb Freiheit, Menschenwürde, Freizügigkeit. Sie heißt für uns ganz bestimmt nicht — wie unsere Politik ausweist — Glanz und Gloria und bestimmt nicht hipp hipp hurra.Aber wir fragen die Welt: Warum eigentlich können die Deutschen in Dresden nicht leben wie die in Köln? In den Tagen vor dem Volksaufstand in der DDR, der am 17. Juni 1953 seinen Höhepunkt erlebte — ich habe das hier kürzlich bei unserer besonderen Sitzung zum Gedenken dieses Tages zitiert — rief der Arbeiter Eichhorn den Funktionären zu: „Wir wollen leben wie die Menschen — weiter wollen wir nichts!" Wer das nicht versteht und dagegen mäkelt — verzeihen Sie —, der sitzt nicht in demselben Boot wie wir!Die deutsche Frage ist, wie die Dinge liegen, auch eine Friedensfrage. Wir haben zumindest in meiner Generation erfahren, daß Krieg nur möglich ist, wo Volksverhetzung möglich ist. Und die ist nur möglich, wo Grenzen zementiert sind. Bei offenen Grenzen, bei Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen ist Volksverhetzung nicht möglich und ist deshalb Frieden gesichert. In dieser Frage, meine Damen und Herren, schuldet die DDR der deutschen Nation wie dem europäischen Frieden noch das allermeiste.Wenn wir schon eine solche Grenze mitten durch Deutschland ertragen sollen und müssen, muß diese erträglich und fair für die Menschen sein. Was ist, ist unerträglich, unannehmbar und nicht zumutbar. Diese Realität stellt nicht nur gute Nachbar-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5937
Dr. Barzelschaft in Frage, sie ist zugleich immer wieder eine Gefahr für das gewollte friedliche Mit- und Nebeneinander. Die deutsche Politik ist deshalb gut beraten, alles zu tun, um diese Grenze erträglicher und durchlässiger zu machen. Der Herr Bundeskanzler konnte in diesen Fragen ja eine erstaunlich erfolgreiche Bilanz vorweisen.Aber ich füge gleich hinzu: Mehr als Freizügigkeit ist von der DDR zu erwarten, allem voran, daß sie die Militarisierung des öffentlichen Lebens, die Erziehung zum Haß und den Druck auf die Gewissen einstellt.
Meine Damen und Herren, Qualität und Substanz der deutschen Frage als Friedensfrage und als Entspannungschance zu begreifen, erhellt auch, wenn man diesem Gedanken folgt: Wir dürfen doch nicht so weit kommen, die erstrebte Entspannung allein oder vorwiegend von dringend notwendigen und erwünschten Abrüstungsgesprächen und -vereinbarungen zu erwarten. Waffen sind zunächst tote Werkzeuge — freilich von unterschiedlicher Gefahr, Herr Voigt. Wer ihre Zahl mindert, hat viel — und wir wünschen dies; der Kanzler hat es heute wieder gesagt —, aber er hat nicht alles erreicht. Wer politische Spannungsursachen abbaut — so ist Reykjavik, so ist der Harmel-Bericht aus der Zeit des Außenministers Willy Brandt und der Großen Koalition zu verstehen —, also vom Gegeneinander zur Zusammenarbeit kommt, mildert auch die militärische Gefahr. Solche Fortschritte in Deutschland können den Frieden stabilisieren. Wo — wie hier — die Waffen gefährlich geballt starren, ist doch jeder Schritt zu Verständnis, Verabredung und Gemeinsamkeit ein hoher Gewinn. Die auswärtigen Kritiker einer aktiven Deutschlandpolitik sollten auch deshalb ihre Position noch einmal überdenken.
Gäbe es hier in Deutschland Freizügigkeit — die Welt sähe anders aus, die Entspannung hätte eine Chance, und den Waffen wäre etwas von ihrer Gefahr genommen.Meine Damen, meine Herren, nicht daß wir uns hier falsch verstehen — deshalb wiederhole ich es noch einmal —: Natürlich muß die Zahl der Waffen vermindert werden. Ich glaube, etwas anderes wird mir keiner unterstellen wollen.Das, was wir früher sagten, ist, glaube ich, durch den Zeitablauf nicht falsch geworden: Man sollte Schritte zur Abrüstung mit Schritten zur Lösung der deutschen Frage, also dem schrittweisen Abbau von Spannungsursachen koppeln. Niemand soll aus dieser Lösung einen „einseitigen militärischen Vorteil ziehen". Nun wird wieder manch einer sagen: Das ist j a Avantgardismus. Nein, das steht bereits in einem Kommuniqué zwischen Adenauer und Eisenhower vom 18. Mai 1957. Es ist dann konkret in dem Herter-Plan vom 14. Mai 1959 ausgeführt. Ich möchte das nicht weiter zitieren.Wer den deutschen Status quo für immer erhalten will, fordert von uns nicht nur das Unmögliche,sondern verzichtet zugleich auf einen möglichen Baustein gesicherten Friedens in Europa.
Meine Damen und Herren, das war — auf den Zuruf von eben — die Ziffer 2, die ich auch als solche bezeichnet zu haben glaube.Für alle Fälle sage ich jetzt: drittens. Ich beziehe mich auf die erneute Polemik aus östlichen Hauptstädten — ich weiß in diesem Zusammenhang den Hauptsatz des ersten Redners der Sozialdemokraten zu schätzen, weniger die dann folgenden einschränkenden Halbsätze — mit dem Vorwurf des Revanchismus. Dies zeigt doch für den, der das seit Jahrzehnten verfolgt, zum einen die konsequente Beharrlichkeit kommunistischer Westpolitik und zum anderen, daß die deutsche Frage ungelöst, also offen ist. Meine Damen, meine Herren, ich erinnere mit Bedacht und mit Betonung an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion im Jahre 1955. Ministerpräsident Bulganin richtete an Bundeskanzler Adenauer unter dem 13. September ein Schreiben, in dem es heißt — ich zitiere aus dem amtlichen Schriftwechsel; das muß hier wieder einmal ins Protokoll —:Hierbei geht die Sowjetregierung davon aus, daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland zur Lösung der ungeklärten Fragen beitragen wird, die das ganze Deutschland betreffen, und somit zur Lösung des nationalen Hauptproblems des gesamten deutschen Volkes — der Wiederherstellung der Einheit eines deutschen demokratischen Staates — verhelfen wird.
Die Sowjetunion wußte also und weiß, wer dieser deutsche Partner „Bundesrepublik Deutschland" ist.
Es ist unfair, uns „Revanchismus" vorzuwerfen, weil wir in der deutschen Frage unverändert so denken, wie wir im Jahre 1955 bei dieser Verabredung dachten.Ich erinnere dann an die Bemühungen der Großen Koalition um Gewaltverzicht. Der Kern der damaligen Meinungsverschiedenheiten läßt sich doch in zwei Sätzen zusammenfassen: Die Bundesrepublik Deutschland erklärte sich zum Verzicht auf Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele bereit. Die Sowjetunion verlangte mehr: den Verzicht auf diese politischen Ziele. Das ist der Kern des händefüllenden Notenwechsels. In der Note vom 5. Juli 1968 verstieg sich die Sowjetunion dazu, uns wegen dieser friedlich verfolgten Ziele — ich zitiere — „friedensgefährdende Tendenzen" vorzuwerfen. Da wir hier — wir waren damals alle dieser Meinung — nicht nachgeben konnten und wollten, ging das nicht weiter.Dann kam 1969 Bundeskanzler Brandt. Sie wissen, was für eine Änderung kam: die DDR sei ein zweiter deutscher Staat, und er erklärte, von Wie-
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Dr. Barzeldervereinigung nicht mehr sprechen zu wollen. Aber einen Vertrag dieses Inhalts, den die Sowjetunion wohl gerne gehabt hätte, gibt es nicht. Sie hat einen Vertrag bekommen, vor dessen Ratifikation sie ein völkerrechtlich wirksames Dokument der Bundesrepublik Deutschland unwidersprochen zur Kenntnis genommen hat. Da heißt es — ich zitiere —:Die Politik der Bundesrepublik Deutschland, die eine friedliche Wiederherstellung der nationalen Einheit im europäischen Rahmen anstrebt, steht nicht im Widerspruch zu den Verträgen, die die Lösung der deutschen Frage nicht präjudizieren.Und im „Brief zur deutschen Einheit", der zum Vertragswerk gehört, findet das so seinen Ausdruck: Die Bundesregierung stellt gegenüber den Vertragspartnern ausdrücklich fest, „daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt".Meine Damen, meine Herren, dieser Brief ist zugleich die Perspektive, nach der hier gefragt wird: Deutsche Politik hat auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Die Sowjetunion weiß doch wie wir alle — der Kanzler hat dies heute betont, ebenso der Außenminister —, daß wir an Frieden und Zusammenarbeit interessiert sind. Ich zitiere ausdrücklich die langfristigen Kooperationsabkommen vom 6. Mai 1978 und vom 1. Juli 1980; der Außenminister hat sie auch schon in die Debatte eingeführt. Ich glaube, in der Sowjetunion sollte man überlegen, daß es doch im Interesse aller liegt, nun die Beziehungen nicht auf eine Frage zusammenschrumpfen zu lassen, in der es kein Verständnis gibt, sondern diese breite Bahn friedlicher Zusammenarbeit zu beschreiten. Wir sind dazu bereit.
