Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Aufruf des Tagesordnungspunktes 2 mache ich bezüglich der verteilten Tagesordnung auf folgendes aufmerksam. Zu Tagesordnungspunkt 3 — Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Sofortiger Stopp der Türkeihilfe — und Tagesordnungspunkt 6 — Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Wiederherstellung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes in der Fassung der Siebten Novelle — hatte der Ältestenrat Ausschußüberweisung vorgeschlagen. Vorsorglich weise ich darauf hin, daß die Antragsteller in beiden Fällen inzwischen beantragt haben, von der Ausschußüberweisung abzusehen und über die Anträge abstimmen zu lassen.
Auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung weiterhin um den Zusatzpunkt Beratung des Antrags der Fraktion der SPD — Türkei —, Drucksache 10/149, erweitert werden. Der Zusatzpunkt soll zusammen mit Tagesordnungspunkt 3 aufgerufen werden. — Ich höre keinen Widerspruch. Der Bundestag ist damit einverstanden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum Ergebnis der NATO-Konferenz am 9./10. Juni 1983
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe über die NATO-Frühjahrstagung in Paris zu berichten. Die Bundesregierung sieht in der Einladung Frankreichs zur Abhaltung dieser Tagung in der französischen Hauptstadt eine erneute Bekräftigung der Stellung Frankreichs im westlichen Bündnis. Präsident Mitterrand und Premierminister Mauroy haben das in ihren Ansprachen eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht.Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff.So heißt es in der Bonner Friedenserklärung derNATO vom 10. Juni 1982, so bekräftigten es die Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels in Williamsburg, und so steht es im Kommuniqué der NATO-Frühj ahrstagung vom 10. Juni 1983.Das Bündnis des Westens ist ein Bündnis zur Bewahrung des Friedens, ein Bündnis nicht zum Führen oder gar zum vermeintlichen Gewinnen eines Krieges. Es ist ein Bündnis zur Verhinderung eines Krieges in Europa und in allen anderen Teilen des Bündnisgebietes.
Unsere Strategie ist eine Strategie der Kriegsverhinderung. Bewahrung des Friedens — zu diesem Ziel haben sich die Mitgliedsstaaten der NATO verbunden, dafür werden unsere Soldaten ausgebildet, und allein dafür sind sie ausgerüstet. Der Dienst in der Bundeswehr ist Friedensdienst. In diesem Bewußtsein leisten junge Menschen ihren Wehrdienst. Sie haben in diesem Dienst Anspruch auf unsere Anerkennung und auf unsere Solidarität.Das Bündnis will Frieden in Freiheit sichern. Menschenwürde und Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmungsrecht — das sind die Werte, zu deren Schutz wir uns im westlichen Bündnis zusammengeschlossen haben.
Deshalb sprechen wir von einer Gemeinschaft der Werte.Sie rufen „Türkei". Ich sage Ihnen auch an dieser Stelle: Es zeichnet dieses Bündnis aus, daß die Partner der Türkei die dort Verantwortlichen aufrufen, zur Demokratie zurückzukommen, während im Warschauer Pakt die Partner Polens Polen daran hindern, mehr Gewerkschaftsrechte zu schaffen.
Weil wir uns zu Freiheit und Menschenrechten bekennen, sprechen wir von einer Gemeinschaft der Werte in diesem Bündnis.Das bedeutet: Je freiheitlicher unsere Staats- und Gesellschaftsordnung ist, um so verteidigungswürdiger ist sie für unsere Bürger. Freiheit und Gerechtigkeit in unseren Gesellschaften — soziale Gerechtigkeit im Sinne unseres sozialen Rechtsstaatsgebotes — machen die Verteidigungswürdigkeit aus, die den Bürger in Uniform und in Zivil erfüllen muß,
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Bundesminister Genscherwenn er aufgerufen ist, für unsere Staats- und Gesellschaftsordnung einzutreten.Das NATO-Kommuniqué bekräftigt deshalb, daß die Stärke und die Sicherheit der Mitgliedsstaaten auch auf ihrer sozialen Stabilität und auf ihrem Fortschritt beruhen. Für uns gehören soziale Stabilität, Fortschritt und Verteidigungsbereitschaft zusammen. Unser Bekenntnis zur Freiheit und sozialer Gerechtigkeit erklärt, warum unser Bündnis mehr ist als eine Militärallianz alten Stils.Die Wertegemeinschaft des Bündnisses bedeutet auch: Jeder, der sich um den Frieden sorgt, der für den Frieden eintritt, erfährt unsere Achtung und unseren Respekt. So würdigen wir auch die Friedensdiskussion in den Kirchen. Einseitig handelt, wer das öffentliche Eintreten für den Frieden in der DDR lobt, es bei uns aber tadelt. Niemand sollte vergessen, daß die Freiheit, über den richtigen Weg zum Frieden mit allen Mitteln einer demokratischen Auseinandersetzung zu streiten, durch unseren demokratischen Rechtsstaat überhaupt erst möglich wird. Niemand sollte vergessen, daß wir diese Freiheit nur deshalb bewahren können, weil wir Mitglied des Bündnisses sind und unsere Soldaten Friedensdienst für die Freiheit leisten.
Deshalb begrüßen wir auch die Soldaten unserer Verbündeten — die Amerikaner wie die Europäer — als Garanten unserer Freiheit.Wer in der Auseinandersetzung über den richtigen Weg zum Frieden das demokratische Mehrheitsprinzip außer Kraft setzen will, wer in der Auseinandersetzung über den richtigen Weg zum Frieden Gewalt an die Stelle von Überzeugung setzen will, legt die Axt an die Grundlagen unserer Freiheitsordnung.
Aber diese Ordnung ist es gerade, die unser Land erst verteidigungswürdig macht.Unsere Friedensordnung mit ihrem Toleranzgebot verleiht niemandem einen Absolutheitsanspruch auf den einzigen, den richtigen Weg zum Frieden. Das Grundgesetz garantiert die Gewissensentscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, aber das Grundgesetz begründet zuerst die Gewissensentscheidung der Mehrheit unserer jungen Männer für ihren Friedensdienst als Soldat.
Es entspricht unserer parlamentarischen Demokratie, daß hier im Deutschen Bundestag auch in Zukunft die Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik entschieden werden, so wie das z. B. in der Vergangenheit bei der Zustimmung zu beiden Teilen des NATO-Doppelbeschlusses geschehen ist. Die Bundesregierung wird die Aussprache darüber, so wie das mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 9. Juni und mit der heutigen Regierungserklärung geschieht, immer wieder suchen.Herr Präsident, die Erklärung von Paris, über die ich hier zu berichten habe, ist eine Botschaft des Friedens. Sie verbindet den Willen zur Verteidigung und zur Festigkeit mit dem Willen zu Rüstungskontrolle, Abrüstung, Zusammenarbeit und Entspannung. Sie bekräftigt damit die Ziele und die Grundsätze des Harmel-Berichts.Die Erklärung von Paris bestätigt die Einheit des Bündnisses und seine politische Handlungsfähigkeit. Die Mitgliedsstaaten lassen keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, ihre Sicherheit und ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und Freiheit und Gerechtigkeit zu verteidigen. Die Bundesregierung wird das in ihrer Macht Stehende tun, daß niemand unseren deutschen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit in Zweifel ziehen oder gar gefährden kann.Die konsequente Erfüllung der im Bündnis mitformulierten und übernommenen Verpflichtungen ist deshalb Teil unserer außen- und unserer sicherheitspolitischen Glaubwürdigkeit. Sie ist ein unverzichtbares Element der gemeinsamen Anstrengungen, die gemeinsame Sicherheit zu bewahren.Die Erklärung von Paris bekräftigt den Willen des Bündnisses, durch Verhandlungen Gleichgewicht auf möglichst niedrigem Niveau herzustellen. Das Ziel der Bundesregierung, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen, ist das gemeinsame Ziel des Bündnisses. Es bleibt dabei — die Pariser Erklärung stellt es noch einmal fest, und sie bestätigt damit voll die Sicherheitspolitik der Bundesregierung —: Verteidigung und Rüstungskontrolle sind integrale Bestandteile unserer Sicherheitspolitik. Verteidigung und Rüstungskontrolle!Das Bündnis formulierte in Paris eine Strategie für den Frieden. Elemente dieser Strategie sind Dialog und Zusammenarbeit, das Bemühen um wirkliche Entspannung, Gewaltverzicht, Verteidigung und Rüstungskontrolle als integrale Bestandteile unserer aktiven, auf Friedenssicherung gerichteten Politik. Diese Strategie des Friedens geht von der Grundvorstellung aus, daß wir unsere Beziehungen zum Osten weiter positiv entwickeln wollen. Die Feststellung im Kommuniqué, daß es nicht zuletzt in Spannungszeiten wichtig ist, den Dialog aufrechtzuerhalten, unterstreicht den gemeinsamen Willen, alle Möglichkeiten zur Überwindung der gegenwärtigen schwierigen internationalen Lage zu nutzen, im Gespräch mit dem Osten immer wieder geduldig um Fortschritte zu ringen.Der Besuch, den der Bundeskanzler und ich im Juli der Sowjetunion abstatten werden, ist Ausdruck unserer Dialogbereitschaft. Das gleiche gilt für die Bereitschaft des amerikanischen Präsidenten zu einem wohlvorbereiteten Treffen mit dem sowjetischen Generalsekretär Andropow.Der Verbesserung der West-Ost-Beziehungen dient unsere Zusammenarbeit mit den Staaten des Warschauer Pakts auf der Grundlage der geschlossenen Verträge. Wichtig für die positive Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses sind die wirtschaftlichen Beziehungen. Deshalb haben die Außenminister der NATO in Paris festgestellt, daß der Handel auf der Grundlage handelspolitisch vernünftiger Bedingungen und gegenseitigen Vorteils, der eine präferentielle Behandlung der Sowjet-
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Bundesminister Genscherunion vermeidet, zu konstruktiven West-Ost-Beziehungen beiträgt. Wir wollen keinen Handelskrieg mit dem Osten.Die Anerkennung der politisch stabilisierenden Rolle der West-Ost-Handelsbeziehungen findet dort ihre Grenze, wo sie die militärische Stärke der Sowjetunion erhöhen würde.Von besonderer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland ist die Erwartung der Bündnispartner, daß die Bemühungen unseres Landes um weitere praktische Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen und um Verbesserungen für Reisende in beide Richtungen, Berlin und dem deutschen Volk in beiden deutschen Staaten unmittelbar zugute kommen. Die Bündnispartner machen sich damit die nationalen Interessen der Deutschen zu eigen. Sie anerkennen, daß das deutsch-deutsche Verhältnis Auswirkungen auf das West-Ost-Verhältnis in seiner Gesamtheit hat. Für die Bundesregierung ist diese Haltung der Verbündeten Ermutigung, fortzufahren in ihren Anstrengungen, daß von den deutsch-deutschen Beziehungen positive und nicht negative Impulse für das West-Ost-Verhältnis ausgehen. Wir wissen, daß wir damit deutsche und europäische Interessen wahrnehmen.Von großer politischer Bedeutung für die Lage nicht nur in Europa, sondern überall in der Welt ist das erneute und uneingeschränkte Bekenntnis der Bündnispartner zu dem Verzicht auf Gewalt. Dieses Bekenntnis gewinnt zusätzliche Aktualität durch die Vorschläge der Staaten des Warschauer Pakts für den Abschluß eines Gewaltverzichtsabkommens, wie sie bei dem Gipfeltreffen des Warschauer Pakts in Prag am 6. Januar 1983 gemacht worden sind. Die Bündnispartner machen klar, daß die Verpflichtung, in den zwischenstaatlichen Beziehungen keine Gewalt anzuwenden, zwischen allen Staaten ohne Ausnahme zu respektieren ist. Das bedeutet: auch zwischen Staaten desselben Bündnisses. Damit erteilt das Bündnis der Breschnew-Doktrin eine klare Absage, d. h. der Verzicht auf die Drohung mit Gewalt muß sich auch im Verhältnis und im Verhalten der Sowjetunion gegenüber der Volksrepublik Polen bewähren.
Zum Gewaltverzicht gehört nach Auffassung des Bündnisses auch die Beendigung fortdauernder Gewaltanwendung in Afghanistan.
In dem Hinweis, daß Mäßigung und Verantwortungsbewußtsein seitens der Sowjetunion von wesentlicher Bedeutung sind für die konstruktiven Beziehungen, welche die Bündnispartner mit der Sowjetunion anstreben, liegt zugleich das Angebot, auf dieser Grundlage das West-Ost-Verhältnis zu verbessern und auszubauen.In der Tat: Mäßigung und Verantwortungsbewußtsein sind die positiven Aspekte des Verzichts auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Sie gehören zur Respektierung der Souveränität der anderen Staaten und dem Bekenntnis zu einer gleichberechtigten, einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit unter den Staaten. Ein solches Verhalten wird in einer Welt, die von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt wird, immer dringender für die Sicherung des Friedens, aber auch für die gemeinsame Entwicklung. Die großen Zukunftsaufgaben der Menschheit, die Überwindung von Hunger, Armut und Krankheit in allen Teilen der Welt und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen weltweit, können nur gemeinsam bewältigt werden.Ein Verhältnis der Gleichberechtigung und der Zusammenarbeit ist auch unverzichtbare Voraussetzung für die von der Bundesregierung gewünschte und gewollte europäische Friedensordnung, in der durch Überwindung der Trennung Europas auch die Probleme der Trennung der Deutschen bewältigt werden können; denn die Erkenntnis, daß Deutschlandpolitik europäische Friedenspolitik ist, muß für das gesamte West-Ost-Verhältnis ihre Gültigkeit haben.Zu den internationalen Rahmenbedingungen unserer Sicherheit gehört auch die Lage außerhalb des westlichen Bündnisses und außerhalb des Warschauer Pakts. Die Bündnispartner haben deshalb in Paris ihre Aufmerksamkeit auch der Lage in der Dritten Welt zugewendet. Wir wollen, daß die Staaten der Dritten Welt sich politisch, wirtschaftlich und sozial ohne Einmischung von außen frei entwickeln können.
In dem Bekenntnis zur weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen und zur Forderung nach Stabilität und Wohlergehen bekräftigt das Bündnis seine Verantwortung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Dritten Welt.Ein Vergleich der Aufwendungen der Staaten des westlichen Bündnisses für die Dritte Welt mit den Aufwendungen des Warschauer Pakts zeigt, daß die Bekenntnisse, die aus dem NATO-Kommuniqué sprechen, nicht nur leere Worte sind.So gab z. B. die Sowjetunion nach Angaben des Londoner Instituts für strategische Studien 1980 für Rüstung 13,5% des Bruttosozialprodukts aus, verglichen mit 3,2% in der Bundesrepublik Deutschland.
Für Entwicklungshilfe wandte die Sowjetunion hingegen nur 0,14 % des Bruttosozialprodukts auf, während die Bundesrepublik Deutschland allein für die staatliche Entwicklungshilfe 0,43 % des Bruttosozialprodukts bereitstellte.Noch deutlicher ist der Kontrast, wenn man eine Pro-Kopf-Berechnung anstellt: In der Bundesrepublik Deutschland lagen 1980 die Ausgaben für die öffentliche Entwicklungshilfe bei 57 Dollar pro Kopf, verglichen mit nur 6 Dollar in der Sowjetunion. Wer zu den öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen noch hinzuzählt, was an privaten Investi-
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Bundesminister Genschertionen aus den Staaten des westlichen Bündnisses in die Dritte Welt geht und was unsere Märkte an Absatzmöglichkeiten für Exporte aus den Staaten der Dritten Welt bieten, dem wird zugleich deutlich werden, wer hier einen Nachholbedarf an Werken des Friedens in der Welt hat.
Die NATO ruft zur Respektierung von Souveränität und echter Blockfreiheit auf. Die Unterstützung wirklicher Blockfreiheit ist die Ablehnung einer Politik der Einflußzonen der Dritten Welt. Das Bündnis erkennt damit den stabilisierenden Beitrag der Blockfreienbewegung zur Sicherung des Weltfriedens und auch zur Wahrung unserer eigenen Interessen an.Herr Präsident, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, wie sie auf der Madrider Konferenz verhandelt werden, sind ein Beitrag zur Stabilität in Europa. Die Bundesregierung begrüßt, daß das Bündnis in Paris dem Madrider KSZE-Folgetreffen eine erhebliche Bedeutung zugemessen hat. Wir wollen mit der Fortsetzung des KSZE-Prozesses die in der Schlußakte von Helsinki übernommenen Verpflichtungen zur Verbesserung der Zusammenarbeit in Europa und zur Stabilisierung des WestOst-Verhältnisses verwirklichen. Wir wollen als Ziel eine europäische Friedensordnung, wie sie in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers gefordert wurde. Das Bündnis bestätigt die Auffassung der Bundesregierung, daß der Vorschlag der neutralen und blockfreien Staaten für ein Schlußdokument in Madrid eine geeignete Grundlage für den Abschluß der Konferenz unter der Voraussetzung begrenzter und angemessener Änderungen darstellt. Wir begrüßen ausdrücklich, daß sich die neutralen und ungebundenen Staaten positiv zu den westlichen Verbesserungsvorschlägen eingestellt haben und daß inzwischen auch Zustimmung aus dem Warschauer Pakt erklärt worden ist. Wir appellieren an die Sowjetunion, sich einer konstruktiven Erörterung der maßvollen westlichen Vorschläge nicht länger zu verschließen. Es sollte möglichst bald ein substantielles und ausgewogenes Schlußdokument verabschiedet werden, das greifbare Fortschritte für die Menschen bringt und das ein präzises Mandat für eine Konferenz über Abrüstung in Europa erteilt. Damit erhielte der mit der Schlußakte von Helsinki eingeleitete KSZE-Prozeß den dringend notwendigen neuen Impuls. Gerade in schwieriger, in einer konfliktgeladenen Zeit müssen wir den KSZE-Prozeß zum Wohle der Menschen und der Völker im geteilten Europa stärken.Eine Konferenz über Abrüstung in Europa könnte einen bedeutsamen Beitrag zur Vertrauensbildung in ganz Europa — das bedeutet vom Atlantik bis zum Ural — bringen. Die Bundesregierung hat sich seit langem nachhaltig für den französischen Vorschlag für eine solche Konferenz ausgesprochen. Wir halten es für notwendig, daß diese Konferenz als integraler Bestandteil des KSZE-Prozesses Verhandlungen aufnimmt und nachprüfbare, militärisch bedeutsame und verbindliche Verpflichtungen für ganz Europa verabschiedet.Die Pariser Tagung hat unterstrichen, daß die Bündnispartner für alle Bereiche vertrauensbildende Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz bei Streitkräften und militärischen Aktivitäten, zur Beseitigung von Furcht und Mißtrauen und damit zur Erleichterung von Abrüstungsverhandlungen befürworten.Die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen für Abrüstung hat im vergangenen Jahr die Bedeutung der vertrauensbildenden Maßnahmen hervorgehoben. Inzwischen hat das westliche Bündnis in den START-Verhandlungen ebenso wie in den Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen Vorschläge für vertrauensbildende Maßnahmen eingeführt. Es wurden außerdem für den nuklearen Bereich für die Kommunikation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion neue Vorschläge unterbreitet. Das Bündnis hat — das haben die Diskussionen in Paris deutlich ergeben — seine Überzeugung bekräftigt, daß Nachprüfbarkeit und Durchschaubarkeit, Erkennbarkeit wichtige Voraussetzungen für die Stabilisierung des West-OstVerhältnisses und für wirkliche Abrüstungsergebnisse sind. Nichts führt an der Erkenntnis vorbei: Wer nichts zu verbergen hat, kann sich damit einverstanden erklären, daß die Einhaltung von Abrüstungsvereinbarungen überprüft wird.
Wer aber Transparenz und Nachprüfbarkeit verweigert, setzt sich dem Verdacht aus, daß er etwas verbergen will.Die Vorbereitung des NATO-Doppelbeschlusses und die öffentliche Diskussion seiner Durchführung in seinen beiden Teilen sind Ausdruck der Transparenz und der Offenheit unserer westlichen Gesellschaften.
Die vor der Weltöffentlichkeit verschwiegene und auch begonnene Stationierung der sowjetischen Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen beweist den Unterschied zwischen einer demokratischen und einer kommunistischen Gesellschaft.
Sie verdeutlicht zugleich, welches Maß an Transparenz und Vertrauensbildung der Westen erbringt und wieviel hier die Sowjetunion und ihre Verbündeten noch zu tun haben, um das Mißtrauen in neue, geheime, uns überraschende Rüstungsentscheidungen abzubauen.
Die Sowjetunion ist aufgerufen, die sich aus dem Selbstverständnis unserer freien Gesellschaften ergebende Sicherheit für alle Staaten der Welt vor Überraschungsrüstungen mit einem ebensolchen der Vertrauensbildung dienenden Verhalten zu beantworten.Herr Präsident, das Bündnis stellt in der Pariser Schlußerklärung fest, daß Verteidigung und Rüstungskontrolle integrale Bestandteile unserer Sicherheitspolitik sind. Dem entspricht, daß wir die Verhandlungen in allen Abrüstungsbereichen mit
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Bundesminister Genscherdem Ziel führen, das Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau zu stabilisieren.Wir wollen die strategischen Rüstungen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nicht nur begrenzen, wir wollen sie reduzieren. Sie sollen signifikant geringer sein.
Die jüngsten amerikanischen Vorschläge bei den START-Verhandlungen sind geeignet, Bewegungen in diese Verhandlungen zu bringen, wenn die Sowjetunion in dem gleichen positiven Geist reagiert.Wir wollen Truppenreduzierungen in Mitteleuropa durch die MBFR-Verhandlungen in Wien erreichen. Die Besorgnisse wegen der Gefahren der nuklearen Rüstung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es vor allem die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes in Europa ist, die eine glaubwürdige nukleare Abschreckung derzeit noch unverzichtbar macht. Wenn es gelänge, die Instabilität zu beseitigen, die sich aus dem sowjetischen Übergewicht ergibt, dann würden sich neue Perspektiven der Abrüstung auch für den nuklearen Bereich ergeben können. Vor allem dürfen wir angesichts der verständlichen und angesichts der berechtigten Sorgen über die atomare Rüstung nicht vergessen, welche Gefahren als Folge der technischen Entwicklung in unserer Zeit auch von der konventionellen Rüstung ausgehen. Die Vernichtungskraft der modernen konventionellen Waffen übertrifft die der Waffen des Zweiten Weltkrieges um ein Vielfaches.
Es darf nicht zur Verharmlosung der Gefahren auch eines konventionellen Krieges kommen. Deshalb bedeutet für uns Gewaltverzicht: kein Ersteinsatz atomarer, aber auch kein Ersteinsatz konventioneller Waffen. Wir wollen weder einen atomaren noch einen konventionellen Krieg.
Noch sind die MBFR-Verhandlungen in Wien das einzige Forum für die Kontrolle der konventionellen Rüstung zwischen den Bündnissen. Die Bundesregierung hält diese Verhandlungen trotz ihres auf Mitteleuropa beschränkten Ansatzes für wichtig und setzt sich gemeinsam mit ihren Bündnispartnern nachdrücklich für Verhandlungsfortschritte ein. In Wien sind sich West und Ost darüber einig, daß ein Abkommen gleiche kollektive Höchststärken für beide Seiten beim Personal der Land- und Luftstreitkräfte im Raum der Reduzierungen vorsehen soll. Die Meinungsverschiedenheiten, die einer Einigung noch im Wege stehen, sind bei politischem Willen aller Beteiligten zu überwinden.
Aber MBFR kann wegen seiner räumlichen Begrenzung auf Mitteleuropa nur einen beschränkten Beitrag zur Stabilisierung des Verhältnisses derKräfte im konventionellen Bereich in Europa leisten. Um ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural, in Rüstungskontrollverhandlungen einzubeziehen, brauchen wir eben eine Konferenz über Abrüstung in Europa.Schon vertrauensbildende Maßnahmen als Ergebnis einer ersten Konferenzphase wären ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Sicherheitslage in ganz Europa. Sie würden gleichzeitig auch günstige Voraussetzungen für Fortschritte in den eigentlichen Abrüstungsverhandlungen schaffen. Langfristiges Ziel muß ein ausgewogenes Verhältnis der Kräfte auch im konventionellen Bereich in ganz Europa sein.Wir wollen das Verbot der Entwicklung, der Produktion und der Lagerung chemischer Waffen sowie die Vernichtung aller vorhandenen Bestände und Produktionsmittel. Wir geben uns nicht damit zufrieden, daß der Einsatz chemischer Waffen schon durch das Genfer Protokoll von 1925 verboten ist. Es wird auch die Nichtanwendung dieser Waffen nicht dadurch garantiert, daß unser Land schon 1954 auf die Herstellung dieser Waffen verzichtet hat. Diese Massenvernichtungsmittel müssen weltweit beseitigt werden.
Im Abrüstungsausschuß der Vereinten Nationen in Genf kann das von uns gewünschte Ziel erreicht werden, wenn die Sowjetunion daran mitwirkt, Inspektionsmaßnahmen und Möglichkeiten zur Nachprüfung der Einhaltung des getroffenen Verbots auszuarbeiten. Hier — bei Inspektionen und Nachprüfbarkeit — liegt das Schlüsselproblem dieser Verhandlungen. Gerade in diesem Bereich genügen nationale Kontrollen für eine zuverlässige Nachprüfung nicht; es sind internationale Inspektionen und Nachprüfungen vor Ort unerläßlich.Die Bundesregierung hat wiederholt die Bedeutung eines umfassenden nuklearen Teststopps hervorgehoben. Gerade in diesem besonders sensitiven Bereich ist eine zuverlässige Verifikationsregelung unabdingbar. Daher hält die Bundesregierung Fortschritte in der Arbeitsgruppe des Abrüstungsausschusses, die 1982 für die Problematik der Verifikation und Einhaltung eines umfassenden nuklearen Teststopps eingesetzt wurde, für ausschlaggebend. Wir werden hier wie auch in der Seismologen-Expertengruppe in Genf unseren Beitrag leisten.Wir wollen einen baldigen Abschluß der Verhandlungen über das Verbot radiologischer Waffen.Im Genfer Abrüstungsausschuß setzen wir uns für Vereinbarungen ein, die einen Rüstungswettlauf im Weltraum wirksam verhindern.Die Bundesrepublik Deutschland hat schon vor 29 Jahren, 1954, ihren Verzicht auf ABC-Waffen erklärt. In konsequenter Fortführung ihrer Politik hat die Bundesregierung 1972 das B-Waffen-Übereinkommen unterzeichnet, den ersten multilateralen Vertrag seit dem Zweiten Weltkrieg, durch den eine Waffenart in ihrer Gesamtheit geächtet wurde. Am 7. April 1983 sind wir durch Hinterlegung der Ratifi-
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Bundesminister Genscherkationsurkunden Vertragspartei des B-WaffenÜbereinkommens geworden. Die darin vorgesehene Konsultations- und Beschwerdemöglichkeit bei dem Verdacht einer Vertragsverletzung ist nach unserer Auffassung noch nicht befriedigend. Wir setzen uns deshalb dafür ein, auf einer Sonderkonferenz angemessene Verifikationsregelungen zum B-Waffen-Übereinkommen auszuarbeiten.Herr Präsident, meine Damen und Herren, Aufmerksamkeit und Sorge unserer Bürger konzentrieren sich auf die Verhandlungen über die atomaren Mittelstreckenraketen; sie beschäftigen uns seit Ende der 70er Jahre. Nach wiederholten Aussprachen im Deutschen Bundestag, so am 8. und 9. März, am 4. Juli und am 11. Dezember 1979, stimmte die Bundesregierung dem NATO-Doppelbeschluß am 12. Dezember 1979 zu.
Dieser Beschluß fand am 14. Dezember 1979 nach der von mir abgegebenen Regierungserklärung die Unterstützung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages.Es muß zum NATO-Doppelbeschluß festgestellt werden: Erstens. Nicht der Westen, sondern die Sowjetunion hat mit der Mittelstreckenrakete SS 20 eine neue Kategorie der Massenvernichtungsmittel eingeführt.
Uns bedrohen nicht amerikanische Mittelstreckenraketen, die noch gar nicht aufgestellt sind, sondern sowjetische SS-20-Raketen, die in immer größerer Zahl auf uns und die anderen Teile Westeuropas gerichtet werden. Sie wollen wir durch Verhandlungen beseitigen.Zweitens. Der Doppelbeschluß von 1979 ist der Versuch, durch Verhandlungen zu vermeiden, daß aus dieser sowjetischen Vorrüstung automatisch ein neuer Rüstungswettlauf wird.Drittens. Wir wollen den gänzlichen Verzicht auf sowjetische und auf amerikanische landgestützte Mittelstreckenraketen. Dieser gänzliche Verzicht dient dem Frieden und den Interessen der Völker Europas am besten.Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —Zurufe von den GRÜNEN)Viertens. Wir betreiben keine Politik des Alles oder Nichts; deshalb unsere Bereitschaft, auch auf ein Zwischenergebnis einzugehen. Wir sind bereit, auf einen teilweisen Verzicht der Sowjetunion auf die schon stationierten SS 20 mit einem teilweisen Verzicht auf die Nachrüstung zu antworten. Wir wollen konkrete Verhandlungsergebnisse. Jede schon stationierte sowjetische Rakete, die durch Verhandlungen beseitigt wird, jede amerikanische Rakete, die deshalb hier weniger stationiert werden muß, ist ein Gewinn für uns alle, im Westen und im Osten.
Fünftens. Die westlichen Verhandlungsangebote, sowohl das Angebot einer beiderseitigen Null-Lösung wie das eines Zwischenergebnisses, sind imBündnis gemeinsam erarbeitet worden, und sie werden von den Vereinigten Staaten entsprechend den Beschlüssen im Bündnis bei den Verhandlungen mit der Sowjetunion vertreten. Wer die Verhandlungsziele des Westens bei den Genfer Verhandlungen als gegen europäische Interessen gerichtet oder sie als Beweis angeblicher amerikanischer Verhandlungsunwilligkeit denunziert, der führt die Öffentlichkeit in unseren Ländern irre.
Wir sind bereit, jeden ernsthaften sowjetischen Vorschlag zu prüfen und zu beantworten.
Sechstens. Die Entscheidung über die Stationierung ist 1979 mit dem Doppelbeschluß getroffen worden.
In der Regierungserklärung vom 14. Dezember 1979 heißt es — ich zitiere wörtlich —:Das Vereinigte Königreich, Italien und die Bundesrepublik Deutschland haben schon jetzt der Dislozierung auf ihrem Boden, zu der es in drei bis vier Jahren kommen wird, zugestimmt.Das ist damals bei keiner Fraktion auf Widerstand gestoßen.
Die Pariser NATO-Erklärung vom 10. Juni 1983 stellt fest — ich zitiere wiederum —:Wenn konkrete Verhandlungsergebnisse ausbleiben, werden die Dislozierungen, wie geplant, beginnen, wie das bereits im Dezember 1979 entschieden worden ist.Die Bundesregierung steht zu der damals übernommenen Verpflichtung.
Siebtens. Die Stationierung kann ganz oder teilweise vermieden werden, wenn die Sowjetunion ganz oder teilweise auf ihre Vorrüstung verzichtet. Wenn es zu einem konkreten Verhandlungsergebnis kommt, wird der Westen seinen Nachrüstungsbedarf im Sinne des Doppelbeschlusses prüfen. Der Schlüssel für den Erfolg der Verhandlungen liegt in Moskau.Achtens. Es war 1979 die Auffassung der Bundesregierung und der Fraktionen des Deutschen Bundestages, daß die französischen und britischen Systeme nicht berücksichtigt werden, weil sie nach Zweckbestimmung, Struktur und Umfang nicht bestimmt und nicht geeignet sind, die sowjetische Mittelstreckenbedrohung auszugleichen. An dieser Beurteilung hat sich für die Bundesregierung und für das Bündnis bis heute nichts geändert. Die damals maßgeblichen Gründe bestehen auch heute fort.
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Bundesminister GenscherNeuntens. Die Bedrohung Westeuropas und anderer Regionen der Welt, die der Sowjetunion benachbart sind, schafft für Westeuropa die Gefahr der Abkopplung von den USA und für alle betroffenen Regionen die Gefahr atomarer Erpressbarkeit. Der Doppelbeschluß der NATO wurde im europäischen Interesse gefaßt und nicht in erster Linie im Interesse der USA. Die Europäer würden ihre Sicherheit verspielen, wenn ihre Bereitschaft, das für die eigene Sicherheit Erforderliche zu tun, geringer wäre als der Wille der Vereinigten Staaten, zur Wahrung der gemeinsamen Sicherheit beizutragen.
Zehntens. Konkrete Ergebnisse bei den Mittelstreckenverhandlungen können nur dann erreicht werden, wenn für die Sowjetunion kein Zweifel besteht, daß der Westen mit Festigkeit an beiden Teilen des Doppelbeschlusses festhält. Wer vom NATO-Doppelbeschluß abrückt, wer einen seiner beiden Teile aufgibt, der gefährdet die Abrüstungsverhandlungen in Genf.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden: die Mittelstreckenverhandlungen in Genf eröffnen die große Chance, zum ersten Mal eine ganze Kategorie von Massenvernichtungsmitteln zu beseitigen. Das wollen die Völker Europas.Uns bedrückt es, noch immer unter der sowjetischen SS-20-Bedrohung leben zu müssen, wie es auch die Völker in Ost-Asien und in anderen Regionen der Welt bedrückt.Die ASEAN-Staaten empfinden das, und die zustimmung des japanischen Ministerpräsidenten zu der sicherheitspolitischen Erklärung von Williamsburg war doch nicht Ausdruck der Veränderung des Charakters dieser Gipfelbegegnung. Nein, diese Zustimmung des japanischen Ministerpräsidenten ist Ausdruck der zunehmenden Sorge auch Japans wegen der sowjetischen SS-20-Bedrohung auch gegenüber Ost-Asien.Unser Ziel bleibt es, die Anhäufung atomarer Potentiale abzubauen und sie nicht zu vergrößern.Der NATO-Doppelbeschluß verfolgt dieses Ziel. 1980 hat die NATO in Ausführung des NATO-Doppelbeschluses 1 000 atomare Sprengköpfe aus Europa abgezogen, leider bisher ohne eine entsprechende sowjetische Gegenleistung.Die Möglichkeit, weitere atomare Sprengköpfe in diesem Jahr abzuziehen, wird geprüft. Die Bereitschaft der Sowjetunion zu Vereinbarungen über die Reduzierung atomarer Waffen kürzerer Reichweite könnte diese Entwicklung beschleunigen.Das Bündnis geht in seinen Entscheidungen vom Grundsatz gleicher Sicherheit aus. Der Wille, dieses Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau zu schaffen, ist die Absage an jeden Rüstungswettlauf.Einseitige Abrüstung allerdings kann bestehendes Gleichgewicht gefährden oder vorhandene Überlegenheit weiter verschärfen. Wir wissen, daß der Grundsatz gleicher Sicherheit auch die berechtigten Interessen der anderen Seite berücksichtigen muß. Aber wir wissen auch, daß die Hinnahme von Überlegenheit der anderen Seite in Europa nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit schaffen würde.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Chance, die 80er Jahre zu einem Jahrzehnt der Abrüstung zu machen, ist noch immer gegeben. Die Verhandlungen über die strategischen Waffen, über die Mittelstreckenwaffen, über Truppenreduzierungen in Mitteleuropa, die Einsetzung einer Europäischen Abrüstungskonferenz und schließlich im Abrüstungsausschuß der Vereinten Nationen bieten dazu die Möglichkeit. Niemals zuvor wurde in solcher Breite zwischen West und Ost international über Rüstungskontrolle und Abrüstung verhandelt.Die Bundesregierung bemüht sich, in allen diesen Verhandlungen positive Impulse für Fortschritte zu geben. Wir tun das in dem Bewußtsein, daß Deutsche diesseits und jenseits der Grenze leben, die mitten durch Europa geht. Wir tun es im Bewußtsein unserer geschichtlichen Verantwortung für den Frieden in Europa. Unsere Politik ist seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland Friedenspolitik. Wer unser Land besucht, wird feststellen: die Deutschen wollen nichts anderes, als in Frieden leben und arbeiten. Wir wollen mit allen Völkern in guter Nachbarschaft leben.Wir haben uns mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft und im westlichen Bündnis entschieden für die Gemeinschaft der westlichen Demokratien. Die Freundschaft mit den Vereinigten Staaten ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Bindungen. Das sind Grundentscheidungen unseres Landes. In beiden Gemeinschaften, in der NATO und in der Europäischen Gemeinschaft, arbeiten wir als ein gleichberechtigtes Mitglied mit unseren Partnern zusammen. Als ein Land im Herzen Europas schaffen wir mit unserer Zugehörigkeit zum Westen politisch, wirtschaftlich und militärisch Stabilität in Europa.Kraft und Wirksamkeit dieser Gemeinschaften beruhen auf gegenseitigem Vertrauen. Wer unsere Mitgliedschaft in diesen Gemeinschaften in Zweifel zieht, wer das Vertrauen zu den Vereinigten Staaten von Amerika untergräbt, wer eine Neutralisierung der Bundesrepublik Deutschland betreibt, der gefährdet unsere Sicherheit, und der gefährdet die Stabilität in Europa.
Unser Ringen um einen Abbau des West-Ost-Gegensatzes und unser Bemühen um die Schaffung einer europäischen Friedensordnung dürfen nicht durch einen Marsch der Bundesrepublik Deutschland in die Selbstisolierung zunichte gemacht werden. Jeder Schritt auf dem Wege in die Neutralisierung wäre ein Schritt in die Selbstisolierung.Wir wissen: Die heute noch unverzichtbare Strategie der Abschreckung — unverzichtbar, weil nur sie unter den gegebenen Verhältnissen einen Krieg verhindern kann — kann nicht für alle Zeit die
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698 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Genscherletzte Antwort auf die Frage nach Sicherheit in Europa sein.
Deshalb wollen wir an Stelle des Nichtkrieges durch Abschreckung eine auf Vertrauen gegründete Friedensordnung in Europa schaffen. Aber eben diese Friedensordnung würde gefährdet, wenn die Bundesrepublik Deutschland ihre Zugehörigkeit zum Westen aufgeben und den Platz zwischen West und Ost suchen wollte.
— Daß keiner es will, kann j a wohl niemand ernsthaft behaupten, Herr Kollege. Ihnen persönlich unterstelle ich das j a nicht.Wir würden auf diese Weise selbst die Ursachen neuer Rivalität schaffen, wir würden zum Objekt west-östlicher Rivalität, wir würden mit der Neutralisierung zum Spielball der Interessen fremder Mächte werden. Nur als verläßlicher Teil des Westens und mit dem Willen zu aufrichtiger Zusammenarbeit mit dem Osten können wir auch in Zukunft die Politik in Europa mitgestalten.Wir handeln in dem Bewußtsein, daß nur auf diesem Wege unsere nationalen Interessen wirksam wahrgenommen werden können, denn Deutschlandpolitik kann für uns nur bedeuten europäische Friedenspolitik.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat eben von der Einigkeit gesprochen, die die Sitzung des NATO-Rates in Paris in der vorigen Woche gebracht hat. Der Bundeskanzler hat das in der vorigen Woche für Williamsburg erklärt. Die Verteidigungsminister haben die Geschlossenheit der Regierungen festgestellt, als sie sich im Frühjahr in Portugal trafen.Wenn die Geschlossenheit im westlichen Bündnis die Voraussetzung für einen Erfolg der Verhandlungen in Genf ist, wie diese Regierung oft wiederholt hat, ist j a alles in Ordnung; dann brauchen wir uns für Genf j a keine Sorgen mehr zu machen.
Die dreifache Wiederholung der westlichen Regierungen, wie einig sie sind, sollte genügen. Aber vielleicht genügt sie doch nicht.Jetzt wird darüber geredet, daß die SPD die amerikanische Verhandlungsposition erschwere.
Herr Dregger hat sogar von einem „Dolchstoß" gesprochen. Dazu ist zweierlei zu sagen.Erstens. Wenn die Haltung der deutschen Opposition ein Dolchstoß ist, dann ist die Zweidrittelmehrheit des amerikanischen Repräsentantenhauses zugunsten eines „freeze" ein besonders qualifizierter Dolchstoß.
