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ID1008104300

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 10/81 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 81. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 Inhalt: 35 Jahre Deutscher Bundestag 5855 A Genesungswünsche für Vizepräsidentin Frau Renger 5855 C Verabschiedung von Direktor a. D. Dr Schellknecht und Einführung von Direktor Dr. Bäcker 5855 D Glückwünsche zum Geburtstag des Abg Schulze (Berlin) 5855 D Begrüßung einer Delegation beider Häuser des japanischen Parlaments . . . . 5868 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1985 (Haushaltsgesetz 1985) — Drucksache 10/1800 — in Verbindung mit Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1984 bis 1988 — Drucksache 10/1801 — Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMF . . 5856 A Dr. Apel SPD 5869 A Dr. Waigel CDU/CSU 5880 B Verheyen (Bielefeld) GRÜNE 5889 B Hoppe FDP 5893 B Brandt SPD 5896 A Dr. Kohl, Bundeskanzler 5902 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 5915 D Genscher, Bundesminister AA 5920 C Stobbe SPD 5929 C Dr. Barzel CDU/CSU 5933 B Bahr SPD 5939 D Rühe CDU/CSU 5942 D Büchler (Hof) SPD 5945 D Nächste Sitzung 5948 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 5949* A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 5949* B Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5855 81. Sitzung Bonn, den 12. September 1984 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 79. Sitzung, Seite 5806*: Der Name „Schulte (Unna)" in der Liste der entschuldigten Abgeordneten ist zu streichen. Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens** 13. 9. Antretter** 14. 9. Dr. Ehmke (Ettlingen) 12. 9. Eigen 14. 9. Dr. Enders** 12. 9. Haase (Fürth) ** 14. 9. Dr. Hackel** 14. 9. Dr. Holtz** 13. 9. Jaunich 14. 9. Junghans 14. 9. Dr. Klejdzinski** 14. 9. Dr. Müller** 14. 9. Reddemann** 14. 9. Frau Renger 14. 9. Reuschenbach 14. 9. Sauermilch 14. 9. Schäfer (Mainz) 14. 9. Schmidt (Hamburg) 14. 9. Schmidt (München) ** 14. 9. Frau Schoppe 14. 9. Schwarz** 14. 9. Dr. Stark (Nürtingen) 14. 9. Graf Stauffenberg* 14. 9. Weiskirch (Olpe) 14. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Präsident hat gemäß § 80 Abs. 3 der Geschäftsordnung die nachstehenden Vorlagen überwiesen: Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über die Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 7. bis 11. Mai 1984 in Straßburg (Drucksache 10/1570) zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum Oktober 1983 bis März 1984) (Drucksache 10/1622) zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß Unterrichtung durch die Bundesregierung: Stellungnahme der Bundesregierung zu den Berichten der fünf an der Strukturberichterstattung beteiligten Wirtschaftsforschungsinstitute (Strukturberichte 1983) (Drucksache 10/1699) zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Forschung und Technologie Haushaltsausschuß Fünftes Hauptgutachten der Monopolkommission 1982/1983 (Drucksache 10/1791) zuständig: Ausschuß für Wirtschaft Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum Abschluß des Verfahrens der Konsultation des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine vierte Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 74/651/EWG über Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art innerhalb der Gemeinschaft (Drucksache 10/1711) zuständig: Finanzausschuß Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zu den Beschlüssen von Fontainebleau (Drucksache 10/1840) zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf (Drucksache 10/1716) zuständig: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Unterrichtung durch die Bundesregierung: Ergänzende Stellungnahme zum Bericht der Bundesregierung zur zukünftigen Entwicklung der Großforschungseinrichtungen (Drucksache 10/1771) zuständig: Ausschuß für Forschung und Technologie (federführend) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß Unterrichtung durch die Bundesregierung: Ergänzender Bericht der Bundesregierung zu Fragen der Darlehensförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) (Drucksache 10/1734) zuständig: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Nordatlantischen Versammlung über die Sondersitzung der Nordatlantischen Versammlung am 28. Mai 1984 in Luxemburg (Drucksache 10/1785) zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Verteidigungsausschuß Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Versammlung der Westeuropäischen Union über den 1. Teil der 30. ordentlichen Sitzungsperiode der Versammlung der Westeuropäischen Union vom 18. bis 21. Juni 1984 in Paris (Drucksache 10/1786) zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Verteidigungsausschuß Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die künftige Gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes", hier: Rahmenplan 1985 bis 1988 (Drucksache 10/1832) zuständig: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß Der Präsident hat gemäß § 92 der Geschäftsordnung die nachstehende Vorlage überwiesen: Aufhebbare Sechsundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung und Aufhebbare Dreiundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste (Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung) (Drucksache 10/1860) 5950* Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte, den Bericht dem Plenum möglichst bis zum 6. Dezember 1984 vorzulegen. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat mit Schreiben vom 28. Juni 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß von einer Berichterstattung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung über die nachstehende Vorlage absieht: Entschließung des Europäischen Parlaments zum Mandat vom 30. Mai 1980 (Drucksachen 9/1835, 10/358 Nr. 47) Der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 3. September 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß von einer Berichterstattung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung über die nachstehenden Vorlagen absieht: Bericht über die tatsächlich entstandenen Kosten des Fünften Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (Drucksachen 9/1209, 10/358 Nr. 63) Weiterer Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des § 12a des Tarifvertragsgesetzes — TVG — (Artikel II § 1 des Heimarbeitsänderungsgesetzes) (Drucksachen 9/993, 10/358 Nr. 62) Die in Drucksache 10/1510 unter Nummer 8 aufgeführte EG-Vorlage Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über Maßnahmen zur Deckung des Ausgabenbedarfs des Haushaltsjahres 1984 in Anbetracht der völligen Ausschöpfung der eigenen Mittel — KOM (84) 250 endg. — ist als Drucksache 10/1792 verteilt. Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom 27. Juli 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß von einer Behandlung der nachstehenden EG-Vorlagen abgesehen hat: Vorschlag für eine Verordnung (EURATOM, EGKS, EWG) des Rates zur Angleichung der Berichtigungskoeffizienten, die auf die Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften anwendbar sind — KOM (84) 257 endg. — (Drucksache 10/1691 Nr.2) Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Anpassung des Berichtigungskoeffizienten, der auf die Bezüge der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften in Varese anwendbar ist (Drucksache 10/1510 Nr. 9) Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 13. Juli 1984 gemäß § 30 Abs. 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Wirtschaftsplan der Deutschen Bundesbahn für das Geschäftsjahr 1984 nebst Anlagenband und den Stellenplan der Deutschen Bundesbahn für das Geschäftsjahr 1984 mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Wirtschaftsplan, Anlagenband und Stellenplan liegen im Parlamentsarchiv zur Einsicht aus. Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 17. Juli 1984 gemäß § 32 Abs. 6 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Jahresabschluß der Deutschen Bundesbahn für das Geschäftsjahr 1982 mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Jahresabschluß liegt im Parlamentsarchiv zur Einsicht aus. Der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen hat mit Schreiben vom 3. September 1984 unter Bezugnahme auf § 19 Abs. 6 des Postverwaltungsgesetzes den Geschäftsbericht der Deutschen Bundespost über das Rechnungsjahr 1983 mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Geschäftsbericht liegt im Parlamentsarchiv zur Einsicht aus.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Antje Vollmer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, wir haben mit Ihrer langen Rede sehr viel Zeit verloren.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Aber gut war sie! — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir haben zwei gute lange Reden gehört, eine von Stoltenberg und eine vom Kanzler!)

    Diese Rede hat für mich den Eindruck von Ihrer
    Regierungskunst nicht wesentlich verbessert,



    Frau Dr. Vollmer
    ebenso wie das, was wir in der Sommerpause von Ihnen und Ihrer Regierung erlebt haben, einen sehr schlechten Eindruck gemacht hat. Alle Gelassenheit und alles froh-getroste Holdrio des Kanzlers täuscht doch nicht darüber hinweg, daß er, wenn ich richtig sehe, einen politischen Herbst des Mißvergnügens vor sich hat und daß er politisch geschwächt aus dieser Sommerpause in diesen Herbst geht.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Wenn ich es richtig sehe, so gab es allein in diesen letzten zwei Monaten drei Waterloos dieser Regierung, und wie weiland Napoleon hüpft sie nun von Insel zu Insel, um eine Fluchtburg zu finden.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)

    Das erste war das demokratisch-parlamentarische Waterloo: der offene Sprung rückwärts über den Zaun gegenüber den eigenen parlamentarischen Entscheidungen im Fall Buschhaus. Das zweite war das ökonomische Waterloo: ein rasanter Kniefall vor der Autoindustrie in der Frage des Katalysator-autos bis zur Lächerlichmachung des Innenministers. Das dritte war das deutschlandpolitische Waterloo: die Absage des Honecker-Besuchs nach über einem Jahr reger deutsch-deutscher Frühlingsschwalben; und es hat mich nur gewundert, Herr Bundeskanzler, wie viele Federn davon Sie sich in Ihrer Rede an Ihren Jägerhut haben heften wollen, die Sie sich gar nicht erarbeitet haben.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)

    Ich habe bei diesen Niederlagen der Regierung keinen Anlaß, unsere Rolle als Opposition dabei herunterzuspielen. Aber das Interessanteste an diesen drei Ereignissen ist, daß sie jeweils die heftigsten Brüche und Verwerfungen gerade im konservativen Lager, gerade in Ihren Reihen gezeigt haben. Da kann man beim Zusehen schon atemlos werden.

    (Dr. Hackel [CDU/CSU]: Beim Zuhören!)

    Insbesondere in der Frage der Deutschlandpolitik haben wir lange darauf gewartet, daß der Streit endlich, endlich da losgeht, wo er von Anfang an seine entscheidende Ursache und seinen Sitz im Leben hatte, nämlich in Ihren Reihen selber, im konservativen Lager.

    (Zuruf des Abg. Dr. Hackel [CDU/CSU])

    Wie tiefgreifend dieser Bruch in Ihren Reihen ist, will ich Ihnen allein an den verschiedenen Erklärungsmustern zeigen, die für diese Absage herangezogen wurden.
    Das erste Erklärungsmuster lautet: Entscheidend für die Absage war massiver Druck — eine Kampagne aus Moskau — auf Erich Honecker und die DDR. So lautet die Erklärung von Alfred Dregger, natürlich auch vom Bundeskanzler, der sein Freund ist, und von all denen in der CDU, denen Herr Dregger zwar voll aus dem Herzen gesprochen hatte, die dann aber doch etwas über die Wirkungen erschraken. Auch ein großer Teil der Bevölkerung sieht
    hierin noch die Hauptursache — was ich nicht vergessen will.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Absoluter Unsinn, was Sie da reden!)

    — Ich denke, das müßte Ihnen doch passen, daß ich dies so erwähne.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sie haben heute morgen nicht aufgepaßt!)