Viertens. Ich möchte noch ein kurzes Wort an die Bürgerinnen und Bürger, aber auch an die Verantwortlichen in der DDR richten. Ich sage nur noch einmal: Wir wollen Frieden. Wir gehören zusammen. Wir wollen Frieden durch Zusammenhalt, wir wollen Frieden durch Zusammenarbeit, und wir wollen Frieden durch Freizügigkeit. Wir wollen zusammen arbeiten, nicht bevormunden. Wir wollen über alles sprechen — offen, ohne Tabus, friedfertig und geduldig —, und ich füge hinzu: so wie es sich für Deutsche gehört.Wir haben nicht vergessen, daß Erich Honecker im Oktober 1983 einen Brief an den Bundeskanzler Helmut Kohl schrieb, in dem er eine Forderung „im Namen des deutschen Volkes" erhob. — Das haben wir nicht vergessen. Auch drüben weiß man, daß dieses Volk lebt, daß dieses Volk zusammenkommen will. Wäre es anders, dann bräuchten die keine Mauer.Meine Damen und Herren, es ist noch viel aufzuarbeiten, was bei Abschluß des Grundlagenvertrages verbindlich vorgenommen wurde. Es kann also jetzt auch keiner, der noch ein bißchen größer ist, kommen und sagen: Was macht ihr hier für neue Geschichten. — Es fehlen noch eine Reihe von Vorhaben, die nicht abgeschlossen sind. Ich nenne z. B. das Kulturabkommen; es ist dieser Bunderegierung doch unleugbar gelungen, die Sache wieder flott zu machen.Ich komme zu meinem fünften und letzten Punkt. Ich glaube, daß alle Deutschen wie auch alle Nachbarn das Recht haben zu fragen: Was tut ihr, um das aus dem „Brief zur deutschen Einheit" zitierte Ziel zu erreichen, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit findet? Was sind eure Bausteine für diesen Zustand? — Natürlich kann eine Bundesregierung hier nicht alle Karten auf den Tisch legen. Aber ich wiederhole: Dieser Brief ist j a nicht nur ein Rechtsvorbehalt, hinter dem es sich getrost abwarten und verweilen läßt, sondern er ist eine Aufforderung und — wie unser Grundgesetz — eine Verpflichtung zum Handeln. Er umreißt die uns menschlich, geschichtlich und grundgesetzlich auferlegte Pflicht.Zu diesem — wie gesagt — nicht nur zu erhoffenden, sondern pflichtgemäß herbeizuführenden Zustand des Friedens gehört zunächst die gute Nachbarschaft. Das haben wir mit der DDR im Grundlagenvertrag verabredet. Wir drängen darauf, das zu verwirklichen; nach Norden, Süden und Westen ist das lebendige Wirklichkeit. Und da soll doch draußen keiner sagen: Was wollt ihr eigentlich mit der DDR besprechen?Wir wollen über gute Nachbarschaft sprechen. Da ist nichts hineinzugeheimnissen, und es besteht kein Grund, die Augenbrauen zu heben.Gute Nachbarschaft beginnt damit — ich sage es jetzt einmal nicht mit politischen Worten —, daß man einander grüßt, daß man dem Nachbarn weder seinen Dreck vor die Tür kehrt noch seinen Zaun beschädigt oder gar schießt.
Zur guten Nachbarschaft gehört, daß man einander besucht, daß man einander beisteht, vor gemeinsamen Gefahren warnt und sie notfalls miteinander bannt oder abwehrt und so fort. Ich habe einmal diese feuilletonistische Sprache gewählt, weil sie vielleicht verständlicher ist als das harte Deutsch von Juristen und Politikern.Also, wenn das so ist — und es gibt da wohl keinen Widerspruch —, ist mit der DDR das meiste noch zu regeln und nachbarlich zu gestalten. Ich füge hinzu: Ohne ein Mindestmaß an Zutrauen zueinander und auch an Verläßlichkeit aufeinander wird das nicht gehen. Hier muß auch manches, wie Adenauer das schon in Moskau gemacht hat, wie unter Vollkaufleuten, einfach durch Wort und Handschlag regelbar sein. Interessenausgleich gehört ebenso dazu wie die Notwendigkeit, einander weder zu überfordern noch zu übervorteilen.Zu diesem Zustand des Friedens gehört ja nicht nur unsere Nachbarschaft, sondern die in ganz Eu-
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Dr. Barzelropa. Das heißt: Wir müssen alle Europäer als Nachbarn begreifen, das sehen, pflegen und beleben, also z. B. unsere Nachbarn im freien Teil Europas von unserer andauernden freiheitlichen Verläßlichkeit überzeugt halten wie das Verständnis für unsere nationale Frage -entwickeln, unseren Nachbarn im anderen Teil Europas unsere beständige Friedfertigkeit nahebringen, die Kontakte ausweiten, die Zusammenarbeit vertiefen. Auf diese Weise soll also eine europäische Überzeugung heranreifen, daß alle begreifen: Die Lösung der deutschen Frage ist gegen niemanden gerichtet; sie ist gut für alle in Europa; denn dies wäre der wesentlichste Schritt zu einer europäischen Friedensordnung.
Meine Damen und Herren, der Prozeß der westlichen Versöhnung, Zusammenarbeit und einer europäischen Vereinigung gelang — ich habe dies schon einmal zitiert, aber ich muß es noch einmal bringen —, weil Monnet und Schumann im Mai 1950 ein Konzept entwickelt haben, das uns heute selbstverständlich ist, nach dem Kriege aber sensationell war und mit dem Blick auf unsere Geschichte sensationell ist. Sie haben es ganz einfach formuliert — ich zitiere —: „An die Stelle der Rivalität soll treten die Zusammenarbeit und an die der Hegemonie die Gleichberechtigung."Wer eine europäische Friedensordnung sucht — und auch das wird nicht von heute auf morgen gehen, aber hier war ja nach Konzepten gefragt —, sollte sich, so meine ich, an dieses Rezept halten. Wir wenigstens glauben, daß die Geschichte diesen Weg sucht, nicht den der Konfrontation, des Krieges, des internationalen Klassenkampfes oder der Weltrevolution. Die Europäer haben — täuschen wir uns nicht — längst bei sich beschlossen — wie die Deutschen und die Franzosen —, daß sie miteinander leben und nicht gegeneinander schießen wollen — und auch die Europäer in Rußland fühlen so.
Daran kann gar kein Zweifel sein.Ich füge hinzu, damit wir hier nicht einen falschen Ton hören oder eine falsche Perspektive bekommen: Die nun schon jedermann offenkundigen Risse, Spannungen und Brüche im europäischen Imperium der Sowjetunion — und sie gehören j a wohl in den Hintergrund der Betrachtung dieser aktuellen Situation — sind nicht das Werk des Westens. Diese Sprünge und Spannungen kommen aus der Natur der Sache —, und gläubige Kommunisten wissen das auch.Im geltenden Parteiprogramm der KPdSU werden vor allem drei Kräfte bezeichnet, die nachhaltig wider die Weltrevolution wirken, nämlich die Religion, die Vaterlandsliebe und die Sozialpolitik. Inzwischen müssen gläubige Kommunisten merken, daß diese drei Wirkkräfte, die sie nach ihrer Erkenntnis daran hindern, in der Welt weiterzukommen, stärker sind als jedwede kommunistische Indoktrination in ihrem Herrschaftsbereich: Vaterlandsliebe, Religion und Sozialpolitik sind auch dort stärker.
Deshalb, meine Damen, meine Herren — ich bin ein Optimist; sonst könnte ich meinen Beruf gar nicht ausüben —, bin ich davon überzeugt, daß irgendwann die Zeit kommen wird, in der man in Moskau eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen wird. Da wird man fragen, ob es eigentlich mehr nutzt oder schadet, ob es mehr hindert oder fördert, alles das, was man im Zweiten Weltkrieg erobert und besetzt hat, zu halten. Man wird fragen, ob das nicht zu teuer ist, ob es da nicht bessere Lösungen gibt. Ich füge hinzu: in dieser Perspektive, nicht per heute.In Moskau denkt und fühlt man nicht nur als Vormacht des Kommunismus. Moskau liegt immer noch in Rußland und wird da liegen bleiben, meine Damen und Herren.Zum Schluß meine ich: Wer etwas für Deutschland tun will, soll nach Berlin gucken. In Berlin kann man auf vielfältige praktische Weise — aber das ist heute nicht das Thema — etwas für die Zusammengehörigkeit, für das Blühen unserer Hauptstadt tun.Ich sage als letztes, meine Damen und Herren: Die deutsche Frage bleibt immer eine Herausforderung. Wer glaubt, die Antwort sei leicht, ist kein Realist. Wer deshalb aufgibt, ist kein Patriot.