Der Unterschied zwischen Washington und Bonn besteht darin, daß es keinem Menschen in der amerikanischen Administration eingefallen ist, das Votum der gewählten Vertreter des amerikanischen Volkes in einer Weise abqualifizieren zu wollen, als ob Gleichschaltung etwas Gutes wäre.
Wenn im Zusammenhang mit der Nachrüstung autoritäre Töne kommen, so ist im Interesse der Demokratie davor zu warnen.
Die Opposition wird sich jedenfalls nicht den Mund verbieten lassen, hier genauso wenig wie in den Vereinigten Staaten.
Zweitens. Die Koalition vertritt die Auffassung, daß sie als legal gewählte Regierung, die schon während des Wahlkampfes keinen Zweifel an ihrer Haltung gelassen hat, das Recht habe, zur Stationierung j a zu sagen, und das müsse respektiert werden. Auf der einen Seite, wenn es um Genf geht, soll die Opposition für die Verhandlungen in Mitverantwortung genommen werden; auf der anderen Seite, wenn es um die Stationierung geht, soll die Verantwortung der Regierung uneingeschränkt sein. So geht das nicht! Die Verantwortung der Opposition steht nicht zur Verfügung der Regierung zum An- und Abschalten, wie es gerade beliebt.
Man kann die SPD nicht an einem Tage mit einer neuen Dolchstoßlegende diffamieren und am nächsten Tage an die Gemeinsamkeit der Demokraten appellieren.
Wer sich so verhält, hat entweder keine Vorstellungen von den Belastungen, die dieser Herbst für uns alle bringen kann,
oder aber er bereitet bewußt eine Verschärfung der Lage vor, für die dann allerdings auch die Verantwortung klar wäre.
Wir werden genug zu streiten haben, aber niemand sollte zusätzlich Gräben durch emotionalisierende Schärfen aufreißen.
Die SPD kennt ihre Verantwortung für den NATO- Doppelbeschluß.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 699
BahrWir laufen davor nicht weg.
— Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie es eigentlich nach Ihrer Haltung wagen können, nicht darüber froh zu sein, was ich hier sage. — Sie werden das aus dem Papier entnommen haben, das nach einer ganztägigen Klausursitzung meiner Fraktion veröffentlicht worden ist. Uns ist dieser Beschluß nicht leichtgefallen, im Dezember 1979 nicht und nicht im April letzten Jahres auf unserem Münchner Parteitag oder Ende letzten Jahres in Dortmund. Aber wir haben diese Linie durchgehalten; sie gilt auch heute. Ich beziehe mich auf das, was Willy Brandt dazu hier in der Debatte zur Regierungserklärung ausgeführt hat.Wir waren von Anfang an gegen jede Automatik der Stationierung. Wir waren für eine radikale Reduktion der SS 20 mit dem Ziel, die Stationierung neuer amerikanischer Raketen überflüssig zu machen. Das war unser Null von allem Anfang an. Das schloß kein Null auf sowjetischer Seite ein. Diese sorgsam abgewogene Position entsprach insoweit sehr genau dem Beschluß, den die NATO 1979 wenige Tage nach unserem Beschluß formuliert hat. In dem NATO-Beschluß wird festgestellt, daß der Ausbau der sowjetischen Mittelstreckenrüstung im Bündnis ernste Besorgnis hervorgerufen habe und daß diese Entwicklungen, „falls sie fortdauern sollten, die bei den interkontinentalen strategischen Systemen erzielte Stabilität aushöhlen könnten".Es ist im Doppelbeschluß keineswegs davon die Rede, daß ein erfolgreiches Verhandlungsergebnis die Beseitigung der gesamten Mittelstreckenrüstung der Sowjetunion seit den 60er Jahren verlangt. Es ging um den bedrohlichen Ausbau durch die zusätzlichen und neuartigen SS 20. Deswegen hat die frühere Bundesregierung unter Helmut Schmidt die amerikanische Formulierung der NullLösung, die sich Null auf beiden Seiten zum Ziel gesetzt hatte, zu Recht als extreme Ausgangsposition bezeichnet, und Strauß hat sie zu Recht irreal genannt.Wenn die gegenwärtige Bundesregierung versucht, diese Eröffnungsposition mit dem Hinweis zu retten, man könne kein sowjetisches Monopol akzeptieren, so ist das angesichts aller westlichen Potentiale nicht nur absurd, sondern es verläßt vor allem die Grundlage des NATO-Doppelbeschlusses.
Das Bündnis hat im Dezember 1979 die Stabilität gesehen, auch so formuliert, und hat mit eigenen neuen Waffensystemen gedroht, falls der Aufbau der sowjetischen Mittelstreckensysteme fortgesetzt wird. Von Null auf sowjetischer Seite war keine Rede, 1979 nicht und nicht 1980. Und als wir im Sommer 1981 anfingen, von den Voraussetzungen zu sprechen, unter denen die Nachrüstung auf unserer Seite Null sein könnte, in voller Übereinstimmung mit dem NATO-Doppelbeschluß, wird manchem in Erinnerung sein, daß dies skeptisch als Idealfall, also als nicht sehr wahrscheinlich, bezeichnet wurde. Wir befanden und befinden uns auch in voller Übereinstimmung mit dem berühmten letzten Satz des NATO-Doppelbeschlusses, den der damalige und heutige Außenminister mit der Definition versah: Das kann auch Null heißen. Und, wie gesagt: Von Null auf sowjetischer Seite war damals noch keine Rede. Der Reagansche NullNull-Vorschlag war noch gar nicht erfunden.Auch in einer Reihe weiterer Punkte hat die heutige Politik nur noch wenig mit dem zu tun, was die politischen Grundlagen des NATO-Doppelbeschlusses gewesen sind.
Wir haben gehofft, mit diesem Beschluß die Ratifizierung von SALT II in Amerika zu erleichtern; aber SALT II wurde nie ratifiziert. Der Doppelbeschluß sieht vor, daß danach im Rahmen von SALT III auch über die Problematik der Mittelstreckenraketen verhandelt werden soll. Heute gibt es statt dessen getrennte Verhandlungen über die interkontinentalen Systeme bei START und die Mittelstreckenwaffen in Genf. Wer heute die Zusammenführung beider Verhandlungen fordert, wie wir das tun, der ist vielleicht unbequem, aber jedenfalls in Übereinstimmung mit dem NATO-Doppelbeschluß.
Helmut Schmidt und auch ich haben im Herbst 1979 mit den Amerikanern darüber diskutiert, daß eine Seestationierung der Cruise Missiles günstiger wäre. Die Seestationierung vermeidet die Gefährdung dichtbesiedelter Gebiete und ist für einen Gegner schwer zu treffen. Wir mußten zuletzt das Argument akzeptieren, daß eine Seestationierung technisch nicht möglich sei. — Im Oktober 1981 war dann den Zeitungen zu entnehmen, daß die Amerikaner die Produktion von einigen 4 000 Cruise Missiles, see- und luftgestützt, beschlossen hätten. Die Frage, warum dann noch einige 400 landgestützt nötig sind, findet eine plausible Antwort erst, wenn man an die Diskussion eines auf Europa begrenzten Krieges denkt.
Die landgestützten Systeme sind sichtbar, die seegestützten sind Teil der strategischen amerikanischen Streitkräfte. Wenn das keine militärtechnische Veränderung der Situation ist, in der wir dem NATO-Doppelbeschluß zugestimmt haben, dann gibt es überhaupt keine.
Die Diskussion über den fährbaren und gewinnbaren Krieg ist keine sozialdemokratische Erfindung. Wir sind uns in diesem Hause auch einig, daß es Wahnsinn ist, wie der Bundesverteidigungsminister formuliert hat, über eine fährbaren und gewinnbaren Krieg zu reden; aber es gibt diesen Wahnsinn, jedenfalls heute. 1979 gab es ihn nicht.
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700 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
BahrDer Bundesaußenminister hat eben die Auffassungen der Bundesregierung im Jahre 1979 zu den französischen und britischen Systemen richtig wiedergegeben. Er hat vergessen hinzuzufügen, daß es erst 1981 die bedeutenden neuen französischen und britischen Rüstungsprogramme gegeben hat und daß erst danach die Sowjetunion begonnen hat, von der Notwendigkeit der Einbeziehung dieser neuen Systeme in die Verhandlungen zu sprechen.Neue amerikanische strategische Überlegungen beschäftigen sich mit der Möglichkeit einer horizontalen Ausweitung im Falle von Konflikten irgendwo in der Welt. Wieder andere werben für eine Kombination weitreichender konventioneller, nuklearer, sogar chemischer Waffen gegen eine zweite und dritte Welle eines möglichen Angreifers. — Von alledem war 1979 nicht die Rede. Und niemand kann doch bezweifeln, daß die vorgesehenen amerikanischen Raketen unter diesen neuen Gesichtspunkten eine neue Bedeutung bekommen würden. Wenn einer der Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten sagt, daß sein Land einen beträchtlichen Teil der vorgesehenen neuen amerikanischen Raketen in Europa brauche, auch wenn es keine SS 20 mehr gäbe, dann macht dies in diesem Zusammenhang Sinn. Mit dem Doppelbeschluß vom Dezember 1979 hat das doch aber kaum noch etwas zu tun.
Null hier, selbst wenn es einige in der Sowjetunion gibt — das war der Ausgangspunkt. Einige hier, selbst wenn es Null in der Sowjetunion gibt — das ist doch schon ein Unterschied.
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Beck-Oberdorf?
Ja, bitte.
Herr Bahr, stimmt es, daß Sie diese Erkenntnisse, die Sie jetzt darlegen, auch schon im September/Oktober vergangenen Jahres haben konnten, und weshalb haben Sie damals, als Sie noch in der Regierungsverantwortung waren, nicht schon klar von dem Doppelbeschluß Abstand genommen?
Die Antwort ist ganz einfach: Das, was ich eben als Erklärung eines Sicherheitsberaters des amerikanischen Präsidenten zitiert habe, liegt später.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Petersen?
Im Augenblick nicht, Herr Petersen.Der Doppelbeschluß formulierte — ich zitiere — das Ziel, die Weiterentwicklung von Rüstungskontrollen und Entspannung in den 80er Jahren zu fördern. — Inzwischen ist das Wort „Entspannung" fast zu einem Schimpfwort geworden. In der Regierungserklärung kam es nicht mehr vor. Nachdem man es unter Berufung auf Harmel aber mit einem freundlichen Adjektiv versehen hat, darf man es — nicht zu laut natürlich — sogar in der Koalition wieder benutzen.Es ist kaum Streit darüber möglich: Die politische Richtung hat sich verändert, seit der Doppelbeschluß gefaßt wurde. Vier Jahre Verhandlungen schienen ausreichend, nachdem die Stationierung aus technischen Gründen vor Ende 1983 gar nicht möglich war. Zwei volle Jahre sind auf beiden Seiten für die Verhandlungen — nicht für die Rüstung — verlorengegangen. Was würde eigentlich näherliegen, als nachzuverhandeln und nicht nur nachzurüsten?
Was würde eigentlich näherliegen, als daß die Bundesregierung nicht nur auf die Sowjetunion, sondern auch auf Washington Einfluß auszuüben versucht, und zwar in Richtung auf eine Flexibilität, die die Möglichkeiten des Doppelbeschlusses ausnutzt, so wie sie gegeben waren, als er gefaßt wurde?Der Bundesaußenminister hat eben erklärt: Der Schlüssel liegt in Moskau. Er liegt eben nicht nur in Moskau. Er liegt in Moskau und Washington.
Wir bleiben dabei: Ohne ernsthafte Verhandlungen ist ein sozialdemokratisches Ja zur Stationierung nicht zu bekommen.
Helmut Schmidt hat das am 1. Oktober letzten Jahres vor diesem Hause so ausgedrückt — ich zitiere —:Wenn aber die Verhandlungen trotz größter Anstrengungen unserer amerikanischen Freunde dennoch erfolglos bleiben sollten, so brauchen wir ein entsprechendes Gegengewicht gegen die uns bedrohenden sowjetischen SS-20-Raketen.Was eigentlich würde die Bundesregierung verlieren, wenn sie sich auf die amerikanische Regierung berufen und sagen würde: Bei der Stationierung in einem so dicht besiedelten Gebiet können wir auf die Bevölkerung nicht weniger Rücksicht nehmen, als Washington Rücksicht genommen hat, als es um die Stationierung der neuen MX-Raketen in einem viel dünner besiedelten Gebiet ging?
Washington hat sich doch auch nicht hinter der unbezweifelbaren Legalität seines früheren Beschlusses versteckt. Washington wollte doch auch nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern hat aus Respekt vor dem erkennbaren Willen eines großen Teils der Bevölkerung, ohne daß deshalb über eine Volksabstimmung diskutiert zu werden brauchte, einen Beschluß revidiert und dabei nicht an Respekt verloren. „Amerika, du hast es besser", kann man
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 701
Bahrda nur sagen. Oder anders formuliert: Warum lernt nicht die Bundesregierung von unseren amerikanischen Freunden?Wir müssen Genf kritisch und anregend begleiten; so hat am 1. Oktober der Bundeskanzler seinen wahrscheinlichen Nachfolger, aber wohl auch uns alle gemahnt. Nachdem Seestützung technisch möglich geworden ist, ist das eine neue Situation, auch für unser Land, auch rüstungskontrollpolitisch, auch für Genf, auch im Sinne der Zusammenführung der strategischen und der eurostrategischen Systeme. Man kann bei derartigen technischen Entwicklungen mit politischen Konsequenzen doch nicht bürokratisch an alten Beschlüssen festhalten, als ob nichts passiert wäre.
Die seegestützten Cruise Missiles wären sichere Zweitschlagswaffen, defensiv, praktisch unverwundbar. Wir, der Westen, nicht die Sowjets, müßten doch ein Interesse haben, uns das zunutze zu machen.Warum beruft sich die Bundesregierung nicht in einem anderen Fall auf das Vorbild der Amerikaner? Ich meine die START-Verhandlungen. Dort ist ohne Zweifel eine neue Situation eingetreten. Die MX-Rakete soll in die Verhandlungen eingebracht werden. Es zeichnen sich die Möglichkeiten einer technischen Umrüstung ab. Interkontinentale Raketen sollen beweglich werden und nur einen Sprengkopf tragen. Das hätte für die Rüstungskontrolle Vorteile. Aber wenn das nicht durch die Rüstungskontrolle in ein Abkommen gebracht wird, wäre es nur eine neue Stufe des Rüstungswettlauf s.Ohne Einzelheiten zu kennen, ist das Ergebnis dieser Entwicklung jedenfalls eine neue amerikanische Position bei den START-Verhandlungen. Das heißt, die amerikanische Position bei den START- Verhandlungen war nicht sakrosankt. Wir sollten die Amerikaner dafür loben.Aber warum soll die Position bei den Mittelstrekkenwaffen sakrosankt sein? Wenn die strategischen Waffenverhandlungen veränderbar sind, dann dürfen die eurostrategischen doch nicht wie der Text der Bibel behandelt werden.
Was im amerikanischen Interesse recht ist, muß im europäischen billig sein. Eine Veränderung bei den strategischen Verhandlungen gefährdet nicht die westliche Sicherheit. Eine Veränderung bei den Mittelstreckenwaffen gefährdet nicht den Zusammenhalt der NATO.Warum verweist die Bundesregierung nicht darauf, daß sich die Entwicklung bei den Mittelstrekkenraketen viel stärker verändert hat als bei den strategischen? „Fiat iustitia, pereat mundus" war noch nie vernünftig; den Zeitplan des Doppelbeschlusses durchzuführen, auch wenn die Vernunft und mehr als sie dabei vielleicht zu Grunde geht, das kann nicht deutsche Staatsräson sein.
Zur Logik des Doppelbeschlusses gehört, die Sowjetunion zu einer radikalen Kürzung ihrer SS- 20-Rüstung zu bringen, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Einseitige Verpflichtungen zu einem Stopp nützen da gar nichts. Sie können einseitig auch wieder aufgehoben werden und sind nach amerikanischen Erkenntnissen auch aufgehoben worden.Nun kann die Sowjetunion darauf verweisen, daß sie mehrmals ein Moratorium vorgeschlagen hat, daß also das Einfrieren auf einem sehr viel niedrigeren Stand möglich gewesen wäre, wenn der Westen zugestimmt hätte. Der Westen hätte in der Tat die in dieser Form nicht annehmbaren sowjetischen Vorschläge mit der Bereitschaft beantworten können, das Moratorium bis zum 1. Dezember 1983 zu befristen und die technischen Vorbereitungen zur eventuell notwendig werdenden Stationierung der amerikanischen Waffen fortzusetzen. Vielleicht stünden wir dann bei 160 SS 20 und brauchten nicht über die 350 zu klagen. Aber ein Fehler des Westens schafft noch nicht die neuen Fakten aus der Welt, die die Sowjetunion in den letzten 31/2 Jahren geschaffen hat.
Niemand hat mir in Moskau eine plausible und einsehbare Erklärung dafür gegeben, warum die Sowjetunion 250 Systeme mit 750 Sprengköpfen aufgestelt hat, die in der Lage sind, Westeuropa zu erreichen.Hier geht es nicht nur um das Argument, daß der Westen in dieser Zeit seine Mittelstreckensysteme nicht erhöhen konnte, daß die neuen französischen und britischen Programme bisher eben nur Programme sind, daß es also heute kein Gleichgewicht mehr geben kann, wenn es 1978 nach Breschnews Erklärungen ein Gleichgewicht gegeben hat. Es geht mindestens ebenso um die Frage, welche Ziele denn zusätzlich in Europa abgedeckt werden müssen, die es 20 Jahre lang nicht gegeben hat, als die Sowjetunion sehr konstant mit 600 SS 4, SS 5 glaubte auskommen zu können, oder welche politischen Erwägungen hinter dem raschen Aufwuchs der SS 20 stehen, ohne daß dabei die Gesichtspunkte der Entspannung verletzt werden.Die sowjetische Hochrüstung auf diesem Gebiet und die potentielle Bedrohung sind nicht akzeptabel. Wenn das so bleibt, muß der Westen dagegen etwas tun.
Ich sage bewußt: der Westen.Das Argument, das man hier zuweilen hört, die Sowjetunion wolle Europa von Amerika trennen, halte ich für Unsinn im doppelten Sinne. Erstens. Moskau weiß genau, daß das nicht geht.
Zweitens. Wenn es das wollte, dann müßte es dieNull-Lösung Reagans akzeptieren; denn das wäre
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702 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bahrdie Null-Bedrohung Europas durch Mittelstreckenwaffen,
die Vorzugsbehandlung und die Ausschließlichkeit der Bedrohung Amerikas durch sowjetische weitreichende Raketen. Bisher gibt es eben kein Zeichen dafür, daß die Sowjetunion Europa eine Vorzugsbehandlung angedeihen lassen will, die zu einer europäischen Versuchung der Desolidarisierung mit den Vereinigten Staaten führen könnte.Gerade weil die Sowjetunion weiß, daß eine Trennung Europas von Amerika weder politisch noch militärisch möglich ist, nimmt sie Europa theoretisch und potentiell in besondere Haftung. Nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an potentieller Bedrohung hat Westeuropa zu beklagen.Nun hat Generalsekretär Andropow angeboten, auf 162 Systeme SS 20 herunterzugehen — das ist die Zahl der französischen und britischen —, wenn keine neuen amerikanischen Raketen stationiert werden. Er hat sich auch bereit erklärt, über die Zahl der Sprengköpfe zu sprechen, was in Washington zumindest intern als ein wichtiger Schritt betrachtet wird.Die Fragen der Verlegung nach Asien oder der Zerstörung oder der Rückführbarkeit will ich im Augenblick nicht erörtern. Sie dürften keine unüberwindbaren Schwierigkeiten darstellen, nachdem uns ins Bewußtsein rückt, daß demnächst die erste Serie von Pershing II in zwei Flugzeugladungen innerhalb weniger Stunden in die Bundesrepublik geflogen werden kann.Wenn 162 Systeme in sowjetischer Sicht Gleichgewicht wären — das ist doch wohl der Sinn dieses Vorschlages —: Warum hat die Sowjetunion dann nicht bei 162 angehalten?
Warum dann mehr, obwohl es Cruise Missiles und Pershing II in Europa noch gar nicht gibt?Wenn Andropow am Montag voriger Woche noch einmal — ich zitiere — „rechtzeitige und wirksame Gegenmaßnahmen" angekündigt hat, die sowohl die Territorien, auf denen die neuen amerikanischen Raketen in Stellung gebracht werden sollen, als auch das Territorium der USA selbst betreffen, dann ist dazu zunächst zu sagen, daß das fast wörtlich dem entspricht, was sein Vorgänger schon mehr als zwei Jahre vorher erklärt hat. Diese mehrfach bekräftigte Ankündigung zur Gegenstationierung kann die Berechenbarkeit erhöhen. Die Stationierung der SS 20 erfolgte ohne Vorankündigung und ohne jede selbst auferlegte Begrenzung. Jetzt haben wir es mit einer Vorankündigung zu tun, aber anders als bei der NATO ohne Qualifizierung der Systeme, ohne Begrenzung ihrer Zahl und ohne Angebot, darüber zu verhandeln. Jedenfalls handelt es sich um eine Ankündigung, das Bedrohungspotential gegen Westeuropa zu erhöhen.Zum anderen fällt an der Äußerung Andropows auf, daß er das Wort „rechtzeitig" benutzt. Nachdem wir wissen, daß für eine Stationierung Vorbereitungen getroffen werden müssen, nachdem die westlichen Regierungen nicht müde werden, ihre Entschlossenheit zu verkünden, ab Dezember zu stationieren, wenn es kein Verhandlungsergebnis gibt, muß man davon ausgehen, daß die Sowjetunion die Stationierung von Kurzstreckenraketen vorbereitet. In der Tat gibt es solche Informationen über Vermessungen und ähnliches.Es würde bedeuten, daß die SS 22 in unseren östlichen Nachbarstaaten stationiert würde, mit einer Flugzeit von zwei oder drei Minuten, d. h. mit ähnlichen Zeitvorteilen gegenüber Pershing und Cruise Misseles, die sich für diese amerikanischen Waffen gegenüber der SS 20 ergeben.Hier können Gefahren entstehen, die sich aus automatisierten Abläufen schon im Falle von Fehlern der Instrumente ergeben.Hier würden sich auch Konsequenzen für die Strategie der flexiblen Antwort ergeben, die bisher nicht durchdiskutiert sind.Noch im Januar dieses Jahres haben uns die Vertreter aller amerikanischen Dienststellen, die es wissen müssen, in Washington erklärt, daß es bis zu diesem Zeitpunkt keine Erkenntnis gab, wonach die Sowjetunion die SS 22 außerhalb ihres Territoriums hätte. Wir stehen also unter Umständen gewissermaßen am Vorabend einer qualitativen Nuklearisierung des sowjetischen Vorfelds. Es ist kein Wunder, wenn die DDR, wenn Polen, Ungarn und Bulgarien kein Interesse daran haben, Raketen aufzunehmen, die neue nukleare Ziele werden könnten.Niemand kann heute ausschließen, daß im Westen dann Überlegungen beginnen, was denn gegen diese neuen Raketen unternommen werden muß. Wohin soll das führen?
Die Perspektive einer immer weiteren Rüstung, die nur neue Gefahren bringt, aber nicht mehr Sicherheit, ist unakzeptabel. Diese Entwicklung muß endlich gestoppt werden!
Herr Bundesaußenminister, mit der Wiederholung der Appelle, die wir seit vielen Jahren hören — wir haben selbst auch welche gemacht —, daß insgesamt auf der Welt abgerüstet werden soll, ist doch gar nichts gewonnen. Wir haben doch die Erfahrung, daß damit gar nichts gewonnen worden ist.
Noch eine Erwägung. Auch uns darf nicht gleichgültig sein, wenn in der DDR Atomraketen stationiert werden, die es heute nicht gibt. Da gibt es etwas mit zu bedenken, das eine besondere Qualität hat, und diese besondere Qualität darf sich nicht in der Feierlichkeit einer Rede zur Lage der Nation erschöpfen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 703
BahrGerade bei Sicherheitsfragen gibt es gemeinsame Interessen der beiden deutschen Staaten. Erfolg oder Mißerfolg in Genf entscheiden also eben nicht nur über neue amerikanische Raketen und nicht einmal nur darüber, ob die Rüstungsschraube angehalten wird, sondern auch darüber, ob die Menschen im Westen wie im Osten an den Sinn von Verhandlungen über Rüstungskontrolle überhaupt noch glauben können.
Aber wenn die Sowjetunion glaubt, gegenüber den neuen amerikanischen Raketen neue eigene Waffen in ihrem Vorfeld in Stellung bringen zu müssen, dann bleibt immer noch die Frage, wozu das Mehr an SS 20 über die 162 hinaus gut sein soll. Kurzstreckenraketen in noch unbekannter Zahl und Mittelstreckenraketen in heutigem Umfang zusammengenommen, das ergibt kein Gleichgewicht, sondern Übergewicht zu Lasten Europas. Das müßte Folgen haben, politisch wie militärisch, und könnte die Politik der Entspannung nur weiter schwächen.Wenn der scheidende sowjetische Botschafter Abrassimow die Aufstellung amerikanischer Raketen für eine Veränderung in Europa hält, die die Viermächtevereinbarung nicht unberührt lassen könne, so kann und darf eine derartige Argumentation westliches Verhalten keine Sekunde beeinflussen. Wir gehen über eine solche Bemerkung zur Tagesordnung über, gerade weil wir sogar jede auch nur angedeutete Nötigung zu Wohlverhalten ignorieren, noch bevor wir beweisen würden, daß wir gegen politische Erpressungen immun sind.
Aus alledem ergibt sich, daß wir die Bewegungen, die beide Supermächte gemacht haben, anerkennen, ohne jetzt ihre einzelnen Schritte qualifizieren zu wollen, daß aber keine von beiden genug getan hat, um zu einem Ergebnis zu kommen. Noch ist dazu Zeit. Die laufenden Verhandlungen bis Mitte Juli werden darüber entscheiden, ob die Verhandlungen scheitern, wie sie 1979 geplant waren.Geplant war ein Abkommen zur Regelung dieses Komplexes und nicht ein Zwischenabkommen und nicht ein Teilabkommen.
Der Doppelbeschluß war kein Instrument zur Produktion von mehr Waffen und ihrer Stationierung 1983, sondern ein Instrument, um Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung zu erreichen.
Er darf nicht nachträglich umfunktioniert werden, vor allem nicht aus Mangel an westlicher Flexibilität.
Es geht darum, Vertrauen zu wecken, und nicht darum, auf den Wecker zu warten, der die Stationierung einläutet. Wenn heute nicht nur von Herrn Weinberger, sondern auch vom amerikanischen Außenminister zu hören ist, daß man erst nach dem Beginn der Stationierung mit ernsten Verhandlungen rechnet, so nährt das den Verdacht, daß bis zur Stationierung gar nicht ernsthaft verhandelt werden soll.
Wenn 1979 auch nur ein Amerikaner gesagt hätte, die Verhandlungen würden erste nach der Stationierung sinnvoll geführt werden, dann hätte es den Doppelbeschluß nicht gegeben.
Der Doppelbeschluß war die Entscheidung gegen die Philosophie, erst stationieren und dann verhandeln, und das ist sogar als Fortschritt gepriesen worden.
Wenn die bisherige Verhandlungsebene nicht ausreicht, wären eben die Außenminister gefragt. Sogar das Risiko eines Gipfels wäre besser als das Risiko einer Stationierung und aller ihrer möglichen Folgen,
zumal die Chance wohl größer ist, daß der amerikanische Präsident in dem Generalsekretär einen verantwortlichen Partner findet, als daß er in ihm den Teufel entdeckt.
Es ist eine Illusion zu glauben, die Verhandlungen könnten nach der Stationierung einfach fortgesetzt werden, als wäre nichts geschehen. Wenn sie fortgesetzt werden, dann geschieht das vor dem Hintergrund neuer sowjetischer Raketen zwischen Elbe und Weichsel.Man muß sich daran erinnern, daß es nach dem NATO-Doppelbeschluß im Dezember nicht sofort mit den Verhandlungen losgegangen ist, daß es der Anstrengungen von Schmidt und Genscher bedurft hat, ehe die sowjetische Verhandlungsbereitschaft sechseinhalb Monate danach wieder erreicht werden konnte. Wer dürfte, von allem anderen ganz abgesehen, hoffen, die Sowjetunion werde Ende der nächsten Verhandlungsphase am 15. November die Fortsetzung, wie üblich, zum 15. Januar vereinbaren, wenn die Stationierung nach dem 1. Dezember beginnt? Ich halte das für unwahrscheinlich und wünsche in diesem Fall sehr, unrecht zu behalten.Aber diejenigen, die ihre Politik auf die Spekulation stützen, es ginge nach der Stationierung erst richtig mit den Verhandlungen los, werden eine ungewöhnlich schwere Verantwortung zu tragen haben.
Wenn sich der Zug der Nachrüstung auf unserer Seite und der Zug der Nachnachrüstung auf sowjetischer Seite erst einmal in Bewegung gesetzt haben werden, dann mag es vielleicht im amerikanischen Wahljahr noch eine Vereinbarung über die interkontinentalen Waffen geben, aber für Europa wird das Jahr 1984 dann zu einem Jahr ohne Abkommen.
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704 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Bahr, teilen Sie die Auffassung, daß auch diejenigen eine ungeheure Verantwortung auf sich genommen haben, die sich 1979 auf die Spekulation gestützt haben, daß die USA ernsthaft verhandeln wollten?
Aber selbstverständlich haben wir damit eine Verantwortung übernommen. Das habe ich gerade auch gesagt. Ich laufe auch nicht davor weg.
Ein ratifizierungsbedürftiges Abkommen, das später als zum 1. März kommenden Jahres abgeschlossen ist, hat wenig Chancen, im Wahljahr noch angenommen zu werden.Meine Damen und Herren, wir reden heute nicht über eine Teillösung oder über eine Zwischenlösung. Das wird im September geschehen, falls dann klar sein sollte, daß es kein Abkommen gibt, das die Gesamtfrage löst. Wir kritisieren die Bundesregierung, daß sie viel zu früh angefangen hat, von einer Zwischenlösung zu reden, als ob sie ein paar Raketen haben wollte oder als ob das interessant wäre.
Wir sprechen heute also auch nicht von den verschiedenen Möglichkeiten einer Teillösung, auch nicht über die, die die beiden Verhandlungsführer bei ihrem berühmt gewordenen Waldspaziergang konzipiert haben und über die die Bundesregierung vorher nicht informiert war. Ich finde das übrigens in Ordnung und habe das Paul Nitze, der persönliches Vertrauen verdient, auch gesagt. Was ich aber nicht in Ordnung finde, ist, daß die amerikanische Regierung diesen Kompromiß abgelehnt hat, ohne sich über die Ablehnung mit ihren Verbündeten zu beraten.
Ich wünsche beiden Herren in Genf viele Waldspaziergänge. Die sind gesund. Wenn dabei aber etwas herauskommen sollte, haben wir ein Recht auf Konsultation, und zwar bevor es angenommen wird oder bevor es abgelehnt wird.
Der Deutsche Bundestag hat heute keine Entscheidung in der Sache zu treffen. Es geht nicht um das Ja oder Nein zur Nachrüstung. Es gibt kein Verhandlungsergebnis, dem wir zustimmen oder das wir ablehnen können. Es gibt einige Kollegen in meiner Fraktion, die ihr Nein zu einer möglichen Nachrüstung grundsätzlich sehen, aber nicht erst heute, sondern schon seit Jahren, und die das auch nicht verborgen haben. Über alles das wird später zu entscheiden sein.Niemand weiß, was zwischen heute und jenem Tag — voraussichtlich im November dieses Jahres — passiert, an dem der Deutsche Bundestag sein Votum geben wird. Wir wissen nicht, ob man dann von einem totalen Scheitern sprechen muß, was wir nicht hoffen. Wir wissen nicht, ob sich die amerikanische Seite, ob sich die sowjetische Seite in dieser Zeit bewegt haben wird, was wir hoffen. Wir wissen nicht, ob es ein Teilergebnis gibt, dem man zustimmen könnte, oder eine Zwischenlösung, die nur ein anderes Wort für den Beginn der Stationierung wäre, die unsere Zustimmung aus heutiger Sicht nicht finden könnte.
Heute sagen wir nur eines: Jede Chance, die die Verhandlungen in Genf noch haben, muß genutzt werden.
Und deshalb begrenzen wir uns bewußt auf den Appell an beide Seiten in Genf, um im Sinne des Doppelbeschlusses ein Abkommen zu erreichen, solange es noch Zeit ist.Vor dem Hintergrund der geschilderten Lage und ihrer Gefahren hat die SPD-Fraktion die vorliegende Entschließung eingebracht. Aus dem Wortlaut ist zu entnehmen, daß wir von den anderen Fraktionen nicht verlangen, daß sie unsere kritischen Gesichtspunkte zum bisherigen Gang der Verhandlungen oder sozialdemokratische Standpunkte teilen, wie ich sie dargelegt habe. Die Resolution verlangt nicht einmal, daß Sie unsere Sorgen ausdrücken oder übernehmen, auch wenn manche Kollegen sie ähnlich sehen. Diese Resolution verzichtet bewußt auf jede Unterstreichung eines Punktes, der zwischen uns umstritten sein könnte. Der Kern dieser Resolution schlägt den Appell des ganzen Deutschen Bundestages vor, die Chance in Genf zu nutzen; über die Dringlichkeit kann es keinen Streit geben.Die CDU/CSU-Fraktion hat ebenfalls einen Entwurf vorgelegt, der für uns in einigen Punkten akzeptabel, in anderen Punkten nicht akzeptabel ist. Aber der Minimalkonsens eines gemeinsamen Appells sollte doch wohl erreichbar sein.Wegen der Dringlichkeit schlagen wir vor, daß beide Resolutionen den Ausschüssen überwiesen werden, die morgen darüber beraten können, damit das Plenum in der kommenden Woche einen Appell an Genf beschließen kann.Wir schlagen außerdem vor, die „Freeze"-Resolution des amerikanischen Repräsentantenhauses zu unterstützen, d. h. einen verhandelten und kontrollierten Stopp, um Abrüstungsverhandlungen zu erleichtern. Wir schlagen das vor, obwohl man gegen manche Zusätze in dieser Resolution Bedenken haben könnte. Aber eine Zweidrittelmehrheit der gewählten Volksvertretung unseres wichtigsten Verbündeten zu unterstützen, kann keine schlechte Sache sein und sollte auch der Koalition nicht schwerfallen. Die Freundschaft zu den USA, von der der Bundesaußenminister soeben wieder gesprochen hat, die so wichtig ist, ist doch nicht auf die Freundschaft zwischen zwei Regierungen be-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 705
Bahrschränkt. Warum dann nicht die Freundschaft zwischen zwei Parlamenten?!
Wenn die Koalition in der Sache, beim „Freeze", zu ihrem Motto erklärt: „erst abrüsten und dann einfrieren auf ein ausgewogenes, gleichgewichtiges, möglichst niedriges Niveau", so kann dies unsere Zustimmung nicht finden, und zwar nicht nur, weil es dem Mehrheitswillen des amerikanischen Repräsentantenhauses zuwiderläuft, sondern auch deshalb, weil wir wenig Sinn in einer Forderung erblicken können, die wir oft gemeinsam, aber in den letzten 30 Jahren jedenfalls erfolglos gestellt haben. Seit Mitte der 50er Jahre sind unter dem Motto „Erst abrüsten — und das weltweit" alle gigantischen Rüstungsprogramme gelaufen, unter denen die Welt leidet.
Die Koalition will Rüstungsreduktion, Truppenreduktion, Vernichtung der chemischen Waffen; der Bundesaußenminister hat das gesagt. Das alles wollen wir auch. Ich kenne überhaupt niemanden in der Welt, der das nicht will. Allerdings: Bei der Frage, wie wir dahin kommen, fängt es doch erst an. Das Ziel einer friedlichen Welt ist keine Entschuldigung, Schritte dahin abzulehnen.
Die Forderung nach Abschaffung der chemischen Waffen darf doch nicht der Vorwand sein, die Abschaffung der chemischen Waffen in Europa abzulehnen.
Zur Erläuterung des letzten Absatzes unserer Entschließung beginne ich mit dem Hinweis des amerikanischen Außenministers in Paris in der vergangenen Woche, daß vor der nächsten NATO-Sitzung am 8. Dezember keine weitere Entscheidungsnotwendigkeit für das Bündnis besteht. George Shultz hat erklärt: Die geplanten Stationierungen werden stattfinden, es sei denn, es gibt eine Vereinbarung. Im Falle einer Vereinbarung wird das Bündnis also noch einmal beraten müssen, nämlich entsprechend dem berühmtem letzten Satz des Doppelbeschlusses, der in Ziffer 7 des letzten NATO-Kommuniqués sinngemäß wiederholt worden ist.Für das Parlament kann es sich keinesfalls um eine Automatik handeln. Der Deutsche Bundestag muß auf seinem Recht bestehen, das Verhandlungsergebnis, das nach der vorgesehenen Verhandlungsrunde zwischen dem 15. September und dem 15. November dieses Jahres vorliegt — wie immer es aussieht —, zu prüfen und über die daraus zu ziehenden Konsequenzen zu entscheiden.
Ich weiß, daß dies in Parlamenten unserer Verbündeten ähnlich gesehen wird. Auch bei uns scheinen sich die Parteien insoweit einig zu sein, als der Deutsche Bundestag den Verhandlungsstand berät, beurteilt, bevor die Stationierung beginnt. Das mußdann aber auch praktisch möglich sein; das Parlament darf nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden.
Es hat in letzter Zeit eine Reihe von Äußerungen gegeben, die darüber Unklarheit entstehen ließen. So hat z. B. der amerikanische Verteidigungsminister in einem Interview im amerikanischen Truppensender AFN am 4. Mai erklärt:Mit der Aufstellung wird im kommenden November begonnen.Der amerikanische Experte William Arkin vom Institute for Policy Studies in Washington hat auf der „Zweiten Europäischen Konferenz für atomare Abrüstung" angekündigt: Die Computer für die Pershing II sollen bereits ab Oktober nach Süddeutschland eingeflogen werden. Das Pentagon plane für Dezember dieses Jahres nicht den Beginn der Stationierung, sondern bereits die Fähigkeit zum Einsatz, IOC genannt — Initial Operational Capability —, also bereits die Gefechtsbereitschaft, der bekanntlich auch das Einfliegen der Raketen und der Sprengköpfe, ihr Zusammenbau und das Training der Bedienung vorausgehen muß, damit „Gefechtsklar" gemeldet werden kann.Der Bundesminister der Verteidigung hat sich im französischen Rundfunk am 13. Juni — also nicht so lange her — nicht klar ausgedrückt. Er sagte:Wenn aber Ende des Jahres stationiert werden soll, dann müssen technische Vorbereitungen getroffen werden;— insoweit kein Widerspruch —denn die Raketen müssen für Ende des Jahresda sein, und sie müssen einsatzbereit sein.Er fügt dann einen Satz später hinzu:Aber Sie können ganz sicher sein: keine dieser Raketen wird vor Ende des Jahres hier in Europa aufkreuzen.Was eigentlich gilt?
Im Sinne dieses Beschlusses erfolgt eine etwaige Stationierung nicht vor dem 15. November 1983.Dies ist etwas sibyllinisch. Im NATO-Kommuniqué in Paris heißt es, daß, falls das erforderlich ist: „mit den Dislozierungen ... Ende 1983 begonnen wird".Wir haben es also im Augenblick mit unterschiedlichen amtlichen Erklärungen zu tun und möchten die Bundesregierung auffordern, hier Klarheit zu schaffen. Wir wissen, daß die heutige
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BahrBundesregierung nicht auf der grünen Wiese begonnen hat.
Aber in den letzten drei Jahren hat sich so viel verändert, wie ich dargelegt habe, daß sich daraus Konsequenzen ergeben und daß Rücksicht auf die Lage von heute genommen werden muß.Nach unserer Auffassung darf die Stationierung nicht beginnen, solange die Verhandlungen laufen. Sie darf auch nicht beginnen, bevor der Deutsche Bundestag Zeit hatte, das Verhandlungsergebnis zu beraten und darüber zu entscheiden. Unter „Beginn der Stationierung" verstehen wir das, was bis zu dieser Stunde die ganze Welt darunter versteht, nämlich: daß Raketen und Sprengköpfe hierher gebracht werden.Die politischen Daten sind schwierig genug und eng genug. Sie dürfen nicht durch militärische Daten praktisch unterlaufen werden.