    Das zweite Erklärungsmuster: Es gab auf bundesdeutscher Seite bei der Vorbereitung dieses Besuchs einen katastrophalen, unverantwortlichen Dilettantismus, eben jene „diplomatische Großmeisterei", die von Herrn Strauß, von Herrn Genscher, von dem Großteil der SPD und wohl auch von dem Bundespräsidenten so getadelt wurde. Da wurden mögliche Gesprächsthemen schon vorher ausgegrenzt oder schon vorher öffentlich beantwortet; Protokoll- und Statusfragen wurden in einer Weise erörtert, die nur einer Herabsetzung des Besuchers dienen konnten; ja, sogar die Grenzfestsetzung am Nordostufer der Elbe mußte vorher amtlich und öffentlich hinausposaunt werden.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sie waren doch heute morgen da!)

    Das dritte Erklärungsmuster lautet: Es gab offensichtlich auch bei unseren westlichen Bündnispartnern Unbehagen über dieses Wachsen des deutschdeutschen Dialogs, zumal sich die Bundesrepublik damit auch wirtschaftlich eine Sonderstellung im Ost-West-Handel erkaufte. Das brachte die gegenüber westlicher Kritik immer ganz besonders willfährige Bundesregierung dann zum Trudeln und zu den bereitwilligen öffentlichen Äußerungen, es werde sowieso nur über einige deutsch-deutsche „Spezereien" wie Umweltschutz und Reiseerleichterungen geredet — was die Gespräche für die DDR politisch völlig unattraktiv in schwieriger Zeit machen mußte; ganz zu schweigen von dem provozierenden Faktum, daß ausgerechnet zwei Wochen vor dem geplanten Besuchstermin zum ersten Mal seit 17 Jahren ein deutscher Bundeskanzler auf einem Vertriebenentreffen auftreten mußte.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das war sehr gut!)

    Es gibt in der Vorgeschichte dieses Besuchs Ereignisse, die zu denken geben. Gerade wenn man der Einschätzung war, daß die Sowjetunion derzeit eine deutsch-deutsche Annäherung keineswegs unterstützt, hätte man um so sensibler darauf achten müssen, jeden Anschein der Abwertung oder Beschränkung dieses Besuchs und seiner Gesprächsthemen zu vermeiden. Gerade dann hätte man nicht den peinlichen Eindruck erwecken dürfen, die DDR lasse sich einfach Grundpositionen durch Kredite abkaufen. Sie, Herr Dregger, waren daran sehr wohl beteiligt.

    (Zuruf des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU])

    Oder aber man muß zu dem Schluß kommen, daß es
    bestimmte Kreise in der CDU gibt, die mit der Behandlung des Honecker-Besuchs im politischen



    Frau Dr. Vollmer
    Vorfeld diesen Besuch geradezu unmöglich machen wollten.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Purer Quatsch!)

    Ich versuche im folgenden, zu begründen, warum wir der Überzeugung sind,

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Purer Quatsch!)

    daß gerade beim heutigen Stand der Friedens-, der Ost- und der Deutschlandpolitik die Bundesregierung sich notwendigerweise genau in den Fallen verfangen mußte, die sie sich von Anfang an durch die Anlage und das Konzept ihrer Deutschlandpolitik selber aufgestellt hatte.
    Meine Damen und Herren, die Situation, in der wir uns im Augenblick, knapp ein Jahr nach der Bewilligung der Raketenstationierung durch diesen Bundestag, befinden, erscheint mir merkwürdig ähnlich derjenigen in der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1945 bis 1955. Wir stehen wieder vor einer entscheidenden Frage von Krieg und Frieden. Wir stehen wieder vor der Frage: Welche Rolle soll eigentlich eine deutsche Republik in der Mitte Europas spielen? Auf Grund unserer Geschichte, auf Grund unserer Lage und unserer Kultur, aber auch auf Grund der Völker und Landsmannschaften, die sich im Ein- und Auswanderungsland Deutschland, bei uns, gemischt haben,

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir sind kein Einwanderungsland!)

    — wir waren immer ein Einwanderungsland —

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Hessen vielleicht, aber nicht die Bundesrepublik!)

    gab es immer zwei Möglichkeiten: Entweder sind wir ein fester Bestandteil des Westens, oder wir sind ein Land in der Mitte Europas mit der ausdrücklichen Aufgabe, eine Brückenfunktion zu erfüllen. Die nationalsozialistische und kaiserlich-imperialistische Variante, diesem Konflikt zu entfliehen, indem wir uns Ost wie West in gleicher Weise militärisch unterzuordnen versuchen, will ich einmal auslassen.
    Beide Positionen aber — das ist mir wichtig — sind immer mögliche konservative Positionen gewesen. Die CDU Adenauers hatte sich eindeutig für das Erstere entschieden. Die Begründung hieß damals — ich nehme das jetzt positiv —: Wir müßten aufhören mit der Schaukelpolitik oder mit der Politik von Rapallo, wir seien eben keine Wanderer zwischen beiden Welten; ein Satz, der in den Zitatenschatz unseres Kanzlers sehr gut einging.
    Möglich war diese Position, weil ein westliches halbes Deutschland damals den Alliierten weniger bedrohlich erschien, und leicht fiel diese Position einem Mann wie Konrad Adenauer, weil er von Naturell und Herkunft her eindeutig ein Mann des Westens, ein Mann des Großkapitals und ein Antikommunist war; ein Mann des Westens, weil für ihn
    sowieso jenseits der Elbe schon halb Sibirien begann

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)

    und weil er Berlin und die Preußen nicht mochte; ein Mann der Großindustrie, weil für die von ihm angestrebte wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zur Nummer eins in Europa der westliche Teil Deutschlands Ressourcen und Arbeitskräfte genug hatte, und ein Mann des Antikommunismus, weil für ihn die Sowjetunion immer ein Stück politische Unkultur und Tyrannei darstellte, das er weder verstehen konnte noch wollte.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Wer war denn 1955 in Moskau?)

    Ebenso fiel es ihm, Adenauer, sicher nicht allzu schwer, beim Aufbau seines neuen Deutschlands auf die Menschen aus den ehemaligen Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung in Sachsen, Thüringen und Berlin zu verzichten.
    Aber es gab schon damals in Ihren Reihen eine Gegenposition, von Jakob Kaiser und der „Frankfurter Zeitung", von Heinemann und Helene Wessel, vorformuliert auch in den Kreisen der Widerstandsbewegung des 20. Juli. Dieser Teil des deutschen Konservativismus und Liberalismus wollte Deutschland ganz bewußt als Land in der Mitte Europas sehen: dezentral und föderal organisiert mit einer Stützung der agrarischen und der mittelständischen Wirtschaftsformen gegenüber den Interessen der Großindustrie. Die weitestgehenden Positionen vertraten eine strenge politische Neutralität, einen deutschen Sonderweg, und bekämpften die Wiederaufrüstung. Auf diese Kräfte zielte Stalins Note 1952. Mit diesen Kräften rechnete auch Churchill noch 1953, wie neuere Dokumente deutlich bewiesen haben.
    Wollte man die Einheit Deutschlands wirklich erhalten — das war j a das Thema des heutigen Nachmittags von Ihrer Seite —, damals bestand die Chance, sie wenigstens auf dem Verhandlungsweg auszuloten als reale politische Möglichkeit. Daß es dazu damals nicht gekommen ist, ist weder dem Druck der Sowjetunion noch dem Druck der Westalliierten allein, noch dem diplomatischen Dilettantismus Ihres „Großvaters" zu verdanken gewesen, sondern es war die erklärte politische Absicht eines Teils der CDU, die Absicht Adenauers und der sich entwickelnden deutschen Großindustrie.
    Es gehörte zu den politischen Meisterstücken der Adenauerschen Ara, dieses Faktum der bewußten, gezielten, geplanten Aufgabe der Einheit Deutschlands durch einseitige Westintegration und wirtschaftliche und militärische Wiederaufrüstung immer noch zu verbinden mit den Forderungen in der Präambel des Grundgesetzes und dem darin enthaltenen Wiedervereinigungsgebot.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Lehnen Sie die Präambel ab?)

    Ich kann es ganz persönlich sagen, daß meine Generation und ich lange gebraucht haben, um diese
    Lüge, von der Wiedervereinigung Deutschlands zu



    Frau Dr. Vollmer
    reden und die endgültige Spaltung zu wollen und zu zementieren, zu entlarven und den damit verbundenen Antikommunismus, mit dem wir alle aufgewachsen sind, zu überwinden.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sie können nicht für Ihre Generation sprechen!)

    Ich verfolge weiter den Streit im konservativen Lager um die Richtung der Ost- und Deutschlandpolitik. Er brach in dem Streit um die Deutschlandpolitik Willy Brandts neu auf, nur daß er sich hier leichter hinter lautstarken Angriffen auf diese Ostpolitik verstecken konnte. Der heutige Bundeskanzler war, wie man hört — er ist stolz darauf —, damals Gegner der Ostverträge, der Bundespräsident war Befürworter. Geändert hatte sich im wesentlichen die Haltung der deutschen Industrie, da sie durch die Möglichkeit des beginnenden Osthandels die wirtschaftspolitischen Interessen der Bundesrepublik in Zeiten wirtschaftlicher Krisen gut gewahrt sah. Wir kriegten bei dem beginnenden Osthandel die Nase sozusagen gut in den Wind. Die zentrale Rolle von Erzkapitalisten wie Berthold Beitz spricht dabei ebenso für sich wie die Leichtigkeit, mit der gerade Franz Josef Strauß in die Fußstapfen einer solchen SPD-Ostpolitik als offensiver Wirtschaftspolitik schlüpfen konnte. Herr Kollege Brandt, das hatte ich gemeint, als ich gesagt habe, ob es Sozialdemokraten nicht wenigstens zu denken gibt, wie leicht sich ein Herr Strauß in diese Tradition hineinstellen kann. Ich meine — damit auch das klar ist — allerdings, daß die Zeiten heute anders sind als damals.
    Der Bruch im konservativen Lager über diese Politik blieb auch deshalb begrenzt, weil ja die Ostpolitik der SPD die eindeutige Westbindung der Bundesrepublik keineswegs in Frage stellte und auch damals nicht in Frage stellen konnte, die weitergehenden und interessanten Positionen von Egon Bahr über die Sicherheitspartnerschaft in der Mitte Europas einmal ausgenommen. Nein, diese SPD-Politik trieb diese sogar in der Person von Helmut Schmidt mit seinem aktuellsten Vorschlag aus dem letzten Jahr, wir sollten uns doch unter den atomaren Schirm der Force de Frappe begeben, regelrecht auf die Spitze.
    Meine Damen und Herren, die in diesem Hause viel beschworene sogenannte Gemeinsamkeit der Demokraten in der Deutschlandpolitik hat ihren entscheidenden Knacks durch die Entscheidung im letzten Herbst über die Stationierung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden bekommen. Ich wünschte, Sie würden begreifen, daß dies für uns der Anlaß ist, diese Gemeinsamkeit nicht mehr mit tragen zu können; denn seit der genannten Entscheidung ist die Hauptaufgabe der Deutschlandpolitik die Friedenspolitik geworden. Sie haben es nur noch nicht gemerkt, daß es zu diesem entscheidenden Knacks gekommen ist.
    Das gemeinsame Konzept der Westintegration der Bundesrepublik hatte ja zwei Säulen. Diese beiden Säulen sollten der Bevölkerung dieses Konzept akzeptabel machen. Die eine Säule war die, daß wir
    durch diese Westintegration eine wirtschaftliche Prosperität erlangten, die uns zu einem der reichsten Länder dieser Erde machte.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sind Sie dagegen?)