Lias Wort hat der Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident. Meine Damen und Herren! Der Kollege Barzel hat am Anfang seiner Ausführungen bedauert, daß der Sprecher der CDU erst jetzt zum Zuge kommt. Ich kann mich ihm insofern anschließen, als ich bedauere, nach dem Ablauf der Debatte nicht mehr Zeit zu haben, als ich jetzt habe.
Zur Sache selbst habe ich festgestellt, daß der Bundeskanzler offenbar nicht in der Lage ist, die Fragen zu beantworten, die mein Parteivorsitzender heute gestellt hat, sondern dazu waren zum Teil offenbar Sie vorgesehen oder nötig, zum Teil der Bundesaußenminister. Wenn man sich in Erinnerung ruft, was der Bundeskanzler gesagt hat, dann muß man zu dem Ergebnis kommen: Er hat es offenbar gar nicht nötig gehabt, aus dem Urlaub zurückzukommen und endlich Ordnung zu schaffen. Man hat den Eindruck, als ob die Diskussionen über die Pannenregierung gar nicht existent gewesen wären. Es war doch wohl nicht so, daß er aus dem Urlaub zurückkommen mußte, um mit den Er-
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Bahrfolgen fertig zu werden oder die Erfolge zu stoppen, sondern er mußte die Pannen stoppen.
Aber das ist nicht der wichtigste Punkt. Der wichtigste Punkt ist, daß wir zu den Fragen, die hier aufgeworfen worden sind, keine Antworten bekommen haben, jedenfalls nicht durch den Bundeskanzler. Statt dessen hat er sich — der Kollege Barzel ebenso — über Revanchismus ausgelassen. Er hat das mit Vorwürfen gegen die SPD verbunden.Meine Damen und Herren, das, was hier gesagt worden ist, kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es keine einzige Äußerung der SPD gibt, mit der wir die Vertriebenen angegriffen haben. Das gibt es doch gar nicht. Das, was wir gemacht haben, war, darauf hinzuweisen, daß der Bundeskanzler es für richtig hielt, am 2. September dort zu sein, daß er es aber nicht für richtig hielt, am 1. September aus anderen Gründen etwas zu sagen.
Wenn wir über Revanchismus reden, dann finde ich es im Grunde unglaublich, daß weder der Bundeskanzler noch der Kollege Barzel zur Kenntnis nehmen oder berücksichtigen, daß es Äußerungen von Sozialdemokraten gegeben hat, die dem Vorwurf eines undifferenzierten Revisionismus gegen die Bundesrepublik Deutschland entgegengetreten sind.
Herr Kollege Barzel, der Brief zur deutschen Einheit, über den Sie eben so ausführlich geredet haben,
ist doch nicht eine Erfindung der CDU gewesen.
Das ist doch eine Erfindung gewesen, von der der Kollege Mertes sagt, es sei meine gewesen. Wie kommen Sie denn dazu, so zu tun, als müßten Sie heute den Brief zur deutschen Einheit gegen die Sozialdemokraten verteidigen?
Im übrigen wissen Sie doch — die beiden Herren, die dort hinten sitzen — genauso wie alle anderen,
daß ich zur Mitte dieses Jahres in Moskau durchaus die Gelegenheit genutzt habe, um Gesprächspartner kompetenter Art darauf hinzuweisen, daß vor dem Brief zur deutschen Einheit gegenüber dem sowjetischen Außenminister von mir darauf aufmerksam gemacht worden ist: In der Perspektive des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion ist es nicht möglich, das legitime Recht und den natürlichen Anspruch auf Selbstbestimmung unter den Vorwurf des Revisionismus zu stellen. Wer das tut, schließt die Perspektive eines vielleicht sogar freundschaftlichen Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion aus. Als Ergebnis dieser von ihm akzeptierten Darlegungen ist dann der Brief zur deutschen Einheit geschrieben und auch angenommen worden.Ich habe darauf hingewiesen und wiederhole das vor dem Deutschen Bundestag: Wer diese Frage mit Revisionismus gleichsetzt, legt die Axt an die Wurzeln des Moskauer Vertrages.Auch der Kollege Barzel hätte feststellen können — entgegen dem, was er hier gesagt hat —, daß seit dieser Diskussion dieser unqualifizierte Vorwurf des Revisionismus, verbunden mit dem Brief zur deutschen Einheit, aus Moskau nicht mehr zu hören ist. Das, was heute aus der Sowjetunion an Revisionismusvorwürfen erhoben wird, richtet sich allein und ausschließlich gegen das Infragestellen bestehender Grenzen in Europa. In diesem Punkte sind wir, hoffe ich, einer Meinung.Ich habe vorhin sehr genau beachtet, daß es in den Ausführungen des Bundesaußenministers Passagen gegeben hat, denen die FDP-Mitglieder und die SPD-Mitglieder in diesem Hause applaudiert haben, aber leider nicht die Mitglieder der CDU/ CSU.
Das ist doch auch ein Punkt, Herr Bundeskanzler, wo Sie nicht so tun können, als gäbe es gar nichts an unterschiedlichen Meinungen in der Koalition. Ich möchte ausdrücklich unterstreichen: Das, was der Bundesaußenminister vorhin gesagt hat zur Verbindlichkeit der Grenzen, zur Gültigkeit der Verträge, zum Nichterheben von Ansprüchen, auch in Zukunft nicht, findet die uneingeschränkte Billigung der SPD. Das entspricht übrigens auch den Verträgen. Wer das in Frage stellt und etwas anderes sagt, stellt im Grunde auch die Verträge in Frage.
Die Grenze des Jahres 1937 kann jeder in der Diskussion fordern; denn wir sind ein freies Land. Aber wenn man das tut, muß man wissen, daß man jedenfalls gegen Geist und Buchstaben der Verträge handelt.
Wenn das ein Kabinettsmitglied tut und das ungeahndet durchgeht, darf man sich nicht wundern, wenn man das in Moskau und vielleicht auch anderswo wahrnimmt.
Meine Damen und Herren, wenn der Bundeskanzler sagt, es gibt keinen Revisionismus, so sage ich: Das finde ich ja fabelhaft.
Aber ich muß wirklich sagen, ich habe mit großenBedenken gelesen — ich glaube, der eine oder an-
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Bahrdere von Ihnen wird das nachempfinden und vielleicht genauso lesen können —, daß der Kollege Dr. Hennig als Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen zur Feder gegriffen hat, wie es hier heißt — er ist immerhin Parlamentarischer Staatssekretär dieser Regierung und wird übrigens auch daran gemessen —,
und zu den Ausführungen des Kardinals Glemp Stellung genommen hat. Zu denen ist ja in der Tat eine ganze Menge zu sagen. Darüber sind wir uns sicher einig. Aber die Formulierungen, die er dort benutzt hat, sind so nicht akzeptabel, finde ich. Er sagt:Übersieht der Oberhirte der katholischen polnischen Kirche wirklich, daß die so charakterisierten Menschen— die Vertriebenen —Betroffene eines völkerrechtlichen Verbrechens sind, das auf dem Gewissen des polnischen Volkes lastet wie die Verbrechen Hitlers auf dem unseren?Waren die Polen mit völkerrechtlichen Verbrechen so belastet wie wir durch Hitler?
Diese Gleichstellung kann man nicht akzeptieren.
Ein paar Absätze später fügt er hinzu:Wie sollen sich Deutsche, wie soll sich gar eine deutsche Bundesregierung nach dieser unbegreiflichen Entgleisung für das Projekt einer groß angelegten kirchlichen Hilfe einsetzen?
— Die Frage zu stellen heißt schon, die Hälfte der Antwort zu geben.Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, daß in dieser Revanchismus-Debatte außerdem klar sein muß, wo wir auf der Basis der Verträge stehen und stehen bleiben und wo wir aufpassen müssen, die Verträge nicht zu verletzen. Wenn das der Fall ist, gäbe es in der Tat keine Gemeinsamkeit.Jetzt möchte ich ein paar Bemerkungen zu dem machen, was der Kollege Genscher vorhin gesagt hat: „Übringens sollte niemand der Kampagne Vorschub leisten. Nicht alles, was aus dem Osten kommt, ist Propaganda." Diese Auffassung des Bundesaußenministers teile ich. Sie ist übrigens auch zu manchen Äußerungen zu sagen, die drüben vielleicht mißverstanden wurden und zu dem Vorwurf des Revanchismus geführt haben. Ich finde, daß seine Forderung, sich behutsam zu äußern, weniger an Sozialdemokraten gerichtet war als vielmehr anandere. Aber, Herr Bundeskanzler, hier hatten wir es doch mit der Größtkoalition zu tun, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Die Kritik an dem „Gerede", an den „Quatschereien", an dem „unqualifizierten Gerede" oder an dem „Affentheater" hat man aus Ost-Berlin, von Sozialdemokraten, von Herrn Strauß, von Herrn Jenninger gehört. Da gibt es doch eine Größtkoalition. Sie können doch nicht so tun, als gäbe es das gar nicht.Herr Genscher hat sehr interessant auf das reagiert, was die Kollegin Vollmer vorhin gesagt hat, und hat darauf aufmerksam gemacht, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland in unseren Vorstellungen davon ausgehen müssen, was ist. Das heißt, daß wir in Bindungen sind, aus denen wir nicht herauskommen, und daß andere in Bindungen sind, aus denen sie auch nicht herauskommen.