Das wäre unverantwortbar, und das müßte die innenpolitische Belastung, der unser Volk im Herbst vielleicht ausgesetzt sein wird, drastisch verschärfen. Eine solche Entwicklung könnte in weiten Teilen der Öffentlichkeit nur als eine Täuschung empfunden werden. An dieser Stelle wird deutlich, daß es nicht um die Macht geht, etwas zu beschließen oder durchzusetzen, sondern darum, ob man die innere Zustimmung der Menschen gewinnt oder verliert.
Der Bundesaußenminister hat vorhin gesagt: Die Vorbereitung des NATO-Doppelbeschlusses, die öffentliche Begleitung seiner Durchführung sind Ausdruck der Transparenz und der Offenheit unserer westlichen Gesellschaft.
Herr Bundeskanzler, es sollte im Interesse der Bundesregierung nicht weniger als in der Opposition liegen, daß Sie hier und heute kristallene Klarheit schaffen.
Die Resolution der SPD-Fraktion ist geeignet, die Gemeinsamkeit sichtbar zu machen, die uns und die Koalition zum Doppelbeschluß noch verbündet, nämlich rechtzeitig ein Abkommen zu erreichen.Sollte dieser Appell ungehört verhallen, werden wir wohl über das streiten, was dann noch möglich ist. Es kann sein, daß, diese Gemeinsamkeit zu zeigen, für lange Zeit die letzte Möglichkeit ist.Wir bitten Sie, diese Chance zu nutzen.
Das Wort hat der Kollege Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bahr, Sie haben eingangs gesagt, die Sozialdemokraten stünden zu ihrer Verantwortung aus dem NATO-Doppelbeschluß, den sie herbeigeführt haben. Nun, vieles von dem, was Sie über die westliche Verhandlungsposition im Anschluß gesagt haben, stand leider in einem starken Kontrast dazu und erinnert eher an den Versuch einer Flucht aus der Verantwortung, die Sie damals übernommen haben.
Wir werden jedenfalls die Wahrnehmung dieser Verantwortung ganz im Konkreten überprüfen.Wer behauptet, die heutige Politik der Bundesregierung habe mit den Grundlagen des NATO-Doppelbeschlusses nur noch wenig zu tun, und verschweigt, daß der Stationierungsbeschluß bereits 1979 von der damaligen Regierung getroffen wurde, der reduziert jedenfalls die Informationen für unsere Öffentlichkeit auf Null und entzieht sich der Verantwortung.
Was die Zusammenlegung der INF- und START- Verhandlungen angeht, so steht es in der Tat im rüstungskontrollpolitischen Teil des Doppelbeschlusses, und langfristig ist dagegen auch überhaupt nichts einzuwenden. Nur, wer es im Augenblick versuchen würde, der würde die Verhandlungen erschweren und einen raschen und erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen verhindern. Und dies ist nicht unsere Politik.
Herr Kollege Bahr, was die Seestationierung angeht, so waren die entscheidenden Argumente gegen die Seestationierung nicht, wie Sie hier wahrheitswidrig behauptet haben, die technischen Schwierigkeiten, sondern: Erstens. Abschreckung müsse sichtbar zu Land vollzogen werden, weil sie nur dann glaubwürdig sei. Zweitens. Die SS 20 ist eine landgestützte Waffe. Drittens. Die Rüstungskontrollverhandlungen über INF wären bei landgestützten sowjetischen Waffen im Ausgleich gegen seegestützte US-Waffen sehr viel schwieriger; und wir wollten j a bekanntlich ein baldiges Verhandlungsergebnis. Bundeskanzler Schmidt hat Ende 1979 ausdrücklich anerkannt, daß diese Argumente schwerer wiegen als seine früheren Argumente — etwa von 1969 — für eine Seestationierung von Waffen.Herr Kollege Bahr, wer den Amerikanern unterstellt, sie verließen die Verhandlungsposition des Doppelbeschlusses dadurch, daß gesagt werde, Verhandlungen schienen erst nach einer Stationierung erfolgreich zu sein, der verwechselt doch folgendes:
— Ja, gut. Aber Sie verwechseln doch folgendes, Herr Bahr: Das ist doch keine amerikanische Position, die dort vorgetragen worden ist,
sondern das ist eine pessimistische Einschätzung des sowjetischen Verhandlungswillens. Das dürfen Sie doch nicht miteinander verwechseln.
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RüheWas nun die sowjetische Verhandlungsbereitschaft und die Frage angeht, wie man sie fördern kann, will ich Ihnen für die nächsten Wochen und Monate im Hinblick auf Ihr eigenes Verhalten einiges mitgeben. Die Sowjetunion wird doch nur dann zu einem Abkommen bereit sein, wenn ihr die Chance verweigert wird, die Stationierung ohne Zugeständnisse am Verhandlungstisch zu verhindern. Die Sowjetunion wird dann nicht zu einem Abkommen bereit sein, wenn sie damit rechnet, daß sich aus der Stationierung längerdauernde Schwierigkeiten in den Stationierungsländern und Spannungen im Bündnis ergeben.Genau dort ergibt sich Ihre Verantwortung: Je weniger Zweifel daran bestehen, daß die Stationierung planmäßig durchgeführt wird, wenn kein konkretes Verhandlungsergebnis vorliegt,
und je breiter die Übereinstimmung darüber in den Stationierungsländern und im Bündnis ist — und da liegt die Aufgabe der Opposition —, um so größer sind die Chancen für ein Abkommen in Genf. Dies muß die Leitlinie Ihres Verhaltens sein!
Herr Kollege Bahr, so kritisch das gewürdigt werden muß, was Sie im Hinblick auf die Verhandlungslinie des Westens gesagt haben, so sehr möchte ich doch auch anerkennen, daß ich vieles von dem, was Sie an mahnenden Worten auch in Richtung Sowjetunion gesagt haben, für verantwortungsbewußt gehalten habe.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/CSU setzt sich für einschneidende Reduzierungen bei den Militärpotentialen weltweit, aber auch und insbesondere im Verhältnis zwischen NATO und Warschauer Pakt ein. Wir sind eben nicht der Meinung, daß immer mehr Waffen immer mehr Sicherheit schaffen könnten. Maßnahmen der Rüstungskontrolle und Abrüstung sollen die militärischen Potentiale in West und Ost drastisch verringern, aber weder unsere Sicherheit noch die Sicherheit anderer Staaten einschränken. Unser Ziel ist daher die Schaffung gleicher Sicherheit zwischen NATO und Warschauer Pakt auf einem möglichst niedrigen Niveau. In diesem Sinne ist Rüstungskontrollpolitik unverzichtbarer Bestandteil unserer Sicherheitspolitik.Darüber hinaus betrachten wir Maßnahmen der Rüstungskontrolle, die der gegenseitigen Transparenz und der Vertrauensbildung dienen, als wichtigen Teil unseres ständigen Bemühens um eine Verbesserung des politischen Klimas zwischen West und Ost. Diesen sicherheitspolitischen Prinzipien fühlen wir uns seit langem verpflichtet. Deshalb unterstützen wir alle Abrüstungsvorschläge, die diesen Grundsätzen entsprechen. Denn nur dann, wenn diese Prinzipien berücksichtigt werden, werden auch positive Verhandlungsergebnisse zu erwarten sein.Ich möchte noch einmal die entscheidende Aussage in der Erklärung der sieben Staats- und Regierungschefs in Erinnerung rufen. Sie lautet:Unsere Waffen werden niemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff.Die CDU/CSU begrüßt diese Erklärung, hebt sie doch erneut den von allen NATO-Staaten unterschriebenen Gewaltverzicht der UN-Charta und des darauf aufbauenden NATO-Vertrages hervor. Die NATO ist und bleibt ein Defensivbündnis, eingerichtet zur Selbstverteidigung entsprechend Art. 51 der UN-Charta.
Die NATO-Staaten wollen keinen Krieg führen. Sie bereiten auch nicht, wie das gelegentlich behauptet wird, einen Krieg vor, sondern wollen vor einem denkbaren Krieg mit ausreichender militärischer Stärke abschrecken.
Dabei bedeutet „ausreichend" keineswegs Überlegenheit.Die CDU/CSU hat mit Interesse den Vorschlag des Warschauer Paktes zur Kenntnis genommen, zwischen ihm und den Allianzmitgliedern einen Nichtangriffspakt abzuschließen. Ein solcher Pakt wäre eine regionalisierte Wiederholung des Gewaltverzichts der UN-Charta; dennoch sollte man diesen Vorschlag auf seine Ernsthaftigkeit hin testen. Der Bundesaußenminister hat dazu ja auch einiges gesagt.In der KSZE-Schlußakte gibt es im übrigen bereits Texte zum Gewaltverzicht, die von allen Teilnehmerstaaten, auch von der Sowjetunion, akzeptiert sind, nämlich große Teile des Prinzipienkatalogs sowie das Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen. Bekanntlich handelt es sich dabei nicht um rechtsverbindliche Vereinbarungen, sondern um politische Absichtserklärungen, und solche Texte könnten durchaus die Grundlage für Überlegungen über einen rechtsverbindlichen Gewaltverzichtsvertrag bilden.Was streben wir nun im einzelnen in der Rüstungskontrollpolitik an? Wir wollen abrüsten und nicht aufrüsten. Dafür haben wir — Europäer und Amerikaner — dem Osten weitreichende Verhandlungsangebote vorgelegt.Erstens. Wir wollen den Bestand an landgestützten, weitreichenden Mittelstreckenraketen in Europa auf Null reduzieren. Sollte dies nicht in einem Schritt möglich sein, dann kann dies auch in Zwischenschritten erfolgen.Herr Kollege Bahr, ich wundere mich etwas, daß Sie uns vorwerfen, wir seien zu früh in Richtung auf Erzielung eines Zwischenergebnisses gewandert. Sie selbst — Ihre Partei — haben doch darauf gedrängt, flexibler zu sein und zusätzlich zu der Null-Lösung noch etwas anzubieten. Das hat der Westen dann in gemeinsamer Konsultation getan. Sie können das Spiel nicht fortsetzen, nachdem wir jeweils neue, flexiblere Verhandlungspositionen an-
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Rühegeboten haben, diese dann wenige Wochen später bereits wieder mit Kritik zu überziehen.
Wir wollen zweitens den Bestand an strategischen Raketen deutlich absenken und gleichzeitig den Bestand an Nuklearsprengköpfen auf jeder Seite um zirka ein Drittel reduzieren. Das wären auf jeder Seite zirka 2 500 Sprengköpfe weniger.Drittens. Wir wollen eine bedeutende, ausgewogene und überprüfbare Verringerung der Land- und Luftstreitkräfte in Mitteleuropa.Das sind nur die wichtigsten Abrüstungsvorschläge des Westens. Sie verfolgen das Ziel weitreichender Reduzierungen. Sie machen deutlich, was wir wollen. Wir wollen unverminderte Sicherheit bei drastisch verminderter Rüstung. Diese Vorschläge sind kompromißfähig, weil sie flexibel sind. Diese Vorschläge sind konstruktiv, weil sie die legitimen Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigen. Wer davon spricht, daß sich der Westen nicht ernsthaft um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung bemühe, der kennt entweder diese Vorschläge nicht, oder er will sie nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, der NATO-Doppelbeschluß steht im Einklang mit unserem Bemühen um weitreichende Reduzierung der Militärpotentiale, und er steht auch im Einklang mit dem HarmelBericht. Im Dezember 1979 und auch im Mai 1981 waren wir uns in diesem Hause über die Parteigrenzen hinweg noch einig über die Notwendigkeit dieses Beschlusses. Doch inzwischen wird diese Einigkeit, wie sich auch heute gezeigt hat, immer mehr in Frage gestellt, und zwar gerade von jener Partei, die den Doppelbeschluß seinerzeit als maßgebliche Regierungspartei mitgetragen hat.
Der Doppelbeschluß der NATO geht auf einen dringenden Wunsch Westeuropas zurück, nicht auf einen Wunsch der Vereinigten Staaten. Dieser Beschluß wurde nicht zuletzt auf Drängen von Altkanzler Helmut Schmidt gefaßt, um eine uns bedrohende sowjetische Raketenüberlegenheit zu beseitigen — der Kollege Ehmke nickt dazu — und das nukleare Gleichgewicht in Europa wieder herzustellen. Deswegen hat niemand in diesem Hause das Recht, diesen nüchternen Tatbestand zu verdrängen und fluchtartig aus der Kontinuität gemeinsamer Sicherheitspolitik — vor allen Dingen auch seiner eigenen Sicherheitspolitik — unseres Landes auszusteigen.Aufgabe der SPD, die als Opposition nach unserer Verfassung zur politischen Meinungsbildung berufen ist, wäre es vielmehr, gemeinsam mit anderen verantwortungsbewußten Parteien geduldige Aufklärungsarbeit zu leisten und verständlichen Emotionen mit sachlichen Argumenten entgegenzutreten.
Doch statt dessen drücken sich selbst sachkundige und einsichtige Kollegen in der SPD um eine klare Aussage zu den sicherheitspolitischen Notwendigkeiten, oder sie verstummen ganz, und zwar nur um eines innerparteilichen Konsenses willen; denn in der Tat wird die Haltung führender sozialdemokratischer Politiker zum NATO-Doppelbeschluß heute offenbar nicht mehr in erster Linie von sicherheitspolitischen Einsichten bestimmt, über die sie durchaus verfügen, sondern von dem verzweifelten Bemühen, ihre eigene Partei zusammenzuhalten.
So erklärlich es sein mag, daß die sachkundig und nüchtern denkenden SPD-Politiker ihrer Partei eine Zerreißprobe und vor allem sich selbst auch eine politische Isolierung ersparen möchten, so leisten sie doch weder ihrer Partei einen guten Dienst noch dienen sie damit dem deutschen Interesse, von dem wir in den letzten Wochen und Monaten so viel gehört haben.Deshalb appelliere ich an alle diejenigen in der SPD, die jetzt meinen, ihre bessere Einsicht parteiinternen Erwägungen unterordnen zu müssen: Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! Leisten Sie Ihren Beitrag dazu, daß im Kampf um das Bewußtsein der Menschen in unserem Lande nicht die westliche Verteidigungsbereitschaft als die eigentliche Bedrohung des Friedens empfunden wird! Und fangen Sie mit dieser Aufklärungsarbeit in Ihrer eigenen Partei an!
Die Kritiker des Doppelbeschlusses sollten sich noch einmal vor Augen führen, welchen wichtigen und verantwortungsbewußten Rüstungskontrollansatz dieser Beschluß vorsieht. Hier wird doch erstmals der Versuch unternommen, ein rüstungspolitisches Modell in die Praxis umzusetzen. Hier wurde und hier wird noch der Versuch unternommen, den Kreislauf des „Aufrüsten um abrüsten zu können" zu durchbrechen und die Rüstungsspirale wieder zurückzudrehen.
— Herr Fischer, das Jahr 1983 kann immer noch zu einem Markstein der Abrüstung werden, wenn auch Sie begreifen und hier die richtigen Signale geben würden, daß es darum geht, daß sich die Sowjetunion bereitfindet, diesen völlig neuartigen Rüstungskontrollansatz zu akzeptieren. Es ist ein revolutionärer Ansatz;
denn er versucht genau die bisherige Spirale von Vorrüstung und Nachrüstung zu durchbrechen und zu einer echten Abrüstung zu gelangen.
Führten bisherige Rüstungskontrollverhandlungen regelmäßig dazu — etwa die beiden SALT- Abkommen in den 70er Jahren —, daß Rüstungsobergrenzen vereinbart wurden, keine einzige Rakete weggerüstet wurde, sondern der Spielraum voll ausgenutzt wurde, obwohl das in den nationa-
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Rühelen Rüstungsprogrammen gar nicht unbedingt immer vorgesehen war, so bemüht sich der Doppelbeschluß hier erstmals um eine echte Abrüstung, d. h. die Beseitigung real existierender Waffen, gegen den Verzicht auf die Aufstellung entsprechender neuer Waffen. — Und Sie alle sollten dazu beitragen, die besondere Bedeutsamkeit dieses Beschlusses für eine wirkliche Abrüstung unserer Öffentlichkeit und auch den Verhandlungspartnern klarzumachen.
Die NATO stellt doch hier erstmals ein Waffensystem zur Disposition, bevor es überhaupt produziert, geschweige denn stationiert worden ist. Hier werden doch Raketen auf dem Papier gegen Raketen auf den Startrampen zur Verhandlung gestellt, mit dem klaren Ziel, die schon startbereiten Raketen, die sowjetischen SS 20, die gegen uns gerichtet sind, zu beseitigen. Manche im Westen haben dieses Verhandlungsangebot von vornherein für illusionär gehalten, ihm keine Verhandlungs- und Erfolgschancen eingeräumt, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß die Sowjetunion diese „Papierraketen" der NATO ernst nehmen würde. Vielleicht haben sie die sowjetische Denkweise sogar richtig eingeschätzt. Aber ich meine, das überragend wichtige Ziel der Abrüstung rechtfertigt es, das Experiment des NATO-Doppelbeschlusses dennoch zu wagen, das heißt nicht erst neue Waffen aufzustellen, um sie dann wegzuverhandeln, sondern auf ihre Aufstellung während des vorgesehenen Verhandlungszeitraums zunächst zu verzichten. Dies war unsere Politik, dies ist unsere Politik, und dies wird unsere Politik auch in den nächsten Monaten sein.
Das ist im übrigen nichts anderes als ein auf vier Jahre befristetes einseitiges Stationierungsmoratorium der NATO. In dieser Zeit hat die Sowjetunion keinerlei Entgegenkommen gezeigt, sondern ihre SS-20-Rüstung mit Hochdruck vorangetrieben. Eine Verlängerung dieses Moratoriums, wie sie jetzt seitens der SPD gefordert wird, kann daher nicht in Frage kommen.Glauben Sie denn wirklich, meine Damen und Herren von der SPD, daß die Sowjetunion durch Ihre Freeze-Forderung, also die Forderung nach dem Einfrieren, die wegen der unterschiedlichen Kräfteverhältnisse in Europa mit der Freeze-Resolution des amerikanischen Repräsentantenhauses eben nicht vergleichbar ist, ihre Verhandlungsposition ändert oder gar ihr Potential um nur eine einzige SS-20-Rakete reduzieren würde? Man muß doch vielmehr befürchten, daß sie sich in ihrer Propagandawirksamkeit bestätigt sieht und ein Moratorium als westliches Anerkenntnis des militärischen Status quo deuten würde.Wie schon gesagt: Der NATO-Doppelbeschluß ist ein grundlegend neuer Rüstungskontrollansatz; er ist ein Experiment. Wir wissen heute noch nicht, wie es ausgehen wird. Lassen Sie mich aber mit großem Ernst auf die Folgen eines etwaigen Fehlschlages hinweisen. Wenn dieser neuartige Abrüstungsansatz des Westens nicht honoriert wird, wenn die Sowjetunion unsere bisherigen „Papierraketen" nicht als Verhandlungsmasse akzeptiert, dann zwingt sie uns zur Nachrüstung, dann ist sie dafür verantwortlich, daß der sowjetischen Vorrüstung die westliche Nachrüstung folgt.
Ich bin mir selbstverständlich im klaren darüber, daß es der sowjetischen Führung außerordentlich schwerfällt, ihre einmal erreichte Raketenüberlegenheit in Europa wieder abzubauen. Sie müßte den einzig sicheren Pfeiler, auf den sich ihr Weltmachtanspruch stützt, nämlich ihre militärische Stärke wieder reduzieren. Sie müßte ihre hegemonialen Absichten gegenüber Westeuropa jedenfalls fürs erste wieder aufgeben. Sie müßte eine gigantische Fehlinvestition verkraften.Dennoch verlangen wir von der Sowjetunion nichts Unbilliges, wenn wir die Beseitigung der SS- 20-Raketen fordern. Auch wenn wir das übersteigerte Sicherheitsbedürfnis der sowjetischen Machthaber in Rechnung stellen — wir tun das, wir stellen das übersteigerte Sicherheitsbedürfnis in Rechnung —, gibt es keinerlei Rechtfertigung für die SS- 20-Raketen. Wir haben ihre Aufstellung nicht herausgefordert, denn wir verfügen bisher nicht über vergleichbare Waffen. Daher ist es auch kein Zufall, daß uns die sowjetische Seite keine einleuchtende Begründung für den rasanten Aufwuchs der SS 20 geben will. Sie müßte dann nämlich zugeben, daß es sich hierbei um ein Instrument zur Abkoppelung Westeuropas von der amerikanischen nuklearen Schutzgarantie und um ein Instrument machtpolitischer Einflußnahme auf die westeuropäischen Staaten handelt. Damit werden unsere politische Souveränität und unsere Entscheidungsfreiheit bedroht. Dies können und werden wir niemals hinnehmen.
Die sowjetische Führung beklagt sich ständig mit einem Unterton der Empörung darüber, daß man von ihr eine einseitige Abrüstung verlange. Das trifft in der Tat insofern zu, als der Westen bisher auf die notwendige und schon längst fällige Nachrüstung freiwillig verzichtet hat, um ein echtes Abrüstungsergebnis zu erreichen. Moskau sollte diese westliche Zurückhaltung aber nicht als Honorierung sowjetischer Vorrüstung mißverstehen. Vielmehr muß die Sowjetunion Einsicht in eine schlichte Notwendigkeit zeigen: Wer einseitig aufrüstet, der muß auch einseitig abrüsten. Daran führt kein Weg vorbei.
Wenn die sowjetische Führung sich dieser Einsicht verweigert, macht sie sich mit ihrem Reden über Abrüstung unglaubwürdig, und sie trägt überdies die volle Verantwortung für die notwendigen Konsequenzen auf westlicher Seite.Um es ganz deutlich zu sagen: Es hängt allein vom Verhalten der Sowjetunion bei den Genfer Verhandlungen ab, ob und in welchem Umfang es zu einer westlichen Nachrüstung kommt. Die westliche Verhandlungsbreite jedenfalls, Herr Kollege
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RüheBahr — das sollten wir der Öffentlichkeit eigentlich gemeinsam darstellen —, reicht von 0 bis 572. Wir sind absolut flexibel. Selbst theoretisch könnte man nicht flexibler sein, als wir es in der Praxis dieser Verhandlungen sind.
Ich habe dieses so ausführlich dargelegt, um Ihnen noch einmal deutlich zu machen, warum die CDU/CSU den Doppelbeschluß aus sicherheitspolitischen wie aus rüstungskontrollpolitischen Gründen nach wie vor für richtig hält. Wir stehen damit in der Kontinuität unserer eigenen Sicherheitspolitik, wie wir sie auch bereits als Opposition in Unterstützung der damaligen Regierung betrieben haben.Die CDU/CSU hofft, daß die Sowjetunion bereit ist, die Sicherheitsinteressen Westeuropas anzuerkennen, und sich zur Abrüstung ihrer SS-20-Raketen bereit findet. Wir stellen zwar fest, daß die Sowjetunion Ende 1982 — wenn auch nur zum Teil — eingestanden hat, daß die westlichen Abrüstungsforderungen gerechtfertigt sind, und daß sie sich zur Reduzierung ihrer SS-20-Überrüstung veranlaßt sieht. Wir stellen weiterhin fest, daß Generalsekretär Andropow die Bereitschaft der Sowjetunion erklärt hat, Sprengköpfe als Zählungsgrundlage zu akzeptieren. Leider, Herr Kollege Bahr, ist uns nicht bekannt, daß diese Erklärung in Genf in einen entsprechenden Verhandlungsvorschlag umgemünzt worden ist.Wir müssen auch feststellen, daß diese ersten kleinen Schritte der Sowjetunion noch nicht ausreichen. Wenn uns die Sowjetunion von der Ernsthaftigkeit ihrer Verhandlungs- und Abrüstungsbereitschaft überzeugen will, dann erwarten wir erstens, daß sie das Prinzip der gleichen Sicherheit aller Staaten auch auf Westeuropa anwendet und ihren Monopolanspruch aufgibt. Zweitens erwarten wir, daß sie darauf verzichtet, einen Keil zwischen die Allianzmitglieder treiben zu wollen bzw. Druck auf die westliche Öffentlichkeit auszuüben. Drittens erwarten wir von der Sowjetunion, daß sie unter Reduzierung ihrer SS-20-Raketen ein Verschrotten und nicht nur ein Zurückverlegen versteht.
Viertens erwarten wir von der Sowjetunion, daß sie zu ihrer ursprünglichen Position zurückkehrt und auf die Einbeziehung der sogenannten Drittstaatenpotentiale verzichtet; das erwarten wir im übrigen auch von Ihnen, Herr Kollege Bahr. Fünftens erwarten wir, daß die Sowjetunion nicht ständig schwer vergleichbare Waffensysteme neu in die Verhandlungen einbezieht, um damit ein Verhandlungsergebnis hinauszuzögern oder zu verhindern. Die gefährlichsten Systeme müssen zunächst beseitigt werden. Das sind die landgestützten weitreichenden Mittelstreckenraketen. Dieses Ziel zu erreichen ist schon kompliziert genug.Mit ihrer Haltung bei den Genfer INF-Verhandlungen entscheidet die Sowjetunion nicht allein über das Maß der westlichen Nachrüstung, sondern auch über die Qualität von West-Ost-Beziehungen insgesamt, nicht zuletzt auch über die deutsch-sowjetischen Beziehungen.Die sowjetische Regierung hat dabei zwei Optionen im Hinblick auf ihre Westpolitik. Entweder sie betreibt eine Politik des hegemonialen Machtanspruchs, gestützt auf Drohung, Einschüchterung und die Ausübung von Druck. Dies führt in eine Sackgasse. Oder sie entscheidet sich für eine Politik der Mäßigung, der Achtung der Unabhängigkeit, des gegenseitigen Respekts und der Gleichberechtigung. Dann eröffnen sich neue und positive Perspektiven in unserem Verhältnis.
Die CDU/CSU ist jedenfalls ebenso wie die von ihr getragene Bundesregierung aufrichtig an verbesserten Beziehungen zur Sowjetunion interessiert. So entscheidend hierfür die weitere Behandlung der Raketenproblematik auch ist, wir jedenfalls möchten die deutsch-sowjetischen Beziehungen nicht auf diese Frage verengen. Vielmehr ist es unser Bestreben, die ganze Breite dieser Beziehungen zu entwickeln: im Bereich der Kultur, der Wissenschaft, der Wirtschaft und nicht zuletzt auch im Hinblick auf humanitäre Fragen.Wir vertreten unsere Sicherheitsinteressen mit Festigkeit und mit Berechenbarkeit. Aber wir streben zugleich gegenüber der Sowjetunion eine Strategie des offenen Dialogs an.Die CDU/CSU begrüßt nachdrücklich, daß sich Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang Juli mit der sowjetischen Führung in Moskau treffen wird.
Das ist eine günstige Gelegenheit, den sowjetischen Gesprächspartnern den deutschen Standpunkt und die deutschen Interessen eindringlich vor Augen zu führen und Fehleinschätzungen zu korrigieren.
Wir sind überzeugt, daß dieser Moskau-Besuch unseres Bundeskanzlers einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Ost-West-Verhältnisses leisten wird. Wir appellieren an die Führung der Sowjetunion, die sich hier bietende Chance konstruktiv zu nutzen.
Im Interesse eines gesicherten Friedens und verbesserter deutsch-sowjetischer Beziehungen wünschen wir dem Bundeskanzler alles Gute für seine Moskauer Gespräche.
— Die Dinge sind etwas ernster, als einige Kollegen es hier durch ihre Zwischenrufe dokumentieren.Waffen sind die Folge, nicht die Ursache von Spannungen. Das hat Bundesverteidigungsminister Wörner vor einigen Tagen in Hannover gesagt. Diese Aussage kann man nur dick unterstreichen. Waffen werden nicht ohne Anlaß produziert. Ihre Existenz signalisiert vielmehr zugleich die Existenz von Spannungen. Deshalb wäre es ein Denkfehler, zu meinen, allein durch Abrüstungsmaßnahmen
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Rühekönne die Entspannung im Ost-West-Verhältnis erreicht werden. Denn selbst wenn man sich z. B. darauf einigte, daß die auf beiden Seiten vorhandenen Waffenarsenale um die Hälfte verringert würden — das wäre schon ein sehr hoch gestecktes Ziel —, bliebe immer noch ein gewaltiges Vernichtungspotential übrig. Die Menschheit könnte sich dann keineswegs sicherer fühlen als heute. Entscheidend wäre nach wie vor der Wille, von den verbleibenden Waffen Gebrauch zu machen oder nicht. Ja selbst für den utopischen Fall, daß es weltweit überhaupt keine Waffen mehr gäbe, wäre das nicht gleichbedeutend mit ewigem Frieden.Dennoch kann es keinen Zweifel geben: Der heute vorhandene Bestand an Waffen ist zu hoch und muß drastisch verringert werden. Genau das meinen wir, wenn wir sagen: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.
Diesem Ziel dient auch der von der CDU/CSU und FDP gemeinsam vorgelegte Entschließungsantrag zur Rüstungskontrolle und Abrüstung. Er spricht sich für eine drastische Verminderung der nuklearen Potentiale in Ost und West aus und fordert die Herstellung eines Gleichgewichts auf möglichst niedrigem Niveau. Der Antrag beschränkt sich aber nicht allein auf den nuklearen Bereich, sondern unterstreicht unseren engagierten Abrüstungswillen für alle Bereiche der militärischen Potentiale.Wir fordern eine deutliche Verringerung auf konventionellem Gebiet, dazu ein weltweites Verbot aller chemischen, biologischen und radiologischen Waffen. Ebenso treten wir für einen umfassenden nuklearen Teststopp sowie einen von Waffen freien Weltraum ein. Nicht zuletzt unterstützen wir das Zustandekommen einer in den KSZE-Prozeß eingebetteten Konferenz über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und über Abrüstung in Europa, die zu mehr Transparenz führen und militärische Überraschungsaktionen verhindern soll.Dieses ist eine ausgewogene Entschließung, die unser Interesse an möglichst umfassenden und unser Drängen auf möglichst umfassende Abrüstungsmaßnahmen dokumentiert, aber zugleich, meine Damen und Herren von der Opposition, unsere Entschlossenheit bekundet, nicht durch einseitige Maßnahmen die Sicherheit unseres Landes aufs Spiel zu setzen.
Alle, die für einschneidende Abrüstungsmaßnahmen sind, aber unsere Sicherheit gewahrt wissen wollen, können diesen Entschließungsantrag unterschreiben, den ich Ihnen namens unserer Fraktion zur Annahme empfehle.In der Begründung dieses Antrags ist die Aufforderung an die Sowjetunion enthalten, einen ernsthaften Beitrag zum Abbau der Ursachen der Spannungen zwischen Ost und West zu leisten. Das entspricht dem schon vorher von mir angesprochenen Gedanken, daß wir bei den Ursachen und nicht bei den Symptomen ansetzen müssen, wenn wir zu einer echten Abrüstung gelangen wollen. Abrüstung führt eben nicht automatisch zur Entspannung. Wir müssen vielmehr die Ursachen der Spannungen beseitigen, um notwendige Abrüstungsmaßnahmen zu fördern.Es wird soviel über atomwaffenfreie Zonen gesprochen. Warum fangen wir nicht damit an, erst einmal über haßfreie Zonen zu sprechen
und Zonen zu schaffen, die frei von Menschenrechtsverletzungen sind? Damit könnten jedenfalls Spannungsursachen beseitigt werden.
Wer Spannungsursachen abbaut — —
— Sind Sie gegen eine haßfreie Zone, Herr Kollege Fischer? Ich meine, daß wir in Deutschland als Ganzem dem Frieden sehr viel näher wären, wenn es in keinem Teil dieses Deutschlands eine Erziehung zum Haß gäbe. Ich finde, daß alle frei gewählten deutschen Parlamentarier eine solche Position unterstützen sollten.
Wir haben gerade deswegen eine besondere Verantwortung, weil es nicht frei gewählte deutsche Parlamentarier gibt, von denen das viele auch gerne unterstützen würden, das aber nicht können. Dieser Verantwortung sollten Sie gerechter werden, als Sie es manchmal tun.
Wer Spannungsursachen abbaut, trägt zur Vertrauensbildung bei und erleichtert damit Abrüstungsmaßnahmen. Daher gilt der Satz: Eine Verminderung von Spannungen ermöglicht eine Verminderung von Rüstung. Abrüstung ist also keine exklusive Angelegenheit von Abrüstungsexperten, und sie kann auch nicht allein im Rahmen der jeweiligen Abrüstungskonferenzen erreicht werden. Abrüstung ist vielmehr eine zentrale Aufgabe einer auf den Abbau von Spannung gerichteten Außenpolitik. Nur wenn es in diesen Bereichen zu Erfolgen kommt, sind auch substantielle und vor allem dauerhafte Abrüstungserfolge vorstellbar. Dieses läßt sich sehr deutlich nachweisen, etwa auch am Beispiel der Menschenrechtsfragen.Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg wäre es schon, wenn die menschlichen Erleichterungen, wie sie im Korb 3 der KSZE-Schlußakte auch von den Staaten des Ostblocks zugesagt worden sind, endlich in der Praxis verwirklicht würden.Lassen Sie mich zum Schluß folgendes feststellen: Wir werden jedenfalls die Entspannungsbereitschaft unserer Nachbarn im Osten nicht nur an ihren Worten, sondern an ihren Taten messen; denn
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Rüheentscheidend ist und bleibt die Qualität der Praxis. Ich möchte abschließend aus der Erklärung von Williamsburg zitieren:Unser Ziel ist eine Welt, in der der Schatten des Krieges von der Menschheit genommen ist.Dieses ist in der Tat auch unser Ziel. Wir wollen dem Frieden dienen, einem Frieden, auf dem aber nicht der Schatten der Unfreiheit liegt. Den Frieden in Freiheit erhalten und sichern — dieser Aufgabe fühlen wir uns verpflichtet. — Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Bastian.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Bundesaußenministers erinnern leider an ein bekanntes Buch mit dem Titel „Im Westen nichts Neues".
Das gilt in zweierlei Hinsicht: erstens, weil wiederum nur auf die wirklich nicht mehr originellen Bekenntnisse zur NATO und zur deutsch-amerikanischen Freundschaft, auf die Beschwörung der angeblichen konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion und ihrer permanenten Aggressivität und natürlich auch auf die angeblich zur Nachrüstung der NATO zwingende angebliche Vorrüstung der Sowjetunion zurückgegriffen wurde, anstatt endlich einmal etwas konstruktives Neues anzubieten.Zweitens bietet sich die Parallele zu diesem Buchtitel an, weil auch die Trostlosigkeit des von Remarque beschriebenen Kriegsalltags große Ähnlichkeit mit der Trostlosigkeit einer Außen- und Sicherheitspolitik aufweist, die längst zur Unsicherheitspolitik mißraten ist
und darum einschneidende Korrekturen erfordert, soll der Weg bergab, auf dem wir uns leider befinden, nicht tatsächlich in den Abgrund führen.
— Geschenkt.Nur in einem Punkt ist dem Außenminister vorbehaltlos zuzustimmen: Frankreich gehört tatsächlich zur NATO. Das brauchte allerdings nicht erst die Pariser Konferenz zu bestätigen. Wenn auch der Herr Außenminister jetzt davon überzeugt ist, gibt es ja sicher keinen Grund mehr, das französische Militärpotential auf der Seite der NATO unberücksichtigt zu lassen, wie das bisher in Genf leider immer noch geschieht.In allen anderen Ausführungen fordert der Bundesaußenminister allerdings unseren schärfsten Widerspruch heraus. Geradezu makaber ist es jedoch, wenn er unter Hinweis auf Genf von Abrüstungsverhandlungen spricht, da doch längst offenkundig ist, daß die amerikanische Verhandlungsposition nicht dazu bestimmt ist, eine Abrüstung durch den beiderseitigen Abbau jetzt existierender eurostrategischer Mittelstreckenwaffen zu erreichen, sondern sehr viel mehr den Zweck verfolgt — das gilt leider auch für die sogenannte Zwischenlösung vom März dieses Jahres —, die Verhandlungen in Genf zum Mißerfolg zu bringen, um die eigenen Rüstungsprogramme ungehindert in Angriff nehmen zu können.
Die gleiche Unaufrichtigkeit liegt leider dem gesamten Prozeß der sogenannten Nachrüstung zugrunde.
Das beginnt schon mit der Behauptung, mit der Aufstellung von SS-20-Raketen, die die seit 20 Jahren auf der anderen Seite vorhandenen SS-4- und SS-5-Systeme seit dem Ende der 70er Jahre abzulösen begonnen haben, sei eine neue Qualität nuklearer Bedrohung nach Europa gekommen, die die westeuropäischen Länder einer zunehmenden Erpreßbarkeit aussetzte. Die Tatsachen belegen das Gegenteil. Ich wundere mich eigentlich, daß Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, die Fakten, die erhältlich sind — Sie brauchen nur die Weißbücher der Bundesregierung aus der damaligen Zeit nachzulesen — so wenig zur Kenntnis nehmen, daß Sie heute immer noch von dieser Erpreßbarkeit ausgehen.
Niemand hat bisher ausgeführt, wie diese Erpreßbarkeit eigentlich aussehen soll und wie sie von dem Erpressenden, ohne mit dem Selbstmord bezahlt zu werden, in die Wege geleitet werden soll.
Allein daran ist schon meßbar, daß es diese Erpreßbarkeit gar nicht gibt. Erpressung ist nur dann möglich und erfolgreich, wenn der, der sie unternimmt, eine Chance hat, mit dem Leben davonzukommen und Erfolg zu haben. Wie soll das denn sein, wie soll die Sowjetunion mit der Androhung des Einsatzes ihrer SS-20-Raketen erpressen können, wenn sie sich einem westlichen Vergeltungspotential gegenübersieht, das die Chance davonzukommen überhaupt nicht erkennen läßt?Die zweite Schwäche der Argumentation in der sogenannten Nachrüstungsfrage liegt darin, daß die Unterscheidung zwischen strategischen Nuklearpotentialen und eurostrategischen Nuklearpotentialen extrem künstlich ist und an den Realitäten vorbeiführt. Auch der SALT-II-Vertrag, der in den Vereinigten Staaten noch nicht einmal ratifiziert worden ist, hat an der Künstlichkeit dieser Unterscheidung nichts geändert und ändert auch nichts daran, daß jede strategische Waffe, gleich, ob auf dem Land stationiert oder auf U-Booten untergebracht, jeden Punkt in den europäischen Ländern, im Osten wie im Westen, erreichen kann und natürlich auch eine Bedrohung darstellt, so daß es auf die zusätzliche Bedrohung durch eurostrategische Systeme in der Form, wie Sie das darstellen, als ob damit eine ganz
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Bastianneue Situation geschaffen worden wäre, überhaupt nicht ankommt.Wie künstlich diese Unterscheidung zwischen strategischen und eurostrategischen Waffen ist, zeigt schon die Tatsache, daß aus dem strategischen U-Boot-Potential der Vereinigten Staaten eine erkleckliche Zahl von Poseidon-Raketen abgezweigt und dem NATO-Oberkommando in Europa für die Zielplanung und für den eventuellen Einsatz auf dem europäischen Kriegsschauplatz zur Verfügung gestellt worden sind, wovon Sie leider meist auch nichts hören lassen, obwohl natürlich auch damit das westliche Drohpotential „in und für Europa" in einer Weise verstärkt worden ist, daß jede Vorstellung, es müsse der sowjetischen SS 20 erst durch Nachrüstung etwas entgegengesetzt werden, von vornherein zur Utopie gestempelt wird.Aber auch ein Vergleich der Waffensysteme, um die es sich hier handelt, zeigt, daß die Gleichsetzung, SS 20 dort erfordert Pershing II und Marschflugkörper bei uns, unzulässig und so nicht haltbar ist. Sie sprechen immer von einer neuen Qualität der Bedrohung, die durch die SS 20 gekommen wäre, aber tatsächlich kann die Sowjetunion mit noch so vielen SS-20-Raketen — das gilt auch, wenn sie so töricht wäre, den Bestand zu vervierfachen — nichts anderes als das tun, was sie mit SS-4- und SS-5-Raketen schon seit zwei Jahrzehnten hätte machen können, nämlich Westeuropa in ein nukleares Trümmerfeld zu verwandeln, sollte sie diese Raketen abfeuern.Da müssen Sie doch fragen: Warum ist es zu diesem Abfeuern nicht gekommen? Wenn Sie schon den guten Willen auf der anderen Seite ohnehin nicht unterstellen wollen, wenn Sie davon ausgehen, daß nur Abschreckung das Abfeuern von Raketen auf der anderen Seite verhindert und in der Vergangenheit verhindert hat, können Sie nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß im Westen in all dieser Zeit natürlich Vergeltungspotentiale bereitgestanden haben, die jede Chance genommen haben, den Westen mit SS-4-, SS-5- und später SS-20-Raketen angreifen zu können, ohne damit den eigenen Untergang heraufzubeschwören.Diese Potentiale stehen im Westen — das ist richtig und eigentlich das einzig Richtige an Ihrer Argumentation — nicht in den kleinen und übervölkerten westeuropäischen NATO-Ländern, aber nicht, weil die NATO technisch nicht in der Lage gewesen wäre, solche Waffensysteme zu konstruieren und in Stellung zu bringen, sondern doch aus dem einzigen Grund, den der frühere Bundeskanzler in einem seiner Bücher einmal auf die treffende Formel gebracht hat: Waffen, die die Sowjetunion erreichen können, gehören nicht in Länder mit kleiner Fläche und großer Bevölkerungszahl, weil sie unweigerlich das Feuer der anderen Seite auf sich ziehen und damit ein untragbares Risiko für die Menschen in diesen Ländern bilden.