    Die andere war die Illusion, daß diese Integration in das westliche Bündnis uns europapolitisch größere Stabilität, Sicherheit und dauerhaften Frieden in der Mitte Europas verleihen würde.

    (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Von Freiheit keine Rede!)

    Nun, der wirtschaftliche Lack bröckelt, und die Illusion der größeren Sicherheit ist in weiten Teilen unserer Bevölkerung zerbrochen. Die Friedensbewegung hat ihren entscheidenden Einbruch in breiteste Teile der Bevölkerung — gerade auch der konservativen Bevölkerung — nur deshalb erzielen können, weil sie klarmachen konnte, daß für uns das Durchboxen der Pershings und Cruise Missiles etwas äußerst Wertvolles weiter abbauen mußte, nämlich unsere nationale Souveränität. Wir haben uns mit dieser Entscheidung in die Situation begeben, daß über Sein oder Nichtsein der Länder in der Mitte Europas die Herrschenden in Washington und Moskau entscheiden. Seit diesem Faktum ist offenbar: Der alte Satz, der immer gegolten hatte: Was den Westen stärke, nütze auch unseren deutschen nationalen Interessen, hat sich genau in sein Gegenteil verkehrt. Heute gilt: Was die Interessen der USA stärkt, bedroht uns auf die elementarste Weise, in der ein Volk bedroht werden kann.
    Allen leichtfertigen Beteuerungen des Kanzlers zum Trotz hatte diese Stationierung erhebliche Folgen für unsere nationale Souveränität. Sie hat auch Folgen für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander. Sie hat die Kriegsgefahr erhöht.
    Ein Lieblingswort unseres Kanzlers ist dieses: Wir haben die Lektion der Geschichte gelernt. Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler: Das Ergebnis Ihres Lernens ist nicht überzeugend, nicht für meine Generation.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das ist eine Anmaßung! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Die Bundesrepublik zum wirtschaftlichen Koloß zu machen, sie in zentralen politischen Fragen von der US-Regierung — noch dazu von einer Reagan-Regierung — abhängig zu machen, sie für drohende militärische Auseinandersetzungen zum Niemandsland zwischen den Blöcken zu erklären und sie gleichzeitig kulturell völlig dem „American way of life" auszuliefern — das kann für uns kein überzeugendes Ergebnis des Lernens aus der deutschen Geschichte sein.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Ich will versuchen, zu sagen, welche Lektion wir aus der Geschichte lernen wollen:
    Erstens. Wir fühlen uns der Tradition eines anderen Deutschlands verpflichtet, eines Deutschlands



    Frau Dr. Vollmer
    — in der Mitte Europas gelegen — mit einer durchaus bescheidenen Bedeutung im Rahmen der Weltpolitik und mit wichtigen kulturellen Traditionen. Dabei wissen wir, daß die Menschen, die dieses Deutschland in der Vergangenheit suchten, im Rahmen der deutschen Staaten eigentlich niemals so recht einen Platz hatten. Deshalb war und ist das Vertreiben und Ausbürgern in Deutschland noch immer groß im Schwange.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Meinen Sie Herrn Biermann?)

    Nicht wahr, Herr Geißler und Herr Hennig, wenn Sie könnten, wie Sie wollten, dann würden Sie uns schon gerne ein bißchen Exil verpassen, wenigstens aus diesem Parlament.

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sie wollen doch selber rotieren! — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Das war wieder ein Geistesblitz!)

    Zweitens. Es ist kein Zufall, daß in den Reihen der GRÜNEN, der Ökologie- und der Friedensbewegung so viele Menschen aus dem Kreis der Gegner der alten Adenauer-Politik und der Ostermarsch-Bewegung sind neuerdings aber auch viele ehemalige Bürger der DDR; — nicht nur neuerdings; sie haben die GRÜNEN mit gegründet. Es sind solche, die keinesfalls zu beglückten Anhängern des bundesrepublikanischen Systems wurden. Wir verstehen uns deshalb auch personell als eine deutschlandpolitische Alternative zum sogenannten Konsens aller Demokraten in der Frage der bestehenden Deutschlandpolitik.
    Drittens. Wir sind keine Utopisten, sondern Realisten.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das haben wir gehört!)

    Als Realisten tragen wir auch die Konsequenzen einer Deutschlandpolitik, die fast 40 Jahre allein auf Westintegration gesetzt hat. Jetzt sage ich einen sehr harten Satz. Aber wir tragen sie in derselben Weise, wie wir auch die Hypothek mitschleppen, Töchter und Söhne einer Nation zu sein, die hauptverantwortlich zwei Weltkriege verursacht hat.

    (Frau Hürland [CDU/CSU]: Das ist unerhört!)

    Konkret: Wie das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges in der Aufrichtung der Blocksysteme mitten in Europa gipfelte, so ist die Existenz zweier deutscher Staaten und zweier Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden das Ergebnis der 40 Jahre währenden Deutschlandpolitik unter Ihrer Verantwortung. Wir tragen diese Konsequenzen, und wir tragen sie durchaus mit Wut und auch mit Trauer.
    Viertens. Deswegen, gerade deswegen treten wir für die Anerkennung der Realitäten ein, wie sie in Deutschland entstanden sind: der zwei Staaten und der zwei Staatsbürgerschaften, der Grenze in der Mitte der Elbe, der gegenseitigen Botschaften; wir sind jedoch für die Beseitigung so anachronistischer Namen und Erscheinungen wie z. B. eines Ministeriums mit dem Namen „innerdeutsch" und
    sinnloser Protokollfragen bei gegenseitigen Besuchen.
    Fünftens. Wir halten es für falsch, es wieder für selbstverständlich zu erklären, über die Frage der nationalen Einheit Deutschlands nachzudenken,

    (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Die Mauer wollen Sie auch anerkennen?)

    wie es etwa der Bundespräsident — z. B. mit seinem Verweis auf die Geschichte der Polen und der Iren — tut. Der Zeitraum, in dem es viele Staaten auf deutschem Boden gab, ist unendlich viel länger als die Zeit der nationalen Einheit Deutschlands, die von 1871 bis 1945 gedauert hat. Letzteres war einer der unglücklichsten Zeitläufe in der deutschen Geschichte. Zehn Jahre verbrachten wir mit Weltkriegen, zehn Jahre mit Aufrüstungen für Weltkriege, die Auseinandersetzung mit Frankreich und den Kolonialismus nicht eingerechnet. Wir wünschen uns diese Zeiten nicht zurück.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sechstens. Wir haben gelernt und noch zu lernen, daß die Stationierung amerikanischer Raketen auf unserem Boden Folgen hatte. Auch der Herr Bundeskanzler wird dies endlich lernen müssen. Es hatte Folgen: Unser Spielraum ist enger geworden. Die Einschränkung unserer politischen Souveränität in entscheidenden Lebensfragen und die Kriegsgefahr wiegen sehr viel schwerer als die Existenz zweier deutscher Staaten auf deutschem Boden.
    Siebtens. Nach einer Zeit großer gesellschaftlicher Auseinanderentwicklung in den 70er Jahren, in der sich die Menschen in Ost und West — wir bedauern das — auch schlecht verstanden haben, hat die augenblickliche extreme gemeinsame Bedrohung durch die Militärpotentiale der Supermächte und durch die ökologischen Zerstörungen der Umwelt die Deutschen in Ost und West gezwungen, im Bewußtsein ähnliche gemeinsame Entwicklungen aufeinander zu zu machen und nach ähnlichen gemeinsamen Lösungsvorstellungen und Zielperspektiven zu suchen.
    Auf der Basis der Anerkennung der politischen Realitäten treten wir deshalb für eine wachsende Annäherung der Menschen in beiden Gesellschaftssystemen ein. Wir streben Kontakte auf allen gesellschaftlichen Ebenen an, wo immer sie möglich sind, sozusagen eine Vernetzung von unten. Dabei sind wir der Meinung, daß es in der Bundesrepublik durchaus ein großes Defizit an Informationen über das Leben, die Arbeit und die politischen Hoffnungen der Menschen in der DDR gibt.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das stimmt, bei Ihnen besonders!)

    Auch von unserer Seite gibt es viele Mauern zu überwinden.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sie wollen die Mauer doch anerkennen!)

    Achtens. Wir sind nicht der Meinung, daß die Auflösung der bedrohlichen Lage in der Blockkonfrontation nur in Washington und Moskau geschehen