Diese Auffassung teile ich uneingeschränkt.
Ich glaube, Frau Kollegin Vollmer, daß die Vorstellungen, die Sie heute von einem eigenständigen und neutralen deutschen Weg entwickelt haben, für Sozialdemokraten nicht gangbar sind. Ich möchte dies auch noch mit einem Wort der Begründung versehen. Wir sind der Auffassung, daß es Sicherheit in dieser Zeit nur gemeinsam gibt. Das heißt, ich glaube nicht, daß, wie groß auch immer unsere Anstrengungen der Verteidigung sein mögen, wir in der Lage sein werden, einseitig Sicherheit vor dem Gegner zu bekommen.
— Dem potentiellen Gegner, dem Warschauer Pakt, Sir. — Ich glaube, daß es nur möglich sein wird, gemeinsam mit dem Gegner Sicherheit zu bekommen. Das bedeutet aber gleichzeitig, wenn es nur gemeinsam Sicherheit gibt, daß es den Weg des Aussteigens nicht gibt. Das heißt, daß wir nur mit unseren Verbündeten und mit den Bündnissen Sicherheit bekommen werden.
Mit anderen Worten: Der Weg aus der Gemeinschaft in die Vereinzelung oder in die Neutralität wird nicht gehen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht groß genug — nicht einmal ein wiedervereinigtes Deutschland wäre groß genug —, Sicherheit außerhalb der Bündnisse zu erreichen. Das ist vorbei.Der Bundesaußenminister hat im übrigen darauf hingewiesen, daß die Bilanz des Jahres 1984 noch nicht so schlecht ist. Ich bin der Auffassung, wir sollten in der Tat darauf zurückkommen. Ich fürchte, daß die Hoffnungen, die im Augenblick gemacht werden, sich nicht erfüllen werden. Aber bitte, wir werden darauf zurückkommen.Ich möchte nur auf eines noch hinweisen. Kollege Barzel hat sich darüber beklagt, daß die Opposition kritisiert und nicht eigentlich ihr Bedauern ausgedrückt hat über das, was dieser Bundesregierung nicht geglückt ist. Kollege Barzel, da Sie hier schon so 'oft und gerne zitiert haben, möchte ich Ihnen mit einem eigenen Zitat antworten, daß Sie einmal als Vorsitzender der Opposition in einer gleichfalls in-5942 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984Bahrteressanten Debatte im Februar 1972 gesagt haben:Allein diese Bundesregierung — ihre Fehler und ihre Unterlassungen — ist Gegner in dieser Debatte; allein diese Bundesregierung, nicht die Verantwortlichen in den Hauptstädten des Auslands, auch nicht in Moskau.Auch dies gilt, Herr Kollege Barzel, heute.
Jetzt komme ich auf die Situation der Jahre 1971 und 1972, jetzt komme ich auf das, was Sie gesagt haben, zum Thema Berlin. Zunächst einmal: Herr Kollege Barzel, hier ist völlig klar und muß auch völlig klar sein, daß das Ergebnis der Viermächteverhandlungen und das, was erreicht worden ist, das Ergebnis der Bemühungen der damaligen Bundesregierung gewesen ist. Auch ein Zweites muß völlig klar sein. Was Sie vorhin gesagt haben, war die Erinnerung an einige Wünsche und Forderungen des Ostens. Das ist völlig richtig. Die haben in der Tat eine viel stärkere Einschränkung der Aktivitäten des Deutschen Bundestages gewünscht. Die haben in der Tat auch gewünscht, was Sie vorhin gesagt haben, daß es nämlich selbständige Parteien in Berlin geben soll. Das stimmt. Bloß hätten Sie hinzufügen sollen und können,, daß wir in diesem Punkte völlig einer Meinung waren und daß es nicht akzeptiert werden kann, derartigen Forderungen nachzugeben, sie zu akzeptieren. Und, um das noch hinzuzufügen, wir haben ja auch erreicht, was wir gewollt haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Barzel?
Aber natürlich. Vizepräsident Wurbs: Bitte sehr.
Darf ich Sie bitten, da ich dies so bestreite, mir mitzuteilen, warum z. B. Sie ganz persönlich, Herr Kollege Bahr, mir geraten haben, eine nach Berlin bereits einberufene Sitzung abzusagen, weil es Verwicklungen in Berlin geben könnte? Auch darüber liegen ja die Unterlagen vor. Wir sollten vielleicht die Unterlagen austauschen, und dann sehen wir einmal, wer hier was gemacht hat. Das Berlin-Abkommen nur der Bundesregierung zuzuschreiben ist nicht fair. Wissen Sie nicht, wie die drei Mächte der damaligen Opposition in Berlin und in Bonn für das Zusammenwirken gedankt haben?
Herr Kollege Barzel, die Zusatzfrage, die Sie jetzt gestellt haben, heißt: „Apropos etwas anderes. Denn eines ist auch völlig klar: Das, was Sie eben gesagt haben, ist zu bestätigen. Ich habe nahegelegt, übrigens auch nach Rücksprache mit den Drei Mächten, daß es vielleicht besser wäre, mitten in den Verhandlungen eine solche Sitzung nicht zu machen. Das hat aber überhaupt nichts mit
dem zu tun, was Sie vorhin gesagt haben. Ich kann dazu nur wiederholen und hinzufügen: Der damalige Bundeskanzler hat sich auch in dieser Frage direkt an den Generalsekretär der KPdSU gewendet und ihm erklärt, mit ihm sei die Selbständigkeit der Berliner Parteien nicht zu machen; es gibt nur eine SPD, und das gilt auch für andere Parteien. —Daß Sie sich freundlicherweise im Westen auch noch bemüht haben, will ich Ihnen danken. Ich wollte Sie nur daran erinnern, das, was wir getan haben, bitte nicht zu vergessen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, darf doch nicht übersehen werden, daß diese Art von BerlinDiskussion nicht an der Tatsache vorbeiführen darf, daß diese Bundesregierung einen Erfolg, den sie in ihren Verhandlungen mit der DDR gehabt hat und den wir j a anerkannt haben, nicht in der Lage gewesen ist auf Berlin auszudehnen. Das ist doch der Vorwurf von Herrn Brandt gewesen, und darauf haben Sie nicht geantwortet, und darauf können Sie gar nicht antworten. Ich kann zum Schluß nur mit dem Bundeskanzler sagen: Man muß eben sehen,, was hinten rauskommt. In diesem Falle ist eben für die Berliner nichts herausgekommen, und das werden wir auch weiter anmahnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß die Debatte im Hinblick auf das Thema Gemeinsamkeit mehr Klarheit gebracht hat. Klar ist, wir bleiben in der Deutschlandpolitik zur Gemeinsamkeit bereit. Es gibt eine klare Grundlage, nämlich die gemeinsame Entschließung aller Bundestagsparteien mit Ausnahme der GRÜNEN vom Februar dieses Jahres. Wir alle sollten daran interessiert sein, diese Gemeinsamkeit auch künftig zu pflegen. Wir werden jedenfalls an dieser Resolution festhalten, und wir fordern die Sozialdemokraten auf, genau dasselbe zu tun.Ich möchte noch ein Wort über die Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition in der Deutschlandpolitik sagen. Als Sie noch regiert haben, hat die Opposition, also wir, Sie hart bedrängt, kämpferisch bedrängt.
— Sie bestätigen das gerade noch einmal, was ich gesagt habe. Wir haben aber stets Ihre Verhandlungsposition gegenüber der DDR-Regierung gefestigt, indem wir vor falscher Nachgiebigkeit gewarnt haben. Wie sieht es heute aus? Da erleben wir häufig leider das Gegenteil, da werden von manchen sozialdemokratischen Kollegen deutschlandpolitische Positionen in Frage gestellt, da wird das Offensein der deutschen Frage relativiert, da wird die Regierung zu Zugeständnissen an die DDR gedrängt, für die es keine praktischen Bedürfnisse gibt; ja, einige von ihnen raten gar zum Ausscheren aus der gemeinsamen westlichen Sicherheitspolitik,
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Rüheweil davon angeblich die deutsch-deutschen Beziehungen profitieren würden.
Ich meine also, daß Sie als Opposition sich einmal sehr sorgfältig prüfen sollten, wie weit nicht auch Sie einen Beitrag zu einer Stärkung statt zu einer Schwächung der Verhandlungsposition der Bundesregierung leisten könnten.