Das war doch der einzige Grund, weshalb die NATO auf die Aufstellung landgestützter Systeme im Westen verzichtet hat, doch nicht, weil sie auf ein Gleichgewicht hat verzichten wollen. Sie hat dieses Gleichgewicht geschaffen durch seegestützte Nuklearwaffen, abgezweigt aus dem strategischen Potential der Vereinigten Staaten, und seegestützte Nuklearwaffen der Briten und Franzosen, die ja seit langem zur Verfügung stehen und die natürlich für den Osten eine gleich große und gleich schlimme Bedrohung darstellen, wie landgestützte sowjetische Raketen sie für den Westen selbstverständlich auch bedeuten.Wir wollen daher, daß über diese Potentiale und ihre Reduzierung verhandelt wird und daß nicht auf verschiedenen Ebenen verhandelt wird: auf der Ebene jetzt existierender Waffen des Ostens und künftiger Waffen des Westens. Das paßt ja nicht zusammen. Das müssen Sie doch einsehen. Das ist doch, als wenn Sie in einer Kamera die Linsensysteme nicht richtig eingestellt haben und sich zwei Bilder nicht decken. Genau so argumentieren Sie in der ganzen sogenannten Nachrüstungsfrage.Der einzig richtige Ansatz wäre, die jetzt vorhandenen Mittelstreckenwaffen des Westens und des Ostens — beide haben zu viel aufgeboten und zu viel angeschafft, das ist völlig klar —, die beide für Europa eine unakzeptable Bedrohung darstellen, durch Verhandlungen zum Verschwinden zu bringen. Aber die Verhandlungen, die das erreichen sollen, müssen das auch zum Ziel haben und können nicht durch die unseriöse Forderung nach einer Null-Lösung nur vom Osten den Abbau existierender Systeme verlangen und im Westen nur den Verzicht auf künftige Rüstungen anbieten. Daß das nicht aufgehen kann, liegt doch auf der Hand. Ich glaube, es erfordert wirklich nicht viel Phantasie, das einzusehen und sich vorzustellen.Um noch einmal auf die Waffen selbst zurückzukommen: Die SS 20 bietet nicht die Möglichkeit, nuklearen Krieg führbar zu machen, wie oft das auch behauptet wird. Sie ist nicht genügend treffgenau. Sie befördert deswegen Gefechtsköpfe im Größenbereich von 150 bis 200 Kilotonnen, weil sie mit großer Zerstörungskraft den Mangel an Treffgenauigkeit ausgleichen muß. Genauso ist das bei den U-Boot-gestützten Raketen des Westens der Fall. Die SS 20 bietet nicht die Möglichkeit, durch extreme Treffgenauigkeit die nukleare Wirkung mit kleinen Gefechtsköpfen auf wichtige militärische und politische Ziele zu konzentrieren, wie das zur Führung eines nuklearen Krieges nötig wäre.Insofern kann mit der SS 20 nichts anderes gemacht werden, als große Zerstörungen anzudrohen und herbeizuführen. Das kann mit allen anderen im Westen wie im Osten bisher vorhandenen Waffensystemen in gleicher Weise geschehen. Die SS 20 ist daher eine von vielen überflüssigen nuklearen Raketensystemen, wie es sie im Osten und im Westen in allzu großer Zahl bereits gibt. Sie hat an der Option für Nuklearkrieg nichts geändert. Sie bietet auch nicht die Möglichkeit, die Westeuropäer irgendeiner neuartigen nuklearen Drohung oder Erpressung auszusetzen.Ganz anders wäre die Situation im Westen, wenn Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper tatsächlich zur Aufstellung gelangen sollten. Sie brau-
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Bastianchen sich doch nur die Daten dieser Waffen anzusehen, die ja von den Vereinigten Staaten veröffentlicht werden. Da muß Ihnen das doch klar werden. Aber ich sehe schon an Ihren Mienen, daß Sie gar nicht bereit, vielleicht auch nicht fähig sind, das zur Kenntnis zu nehmen. Dann ist es ja sinnlos, Ihnen diese Unterschiede überhaupt noch vorzuhalten. Sie haben ja Ihr Programm schon fertig. Sie wollen diese Stationierung, weil Sie davon ausgehen, damit sicherer leben zu können. Sie werden genau das Gegenteil erreichen. Sie werden zusätzliche Unsicherheit für Europa schaffen und Europa nur näher an den Rand des nuklearen Krieges hinführen, ob Sie das jetzt erkennen oder nicht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann?
Nein. Ich habe im Gegensatz zu den anderen Rednern leider so wenig Redezeit, daß ich die schon ausnützen möchte. Ich stehe aber Herrn Möllemann nachher gern zur Verfügung.Pershing-Il-Systeme und Marschflugkörper sind erstmals wirklich treffgenaue Waffen. Ihre Trefferleistung ist zehnmal höher als die der SS-20-Raketen des Ostens.
— Ja, das ist schlimm; denn diese verbesserte Trefferleistung dient nicht der Humanisierung des Krieges, wie Sie das vielleicht glauben. Sie dient dazu, Nuklearkrieg möglich zu machen, der nicht mit dem Risiko der Eskalation belastet ist.
— Da haben Sie völlig recht. Auch ich finde jeden Krieg, ich finde auch jede konventionelle Waffe inhuman.
— Nein, ich rede jetzt nur von der nuklearen Rüstung, weil wir hier die größte Kriegsgefahr auf uns zukommen sehen. Das heißt nicht, daß wir konventionelle Waffen für harmlos halten, wie das hier vorhin angeklungen ist, oder daß es nicht selbstverständlich auch darum geht, eine Reduzierung der konventionellen Rüstung zu erreichen. Aber im Augenblick haben wir das Problem, daß Genf mit den INF-Verhandlungen, die ja angeblich dazu bestimmt sind, die Mittelstreckenwaffen zu reduzieren, wegen des Ansatzes, der für diese Verhandlungen gewählt worden ist, offensichtlich vor dem Scheitern steht. Wir haben das Problem, daß wir uns dann, wenn diese Verhandlungen scheitern, einer Rüstungseskalation im nuklearen Bereich gegenübersehen, die Sie mit zu vertreten und zu verantworten haben. Darüber sind Sie sich hoffentlich im klaren; ich fürchte aber, Sie sind es nicht.
— Das hat mit General wirklich nichts zu tun.
Wenn Sie schon den Titel ansprechen, sollten Sie vielleicht bedenken: jeder Beruf hat seine bestimmten Eigentümlichkeiten.
Die des Soldaten liegen vielleicht in einer knappen und barsch klingenden Sprache; das will ich gar nicht zurückweisen. Beim Opernsänger und beim Pfarrer sind es wieder andere Eigentümlichkeiten.
Beim Politiker liegen sie darin, daß leider, wie ich es schon viel zu oft erlebt habe, stundenlang nichts gesagt wird.
Auf diese Überlegenheit des Politikers bin ich wirklich nicht neidisch. Aber die vom Beruf geprägten Eigenschaften erstrecken sich ja nicht nur auf solche Äußerlichkeiten. Wenn Sie darauf abheben, dann müssen Sie eben auch in Rechnung stellen, daß sich in 40 Berufsjahren zwangsläufig ein Maß an Fachkompetenz ergibt, das andere in dieser Form vielleicht nicht für sich in Anspruch nehmen können.
Deswegen möchte ich noch einmal sagen: Die Pershing II und die Marschflugkörper bieten erstmals die Möglichkeit, ihre nukleare Wirkung auf kleine, wichtige Punktziele zu konzentrieren, und darin liegt ja die Gefahr. Denn die Absicht ist natürlich nicht, den Krieg harmloser oder weniger verlustreich zu machen. Die Absicht ist doch die, der anderen Seite mit der sogenannten Enthauptungsstrategie nicht mehr große Zerstörungen anzudrohen oder zuzufügen,
sondern die Nervenknoten in der militärischen und politischen Führungsstruktur zu lähmen, und dazu reichen 108 Pershing-Systeme aus.
— 108 Pershing-Raketen sollen hier herkommen. Die reichen aus, um die 108 wichtigsten Führungszentren zu lähmen.
Im übrigen wissen Sie ja gar nicht, ob sich die Zahl nicht verdoppelt. — Die Führungszentren liegen nicht außerhalb der Reichweite. Sie gehen immer davon aus, die Vorstellung, die Pershing II werde zum Erstschlag verwendet, sei unsinnig, weil sie ja
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Bastiandie Silos der strategischen Waffen nicht erreiche. Das ist richtig, das behauptet j a auch niemand.
— „Sehr gut", richtig; da sind wir uns ja völlig einig. Ich bin froh, das feststellen zu können. — Das hat von uns aber auch niemand behauptet. Diese Behauptung wird uns von Ihnen immer nur unterstellt, um uns das als unsinnige Argumentation anlasten zu können. Niemand von uns hat gesagt, die Erstschlagsfähigkeit, die wir mit diesen Waffen auf uns zukommen sehen, wird dazu ausgenutzt, um das strategische Potential physisch zu zerstören. Das ist ja gar nicht notwendig. Es genügt ja doch, die Nervenstränge zu durchtrennen, die zum Einsatz dieses Potentials hinführen. Dann erreichen sie denselben Zweck, aber sehr viel einfacher, sehr viel schneller und mit sehr viel weniger System. Genau das ist der Zweck dieser neuen, treffgenauen Waffen, ob Sie es jetzt erkennen oder nicht. Es gibt genügend amerikanische Stimmen und Quellen, die das ganz eindeutig belegen. Darauf möchte ich Ihre Aufmerksamkeit doch noch einmal lenken.
— Nein, ich sage ja: Sie sind nicht zum Erstschlag auf die Silos geeignet, aber sie können nur zum Ersteinsatz verwendet werden, weil sie in unserem kleinen, übervölkerten Land verwundbar, extrem verwundbar sind; die technische Mobilität nützt da gar nichts. Sie sind in dieser überwachbaren Region Bundesrepublik verwundbar; daran gibt es keinen Zweifel. Jede Bewegung, die sie vollziehen, ist mit Hilfe von Aufklärungssystemen feststellbar. Deswegen sind sie auch ausschaltbar, deswegen müssen sie eingesetzt werden, bevor sie ausgeschaltet werden können. Es gilt das Motto: Feuere sie ab oder verlier sie! Auf englisch: Fire or loose them! Das ist ein ganz einleuchtender Grundsatz, der für alle Waffen mit extremer Verwundbarkeit und hoher Bedeutung für den, der sie besitzt, gilt,
aber natürlich auch für den, der damit angegriffen wird. Deswegen werden diese Waffen zwangsläufig zum Erstschlag verwendet werden müssen, ob sich diejenigen, die sie hier dulden, das so vorstellen oder nicht; da gibt es gar keine andere Möglichkeit.
Der Besitzer ist gezwungen, diese Waffen einzusetzen, bevor sie ihm aus der Hand geschlagen werden,
und weil die andere Seite das weiß, ist sie gezwungen, den Versuch zu machen, diese Waffen vorher aus der Hand zu schlagen. Damit eskaliert die Nervosität auf beiden Seiten im Falle einer Krise ins Unangemessene und natürlich auch die Bereitschaft, den Knopf noch früher zu drücken, als es von der Sache her vielleicht überhaupt gebotenwäre. Damit allein wäre eine Eskalation in Gang gesetzt, die nicht verantwortbar ist und die für Europa auch nicht akzeptiert werden kann.
Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen. Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Ich bedanke mich, daß Sie mir die Überschreitung zugebilligt haben. Es ist leider in 15 Minuten sehr schwierig, diese komplizierten Zusammenhänge darzustellen.
Deswegen fordern wir einen Verhandlungseinstieg in Genf und eine Einwirkung auf die Vereinigten Staaten zur Veränderung der Verhandlungsposition, die nicht mehr davon ausgeht, nur die jetzt existierenden Waffen des Ostens zu reduzieren, aber im Westen nur künftige zur Disposition zu stellen, sondern auch die jetzt existierenden Waffen des Westens, die es ja gibt — daran gibt es ja keinen Zweifel; ich kann es jetzt in der Kürze der Zeit nicht noch einmal belegen —, ebenfalls zu reduzieren, wenn möglich, ganz zum Verschwinden zu bringen.
Ein entsprechender Entschließungsantrag liegt auf dem Tisch. Wir hoffen, daß darüber heute noch abgestimmt werden kann. Die Begründungen, die darin enthalten sind, kann ich mir hier jetzt wegen der Kürze der Zeit ersparen.
Wir glauben, daß nur mit einer solchen Verhandlungsführung überhaupt noch etwas Positives in Genf bewirkt werden kann. Wir fordern darüber hinaus, daß über Genf hinweg Verhandlungen begonnen werden, an denen alle Nuklearmächte in Europa beteiligt sind und die das Ziel haben müssen, alle jetzt existierenden Waffen — großer, mittlerer und kurzer Reichweite — zum Verschwinden zu bringen, weil in all diesen Waffen eine nicht akzeptable Bedrohung unseres Kontinents liegt, die wir nicht länger hinzunehmen bereit sind.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte meine Ausführungen gern mit einem Hinweis auf das begonnen, was allen Fraktionen dieses Hauses gemeinsam ist, nämlich ein Ernstnehmen der Sorge um den Frieden, ein Bemühen, den Frieden durch Abrüstung zu sichern. Das heißt ja wohl nichts anderes, als den Versuch gemeinsam zu unternehmen, die Rüstungsspirale einmal nicht nur anzuhalten, nicht nur, Herr Kollege Bastian, eine Obergrenze für Rüstung festzuschreiben, sondern das erste Mal den ernsthaften Versuch zu unternehmen, diese Rüstungspirale durch Abbau bereits vorhandener Rüstung zu beseitigen und den Frieden sicherer zu machen.Nach Ihrer Rede, Herr Kollege Bastian, bin ich leider nicht mehr in der Lage, festzustellen, daß wir uns gegenseitig den Willen zum Frieden nicht ab-
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Ronneburgersprechen. Sie haben ausdrücklich gesagt „die Koalitionsfraktionen", und, Herr Kollege Bahr, Herr Kollege Bastian, hätte Sie mit einbeziehen müssen. Sie haben festgestellt, Herr Bastian, wir wollten gar keine Abrüstung. Wir wollten die Verhandlungen in Genf nur, um unsere Rüstungspläne durchzuführen. Ja, Sie sind noch weitergegangen und haben uns unterstellt, wir wollten nicht den Frieden, sondern wir wollten den Erstschlag. Dies ist allerdings ein Novum in diesem Hohen Hause, daß es hier eine Fraktion gibt, die den anderen unterstellt, sie wollten nicht Frieden, sie wollten Rüstung, sie wollten nicht Entspannung, sie wollten Krieg. Dagegen wende ich mich mit aller gebotenen Entschiedenheit.
Ich bin nicht bereit, irgend jemandem in unserem ganzen Lande den Friedenswillen abzusprechen. Aber ich nehme auch für mich und für alle diejenigen, die an beiden Teilen des Doppelbeschlusses festhalten, in Anspruch, daß auch uns der Friedenswille nicht abgesprochen wird. Ich sage dies besonders im Rückblick auf die Erfahrungen des evangelischen Kirchentages in Hannover, auf dem ich eine Fülle von gewiß kontroversen Gesprächen geführt habe, aber nicht einmal, auch nicht in der härtesten Diskussion die Unterstellung erlebt habe, ich wolle weniger als irgend jemand anders für den Frieden tun. Dies ist allerdings eine Erfahrung, von der ich gehofft hatte, Herr Kollege Bastian, sie würde auch für die Gespräche in diesem Hause und für die Diskussionen in diesem Hause gelten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schröder?
Ronneburger [FDP]: Ja, bitte.
Herr Kollege Ronneburger, was halten Sie denn vor dem Hintergrund dessen, was Sie soeben gesagt haben, von dem in dieser Woche in der „Zeit" wiedergegebenen Zitat des Bundesverteidigungsministers: „Die Friedensbewegung unserer Tage beschwört genau die Kriegsgefahr herauf, die sie zu bannen sucht", gesprochen auf dem Kirchentag, den Sie soeben erwähnt haben?
Herr Kollege, ich will Ihnen dazu folgendes sagen, und ich werde bei einer Antwort an den Kollegen Bahr noch darauf zurückkommen: Es kommt allerdings in der gegenwärtigen Phase der Verhandlungen in Genf darauf an, die Nerven zu behalten, um das von uns gemeinsam angestrebte Ergebnis, nämlich eine Reduzierung von Rüstung, zu erreichen.
— Ich komme nachher gegenüber dem Kollegen
Bahr auf dieses Problem zurück. Ich bitte auch,
daran zu denken, wie knapp die Redezeit für jeden
Redner in diesem Hause, nicht nur für den Kollegen Bastian, ist.
Ich möchte zusätzlich zu diesen Erfahrungen des evangelischen Kirchentags auf eine Aussage der katholischen Bischöfe hinweisen, die wir vielleicht auch noch in Erinnerung haben sollten. Es heißt dort:
Oftmals wird gerade eine christliche Schau der Dinge dem Christen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen.
Hier könnte eine Gemeinsamkeit gefunden werden, die ich für ganz entscheidend halte. Denn Abrüstung ist ja nicht nur auf dem Gebiet der Mittelstreckenraketen nötig. Es geht nicht nur um nukleare Abrüstung allgemein, sondern auch um die Abrüstung chemischer und konventioneller Waffen; und dies gilt ja wohl nicht zuletzt für unser Land, für beide Staaten in Deutschland, die in einer ungewöhnlich starken Weise durch Lagerung von Massenvernichtungsmitteln belastet sind.
Es geht um die Frage der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Pakts in Mitteleuropa, die auch von Ihnen, Herr Bastian, soeben zwar bestritten worden, aber — wenn ich an Äußerungen aus Ihrer beruflichen Tätigkeit zurückdenke — zumindest damals nicht in Frage gestellt worden ist. Es geht vor allem um die besondere geographische Situation unseres Landes in einer möglichen Auseinandersetzung. Abrüstung ist doch deshalb für unser Land so wichtig, weil ohne wirksame Abrüstungsbemühungen und Rüstungskontrolle auch die Entspannung gefährdet wäre, die für Deutschland zu beiden Seiten der Grenze, für alle deutschen Menschen, von einer ganz entscheidenden Bedeutung ist.
Herr Abgeordneter, gestatten sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bastian?
Bitte sehr.
Herr Abgeordneter Ronneburger, haben Sie jemals von mir während meiner aktiven Dienstzeit eine Äußerung gehört, die darauf hingedeutet hätte, daß ich geglaubt hätte, als Truppenführer meinen Auftrag zur Verteidigung wegen einer angeblichen Überlegenheit der anderen Seite nicht erfüllen zu können?
Herr Kollege Bastian, ich darf doch wohl unterstellen, daß Sie in Ihrer Zeit als Truppenführer nicht von dem abgewichen sind, was Grundlage der Verteidigungspolitik der Bundesregierung, aber auch der Aufgabenstellung für die Bundeswehr insgesamt gewesen ist. Dies sollte, meine ich, in Ihren Überlegungen auch heute noch eine Rolle spielen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 717
RonneburgerIch wende mich gegen Ihren Alleinvertretungsanspruch in dem Zusammenhang der Friedenssicherung. Ich erinnere an den Verzicht der Bundesrepublik auf atomare, biologische und chemische Waffen 1954. Ich erinnere an die deutsche Friedensnote vom 25. März 1966, die Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags, Entspannungspolitik und Ostverträge mit ihrem erklärten Gewaltverzicht. Dies sind nur einige wenige der Stationen, die wir auf unserem Weg zur Sicherung des Friedens zurückgelegt haben. Das könnte in einem erheblichen Maß durch einzelne Fakten ergänzt werden.
Herr Kollege Bahr, Sie haben heute morgen einen merkwürdigen Schwenk vollzogen. Ich bin wirklich bestürzt über Ihre Bemerkung, die NullLösung, die ja von der sozialliberalen Koalition in die Debatte eingeführt worden ist,
habe niemals eine Forderung nach Null auf seiten der Sowjetunion enthalten. Dazu muß ich Ihnen nun einfach sagen, daß der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den beiden Ministern Apel und Genscher ausdrücklich dafür gedankt hat, daß sie in den Verhandlungen der NATO — entgegen ursprünglich auf seiten der USA bestehenden großen Bedenken — erreicht haben, die Null-Lösung als Verhandlungsziel anzustreben, und zwar auf beiden Seiten, nicht etwa nur auf unserer Seite. Dies ist damals ausdrücklich als ein Erfolg der sozialliberalen Koalition gefeiert worden,
aber heute wird es von Ihnen in Frage gestellt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Genscher?
Bitte sehr, Herr Kollege Genscher.
Herr Abgeordneter Ronneburger, darf ich Sie daran erinnern, daß der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt am 15. September 1981 vor der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei folgendes erklärt hat — ich zitiere wörtlich — —
— Ja, ich habe gefragt, ob ich Herrn Abgeordneten Ronneburger daran erinnern darf.
Er wird dann sagen, ob ich das darf.
— Ich kann fragen, aber nicht jeder kann verstehen!
Es heißt dort:
Außenminister Haig zeigte großes Verständnis für unsere Ansicht, daß die beiderseitige Null-Option in der Eröffnungsposition des Bündnisses zum Ausdruck kommen muß.
Herzlichen Dank für die Ergänzung meiner Aussage durch diese Frage!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bahr?
Bitte sehr.
Herr Kollege Ronneburger, sind Sie bereit, die Rede, die ich gehalten habe, nachzulesen und festzustellen, daß ich mich gar nicht gegen die Null-Null-Lösung im Oktober 1981 gewendet habe,
sondern nur dargelegt habe, daß bei dem Beschluß 1979 von „Null-Null" keine Rede war? Dabei bleibe ich allerdings.
Herr Kollege Bahr, ich habe Ihre Rede mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und werde auch beim Nachlesen des Protokolls nichts anderes feststellen können, als daß Sie hier heute gesagt haben, „Null-Null" — mit „Null" auch auf sowjetischer Seite — sei niemals Forderung des Westens gewesen.
Aber wir können uns darüber an Hand des vorliegenden Protokolls unterhalten, wobei ich übrigens, Herr Kollege Bahr,
auch Ihre Aussage, die Verifikation des Abbaus der SS 20 oder ihrer Verschiebung etwa in die östlichen Teile der Sowjetunion sei weniger wichtig, als im Sinne der rüstungskontrollpolitischen Prinzipien und einer wirklichen, friedenssichernden Abrüstung wenig seriös empfinde. Ich muß Ihnen sagen, dies halte ich nun allerdings — auch mit einem Blick auf Ostasien — für eine keineswegs am Rande liegende Frage, und keineswegs am Rande liegt auch die Frage, wie schnell verlagerte SS 20 etwa in den westlichen Bereich zurückgeführt werden können. Ich würde gern davon ausgehen, daß wir dieser Frage allerdings eine große Aufmerksamkeit zuwenden sollten.Das gleiche gilt für Ihre Behauptung, daß landgestützte Waffen die Gefahr der Regionalisierung einer atomaren Auseinandersetzung beinhalten. Dies ist natürlich grundsätzlich richtig, aber diese Gefahr der Regionalisierung ist doch wohl durch die
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718 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
RonneburgerAufrüstung auf sowjetischer Seite mit SS 20 entstanden,
nicht etwa durch das, was auf unserer Seite an Gegenmaßnahmen geplant oder im Hintergrund vorhanden ist.Daher ist es falsch, den USA den gleichen Vorwurf zu machen, sie wollten eine Regionalisierung eines Krieges in Europa. Denn das Angebot der Null-Lösung zeigt doch wohl gerade, daß es den USA nicht um diese Möglichkeit einer Regionalisierung geht.Eine letzte Bemerkung. Wer eine Zwischenlösung jetzt ablehnt und sich gleichzeitig gegen die NullLösung wendet und nur für ein Einfrieren eintritt, Herr Kollege Bahr, signalisiert der anderen Seite damit doch wohl: Wir rüsten auf keinen Fall nach. Er motiviert damit die Sowjetunion keineswegs zu einem Entgegenkommen in den so schwierigen, aber so wichtigen Verhandlungen über diese Fragen.
Ich meine deswegen, daß wir uns auf Grundsätze unserer Verteidigungspolitik besinnen sollen, die wir in der Vergangenheit beachtet haben und die auch für die Zukunft verbindlich sein können. Wir haben als FDP in diesem Zusammenhang einige grundlegende Forderungen gestellt. Ich will sie hier in aller Kürze zitieren: Der konventionellen Verteidigung gebührt absoluter Vorrang. Verteidigungsstrategie und Struktur des Verteidigungspotentials müssen eindeutig defensiv sein. Die vorhandenen nuklearen Massenvernichtungsmittel sind keine herkömmlich einsetzbaren Waffen, sondern politische Waffen zur Abschreckung. Ihre Begrenzung, Reduzierung und schließlich vollständige Beseitigung ist ein vorrangiges politisches Ziel.In diesem Zusammenhang noch einmal eine Frage an den Kollegen Bastian. Herr Bastian, Sie haben gesagt, die sowjetischen Waffen seien kein Erpressungspotential, und Sie haben versucht, das zu begründen. Aber eine Antwort auf die Frage, wozu denn eigentlich laufend zusätzliche SS 20 stationiert werden, wenn es nicht um das Mittel politischer Erpressung geht, haben Sie vermieden, und die wäre allerdings dann notwendig gewesen.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns zu einer europäischen Friedensordnung bekennen, in der die Völker Europas in freier Selbstbestimmung in einem Europa der Pluralität gemeinsam ihre Zukunft gestalten. Das muß ein Europa sein, in dem der Nichtkrieg durch Abschreckung ersetzt wird durch einen Frieden auf der Basis von Vertrauen. Dies kann nur auf der Basis von Zusammenarbeit, Vertrauen und Sicherheit geschehen. Der Bundestag hat schon in seiner früheren Zusammensetzung wesentlich dazu beigetragen, daß der Westen ein breites Angebot an Rüstungskontrollvorschlägen unterbreitet hat. Ich verweise auf den Verhandlungsteil des NATO-Doppelbeschlusses, ich verweise auf die Vorschläge zur Null-Lösung oder Zwischenlösung, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
— Herr Kollege Bastian, ich bitte um Entschuldigung. Ich habe eine große Zahl von Zwischenfragen zugelassen. Meine Redezeit geht zu Ende. Mein Interesse, meine Meinung und die Meinung meiner Fraktion im Zusammenhang vorzutragen, sollten Sie respektieren. Ich bitte darum.Ich möchte noch mit allem Nachdruck auf einen Punkt hinweisen, der mich mit einiger Sorge erfüllt. Im Augenblick erfolgt in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik, aber auch darüber hinaus eine, wie ich meine, unheilvolle Verengung des Blickwinkels nur auf die Mittelstreckenraketen in Genf, auf diese Verhandlungen,
während die Regierungserklärung, die der Bundesaußenminister heute abgegeben hat, den notwendigen Versuch unternimmt, auch diese Verhandlungen über Mittelstreckenraketen in den Gesamtzusammenhang der abrüstungspolitischen Bemühungen der Bundesrepublik, des Westens insgesamt einzubinden. Es ist doch einfach unübersehbar, daß die Verhandlung über strategische Waffen — Sie haben es an einem Punkt getan, Herr Bahr — dazugehören, genauso wie die über Mittelstreckenwaffen, daß MBFR ein wichtiger Punkt der Abrüstungsverhandlungen und damit der Friedenssicherung ist, daß die Genfer Verhandlungen zum weltweiten Verbot aller chemischen Waffen ebenso dazugehören, das Verbot aller radiologischen Waffen, daß es um den nuklearen Teststopp oder Testbann geht unter besonderer Berücksichtigung der Verifikationsfrage, daß es auch um die einschneidende Reduzierung der nuklearen Kurzstreckenwaffen geht, die auf der einen Seite wie auf der anderen Seite der Grenze unter Umständen auf deutschem Boden abgefeuert und auf deutschem Boden detonieren würden. Es geht aber vor allen Dingen auch um einen erfolgreichen Abschluß des KSZE-Nachfolgetreffens in Madrid und das Mandat für eine europäische Abrüstungskonferenz.Der Westen wird in den wesentlichen Punkten all dieser Dinge neue Vorschläge machen, zu MBFR, zur Reduzierung neuer Kurzstreckenwaffen. Gerade auf diesem Gebiet sind wir auf westlicher Seite mit dem Abzug von tausend Sprengköpfen schon in eine erhebliche Vorleistung eingetreten.Es geht schließlich um ein Aufgreifen des im Gespräch befindlichen Vorschlags zum Abschluß eines Gewaltverzichtvertrages, von dem ich meine, daß an ihm alle Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts teilnehmen sollten, daß er aber auch offen sein sollte für alle Unterzeichnerstaaten der Schlußakte von Helsinki. Dies könnte bei weltweiter Geltung des Prinzips des Gewaltverzichts ein wesentlicher Beitrag zu einer aktiven Friedenspolitik sein.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 719
RonneburgerEs geht auch um ein gut vorbereitetes Gipfeltreffen; aber auch wechselseitige Besuche höchster Sowjetunions- oder US-Politiker könnten eine positive Entwicklung fördern.Der Prozeß der Versöhnung mit Polen ist für mich einer der zentralen Punkte einer Entspannungs- und Friedenspolitik. Hier geht es auch weiterhin um die Hoffnung auf Normalisierung. Ich verweise nur auf das, was im Zusammenhang mit dem Papstbesuch jetzt in Polen selber im Gespräch ist.Wir müssen diesen Prozeß der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa lebendig erhalten. Wir müssen wirtschaftliche Beziehungen weiter pflegen, um das Interesse an gegenseitigen Vorteilen — auch aus wirtschaftlicher Gemeinsamkeit und wirtschaftlichen Verbindungen — überwiegen zu lassen gegenüber jedem Streben nach Konfrontation oder gar kalter oder heißer Auseinandersetzung.In diesem Zusammenhang sind natürlich die Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland von ganz besonderer Bedeutung. Ich halte es für einen wesentlichen Schritt nach vorne, daß die beiden deutschen Staaten neuerdings konstruktiv jeweils in ihrem Bündnis auf diese Entwicklung einwirken können. Wir sollten danach streben, dieses gemeinsame Interesse, diese gemeinsame Verantwortung der Deutschen für den Frieden zu erhalten und alles dafür zu tun, was uns an Möglichkeiten gegeben ist.Aber, meine Damen und Herren, dies alles, was ich Ihnen da vortrage, verlangt von der Sowjetunion einen Verzicht auf Hegemoniestreben. Es geht auch für die Sowjetunion um ein Anerkenntnis gleicher Sicherheit für alle, keine Sicherheit zweiter Klasse für Europa. Insofern verstehe ich die Argumentation nicht, die etwa die durch die Pershing II eintretende Situation als eine völlig neue im Feld der Rüstung bezeichnet, mit der Begründung, mit dieser Pershing II wäre erstmals das Kerngebiet der Sowjetunion erreichbar. Haben wir in Westeuropa eigentlich einen geringeren Anspruch auf Sicherheit? Haben wir weniger Recht, zu fordern, daß wir nicht von Raketen bedroht werden, die mit einer kurzen, einer sehr kurzen Vorwarnzeit unser Gebiet erreichen können? Für mich ist Westeuropa auch Kerngebiet der NATO und ihres Bereiches. Alles, was aus dieser Richtung an Spekulationen kommt, halte ich für abwegig und zurückweisbar;
denn, meine Damen und Herren, alle diese Bestrebungen, die wir gemeinsam veranstalten sollten, um Abrüstung zu erreichen, um den Frieden sicherer zu machen, können, soweit sie von diesem Hause ausgehen, nur erfolgreich sein, wenn wir den Konsens bewahren, den wir in der Vergangenheit gemeinsam getragen haben. Und eine solche Gefährdung des Konsenses im Bundestag, Herr Kollege Bahr, ist nicht etwa ein autoritäres Reden um den NATO-Doppelbeschluß, sondern es geht um die Frage, ob wir diese Gefährdung des Friedens für unser Land auch in Zukunft gemeinsam bekämpfenwollen. Ich fordere daher die SPD-Fraktion nachdrücklich auf, bei dem Beschluß vom 26. Mai 1981 zu bleiben, der ja erst zwei Jahre zurückliegt, und verweise die Opposition darauf, daß Helmut Schmidt den Doppelbeschluß nach wie vor — wie in der Vergangenheit — für richtig hält.
Lassen Sie mich eines abschließend sagen. Wer für Abrüstung, aber gegen den Doppelbeschluß ist, muß doch wohl auf die Frage Antwort geben können, wieso er sich gegen den einzigen Beschluß freier Staaten wendet, Vorrüstung nicht mit sofortiger Nachrüstung zu begegnen, sondern — wenn auch mit zeitlicher Befristung — statt dessen Abrüstungsverhandlungen anzubieten. Dieser NATO- Doppelbeschluß ist doch nicht das, als was er in der Öffentlichkeit so häufig diffamiert wird: ein Rüstungsbeschluß. Meine Damen und Herren, er ist vielmehr der erste ernsthafte Versuch, das friedenssichernde Gleichgewicht nicht durch gegenseitige Aufrüstung, sondern durch einen Abbau bereits vorhandenen Rüstungspotentials zu erhalten.
Die Alternative zum NATO-Doppelbeschluß wäre eine Aufrüstung auf westlicher Seite, eine Nachrüstung auf westlicher Seite seit 1979 gewesen.
— Halten Sie es, Herr Kollege Schily, nicht für sinnvoll, daß man nicht automatisch nachrüstet, sondern daß man sagt: Wir verhandeln, wir versuchen, das Gleichgewicht auf niedrigem Niveau zu finden? Sollten wir nicht jedenfalls in dieser Frage eine gemeinsame Meinung hier im Bundestag finden können?
Meine Damen und Herren, für uns, für die FDP- Fraktion, überwiegen die Argumente pro Doppelbeschluß deutlich gegenüber den Bedenken. Ich weiß, daß es einen Großteil von Gegenargumenten gibt, die in der Form, in der sie immer wieder geäußert werden, nicht haltbar sind. Ich habe leider nicht mehr die Zeit, darauf im einzelnen einzugehen. Ich appelliere nur noch einmal an Sie alle: Lassen Sie uns die Sicherung des Friedens gemeinsam als unser Ziel betrachten. Lassen Sie uns gemeinsam dafür wirken, daß Rüstung nicht immer weiter aufgebaut, sondern abgebaut wird. Lassen Sie uns damit auch im Interesse derjenigen, die in unserem Land und darüber hinaus sorgenvoll auf die Entwicklung schauen, einiges dazutun, um Sorgen geringer zu machen und den Frieden zu sichern.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
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720 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. Wörnerund Kollegen! Die sicherheitspolitische Debatte unserer Tage leidet manchmal darunter, daß bewußt oder unbewußt einige Grundtatsachen unserer Lage vergessen oder gar unterschlagen werden. Erlauben Sie mir daher, zu Beginn meiner Ausführungen einige dieser Grundtatsachen in die Erinnerung zurückzurufen.Die erste ist diese: Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird die europäische Sicherheitslage von der westlichen Antwort auf den massiven Aufbau sowjetischer Militärmacht bestimmt. Diese massive sowjetische Aufrüstung und nichts anderes hat die Amerikaner gezwungen, ihre Truppen in Westeuropa und hier bei uns zu stationieren.
Gleichwohl: Die Ursache der Gefahren, die unserer Sicherheit drohen, liegt nicht in den Waffen oder in der militärischen Konfrontation, sondern im politischen Konflikt. Auch das wird ja häufig genug vergessen oder unterschlagen. Dieser Konflikt wird eben nicht vom Rüstungswettlauf bestimmt, wie so manche sagen,
sondern durch die Unterdrückung der Freiheit der osteuropäischen Völker und durch den expansiven Charakter der sowjetischen Machtpolitik, die nach Einfluß und Vorherrschaft in Westeuropa strebt. Da liegt die tiefste Wurzel.
— Wenn Sie jetzt „Vietnam" dazwischenrufen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Nirgendwoanders wird diese Realität stärker sichtbar als in unserem eigenen Vaterland, an der Mauer, an den Tötungsapparaten, am Stacheldraht.
Wer von Frieden redet, der muß darüber reden.
Eine andere Grundtatsache: Die einzigen Streitkräfte, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs europäische Grenzen überschritten und die Souveränität europäischer Staaten — im übrigen in allen Fällen eigener Verbündeter — verletzt haben, waren sowjetische und osteuropäische Armeen. Die einzigen Panzer, die in der Nachkriegszeit in europäischen Städten geschossen haben, waren sowjetische Panzer.
Alle einschneidenden Nachkriegskrisen waren die Folgen politischer Offensiven der Sowjetunion.
Das zeigt: Die Spannungen zwischen Ost und West sind nicht in den Raketen begründet, sondern in dem Gegensatz von Freiheit und Diktatur. Der Frieden ist nicht bedroht, weil es Waffen gibt, sondern weil es Mächte gibt, die diese Waffen zu politischen Zwecken oder zur Eroberung einsetzen, meine Damen und Herren.
Die eigentliche Bedrohung des Friedens liegt dort, wo Völker gewaltsam getrennt, Menschenrechte und Menschenwürde mit Füßen getreten werden und die Freiheit unterdrückt wird.
— Wenn Sie dazwischenrufen, dann kann ich nur eines sagen: Nirgendwo wird das deutlicher als im Umgang mit den Mitgliedern der Friedensbewegung in Ost und West oder im Umgang mit Ihnen selber. Bei uns können Sie frei argumentieren. Sie können protestieren, Sie können demonstrieren. Drüben werden Sie eingesperrt oder mit Gewalt zu uns herüber abgeschoben.
Daß Sie das können,
das danken Sie dem Bündnis und den Soldaten der Bundeswehr, die diese unsere Freiheit schützen, meine Damen und Herren.
Sie danken es auch den amerikanischen Truppen.Der Unterschied ist eben der: Die amerikanischen Truppen stehen hier, um die Freiheit unserer Bürger, auch die Freiheit der Gewerkschaften, auch die Freiheit der Demonstranten zu schützen, während die sowjetischen Truppen in der DDR, in Polen und in anderen osteuropäischen Staaten stehen, um Gewerkschaften und Freiheiten unterdrücken zu helfen.
Das ist der Grund, warum wir es nicht zulassen werden, daß sich die Friedensdiskussion auf die Waffen reduziert. Frieden zwischen den Völkern gibt es nicht ohne Freiheit und Menschenrechte.
Wir wollen einen Frieden mit weniger Waffen, aber keinen Frieden mit weniger Freiheit. Wir wollen frei sein und frei bleiben.
Das und nichts anderes ist der Sinn unserer Verteidigungsanstrengungen.Eine weitere Tatsache gilt es festzuhalten. Wir haben dem Krieg als Mittel der Politik ein für allemal abgeschworen.