    Frau Dr. Vollmer
    könne. Das merken wir auch kritisch zu dem an, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Brandt. Wir erwarten von weiteren Gesprächen zwischen den verantwortlichen Staatsmännern in beiden deutschen Staaten wichtige Initiativen, die aus einer besonderen Verantwortung der Deutschen für den Frieden in Europa entspringen. Sie, Herr Bundeskanzler, reden so gern von dem, was Ihre Pflicht ist. Dies im Sinne des Friedens zu tun — das genau wäre Ihre Pflicht, aber Sie haben eine Chance dafür versäumt.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Eine solche Initiative könnte ein gemeinsames Gewaltverzichtsabkommen, eine Friedensinitiative auf der Stockholmer Konferenz sein. Als weitestgehende Perspektive wünsche ich mir eine gemeinsame deutsch-deutsche Friedensinitiative auf der Ebene der UNO.
    Neuntens. Das Konzept der einseitigen Westintegration haben wir durchgeführt — fast — bis zum bitteren Ende. Es hat uns auch aus der Sicht all dessen, was Konservativen wert und wichtig ist und sein müßte, nichts Gutes gebracht. Es wird Zeit, daß wir in der Deutschlandpolitik einen neuen Weg beschreiten. Wir möchten Sie bitten, diesen Weg mit uns zu überlegen. Wir sind — das sage ich bewußt — in der Frage des Friedens lieber friedenspolitische Wanderer zwischen zwei Welten als Geisel der einen oder anderen Supermacht.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Ich bin auch der Meinung, daß ein solches Konzept für eine Stadt wie Berlin ganz andere Aufgaben bietet als ihre jetzige Existenz als eine sozial ausblutende Stadt und ein bloßer Zankapfel zwischen den Supermächten.
    Ich komme zum Schluß: Warum ist der Honekker-Besuch gescheitert? Natürlich gab es eine Pressekampagne aus Moskau. Natürlich gab es einen erschreckenden Dilettantismus und unwürdige Statusdiskussionen auf unserer Seite. Natürlich hat die Bundesregierung die inhaltliche Bedeutung dieses Besuches auf Kosten ihres Gastes in unverantwortlicher Weise — zur Beruhigung der westlichen Alliierten — herabgesetzt. Aber der eigentliche Grund ist wohl, daß die verantwortlichen Deutschlandpolitiker und die Verantwortlichen in der Regierung nicht begreifen und nicht begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat und welche Chance angesichts der vollzogenen Raketenstationierung in einem deutsch-deutschen Dialog im Jahre 1984 wirklich gelegen hätte.
    Herr Bundeskanzler, ich werde den Eindruck nicht los, daß Erich Honecker diesmal mehr begriffen hatte von den Lehren, die man aus diesem letzten Jahr ziehen müßte, als Sie und Ihre Mannen.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wohl jedem von uns in den letzten Wochen noch bewußter geworden, wie sehr unsere Lage im Herzen Europas und wie sehr unser Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn Gewicht für die West-Ost-Beziehungen insgesamt hat. Alles, was bei uns in diesem Zusammenhang gesagt und geschrieben wird, verfolgen und kommentieren unsere Nachbarn — übrigens in West und Ost, Frau Kollegin Vollmer — mit großer Aufmerksamkeit.
    Uns allen sind erneut die Verantwortung und die Probleme vor Augen geführt worden, die sich aus der Mittellage Deutschlands ergeben. Diese Lage verlangt von uns und unserer Politik zuallererst Behutsamkeit. Sie verlangt Stetigkeit, aber auch Augenmaß bei der Einschätzung unserer Möglichkeiten. Das müssen wir bei unserem Handeln und unseren Äußerungen bedenken. Dazu gehört auch, daß jeder unter uns zu unterscheiden weiß zwischen der unverzichtbaren Analyse und vordergründigen, auf innenpolitische Wirkungen abgestellten Schuldzuweisungen.
    Meine Damen und Herren, über 20 Jahre hat die Bundesrepublik Deutschland gebraucht, um in einer organischen Entwicklung ihr Verhältnis zwischen West und Ost in ein ausgewogenes Maß zu bringen, in ein Maß, das unserer geographischen Lage, unserer Geschichte, unseren Sicherheitsinteressen und unseren Überzeugungen entspricht.
    Was dabei erreicht wurde, darf jetzt nicht aufs Spiel gesetzt werden.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Das sagen Sie Herrn Kohl!)

    Es war ein Gewinn für unser Land, Herr Kollege, daß das vorrangige Ziel der Westintegration nach harten Auseinandersetzungen schließlich zum Bestandteil innenpolitischer Übereinstimmung wurde.
    Hier muß heute die Frage ansetzen, ob wir das jetzt noch mit solcher Selbstverständlichkeit sagen können und welche Wirkungen es in West und Ost hat, wenn das nicht mehr so ist.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Richtig!)

    Ich denke, daß Frau Kollegin Vollmer heute die Position der GRÜNEN in einer Weise dargelegt hat, die nunmehr jeden Zweifel daran beseitigt, daß die GRÜNEN eine neutralistische Position außerhalb der westlichen Gemeinschaft anstreben und daß das ihr politisches Ziel ist.

    (Stratmann [GRÜNE]: Sie Schnellmerker!)

    — Es muß ja darüber gesprochen werden; die Aufstellung dieser Forderung allein reicht nicht, Herr Kollege.
    Die Auswirkungen, die sich daraus ergeben, müssen untersucht werden; die Auswirkungen, die sich daraus ergeben, daß unser Land ein weiteres Mal zu einem unberechenbaren Faktor der europäischen Wirklichkeit werden könnte.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Woran lag denn die Unberechenbarkeit?)




    Bundesminister Genscher
    Die Entscheidung für die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland war ja zuallererst nicht einmal eine sicherheitspolitische, sondern eine Wertentscheidung, nämlich die Entscheidung, sich zu den Staaten in Europa zugehörig zu fühlen, denen es vergönnt ist, in Freiheit und Demokratie zu leben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Deshalb, finde ich, ist es vordergründig und natürlich auch polemisch, wenn dann von Antikommunismus geredet wird, obgleich in Wahrheit der Unterschied zwischen einer freien und einer kommunistischen Staats- und Gesellschaftsordnung als ein wesentliches Element der Lage in Deutschland und in Europa herausgestellt wird.
    Sehen Sie, ich habe die Vertragspolitik der Bundesregierung seit 1969 von Anfang an und aus Überzeugung mitgetragen. Aber es wäre mir doch zu keiner Stunde eingefallen, darüber hinwegzusehen, daß ich — das war j a auch meine ganz persönliche Entscheidung — hier in Freiheit leben möchte. Ich wünschte mir, unsere Landsleute in der Deutschen Demokratischen Republik könnten das auch.
    Können wir uns darüber verständigen, dann, finde ich, werden wir die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr, wie Frau Kollegin Vollmer es getan hat, als eine Art Unterwerfung unter fremden Willen deklarieren und denunzieren, sondern als eine Freiheitsentscheidung des Teils unseres Volkes bewerten, das dazu aus den Gegebenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit hatte.

    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Und jetzt haben Sie die Pershings weggezaubert?)

    — Darauf kommen wir auch noch zu sprechen, Herr Kollege.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir sprechen vom Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, Herr Kollege, und nicht von Pershings!)

    Im Augenblick spreche ich darüber, ob es ausreicht, von Antikommunismus zu sprechen, wenn die Organisation eines freiheitlichen Staatswesens auf deutschem Boden dort vollzogen wurde, wo das unter den gegebenen Umständen der zu Ende gehenden 40er Jahre möglich war.
    Aber wir würden unsere geschichtliche Verantwortung verfehlen, wenn wir es dabei beließen, festzustellen, daß hier ein demokratischer Staat entstanden ist und die DDR eine andere Entwicklung genommen hat. Das Wissen um den Unterschied der beiden Staats- und Gesellschaftsordnungen hat uns gerade nicht gehindert, jede Möglichkeit der Verständigung zu suchen. Die Unterzeichnung und der Abschluß des Grundlagenvertrages haben doch nicht ungeschehen machen wollen, was zwischen diesen beiden Staaten an unterschiedlicher Staatlichkeit, an unterschiedlichem Freiheitsgehalt steht.
    Dennoch bleibt die Einheit der Nation. Dennoch bleibt eine Realität, von der Sie, Frau Kollegin Vollmer, nicht gesprochen haben, die Realität, die deutsches Volk heißt

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Doch, davon habe ich gesprochen!)

    und von der auch der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, gerade in den letzten Monaten gesprochen hat.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Sehr wahr! — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Davon habe ich gesprochen: daß sie einmal in vielen Einzelstaaten existierte!)

    Er hat das sehr bewußt gesagt. Das Wissen um die Fortexistenz einer einheitlichen Nation und eines Volkes gibt uns die besondere Verantwortung auf, uns um die Verbesserung unserer Beziehungen zur DDR zu bemühen.
    Das ist eine europäische Friedensfrage, das ist eine nationale Aufgabe. Das Ergebnis der Politik, die Sie eben so leidenschaftlich kritisiert haben, besteht darin, daß wir gerade als Teil der Europäischen Gemeinschaft, daß wir als Teil des westlichen Bündnisses in der Lage sind, diese Politik der Verständigung mit der DDR im Interesse des Friedens in Europa, im Interesse der Menschen in Deutschland — und übrigens auch in Europa — von einem Boden der Sicherheit aus betreiben zu können, und zwar in Übereinstimmung mit unseren Nachbarn in West und Ost.

    (Frau Reetz [GRÜNE]: Durch Pershings?)

    Vielleicht ist uns in der deutschen Geschichte nicht immer bewußt gewesen, daß wir, von den Polen abgesehen, das einzige der größeren Völker sind, das in einer Mittellage lebt. Alle anderen großen Völker Europas — ob es die Engländer oder die Franzosen sind, die Italiener, die Spanier oder die Russen — leben in Randlagen in und zu Europa, wir im Herzen Europas, ausgesetzt den Spannungen, den Kräfteströmungen, den unterschiedlichen Interessen. Auch das polnische Schicksal ist ja von dieser Lage immer wieder bestimmt worden. Da haben wir uns oft im Gegensatz zu den Interessen unserer Nachbarn befunden. Wenn wir heute Deutschlandpolitik als europäische Friedenspolitik begreifen und betreiben, dann können wir dafür in Anspruch nehmen, daß wir uns mit dieser Politik ganz gewiß in Übereinstimmung mit allen Nachbarn in West und Ost in Europa befinden.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Wenn Sie es tun, ja!)

    Das, meine Damen und Herren, macht den Kern der Deutschlandpolitik der Bundesregierung aus, einer Deutschlandpolitik, von der ich nach vielem, was ich gehört habe, hoffe, daß wir auch weiter über die Grenzen der Koalition hinaus Unterstützung haben werden.
    Wer jetzt diese Grundlagen in der Weise aufgeben will, daß er der Bundesrepublik Deutschland anrät, ihre Gemeinschaft, die Gemeinschaft der westlichen Demokratien, zu verlassen, wird schnell feststellen, wie kalt es wird, wenn man nicht in eine Gemeinschaft von Staaten gleicher Wertvorstellun-



    Bundesminister Genscher
    gen eingebunden ist, der wird feststellen, daß im Alleingang nationale Politik, verstanden als europäische Friedenspolitik, nicht mehr zu betreiben ist, sondern daß dann unser Land Spielball der Interessengegensätze zwischen West und Ost werden wird und daß eine Rolle ausgespielt sein wird, nämlich, daß diese Bundesrepublik Deutschland an der Spitze derjenigen steht, die um Verständigung zwischen West und Ost in Europa ringen können.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Diese Rolle erfüllt sie nicht mehr!)

    Wenn wir diese Position aufgeben, meine Kollegen, schaden wir den eigenen Interessen, und wir schaden auch den Interessen Europas, mit dessen Schicksal wir so sehr verbunden sind.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Dann hätten Sie nicht den Kanzler wechseln dürfen!)