Die Debatte hat gezeigt, daß die schrillen Schuldzuweisungen und die versuchten Legendenbildungen, die es in den ersten Tagen nach der Verschiebung des Besuchs von Erich Honecker gegeben hat, von Ihnen jetzt nicht mehr aufrechterhalten werden.
— Nun, man kann sich über mangelnde Diskretion und auch über Gerede beklagen, aber ich habe hier heute von niemandem gehört, daß das der Grund für die Verschiebung sein könnte.
Dies zu behaupten ist von Ihnen in den ersten Tagen in schriller Weise versucht worden. Diese Legende ist geplatzt, und das ist gut so.
Im übrigen: Wir können und sollten uns bemühen, die Vordiskussion vor dem hoffentlich in Zukunft stattfindenden Besuch abzukürzen. Nur, wir können keinem Besucher der Bundesrepublik Deutschland, woher auch immer er kommt, eine keimfreie Diskussionsatmosphäre garantieren. Ich glaube, daß gerade Sie es sich bei Besuchern aus anderen Regionen der Welt doch sehr verbitten würden, wenn im Vorfeld eine unkritische Diskussion verlangt werden würde. Das ändert nichts daran, daß wir uns, wie gesagt, bemühen sollten, das Vorspiel zu einem solchen Besuch abzukürzen. Daran sollten wir gemeinsam mitwirken.Nun gibt es einen anderen Vorwurf von Ihnen, und Willy Brandt hat ihn mir gegenüber heute mittag auch noch einmal angesprochen. Es geht um den Zusammenhang zwischen der Sicherheitspolitik und der Deutschlandpolitik, zwischen der Nachrüstungsentscheidung des vergangenen Jahres und der Deutschlandpolitik heute.Hier geht es in der Tat um eine existentielle Grundlage unserer Politik, um eine Kernfrage. Unsere Zugehörigkeit zur westlichen Verteidigungsgemeinschaft ist für uns eine unabdingbare Grundlage. Eben deshalb sind wir nicht bereit, unsere Sicherheit, unsere Bündnistreue und unsere Partnerschaft mit den westlichen Freunden gegen unsere ost- und deutschlandpolitischen Interessen ausspielen zu lassen. Das ist ja die Alternative, die manche von Ihnen im vergangenen Jahr aufgebaut haben. Hier werden wir weder falsche Hoffnungen erfüllen noch falschen Ratschlägen folgen. Wir jedenfalls lassen uns auch in Zukunft nicht die verfehlte Alternative „entweder Bündnisloyalität pflegen und zu den Bündnisentscheidungen stehen oder konstruktive Beziehungen zu unseren Nachbarn im Osten unterhalten" aufzwingen. Das ist eine falsche Alternative. Dies wird niemals unsere Politik werden!
Es würde uns im übrigen in eine Sackgasse führen, wenn wir eine solche Politik des Entweder-Oder betreiben würden.Diese Bundesregierung trifft die für unser Land sicherheitspolitisch notwendigen Entscheidungen und sucht dabei zugleich den konstruktiven Dialog und eine gegenseitig nützliche Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn.Meine Damen und Herren von der Opposition, ich meine, nur wer oberflächlich urteilt, kann leugnen, daß diese Politik trotz der angespannten internationalen Situation ihre Früchte getragen hat. Lassen Sie mich doch daran erinnern, daß die Geraer Forderungen in ihrer ultimativen Form 1980 geäußert wurden, nicht 1983 oder 1984, und daß es 1980 war, als der Mindestumtausch in dramatischer Weise heraufgesetzt wurde. Wie sieht es 1984 aus? Es gibt noch die Geraer Forderungen, aber die DDR hat Gott sei Dank den Weg zu einer Politik des „Machen wir das Machbare" gefunden und diese Forderungen, die zu Ihrer Regierungszeit erhoben wurden, eher an den Rand gestellt. Wir haben auch in dieser Situation, im Jahre 1984, weitere Vereinbarungen erreichen können.Insofern ist das Wort von der Schadensbegrenzung mißbräuchlich. Es ist seit unserer sicherheitspolitischen Entscheidung vom vergangenen Jahr nichts von- den deutsch-deutschen Vereinbarungen abgebaut worden, es ist sogar noch etwas hinzugekommen, Herr Vogel. Dieses haben Sie im vergangenen Jahr falsch eingeschätzt.
Wir haben auch niemals versucht, Politik an der Sowjetunion vorbei zu machen. Im Augenblick ist es etwas schwierig, mit der Sowjetunion Politik zu machen. Das stellen nicht nur wir fest. Es ist schon fast eine Nicht-Außenpolitik, die dort manchmal betrieben wird. Man kann nur hoffen, daß die Vereinbarung eines Gesprächs zwischen dem sowjetischen Außenminister und dem amerikanischen Präsidenten hier vielleicht ein erstes Lichtzeichen ist. Wir wünschen der sowjetischen Führung j eden-falls bald die Kraft, wieder einen Neuansatz in ihrer Westpolitik zu finden.Nun gibt es ein anderes, wie ich finde etwas merkwürdiges Argument, das von Ihnen in den letzten Tagen verwandt wurde. Es wurde gesagt: Die Elle, an der man unsere Deutschlandpolitik messen wolle, sei die Politik der Regierungen Brandt und Schmidt in der Vergangenheit, und Sie würden sich fragen, ob der Bundeskanzler Kohl die Kraft finden würde, diese Politik kontinuierlich fortzusetzen. Da muß ich Sie nun allerdings sehr enttäuschen; denn hier scheint offensichtlich ein Mißverständnis zu bestehen. Schon vor zwei Jahren habe ich klargemacht, daß unsere Deutschland-, Ost- und Außenpolitik unter der Überschrift läuft: Kontinuität plus neue Akzente. „Kontinuität" meint die Verträge mit der DDR, mit den anderen Staaten des Warschauer
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RühePakts, die wir uneingeschränkt einhalten, die wir in praktische Politik umsetzen und die wir natürlich ausbauen wollen. Aber „neue Akzente" bedeuten die klare Positionsbestimmung unseres Staates im Ost-West-Verhältnis, uneingeschränkte Bündnistreue und die Absage an alle Neutralismusideen. Das bedeutet Ost- und Deutschlandpolitik ohne Illusionen über etwaige Konvergenzen zwischen demokratischem Sozialismus in der SPD und Realsozialismus in der DDR. Das bedeutet nicht zuletzt, daß wir nicht länger das Problem der offenen deutschen Frage, etwa aus Opportunismus, verschweigen.Um das noch einmal mit aller Klarheit zu sagen: Die Lösung dieser Frage bleibt auf der Tagesordnung der Geschichte. Sie ist derzeit nicht auf der aktuellen politischen Tagesordnung und kann deshalb auch nicht Gegenstand der operativen Tagespolitik sein. Es geht aber darum, vor der Weltöffentlichkeit klarzustellen, daß die deutsche Frage nicht durch die Vertragspolitik erledigt ist, sondern so lange bestehen bleibt, bis sie durch die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen beantwortet wird.
Dieser legitime Anspruch des deutschen Volkes richtet sich gegen niemanden. Er richtet sich insbesondere auch nicht gegen die Souveränität und die Integrität anderer Staaten. Der Bundeskanzler hat hierzu auf dem Tag der Heimat ganz eindeutige Aussagen gemacht, denen wir voll zustimmen.Kurz gesagt, die Ost- und Deutschlandpolitik dieser Koalition hat ein eigenes und klares Profil im Vergleich zur Vorgängerregierung. Die Behauptung, wir würden keine Brandt/Schmidt-Politik mehr betreiben, trifft zweifellos zu.