Die NATO bedroht niemanden. Die NATO wird ihreWaffen niemals als erste einsetzen. Im übrigen willdie NATO nicht nur keinen Angriffskrieg führen,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 721
Bundesminister Dr. Wörnersie kann auch nicht einen Angriffskrieg führen. Um nur eine Zahl herauszugreifen: 42 500 modernen Panzern des Warschauer Pakts stehen im NATO- Bereich 13 000 gegenüber. Ich sage deswegen: Von uns geht keine Gefahr für den Frieden aus. Wenn alle Staaten der Welt unserem Beispiel folgten, wäre der Frieden gesichert.
Dagegen beansprucht — ich wiederhole das; vielleicht haben Sie es noch nicht gelesen, dann sollten Sie sich die Mühe machen, das nachzulesen — das Programm der KPdSU von 1961, das noch immer verbindliche Grundlage der dortigen Ideologie ist, für die Sowjetunion nicht nur eine „welthistorische Mission" — das können Sie nachlesen —, sondern erklärt auch ganz offen, daß man dazu den Weg der Gewalt nicht ausschließen dürfe.Ein Drittes: Wer von uns verstünde nicht die Sorgen der Menschen, die ihrer Friedenssehnsucht etwa auf dem Kirchentag in Hannover so lebhaft Ausdruck gegeben haben? Wer würde diese Sorgen nicht teilen? Wen von uns quält eigentlich nicht die Tatsache, daß auf dieser Welt Milliarden für Rüstung ausgegeben werden, während anderswo Zehntausende, Hunderttausende von Menschen verhungern?
— Jawohl, Millionen, Herr Schily. Ich unterschreibe das.Wer bliebe gleichgültig gegenüber der Vorstellung eines nuklearen Infernos angesichts der Schrecklichkeit der Waffenarsenale?
Uns braucht niemand über die schrecklichen Wirkungen von Atomwaffen aufzuklären. Ich sage in aller Deutlichkeit: Der unterschiedslose Einsatz von Massenvernichtungsmitteln gegenüber der Zivilbevölkerung und auf Bevölkerungszentren wäre ein Verbrechen und durch nichts zu rechtfertigen. Ich gehe noch weiter: Der Angriffskrieg, jeder Angriff s-krieg schlechthin ist ein Verbrechen. Das gilt auch und gerade für den Krieg mit modernen konventionellen Waffen. Daher bleibt unser Ziel, das Ziel dieser Regierung, das Ziel der CDU/CSU-Fraktion, das Ziel der Koalition und, ich hoffe, das Ziel des ganzen Deutschen Bundestages die Verhinderung des Krieges schlechthin, des atomaren wie des konventionellen.
Die Existenz dieser schrecklichen Waffen legt uns allen zwei beherrschende Gebote auf. Das erste:
alles daranzusetzen, daß diese Waffen niemals eingesetzt werden. Das zweite:
sich mit aller Leidenschaft dafür einzusetzen, daß die Rüstungsspirale durchbrochen und das atomare und auch konventionelle Potential verringert wird, und zwar_ einschneidend, so niedrig wie möglich.Ich sage: Wir sind für Abrüstung,
für Abrüstung allerdings, die diesen Namen verdient, und im Unterschied zu Ihnen für Abrüstung auf beiden Seiten, kontrolliert und gegenseitig. Das ist die Form der Abrüstung, wie wir sie anstreben.
— Die Qualität Ihrer Zwischenrufe entspricht etwa der Ihres sicherheitspolitischen Konzepts. Sie taugen nicht viel.
Diese Bundesregierung ist bereit, sich international zu verpflichten, die bei dieser Abrüstung frei werdenden Mittel zur Beseitigung von Hunger und Not in der Welt einzusetzen. Es liegt nicht an uns, wenn das bis heute noch nicht geschehen ist. Wir haben Vorleistung um Vorleistung erbracht. Ich nenne nur einige: der Verzicht auf die Neutronenwaffe, der Verzicht auf den B-1-Bomber. Wir haben jetzt sechs Jahre lang zugesehen, wie die Sowjetunion jede Woche eine Rakete SS 20 in Stellung bringt.Als wir 1979 den Doppelbeschluß faßten, hatte die UdSSR bereits 140 SS 20. Wir hatten null. Breschnew erklärte damals, 1979, jetzt existiere Gleichgewicht. Im Februar 1980 hatten die Sowjets bereits 210 SS 20, wir immer noch keine. Und Breschnew erklärte wieder — wörtlich —, es gebe jetzt ein ungefähres Gleichgewicht. Im März 1982 hatte die UdSSR 300 SS 20, wir immer noch keine, und erklärte ein einseitiges Stationierungsmoratorium.
Ungeachtet dessen hat es im August 1982 320 SS 20 gegeben. Und der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow erklärte: Es gibt heute immer noch ein ungefähres Gleichgewicht der Kräfte. Jetzt hat die Sowjetunion 351 SS 20; wir haben immer noch keine Gegenwaffen hier stationiert,
sondern wir verhandeln mit der Sowjetunion mit dem Ziel, keine Raketen stationieren zu müssen.Meine Damen und Herren, gibt es einen Ausweis höheren Friedenswillens? Gibt es einen Ausweis höherer Bereitschaft zur Vorleistung? Waren nicht die letzten sechs Jahre ein eindeutiger Beweis dafür, daß wir bereit sind, im Interesse des Friedens und der Abrüstung Vorleistungen zu erbringen?
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722 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. WörnerNur: Wie war die Reaktion der Sowjetunion? — Sie hat weitergemacht, und während wir hier debattieren, macht sie weiter. Deswegen ist daraus die Lehre zu ziehen: Weder einseitige Aufrüstung noch einseitige Abrüstung sichern den Frieden.Ein anderes, ein sehr viel ernsterer Gedanke muß mitbedacht werden — er gehört in eine solche sicherheitspolitische Diskussion —: Wir können — glauben Sie mir, daß ich das zutiefst bedaure — die atomare Unschuld der Menschheit nicht wiedergewinnen. Es ist das Verhängnis unserer Generation und aller kommenden Generationen, „mit der Bombe leben" zu müssen, wie das einmal ein deutscher Philosoph schon in den 60er Jahren geschrieben hat, weil die Fähigkeit zur Konstruktion nuklearer Waffen nicht mehr aus den Köpfen der Menschen zu tilgen ist. Durch Bekenntnisse, durch Wünsche allein verschwinden diese Waffen nicht.Ich sage deswegen: Solange es Mächte gibt, die auf Gewalt und auch auf Nuklearwaffen setzen, können wir auf Nuklearwaffen nicht einseitig verzichten, gerade wenn wir verhindern wollen, daß sie eingesetzt werden. Ein einseitiger Verzicht auf unserer Seite würde den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln gegen uns nicht verhindern. Er macht ihn nach aller Erfahrung der Geschichte wahrscheinlicher.Fragen Sie sich doch eines: Sind die Atomwaffen auf Hiroshima nicht gerade deswegen geworfen worden, weil Japan keine hatte, weil man sicher sein konnte, daß nicht Washington oder San Francisco dafür bombardiert würden?
Bis zum heutigen Tag ist es die Abschreckung, die uns den Frieden sichert. Ihr danken wir den Frieden seit dem Zweiten Weltkrieg. Darauf ist es zurückzuführen, daß Europa vom Krieg verschont blieb, während rings um uns herum etwa 140 Kriege geführt wurden.Solange eine umfassende Abrüstung, wie wir sie wünschen, nicht verwirklicht ist, bleibt die Strategie der Abschreckung zur Sicherung unseres Friedens und unserer Freiheit unverzichtbar. Ich sage noch einmal: zur Sicherung des Friedens und unserer Freiheit. Daher akzeptieren wir den moralischen Monopolanspruch der sogenannten Friedensbewegung nicht. Andere reden vom Frieden; die Bundeswehr und das Bündnis sichern ihn.
Herr Schily, ich habe Ihre Rede noch einmal nachgelesen. Ich fand sie schon hier so, daß ich mich in Teilen betroffen fühlte, und das war ja wohl auch der Sinn dieser Rede. Ich antworte auf diese Rede in dem einen Punkt, auf den es mir ankommt: Wenn die Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen nach menschlichem Ermessen und nach den Erfahrungen der letzten 40 Jahre das einzige Mittel ist — Sie haben kein anderes und schon gar kein besseres genannt —, um den Ausbruch eines Krieges und die Anwendung von Nuklearwaffen gegen uns zu verhindern, dann kann dies weder logisch noch moralisch falsch sein.Ich sage Ihnen hier — und ich habe mir das gründlich überlegt —: Wer die Verteidigung im nuklearen Zeitalter für ethisch nicht akzeptabel hält, der verlangt nichts anderes als die Kapitulation des Friedfertigen vor dem Gewalttäter, der Freiheit vor der Unfreiheit, des Rechts vor dem Unrecht, und das wäre der Freibrief für die nukleare Erpressung durch aggressive Diktaturen.
Einseitige Abrüstung, Wehrlosigkeit oder der Verzicht auf Rüstung bringen uns nicht den Frieden — leider Gottes —, sonst würde jeder von uns hier mitgehen. Sie gefährden ihn vielmehr, sie stärken die Positionen der gewalttätigen Diktaturen, sie schwächen die der friedfertigen Demokratien.
Sie machen Zugeständnisse der Rüstungstreiber bei Abrüstungsverhandlungen überflüssig und führen daher nicht zu einer Welt mit weniger Waffen, sondern mit immer mehr Waffen auf einer Seite und der steigenden Gefahr, daß davon Gebrauch gemacht wird.
Wenn es eine Lehre der Geschichte gibt — sie kennen Sie —, dann ist es die, daß militärische Schwäche oder gar einseitige Selbstentwaffnung noch niemals imstande waren, stärkere Staaten von Aggressionen zurückzuhalten. Gibt Ihnen das Schicksal Afghanistans nicht zu denken? Sind die Afghanen überfallen worden, weil sie zu stark oder weil sie zu schwach waren? Ist nicht der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, weil sich die westlichen Demokratien einseitig geschwächt hatten? Darum — das betrifft das Zitat, Herr Schröder, das Sie mit Recht wiedergegeben haben, zu dem ich mich bekenne, das im übrigen ausweist, daß ich den Menschen der Friedensbewegung den Friedenswillen ausdrücklich attestiere — ist die Politik derer, die einseitige Abrüstung empfehlen, nicht einen Deut moralischer oder friedlicher, sondern im Gegenteil: Diejenigen, die Waffenlosigkeit fordern, unterliegen dem tragischen Mißverständnis, daß sie die Lauterkeit ihrer Motive bereits für die Garantie des Friedens halten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hoss?
Herr Präsident, vielleicht kann sich Herr Hoss mit Herrn Schröder verständigen, da ich nur eine Zwischenfrage beantworten möchte. Ich kann nicht dauernd auf Zwischenfragen eingehen. — Bitte schön, Herr Hoss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie sich mit Ihrer Politik der Abschreckung in einen Gegensatz zu weiten Teilen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 723
Hossder katholischen Kirche, der katholischen Bischöfe setzen,
und zwar angesichts einer Situation, daß nicht mehr die Menschen im Falle einer kritischen Situation darüber bestimmen, sondern daß es mehr und mehr Computern anvertraut wird, ob wir einen Krieg haben werden?
Sind Sie nicht der Meinung, daß es richtig ist, diese bisherige Politik zu überdenken und zu anderen Schritten zu kommen?
Herr Kollege Hoss, zunächst einmal eines: Ich bin wirklich gern bereit, über jede Alternativstrategie nachzudenken. Wir werden in diesem Parlament die Möglichkeit dazu haben. Ich scheue diese Diskussion nicht, ich suche sie. Sie haben die katholischen Bischöfe in der Bundesrepublik Deutschland entweder völlig falsch zitiert oder verstanden.
Es steht hier ebenso klar wie eindeutig, daß diese Form der Abschreckung, so schrecklich sie ist — niemand bagatellisiert das in irgendeiner Form —, so lange erträglich ist, ertragen werden muß, wie sie für denjenigen, der sich nur verteidigen will, die einzige Möglichkeit ist, seinen Frieden zu sichern. Sie dürfen eines nicht vergessen, Herr Hoss, was mir einmal der sowjetische Außenminister vor Journalisten ganz persönlich bestätigt hat: Die Sowjets wissen ganz genau, daß wir sie nicht bedrohen, daß wir keinen Krieg planen. Schon ihre Spionage ist so gut, daß sie all unsere Planungen kennen. Jeder, der glaubt, sie hätten Angst vor uns, täuscht sich. Wir sind nicht die Angreifer. Ihren moralischen Appell, Herr Hoss, müssen Sie an die Adresse derer richten, die bis heute noch nicht auf den Krieg als Mittel der Politik verzichtet haben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bahr? Das liegt in Ihrem Ermessen, Herr Bundesminister.
Sie sehen, es bilden sich wahre Schlangen. Obwohl es mich reizen würde, habe ich leider nicht so viel Zeit, hier einen Dialog anzufangen. Wir können die Diskussion in den Ausschüssen führen.
Ich sage denen, denen ich die Lauterkeit ihrer Motive ausdrücklich bescheinigt habe: Sie sollten ein Wort von Karl Barth aus dem Jahre 1950 einmal nachlesen. Er sagte:Der Friede um jeden Preis, den die Welt und auch die Kirche damals haben wollten, war eine tief unmenschliche, aber auch tief unchristliche Angelegenheit Das ist es, was ich damals zu schreien versuchte. Viel Unmenschliches und Unchristliches, was nachher geschah, hätte damals, wenn die Staatsordnung im Westen rechtzeitig verteidigt worden wäre,
verhältnismäßig schmerzlos, vielleicht sogar ohne Blutvergießen, einfach durch den Beweis bewaffneter Festigkeit verhindert werden können.Statt sich darüber aufzuregen, sollten Sie lieber dieses Wort von Karl Barth beherzigen. Das würde Ihnen und Ihrem Realitätssinn einiges nützen.
Ein nächstes. Bündnispolitik kann und wird auch in Zukunft den Frieden und unsere Freiheit sichern.
Wenn einige Unheilspropheten behaupten, die Welt treibe unaufhaltsam in einen Nuklearkrieg und wir stünden unmittelbar vor einer neuerlichen Katastrophe eines Weltkrieges, wenn im Blick auf die Nachrüstung etwa in einem Nachrichtenmagazin in dieser Woche behauptet wird, Deutschland werde jetzt als nukleares Schlachtfeld verplant, so ist das nichts anderes — und ich nenne das beim Namen— als unverantwortliche Angst- und Panikmache. Mit der Wirklichkeit hat das absolut nichts zu tun.
— Geben Sie es doch auf; Sie werden mich nicht aus dem Konzept bringen. Die ganze Zeit beklagen Sie sich hier in weinerlichem Ton, wenn Sie einen oder zwei Zwischenrufe zu hören bekommen.
Verhalten Sie sich selbst einmal so, wie Sie das von anderen erwarten.
Die Wahrheit ist: Unserem Volk droht kein Krieg, weder ein nuklearer noch ein konventioneller,
wenn wir unsere konsequente Friedenspolitik wiebisher fortsetzen. Der Grund ist ganz einfach: Diesowjetischen Politiker sind keine Abenteurer; sie
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724 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. Wörnersind keine Verrückten, und sie sind vor allen Dingen auch keine Selbstmörder.
Sie wissen ganz genau, was ein Atomkrieg für ihr Land bedeutet. Sie werden keinen Krieg führen, solange das Risiko für sie zu hoch bleibt. Dies würde sich erst dann ändern, wenn sich das Risiko für sie verringern oder gar beseitigen würde, wenn wir also den Ratschlägen derer folgten, die uns einseitige Abrüstung empfehlen. Dann bestünden in der Tat Kriegsgefahr oder Gefahr für unsere Freiheit.
Was die Sowjets wollen, ist klar. Es ist der Sieg im Frieden. Die erkennbare Absicht der sowjetischen Politik ist es, durch überlegene militärische Macht die westeuropäischen Staaten in ihre Abhängigkeit zu bringen.Meine Damen und Herren, wer sich noch irgendeiner Illusion über das hingegeben hatte, was passieren würde, wenn wir nicht mehr in der Lage wären, uns zu verteidigen, der muß sich einmal die Drohungen der letzten Wochen und Monate aus Moskau vor Augen führen.
Wer dann noch nicht gemerkt hat, was uns dann blühen würde, dem ist nicht mehr zu helfen. Einen besseren Beweis für die Verteidigungsnotwendigkeit als die Drohungen und die Versuche der Erpressung der letzten Monate gibt es überhaupt nicht, meine Damen und Herren.
Erpressung, Einschüchterung und Drohung sind auch der Hauptzweck der neuen modernen sowjetischen Rüstung. Das ist eben das Besondere an dieser sowjetischen Rüstung, das ist das Besondere an der SS 20 — und das unterscheidet sie von den Vorgängerwaffen nebst vielen anderen Dingen —: Es ist eine auf den eurasischen Kontinent zugeschnittene Bedrohung, die ihn militärisch abdecken soll, um ihn politisch beherrschen zu können, nicht um auf den Knopf zu drücken, sondern um eine Überlegenheit aufzubauen, die man sich politisch nutzbar machen kann.
Das ist die SS 20: ein Mittel der politischen Strategie, eine Waffe zur Abkoppelung der Sicherheit Westeuropas von der Sicherheit der USA eben durch jene speziell auf Europa zugeschnittene Bedrohung.Und genau diese Bedrohung, Herr Bahr — jetzt komme ich zu Ihnen —, ist es, mit der sich die NATO nicht abfinden kann. Sie zu bannen war und bleibt der Sinn des Doppelbeschlusses. Wir halten uns an den Doppelbeschluß, so wie er von Ihrer Regierung beschlossen wurde. Wenn Sie an uns dieFrage stellen — ich nehme an, sie war nur rhetorisch gemeint —, ob wir das denn wie eine Bibel verstehen: Keineswegs. Nur: Der Doppelbeschluß ist gefaßt worden, als die Sowjetunion 140 SS-20- Raketen hatte. Jetzt hat sie über 350.
Da müssen doch auch Sie sagen: Jetzt ist der Doppelbeschluß eben nicht überflüssig, jetzt ist er doppelt notwendig angesichts der Realität.
Herr Bahr, ein Kompliment muß ich Ihnen schon machen: Ich habe noch nie eine Rede erlebt, in der so viele geistige Salti mortali enthalten waren wie in der von heute morgen.
Sie haben sich zwar formal zum Doppelbeschluß bekannt, haben ihn aber mit dieser Rede in Wirklichkeit endgültig verlassen, indem Sie ihm eine Interpretation gegeben haben, die dieser Doppelbeschluß nie gehabt hat.
Herr Bahr, alles das, was Sie zur Erklärung Ihres Schwenks hier vorgetragen haben — ich komme auf einige Punkte noch zu sprechen —, existierte vielleicht noch nicht im Jahre 1979, aber mit Sicherheit im September des Jahres 1982. Da hatten Sie aber noch die Regierungsverantwortung. Ich bin nun in der vorzüglichen Lage, über die Akten zu verfügen: Alles, was der Westen tat — oder, genauer gesagt: alles, was die Amerikaner taten —, war mit Ihrer Regierung bis ins einzelne — im übrigen bis in die Einzelheiten der Stationierung hinein — abgesprochen, Herr Bahr,
bis zum September des letzten Jahres. Dann tun Sie doch nicht so, als ob sich die Situation grundlegend geändert und das Sie zur neuen Einsicht gebracht hätte. Ich will Ihnen sagen, was Sie zur neuen Einsicht gebracht hat: Die Tatsache, daß Sie jetzt in der Opposition sind, ist es, was Ihnen den Absprung vom Doppelbeschluß in dieser Weise möglich macht.
Der Herr Bundesaußenminister hat es in Klarheit dargelegt, aber da das wohl ein wichtiger Punkt zu werden beginnt, möchte ich es hier noch einmal in die Erinnerung der deutschen Bevölkerung rufen: Fest steht, daß schon Ihre Regierung die Stationierungsentscheidung getroffen hat, wie es sich aus
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 725
Bundesminister Dr. Wörnerdem Beschluß selbst und allen Akten eindeutig ergibt. Wenn Sie also von Automatismus reden, was ich im übrigen für falsch halte, dann haben Sie den Automatismus zu verantworten, Sie und Ihre Regierung, Herr Bahr! Sie wissen das auch ganz genau, Sie wollen sich doch nur einen Vorwand schaffen, um aus dem Doppelbeschluß auszusteigen.Nun komme ich zu einigen Ihrer Argumente. Da ist zunächst einmal das Argument der Seestationierung. Da haben Sie schlicht einen Trick angewandt. Sie haben eines der Argumente — noch nicht einmal das wichtigste, bei weitem nicht das wichtigste —, nämlich daß das technisch nicht machbar sei, herausgesucht und so getan, als sei das das Argument gewesen, mit dem man die Seestationierung damals abgelehnt habe. Sie wissen ganz genau, daß das nicht zutrifft. Es waren drei andere Gründe — vor diesem Grund —, die dazu geführt haben: erstens der Gedanke der strategischen Einheit des amerikanischen und europäischen Kontinents — ein ganz wichtiger Gedanke —, zweitens der Gedanke der Glaubwürdigkeit der Abschrekkung, drittens — nicht zuletzt — rüstungskontrollpolitische Argumente, die Sie im übrigen sehr gut kennen.
Sie haben dann den Eindruck erweckt, Herr Bahr, als ob die Stationierung der MX in den Vereinigten Staaten deswegen abgelehnt worden sei, weil man sie der Bevölkerung nicht habe zumuten wollen. Sie wissen ganz genau, daß das nicht zutrifft. Sie wissen ganz genau, daß der unsinnige Vorschlag dieses sogenannten race track, dieses Hunderte von Kilometern umspannenden unterirdischen Netzes, eine Idee war, die nicht realisierbar war und hinsichtlich der ich froh bin, daß sie so nicht realisiert wurde. Im übrigen, Herr Bahr: Die MX-Rakete wird stationiert, und sie wird auf dem Boden stationiert. Also, wenn man Ihre Argumente nimmt und sie einmal auffächert, dann zerfallen sie sehr schnell in Nichts.Dann haben Sie ein ganz schlimmes Wort gebraucht, Herr Bahr, das Sie besser zurücknähmen „Amerika, du hast es besser!", haben Sie wörtlich gesagt. Das sagen Sie einem Verbündeten gegenüber, der mit seiner Existenz nicht nur für seine eigene Sicherheit, sondern auch für die Sicherheit der Europäer und damit auch für Ihre Sicherheit bürgt und dafür 200 000 Soldaten in der Bundesrepublik Deutschland stationiert hat, meine Damen und Herren.
Passen Sie auf, Herr Bahr, daß die Melodie nicht zurückschallt — „Europa, du hast es besser" — und daß dann die Truppen abgezogen werden, die Garantie zurückgezogen wird. Dann ist es aus mit unserem Frieden und aus mit unserer Sicherheit.Darum gehen Sie nicht so leichtfertig mit diesen Dingen um!
Das gleiche gilt von Ihrer ständig wiederholten Behauptung, die Amerikaner verhandelten in Genf nicht mit dem nötigen Nachdruck. Sie wissen es besser. Sie waren es doch, die die Amerikaner zur Null-Lösung gedrängt haben. Der Außenminister hat Ihnen das doch vorgelesen. Sie waren einer derer, die das mitgetragen haben, ausdrücklich übrigens, nicht nur stillschweigend, Herr Bahr. Sie haben doch dann von uns gefordert: Ihr müßt jetzt auf die Amerikaner einwirken, daß sie sich bewegen. Dann hat das Bündnis gesprochen, untereinander. Ich will nicht verhehlen, daß wir unseren Einfluß ausgeübt haben. Und dann gab der Westen dieses Zeichen. Dann war das Angebot der Zwischenlösung da. Jetzt müssen wir uns von denselben Leuten, die uns darauf gedrängt haben, vorwerfen lassen, daß wir das getan haben, was sie von uns verlangten. Was ist denn das für eine Haltung, Herr Bahr?
So kann man doch nicht Politik machen, weder international noch national.Der Vorschlag eines Zwischenabkommens ist ein faires Kompromißangebot — Sie wissen das —, das im übrigen hinreichend flexibel ist und jeden wünschenswerten Spielraum läßt. Aber anstatt sich nun an die Sowjetunion zu wenden und von ihr Bewegung und Entgegenkommen zu verlangen, fordern Sie aufs neue Bewegung beim Westen. Wer hat denn die gigantische Vorrüstung ins Werk gesetzt? Wer macht denn damit weiter? Ihre Adresse ist falsch, Herr Bahr. Richten Sie Ihre Blicke nach Moskau und nicht so sehr nach Washington!
Verzeihung, Herr Bundesminister, ich muß Sie noch einmal fragen: gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe vorher gesagt, daß ich keine Zwischenfrage beantworte, im übrigen genau wie der Herr Bahr selber.
Die Wahrheit ist: Die USA haben sich bewegt, die Sowjets nicht. Derjenige, der dauernd den Doppelbeschluß in Frage stellt und Zweifel an der Entschlossenheit des Westens aufkommen läßt, ist ganz direkt schuld daran, daß es noch nicht zu einer Einigung in Genf gekommen ist.
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726 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. WörnerIch sage Ihnen noch dazu: Ehe Sie sich über Herrn Weinberger aufregen, überlegen Sie sich, wie das Wirken mancher Politiker in der Bundesrepublik Deutschland in Moskau ankommen muß. Dort werden doch fortlaufend Zweifel erweckt, ob wir in der Lage seien, den Doppelbeschluß zu verwirklichen. Wenn wir überhaupt etwas in der Hand haben, um die Sowjets zum Einlenken zu bewegen, dann doch eben dies. Wenn Sie das aus der Hand geben, wenn Sie diese Entschlossenheit verschenken, dann brauchen Sie in Genf nicht weiter zu verhandeln, weil die Sowjets sich dann überhaupt nicht mehr bewegen wollen und bewegen werden.Darum sage ich Ihnen, kommt so vieles darauf an, daß das Bündnis jetzt die nötige Entschlossenheit zeigt. Darum sagen wir Ihnen: Überlegen Sie sich gut, wie Sie hier argumentieren und welche Signale Sie nach der Sowjetunion hin ausschicken.
— Die Logik war offensichtlich schon immer nicht Ihre Stärke.
Ich möchte einen anderen Grundgedanken hier noch einmal bekräftigen. Wir sind sicher und frei hier in der Bundesrepublik Deutschland, solange wir im Bündnis mit den freien Staaten der Welt leben. Darum müssen wir alles daransetzen, das Bündnis zu vertiefen. Wenn es eine Friedensgarantie für die Deutschen gibt, wenn es eine Garantie der Freiheit für unsere Bürger draußen im Lande gibt, dann ist es die Tatsache, daß wir zum erstenmal in unserer Geschichte an der Seite der freien Staaten der freien Welt stehen. Dort müssen wir stehenbleiben. Wer mit dem Gedanken des Neutralismus spielt, der führt unser Volk ins Unheil.
Der Zusammenhalt der NATO und die strategische Einheit Nordamerikas und Westeuropas sind die Voraussetzungen für die Sicherheit in Europa. Dazu möchte ich drei Überlegungen vortragen.Erstens. Die NATO hat in den letzten Jahren die Zahl der Nuklearwaffen in Europa nicht erhöht. Im Gegenteil. Seit 1979 hat sie die Zahl der nuklearen Gefechtsköpfe im Zusammenhang mit dem Doppelbeschluß um 1 000 reduziert.Und ich sage dazu: Sollten gemäß dem Doppelbeschluß und weil es nicht gelingt, in Genf zu einem Erfolg zu kommen, in Europa und in unserem Land amerikanische Mittelstreckenwaffen stationiert werden müssen, dann würde für jeden neu eingeführten Gefechtskopf ein vorhandener entfernt werden. Die Gesamtzahl der nuklearen Gefechtsköpfe wird in keinem Fall erhöht.
Diejenigen, die draußen von zusätzlichen Gefechtsköpfen öder von einer Vermehrung der Nuklearwaffen in Europa auf westlicher Seite sprechen, haben schlicht und einfach unrecht.
Es gibt in Europa kein Wettrüsten oder speziell nukleares Wettrüsten von seiten des Westens. Wohl aber gibt es dieses Wettrüsten von seiten der Sowjetunion.
Jetzt komme ich auf einen anderen Punkt, Herr Bahr. Sie haben recht und unrecht zugleich. Die Sowjetunion hat im übrigen auf Grund einer Entscheidung, die lange, lange vor dem Doppelbeschluß lag, drei neue Raketentypen kürzerer Reichweite aufzustellen begonnen. Sie haben sie selbst genannt: SS 22, SS 21 und SS 23.Im übrigen, eines haben Sie zu sagen vergessen: Die SS 21 steht bereits in der DDR. Sie haben auch vergessen, unser Volk darüber aufzuklären, daß die Vorgängersysteme, nämlich die Frog und die Scud, alles Nuklearwaffen kürzerer Reichweite, schon außerhalb der Sowjetunion — ich kann Ihnen auch sagen wo: in der DDR, in Polen und in der CSSR — stationiert sind.Herr Bahr, ich möchte nicht, daß jetzt wieder mit Ihrer Hilfe eine neue Legende entsteht. Die Sowjetunion hat mit dem Bau der neuen Raketentypen begonnen, bevor der Doppelbeschluß kam. Sie hat mit der Stationierung dieser Waffen begonnen, bevor der Doppelbeschluß kam, oder kurz danach. Und sie wird diese Systeme aufstellen nicht als Antwort auf die westliche Nachrüstung, wenn sie erfolgen sollte, sondern weil sie diese Absicht schon immer gehabt hat und sich durch Sie, jedenfalls bis jetzt, nicht hat irritieren lassen. Das ist die Wahrheit. Also tun wir nicht so und fallen wir nicht auf die Propagandathese herein, das sei die Revanche für die westliche Nachrüstung. Sagen Sie bitte die Dinge hier so, wie sie sich zugetragen haben.Zum zweiten. Die NATO und die USA streben keine Überlegenheit an, auch und gerade nicht über die Sowjetunion. Wir hätten unser Ziel schon erreicht, wenn wir das Ungleichgewicht korrigieren könnten, das durch die fortlaufende sowjetische Aufrüstung in einem im Frieden beispiellosen Umfang entstanden ist.Der dritte Punkt. Die gemeinsame Strategie der USA und der NATO geht eben nicht darauf aus, die Sowjetunion mit einem sogenannten Entwaffnungsschlag zu bedrohen. Wir haben keine Erstschlagsfähigkeit, und wir suchen keine Erstschlagsfähigkeit.Und ich sage noch einmal: Das Ziel der NATO- Strategie ist die Kriegsverhinderung und nicht die Kriegführung. Es gibt keine Strategie des begrenzten Krieges auf unserer Seite, meine verehrten Damen und Herren.
Genauso unsinnig ist die Behauptung, die Pershing II sei eine Erstschlagwaffe oder eine Enthaup-
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Bundesminister Dr. Wörnertungswaffe. Ich habe selten etwa Törichteres gehört. Sie ist weder das eine noch das andere. Sie reicht noch nicht einmal bis Moskau. Mit ihr kann noch nicht einmal ein Zehntel der sowjetischen Interkontinentalwaffen erreicht werden und, Herr Bastian, können nur ganz wenige und bei weitem nicht die entscheidenden militärischen Führungszentralen der Sowjetunion — von den zivilen ganz abgesehen — erreicht werden.Und jetzt sage ich Ihnen etwas dazu.
Es mutet mich schon merkwürdig an, daß Sie darüber lamentieren, aber daß Sie sich offensichtlich mit der Tatsache abgefunden haben, daß die SS-20- Raketen Europa nach derselben kurzen Wartezeit restlos — nicht in einem Randgebiet: restlos! — zerstören könnten. Das ist für Sie offenbar natürlich. Aber gibt es denn ein Gesetz, nach dem die Bürger der Bundesrepublik Deutschland einen geringeren Anspruch auf Sicherheit als die Bürger der Sowjetunion haben?
Wir werden ein solches Gesetz nicht unterschreiben!
Im übrigen gibt es eine ganz einfache Antwort auf diese Ihre Behauptung. Moskau hat es in der Hand, die Stationierung der neuen Waffen bei uns zu verhindern. Es braucht nur seine Vorrüstung abzubauen, die es absolut nicht zu seiner Verteidigung oder zur Wahrung legitimer Sicherheitsinteressen benötigt. Dann braucht es auch die Stationierung der Waffen bei uns nicht zu befürchten.Lassen Sie mich noch einem Märchen, das ja auch immer wieder erzählt wird, entgegentreten, nämlich der Behauptung, die Pershing II und die cruise missiles seien Waffen zur Führung eines begrenzten Nuklearkrieges in Europa. Die Antwort darauf hat niemand anders als der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Ustinow gegeben. Ich zitiere aus einem Auszug aus „Neues Deutschland" vom 17. April 1983 — allerdings nicht mit Spaß; ich hoffe, es geht Ihnen genauso —,
wo steht:Ungestraft blieben in diesem Falle auch nicht die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn man in Washington denkt, daß unsere Antwort auf den Einsatz von Raketen vom Typ Pershing II und von Flügelraketen nur gegen Ziele in Westeuropa gerichtet sein wird, so geht man dort zutiefst fehl. Vergeltung würde unweigerlich auch die Vereinigten Staaten selbst treffen.Herr Bahr, das sollten Sie vielleicht gelegentlicheinmal nachlesen, dann hätten Sie auch eine gewisse Antwort auf Ihre Behauptung „Amerika, du hast es besser".
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Wort zu nuklearwaffenfreien Zonen sagen. Es gibt ja Bürger bei uns im Land, die glauben, nuklearwaffenfreie Zonen erhöhten die Sicherheit der in ihnen lebenden Menschen. Das Gegenteil ist richtig. Nuklearwaffenfreie Zonen bieten nicht mehr, sondern weniger Schutz gegen die Anwendung von Nuklearwaffen. Ich sage noch einmal: Hiroshima ist dafür das beste Beispiel.Jetzt stelle ich Ihnen eine andere Frage. Wer glaubt eigentlich, daß eine Macht wie die Sowjetunion, die noch nicht einmal in Friedenszeiten die territoriale Hoheit neutraler Staaten respektiert — siehe U-Boote in Schweden —, im Ernstfall nuklearwaffenfreie Zonen respektieren würde? Entscheidend ist doch nicht, wo die Waffen stehen, entscheidend ist, wohin sie schießen.
Deswegen gilt: So lange, wie es uns nicht gelingt, Nuklearwaffen aus dieser Welt zu verbannen, gibt es gegen deren Anwendung nur einen Schutz: dem Angreifer klarzumachen, daß für den Fall der Anwendung von Nuklearwaffen auch ihm solche Waffen drohen und daß daher das Risiko für ihn zu groß ist.
Meine Damen und Herren, wir streben mit aller Leidenschaft nach guten — ich sage: wenn irgend möglich, sehr guten — Beziehungen zur Sowjetunion. Wir bedrohen sie in keiner Weise. Wir wollen keinen Krieg gegen sie führen, weder einen militärischen noch einen wirtschaftlichen. Jeder weiß, wir ziehen Kooperation der Konfrontation, Abrüstung der Aufrüstung vor. Wir wollen mehr, nicht weniger Austausch. Wir respektieren das begründete Sicherheitsinteresse der Sowjetunion. Wir erwarten allerdings von der Sowjetunion, daß sie auch unsere legitimen Sicherheitsinteressen respektiert.
Erst dann, wenn das der Fall ist, kann man von einer Sicherheitspartnerschaft in der Beziehung der beiden Weltmächte zueinander und in der Beziehung der Sowjetunion zu uns reden. Heute jedenfalls sucht die Sowjetunion nicht Sicherheit mit uns, sie betreibt Aufrüstung gegen uns.Das zeigt im übrigen auch ihr Verhalten bei den Rüstungskontrollverhandlungen. Ich will hier nur einen einzigen Aspekt herausnehmen. Die Forderung nach Anrechnung der französischen und britischen Waffen — das findet man ja auch in dem Antrag der GRÜNEN, aber das hat Herr Bahr auch schon indirekt konzediert — bei den INF-Verhandlungen in Genf ist nichts anderes als ein ganz
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Bundesminister Dr. Wörnerdurchsichtiges Manöver, hat den ganz klaren Zweck, das sowjetische Monopol bei den Mittelstreckenwaffen zu sichern und damit die amerikanischen Nukleargarantie für Europa in einem wichtigen Bereich außer Kraft zu setzen.
Die Sowjets wissen doch, und wir wissen es auch: es sind die amerikanischen Waffen, die die Sicherheit der nichtnuklearen Staaten, also auch unsere Sicherheit, garantieren, und nicht die britischen und nicht die französischen. Diese Waffen sind für Frankreich und Großbritannien das letzte, wirklich das allerletzte Mittel. Es sind Waffen der Ultima ratio. Sie würden nur als letzte nationale Reaktion auf einen sowjetischen Angriff auf diese Länder
und nicht als Mittel einer auf andere europäische Länder erweiterten Abschreckung eingesetzt werden. — Lieber Herr Scheer, Sie sagen, das sei falsch. Lassen Sie sich das doch von Ihren französischen Parteifreunden, den Sozialisten, endlich noch einmal sagen. Hat es Ihnen nicht der französische Präsident von diesem Pult aus erklärt, daß es so ist?
Wenn Sie es ihm schon nicht glauben und mir nicht glauben — daß Sie es mir nicht glauben, kann ich Ihnen gar nicht verübeln —, vielleicht glauben Sie es einem Protokoll, das ich nachlesen konnte, über ein Gespräch, das der frühere Bundeskanzler Schmidt im Jahre 1980 mit dem damals noch lebenden Generalsekretär Breschnew geführt hat und in dem Breschnew ausdrücklich anerkannt hat, daß diese Waffen bei den INF-Verhandlungen in Genf nichts zu suchen haben.
Ich empfehle, gelegentlich Ihre Erinnerung aufzufrischen.
Darum zielt die Sowjetunion in Genf auf eine dreistufige Ordnung der Sicherheit in Europa. Auf der höchsten Stufe steht die Sicherheit der Sowjetunion. Danach folgen die Sicherheit Großbritanniens und Frankreichs als Atommächte. Schließlich folgt die Sicherheit der übrigen Staaten auf der niedersten Stufe. Auf Grund der sowjetischen Überlegenheit und auf Grund ihrer Privilegien in der Rüstungskontrolle gegenüber der westlichen Allianz käme die Sicherheit in Europa ins Wanken. Die westeuropäischen Staaten könnten dann nicht mehr damit rechnen, daß die NATO intakt bliebe und sie schützte.
Die Vereinigten Staaten würden in ihrer Präsenz in Europa, in ihrer militärischen Kräftestruktur, ihrem politischen Status und ihrem Engagement für die Verteidigung Europas eingeschränkt. Daher ist es so wichtig, daß wir auf diese Vorschläge nichteingehen. Die Aussichten europäischer Sicherheit hängen von unserer Entschiedenheit und Entschlossenheit ab. Wir können nicht erwarten, daß die Sowjetunion unsere Sicherheitsbedürfnisse respektiert und gleiche Sicherheitsbedingungen für beide Seiten in Europa akzeptiert, wenn wir unsere eigenen Interessen, unser Bündnis und unsere eigenen Entscheidungen nicht respektieren. Ich sage deshalb, solange die Sowjetunion darauf hoffen kann, uns ihren Willen aufzuzwingen, wird es keinen Kompromiß geben und werden die Verhandlungen nicht zu Ergebnissen in unserem Interesse führen. Darum müssen wir Geduld haben, und wir müssen fest bleiben. Zur Entschlossenheit gibt es keine Alternative.Freilich — und das sei mein letzter Gedanke —, auch wir denken nicht daran, uns mit der Landschaft der Abschreckung auf Dauer abzufinden. Wir müssen versuchen, sie zu überwinden. Der Weg dahin ist nach unserer Auffassung klar. Er führt einmal im militärischen Bereich über beiderseitige kontrollierte Abrüstung.
Aber das genügt nicht. Die eigentlichen Spannungen liegen im politischen Bereich. Dort müssen sie auch gelöst werden. Und deswegen sage ich Ihnen: Wenn wir hier über den Frieden diskutieren,
dann muß über die politische Seite und nicht nur über die Waffen diskutiert werden.