    Deshalb ist die Frage, ob diese Bundesrepublik Deutschland den Weg des Neutralismus gehen sollte, wie Sie es wollen, nicht nur eine Frage, die auf eine Definition der Interessen der Deutschen, die hier leben, begrenzt ist. Das geht die Deutschen der DDR an. Das geht unsere Nachbarn in West und Ost an. Deshalb wird man sehr genau darauf achten,

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Sie reden wie der Außenminister der vergangenen Regierung!)

    wie sich die Mehrheit des Deutschen Bundestages zu diesen Fragen stellt. Da hilft es nicht weiter, Streitigkeiten, Auseinandersetzungen, die hier im Deutschen Bundestag in den 50er, in den 60er Jahren ausgetragen worden sind, neu zu beleben.
    Frau Kollegin Vollmer, Sie haben auf die Stalin-Note vom März 1952 verwiesen. Sie haben an anderer Stelle fast den Anspruch erhoben, als sprächen Sie hier sozusagen für die Mehrheit der Deutschen aus der DDR, die jetzt hier leben, und vielleicht sogar für alle in der DDR.

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Habe ich nicht gemacht!)

    Niemand von uns kann das in Anspruch nehmen; denn die Deutschen in der DDR können zu unserem Bedauern nicht zum Ausdruck bringen, was sie für richtig halten, wie wir es gewohnt sind.
    Auch jetzt spricht hier einer aus der DDR, der dort bis 1952 gelebt hat und der diese Stalin-Note 1952 noch dort erlebt hat. Ich will Ihnen sagen, daß mich damals diese Note und die Frage: Was kann man daraus machen, welche Chancen ergeben sich?, tief bewegt hat. Das war ein Thema, das mich lange beschäftigt hat.

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Man hätte versuchen müssen, es wenigstens zu verhandeln!)

    Ich bin heute nach einer langen politischen Tätigkeit ganz sicher, daß der damals eingeschlagene Weg der Bundesrepublik Deutschland, ein Weg, für den meine Partei im Deutschen Bundestag mitverantwortlich gezeichnet hat und zeichnet, der richtige Weg war.

    (Bindig [SPD]: Historisches Versäumnis!)

    Denn er hat die Chance der Freiheit für die Deutschen hier erhalten

    (Frau Nickels [GRÜNE]: Die eine Hälfte!)

    und die Hoffnung auf Freiheit für Europa in einem Prozeß, wie er in der Schlußakte von Helsinki niedergelegt ist, eröffnet. Denn ist nicht die Schlußakte von Helsinki eine Zusammenfassung von Verpflichtungen, die keiner dem anderen aufgedrückt hat, die alle gemeinsam übernommen haben und die doch das eine Ziel haben sollen — lesen Sie sie einmal durch —: die Rechte der Menschen zu verstärken, den Völkern ein friedliches Zusammenleben zu sichern, damit auch Grenzen durchlässiger zu machen? Ist das nicht ein Stück zusätzlicher Freiheit für die Menschen in ganz Europa — ich meine damit nicht nur in der DDR —, ein Stück mehr Freiheit — Liberalisierung sagt man; ich höre das gern, wenn das als Wort für Fortschritt in Richtung Freiheit gebraucht wird?
    Wir haben uns im Grundlagenvertrag eine Grundlage gegeben für die Zusammenarbeit mit der DDR. Zu diesem Vertrag stehen wir — so wie die Bundesregierung zu allen Verträgen steht, die wir abgeschlossen haben; genauso wie wir eine Politik machen, die auf einem Gesamtkonzept beruht. Übrigens nicht nur einem deutschen Gesamtkonzept, sondern auf einem Konzept, das in der NATO vereinbart wurde. Das ist das Harmel-Konzept, das Sicherheit und Zusammenarbeit zusammen sieht und nicht Zusammenarbeit auf der Grundlage sicherheitspolitischer Illusionen sucht. Deshalb bieten wir dem Osten eine breit und langfristig angelegte Zusammenarbeit an auf der Grundlage der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung legitimer Sicherheitsinteressen. Da schulden wir Deutschen in unserer geographischen Lage — es kann nicht oft genug gesagt werden — Stetigkeit in unserer Politik und Klarheit in unseren Zielen.
    Wenn heute diese Debatte in einer schwierigen West-Ost-Lage stattfindet — ich sage nicht in einer hoffnungslosen; ich werde nachher noch etwas zu den Einwänden des Kollegen Brandt, ob dieses Jahr 1984 ein verlorenes Jahr für die Abrüstungspolitik und auch für die Deutschlandpolitik war, zu sagen haben; darüber wird man noch zu sprechen haben —, dann ist es notwendig, daß die, die sich an dieser Diskussion beteiligen, die Antwort auf die Frage geben, ob es richtig ist, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, oder ob gefordert wird, ihn zu ändern. Sie haben die Änderung gefordert. Jeder, der mit Ihnen zusammenarbeiten will, wird sich darüber klarwerden müssen, ob er diesen Weg mit Ihnen zusammen gehen will. Das ist ein Problem für unsere Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei. Ich sage das ganz unpolemisch im Interesse der Klarheit der Positionen im Deutschen Bundestag.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch diejenigen, die jetzt aus vielerlei Gründen dabei sind, alte Feindbilder neu zu beschwören, wissen:



    Bundesminister Genscher
    Wir sind keine Revanchisten, und wir sind natürlich auch keine Revisionisten. — Niemand hier in der Bundesrepublik Deutschland sollte sich in diese Kampagne einspannen lassen. Aber es sollte auch niemand bewußt oder unbewußt dieser Kampagne Vorschub leisten.

    (Beifall bei der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist sicher wahr!)

    Wir sollten das Echo sorgfältig bedenken, das wir in Ost und West finden.
    Nicht alles, was aus östlicher Richtung kommt, ist als Propaganda abzutun.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

    Man muß Sorgen, auch wenn sie uns nicht als berechtigt erscheinen, von Polemik zu unterscheiden wissen. Hier darf uns unsere geschichtliche Verantwortung nicht vergessen lassen, daß Hitler vor 45 Jahren mit dem Angriff auf Polen gegen unsere europäischen Nachbarn den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hat. Für die meisten unserer unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn steht der 1. September 1939 am Anfang einer Entwicklung, die durch Schmerz und Leid, durch Tod und Vernichtung gekennzeichnet war. Das gilt auch für uns. Die Bundesregierung hat natürlich am 1. September dazu ihr Wort gemacht.
    Das polnische Volk ist von dieser Entwicklung in besonders bitterer Weise betroffen. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Völker der Sowjetunion die größten Opfer haben bringen müssen. Alles das steht uns vor Augen, wenn wir uns um Zusammenarbeit und Abrüstung bemühen, wenn wir davon ausgehen, daß nicht nur wir, sondern auch andere Sicherheitsinteressen haben. Auch die anderen haben ihre Sicherheitsinteressen. Deshalb werden wir unsere Friedenspolitik in diesem Bewußtsein fortführen. Das muß ganz klar sein, und es bleibt dabei. Ich sage das für die Bundesregierung, um all denen das Letzte zu nehmen, die gegen uns eine neue Kampagne in Gang setzen wollen: Die Bundesrepublik Deutschland geht von der in Europa bestehenden wirklichen Lage aus. Sie achtet die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen. Sie hat keine Gebietsansprüche gegen irgend jemanden und wird solche auch in Zukunft nicht erheben. Sie betrachtet heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Dabei wissen wir, daß sich in dem Wunsch nach dauerhaft gesicherten Grenzen alle in Polen einig sind. Der Warschauer Vertrag hat den Weg gewiesen, den unheilvollen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, die Aufrechnung von Unrecht und Gegenunrecht zu beenden. Was sich daraus für das Verhältnis von Deutschen und Polen ergeben hat, gehört wirklich zu den wertvollsten Ergebnissen der europäischen Nachkriegspolitik.

    (Beifall bei der FDP)

    Es muß ja wohl unser aller Interesse für den Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sein, daß die Volksrepublik Polen ihren Platz im europäischen Staatensystem mit dem ihr zukommenden
    Gewicht voll ausfüllt. Wir wünschen, daß sich die Kontakte und die Zusammenarbeit mit Polen wieder stärker entwickeln.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Wir erwarten, daß Vereinbarungen und Zusagen von beiden Seiten eingehalten werden, auch im humanitären Bereich.
    Meine Damen und Herren, hüben und drüben sollte man der Versuchung widerstehen, die deutsch-polnische Aussöhnung politisch und moralisch durch einen unnützen ungerechtfertigten Blick zurück zu verspielen. Und da möchte ich sagen, bei uns hier wollen alle in Frieden leben. Wir können wirklich sagen, es wollen alle in Frieden leben, nicht nur der größere Teil unseres Volkes. Alle wollen in Frieden leben!
    Die Vertriebenen haben ihren Willen zu Frieden und Versöhnung schon unter Beweis gestellt, als das Wort Entspannung noch nicht in aller Munde war. Frau Kollegin Vollmer, was Sie da gesagt haben über die Anwesenheit des Bundeskanzlers beim Vertriebenentreffen: Ich muß Sie fragen: Wollen Sie eigentlich die Vertriebenen ausgrenzen aus unserer Gesellschaft?

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Darum geht es doch gar nicht! Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

    Die Liebe zur Heimat gehört doch wahrlich nicht zu den schlechtesten Bindungen, die menschliches Verhalten bestimmen können.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wenn aus dem Schmerz über den Verlust der Heimat nicht Verbitterung wird, sondern Wille zur Versöhnung, ist das eine große moralische und friedenspolitische Leistung. Ich denke, daß wir in diesem Sinne Anlaß haben zu sagen: Ja, die Vertriebenen haben in der Bundesrepublik Deutschland den Wiederaufbau mitvollzogen, aber das ist nicht nur materiell zu verstehen; sie haben auch den Wiederaufbau einer freiheitlichen Demokratie mitvollzogen, und sie haben es durch ihre staatsbürgerliche Einsicht selbst dort, wo sie Bedenken hatten, überhaupt erst möglich gemacht, daß z. B. der deutschpolnische Vertrag ohne innere Erschütterung der Bundesrepublik Deutschland geschlossen werden konnte. Das ist eine große Leistung.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Das hätte auch anders sein können, und ich denke, das wollen wir nicht vergessen. Wenn wir über den Willen unseres Volkes zum Frieden sprechen, dann möchten wir auch feststellen, an alle, die es angeht: In unseren Schulen, in unseren Kasernen wird zum Frieden erzogen und nicht zum Haß! Wir wünschten, das wäre überall so.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Unser Wille, unsere Aufgabe und Verantwortung in Europa zu erfüllen, hat es uns möglich gemacht, zur europäischen Einigung in dem Teil beizutragen, wo das unter den von uns gewollten freiheitlichen Voraussetzungen möglich ist. Aber die Bundesre-

    Bundesminister Genscher
    gierung hat auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie, wenn sie die Europäische Gemeinschaft meint, nicht von Europa sprechen kann, weil Europa eben mehr ist als die Europäische Gemeinschaft, weil die Staaten des Warschauer Pakts und andere zu diesem Europa mit hinzugehören.
    Was die Sprache, die wir verwenden, anlangt, sollten wir vielleicht auch beim Wort „Osteuropa" vorsichtig sein. Ich höre oft, daß wir Verhandlungen mit den „osteuropäischen Staaten" führen. — Ja, mit denen auch, aber das erfaßt nicht alles. Wir Deutschen sind in der Tat Mitteleuropäer. Die Polen sind es auch!