Aber ich kann das aus unserer Sicht nicht als einen Vorwurf verstehen. Insofern geht es an den politischen Realitäten vorbei.Lassen Sie mich noch etwas zu dem verschobenen Honecker-Besuch sagen. Wir bedauern diese Entscheidung, weil damit ein sicherlich wünschenswerter deutsch-deutscher Meinungsaustausch auf höchster Ebene, jedenfalls jetzt, nicht zustande gekommen ist. So bedauerlich die Besuchsverschiebung auch ist, nach unserer Einschätzung liegt darin aber kein politischer Kurswechsel der DDR. Ganz offensichtlich gilt das Honecker-Interview vom 18. August 1984 weiterhin als die verbindliche Grundlage der DDR-Politik. Ein deutsch-deutsches Gipfeltreffen bleibt nach wie vor sinnvoll, und je eher es stattfinden kann, desto besser. Entscheidend aber für die Verbesserung der Verhältnisse im geteilten Deutschland bleiben kontinuierliche Entwicklungen und geduldige Verhandlungen. Die bisher eingeschlagene vernünftige Linie muß also fortgesetzt werden; das Machbare muß auch weiterhin verwirklicht werden. Der Spielraum der DDR-Führung ist vor der Besuchsverschiebung von manchen Beobachtern überschätzt worden. Ich warne jetzt davor, den anderen Fehler zu machen, ihn zu unterschätzen.Natürlich darf der Einfluß, den beide Staaten in einer positiven Weise ausüben können, nicht überschätzt werden; denn die deutsch-deutschen Beziehungen sind natürlich nicht vom internationalen Geschehen abgekoppelt, sondern in das generelle Ost-West-Verhältnis eingebettet. Aber dieses darf uns nicht zu einem passiven Verhalten verleiten. Die beiden deutschen Staaten können und müssen vielmehr für Mäßigung, für Vernunft, für Spannungsabbau und für konstruktive Zusammenarbeit in Europa werben, und werben kann man nur, wenn man eben glaubwürdig am eigenen Beispiel demonstriert und in den eigenen gegenseitigen Beziehungen mit gutem Beispiel vorangeht. Diese aktive Rolle der beiden deutschen Staaten darf unter keinen Umständen mit einer Sonderrolle verwechselt werden. Unsere auf Ausgleich gerichtete Politik kann auch in der Zukunft nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht ins Zwielicht gerät und nicht Argwohn erregt.Deshalb — und da wende ich mich vor allem an die sozialdemokratische Seite — muß klar sein, daß die uneingeschränkte Bündnisloyalität der beiden Staaten in Deutschland eine der prinzipiellen Geschäftsgrundlagen für diese Politik ist. Das sage ich besonders in Ihre Richtung. Alle Neutralismustendenzen und alle Gedankenspielereien über eine Lockerung unserer Bündnisbeziehungen sind für eine Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen schädlich. Wer als Bündnispartner nicht zuverlässig ist, wer als Bündnispartner nicht berechenbar ist, der reduziert, Herr Vogel, so wie die Dinge heute nun einmal sind, den Spielraum in den deutsch-deutschen Beziehungen auf Null, und das ist etwas, was wir unter allen Umständen vermeiden müssen.Eine vernünftige Gestaltung der innerdeutschen Beziehungen muß von der bitteren Realität der deutschen Teilung ausgehen. Unsere operativen Bemühungen richten sich j a gerade darauf, die Folgen der Teilung für die Menschen erträglicher und weniger gefährlich zu machen, wie es der Bundeskanzler Kohl formuliert hat.Wir bleiben bei unserer Hoffnung und auch unserem Willen, die deutsche Teilung eines Tages zu überwinden. Aber die heute handelnden Politiker müssen von der tatsächlichen Lage ausgehen und dürfen nicht das Wünschbare mit dem heute Machbaren verwechseln.
Ich bin ganz sicher, daß ein ganz wesentlicher Grund für den Erfolg — den ich sehe — in der Politik der Bundesregierung darin liegt, daß sie dies immer beachtet hat: das Wünschbare von dem heute Machbaren trennen zu können und dafür zu sorgen, daß trotz aller Schwierigkeiten etwas gemacht wird, etwas durchgesetzt wird, auch in dem schwierigen deutsch-deutschen Verhältnis.Wir brauchen für diese Politik der Vernunft möglichst viele Partner in Europa, und wir wollen mit allen einen breiten Dialog führen. Niemand wird dabei ausgeklammert, schon gar nicht die Sowjetunion.Wer immer sich dazu bereit findet, Konfrontation abzubauen und Kooperation aufzubauen, ist uns als
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RühePartner willkommen. Wir wollen an unserer Politik des guten Willens festhalten, auch wenn es böswillige Kampagnen gibt, die gegen uns inszeniert werden. Wir lassen uns davon nicht beeindrucken, müssen aber diejenigen, die das tun, fragen, ob sie damit wirklich ihren eigenen Interessen dienen.Das sage ich auch im Hinblick auf manches, was in den polnischen Medien zu lesen ist. Was der Bundeskanzler am 2. September in seiner Rede in Braunschweig zum deutsch-polnischen Verhältnis gesagt hat, ist die Linie der gesamten Koalition. Der Bundeskanzler hat für alle Mitglieder des Bundeskabinetts und für alle Fraktionen dieser Koalition gesprochen. Und — Herr Bahr, das sage ich innenpolitisch in Ihre Richtung, und ich sage es außenpolitisch in Richtung Warschau — der Versuch, einzelne Mitglieder der Bundesregierung oder die Parteien der Koalition in diesen Fragen gegeneinander auszuspielen, ist aussichtslos. Hier sollte sich niemand falsche Hoffnungen machen. Die Rede des Bundeskanzlers gilt!
Im Interesse der deutsch-polnischen Beziehungen muß ich auch heute an dieser Stelle eindringlich zu Mäßigung, zu Besonnenheit und zu Vernunft mahnen. Dies gilt gewißt für beide Seiten. Nur kann ich nicht erkennen, daß man sich hüben und drüben in gleicher Weise an dieses Postulat hält. Ich sage das mit großem Ernst, weil nur bei einem entsprechenden Klima die Voraussetzungen für praktische Schritte zur Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen auch und gerade im deutsch-polnischen Verhältnis gegeben sind. Wir sind dazu bereit. Unsere Hand bleibt ausgestreckt. Wer sie ergreifen will, muß allerdings auch den dafür notwendigen Schritt tun. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen sind keine Einbahnstraße. Die Qualität jedes Dialogs — zum Dialog gehören immer zwei — hängt auch vom Entgegenkommen und Verständnis der anderen Seite ab.Wer Realismus und Vernunft zum Maßstab seiner Politik macht, läßt sich von konjunkturellen Schwankungen in der internationalen Politik — wenn man die historische Sichtweise bewahrt, haben wir es damit im Augenblick zu tun — ebensowenig beirren wie von einzelnen spektakulären Vorgängen, sondern er hält einen klaren und beständigen Kurs mit Gelassenheit und einer möglichst ruhigen Hand. Dies gilt für die Ost-WestBeziehungen im allgemeinen, es gilt auch für die deutsch-deutschen Beziehungen im besonderen.Wenn derzeit ein Gespräch auf höchster Ebene nicht möglich ist, dann müssen eben die Gespräche auf allen anderen Ebenen fortgesetzt, vertieft und auch ausgeweitet werden. Geeignete Ansatzpunkte dafür lassen sich durchaus finden.Ich möchte einen konkreten Vorschlag machen: So ist z. B. bei der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages — der Herr Bundestagspräsident hat darauf hingewiesen, daß hier auch noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind — eine mündliche Konsultationsvereinbarung über alle politischenFragen von gegenseitigem Interesse getroffen worden. Diese Gelegenheit zum politischen Dialog könnte künftig bewußt und mit einer gewissen Regelmäßigkeit genutzt werden. Fachgespräche und Sachverhandlungen behalten unabhängig davon natürlich ihren vorrangigen Stellenwert, weil es dort um ganz konkrete Anliegen geht. Aber zusätzliche Themen, an denen die eine oder andere Seite interessiert ist, könnten im Rahmen dieser politischen Konsultationen ausführlich erörtert werden. Dies würde — im wörtlichen Sinne — der gegenseitigen Verständigung dienen. Ich bin deshalb überzeugt, daß ein solcher breit angelegter Meinungsaustausch die beiderseitigen Beziehungen weiter fördern und auch die eigentlichen Verhandlungen flankierend unterstützen könnte.Wer es mit den deutsch-deutschen Beziehungen und den Ost-West-Beziehungen insgesamt gut meint, sollte sich von vorübergehenden Eintrübungen jedenfalls nicht irritieren lassen, sich auch als Opposition manche Möglichkeit zur innenpolitischen Polemik vielleicht im Interesse der Sache lieber verkneifen. Er sollte jede Möglichkeit, jeden sinnvollen Ansatz zum Ost-West-Dialog nutzen.Auch und gerade in schwierigen Zeiten im Gespräch zu bleiben, Vertrauen zu schaffen, das ist eine gute Investition für die Zukunft.
Die Zeiten werden sich auch wieder ändern. Dann ist es gut, auf einen Vorrat an Vertrauens- und Gesprächskapital zurückgreifen zu können. Von dieser Erkenntnis wird sich jedenfalls die Koalition in der Ost- und Deutschlandpolitik in diesen Tagen und auch künftig leiten lassen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Büchler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn es mir erlaubt ist, kurz vor Ende eine Bewertung des Nachmittags abzugeben, dann würde ich sagen: Wir haben einen Höhepunkt mit der Rede Willy Brandts über Deutschlandpolitik erfahren, wir haben einen schwachen Bundeskanzler erlebt. Seither sind die Reden, die Statements zur Deutschlandspolitik von Rede zu Rede besser, inhaltsreicher und kompromißfähiger geworden. Das ist, so meine ich, auch wichtig für unsere zukünftige Debatte.Herr Rühe hat uns nun gesagt, daß wir diese Bundesregierung zu stark kritisieren. Ich glaube, daß wir mit dieser Bundesregierung äußerst zahm umgehen. Sie haben uns damals nicht bedrängt, wie Sie festgestellt haben, sondern Sie haben uns einwandfrei diffamiert. Bei jeder deutschlandspolitischen Debatte ist es um diese Diffamierungspositionen gegangen.Herr Barzel hat die Geschichte aufgearbeitet. Was klarzustellen war, hat Egon Bahr getan. Auch dies ist ein Anfang einer zukünftigen Zusammenarbeit, auf der wir ebenfalls aufbauen können.