Da kann ich Ihnen mit einer höchst persönlichen Erfahrung dienen. Niemand möge mir verübeln, daß ich sie hier in dieser Form sage. Mir hat man in der Schule noch beigebracht, Frankreich sei unser Erbfeind.
— Wenn Sie nicht imstande sind, einem vernünftigen Gedanken zu folgen, dann sollten Sie wenigstens die Disziplin haben, zu schweigen. Das wäre im Augenblick für Sie das allerbeste — wenn ich Ihnen diesen Rat geben darf.
Ich sage noch einmal: Mir hat man noch in der Schule beigebracht, unser Erbfeind sei Frankreich. Ich habe dann im Jahre 1954/55 ein Jahr in Frankreich studiert. Ich habe es noch da und dort erlebt, daß das Wort vom „Boche" gesprochen wurde. Es war da und dort noch schwierig, in einer französischen Familie zu leben. Heute — fragen Sie doch einmal junge Leute — ist es doch selbstverständlich, daß die Franzosen nicht unsere Erbfeinde, sondern unsere Freunde sind. Der Gedanke an einen Krieg, der Gedanke an Feindschaft ist ausgelöscht. Aber wie wurde das möglich? Doch nicht durch großspurige Reden von Politikern, sondern dadurch, daß man die Menschen zueinander gelassen
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Bundesminister Dr. Wörnerhat, die jungen Menschen vor allem. Denken Sie an das Deutsch-Französische Jugendwerk.
Und das ist der Grund, meine Damen und Herren, warum ich jedem sowjetischen Politiker, sooft ich einen treffe, und jedem sowjetischen Diplomaten sage: Wenn wir Frieden bauen wollen — und wir wollen das mit aller Leidenschaft —, dann gibt es nur einen Weg: Laßt die Menschen zusammenkommen. Schickt doch 10 000 junge Russen jedes Jahr zu uns und laßt 10 000 junge Deutsche dort rüber. Dann werden beide sehen: Beide Völker wollen nur eines, in Frieden und — ich sage — in Freundschaft miteinander leben.Dem Frieden steht im Weg die Mauer. Dem Frieden steht im Weg die Unfreiheit. Und wer den Frieden machen will, der darf nicht nur auf die Waffen starren, er muß dazu beitragen, daß Menschenrechte und Menschenfreiheit auf dieser Welt durchgesetzt werden, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Nach der Fragestunde fahren wir dann mit Punkt 2 der Tagesordnung fort.
Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksachen 10/137, 10/148 —
Zuerst haben wir Dringlichkeitsfragen zu behandeln. Zur Beantwortung der zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern eingebrachten Dringlichen Frage steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger zur Verfügung.
Ich rufe die Dringliche Frage 1 der Abgeordneten Frau Renger auf:
Wird die Bundesregierung die betroffenen Bundesländer sofort darüber informieren, daß auf ihren Antrag die Möglichkeit besteht, aus dem Haushalt der EG finanzielle Hilfen für die Opfer der letzten beiden Hochwasserkatastrophen in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um so schnell wie möglich sicherzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland entsprechend den hier eingetretenen Hochwasserschäden anteilmäßig an den hierfür durch die EG-Kommission bereitgestellten Mitteln beteiligt wird, damit den Hochwassergeschädigten eine möglichst schnelle — möglicherweise existenzrettende — Hilfe gewährt werden kann?
Frau Kollegin Renger, Ihre Frage beantworte ich wie folgt. Die EG-Kommission hat — wie auch schon in früheren ähnlichen Schadensfällen — die Bundesregierung darüber informiert, daß sie bereit sei, aus Mitteln des Katastrophenfonds eine Soforthilfe zugunsten der vom Hochwasser betroffenen Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland zu gewähren. Die Höhe dieser Geste der Solidarität werde von der Kommission festgelegt, sobald ihr nähere Informationen über Art und Umfang der Schäden zugegangen seien.
Die Bundesregierung hat diese Erklärung fernschriftlich den betroffenen Bundesländern übermittelt und gegebenenfalls um baldmögliche Übersendung der im jeweiligen Länderbereich am Privateigentum entstandenen Schäden gebeten. Dieses Verfahren ist bereits bei früheren Katastrophenereignissen praktiziert worden. Auf Grund der eingehenden Schadensmeldungen wird die Bundesregierung einen entsprechenden Antrag an die EG-Kommission richten.
Herr Staatssekretär, warum haben Sie sich erst so spät um diese Angelegenheit gekümmert, nachdem im Europäischen Parlament der Antrag gestellt worden ist, und warum haben Sie die Länder nicht von sich aus darauf hingewiesen, daß die Möglichkeit besteht, Hochwasserschäden durch Mittel aus diesem Fonds auszugleichen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sofort nach Informationen der EG und entsprechender Anfrage reagiert und die Länder über die Möglichkeiten informiert. Die Länder haben ihrerseits bisher noch keinerlei Anträge oder irgendwelche Schadensmeldungen abgegeben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können wir in Zukunft davon ausgehen, daß Sie von sich aus zuerst die Länder informieren, aber darüber hinaus auch bei der Europäischen Gemeinschaft — gegebenenfalls mit Hilfe des Parlaments — einen Hochwasserschadensausgleich beantragen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Renger, die Bundesregierung wird auch zukünftig die vorrangige Zuständigkeit von Ländern und Gemeinden in diesem Bereich beachten.
Weitere Zusatzfragen? — Herr Abgeordneter Klejdzinski zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf man Sie fragen, ob Sie bereit sind, den Hochwassergeschädigten unbürokratisch und möglichst schnell zu helfen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung wird alles in ihrer Macht Liegende tun, um entsprechend zu verfahren.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jens.
Herr Staatssekretär, finden Sie es nicht grotesk, daß sich Bund und Länder zur Zeit vor dem Oberverwaltungsgericht immer noch streiten, wer denn nun letztendlich für die Unratbeseiti-
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Dr. Jensgung am Rhein und an den deutschen Flüssen insgesamt zuständig ist, und wird die Bundesregierung dafür sorgen, daß dieser Rechtsstreit möglichst schnell zum Ende gebracht wird?Spranger, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie die Frage auf die Diskussion, die zum Teil zur Zeit in den Ländern stattfindet, beziehen, möchte ich Ihnen zustimmen. Ich verweise auf einen Bericht im „General-Anzeiger" vom 14. Juni 1983, in dem als Meinung des nordrhein-westfälischen Ministers Farthmann wiedergegeben wird, die Beseitigung der Schäden sei in erster Linie Aufgabe der Betroffenen und der Kommunen.
Danke schön. Weitere Wortmeldungen zu Zusatzfragen liegen nicht vor. Ich danke Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Spranger. Er wird, wie ich glaube, gleich noch einmal an die Reihe kommen.
Ich rufe nun die beiden Dringlichkeitsfragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gallus zur Verfügung. Die Dringliche Frage 2 ist von Herrn Abgeordneten Becker eingebracht:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß zahlreiche Forstbaumschulen und Forstpflanzenbetriebe dabei sind, Millionen junger Fichten und Eichenbäume zu vernichten , weil — wie nach vierjährigem Aufwuchs festgestellt wurde — das verwandte Saatgut nicht genetischen Vorschriften des Gesetzes über forstliches Saat- und Pflanzgut entspricht, und was kann die Bundesregierung tun, um die täglich fortschreitende Vernichtung junger Baumkulturen sofort zu stoppen?
Herr Präsident, ich würde gern beide Fragen gemeinsam beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich noch die Dringliche Frage 3 des Herrn Abgeordneten Becker auf:Besteht insbesondere die Möglichkeit, durch eine Ausnahmegenehmigung des Bundesamtes für Ernährung und Forstwirtschaft zu gestatten, daß die jungen Bäume in den Verkehr gebracht und für die Wiederaufforstung verwendet werden?Gallus, Parl. Staatssekretär: Danke schön.Herr Kollege Becker, der Bundesregierung ist bekannt, daß in zahlreichen Forstbaumschulen Forstpflanzen stehen, die nicht den im Gesetz über forstliches Saat- und Pflanzgut vorgeschriebenen Kategorien „Ausgewähltes Vermehrungsgut" oder „Geprüftes Vermehrungsgut" entsprechen und damit nicht unter diesen Bezeichnungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaften vertrieben werden dürfen. Die betroffenen Forstbaumschulen im Inland und in den anderen EG-Mitgliedstaaten haben entsprechende Mitteilungen der zuständigen Länderbehörden erhalten. Die teilweise Vernichtung dieser Forstpflanzen durch die Forstbaumschulen ist der Bundesregierung ebenfalls bekanntgeworden. Das Saatgut, aus dem diese Forstpflanzen gezogen wurden, stammt aus drei Forstsamenbetrieben, deren Inhabern die Fortführung ihrer Betriebe wegen Unzuverlässigkeit von den zuständigen Länderbehörden untersagt worden ist. Der letzte wird am kommenden Samstag geschlossen.Entgegen den offiziellen Eintragungen in dem vom Gesetz über forstliches Saat- und Pflanzgut vorgeschriebenen Kontrollbuch handelt es sich beim Laubholz in Wahrheit größtenteils um zu Futterzwecken im In- und Ausland gewonnenes Saatgut.Der Gesamtbestand in den Forstpflanzenbetrieben beträgt zur Zeit rund 1,117 Milliarden Forstpflanzen. Der Umfang der für eine Verwendung im Wald nicht geeigneten Pflanzen von 30 Millionen beträgt danach insgesamt rund 3 %.Bedauerlicherweise ist davon auszugehen, daß ein Teil der Pflanzen bereits in den Wald gelangt ist, bevor die Vorkommnisse entdeckt wurden. Die mit diesen Pflanzen begründeten Waldbestände gehen einer unsicheren Zukunft entgegen. Dieser Schaden darf nicht noch durch ungesetzliche Vertriebserlaubnisse vergrößert werden. Andernfalls würde einem Wirtschaftszweig zu Lasten eines anderen Wirtschaftszweiges unter Mißachtung des nationalen und des EG-Rechts geholfen werden.Die in der ARD-Sendung aufgestellte These, daß die Forstpflanzen, die keine Herkunftssicherung haben, das Problem des Waldsterbens mit beheben können und eine Ausnahmeerlaubnis nach den genannten Gesetzesbestimmungen rechtfertigen würden, kann ich nicht mittragen. Im übrigen ist das Problem des Waldsterbens so bedrückend, daß diese Argumentation für mich befremdend wirkt.Um den betroffenen Forstbaumschulen zu helfen, bestehen folgende Vertriebsmöglichkeiten:Erstens. Die Kontrollbehörden einiger Länder haben in einigen Fällen die tatsächliche Herkunft ausgelieferter Saatgutpartien auf Grund der sichergestellten Unterlagen nachträglich feststellen können. Die Kontrollbücher der betroffenen Abnehmerbetriebe wurden berichtigt, so daß etwa 5 % der beanstandeten Pflanzen als „Ausgewähltes Vermehrungsgut" doch noch vertriebsfähig gemacht werden konnten.Zweitens können beim Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft Anträge auf Erteilung einer Ausnahmeerlaubnis für den Vertrieb von Vermehrungsgut mit herabgesetzten Anforderungen gestellt werden, und zwar nach § 17 FSaatG. Die bisher gestellten Anträge mußten vom Bundesamt durch Bescheid abgelehnt werden. Widerspruch wurde nicht eingelegt.Drittens nenne ich den Vertrieb zu nachweislich nicht hauptsächlich forstlichen Zwecken — § 2 Abs. 2 FSaatG — im Inland, in EG-Mitgliedsstaaten und in Drittländern, z. B. für den Landschaftsbau, die Wasserwirtschaft, die Flurbereinigung und für Verkehrsanlagen.Viertens kommt ein Vertrieb für Versuche, wissenschaftliche Zwecke und ähnliches in Frage.
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Parl. Staatssekretär GallusDie geschädigten Forstpflanzenbetriebe haben gegen die Forstsamenbetriebe zivilrechtliche Schadensersatzansprüche. Von der Geltendmachung dieser Ansprüche haben nach meinen Informationen bisher nur wenige Betriebe und das Land Niedersachsen Gebrauch gemacht; letzteres in Höhe von 5 Millionen DM.Herr Kollege Becker, gestatten Sie mir noch eine Schlußbemerkung im Hinblick darauf, daß Sie Ihre Dringlichkeitsanfrage nach der ARD-Sendung gestellt haben.Besonders betroffen macht mich bei der Behandlung der Vorkommnisse in den Medien, daß das Gesetz über forstliches Saat- und Pflanzgut immer wieder mit dem 1957 aufgehobenen Forstlichen Artgesetz von 1934 in Zusammenhang gebracht wird. Von meinem Hause ist wiederholt anfragenden Journalisten erklärt worden, daß die gesetzlichen Anforderungen an die Zulassung des Ausgangsmaterials von forstlichem Vermehrungsgut in EG- Richtlinien einheitlich für die Gemeinschaft geregelt sind. Ich bin der Meinung, es muß alles getan werden, um den Eindruck zu korrigieren, daß der Bundesgesetzgeber ein Gesetz erlassen hat, das nur den Vertrieb von deutschem forstlichen Saat- und Pflanzgut zuläßt.
Herr Kollege Gallus, bevor ich unserem Kollegen Becker das Wort zu einer Zusatzfrage gebe, lassen Sie mich bitte sagen: Wir Abgeordneten unterliegen der Regel der kurzen Fragestellung. Die Regierung unterliegt der Regel der kurzen Beantwortung. Das war hier nicht der Fall.
Herr Kollege Becker, Sie haben das Wort zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben im Anschluß an diese Sendung sicherlich feststellen können, daß in weiten Kreisen der Bevölkerung große Aufregung herrscht, daß diese Bäume nun alle vernichtet werden. Ist diese Vernichtungsaktion denn unbedingt erforderlich?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Becker, Tatsache ist, daß die Frühjahrspflanzung der Waldbäume beendet ist. In jedem Jahr werden Reste von Pflanzen herausgezogen — aber nicht auf Anordnung der Bundesregierung oder einer Landesregierung, sondern die Baumschulen machen das von sich aus, weil laufend genügend Pflanzgut nachwächst. Auch hinsichtlich des beanstandeten Pflanzguts liegt die Entscheidung bei den Baumschulen selber, was sie damit machen. Sie können es aber nicht zur Aufforstung verkaufen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihnen eine Anregung geben und fragen, ob Sie so verfahren können, daß sich die Beamten, die die Vorschriften im einzelnen zu überwachen ha-
ben, auch einmal an Ort und Stelle ein Bild über die Pflanzen machen, die dort vernichtet werden?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen sagen, daß das gemacht wird. Aber vergessen Sie nicht — das ist vielleicht nicht ganz deutlich geworden —, daß die Staatsanwaltschaft hier eingegriffen hat und wir noch nicht wissen, wie das schließlich alles ausgeht. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb eingegriffen, weil der Verdacht des Betrugs und der Urkundenfälschung besteht.
Wenn schlechtes Saatgut verwendet wird, muß man sich einmal vergegenwärtigen, welch schlechte Bäume in der Zukunft nachwachsen, die vielleicht 100 Jahre im Wald stehen, deren Holz dann aber nur noch zu Brennholzzwecken verwendet werden könnte.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Becker.
Herr Staatssekretär, haben Sie eine Übersicht, die Auskunft darüber gibt, in welchen Regionen der Bundesrepublik Deutschland diese Vernichtungsaktion durchgeführt wird?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich nehme an, in all jenen Baumschulen, die solches Saatgut unter die Weste gejubelt bekommen haben und die jetzt eben eine Entscheidung treffen müssen. Entweder sie stellen einen Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung nach den vier Grundsätzen, die ich erläutert habe, oder sie müssen sehen, wo sie damit bleiben. Höchstwahrscheinlich brauchen sie die Flächen für gutes Saatgut, damit dort gutes Pflanzgut nachwächst.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist das Ministerium in der Lage anzugeben, woher das Saatgut kommt, das verwandt worden ist?
Gallus Parl. Staatssekretär: Wir kennen nicht alle Einzelheiten dessen, was passiert ist. Ich darf Ihnen aber sagen: Es dreht sich um drei Forstsamenbetriebe, und zwar in Mölln, in Wittingen und in Darmstadt, also jeweils einen in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen und in Hessen. Die ganze Geschichte ist durch Kontrolle des Forstamtes Rantzau in Schleswig-Holstein aufgerollt worden. Alles andere unterliegt nun der Aufklärung der Staatsanwaltschaft inwieweit Samen verwendet worden sind, die nicht aus dem Bereich der EG stammen.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß trotz der anhängigen Gerichtsverfahren in einem Fall die Firma mit anderen Sämereien weiter handelt, und ist das gerechtfertigt — wie begründen Sie das —, obwohl
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Frau Blunckdoch naheliegt, daß ähnliche, auch von Ihnen angedeutete Betrugstatbestände wieder vorkommen?Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Blunck, das liegt nicht in unserem Aufgabenbereich. Es ist Aufgabe des Landes, das die Anerkennung und die Schließung solcher Betriebe zu vollziehen hat, entsprechend aktiv zu werden. Das ist nicht Aufgabe des Bundes.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer.
Herr Staatssekretär, kann ich aus ihrer Beantwortung der vorvorigen Frage schließen, daß sich Beamte Ihres Ministeriums in keiner der Baumschulen, in denen jetzt Vernichtungsaktionen von Bäumen stattfinden, vorher vom Zustand dieser Bäume überzeugt haben?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das können Sie nicht. Die Beaufsichtigung und die Kontrolle liegen bei den Ländern. Dort wird dementsprechend die Kontrolle nach dem Gesetz wahrgenommen.
Sie können eine zweite Zusatzfrage stellen; denn es sind zwei Fragen beantwortet worden.
Ihnen ist aber nicht bekannt, ob sich in den Ländern Beamte persönlich davon überzeugt haben, in welchem Zustand die Bäume sind, die jetzt in diesen Baumschulen ausgerissen werden?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Natürlich. Aber entscheidend ist nicht der augenblickliche Zustand dieser Pflanzen, sondern das, was aus ihnen wächst. Entscheidend ist, daß aus den Jungpflanzen keine Krüppel entstehen. Ich darf auf einen Artikel im „Spiegel" vor einem Jahr verweisen, in dem von drehwüchsigen Buchen und dergleichen die Rede war. Diese Gefahr läuft man, wenn man solches Pflanzgut verwendet — Eicheln, Buchen —, das höchstwahrscheinlich, wie ich sagte, zur Wildfütterung in Osteuropa gesammelt wurde und billig war. Hier hat man dann die Geschäfte gemacht.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Müller .
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß durch eine bessere Kontrolle dieser Forstsamenbetriebe, vor allem durch eine bessere Überprüfung der Frage, woher der Samen kommt, diese Aktion hätte verhindert werden können?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es gibt in unserem Staat Gesetze, um Betrügereien zu verhindern. Trotzdem finden Betrügereien statt. Es kommt immer wieder darauf an, sie zu entdecken. Wir können froh sein, daß das alles entdeckt worden ist. Die Kontrollen haben stattgefunden. Aber nur ein Forstamt ist darauf gestoßen, was hier gespielt wird.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, wenn Eicheln zu Futterzwecken als Saatgut verwandt werden und die Eicheln aus derselben Zucht stammen, meinen Sie, es ist ein großer Unterschied, ob aus dieser Eichel, die für Futterzwecke gedacht war, aber aus derselben Zucht stammt, ein Baum wächst oder ob eine solche Eichel als sogenanntes Samengut — teuer — verkauft wird?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, dieser Auffassung bin ich nicht, und zwar weil die Bestände, aus denen Forstsamen gewonnen werden, nach dem Gesetz zugelassen werden müssen, und zwar europaweit.
Herr Klejdzinski, zu einer zweiten Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich frage Sie ja nicht, ob es nach dem Gesetz zugelassen sein muß, sondern ich habe Sie gefragt — diese Frage will ich jetzt in einer anderen Form wiederholen —, ob Sie sich vorstellen können, daß aus einer Eichel, die für Futterzwecke verkauft wird, ein anderer Baum wächst als aus einer anderen Eichel, die aus derselben Zucht stammt, so daß zuträfe, was laut Gesetz vorgeschrieben ist?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Sie von einem zugelassenen Baum, z. B. einer Eiche, Eicheln einsammeln und davon die Hälfte zu Forstsamen verwenden und die andere Hälfte verfüttern, steht der Verwendung der erstgenannten Hälfte als Forstsamen gar nichts im Wege.
Frau Dr. Bard, Sie sind nicht zufällig Biologielehrerin? Aber Sie haben die nächste Zusatzfrage.
Ich frage mich bei diesem Streit folgendes. Es ist Ihren Ausführungen doch zu entnehmen, daß über die Qualität dieser besagten Bäume, die schon bis zu einer bestimmten Höhe gewachsen sind, nichts ausgesagt wird und ausgesagt werden kann. Die von Ihnen geäußerten Befürchtungen beziehen sich vielleicht darauf, daß in Zukunft eine Ertragsminderung eintreten könnte.Kann man nicht wenigstens versuchen, diese Bäume, die jetzt schon gewachsen sind, zu Zwecken zu verwenden — meinetwegen an bestimmten Autobahnen —, bei denen dieser Ertrag nicht in der gleichen Weise eine Rolle spielt? Könnte man für diese Bäume, die schon gewachsen sind, nicht eine Verwendung finden, ohne daß man wieder von vorn anfängt?Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich darf Sie darauf hinweisen, daß ich genau das gesagt habe: Zur Anpflanzung an Straßen, in Gärten usw. kann das zugelassen werden. Nur: Der Bedarf ist dort sehr gering.Im übrigen gilt bei allen Pflanzen — gleichgültig, ob es sich um einjährige oder mehrjährige Pflanzen
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Parl. Staatssekretär Gallushandelt —, daß schon im Samen begründet liegt, was nachher wächst. Bei Bäumen, die 100 Jahre und älter werden, ist es entscheidend, dafür zu sorgen, daß nur Samen aus guten und zugelassenen Beständen verwendet wird, weil man sonst in 100 Jahren keinen Wald hat, den man gebrauchen kann.
Frau Dr. Bard, eine zweite Zusatzfrage.
Sind bezüglich der Qualität nicht doch ein bißchen Zweifel angebracht? Ist es hier nicht vielleicht sogar so wie bei Hunderassen, daß die Qualität gerade bei Kreuzungen oder Mischlingen ganz besonders gut ist? Kann man hier nicht ein Exempel statuieren, ob eine gute Qualität herauskommt? Sie behaupten ganz einfach, daß es minderwertig sein muß. Das sehe ich mit keinem Punkt bewiesen.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Situation ist beim Wald etwas anders als bei den Hunden
und auch etwas anders als bei sonst gezüchteten einjährigen oder etwas kürzer lebenden Pflanzen. Hier werden in gewissen Waldgebieten vorzugsweise bodenständige Stämme ausgesucht, von denen dann Samen geerntet werden. Das ist, glaube ich, der richtige Weg, der auch sehr ökologisch ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, können Sie mir den Unterschied zwischen einem zugelassenen Baum und einem nicht zugelassenen Baum und den Unterschied des jeweiligen Samens erklären?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin kein Forstmann. Es steht fest: Im Wald finden Sie von einer jeweils gleichen Art — ob Buche, Eiche, Fichte, Tanne oder sonst eine Art — sehr unterschiedliche Bäume. Es kommt jetzt darauf an, aus gleichmäßigen Beständen für die Zukunft den Samen zu gewinnen, um so dazu beizutragen, daß wir auch in 100 Jahren noch einen guten Wald haben.
Herr Jungmann, zu einer zweiten Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich aus Ihrer Antwort schließen, daß es Ihnen bei der Qualifikation des Samens nur auf die Nutzungsfähigkeit der Bäume für materielle Zwecke und nicht nur auf den Baum an sich ankommt?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in der Regel werden nach unserem Bundeswaldgesetz Wälder zu Nutz-, Schutz- und Erholungszwecken gepflanzt. Der größte Teil unserer Wälder dient Nutzzwecken, weil wir das Holz heute und in der Zukunft dringend notwendig brauchen. Es ist eines unserer wichtigsten nachwachsenden Rohstoffe, die wir in der Zukunft überhaupt noch haben. Diese Frage ist viel zu ernst, als daß wir uns auf eine natürliche Auslese verlassen könnten; denn sonst hätten wir in den Wäldern vielleicht nur noch größere Büsche.
Ich habe noch zwei Zusatzfragen. Sie sind sicher damit einverstanden, daß wir dann zur nächsten Frage übergehen.
Frau Blunck, eine Zusatzfrage.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ist es richtig, daß die Behörden dieses Saatgut zu kontrollieren haben, und können Sie mir sagen, ob diese stichprobenartige Kontrolle durchgeführt worden ist? Mir ist bekannt, daß Bücher darüber geführt werden. Können Sie mir bitte sagen, warum das nicht funktioniert hat? Ich appelliere an Ihre Phantasie, damit mir das vielleicht klarer wird.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe hier schon erklärt, daß die Kontrolle bei den Ländern liegt. Aus den Büchern kann man in der Regel nur das herauslesen, was drinsteht,
es sei denn, man kann zwischen den Zeilen lesen, oder man kommt durch Vergleich von Zahlen, die es in diesem Betrieb sonst noch gibt, darauf, daß im Buch nicht alles drinsteht.
Frau Dr. Hickel, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß das Artengesetz aus dem Dritten Reich, wenn auch vielleicht nicht nach den Paragraphen, so doch sinngemäß nach wie vor Anwendung findet?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, hier muß ich in aller Entschiedenheit widersprechen. Ich habe es bedauert, daß auch in der Fernsehsendung darauf Bezug genommen worden ist. Ich kann nur sagen, hier ist nach dem nicht gerade feinen Grundsatz des Journalismus gehandelt worden: Man soll ja nicht zu Tode recherchieren. Ein Anruf im Landwirtschaftsministerium hätte nämlich genügt, um zu erfahren, daß das Forstliche Artgesetz des Dritten Reiches 1957 aufgehoben worden ist und daß das Gesetz, das wir vor uns haben, EG-weit Gültigkeit hat und 1979 neu gefaßt worden ist.
Wir sind am Ende der Behandlung der Dringlichkeitsfragen. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gallus.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Hennig zur Verfügung.Ich rufe die Frage 1 des Herrn Abgeordneten Dr. Göhner auf:
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734 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Vizepräsident WestphalWelche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, den großen bürokratischen Aufwand für die Förderung von Reisen nach Berlin durch das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen zu vermindern und den umfangreichen Leitfaden vom 1. März 1982 des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen sowie die umfangreichen Förderungsrichtlinien zu vereinfachen, zu straffen und zu kürzen?
Herr Kollege Göhner, jede finanzielle Förderung aus öffentlichen Mitteln erfordert eine sorgfältige Kontrolle ihrer Verwendung. In diesem Grundsatz stimmen wir ganz sicher überein.
Dies gilt auch für die Förderung von Informationsreisen nach Berlin. Für diesen Bereich gibt es nun ein besonders hohes Maß an verwaltungsmäßigen Regelungen, das sich aus folgenden Bedingungen ergibt: erstens der Bundeshaushaltsordnung; zweitens den notwendigen Abgrenzungen zu anderen Maßnahmen der Förderung von Begegnungen, politischer Bildung, Jugendfahrten usw., die ebenfalls aus öffentlichen Mitteln bezuschußt werden; drittens der notwendigen Vermeidung einer Doppelförderung; viertens den Absprachen mit dem Bundesfinanzminister, dem Bundesrechungshof und den das Projekt der Berlinfahrten mittragenden Bundesländern und fünftens dem Wunsch, alle Bundesbürger zu vergleichbaren Bedingungen Berlin besuchen zu lassen. Das heißt z. B., unterschiedliche Entfernungen durch unterschiedliche Zuschußsätze auszugleichen.
Die Bundesregierung prüft laufend, ob der Verwaltungsaufwand verringert werden kann. Bei den jährlich stattfindenden Tagungen mit den Bundesländern über die Förderung von Reisen nach Berlin steht dieser Punkt regelmäßig auf der Tagesordnung. Bisher haben alle Beteiligten — auch die Bundesländer — jedoch keine Möglichkeit gesehen, die Verwaltungsvorschriften und andere Grundlagen der Förderung von Berlinfahrten weiter wesentlich vereinfachen zu können.
Das in Ihrer Frage angesprochene Merkblatt ist im übrigen durch einen Leitfaden auf dem Deckblatt bereits übersichtlicher gestaltet worden. Es dient der Beratung der Antragsteller und ist insofern nicht Teil der Unterlagen, die für die Antragstellung und Abrechnung erforderlich sind.
Herr Dr. Göhner zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie die Art und den großen bürokratischen Umfang des geforderten Nachweises aller Einnahmen und Ausgaben — und zwar auch der nicht zuschußfähigen Ausgaben — bei solchen Berlinfahrten für notwendig, obwohl die Zuschüsse in Form von Festbetragsfinanzierungen erfolgen und obwohl in anderen Bundesländern, z. B. in Nordrhein-Westfalen, die gleiche Förderung ohne einen solchen Nachweis erfolgt?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Göhner, Sie können davon ausgehen, daß diese Regierung mit Sicherheit dazu angetreten ist, überflüssige Bürokratisierungen zu beseitigen. Insofern werden wir uns in der Tat immer wieder darum bemühen, hier zu Vereinfachungen zu kommen. Wir sind zunächst hausintern dabei zu prüfen, ob man eventuell auf einen solchen Reisekostennachweis verzichten kann. Wenn diese Prüfung abgeschlossen ist, werden wir mit einer entsprechenden Anregung an das Bundesministerium der Finanzen herantreten.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Göhner.
Herr Staatssekretär, halten Sie ein dreizehnseitiges Merkblatt, zu dessen Übersicht, wie Sie vorhin zu Recht erwähnt haben, sogar noch ein Leitfaden erforderlich ist, wirklich für geeignet, um Jugendgruppen zu ermutigen, Berlinfahrten durchzuführen, oder trägt das vielmehr nicht dazu bei, sie zu entmutigen?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Göhner, ich kann Ihnen hier immer nur die Ansicht der ganzen Bundesregierung vortragen; deswegen darf ich hier meine persönlichen Sympathien oder Antipathien nicht durchblicken lassen. Aber, wie gesagt, wir werden uns bemühen, hier im Laufe der Zeit wirklich zu durchgreifenden Vereinfachungen zu gelangen.
Es gibt eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Antworten so verstehen, daß sich die ganze Bundesregierung nicht in der Lage sieht, den von der sozialliberalen Koalition angerichteten Bürokratismus zu beseitigen?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, so unhöflich würde ich das in Richtung auf unsere Vorgänger-Regierung niemals formulieren, aber es ist in der Tat richtig, daß wir das Maß an Bürokratie, was jetzt vorhanden ist, vorgefunden haben. Wir bemühen uns zunächst im eigenen Hause, uns auf Maßstäbe zu verständigen, die das Mindesterfordernis beinhalten, und wir werden dann — wir konnten noch nicht damit beginnen, weil wir nach den wenigen Wochen noch nicht damit fertig sind — Gespräche mit dem Bundesminister der Finanzen aufnehmen, ob man das eine oder andere machen kann. Wenn dazu die Bundeshaushaltsordnung geändert werden muß, dann ist sicher auch noch das Parlament gefordert.
Ich rufe Frage 2 des Abgeordneten Austermann auf:In welchem Umfang fließen Leistungen des Bundes und von privaten Unternehmen im Jahr 1983 voraussichtlich in die DDR?Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Austermann, im Bundeshaushalt 1983 sind folgende Zahlungen an die DDR vorgesehen: Pauschalsumme gemäß Art. 18 des Transitabkommens vom 17. Dezember 1971 und gemäß Protokoll vom 16. November 1978: 525 Millionen DM; Pauschalsumme gemäß Art. 6 Abs. 1 des Verkehrsvertrages vom
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 735
Parl. Staatssekretär Dr. Hennig26. Mai 1972 und gemäß Protokoll über die Vereinbarung einer Pauschalabgeltung von Straßenbenutzungsgebühren für Personenkraftfahrzeuge vom 31. Oktober 1979: 50 Millionen DM; Kostenbeteiligung des Bundes an Investitionen zur Verbesserung des Straßenverkehrs von und nach Berlin: 60,3 Millionen DM; Kostenbeteiligung des Bundes an Investitionen zur Verbesserung des Schiffsverkehrs auf den Transitwasserstraßen von und nach Berlin: 37,5 Millionen DM; Kostenbeteiligung des Bundes an Investitionen zur Verbesserung des Eisenbahnverkehrs von und nach Berlin: 24 Millionen DM; Kostenbeteiligung des Bundes an Baumaßnahmen zum Schutz der Berliner Gewässer: 36 Millionen DM.Hinzu kommen noch Haushaltsansätze für mittelbare Leistungen, und zwar Erstattung von Visagebühren bei Reisen von Westdeutschen in die DDR an Personen über 60 Jahre in Höhe von 6,5 Millionen DM und mit der DDR abgerechnete Einreisegenehmigungsgebühren für Reisen von West-Berlin in die DDR und nach Berlin in Höhe von 19 Millionen DM.Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Ansätze tatsächlich ausgeschöpft werden. Im vorstehenden Zahlenbild sind die Leistungen der Bundesregierung im Zusammenhang mit den besonderen Bemühungen im humanitären Bereich nicht enthalten.Die Zahlungen von privaten Unternehmungen erfolgen ganz überwiegend im Rahmen des bilateralen Verrechnungsverkehrs des innerdeutschen Handels für Warenlieferungen und Dienstleistungen der DDR. 1982 hatten diese Leistungen einen Wert von 7,1 Milliarden Verrechnungseinheiten. Für 1983 ist mit einer ähnlichen, unter Umständen leicht ansteigenden Größenordnung zu rechnen.
Danke schön. — Herr Kollege Austermann zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie würden Sie die Vorteile aus dem Swing, den Sie ja offensichtlich nicht vergessen haben, in bezug auf die Leistungen, die gewährt werden, quantifizieren?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Austermann, das hängt von dem jeweiligen Zinsniveau ab und ist natürlich eine Frage, die hier in der Fragestunde schon des öfteren eine Rolle gespielt hat. Ich bin gern bereit, Ihnen die aktuelle Zahl, wie dieser Zinsvorteil gegenwärtig zu bewerten ist, schriftlich zuzuleiten.
Keine weitere Zusatzfrage? — Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hennig.
Ich komme nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 106 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Entwurf einer Verordnung zur Durchführung des Bundesbaugesetzes folgende Form annimmt: Auf Grund des § 5 Abs. 2 und 4 des Landesorganisationsgesetzes vom 10. Juli 1962 , zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. November 1979 (GV. NW. S. 964), sowie des § 5 Abs. 3 Satz 1 des Landesorganisationsgesetzes, insoweit nach Anhörung des Ausschusses für Städtebau und Wohnungswesen des Landtages, des § 36 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 1975 (BGBl. I S. 80), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Oktober 1978 (BGBl. I S. 1645), der § 2 Abs. 3, § 25 a Satz 3, § 46 Abs. 2 und 4, § 80 Abs. 3, § 147 Abs. 3, § 155 Abs. 1 und § 173 Abs. 2 des Bundesbaugesetzes (BBauG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. August 1976 (BGBl. I S. 2256), zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. Juli 1979 (BGBl. I S. 949), und § 103 Abs. 3 Satz 4 der Landesbauordnung (BauO NW) vom 27. Januar 1970 (GV. NW. S. 122), in Verbindung mit § 9 Abs. 4 BBauG wird verordnet, und wenn j a, glaubt die Bundesregierung, daß dieser Entwurf noch unter dem Begriff ,,bürgerfreundlich" zu fassen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Klejdzinski, ausweislich der von Ihnen zitierten Ermächtigungsvorschriften kann es sich nur um die Präambel des Entwurfs einer Verordnung des Landes Nordrhein-Westfalen handeln. Eine Bewertung ist mir daher wegen fehlender Zuständigkeit der Bundesregierung verwehrt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, dies soll nach meiner Intention ja auch nur als Beispiel dienen. Würden Sie mir denn, wenn der ganze Tenor aus einem Bundesgesetz plus Rechtsverordnung des Bundes plus — möglicherweise — Erlasse des Bundes wäre, zustimmen, daß das, was ich mit meiner Frage zum Ausdruck bringen wollte, zutreffend ist?
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejdzinski, das sachliche Anliegen, das hinter Ihrer Fragestellung steht, ist berechtigt. Die Bundesregierung hat dem bereits Rechnung getragen. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht, daß er dafür eintritt, daß Bürokratie auf allen Gebieten — dazu gehört auch das von Ihnen angeschnittene Gebiet — abgebaut wird.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, auch der Bundeskanzler Schmidt hat, wie Sie wissen — in diesem Punkt werden Sie mir zustimmen —, einmal von der Unlesbarkeit der Wasser- und Stromrechnung gesprochen und sich mit Massivität dagegen gewandt. Ich habe allerdings noch nicht den Eindruck, daß das überall hinreichend gewirkt hat. Darf ich Sie denn so verstehen, daß Ihr Bemühen dahin gehen wird, daß wir am Ende dieses Jahres
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736 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Dr. Klejdzinskivon dieser übermächtigen Bürokratie wirklich befreit sein werden?Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Ich darf noch einmal auf das verweisen, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht hat, und auf die Beantwortung der von Ihnen noch gestellten Frage anspielen; dann wird Ihrem Anliegen mit Sicherheit Rechnung getragen.
Ich rufe die Frage 107 des Herrn Abgeordneten Dr. Klejdzinski auf:
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, die juristischen Verklausulierungen dahin gehend zu vereinfachen oder zu ändern, daß sie auch Nicht-Juristen verständlich sind, und wenn ja, welche Schritte zu einer Vereinfachung gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen?
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejdzinski, kraft Verfassungsrechts müssen in der Präambel jeder Rechtsverordnung alle Ermächtigungsvorschriften angegeben werden, soweit von ihnen Gebrauch gemacht wird. Dies ergibt sich aus Art. 80 des Grundgesetzes und auch aus Art. 70 der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen.
Die Bundesregierung ist ihrem Zuständigkeitsbereich bemüht, dieser dem Schutze des Bürgers dienenden Verfassungsnorm so einfach und verständlich wie nur möglich gerecht zu werden.
Darüber hinaus prüft die Bundesregierung im Zusammenhang mit den Arbeiten an einem Baugesetzbuch, in welchem Umfang die Ermächtigungsvorschriften zum Erlaß baurechtlicher und städtebaurechtlicher Rechtsverordnungen zusammengefaßt werden können. Damit werden auch die Präambeln solcher Verordnungen überschaubarer werden.
Keine Zusatzfrage? — Danke schön.
Dann sind wir am Ende der Fragen des Geschäftsbereichs. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Jahn für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Spranger zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 — des Abgeordneten Jungmann — auf:
Trifft es zu, daß der Bundesminister des Innern konkrete Planungen zum Aufbau personeller und materieller Kapazitäten des BGS/See mit der Zielsetzung der Luft- und Seeüberwachung zur Kontrolle von Ölverschmutzung im Bereich See/Küste vorwiegend auf den Schiffahrtswegen in der Nordsee betreibt, und wenn ja, hat er bereits Konzepte entwickelt und Lösungsvorschläge bei der Industrie eingeholt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Jungmann, ich würde gern des Sachzusammenhangs wegen beide Fragen zusammen beantworten.
Sind Sie einverstanden? — Dann rufe ich auch Frage 4 auf:
Beruhen Pressemeldungen über Materialkosten und materielle Betriebskosten auf Schätzungen des Bundesministers des Innern oder stehen konkrete Angebote dahinter?
Herr Staatssekretär, bitte.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Über die Erfüllung seiner Aufgaben auf hoher See jenseits des Küstenmeeres hinaus beteiligt sich der BGS/See bei der Wahrnehmung der Aufgaben im Bereich der Schiffahrtspolizei und des Umweltschutzes.
Der für schiffahrtspolizeiliche Aufgaben zuständige Bundesminister für Verkehr hat zusammen mit dem Bundesminister der Finanzen und meinem Hause abgestimmte Maßnahmen zur verbesserten Überwachung der Nordsee entwickelt. Dadurch ist eine Kooperation aller auf der Nordsee verfügbaren Vollzugskräfte unter der Fachaufsicht der Wasser- und Schiffahrtsdirektionen Nord und Nordwest des Deutschen hydrographischen Instituts und der Seeberufsgenossenschaft sichergestellt.