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und die Tschechen!)

    — Die Tschechen und andere sind es auch. Das heißt, Mitteleuropa ist viel. Europa ist mehr; dazu gehört auch Osteuropa. Die Sowjetunion, die an die Ostgrenze Polens grenzt, ist eben nicht Westasien, sondern dort beginnt Osteuropa. Das wird man Ihnen in Warschau so sagen!
    Wenn Sie das begreifen, wird deutlich, welch große Leistung es war, daß, ausgehend von der Schlußakte von Helsinki, in Stockholm eine Konferenz über sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen für ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural zustande kommen konnte, eine Konferenz, die damit deutlich macht, daß dieses Europa, wenn es um die Lösung sicherheitspolitischer Probleme geht, zusammen gesehen werden muß.
    Da ist eigentlich, Herr Kollege Brandt, die Bilanz des Jahres 1984 bezüglich Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht so schlecht, wenn man bedenkt, daß eben diese Konferenz, die Sicherheitsfragen für ganz Europa erfassen soll, doch in diesem Jahre 1984 begonnen hat, gewiß nicht mit den Ergebnissen, die wir uns am Ende wünschen; aber sie hat in einer schwierigen West-Ost-Lage stabilisierende Wirkungen, sie schafft Ausgangslagen für Ergebnisse.
    Auch in den anderen Fragen der West-Ost-Zusammenarbeit würde ich noch nicht so weit gehen, zu sagen, das Jahr ist schon vergeben. Lassen Sie uns am Ende des Jahres Bilanz ziehen. Wir werden keine falschen Hoffnungen erwecken, aber man sollte auch nicht schon jetzt das Jahr als gelaufen ansehen. Neue Entwicklungen deuten sich manchmal anders an, als mancher es erwartet hat. Ziehen wir also am Ende Bilanz!
    Lassen Sie mich nun auf das zurückkommen, was der Kollege Brandt gesagt hat, als er davon sprach — und dieser Teil seiner Feststellungen war richtig —, daß mit dem Abschluß der Ostverträge die antideutsche Karte von der Sowjetunion weggesteckt wurde — aber eben nicht vernichtet, nur weggesteckt. Und es ist eben nicht so, daß die Karte der Angriffe und Vorwürfe gegen die Bundesrepublik Deutschland etwa erst seit zwei Jahren wieder gezogen wäre. Nein, sie wurde schon vorher vorgezeigt; sie wurde in dem Augenblick vorgezeigt, in dem hier im Deutschen Bundestag die Entscheidung für die Nachrüstung fiel.
    Nun ist die Frage zu beantworten, ob die Tatsache, daß diese Politik von seiten der Sowjetunion mit Kritik bedacht wurde, Anlaß sein muß, diesen Teil unserer Politik, die Sicherheitspolitik. zu überprüfen und in Frage zu stellen. Was war denn der Ausgangspunkt dieser Entscheidung, die natürlich im Ost-West-Verhältnis heute ihre Bedeutung hat? War es die Hoffnung, Beifall aus Moskau zu bekommen? Ganz sicher nicht! Es war die schmerzliche Einsicht, daß die Bemühungen der damaligen Bundesregierung vor dem NATO-Doppelbeschluß, die Sowjetunion wenn schon nicht zur Rücknahme, so wenigstens zur Einstellung ihrer Raketenrüstung zu bewegen, ohne Erfolg geblieben waren. Das waren aufrichtige Bemühungen, unterstützt vom ganzen Haus. Wegen ihrer Erfolglosigkeit mußte die schmerzliche, aber sicherheitspolitisch unvermeidbare Entscheidung der Nachrüstung getroffen werden, zu der die jetzige Regierung steht.
    Wenn man die Frage untersucht, ob diese Regierung Kontinuität wahrt, ob sie gradlinig eine als richtig erkannte Politik fortsetzt, dann kann man sich nicht nur Teilgebiete heraussuchen, sondern unsere Politik ist schon ein Ganzes. Hier hängen politische Möglichkeiten, sicherheitspolitische Entscheidungen, Wille zur Zusammenarbeit eng miteinander zusammen. Deshalb hat sich ganz sicher die SPD diese Frage zu stellen. Aber auch wenn Sie sich heute zur Entscheidung der Nachrüstung anders als früher einlassen, kann das nicht unwillkommen machen, wenn Sie in anderen Bereichen die Politik der Bundesregierung unterstützen, soweit Sie das für möglich halten. Darauf kann und darf keine Regierung verzichten; das wollen wir auch nicht. Aber man muß die unterschiedlichen Punkte darlegen. Das ist in Ihrem Abweichen von den damaligen Entscheidungen der früheren Regierung geschehen.
    Ich denke, nach dem, was wir heute von der Frau Kollegin Vollmer über die politischen Ziele der GRÜNEN in der Außen- und Sicherheitspolitik gehört haben, was ein klares Ausscheiden aus der westlichen Gemeinschaft, Neutralismus, bedeutet, wird es wichtig sein, daß die sozialdemokratische Partei ihre Position dazu ganz klar macht.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Ich wäre gegen manchen Sprecher aus Ihrer Fraktion ungerecht, wenn ich ihm unterstellen müßte, er müsse das für seine Person klarmachen; aber ich wäre auch ungerecht, wenn ich verschweigen würde, daß es Sprecher aus Ihrer Partei gibt, die ähnliche Gedanken verfolgen. Schon deshalb ist es wichtig, diese Position klarzustellen. Das ist alles so, weil unsere Partner im Westen, weil die, mit denen wir im Osten Politik machen wollen, wissen müssen, woran sie mit der Bundesrepublik Deutschland und mit den Mehrheitsverhältnissen in unserem Lande sind.
    Ich denke, man sollte bei der Beurteilung der gegenwärtigen Lage, für die Bewertung nicht Argumente aus der Sicherheitspolitik austauschen, herausholen wollen, sondern man sollte sich bewußt sein, daß Abrüstungspolitik nicht im luftleeren Raum möglich ist, daß Abrüstungspolitik nur dann
    Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5925
    Bundesminister Genscher
    erfolgreich sein kann, wenn in vielen Bereichen Vertrauen gebildet wird. Da meine ich nicht nur die vertrauensbildenden Maßnahmen im engeren sicherheitspolitischen Bereich, ich meine damit Zusammenarbeit, wirtschaftlich, technologisch, kulturell — im gegenseitigen Interesse, Frau Kollegin Vollmer. Sie haben hier fast kritisch die Möglichkeiten auch wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit der Sowjetunion genannt, sozusagen als eine konservative Variante der Ostpolitik. Ich muß Ihnen sagen: Als wir hier das langfristige deutsch-sowjetische Wirtschaftsabkommen verabschiedet haben, habe ich mich als Außenminister der damaligen Regierung dagegen verwahrt, die Bedeutung dieses Abkommens zuerst in den wirtschaftlichen Möglichkeiten zu sehen. Ich habe gesagt: Die gibt es auch, aber primär ist, daß langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit ein Stück Vertrauensbildung zwischen West und Ost bedeutet.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Diese politische Komponente sollten Sie erkennen. Nur wenn wir das breit tun, schaffen wir immer stärker gemeinsame Interessen

    (Zurufe von den GRÜNEN)

    — hier möchte ich einmal ein Wort übernehmen, das man aus dem Osten hört —, die eine Politik unumkehrbarer machen, eine Politik, von der wir meinen, daß sie in Richtung auf eine europäische Friedensordnung führen muß.
    Es war das Anliegen der Schlußakte von Helsinki, den Menschen mehr Rechte zu geben, das Zusammenleben der Völker friedlich zu gestalten, frei von Angst und aus einem Nicht-Krieg durch Abschrekkung einen Frieden zu machen, der auf Vertrauen beruht. Das ist wichtig, und daran wollen wir arbeiten. Das ist die Politik dieser Regierung, und da wissen wir, das können wir nur gemeinsam mit anderen tun. Da handeln wir in dem festen Bewußtsein dessen, was in der Washingtoner Erklärung des NATO-Rates steht: Militärische Stärke allein kann keine friedliche Zukunft garantieren. Auf dieser Grundlage werden wir unsere Politik fortsetzen; wir erkennen die Bedeutung unserer Beziehungen zur Sowjetunion. Diese Bedeutung wurde schon bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1955 erkannt, übrigens fast auf den Tag genau vor 29 Jahren. Der Moskauer Vertrag hat das fortgesetzt. In der Tat hat dieses deutsch-sowjetische Verhältnis eine erhebliche Bedeutung für die Lage in Europa. Es kann aber niemals die Beziehungen der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion ersetzen. Dieses deutsch-sowjetische Verhältnis bedarf der Ergänzung durch ein gutes Verhältnis zu allen anderen Nachbarn, die dem Warschauer Pakt angehören.
    Wir bieten der Sowjetunion Zusammenarbeit in allen Bereichen. Je früher sie erkennt, daß wir dabei nicht einseitig Vorteile für uns, sondern Interessenausgleich wollen, daß wir einen ungleichen Sicherheitsstatus nicht hinnehmen, aber ihre legitimen Sicherheitsinteressen erkennen, um so positiver wird es für die Entwicklung in Europa sein.
    Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir den sowjetischen Anspruch auf Gleichberechtigung mit der anderen Weltmacht, den USA, für legitim halten. Das ist auch in der Nixon-Breschnew-Erklärung von 1972 zum Ausdruck gekommen. Eine Wiederbesinnung auf diese Erklärung könnte in der Tat ein neues Kapitel in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen aufschlagen. Hoffen wir, daß man damit beginnt, wenn jetzt ein Gespräch des sowjetischen Außenministers mit dem amerikanischen Außenminister und zwei Tage später mit dem amerikanischen Präsidenten stattfindet!