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5946 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984
Büchler
Was die Äußerungen von Herrn Dregger angeht, über die wir uns empört haben, so glaube ich, daß er von uns mit Recht stark kritisiert worden ist. Denn was er sich in Berlin geleistet hat, sollte im normalen Umgang zwischen Abgeordneten und Fraktionen nicht vorkommen.Meine Damen und Herren, wenn wir über Deutschlandpolitik reden und geschichtlich einiges aufarbeiten wollen, müssen wir eben einfach damit anfangen, daß der Bundeskanzler in dieser Woche die Gemeinsamkeit zwischen Sozialdemokraten und der Union sowie der Regierung in der Deutschlandpolitik mehr oder weniger aufgekündigt hat. Er hat von dem Bruch in dieser Politik gesprochen. Nun könnte man meinen, daß das neue Töne sind, und sich dann fragen, wer denn andere Positionen eingenommen hat, die zu diesem Bruch führten: Wir oder die Union. Herr Barzel, auch Sie haben ja danach gefragt. Irgend jemand muß sich dann ja bewegt haben, wenn wir jetzt eine Situation haben, die anders ist als die in den letzten Wochen und Monaten. Sie haben — mit Recht — auf die Gemeinsamkeiten hingewiesen, die nach der Bildung der letzten Bundesregierung sicher vorhanden waren und die wir miteinander erarbeitet haben; darüber gibt es gar keinen Zweifel.Meine These ist die, daß Gemeinsamkeiten in der Deutschlandpolitik zwischen konservativen Politikern und Sozialdemokraten bei wirklichen Belastungen zerbrechen mußten, weil die Union versäumt hatte oder nicht willens war, nach der Regierungsübernahme all ihre alten Vorstellungen über Bord zu werfen und unsere Deutschlandpolitik wirklich zu übernehmen. Schon bei der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl am 13. Oktober 1982 ist es jedem, der hören wollte, aufgefallen: Da mogelt sich einer um eine klare Aussage zur Deutschlandpolitik herum.
— Dies ist keine Frage. Wir wissen auch, warum, Herr Lintner. Es wäre ja fast einem Wunder gleichzustellen gewesen, wenn Helmut Kohl nach 13jähriger Gegnerschaft zur sozialliberalen Entspannungspolitik von einem Tag zum anderen umgeschwenkt wäre und wenn aus den vielen CDU/CSUFalken über Nacht Tauben geworden wären.Wie hieß es damals: Wir haben 13 Jahre sozialliberale Deutschlandpolitik nicht bekämpft, um sie im 14. Jahr fortzusetzen. Das sagte, wie Sie wissen, Franz Josef Strauß. Darin wußte er sich mit vielen von Ihnen einig. Die Auswirkungen haben wir in den letzten Wochen und Monaten gemerkt.Anderen dämmerte aber schon damals, daß Reden und das Formulieren von Parolen etwas anderes ist, als in der Regierungsverantwortung zu handeln. Die Kluft zwischen konservativen Sonntagsreden und den Erfordernissen einer praktischen Deutschlandpolitik gab es also schon immer. Diese Kluft wurde eben ab Oktober 1982 offensichtlich. Sie wurde mehr; sie wurde fast zu einem Graben. Man sah ja auch den Graben noch nicht so deutlich vor sich; denn eine Milliarde DM Kredit, noch dazuvon einem Mann wie Franz Josef Strauß eingefädelt, wirkte wie Blendzeug.Das war das Neue, von dem gesprochen worden ist: Man konnte nicht sehen und wollte vielleicht auch nicht glauben, daß die Atmosphäre, der Umgang der beiden deutschen Staaten miteinander, das Grundlegende in bezug auf das Verständnis, um sich in den anderen hineindenken zu können, auf die Dauer ebenso wichtig sind wie wirtschaftliche Verflechtungen und die praktischen Erfolge in der einen oder anderen Detailfrage. Die Zeit der Stammtischreden, der Sonntagsveranstaltungen war aber vorbei.Der Bundeskanzler hätte also die Chance gehabt, von vornherein zu sagen, was in der Deutschlandpolitik nicht geht. Ich möchte das so formulieren: Arroganz gegenüber einem gleichberechtigten Partner, Ignoranz gegenüber Andersdenkenden, Intoleranz gegenüber einem Staat, der zur gleichen Nation gehört. Dies wäre eine Chance für den Bundeskanzler gewesen, aber er hat sie verpaßt. Erst heute beginnen wir zu sehen, daß durch seine notorische Gelassenheit und dadurch, daß man die Dinge hat treiben lassen, nicht nur z. B. die moderaten Ansätze deutschlandpolitischer Art von Richard von Weizsäcker auf der Strecke geblieben sind, sondern daß es jetzt an die Substanz geht. Dabei meine ich nicht so sehr die Absage von Erich Honecker. Da gibt es ein weites Feld von Motiven, auf die ich vielleicht noch zu sprechen komme, wenn die Zeit ausreicht.Aber auch hier haben Sie Instinktlosigkeit bewiesen und wieder kräftig dreingeschlagen. Herr Rühe und Herr Barzel, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie sich in bezug auf Verlautbarungen im Vorfeld warnend an Ihre Fraktion gewandt, denn uns können Sie doch nicht gemeint haben; wir haben uns doch konstruktiv verhalten. Wir haben Sie in der fraglichen Zeit doch gewarnt und aufgefordert, mit diesem ewigen Gerede aufzuhören.Wir sind heute schon soweit, daß die tragfähige Grundlage der von uns geschaffenen soliden Deutschlandpolitik akut gefährdet ist. Die Regierung hat in den letzten zwei Jahren so getan, als könne sie den Bau des von uns begonnenen Hauses einfach fortsetzen, als brauche sie das Gebälk nur zusammenzuzimmern. Jetzt merken wir immer mehr, daß es an tragenden Teilen in diesem Gebälk fehlt, so daß die Gefahr besteht, daß das Haus zusammenstürzt. Wir hören tagtäglich von Unionspolitikern, die sich daranmachen, an den Grundmauern dieses Hauses zu rütteln.Wir fragen uns mehr denn je, ob angesichts der Zwiespältigkeit innerhalb der Regierungskoalition überhaupt die Chance besteht, deutschlandpolitisch erfolgreich zu sein. Typisch ist folgendes: Die Vernachlässigung der Berliner z. B. bei der Aushandlung von Reiseerleichterungen kann man doch nicht als Panne oder ähnliches abtun oder verniedlichen. Willy Brandt hat heute gesagt, was es ist: Es ist ein schwerer Fehler gewesen. Dieser Fehler ist unverzeihlich.
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Büchler
Egon Bahr hätte nie mit einem solchen Ergebnis nach Hause kommen dürfen.
— Nein, Sie hätten weiterverhandeln sollen, wie auch wir das in der Vergangenheit gemacht haben, und zwar so lange, bis eine befriedigende Berlin-Regelung erreicht worden wäre. Sie hatten doch Zeit; man hat Sie doch nicht gedrängt. Sie haben nicht gemerkt, daß Sie übers Ohr gehauen worden sind. Das ist die Wahrheit.Noch eine weitere scheinbare Kleinigkeit belegt das, Herr Lintner. Es war unser Anliegen, den kleinen Grenzverkehr für die Bewohner des Zonenrandes auf zwei Tage zu erweitern. Dabei wollten wir erreichen, daß man an einer Stelle einreisen und an anderer Stelle wieder ausreisen kann. Das ist uns nicht gelungen. Aber es war nie unser Anliegen, den kleinen Grenzverkehr mit einem normalen Besuch in der DDR gleichzustellen mit der Folge, daß die heraufgesetzten Visagebühren zu entrichten sind. Sie haben es versäumt, den besonderen Status des kleinen Grenzverkehrs aufrechtzuerhalten. Der kleine Grenzverkehr ist nicht mehr das, was er einmal war, nämlich eine besondere Möglichkeit für die Bewohner des grenznahen Raumes. Sie haben nicht aufgepaßt; Sie haben einen mühsam ausgehandelten Fortschritt in der Deutschlandpolitik zerstört.
— Natürlich traue ich mir das zu.Auch in der Frage der Übersiedlung haben Sie nicht sorgfältig gearbeitet. Heute wissen Sie nicht, was Sie mit den Menschen tun sollen. Sie sind nicht eingegliedert, weil sie nicht entsprechend vorbereitet wurden. Sie sind auch nicht in der Lage, mit denen zu reden, die wieder zurück wollen, weil sie sich hier nicht zurechtfinden.Sie haben unsere Politik abgekupfert und dabei vor lauter Betriebsamkeit die Ergebnisse unserer Politik zerstört. Es fehlt Ihnen — auch das will ich hier deutlich sagen — an der Umsicht eines Politikers vom Schlage Egon Bahrs. Dies ist eine Tatsache.Man muß feststellen: Ihre Bilanz ist nicht so positiv, wie es nach außen scheint. Sie weist erhebliche Mängel auf, die von Tag zu Tag deutlicher sichtbar werden.Sie waren zu selbstsicher und haben unsere Warnungen und Vorschläge, die wir hier und im Ausschuß ständig ausgesprochen haben, überhört. Sie haben sich alles zu leicht gemacht. Dabei hätten Sie eine Richtschnur gehabt: Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, das fortzuführen, was am Werbellinsee ausgehandelt worden ist. Bei umsichtigem Handeln wären Einschränkungen vermieden worden, und Sie hätten die vorher getroffenen Vereinbarungen nicht vernachlässigt.
Die zentrale Botschaft von Werbellin, Herr Bötsch, ist aber die Frage, was die beiden deutschen Staaten zur Stabilität und zur Friedenssicherung in Europa beitragen, was sie leisten können; wir haben heute wiederholt darüber gesprochen. Deswegenmeine ich, daß ein neues Gespräch zwischen dem Kanzler und dem Staatsratsvorsitzenden der DDR wohl dort anknüpfen muß.Am Werbellinsee ging es damals auch, wie wir wissen, um einige Wünsche der DDR, um Teile der sogenannten Geraer Forderungen; darüber soll geredet werden. Warum denn nicht? Da ist doch einiges klärungsbedürftig. Sie kennen unsere Auffassung zur Elbe-Grenze. Sie kennen unsere Auffassung hinsichtlich der Respektierung der DDRStaatsbürgerschaft.
— Da gibt es keine zwei Lesarten. — Alles das, was der Bundeskanzler heute getan hat, ist auch nur eine Verleumdung gewesen. Er hat uns hier etwas unterstellt, und als wir nachgefragt haben, ob er es beweisen könne, hat er eben geschwiegen. Dies ist eines Bundeskanzlers unwürdig, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union.
Und Sie kennen unsere klare Auffassung zur Erfassungsstelle Salzgitter.
Sie können mit unserer Kooperation rechnen, und Sie können mit uns darüber reden. Sie werden erleben, daß wir Sie dann, wenn Sie zu Verhandlungsergebnissen kommen, die für beide Seiten erträglich sind, nicht in der Art und Weise angreifen, wie Sie das in der Vergangenheit mit uns, als wir regiert haben, gemacht haben.Lassen Sie mich noch etwas zur Rolle Moskaus bei dieser Absage sagen. Natürlich wirkt jede Großmacht mit Bitten, Ratschlägen und manchmal auch Drohungen in das jeweilige Bündnis hinein. Wichtige Besuche werden, wie wir wissen, in Ost und West vorbesprochen. Zweifelsohne ist es für uns einfacher, unerwünschte Forderungen der USA zurückzuweisen, als für Honecker, sich gegenüber Moskau zu behaupten.
— Z. B. die Forderung, wir sollten keine Röhren in die Sowjetunion liefern. — Das ist mit Sicherheit — das sage ich hier deutlich — nicht zu vergleichen.Trotzdem, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, machen Sie sich von der Illusion frei, daß in Moskau nun absolut vorgegeben wird, was der DDR-Staatsratsvorsitzende zu tun hat! Die DDR ist Herr ihrer eigenen Entscheidungen.
Honecker hat abgewogen, was ihm der Besuch einbringen und was er ihn kosten würde. Auf der einen Seite der Bilanz stand: Ärger mit Moskau. Auf der anderen Seite stand: eventuell Fortschritte in den deutsch-deutschen Beziehungen. Dann hätte Honecker natürlich entscheiden können, ob er den Ärger in Kauf nimmt, wenn sich etwas bewegt hätte. Aber wenn ihm im Vorfeld schon gesagt wird, daß sich nichts bewegen werde, und sich der Bundes-
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Büchler
kanzler auch so verhält, warum soll er dann den Ärger auf sich nehmen? Darin liegt im Grunde genommen Ihre Mitschuld an dem Nichtzustandekommen dieses Besuches.
Machen Sie deshalb jetzt nicht einen zweiten Fehler! Warten Sie jetzt nicht auf Initiativen von Ost-Berlin, sondern verhalten Sie sich positiv, und räumen Sie das weg, was weggeräumt werden kann! Überlegen Sie, was zu tun ist, und machen Sie den Weg frei!Wir werden Ihnen dabei keine Schwierigkeiten machen, ganz gleich, ob das Protokollfragen oder andere, fast lächerliche Dinge sind. Wir bieten Ihnen konstruktive Mitarbeit an und stehen zu Gesprächen zur Verfügung. Wir wollen in der Deutschlandpolitik keine Obstruktion betreiben, wie Sie das in Ihrer Zeit als Oppositionsabgeordnete getan haben. Wir wollen mit Ihnen daran arbeiten, daß die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten für den Frieden auch wirklich entwickelt wird. Willy Brandt hat es heute schon gesagt: Es ist kein Fehler, wenn auf dem Feld der Deutschlandpolitik Einigkeit möglich wird.Deshalb noch ein paar Bemerkungen.Erstens. Wir müssen davon ausgehen, daß an erster Stelle die Gleichberechtigung der beiden deutschen Staaten steht; das wurde heute auch von Ihnen gesagt. Wir haben die besondere Verantwortung für den Frieden. Wir werden ihr nur gerecht, wenn wir unsere Existenz nicht gegenseitig in Frage stellen.Zweitens. Die beiden deutschen Staaten sind Staaten, in denen Deutsche in einer gemeinsamen Nation leben. Deshalb bleiben wir dabei: zwei Staaten, aber eine Nation. Daraus ergeben sich Aufgaben für die Politik. Sie hat dafür zu sorgen, daß die Menschen miteinander reden, daß sie sich treffen und ihre Zusammengehörigkeit pflegen können.Drittens. Wenn es aus dem, was ich eben über Werbellin gesagt habe, noch nicht deutlich genug geworden ist, wiederhole ich es hier in aller Deutlichkeit: Deutschlandpolitik ist in erster Linie Friedenspolitik.Viertens. Beides — die Kontakte der Menschen ermöglichen und dem Frieden dienen — ist in Europa nur auf der Grundlage von Stabilität möglich. Voraussetzung der Deutschlandpolitik ist es folglich, daß beide deutsche Staaten in ihr jeweiliges Bündnis fest eingebunden sind. Damit ist, glaube ich, die Antwort auf Ihre Frage gegeben.
Es ist gar keine Frage: Dies ist der Standpunkt der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.
Die Idee eines deutschen Sonderweges, Neutralisierungstendenzen und erst recht verbale Kraftakteüber die Grenzen von 1937 gefährden diese Stabilität und sind gefährlich für unsere Politik.Wir müssen fünftens, wenn wir Stabilität sagen, natürlich auch sagen, daß die Sicherheitspartnerschaft hinzukommen muß, daß Rüstung und Abrüstung behandelt werden müssen. Die Sicherheitspartnerschaft ist ein wichtiger Schritt zum Abbau der Konfrontation und auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung. Also: gesichertes Zusammenleben der Staaten mit unterschiedlichen Systemen, ohne daß die Änderung dieser Systeme zur Voraussetzung für den Frieden erklärt wird. Darauf kommt es wohl auch an.Ich sage sechstens noch einmal ganz deutlich: Die Bundesrepublik Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegen andere Staaten. Aber dies ist, glaube ich, heute schon deutlich geworden. Nur die Europäer können die Grenzen überwinden, nicht allein die Deutschen. Ich glaube, dies sollten wir alle miteinander so sehen.Siebtens. Die Deutschlandpolitik hat nicht das Ziel, die DDR zu destabilisieren. Unsere Deutschlandpolitik muß die Realität der DDR mit ihrem politischen System, ihrer wirtschaftlichen und politischen Ordnung zur Kenntnis nehmen und davon ausgehen. Die Deutschlandpolitik muß das gleiche allerdings auch von der DDR in bezug auf die Bundesrepublik und auf unsere Ordnung verlangen dürfen. Auch darüber gibt es keinen Zweifel.Lassen Sie mich noch kurz zusammenfassen. Die Pflege dessen, was die deutsche Nation ausmacht, ist ein selbstverständliches Ziel der Deutschlandpolitik und, so glaube ich, in diesem Hause nicht umstritten.In der jetzigen Situation ist es Auftrag der Deutschlandpolitik, von der Grundlage der in Europa bestehenden Grenzen ausgehend Beiträge der beiden deutschen Staaten zu wachsender Friedfertigkeit zwischen den Blöcken zu leisten. Mit anderen Worten steht dieser Auftrag auch im Grundlagenvertrag, den mit Leben zu erfüllen jetzt Ihre Aufgabe in der Regierungsverantwortung ist. Sie werden unsere Unterstützung haben, wenn Sie sich auf diese Realität besinnen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die heutige Sitzung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 13. September 1984, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.