    (Beifall des Abg. Mischnick [FDP])

    Aber so sehr wir die Legitimität dieses Anspruchs anerkennen, so sehr müssen wir auch auf der Feststellung bestehen, daß Stabilität in Europa bedeutet, daß es nicht eine große Sicherheit für die großen Staaten und nur eine kleine Sicherheit für die kleinen Staaten geben kann,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Beifall des Abg. Duve [SPD])

    sondern daß der gleichberechtigte Anspruch auf Sicherheit für alle gelten muß.
    Der Dialog zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, der jetzt Offen deutlich wird, ist eine Entwicklung, die ganz sicher der Erkenntnis beider Großmächte ihrer Verantwortung für den Frieden und für Stabilität entspringt, wie der amerikanische Präsident in diesen Tagen gesagt hat.
    Dieser Verantwortung dürfen wir hier in Europa uns für unseren Bereich, für unsere Möglichkeiten nicht entziehen. Ich sage noch einmal: Unser Gespräch, unsere Beziehungen können den Großmächte-Dialog nicht ersetzen. Sie können ihn ergänzen. Sie können ihn vertiefen.
    Wir müssen, wenn wir uns über diese Frage unterhalten, Grenzen und Möglichkeiten natürlich auch der beiden deutschen Staaten sehen. Die von allen Rednern hier bedauerte Absage oder Verschiebung des Besuchs von Generalsekretär Honecker ändert eines nicht: Die Verantwortung der Deutschen für den Frieden in Europa bleibt davon unberührt.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Dafür müssen Sie etwas tun!)

    Das Bekenntnis beider deutschen Staaten zu der Pflicht, durch ihre Politik und die Entwicklung ihrer bilateralen Beziehungen miteinander zur Stabilität im Zentrum Europas beizutragen, bleibt ein wichtiger Aktivposten.
    Ich kann mich der Wertung des Kollegen Brandt nicht anschließen, daß das Jahr 1984 ein verlorenes Jahr für die deutsch-deutschen Beziehungen ist. Wir hatten doch lange eine Verständigung darüber — und die gibt es eigentlich heute noch —, daß deutsch-deutsche Beziehungen Beziehungen sind, die den Menschen nutzen sollen. Da waren wir immer der Meinung, daß die Verwirklichung des Rechts einen jeden Menschen, von der Freizügigkeit Gebrauch zu machen und seine Wertentschei-



    Bundesminister Genscher
    dung zu treffen, ob er in der DDR oder in der Bundesrepublik leben will, ein Stück nationaler Verantwortung, ein Stück Freiheitspolitik, ein Stück Politik für den Menschen bedeutet. Und wenn das nicht nur einzelne sind, sondern Hunderte, Tausende, Zehntausende, dann rechnet jedes Schicksal für sich, aber zusammengenommen ist das eine beachtliche Erfolgsbilanz der Deutschlandpolitik im Jahr 1984.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir müssen Möglichkeiten und Grenzen der beiden deutschen Staaten nüchtern sehen. Das bedeutet nicht Verzicht auf Politik. Man hat ja auch gesehen, daß wir zur Stabilisierung der Lage in Europa einen Beitrag leisten können.
    Wir erinnern uns aber auch an die 50er und 60er Jahre, als wir Störungen aus Nichtbeziehungen, aus Reibungen erlebten, die zu einer Belastung der West-Ost-Lage wurden. Das hat sich geändert. Ich denke, das ist gut für Europa. Es ist auch gut für Berlin. Beide deutsche Staaten wollen auf der Grundlage des Viermächteabkommens von 1971 für praktische Regeln sorgen. Es bleibt im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR und umgekehrt noch viel nachzuholen. Die beiden deutschen Staaten sollten ihre Verantwortungsgemeinschaft so verstehen, daß sie weitergehen, daß sie bei der Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki geradezu ein Beispiel für den möglichen Fortschritt bieten. Sie können das in dem Bewußtsein tun, daß der KSZEProzeß kein Programm für den Export von Gesellschaftssystemen ist. Das sage ich noch einmal, weil ich vorhin Anmerkungen von Ihnen hörte, als sei da jemand am Werk, der etwas tun wollte, was gegen geschlossene Verträge verstößt.

    (Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: GebenSie doch in Stockholm ein Beispiel!)

    Grundlage aber und Motor für den Aufbau einer europäischen Friedensordnung dürfen, können und müssen die beiden deutschen Staaten auf der Grundlage der Schlußakte von Helsinki sein.
    Je weniger Gegensätze es zwischen diesen beiden Staaten bei der Verwirklichung der Verpflichtungen aus der Schlußakte von Helsinki gibt, um so besser. Dazu gehört, daß sich der Dialog zwischen diesen beiden deutschen Staaten nicht nur auf die bilateralen Fragen beschränken kann. Das ist nicht die Position der Bundesregierung, wenngleich ich fand, Frau Kollegin Vollmer, daß Sie die Bedeutung deutsch-deutscher Umweltschutzvereinbarungen ein bißchen geringschätzig behandelt haben. Wenn wir für Umweltschutz sind — das sind wir ja wohl alle —, dann bitte auch im Verhältnis zur DDR. Dann sollte man nicht kritisch anmerken, der Bundeskanzler habe nur über diese Fragen sprechen wollen. Er hat auch darüber sprechen wollen, aber er hat ganz wesentlich darüber sprechen wollen.

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie werden doch wohl auch sagen, daß der Bundeskanzler davon wenig versteht; dann sollte die DDR lieber mit uns darüber sprechen! — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Spitzfindig, Herr Genscher! — Kittelmann [CDU/ CSU]: Doppelte Moral der GRÜNEN!)

    Nein, zum bilateralen Gespräch gehört auch, daß wir über alle Fragen und Themen, die zum Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gehören, sprechen.
    Ein konstruktives Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR liegt objektiv im Interesse aller Nachbarn in West und Ost und natürlich vor allem im Interesse der Deutschen. Deshalb meine ich, daß sich diejenigen, die die Politik der Bundesregierung kritisieren, einer Tatsache bewußt sein sollten: Die Bemühungen der Bundesregierung und die Bemühungen der Führung der DDR, Gegensätze zwischen den beiden deutschen Staaten abzubauen, sind der wohl fast einmalige Fall, daß beide Regierungen durch gemeinsames Handeln sich der Unterstützung der Deutschen in West und Ost fast uneingeschränkt sicher sein können. Diesen Weg wollen wir deshalb mit Entschlossenheit weitergehen. Die Europäer in West und Ost haben den Wunsch, das in den letzten Jahren durch Verträge, durch die Schlußakte von Helsinki, durch Zusammenarbeit Erreichte zu bewahren. Wir werden ein Anwalt dieser Politik bleiben. Die Bundesregierung wird sich da auf gar keinen Fall auf den Pfad der Konfrontation bringen lassen, weder in unserer Sprache noch in unserem Handeln.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Da müssen Sie ein Wörtchen mit Reagan reden; das tun Sie nicht!)

    Wir werden jede Chance in Stockholm nutzen, wir werden das in Wien und in Genf tun.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Sie müssen in Washington reden!)

    — Wissen Sie, die Tatsache, daß heute die wesentlichen Ziele unserer Entspannungs- und Deutschlandpolitik gemeinsames Gut des westlichen Bündnisses geworden sind, ist nicht das Ergebnis der öffentlichen Kritik an der Politik anderer im Bündnis, sondern ein Ergebnis der Tatsache, daß die Bundesregierung einerseits ein verläßlicher Partner, andererseits aber auch ein überzeugender Anwalt der Verständigung zwischen West und Ost im Bündnis ist. Das ist die Ursache dafür.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Genau da wird es zweifelhaft!)

    — Sie haben Zweifel daran?

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Ja, durch Herrn Dregger!)

    Dann würde ich Ihnen einmal raten, daß Sie alle Ihre Zweifel, die Sie früher geäußert haben, mit der inzwischen eingetretenen Entwicklung vergleichen.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Ja, ich lese Dregger, Windelen, Zimmermann und Kohl!)

    Dann werden Sie sehen, welche Fortschritte im Bündnis erzielt worden sind.



    Bundesminister Genscher
    Meine Damen und Herren, ich denke, es besteht Anlaß, im kommenden Jahr, wenn sich der Jahrestag der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki zum zehntenmal jährt, einen neuen Impuls für den KSZE-Prozeß zu geben. Ich denke, daß der finnische Vorschlag, aus diesem Anlaß in Helsinki ein Treffen auf hoher oder höchster Ebene abzuhalten, von allen Beteiligten ernsthaft geprüft werden sollte.
    Wir jedenfalls werden unsere Politik der Arbeit für eine europäische , Friedensordnung fortsetzen. Wir wissen dabei, daß, wie der Bundeskanzler es hier dargelegt hat, eine erneute Bestätigung, eine Konkretisierung des Gewaltverzichts ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung der gegenwärtigen Belastungen des West-Ost-Verhältnisses sein kann. Gewaltverzicht bedeutet keinen Verzicht auf Überzeugungen, auf Wertvorstellungen und Standpunkte in streitigen Fragen. Er betrifft die Form und die Mittel, mit denen die Staaten bei der Austragung von Meinungsverschiedenheiten auf Grund ihrer unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Interessen miteinander umgehen. Meine Damen und Herren, das zu erreichen, lohnt neue Anstrengungen, denen wir uns stellen.
    Wir in der Bundesrepublik müssen erkennen: Deutschlandpolitik, Abrüstungspolitik und Politik der Verständigung verlangen einen langen Atem und verlangen vor allen Dingen Klarheit der Ziele und der Konsequenz. Diesen Weg werden wir, wie wir ihn eingeschlagen haben, weitergehen. Ich denke, daß alle, die an der Diskussion teilnehmen, hier die Frage werden beantworten müssen, ob sie diesen Weg weitergehen wollen oder ob sie anraten, von diesem Weg abzugehen. Dann ist es klarer für uns; es ist dann auch klarer für die Öffentlichkeit in unserem Lande, ihre Entscheidungen zu treffen.
    Diese Klarheit des Weges kann nicht nur für die Deutschland- und Außenpolitik gelten. Sie muß, da wir die Politik dieses Landes als Freiheitspolitik begreifen, auch für die innenpolitischen Aufgaben gelten, die uns gestellt sind. Die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland beruht auf ihrer wirtschaftlichen Stärke. Wir werden nach unserer wirtschaftlichen und nach unserer technologischen Leistungsfähigkeit bewertet. Es gibt keinen Zweifel, daß diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den Jahren der gemeinsamen Bemühungen der Koalition der Mitte zugenommen hat. Ich habe heute mit großer Aufmerksamkeit die Rede des Kollegen Apel angehört. Ich habe eines vermißt: daß er anerkannt hätte, daß die Wende, die hier eingeleitet wurde, die Staatsverschuldung zurückführt,

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Genscher, lach mal!)

    Herr Kollege Ehmke, daß die Zinsen sinken, daß wir Preisstabilität haben, daß wir Ermutigung zur Leistung schaffen, denn ohne Leistung wird es keinen Wiederaufstieg geben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Herr Kollege Ehmke, ein neuer Marsch in die Staatsverschuldung, ein Marsch in höhere Steuern und höhere Sozialabgaben würde die eben wieder erstarkenden Kräfte unserer Wirtschaft strangulieren. Deshalb ist der Weg, den Sie vorschlagen, so falsch.

    (Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD])

    — Herr Kollege Ehmke, allerdings sind auch für eine Politik der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eine klare Zielvorgabe und ein langer Atem erforderlich.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Und Grenzen!) Ich denke, daß Ihnen das fehlt.

    Sie haben hier heute wieder den Begriff des Totsparens verwendet. Das ist ein Begriff, an dem Sie sich immer wieder festgehalten haben.

    (Dr. Ehmke [Bonn]: Lesen Sie einmal den OECD-Bericht!)

    Ich muß Ihnen erneut sagen: Die Aufgabe, die unserem Lande zu Beginn der 80er Jahre gestellt war, war nicht Totsparen, sondern Gesundsparen. Das ist die Politik, die wir jetzt betreiben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Diese Politik wird uns auch in die Lage versetzen, die großen Aufgaben des Umweltschutzes in unserem Lande zu erfüllen.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Buschhaus!)

    — Sie sagen „Buschhaus". Ich sage Ihnen etwas anderes, Herr Kollege Ehmke:

    (Dr. Vogel [SPD]: Ausländerrecht!)

    Die GRÜNEN, mit denen Sie ja von Land zu Land koalieren oder anders zusammenarbeiten wollen,

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Mit wem sollen sie sonst koalieren, wenn die FDP nicht mehr da ist?)

    möchten die Kernenergie binnen sechs Monaten einstellen.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    — Ja, Sie klatschen; ich weiß, daß Sie das auch denken und daß Sie es wollen. Jetzt müssen Sie die Frage beantworten, ob Sie uns im Falle der Einstellung der Kernenergie noch mehr Kohlekraftwerke ins Land setzen wollen oder ob Sie unsere Wirtschaft zum Erliegen bringen wollen. Um diese Frage geht es.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Das Licht geht aus!)

    Aber alle diese Vorstellungen der GRÜNEN könnten ja nicht jenes Maß an Bedeutung erlangen, wenn sie nicht die Chance hätten, möglicherweise auf Landesebene verwirklicht zu werden.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Haben Sie schon einmal etwas von Wirbelschichtfeuerung gehört? — Zurufe von der SPD)

    Sehen Sie, je stärker unsere Wirtschaftspolitik, je stärker unsere Finanzpolitik auch hier im Deutschen Bundestag Ihre Unterstützung finden könnte,



    Bundesminister Genscher
    um so stärker wäre die Ermutigung. Die Verbraucher benötigen doch Ermutigung, und auch die Investoren bedürfen der Ermutigung.

    (Zuruf des Abg. Duve [SPD])

    — Herr Kollege Duve, heute ist ja schon über den Streik geredet worden. Ihre Zwischenrufe ermutigen mich, auch dazu noch einige Bemerkungen zu machen.
    Ich habe nie verstehen können, daß einzelne Gewerkschaften hier vom Pult des Deutschen Bundestages aus von sozialdemokratischer Seite geradezu aufgefordert worden sind, auch den Weg des Arbeitskampfes für die 35-Stunden-Woche zu gehen, obwohl doch andere Gewerkschaften mit allen Kräften versucht haben, diese Forderung jetzt nicht durchzusetzen, weil sie wußten, was das für die Arbeitsplätze in ihrer Branche bedeuten kann.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Auswirkungen des Streiks werden häufig zu kurzfristig gesehen:

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Jetzt trieft Ihnen wieder die Illiberalität aus den Ohren!)

    — Es ist nicht nur der Produktionsausfall weniger
    Wochen, Herr Kollge Ehmke, es sind nicht nur die langfristigen Folgen der Tarifabschlüsse, die in diesem Zeitpunkt volkswirtschaftlich eben nicht vertretbar sind, sondern es ist auch die Entmutigung, die der Streik im Frühsommer dieses Jahres bei Verbrauchern und Investoren hervorgerufen hat.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sagen Sie das doch den Arbeitgebern mit ihrem Tabu-Katalog!)

    Wir müssen die Verbraucher und Investoren jetzt ermutigen,

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Weil Sie Ihre Klientel bei der Stange halten müssen!)

    weil im kommenden Jahr manche außenwirtschaftlichen Impulse, die unsere wirtschaftliche Entwicklung heute begünstigen, auch aus den Vereinigten Staaten, nicht mehr in dem Maße vorhanden sein werden, wie das jetzt der Fall ist.

    (Duve [SPD]: Ist das ein Beitrag zum amerikanischen Wahlkampf?)

    Darauf müssen wir uns schon jetzt einstellen.

    (Duve [SPD]: War das ein Satz des Außenministers, Herr Minister?)

    Meine Damen und Herren, ich muß Sie wirklich bitten, nicht zu diffamieren, sondern die Bemühungen aller gesellschaftlichen Kräfte zur Überwindung der Arbeitslosigkeit zu unterstützen und zur Bereitstellung von Lehrstellen zu ermutigen. Ich hätte mir gewünscht, daß die Opposition hier auch einmal ein anerkennendes Wort für die großartige Ausbildungsleistung der Handwerksbetriebe in der Bundesrepublik Deutschland gefunden hätte.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Hier findet im Augenblick eine vorausschauende
    Bürgerinitiative für junge Menschen statt. Viele
    Handwerksbetriebe sind bereit, über ihre unmittelbaren Bedürfnisse hinaus auszubilden, weil sie wissen, daß junge Menschen ohne einen Ausbildungsplatz keine Zukunftschance haben. Aber Sie werden diese Menschen entmutigen, wenn Sie nicht mit uns dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die Rede des Parteivorsitzenden fällt stark ab, Herr Genscher!)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, Außenpolitik, Sicherheitspolitik und Deutschlandpolitik verlangen Stetigkeit. Außenpolitik, Sicherheits-und Deutschlandpolitik verlangen auch die klare Erkenntnis, daß unsere Politik nach innen und nach außen Freiheitspolitik ist. Weil wir sie als Freiheitspolitik nach innen und nach außen verstehen, sind wir nicht nur für die klare Fortsetzung der Entspannungs- und Abrüstungspolitik, sondern sind wir auch für die Fortsetzung einer Politik der Marktwirtschaft und der inneren Freiheit in unserer Bundesrepublik Deutschland. Und da wollen wir niemals vergessen, daß soziale Stabilität in unserem Land Voraussetzung für politische Stabilität ist.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ausländerpolitik!)

    — Ich wollte an dieser Stelle aufhören, Herr Kollege Ehmke.

    (Zurufe von der SPD: Bravo!)

    Aber da Sie das Wort „Ausländerpolitik" hier jetzt einführen

    (Erneute Zurufe von der SPD)

    — nein, nein, das ist mir zu ernst —, will ich Ihnen auch dazu etwas sagen.

    (Zuruf von der SPD: Da sind wir sehr gespannt!)

    In der Ausländerpolitik hat sich gezeigt, daß behutsame Maßnahmen zum Zwecke der Einschränkung der Zahl der Ausländer sehr wohl ihre Wirkung haben können. Ich kann, offen gesagt, die Politik der hessischen Landesregierung nicht verstehen,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann man auch nicht!)

    die auf eine Öffnung angelegt ist und die in ihrer Wirkung dazu führen würde, daß die Zahl der Ausländer in unserem Lande größer wird.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das wissen Sie ja noch gar nicht!)

    Die Bundesregierung tritt für die Integration der Ausländer und für eine Herabsetzung der Ausländerzahl in unserem Lande ein — das hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt —, weil unser Land eben kein Einwanderungsland ist,

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    wie die Frau Kollegin Vollmer es zum Ausdruck gebracht hat, und angesichts der Dichte seiner Bevölkerung auch gar nicht sein könnte. Wir alle kennen doch die großen Probleme, die hinsichtlich der
    Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. September 1984 5929
    Bundesminister Genscher
    Integration bestehen, und zwar für unsere deutschen Mitbürger genauso wie für unsere ausländischen Mitbürger.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Was machen wir denn nun mit dem Nachzugsalter?)

    — Deshalb, Herr Kollege Ehmke, war es richtig, daß wir schon in den 80er Jahren, zu Beginn der 80er Jahre Maßnahmen gegen den Ausländernachzug getroffen haben. Der Anwerbestopp war eine erste solche Entscheidung. Die Einführung der Visa-Pflicht für die türkischen Arbeitnehmer war eine zweite Entscheidung.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Keine gute!) — Sie sagen: „keine gute" Entscheidung.


    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Denken Sie an Asylbewerber!)

    Herr Kollege, wissen Sie eigentlich, was es bedeutet hat, daß im Jahre 1981 200 000 türkische Staatsangehörige zusätzlich in unser Land kamen und nicht mehr integriert werden konnten, daß sie hier ohne Hoffnung leben mußten?

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Dann muß man andere Lösungen finden!)

    Das durften wir uns gegenüber nicht weiterlaufen lassen, und wir durften es auch gegenüber unseren türkischen Mitbürgern so nicht geschehen lassen. Deshalb haben wir die Visa-Pflicht eingeführt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Das weiß ich!)

    Das, Herr Kollege, hat dazu geführt, daß die Zahl der Ausländer in unserem Land zunehmend zurückgeht. Im Jahre 1983 sind mehr als 70 000 türkische Staatsangehörige mehr ausgereist als in unser Land gekommen sind.

    (Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Wer will hier als Ausländer noch leben?)

    Im Jahre 1984 werden mehr als 300 000 ausländische Mitbürger unser Land verlassen, die meisten davon sind türkische Staatsangehörige.
    Hier also wird mit einer behutsamen Ausländerpolitik — ohne Verletzung des freiheitlichen Gehalts unseres Grundgesetzes, ohne Beeinträchtigung unserer christlichen Verantwortung —(Zurufe von der SPD: Na, na!)

    ein Ergebnis erzielt, das im Interesse der Deutschen hier und auch im Interesse der ausländischen Mitbürger bei uns liegt. Das ist eine konsequente, eine freiheitliche Politik. Ich bedaure, daß ausgerechnet in einem Zeitpunkt, in dem eine solche Politik, eine sehr behutsame und verantwortungsvolle Politik — übrigens: bis 1982 von der SPD in dieser Form mitgetragen — ihre Wirkungen zeigt, das Land Hessen auszuscheren versucht und nun wieder öffnet. Das nützt niemandem — ich wiederhole es —: Es nützt weder uns, noch nützt es unseren ausländischen Mitbürgern. Der Tatsache sind wir uns sicher alle bewußt — der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung 1983 gesagt —, daß wir die Leistungen unserer ausländischen Mitbürger bei uns anerkennen und, wie ich hinzufüge, daß wir die Ausländerfrage in einer Weise behandeln müssen, die weder die innere Liberalität unseres Landes noch den Geist unseres Grundgesetzes beschädigt. Das ist eine gemeinsame Verantwortung, der wir uns stellen werden, weil Freiheitspolitik durchgängig sein muß. Wir erkennen diese Verantwortung.
    Ich danke Ihnen.

    (Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)