Im Hinblick darauf hat der BGS bereits am 1. Juli 1982 ein Boot dauernd in die Nordsee verlegt. Es ist vorgesehen, ein zweites Boot des BGS zeitweise für Nordseeaufgaben aus der Ostsee abzuziehen. Außerdem werden verstärkt BGS-Hubschrauber zu Überwachungsflügen eingesetzt. Diese Aufgaben sollen mit dem beim BGS vorhandenen Personal erfüllt werden.
Pressemeldungen über den Aufbau einer zusätzlichen, ausschließlich in der Nordsee einzusetzenden BGS-Flottille beruhen auf Überlegungen, die unter Umweltschutzaspekten vor Monaten im BMI angestellt worden sind. Etwas ganz anderes ist die Ersatzbeschaffung der nunmehr 15 Jahre alten BGS- Boote, die nach und nach erforderlich werden wird. Bei der Planung der Ersatzbeschaffung ist selbstverständlich auch auf die Nordseetauglichkeit der Boote wert gelegt worden.
Einer raschen Realisierung dieser Vorhaben stehen allerdings die Zwänge des Haushalts entgegen. Im BMI sind einschlägige Kostenschätzungen für die Ersatzbeschaffung angestellt worden. Konkrete Angebote liegen nicht vor, da bisher noch keine Ausschreibung für die Ersatzfahrzeuge vorgenommen wurde.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, Ihre Antwort gibt nicht das wieder, was ich gefragt habe. In einer Presseerklärung Ihres Hauses vom 11. März 1983 ist nicht von „Ersatzbeschaffung" für die 15 bereits im Dienst befindlichen Boote des BGS in Neustadt in der Ostsee und der zwei jetzt in der Nordsee liegenden Fahrzeuge die Rede, sondern Innenminister Zimmermann strebt danach den Aufbau einer Flottille von vier Booten sowie den personellen und materiellen Ausbau des BGS bezüglich einer Fliegerstaffel an der Küste zur Überwachung in dem Bereich, den ich angesprochen habe, an. Hier würde ich gern die Frage von Ihnen beantwortet haben, ob Sie versucht haben, das in dieser Presseerklärung Dargelegte einmal im Zusammenhang
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 737
Jungmannmit der Marine zu klären, ob hier nicht eine Aufgabenteilung nicht nur zwischen BMV und BMI und anderen für den Umweltschutz zuständigen Stellen, sondern auch mit dem BMVg stattgefunden hat, damit die Marine einmal eine sinnvolle Aufgabe in der Nordsee bekommt.Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, ich glaube, es kommt nicht darauf an, daß eine Antwort Ihren Erwartungen entspricht, sondern darauf, daß sie den Fakten entspricht, und die Fakten sind vorgetragen worden.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, wenn die Fakten so sind, wie Sie sie dargestellt haben, sind Sie denn dann bereit, für die Zukunft in Erwägung zu ziehen, auch das Ressort, das ich in meiner vorhergehenden Frage angesprochen habe, mit in Ihre Überlegungen einzubeziehen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich hatte j a in meiner Antwort zum Ausdruck gebracht, welche Ressorts daran beteiligt sind. Und die werden sich auch künftig an diesen Überlegungen beteiligen.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, konkret gefragt; ich erwarte — vielleicht ist das so üblich, daß man keine konkreten Antworten hier erwarten kann — keine konkrete Antwort: Sind Sie bereit, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, wie sie die Nachbarländer, z. B. Großbritannien oder Holland, bei der Überwachung der Ölverschmutzung in der Nordsee ergriffen haben, nämlich die Einbeziehung der Marine in die Überwachungsaufgaben?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, wiederum entgegen Ihren Erwartungen kann ich zum Ausdruck bringen, daß wir sehr konkret, auch in der Antwort jetzt auf Ihre Frage, zum Ausdruck gebracht haben, was unternommen wird. Ich verweise auf Abs. 3 des ersten Teils meiner Antwort.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, ist es denn richtig, daß der Herr Zimmermann gedenkt, eine Flottille aufzustellen, und ist es richtig, daß er gedenkt, eine zusätzliche Fliegerstaffel aufzustellen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich verweise erneut auf den ersten Satz des zweiten Teils meiner Antwort: „Pressemeldungen über den Aufbau einer zusätzlichen, ausschließlich in der Nordsee einzusetzenden BGS-Flottille beruhen auf Überlegungen, die unter Umweltschutzaspekten vor Monaten im BMI angestellt worden sind." — Im übrigen: Was tatsächlich nun Absicht ist, ergibt sich aus dem weiteren Teil der schon gegebenen Antwort.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, sind diese Hubschrauber mit der bisherigen Ausrüstung überhaupt in der Lage, eine Überwachung z. B. in der Nacht zu gewährleisten, und wieviel Kosten setzen Sie ein, um dann entsprechende Geräte dort einzubauen, ähnlich wie die Holländer das haben, damit tatsächlich eine kontinuierliche Überwachung gewährleistet ist?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Es ist davon auszugehen, daß die beteiligten Ressorts natürlich Hubschrauber zum Einsatz bringen und entsprechend ausrüsten werden, die ihre Aufgabe tatsächlich erfüllen können.
Herr Jungmann hat noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß zwischen dem BMV und dem BMVg bereits seit längerem Verhandlungen über den Einsatz von Do 28 laufen, die auf Grund ihrer ruhigeren Lage in der Luft dazu besser als Hubschrauber geeignet sind, und daß in diesen Maschinen die Sensoren eingebaut werden können und die Firma Dornier ja auch schon damit beauftragt ist, solche Sensoren zu entwickeln und einen Voranschlag zu erstellen, was das kostet?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich will nicht ausschließen, daß unter der Aussage, daß hier Maßnahmen zur verbesserten Überwachung der Nordsee entwickelt werden, auch die von Ihnen vorgetragene Überlegung einbezogen werden wird.
Jetzt kommt eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Ehmke .
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung geprüft, ob besonders bei Schönwetterlagen auch ein verstärkter Einsatz der Satellitenbildauswertung eine Verbesserung der Überwachung bringen könnte, z. B. LANDSAT C oder ähnliche Satelliten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das wird sicher bei den Prüfungen mit einbezogen werden.
Die letzte Zusatzfrage der Abgeordneten Blunck.
Herr Staatssekretär, ich hatte nach den finanziellen Aufwendungen gefragt. Um das noch mal ganz genau zu formulieren: Ich möchte von Ihnen eine Antwort haben, was es in Mark und Pfennig kostet. Wenn Sie es nicht wissen, dann sagen Sie es doch bitte. Ich bin auch mit der schriftlichen Beantwortung meiner Frage einverstanden. Aber bitte einmal konkret!
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738 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Spranger, Parl. Staatssekretär: Es hat bei der Haushaltslage natürlich wenig Sinn, über die Möglichkeiten finanzieller Aufwendungen
gerade in dem Bereich zu spekulieren, und es wird wesentlich auch von der Unterstützung der zuständigen Ausschüsse hier im Bundestag abhängig sein, welche Aufwendungen dazu getroffen werden können.
Ich gehe zur nächsten Frage im gleichen Geschäftsbereich über. Es ist die Frage 5 des Abgeordneten Kolbow:
Wie stellt sich der Bundesinnenminister die Erweiterung seines Personalbestands, vor allem in den Jahren ab 1986, vor?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Wenn Kollege Kolbow einverstanden ist, würde ich die Fragen 5 und 6 im Sachzusammenhang beantworten.
Sind Sie einverstanden? — Dann rufe ich auch die Frage 6 des Abgeordneten Kolbow auf:
Denkt die Bundesregierung daran, diese Angelegenheit so bald wie möglich zum Gegenstand einer ressortübergreifenden Prüfung zu machen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Erweiterung des Personalbestands setzt eine Vermehrung von Planstellen und Stellen voraus. Die Entscheidung hierüber trifft der Gesetzgeber durch das Haushaltsgesetz. Der Bundesminister des Innern wird im Rahmen der Haushaltsverhandlungen wie in der Vergangenheit auch in den kommenden Haushaltsjahren darauf hinwirken, daß in den Einzelplänen 06 und 36 die Planstellen und Stellen ausgebracht werden, die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind. Dies betrifft auch etwa erforderlich werdende Erweiterungen des Personalbestands in den Jahren ab 1986. Bei dieser Sachlage besteht kein Anlaß zu einer ressortübergreifenden Prüfung.
Herr Abgeordneter Kolbow zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob Sie auf der Grundlage der Intentionen Ihres Hauses im Zusammenhang mit den Chefgesprächen über den Haushalt 1984 auch wegen der hier von mir angesprochenen Fragen beim Bundesminister der Finanzen im Sinne einer Vergrößerung der Zahl der Planstellen Ihres Hauses tätig werden?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Mir ist nicht bekannt, welche konkreten Überlegungen Sie jetzt ansprechen wollen.
Gibt es in Ihrem Hause konkrete Überlegungen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Es gibt wohl in jedem Hause Überlegungen dazu, wie man die zu bewältigenden Aufgaben mit dem vorhandenen Personal ordnungsgemäß erfüllen kann.
Nach dem Gang der Handlung haben wir jetzt zwei Zusatzfragen hinter uns.
Zu den beiden aufgerufenen Fragen möchte der Herr Abgeordnete Jungmann noch eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß sich von 1985/86 bis 1993 der BGS — speziell der BGS/See — und die Bundesmarine um die gleichen qualifizierten Bewerber bemühen werden, daß eine Konkurrenz entstehen könnte und daß dies doch eine Abstimmung zwischen den Ressorts BMVg und BMI erforderlich machen könnte?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Es ist sicherlich richtig, daß sich qualifizierte Bewerber in beiden Bereichen bewerben werden und daß entsprechende Abstimmungen vorgenommen werden sollten.
Danke schön.
Ich rufe Frage 7 des Abgeordneten Menzel auf:
Liegen der Bundesregierung gesicherte Kenntnisse darüber vor, welche Ursachen das Waldsterben hat?
Herr Staatssekretär!
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Menzel, gesicherte Kenntnisse über die Ursachen des Waldsterbens liegen der Bundesregierung nicht vor. Es kann aber davon ausgegangen werden, daß in der Regel, von Standort zu Standort verschieden, mehrere Faktoren beteiligt sind. Dabei kommen in ihren Kombinationswirkungen sowohl Luftschadstoffe, insbesondere Schwefeldioxid, Stickoxide, Photooxidantien und Schwermetalle, als auch Faktoren wie Trockenheit, Frost, biotische Schaderreger und waldbauliche Einflüsse in Betracht.
Die Bundesregierung tritt nachhaltig für eine Intensivierung der Forschungsanstrengungen zur Bekämpfung der Waldschäden ein. Sie hat in der Kabinettsitzung am 14. Juni 1983 ein Konzept zur Koordinierung der relevanten Forschung verabschiedet, das die Bildung von regionalen Forschungsschwerpunkten, die Vertiefung der Arbeit der gemeinsamen interministeriellen Arbeitsgruppe Waldschäden/ Luftverunreinigungen des Bundes und der Länder und deren Unterstützung durch einen Forschungsbeirat vorsieht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Menzel.
Herr Staatssekretär, wieso geht die Bundesregierung, wenn ihr keine gesicherten Erkenntnisse über die Ursachen des Waldsterbens
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 739
Menzelvorliegen, bei der Großfeuerungsanlagen-Verordnung davon aus, daß der Schwefeldioxidausstoß der alleinige oder doch der Hauptverursacher des Waldsterbens ist?Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich bitte doch darum, meiner tatsächlich gegebenen Antwort zu entnehmen, daß eine Vielfalt von Ursachen als möglich und als wahrscheinlich anzunehmen ist und daß trotz der Komplexität des Problems das Vorhandensein einiger bestimmter Ursachen natürlich eine Konzentration auf bestimmte sofortige Entscheidungen ermöglicht.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Menzel.
Herr Staatssekretär, Sie können also nicht ausschließen, daß sich die großen Belastungen, die mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung auf die Verursacher zukommen, als unnötig erweisen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Diese Schlußfolgerung stünde im Gegensatz zu allem, was alle Bundesländer und alle Experten, die wir bisher in den entsprechenden Gremien gesprochen haben, meinen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, geht die Bundesregierung davon aus, daß das Waldsterben von so großer volkswirtschaftlicher und ethischer Bedeutung ist, daß man auf jeden Fall diejenigen Quellen ausschalten muß, die man kennt, auch wenn noch nicht alle Quellen endgültig erforscht sind?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, das ist eine zutreffende Bewertung, und ich war bisher der Auffassung, daß alle Fraktionen hier im Deutschen Bundestag diese Meinung auch vertreten haben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Ehmke .
Herr Staatssekretär, Sie nannten eben als eine der möglichen Ursachen waldbauliche Fehler. Ist Ihnen bekannt, daß nach allen vorliegenden Untersuchungen und Erkenntnissen — ich denke insbesondere an badenwürttembergische Untersuchungen, die von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt durchgeführt wurden — waldbauliche Maßnahmen — Sie denken hierbei wahrscheinlich vor allem an Fichtenmonokulturen u. ä. — als Ursachen weitgehend ausscheiden?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Ehmke, Sie wissen, daß die Sachverständigen hier unterschiedlicher Meinung sind. Deswegen habe ich auch vorsichtig formuliert, daß bei diesen Kombinationswirkungen „auch waldbauliche Einflüsse in Betracht kommen".
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Linde.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, welche Auswirkungen die jetzt schon bekannten Schadensursachen auf den Gesamtwaldbestand in der Bundesrepublik Deutschland hätten, vorausgesetzt, daß keine Maßnahmen ergriffen werden, die Ursachen einzugrenzen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung sind die bisher entstandenen Schäden bekannt. Was möglicherweise sein könnte, wäre eine reine Spekulation, weil die Bundesregierung j a entschlossen ist, alles zu tun, um das Waldsterben wirksam zu bekämpfen.
Das geht leider nicht, Herr Kollege Linde, Sie hatten nur eine Zusatzfrage.
Herr Abgeordneter Berschkeit zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben eine Reihe von möglichen Ursachen für das Waldsterben aufgezählt. Gegen welche der anderen möglichen Verursacher haben Sie ähnliche Vorschriften erlassen wie bei den Großfeuerungsanlagen, und welcher Art sind diese Eindämmungsversuche bei den anderen Verursachern?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich darf hier nur an die TA Luft erinnern, die einer Reihe von anderen Schadstoffen entgegenwirken soll.
Augenblick. Es gibt nur eine Zusatzfrage eines Abgeordneten zu einer Frage.
Jetzt ist der Herr Abgeordnete Krey zu einer Zusatzfrage an der Reihe.
Herr Staatssekretär, geht die Bundesregierung davon aus, daß die Verschärfungen der Anforderungen hinsichtlich der Großfeuerungsanlagen nicht alleine aus dem bedauerlichen Phänomen des Waldsterbens heraus begründet sind?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Es ist davon auszugehen, daß Schwefeldioxid möglicherweise auch für eine Reihe von anderen Schäden ursächlich ist. Insofern ist die Großfeuerungsanlagen-Verordnung nicht nur unter dem Aspekt des Waldsterbens zu sehen.
Danke schön.Wir kommen zur Frage 8 des Herrn Abgeordneten Menzel:Sind der Bundesregierung Untersuchungen bekannt, in denen festgestellt worden ist, daß in Gebieten mit hoher Radarbelastung eine Häufung von Waldschäden auftrete und daß
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740 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Vizepräsident Westphalsich bei einer Konzentration von Mikrowellen das Schwefeldioxidvorkommen in der Luft erhöhe ?Herr Staatssekretär.Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Menzel, wissenschaftliche Untersuchungen über eine Häufung von Waldschäden in Gebieten mit hoher Radarbelastung sind der Bundesregierung nicht bekannt. Entsprechende Hypothesen sind auch in den umfassenden Symposien von Neuherberg und Jülich im Januar dieses Jahres zum Thema „Ursachen und Wirkungen des Waldsterbens" von wissenschaftlicher Seite nicht angesprochen worden. Im übrigen wird auf Grund des Wissensstandes über die Einwirkung von Mikrowellenstrahlung ähnlicher Stärke auf den Menschen ein schädigender Einfluß auf Ökosysteme für unwahrscheinlich gehalten.
Keine Zusatzfragen des Herrn Abgeordneten Menzel? — Danke schön. Dann ist diese Frage beantwortet.
Dann wird Frage 9 der Abgeordneten Frau Dr. Hickel aufgerufen:
Was unternimmt die Bundesregierung, um die Einführung des Kondensations-, Oxydations-, Sorptionsverfahrens , das von Faatz, in Salzgitter, entwickelt wurde und das bei Hansano, Hildesheim, in einer Pilotanlage bereits angewendet wird — ein Verfahren, das die Rauchgasentschwefelung ökonomischer und effektiver erlaubt, als es bei Filteranlagen vorhandener Art möglich ist — zu propagieren, insbesondere auch angesichts der Tatsache, daß dieses Verfahren auch für Salzkohle, wie zum Beispiel in Buschhaus bei Helmstedt, verwendbar ist?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Dr. Hickel, die Bundesregierung hat in den 70er Jahren mit einem beträchtlichen Geldmittelaufwand die Entwicklung verschiedener Verfahrenstypen zur Rauchgasentschwefelung bis zur Betriebsreife gefördert. Der mit diesen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben erreichte Stand der Technik war Grundlage für die Festlegung von Schwefeldioxidemissionsnormen in der GroßfeuerungsanlagenVerordnung. Alle weiteren Verfahren, wie z. B. das KOS-Verfahren, müssen sich nun an diesen Maßstäben messen und sich selbst auf dem Markt behaupten. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Werbung für die Einführung spezieller Verfahren zu treiben. Aus der Vielzahl der heute vorhandenen und auf dem Markt bereits eingeführten Rauchgasentschwefelungsverfahren lassen sich einige auch für die Behandlung der Abgase aus der Salzkohleverbrennung, wie sie beim Kraftwerk Buschhaus anfallen werden, einsetzen. Das KOS-Verfahren, das in einer Dampfkesselanlage in einem Molkereibetrieb in Hildesheim erprobt wird, befindet sich noch im Versuchsstadium. Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen bietet es keine Vorteile gegenüber dem konventionellen Kalkwaschverfahren.
Frau Dr. Hickel zu einer Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß dieses Verfahren die Möglichkeit bietet, die in den Rauchgasen vorkommenden Rohstoffe wiederzugewinnen, und zwar in gereinigter Form, so daß man sie auch wieder vermarkten kann? Das war das, was ich mit der Wirtschaftlichkeit meinte?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die vorrangige Eigenschaft einer solchen Anlage sollte aber doch die Wirksamkeit bei der Schadstoffbeseitigung sein. Hier scheinen im Hinblick auf die anderen technischen Möglichkeiten erhebliche Bedenken noch nicht ausgeräumt zu sein.
Frau Dr. Hickel zu einer weiteren Zusatzfrage.
Darf ich Sie fragen, worin Sie die Vorteile und die Nachteile dieses Verfahrens gegenüber den bereits laufenden Verfahren sehen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe schon zum Ausdruck gebracht, daß die bisherigen Untersuchungen nicht zu dem Ergebnis geführt haben, daß das bisherige Verfahren der Rauchgasentschwefelung schlechter sei als das in der Erprobung befindliche KOS-Verfahren.
Ich rufe die Frage 10 der Frau Abgeordneten Dr. Hickel auf:
Hat die Bundesregierung das Gutachten zum KOS-Verfahren, das die niedersächsische Landesregierung Mitte 1982 vorstellte, bereits zugezogen?
Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das Gewerbeaufsichtsamt in Hildesheim hat für die Genehmigung zum versuchsweisen Betrieb der KOS-Rauchgasentschwefelungsanlage bei der Milchverwertung Hildesheim/Peine e. G. Gutachten angefordert, die vom Technischen Überwachungsverein Hannover e. V. erstellt worden sind. Wegen Unregelmäßigkeiten im Versuchsbetrieb lassen die Ergebnisse noch keine endgültige Aussage über den Wert des Verfahrens im Dauerbetrieb zu. Nach Auskunft des Gewerbeaufsichtsamtes wird zur Zeit vom TÜV Hannover ein dritter Meßbericht erstellt, der über die Genehmigung zum Fortgang des Versuchsbetriebes entscheiden soll. Von einer großtechnischen Verwendung des KOS-Verfahrens speziell im Kraftwerksbereich kann wegen des Entwicklungsstadiums noch keine Rede sein.
Frau Dr. Hickel, Zusatzfrage.
Sie erwähnten vorhin das Kraftwerk Buschhaus, für das dieses Verfahren möglicherweise besonders geeignet sei, weil man dort auch die Salzkohle entschwefeln, entgiften könne. Ich habe an Ihr Ministerium die Frage, ob die Bundesregierung für dieses Kraftwerk, das unter den neu in Betrieb genommenen Kraftwerken in der Bundesrepublik die größten Giftstoffemissionen aufweisen wird, irgendeine Art von Verantwortlichkeit über das hinaus sieht, was die niedersächsische Landesregierung tut, um dieses Kraft-
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Frau Dr. Hickelwerk in Buschhaus mit allen nur denkbaren Methoden zu entgiften.Spranger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Dr. Hickel, ich hatte nicht zum Ausdruck gebracht, daß das KOS-Verfahren möglicherweise für dieses Kraftwerk Anwendung finden könnte, sondern ich habe zum Ausdruck gebracht, daß das bereits jetzt eingeführte Rauchgasentschwefelungsverfahren ebenfalls für dieses Kraftwerk eingesetzt werden kann. Da bisher noch nicht erwiesen ist, daß das KOS-Verfahren effizienter ist, wird eine Festlegung für das KOS-Verfahren in diesem Kraftwerk zur Zeit noch nicht erfolgen können.
Weitere Zusatzfrage, Frau Dr. Hickel.
Setzen Sie sich für eine Entschwefelungsanlage in Buschhaus ein?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich setze mich dafür ein, daß mit einem Höchstmaß an Effizienz SO2-
Emissionen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland wirksam eingedämmt werden.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie auf die Frage 9 der Frau Abgeordneten Dr. Hickel geantwortet haben, daß dieses Verfahren keinerlei Vorteile beinhalte, habe ich Sie weiter richtig verstanden, daß Sie dann bei der Beantwortung der Frage 10 gesagt haben, Sie könnten den Wert dieses Verfahrens noch nicht richtig beurteilen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich bitte um Nachsicht, wenn ich die Antworten auf die Fragen 9 und 10 jetzt nicht mehr interpretiere. Wenn Sie anwesend gewesen sind, haben Sie verfolgen können, was ich tatsächlich gesagt habe.
Herr Staatssekretär, Sie haben das Recht, zu antworten, wie Sie es für richtig halten.
Zu den Fragen 11 und 12 des Herrn Abgeordneten Milz hat der Fragesteller um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Müller auf:
Welche Möglichkeit sieht die Bundesregierung, die Umweltgefährdung durch mehrere Tonnen Quecksilber pro Jahr aus Batterien, die von den Verbrauchern aus Unkenntnis weggeworfen werden, durch bessere Verbraucheraufklärung und mehr Recycling-Angebote einzudämmen?
Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, auf der Grundlage einer freiwilligen Vereinbarung zwischen dem Bundesminister des Innern und den Batterieproduzenten und -importeuren werden Quecksilberbatterien über den Verteilerweg zurückgenommen und der Verwertung zugeführt. Dieses Sammelsystem auf freiwilliger Basis hat bis heute eine Erfolgsquote von 50 % zu verzeichnen. Der Bundesminister des Innern sowie die beteiligte Batteriewirtschaft sind sich bewußt, daß die Aufrechterhaltung des Sammelsystems und die Verbesserung der Ergebnisse nur durch eine fortgesetzte Motivation der Verbraucher und eine ständige Information der Endverteiler zu erreichen sind. Erst im Mai dieses Jahres ist eine breit angelegte Presseaktion in Zusammenarbeit mit der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels mit gutem Echo veranstaltet worden.
Der Bundesminister des Innern erwartet eine weitere Verbesserung der Sammelergebnisse durch die spezielle Kennzeichnung von Quecksilberoxidbatterien. Anfang 1983 hat er eine weitere freiwillige Vereinbarung mit den Batterieherstellern getroffen, nach der ab 1. Februar 1985 diese Batterieart generell durch Einkreisung des Pluspols gekennzeichnet wird.
Die Bundesregierung erwägt im Zuge der Fortschreibung des Abfallrechtes, ein Verwertungsgebot in das Abfallbeseitigungsgesetz mit dem Ziel aufzunehmen, die materielle und energetische Verwertung von Abfällen zu steigern. Sie beabsichtigt darüber hinaus für Abfälle, bei deren Beseitigung eine Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit zu besorgen ist, die betroffenen Abfallproduzenten auf dem Verordnungsweg zur Rücknahme zu verpflichten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Müller .
Herr Staatssekretär, Ihrer Antwort entnehme ich, daß dann noch ungefähr 50 % der Batterien im Hausmüll landen: Gibt es praktisch anwendbare Möglichkeiten, Quecksilber aus dem Hausmüll auszusortieren?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das ist eine Frage, die natürlich mit den Betroffenen und ihren Vertretern und auch mit der Wirtschaft erörtert werden sollte. Ich bin aber der Auffassung, daß die Quote, die ich Ihnen nannte, steigerungsfähig sein müßte.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, welche Schäden an Mensch und Umwelt entstehen können, wenn Quecksilber mit Hausmüll gelagert wird?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, Sie wissen sicher, daß eine Vielfalt von Schäden unterschiedlichen Grades möglich ist. Diesen Schäden entgegenzuwirken liegt, wie ich glaube, im Interesse aller politisch Verantwortlichen.
Ich rufe die Frage 14 des Abgeordneten Offergeld auf:Welche Gefährdungen für Mensch und Natur auf deutschem Gebiet wären bei der Verbrennung im Raum Basel der kürzlich von Frankreich in die Schweiz verbrachten Dioxinrückstände denkbar?Herr Staatssekretär, bitte, zur Beantwortung.
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742 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Offergeld, eine Gefährdung von Mensch und Natur auf deutschem Gebiet ist im Falle der fachgerechten Verbrennung der in die Schweiz verbrachten Dioxinrückstände nicht zu besorgen. Wesentliche Voraussetzung ist, daß die thermische Zersetzung in einer Anlage erfolgt, die u. a. mit einer leistungsfähigen Rauchgasreinigung ausgestattet ist und die Einhaltung einer Verbrennungstemperatur von über 1 200 Grad Celsius gewährleistet.
Eine Zusatzfrage, Herr Offergeld.
Herr Staatssekretär, Sie haben meine Frage etwas eingeschränkt, indem Sie „im Falle der fachgerechten Verbrennung" gesagt haben. Wären Schäden denkbar, wenn diese fachgerechte Verbrennung nicht gewährleistet wäre oder wenn Pannen aufträten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Wir haben keinen Anlaß, davon auszugehen, daß es nicht zu einer fachgerechten Verbrennung kommt.
Gibt es denn in der Bundesrepublik Erfahrungen mit solchen Verbrennungen, insbesondere in dichtbesiedelten Gebieten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung zu der Bewertung, daß es nicht zu Gefährdungen kommen kann, deswegen gekommen ist, weil Erfahrungen auch im Bereich der Bundesrepublik Deutschland und wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage für diese Bewertung bildeten.
Sie gehen davon aus; Sie wissen es aber nicht. Herr Staatssekretär, sind Sie bereit — —
Das geht leider nicht, Herr Kollege Offergeld. Sie hatten schon zwei Zusatzfragen. Sie haben aber noch eine weitere Frage eingebracht, im Anschluß an deren Beantwortung Sie diese Zusatzfrage vielleicht stellen können. Jetzt hat Frau Abgeordnete Dr. Hickel zu einer Zusatzfrage das Wort.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Verbrennungsanlagen, die Rauchgas entgiften und mit einer Temperatur von über 1 200 Grad arbeiten, von denen Sie sprachen, gar nicht in genügender Anzahl und in genügend funktionsfähigem Zustand vorhanden sind, um solche Verbrennungen vorzunehmen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann diese Informationen nicht bestätigen.
Ich rufe dann die Frage 15 des Abgeordneten Offergeld auf:
Wie wird die Bundesregierung prüfen bzw. sicherstellen, daß im Fall der Verbrennung der Dioxinrückstände im grenznahen Gebiet der Schweiz keine Gefährdungen für das deutsche Nachbargebiet entstehen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Wie in der Antwort auf die vorangegangene Frage dargelegt, läßt die Verbrennung der Dioxinabfälle im grenznahen Gebiet der Schweiz bei Einhaltung des erforderlichen Standes der Technik keine Gefährdungen für das deutsche Nachbargebiet erwarten. Die Überwachung der ordnungsgemäßen Verbrennung und möglicher Emissionen ist Sache der zuständigen Behörden in der Schweiz. Die Bundesregierung sieht insofern keinen Anlaß zu weiteren Maßnahmen.
Herr Offergeld!
Herr Staatssekretär Spranger, angesichts der Tatsache, daß Gefährdungen auf deutschem Gebiet nicht ausgeschlossen sind, frage ich Sie: Wäre es nicht angemessen, mit der Schweiz in Kontakt zu treten und sich einen Überblick über die vorgesehenen Methoden zu verschaffen, insbesondere deswegen, weil die Schweiz auf diesem Felde offenbar nicht über Erfahrungen verfügt?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Offergeld, natürlich sind Kontakte zu der Schweiz vorhanden; sie werden, auch was dieses Thema angeht, intensiv wahrgenommen. Diese Kontakte und Erkenntnisse führten eben zu der ersten Aussage in meiner Antwort auf Ihre erste Frage, daß auf deutschem Gebiet eine Gefährdung von Mensch und Natur im Falle der fachgerechten Verbrennung der in die Schweiz verbrachten Rückstände nicht zu besorgen ist. Wir gehen auf Grund der Informationen davon aus, daß es zu einer solchen fachgerechten Verbrennung kommt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Offergeld.
Angesichts der Tatsache, daß die Baseler Regierung in der vergangenen Woche im Parlament erklärt hat, daß sie noch nicht die Voraussetzungen für die Verbrennung geprüft habe, verwundert es mich, daß Sie jetzt schon zu einem abschließenden Urteil kommen. Deswegen frage ich Sie: Sind Sie bereit, in der Zukunft mit der Schweiz in Kontakt zu bleiben und sich Gewißheit zu verschaffen, daß die Verbrennung so erfolgt, daß keine Gefahren davon ausgehen können?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Offergeld, Ihre Anregung deckt sich natürlich auch mit unserer Absicht, nun in engem Kontakt mit der Schweiz zu bleiben und alle Informationen zu erhalten, die solche von Ihnen befürchteten Gefährdungen auszuschließen vermögen.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Blunck.
Herr Staatssekretär, ist es nicht zuwenig, wenn Sie nur „davon ausgehen", daß eine Gefährdung nicht denkbar ist? Müßte das nicht nachgeprüft werden? — Und dann habe ich eine Bitte: Wenn Sie mir schon keine Antwort geben, lächeln Sie wenigstens dabei!
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 743
Spranger, Parl. Staatssekretär: Diese letzte Anregung überfordert mich bei diesem Thema tatsächlich etwas.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Was Ihre Frage nach den Gefährdungen anlangt, so sind wir nach den uns zur Verfügung stehenden Informationen eben zu den Bewertungen gekommen, die ich in der Antwort auf die beiden Fragen dargelegt habe.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Ehmke .
Herr Staatssekretär, da es sich gerade auch auf deutscher Seite um ein besonders dicht besiedeltes Gebiet handelt, ein Gebiet, in dem die chemische Industrie recht massiv vertreten ist — ich denke da an Rheinfelden mit Dynamit Nobel, Degussa usw. —, frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Auffassung, daß es zumindest erforderlich wäre, die deutschen Behörden anzuweisen, besonders scharf auf mögliche Dioxinimmissionen im Raum Lörrach/Rheinfelden zu achten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Ehmke, Sie können davon ausgehen, daß nach dieser Diskussion in den vergangenen Wochen die Behörden von sich aus alles tun werden, um irgendwelchen Gefährdungen entgegenzuwirken und vor allem dafür zu sorgen, daß eventuelle Gefährdungen rechtzeitig erkannt werden. Im übrigen wäre das natürlich auch Sache der Länder, die hier Vollzugsaufgaben haben.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Linde.
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht doch, daß Gefährdungen für die Bundesrepublik Deutschland zu befürchten sind? Denn Sie reden immer von Verbrennung von Dioxin. Oder handelt es sich vielleicht um eine thermische Zersetzung?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich darf darauf hinweisen, Herr Dr. Linde, daß auch Herr Kollege Offergeld den Ausdruck „Verbrennung" gebraucht hat.
Es tut mir leid, weitere Zusatzfragen können nicht gestellt werden.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Kuhlwein auf:
Wie hoch sind die für Behörden des Bundes durch die Suche nach den Giftfässern von Seveso entstandenen Kosten?
Herr Staatssekretär, bitte zur Beantwortung.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, die Nachforschungen nach dem Verbleib der Seveso-Abfälle wurden von den zuständigen Behörden des Bundes im Rahmen der ihnen zugewiesenen Aufgaben durchgeführt. Zusätzliche Kosten, die die planmäßigen Mittel für die Erledigung dieser Aufgaben überschreiten, sind dem Bund nicht entstanden. Der erhebliche Arbeitsanfall konnte durch Mehreinsatz des vorhandenen Personals bewältigt werden.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Können Sie mir erklären, wie der Mehreinsatz des vorhandenen Personals ohne zusätzliche Kosten möglich war und wie sich das Modell, von dem Sie hier sprechen, auf den Tatbestand übertragen läßt, daß in einigen Bundesländern Polizei- und Behördeneinsätze bei Demonstrationen inzwischen kostenpflichtig gemacht werden?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kuhlwein, ich gehe davon aus, daß Ihnen die beamtenrechtlichen Regelungen beispielsweise über die Arbeitszeit bekannt sind. Das beantwortet auch die Frage nach dem Mehreinsatz des vorhandenen Personals.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Gilt das, was Sie soeben als beamtenrechtliche Grundlage für den Einsatz von Beamten bei der Suche nach den Seveso-Giftfässern festgestellt haben, auch für den Einsatz von Polizeibeamten bei Demonstrationen?
So verständlich es manchem sein mag, diesen Zusammenhang herzustellen, so ist er in unserer Fragestunde doch nicht herstellbar. Herr Staatssekretär, Sie brauchen darauf nicht zu antworten.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß bei den Kommunen oder den Kreisen Kosten entstanden sind? Wenn ja: Wären Sie bereit, denen die Kosten zu ersetzen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube nicht, daß es in diesem Zusammenhang irgendwelche rechtlichen Verpflichtungen des Bundes zum Ersatz irgendwelcher Kosten in den Gemeinden gibt.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Kuhlwein auf:Ist die Bundesregierung bereit, Kosten, die ihr und ihren Behörden durch die Suche nach den Giftfässern entstanden sind, den Verursachern dieser Kosten in Rechnung zu stellen?Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, wie dargelegt, sind auf seiten des Bundes keine zusätzlichen Kosten für die Suchaktion nachgewiesen, die einem Dritten in Rechnung gestellt werden könnten. Im übrigen würde die Bundesregierung die Erfolgsaussichten für die rechtliche Durchsetzung einer derartigen Forderung gering einschätzen.
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744 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, darf ich nach dem, was Sie eben erklärt haben, davon ausgehen, daß die Bundesregierung die Auffassung der Gewerkschaft der Polizei nicht teilt, die in dem Schreiben der Gewerkschaft der Polizei an den Vorsitzenden der Innenministerkonferenz vom 8. Juni dieses Jahres zum Ausdruck kommt, worin es hieß, daß ein demokratischer Staat eine solche leichtfertige Geschäftemacherei mit gefährlichen Giftstoffen nicht noch dadurch honorieren dürfe, daß die Behörden die durch das Schweigen verursachten Ermittlungen noch selber finanzierten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Eine Stellungnahme zu dieser Erklärung der Gewerkschaft erübrigt sich deswegen, weil nach den Ermittlungen im Bund dem Bund keine zusätzlichen Kosten entstanden sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.
Würden Sie die Feststellung des Bundes, daß durch die Suchaktion keine zusätzlichen Kosten entstanden seien, so auch auf die Länder und Gemeinden übertragen, da es sich dort in der Regel ja auch um Beamte handelt?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe in meiner Antwort ausdrücklich über die Situation im Bund berichtet. Es war nicht meine Aufgabe — auch nicht auf Grund Ihrer Frage —, mich zu den Ländern oder zu den Gemeinden und ihren Ermittlungen in dem Zusammenhang zu äußern.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung der Meinung, daß dieser kostenlose Mehreinsatz der Behörden auch auf andere Tätigkeiten ausgeweitet werden sollte?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe jetzt keine Assoziationen zu ziehen, sondern ich hatte auf die Frage nach dem Aufwand im Bereich des Seveso-Giftmülls und den entsprechenden Nachforschungen zu antworten. Das habe ich getan.
Ich rufe die Frage 18 auf. Die Fragestellerin hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Pauli auf:
Wie viele Personen sind in den Listen über Ehrungen und Ordensverleihungen vor 1945 an ehemalige Kriegsteilnehmer erfaßt, die bei einer Außenstelle des Bundesarchivs lagern, und welchen Informationswert mißt die Bundesregierung diesen Listen bei?
Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Pauli, in der Außenstelle des Bundesarchivs, Zentralnachweisstelle , Aachen-Kornelimünster, werden Unterlagen über etwa 12 Millionen Angehörige der ehemaligen Deutschen Wehrmacht verwahrt. Unter den Unterlagen befinden sich auch Listen des Oberkommandos des Heeres über Ordensverleihungen an Kriegsteilnehmer des Heeres und der Waffen- SS. Sie erfassen rund 2,6 Millionen Verleihungen des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, rund 2,8 Millionen Verleihungen des Kriegsverdienstkreuzes sowie rund 30 000 andere Ehrungen.
Die Listen dienen zum einen der Erteilung von Bescheinigungen über den Besitz dieser Auszeichnungen gemäß der Verordnung über den Besitznachweis für Orden und Ehrenzeichen und den Nachweis von Verwundungen und Beschädigungen vom 6. Mai 1959, Bundesgesetzblatt I Seite 247. Das ist im Jahre 1982 bei 116 Anfragen in 63 Fällen geschehen. Zum anderen können die Listen dem Nachweis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einheit zu einem bestimmten Zeitpunkt dienen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Pauli.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihrer Beantwortung der Frage entnehmen, daß dieses Archivmaterial ausgewertet ist und daß es von allen Bürgern des Landes für die von Ihnen genannten Zwecke, z. B. auch für die Zwecke der Rentenversicherung, herangezogen werden kann?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Pauli, Sie wissen sicher, daß außer diesen Unterlagen auch die wesentlich vollständigeren Erkennungsmarkenverzeichnisse, die bei der deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht, WASt, in Berlin vorliegen, vorhanden sind. Im Zusammenhang mit diesen Unterlagen werden die entsprechenden Informationen erteilt.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Pauli.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob die vorliegenden Listen alle ausgewertet sind und ob sie zur Verfügung stehen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich sagte in meiner Antwort, daß diese Listen nicht nur vorhanden sind, sondern auch zur Erteilung von Bescheinigungen und beispielsweise zum Nachweis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einheit zu einem bestimmten Zeitpunkt dienen. Das bedeutet natürlich, daß ein Zugang zu diesen Listen besteht.
Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Schmidbauer auf:Was ist der Bundesregierung über rechtsextremistische Aktivitäten des Generalmajors a. D. der Wehrmacht OttoErnst Remer bekannt?Herr Staatssekretär.Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schmidbauer, Otto-Ernst Remer war Gründungsmitglied der 1949 gegründeten Sozialistischen Reichspartei — SRP — und seit 1950 deren zweiter
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 745
Parl. Staatssekretär SprangerVorsitzender bis zum Verbot dieser rechtsextremistischen Partei durch das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1952.Remer, der seit dem Verbot politisch inaktiv geblieben war, trat seit Ende 1981 in zahlreichen rechtsextremistischen Veranstaltungen als Propagandist für eine neue Sammlungsbewegung auf. Im Februar 1982 gab er den entscheidenden Anstoß zur Gründung eines international zusammengesetzten rechtsextremistischen „Freundeskreises Ulrich von Hutten".Auseinandersetzungen in der Führung des „Freundeskreises" und die sehr gute Resonanz seiner Vortragsveranstaltungen veranlaßten Remer, sich aus dem „Freundeskreis" zurückzuziehen und am 1. April 1983 in Eberbach am Neckar die rechtsextremistische „Deutsche Freiheitsbewegung — der Bismarck-Deutsche" zu gründen. Diese neue Organisation, die sich weitgehend aus bekannten Rechtsextremisten zusammensetzt und ein nationalistisches, völkisch-kollektivistisches Großdeutschland propagiert, fordert „bewaffnete Neutralität", die Abkehr der Bundesrepublik Deutschland vom Westen, insbesondere den Austritt aus der NATO und der Europäischen Gemeinschaft, sowie eine „Allianz" mit der Sowjetunion.Die noch im Aufbau befindliche „Deutsche Freiheitsbewegung" versteht sich als Sammelbecken, dem sich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch „nationale Verbände" korporativ anschließen sollen. Ihre Forderungen sind niedergelegt in der inzwischen erschienenen Broschüre „Der BismarckDeutsche — Manifest 1983 der Deutschen Freiheitsbewegung für eine deutsch-russische Allianz".Remer ist zur Zeit bemüht, durch weitere Vortragstätigkeit seine Anhängerschaft zu vergrößern.
Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 21 des Abgeordneten Schmidbauer auf:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über das Verhältnis der sogenannten Skinheads, die in Großstädten in Fliegerjacken, Jeans und mit Knobelbechern sowie mit kahlgeschorenen Köpfen auftreten, zu neonazistischen Gruppen, und wie bewertet sie dies?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schmidbauer, Kontakte von Neonazis oder neonazistischen Gruppen zu sogenannten Skinheads werden von den Verfassungsschutzbehörden seit dem Herbst 1982 festgestellt. Offenbar haben die Gewaltbereitschaft und das provokante Auftreten der Skinheads, die sich vor allem aus Schülern, Lehrlingen und arbeitslosen Jugendlichen zusammensetzen und durch ihr äußeres Erscheinungsbild und ihr Verhalten zeigen, daß sie mit der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nicht einverstanden sind, das Interesse der Neonazis geweckt. Diese versuchen, die „Skinheads" für Auseinandersetzungen mit ihren politischen Gegnern und für spektakuläre Aktionen zu gewinnen, wobei sie an die offenbar emotionale Ablehnung ausländischer Arbeitnehmer, „Langhaariger" und anderer Randgruppen durch die „Skinheads" anzuknüpfen versuchen.
Obwohl die rechtsextremistisch, insbesondere antisemitisch und ausländerfeindlich klingenden Parolen der „Skinheads" eine politische Motivation vermuten lassen könnten, scheint diese tatsächlich nicht zu existieren. Dagegen ist eine Politisierung dieser Jugendlichen durch Neonazis durchaus denkbar.
Die Entwicklung wird von der Bundesregierung aufmerksam verfolgt werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Krey.
Herr Staatssekretär, über die Erkenntnisse hinaus folgende Frage: Ist die Bundesregierung bemüht, dieser Entwicklung durch positive Maßnahmen zu begegnen, etwa durch eine Aufklärung im Bereich der Jugendarbeit?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung sieht auch in diesem Bereich in der umfassenden Information der Öffentlichkeit über extremistische Entwicklungen eine wichtige und erfolgversprechende Maßnahme.
Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Krey auf:Welche Ziele werden mit dem von den orthodox-kommunistischen, d. h. Moskau-orientierten, Organisationen „Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" und „Marxistischer Studentenbund Spartakus" (MSB) an den Pfingstfeiertagen veranstalteten sogenannten Festival der Jugend verfolgt, und wie beurteilt die Bundesregierung die Teilnahme von Nichtextremisten an dieser Veranstaltung?Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Krey, seit jeher verfolgen die „Deutsche Kommunistische Partei" , die „Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ) und der „Marxistische Studentenbund Spartakus" (MSB) mit ihren „Festivals der Jugend" das Ziel, Jugendlichen der Bundesrepublik Deutschland kommunistische Politik und Ideologie zu vermitteln und sie als Mitglieder zu gewinnen.Damit möglichst viele Jugendliche zu diesen Festivals kommen, bieten die Veranstalter neben ihrem jeweiligen politischen Programm ein umfangreiches, jugendgemäßes Unterhaltungsprogramm. So ließen sich auch vom diesjährigen 4. Festival an den Pfingstfeiertagen in Dortmund durch aktuelle politische Themen wie „Frieden, Abrüstung, Verhinderung der NATO-Nachrüstung", aber insbesondere auch durch das umfangreiche Kultur-und Sportprogramm täglich mehr als 80 000 Personen anlocken. Der kommunistischen Presse zufolge hatten über 60 Länder, darunter die Sowjetunion und die DDR, Gastdelegationen entsandt.Der SDAJ-Presseinformationsdienst führte u. a. aus, es sei durch die „Beteiligung zahlreicher anderer Organisationen bzw. ihrer Mitglieder — der GRÜNEN, der Jungsozialisten, der Jungdemokraten, der Falken, der DFG-VK — und die große Übereinstimmung in den wichtigsten Fragen: alles zu tun, um die Stationierung der US- Atomraketen zu verhindern, ... ein wichtiger Beitrag zur Diskussion und Aktionseinheit linker und
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746 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Parl. Staatssekretär Sprangerdemokratischer Kräfte" geleistet worden. Wer als Nichtextremist an einer solchen von Extremisten beherrschten Veranstaltung teilnimmt, trägt nach Auffassung der Bundesregierung zur politischen Aufwertung von Organisationen mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung bei, deren politischer Spielraum dadurch vergrößert wird, und unterstützt damit objektiv, wenn auch ungewollt, die gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen von Extremisten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Krey.
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung, wenn dies zutrifft, Möglichkeiten, die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel für derartige Veranstaltungen einzuschränken?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Krey, das wird immer von Einzelfall zu Einzelfall zu prüfen sein. Vor allem ist es wichtig, daß man die Bevölkerung durch offensive Information vor diesen Entwicklungen warnt.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 23 des Herrn Abgeordneten Jung auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Vertreter der deutschen Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes, berechtigte Klage führen über zunehmende bürokratische und zeitaufwendige Belastungen durch Erklärungspflichten für statistische Zwecke, die als kostenlose Dienstleistung für den Staat erbracht werden müssen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jung, der Bundesregierung ist bekannt, daß über die Belastungen der Wirtschaft durch statistische Auskunftsverpflichtungen vielfach Klage geführt wird. Soweit es sich um Bundesstatistiken handelt, ist die Bundesregierung nachdrücklich bemüht, notwendige und erforderliche Verbesserungen durchzuführen. Dabei wird nicht übersehen, daß für Aufgaben der Wirtschaftspolitik in Bund und Ländern aktuelle Daten über die wirtschaftliche Entwicklung in einem gewissen Umfang unverzichtbar sind.
Herr Abgeordneter Jung zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß aus diesen Verwaltungsarbeiten in der Statistikbürokratie für die betroffenen Betriebe manchmal ein sehr großer Multiplikatoreffekt hinsichtlich der Verwaltungsarbeit entsteht, weil sich Verwaltungspflichten, die im öffentlichen Sektor manchmal nur mit geringem Aufwand verbunden sind, in der Volkswirtschaft nachher mit sehr großem bürokratischen Aufwand auswirken?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jung, mir sind natürlich solche Beschwerden und Vorhaltungen gut bekannt. Ich wäre dankbar, wenn der Bundesregierung solche Informationen in ganz konkreten Fällen zur entsprechenden politischen Auswertung übermittelt werden könnten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß insbesondere kleinere Betriebe mit weniger als 100 Beschäftigten von diesen Verwaltungsarbeiten für die Statistikbürokratie besonders hart betroffen werden? Es gibt Untersuchungen, nach denen diese Belastung dort um ein Vielfaches höher als bei größeren Betrieben ist.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jung, ich wiederhole, daß uns die Belastungen bekannt sind. Eine Beurteilung der Belastung im jeweiligen Einzelfall würde eine entsprechende Information im Einzelfall gegenüber der Bundesregierung voraussetzen. Für solche Informationen wäre ich dankbar.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für möglich, daß auch die Wirtschaft ihrerseits Nutzen aus den veröffentlichten Statistiken zieht und insofern hier auch kostenlos Dienste des Staates in Anspruch nimmt?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich bejahe Ihre Frage und verweise auf den letzten Satz meiner Antwort, in dem zum Ausdruck gebracht wird, daß für Aufgaben der Wirtschaftspolitik in Bund und Ländern aktuelle Daten über die wirtschaftliche Entwicklung in einem gewissen Umfang für die Wirtschaft unverzichtbar sind. Insofern nimmt die Wirtschaft diesen Vorteil mit in Anspruch.
Ich rufe die Frage 24 des Herrn Abgeordneten Jung auf:
Ist die Bundesregierung bereit, ein Gesetz zur Statistikbereinigung vorzulegen, welches neben dem Effekt der Verwaltungsvereinfachung das vorrangige Ziel hat, die Unternehmen von dieser Büroarbeit für den Staat zu entlasten?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jung, die Bundesregierung wird die Arbeiten an dem Entwurf eines 2. Statistikbereinigungsgesetzes noch in diesem Jahr wieder aufnehmen. Dabei werden die beiden Zielrichtungen, Verwaltungsvereinfachung und Entlastung der Wirtschaft, gleichzeitig und gleichrangig verfolgt. Die Bundesregierung wird bei ihren Arbeiten in engem Kontakt mit den Ländern vorgehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jung.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bei dieser Gestaltung eines Gesetzes bereit, auch zu prüfen, welche Statistiken überhaupt notwendig sind und auch den notwendigen volkswirtschaftlichen Nutzen haben, und gleichzeitig zu prüfen, ob irgendwelche statistischen Daten nicht auch von anderen Institutionen, beispielsweise von Kammern, Wirtschaftsverbän-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 747
Jung
den oder wissenschaftlichen Instituten, erhoben werden können?Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jung, selbstverständlich werden bei der Aufgabe der Statistikbereinigung die Überlegungen, die Sie soeben anstellten, in vollem Umfang mit einbezogen.
Keine weitere Zusatzfrage?
Dann rufe ich Frage 25 des Abgeordneten Wartenberg auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die städtebauliche und architektonische Konzeption der Baumaßnahmen für die Museen des preußischen Kulturbesitzes in Fachkreisen von Anfang an umstritten war und daß nun die öffentliche Kritik an den Museumsprojekten nach Rohbaufertigstellung des neuen Kunstgewerbemuseums sehr zunimmt, und ist die Bundesregierung bereit, um einer möglichen Blamage entgegenzuwirken, die Stiftung, die Bundesbaudirektion und den Architekten aufzufordern, die städtebauliche Konzeption und architektonische Gestaltung noch einmal zu überarbeiten?
Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wartenberg, der Bundesregierung ist bekannt, daß das Neubauvorhaben der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für die Museen für Europäische Kunst am Tiergarten in Berlin nicht jedermanns Zustimmung gefunden hat. Die Bundesregierung teilt jedoch in Übereinstimmung mit dem Stiftungsrat nicht die Auffassung, daß die bisherige Kritik Anlaß bieten kann, die städtebauliche Konzeption und die architektonische Gestaltung dieser Planung zu überarbeiten.
Diese Konzeption ist durch das Ziel bestimmt, ein einheitliches Ausstellungsforum für europäische Kunst zu schaffen. Diese Konzeption muß zugleich den unterschiedlichen funktionalen Anforderungen der einzelnen Museen gerecht werden, d. h. es muß ein geschlossenes architektonisches Konzept geschaffen werden. Diese Geschlossenheit soll tunlichst erhalten bleiben. Darin sind sich der Bund und alle Mitglieder des Stiftungsrates, also auch das Land Berlin, einig.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Wartenberg.
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß der Bund angesichts eines Investitionsvolumens von mehreren hundert Millionen DM — dies hat im wesentlichen der Bund zu finanzieren — darauf hinwirken müßte, daß jetzt in den 80er Jahren nicht brutale Betonklötze der 60er Jahre dort hingesetzt werden, und sind Sie nicht der Auffassung, daß — trotz der Einwirkungsversuche des jetzigen und früherer Senate — die Bundesregierung die Aufgabe hat, auf den Stiftungsrat mit dem Ziel einzuwirken, Veränderungen herbeizuführen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wartenberg, der Bund hat — die Planungen laufen ja schon seit Ende der 60er Jahre — zu Zeiten einer anderen Bundesregierung entscheidend an der Planung mitgewirkt. Die Übereinstimmung in der Bewertung hinsichtlich des damals beschlossenen und heute umzusetzenden Projekts gibt der jetzigen Bundesregierung keinen Anlaß, dieses schon in der Verwirklichung befindliche Konzept insgesamt umzustoßen.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Wartenberg.
Ist Ihnen bekannt, daß es noch etwa 20 Jahre dauern wird, bis die letzten Bauten fertig sind, und wäre die Tatsache, daß die Kritik massiv angestiegen ist, nachdem das erste Gebäude fertig ist, nicht doch ein Grund, für die nächsten 20 Jahre noch einmal darüber nachzudenken?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wartenberg, Ihnen ist sicherlich bekannt, daß dieses Projekt eine Reihe von Maßnahmen vorsieht, die zur Zeit auch schon unmittelbar verwirklicht werden. Es ist letztendlich nicht entscheidend, ob in 20 Jahren der letzte Baustein ordnungsgemäß gesetzt wird, sondern entscheidend ist, daß wir uns jetzt in einer Phase der Verwirklichung befinden — die auf einer langjährigen Vorplanung beruht —, die jetzt nicht mehr total umgestoßen werden kann.
Danke schön. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers des Innern. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Wir haben noch zwei Minuten. Ich danke dafür, daß Herr Staatssekretär Häfele dageblieben ist, denn jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Herr Dr. Häfele steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe Frage 26 des Abgeordneten Schartz auf:
Ist die Bundesregierung bereit, zur Belebung des Absatzes für deutschen Wein zumindest vorübergehend die Sektsteuer ganz oder teilweise zu erlassen, wenn nachgewiesen wird, daß der von der Steuerbefreiung begünstigte Sekt ausschließlich aus deutschem Wein hergestellt ist?
Herr Kollege Schartz, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten: Um in der Bundesrepublik Deutschland ausschließlich aus deutschem Grundwein hergestellten Schaumwein steuerlich zu begünstigen, bedürfte es einer Gesetzesänderung. Eine solche Regelung würde jedoch gegen das steuerliche Diskriminierungsverbot des Art. 95 Abs. 1 des EWG-Vertrages verstoßen, weil eingeführter Schaumwein davon ausgeschlossen wäre. Danach ist es unzulässig, auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar höhere inländische Abgaben — gleich welcher Art — zu erheben, als gleichartige inländische Waren unmittelbar oder mittelbar zu tragen haben. Eine entsprechende Vorschrift enthält Art. 3 Abs. 2 des
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748 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Parl. Staatssekretär Dr. HäfeleGATT, also des Allgemeinen Abkommens über Handel und Zölle.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schartz.
Herr Staatssekretär, es ist sicher richtig, was Sie dort zitieren, aber wäre die Bundesregierung bereit, einmal bei der EG anzufragen, ob nicht insoweit eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden kann, als eine Steuerermäßigung für die jetzt in Deutschland neu hergestellten Winzersekte als eine Art „Starthilfe" für einen begrenzten Zeitraum möglich wäre?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schartz, Sie kennen die Interessenlage anderer EG- Länder, gerade auch auf diesem Feld. Ich glaube, das ist ohne jede Chance.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Schartz.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen Pressemeldungen bekannt, nach denen in anderen Ländern der EG steuerliche Erleichterungen für Wein und aus Wein hergestellte Getränke wie auch für Sekt gegeben werden, und ist Ihnen bekannt, daß dies nicht den von Ihnen zitierten EG-Bestimmungen entspricht? Falls Ihnen das nicht bekannt ist: Würden Sie bereit sein, eine Anfrage an die EG in dieser Richtung zu stellen?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schartz, soweit wir hier konkrete Anhaltspunkte haben, werden wir der Frage auf EG-Ebene selbstverständlich nachgehen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für denkbar, daß das Getränk Sekt bei einem Wegfall der Sektsteuer den noch heute bestehenden Hauch der Exklusivität verlieren würde und ein Teil der Maßnahmen dadurch ad absurdum geführt würde, daß dann eben auch ein Teil der Verbraucher ausbleibt, weil dieses Motiv dann nicht mehr vorhanden ist?
Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Wenn ich Sie, Frau Kollegin, richtig verstanden habe, plädieren Sie für den Wegfall der Sektsteuer. Das ist ein interessanter Vorschlag, der aber mit dem Wollen Ihrer Fraktion bisher nicht übereinstimmt.
Wir sind von der Zeit her am Ende der Fragestunde und brechen hier ab.
Ich muß Sie leider bitten, Herr Staatssekretär, morgen noch einmal wiederzukommen. Ich bedanke mich insbesondere bei Ihnen, daß Sie für die eine Frage noch zur Verfügung gestanden haben.
Wir kehren zum Tagesordnungspunkt 2 zurück. Ich rufe als nächsten Redner den Abgeordneten Kolbow auf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zu Beginn meiner Ausführungen dem Herrn Bundesverteidigungsminister zuwenden und ihn um seine geschätzte Aufmerksamkeit bitten. Er hat heute morgen — zur Mittagsstunde und fernsehgerecht — ein komplettes Rezept geliefert, mit dem Sie meiner Meinung nach unsere Probleme jedenfalls nicht lösen können. Denn Sie, Herr Dr. Wörner, haben — wie in den 50er und 60er Jahren — die ideologischen Gefahren des Kommunismus, die Bestrebungen der Sowjetunion, den Bau der Mauer, den Sie auch nicht verhindert haben, zu einer Bedingung des Friedens erklärt. Frieden ist sicherlich der oberste Wert, dem sich alle unterzuordnen haben. Das ist der fundamentale Ansatz, den die SPD mit den Kirchen in unserem Land und Amerika teilt und bei dem Sie Ihre Probleme haben.Mit großem Pathos, das einer besseren Sache würdig gewesen wäre, haben Sie von Frieden und Freiheit geredet,
als ob es in diesem Hause jemand gebe, der gegen die Freiheit sei.
Militärisch gesprochen, Herr Minister: Sie schießen auf Pappkameraden. Wie leer und hohl Ihre Formel ist, wird dann klar, wenn man sie umdreht. Was bliebe denn von der Freiheit, wenn wir den Frieden nicht erhalten würden? Nur wenn es bei dem Ansatz der sozialliberalen Politik bleibt, den Frieden als oberste Priorität zu sehen,
gibt es für uns eine Perspektive. — Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, als Redner die Bitte an einen Kollegen, daß er den, an den ich mich richte, nicht stört.
— Das mache ich ja soeben, Herr Kollege. Ich nehme mir die Freiheit, das Gehör, wenn ich rede, so zu erbitten, wie ich es für richtig halte. — Ich darf wiederholen: Nur wenn es bei dem Ansatz der sozialliberalen Politik bleibt, den Frieden als oberste Priorität zu sehen, ergibt sich eine Perspektive.Ich glaube, Herr Minister, Sie haben, was die Ausführungen von Egon Bahr heute morgen angeht, unsauber argumentiert. Ich will das begründen. Den Satz „Amerika, du hast es besser!" hat Bahr doch nicht benutzt, um Amerika allein in den Zustand der Bedrohung und Europa in die Lage einer friedlichen Oase zu versetzen, sondern er hat es in dem Zusammenhang gebracht, daß die Opposition in den USA eben nicht diffamiert wird, wie Sie dies zur Mittagsstunde leider wieder versucht haben.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 749
KolbowSie haben uns aufgefordert, nicht einäugig zu sein. Dabei haben Sie doch die gesamten Passagen, in denen sich der Kollege Bahr an die Sowjetunion gewandt hat, schlicht unterschlagen.
Er hat von der Gefahr der zunehmenden potentiellen Bedrohung gesprochen. Vielleicht war Ihnen das unbequem. Aber auf der Ignorierung, um nicht zu sagen, Ignoranz zu bestehen, das sollte doch nicht der Stil eines deutschen Kabinettsmitglieds sein.
Zur SS 22 hat der Kollege Bahr amtliche amerikanische Kenntnisse zitiert. Sie haben doch auch keine eigenen, die davon abweichen; zumindest habe ich nichts davon gehört.Es ist schon eine tolle Vorstellung, Herr Minister, daß Sie Herrn Ustinow zitieren, der die USA in die gleiche Bedrohung wie Europa versetzt. Aber das macht doch nur Sinn, wenn Sie dem sowjetischen Marschall mehr glauben als den Amerikanern, die von der Begrenzung eines Krieges auf Europa immerhin geredet haben.
Die Argumente für die Seestützung der Cruise Missiles sind im Herbst 1979 ausgetauscht worden. Dabei gab es nicht nur technische Argumente — insofern haben Sie recht —, aber die technischen Argumente waren zum Schluß damals die ausschlaggebenden, und heute sind sie es eben nicht mehr. Wenn Sie heute nach dieser veränderten Lage für die Landstationierung sind, dann sind wir eben hier unterschiedlicher Auffassung.Der letzte Punkt ist aber der entscheidende. Ich stelle fest: Sie haben die Möglichkeit versäumt, heute die Klarheit über den Zeitpunkt der Stationierung zu schaffen, auf die dieses Parlament Anspruch hat.
Vermerke aus dem Jahr 1980 von Helmut Schmidt können Sie doch nur heranziehen, wenn Sie auch andere Festlegungen von Bundeskanzler Schmidt aus den vergangenen Jahren so strikt befolgen.
Aber das sieht ja dann anders aus. Sie wollen die Politik anderer — und dabei möglichst Helmut Schmidt — mißbrauchen. Ihre Antwort steht noch aus. Gibt es einen Beginn der Stationierung vor Ende der Verhandlungen oder nicht? Gibt es einen Beginn, bevor der Deutsche Bundestag gesprochen hat, oder nicht? Das ist die Verantwortung der heutigen Bundesregierung. Davon können Sie sich auch durch Ihre Polemik heute morgen nicht hinwegstehlen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Wir sollten unsere verdammten Ärsche mehr für den Frieden in Bewegung setzen", soll nach einem Zitat der „Süddeutschen Zeitung" vom vergangenen Samstag der kanadische Premierminister PierreTrudeau auf dem Gipfeltreffen in Williamsburg zu den anderen Staats- und Regierungschefs gesagt haben.
Ich weiß nicht, was Herr Dr. Kohl auf diesen Satz geantwortet hat. Aber ich weiß, daß die bemerkenswerte Rede von Egon Bahr heute wieder einmal gezeigt hat, daß wir Sozialdemokraten uns von einer solch deutlichen Aufforderung nicht angesprochen zu fühlen brauchen, da wir uns immer mit heißem Herzen und kühlem Kopf für die Belange des Friedens eingesetzt haben.
Dies gilt auch für die — da will ich den Bereich, für den ich zu sprechen habe, erwähnen — oft als Nur-Militärpolitiker bezeichneten Mitglieder des Verteidigungsausschusses meiner Fraktion und anderer Fraktionen. Ich meine, daß sie in diesem schwierigen Metier in der gegenwärtigen Diskussion zu Unrecht in ihren Aufgaben manchmal als nicht friedensdienlich bezeichnet werden.Die Begrüßung, die ich auf einer Diskussion mit Schülerzeitungsredakteuren erfuhr — Wortlaut: „Wir heißen Sie als Mitglied des Kriegsausschusses des Deutschen Bundestages willkommen —," ist zwar nicht repräsentativ, wirft aber ein nachdenkenswertes Schlaglicht auf die Einschätzung mancher Menschen in unserem Lande gegenüber der Arbeit der Sicherheitspolitiker im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages. Ich halte solche Überlegungen für falsch und unangebracht. Ich begrüße deshalb, daß auf dem diesjährigen Treffen der evangelischen Christen in Hannover trotz vieler Diskussionen kontroverser Art — vor allem über den Weg zum Frieden — keine Gruppe ausgegrenzt wurde. Daß der Präsident des Kirchentages sagen konnte: „Das violette Tuch und die Uniform des Soldaten haben auf dem Kirchentag gemeinsam ihren Platz", stimmt zuversichtlich über den Fortgang der sicherheitspolitischen Diskussion in unserem Lande, macht diese Aussage doch deutlich, daß auch auf kritischen Foren die friedenstiftende Funktion der Bundeswehr erkannt und anerkannt wird. Ich möchte mich für meine Fraktion ausdrücklich hierzu bekennen.
Dies tue ich auch deshalb, weil sozialdemokratische Verteidigungspolitiker gerade im Zusammenhang mit Überlegungen für alternative Militärstrategien vorrangig einen politischen Ansatz suchen und fordern, von einer Militarisierung des Denkens wegzukommen. Doch muß in Sachlichkeit beim Überlegen neuer Konzepte das Ist dem Soll gegenübergestellt werden, um verantwortungsbewußte Lösungen entwickeln zu können. Hiermit möchte ich mich nunmehr beschäftigen; dann möchte ich über die Ministertagung in Paris einige Anmerkungen machen.
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750 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
KolbowMich würde natürlich reizen, Herr Minister, vorher noch Bemerkungen zu dem zu machen, was man eine Kurzbilanz der Regierungserklärungen, die bisher von der neuen Koalition gegeben worden sind, zur Sicherheitspolitik nennen könnte. Ganz im Gegensatz zu dem Getöse, das die Union zur Zeit sozialdemokratischer Regierungsverantwortung veranstaltet und mit dem sie von der Vernachlässigung der Belange der Bundeswehr gesprochen hat, müssen wir feststellen, daß von allen dem nichts übrig geblieben ist, was angeblich an konstruktiven Konzeptionen der CDU/CSU in der früheren Rolle als Opposition zu den drängenden Problemen gefordert worden ist.
Wenn wir die Regierungserklärungen der christlich-liberalen Allianz zu den Fragen der Verteidigungspolitik und der Bundeswehr untersuchen, bleibt allein die magere Feststellung übrig, daß nur das Problem der Wehrgerechtigkeit angesprochen wurde.Seit aber Ende Mai 1983 Einzelheiten aus einem internen Gutachten des Bundesverteidigungsministeriums zur Problemdarstellung Wehrgerechtigkeit bekanntgeworden sind, ist es in den Kreisen der Unionsfraktionen merklich ruhiger geworden mit Äußerungen zum Themenbereich Wehrgerechtigkeit, Wehrsteuer, Wehrdienstausgleichsabgabe. Dabei waren doch diese Themen ausgesprochene Lieblingsfelder der Sicherheitsexperten der Union in den Jahren ihrer Oppositionszeit und auch noch verstärkt zu Beginn der Regierungsverantwortung der sogenannten Koalition der Mitte. Der Bundeskanzler hat sich verschiedentlich darüber in den Regierungserklärungen geäußert, und er hat auch am 4. Mai gesagt, mehr Wehrgerechtigkeit zu schaffen sei sein fester Wille.Da hat mein geschätzter Kollege Weiskirch, der heute — ich glaube, weil er krank ist — nicht anwesend sein kann, am 21. Mai 1983 schlicht festgestellt, daß die wichtigste Maßnahme für die Herstellung größerer Wehrgerechtigkeit eine deutliche Erhöhung der Zahl der Zivildienstplätze sei, obwohl er am 28. Februar 1983 noch beklagt hatte, daß etwa 40 % der Wehrpflichtigen unbehelligt davonkommen, ohne zu einer Gegenleistung, etwa zu der oft diskutierten Wehrsteuer, herangezogen zu werden. Außerdem deutete der verteidigungspolitische Sprecher der Union an, daß über die entsprechend hoch angesetzte Schwelle der Musterungskriterien nachgedacht werden müsse. Ferner ließ er leise anklingen, die Einführung einer allgemeinen Ausgleichsabgabe könne auf Schwierigkeiten stoßen. Daher seien im Sinn der Wehrgerechtigkeit Steuervergünstigungen sowie zinslose Darlehen und eine Erhöhung des Entlassungsgelds für Gediente besser.Was war geschehen? Womit erklärt sich dieser verblüffende Gesinnungswandel? Wie kommt es, daß so plötzlich die einzige konkrete Aussage zur materiellen und strukturellen Situation der Soldaten der Bundeswehr in den beiden Regierungserklärungen zur Makulatur zu werden droht? Seit die erwähnte Problemdarstellung Wehrgerechtigkeit vorliegt, sind offenbar die vollmundigen Ankündigungen der Schaffung von mehr Wehrgerechtigkeit durch steuerliche Belastungen der Nichtdienenden wie Seifenblasen im Wind zerplatzt, und der zarte Versuchsballon des Kollegen Weiskirch, in dem plötzlich von der Zahl der Zivildienstplätze — vielleicht kann dazu der Herr Minister Geißler etwas sagen, der heute reden möchte —, der Senkung der Musterungskriterien und der materiellen Besserstellung für Gediente die Rede ist, legt ein bezeichnendes Zeugnis ab.Ich stelle hier mit aller Deutlichkeit fest: Hinsichtlich vieler Ansprüche, die Sie in der Opposition angemeldet hatten, die Sie aber in der Wirklichkeit der neuen Regierungsverantwortung schlicht und einfach vergessen haben, liegt eine Beerdigung dritter Klasse vor. So stellen sich jetzt hier — wie in vielen Fällen — Anspruch und Wirklichkeit Ihrer Regierungsverantwortung dar!
Ich würde es auch reizvoll finden, Sie noch auf den Beförderungs- und Verwendungsstau bei Offizieren und Unteroffizieren anzusprechen, um wiederum zu prüfen, was bei Ihnen Anspruch und was Wirklichkeit ist. Aus Zeitgründen kann ich dazu nur folgendes sagen: Sie haben im Verteidigungsausschuß deutlich gemacht, daß sie von den 350 Stellen, deren Hebung Sie im Oktober 1982 so stolz verkündeten, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal 40 % haben besetzen können und daß es für Sie schwierig sein werde, die noch offenen Stellen im Haushaltsjahr 1983 noch zu besetzen. So schnell ändern sich die Zeiten, wenn die Wahlen hinter einem Politiker liegen, der dabei sein Ziel erreicht hat und sich dann mit den Tagesproblemen, die auch wir zu bewältigen hatten, auseinandersetzen muß.Herr Minister, wir werden Sie an die Einlösung Ihrer Versprechungen immer und immer wieder erinnern, bis Sie erkennen, welch großen Schaden eine zielstrebig parteipolitisch eingesetzte — zugegebenermaßen eingeschwärzte — Eloquenz anrichten kann. Darauf können Sie sich verlassen!Lassen Sie mich nun zu Fragen der Ministertagung des NATO-Rates kommen und zwei Bereiche ansprechen, die nicht nur hier, sondern auch in weiten Kreisen der Öffentlichkeit im Zentrum der Debatte stehen.In den Ziffern 1 und 2 des Kommuniqués von Paris ist etwas einvernehmlich niedergelegt worden, was ich sehr begrüße, nämlich die Darstellung und gemeinsame Erklärung, daß man innerhalb der NATO ausreichende Verteidigungskräfte benötigt. Die Bezeichnung „ausreichend" erinnert mich an eine richtige Position, die im Weißbuch 1970 als sicherheitspolitische Positionsbeschreibung der damaligen Bundesregierung verzeichnet ist. Dort heißt es bei der Beschreibung der strategischen Grundprinzipien der NATO, daß sie auf den drei Grundsätzen Verhältnismäßigkeit der Mittel, Hinlänglichkeit der Kräfte und Begrenztheit der Ziele beruht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 751
KolbowDas Prinzip der Hinlänglichkeit der Kräfte erwähne ich deshalb besonders, weil erstens in der Öffentlichkeit eine breite Debatte über eine mögliche Konventionalisierung unserer Verteidigung geführt wird und zweitens der jetzige Verteidigungsminister noch vor einem Jahr den Eindruck erweckt hat, daß in diesem Bereich der Konventionalisierung für uns eine sicherheits- und verteidigungspolitische Alternative zu suchen ist. Ich möchte diesen Punkt hier — so knapp wie möglich, aber so ausführlich wie notwendig — deshalb erörtern, weil mir daran liegt, daß wir in diesen Fragen gegenüber der Öffentlichkeit eine ehrliche und vor allem sachliche Analyse vornehmen, damit nicht nur hier Klarheit über unsere tatsächliche verteidigungspolitische Situation herrscht.Im Mai 1982 veröffentlichte Dr. Wörner für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein Konzept zur aktiven Friedenssicherung. Er glaubte damals, den Weg gefunden zu haben, aus dem Zwang zum frühen Einsatz von Nuklearwaffen befreit zu sein und gleichzeitig die Möglichkeit zu haben, die nuklearen Kurzstreckenwaffen massiv zu verringern, was eben unter dem Schlagwort „Konventionalisierung" Eingang in die oft so sterile Fachsprache gefunden hat.Das Ganze sollte mit einem verhältnismäßig bescheidenen finanziellen Mehraufwand und ohne zusätzliches Personal — ich habe wörtlich zitiert — erreicht werden. Der „bescheidene Mehraufwand" finanzieller Art belief sich aber immerhin auf eine Milliarde DM pro Jahr für einen Zehnjahreszeitraum. Wenn es nach dem ginge, was der jetzige Verteidigungsminister während seiner Oppositionszeit hier im Deutschen Bundestag gesagt und gefordert hat, wäre — das muß ich zugeben — diese Milliarde ein Kinderspiel.
Herr Wörner hat jedoch — wie das oft so ist — sehr schnell, innerhalb eines Tages, eine Wandlung durchgemacht, als er nämlich nicht mehr oppositioneller Verteidigungsfachmann, sondern Minister war. Da stellte er auf einmal fest, daß er sehr kleine Brötchen backen muß und daß — was zu hören uns gefreut hat — die Sozialdemokraten gute Leistungen im Verteidigungsbereich erbracht haben.
Ein Beweis für seinen Wandel zur Realität ist das Kommuniqué, welches nach seinem Gespräch mit dem obersten Befehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa, General Rogers, im „Bulletin" der Bundesregierung vom 9. November 1982 abgedruckt wurde:Minister Dr. Wörner unterstrich seine volle Übereinstimmung mit den Vorstellungen General Rogers, betonte aber zugleich, daß die derzeitige Finanzlage die Verwirklichung der konventionellen Verstärkung auf mindestens ein Jahrzehnt strecken werde.Ich glaube, daß diese Darstellung und Einschätzungnoch relativ optimistisch ist. Wir werden in Kürzedie erste mittelfristige Finanzplanung dieser Regierung auf den Tisch bekommen, die zeigen wird, welche realen Steigerungsraten für einen Fünfjahreszeitraum für den Bereich Verteidigungspolitik vorgesehen sind. Wie Sie hier — das frage ich Sie auch — die Forderung nach einer jährlichen realen Steigerung der Verteidigungsausgaben um 3 % oder, wie man jetzt hört, vielleicht um 4 % einpassen wollen, wäre eine Antwort wert. Es wäre auch eine Antwort wert, wie die 177 Millionen Dollar als Folge der Erhöhung der finanziellen Obergrenze des derzeit laufenden fünfjährigen Infrastrukturprogramms der NATO finanziert werden sollen.Meine Damen und Herren, nun reicht es, wenn wir uns über Fragen der Konventionalisierung Gedanken machen, sicherlich nicht aus, allein auf die knappen Finanzen zu schauen. Wir kommen nicht darum herum, erst einmal zu fragen, welche Lükken in der heutigen Ausstattung der Bundeswehr vorhanden sind, bevor wir nach neuen Systemen rufen. Dies gilt auch für die übrigen NATO-Streitkräfte, wie auf der Sitzung der Nordatlantischen Versammlung am Wochenende in Kopenhagen erkennbar geworden ist. Der deutliche Vortrag z. B. des Mitglieds des amerikanischen Repräsentantenhauses und des Streitkräfteausschusses Whitesand hat dies klargemacht. Für uns nenne ich nur stichwortartig die Probleme im Bereich der elektronischen Kampfführung, der Luftverteidigung, der Nachtkampffähigkeit des Heeres oder der Munitionsbevorratung. Das wird uns im Ausschuß zu beschäftigen haben.Ich möchte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, hier nicht mit Einzelheiten belasten, die diese Lükken aufzeigen, und vor allen Dingen nicht mit einer Schätzung des finanziellen Umfanges, der nötig wäre, um die heute und in absehbarer Zukunft bestehenden Lücken und Aufgaben abzudecken. Es darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, daß bei unseren NATO-Partnern Entwicklungen vorhanden sind, die das Gegenteil von Verstärkung der konventionellen Streitkräfte in Europa bedeuten. Auch das gilt es einzubeziehen.Erstaunlich ist für mich des weiteren, daß ein anderer Punkt der Konventionalisierungsdebatte in seinen Konsequenzen nur wenig beachtet wird. Noch 1979 hatte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Herr de Maizière, in einer Studie für den damaligen Verteidigungsminister festgestellt, daß bei der Bundeswehr eine Scherenentwicklung zwischen Auftrag und Mitteln besteht, vor allem was die Personallage betrifft. Jeder, der sich mit dem Auftrag unserer Streitkräfte beschäftigt, wird dies bestätigt finden. Wenn der neue Generalinspekteur ironisch anmerkt, daß die Kinder noch nicht geboren sind, für die wir heute schon Panzer kaufen, dann wird sehr deutlich, welche Probleme wir ab 1985 wegen des Pillenknicks haben werden, den Personalbedarf zu decken.
Auch von daher, also der Geld- und der Personalnotwegen, ist es wichtig, zumindest die Umrisse eines
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752 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Kolbowneuen Abwehrkonzeptes zu skizzieren und darüber nachzudenken.
Wir, meine ich, in diesem Hause können es uns gegenüber der Öffentlichkeit nicht erlauben, diese Dinge in patenthafter Form darzustellen. Sie müssen ausführlich und mit allen Konsequenzen debattiert werden. Dafür weist, so meinen wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion den richtigen Weg, nämlich eine öffentliche Anhörung durch den Verteidigungsausschuß über die Probleme, die Vorschläge und die Alternativen, die sich aus dieser Situation für unsere Sicherheitspolitik und unser Land ergeben.
Wir brauchen eine detaillierte Auseinandersetzung. Ich freue mich, daß die CDU/CSU diesem Vorhaben offensichtlich grundsätzlich zustimmt, so jedenfalls Äußerungen aus dem Kreis des Verteidigungsausschusses, und hoffe, daß sie, Herr Kollege Ronneburger, mit der FDP in der Terminfrage flexibler wird. Wir möchten dieses Anhörungsverfahren gerne nach der Sommerpause durchführen. Sie von den Koalitionsfraktionen meinen, diese Anhörung zeitlich verschieben zu können. Da wir bereits ein zu reichliches Stück hinter der öffentlichen Strategiedebatte herhinken, können wir uns einen weiteren zeitlichen Aufschub nicht mehr erlauben. Deshalb würde ich es für sehr begrüßenswert halten, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition unserer zeitlichen Vorstellung für eine öffentliche Anhörung im Ausschuß anschließen könnten, deren Ergebnis wir dann hier zu diskutieren hätten.Die Blöcke, die dabei zu behandeln notwendig sind, entnehmen Sie bitte unserem Antrag in Drucksache 10/151, in dem zunächst die Bundesregierung aufgefordert wird, ihre Position zu diesen drei Punkten darzulegen, über die wir dann Sachverständige hören sollten. Deswegen haben wir auch an den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses die Bitte gerichtet, diese Anhörung im Verteidigungsausschuß in Verbindung mit der hier im Hause vorgelegten Drucksache durchzuführen.Zum Schluß, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, einige Anmerkungen in Ergänzung der Rede des Kollegen Bahr: Wir haben das, was der Bundeskanzler am 9. Juni zum Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg hier erklärt hat, aufmerksam nachgelesen und auch versucht, unsere Schlüsse daraus zu ziehen. Nach meinem Dafürhalten hat die Bundesregierung mit dem, was im Plenarprotokoll 10/11 auf Seite 530 verzeichnet ist, zum erstenmal ihre Position zu den INF-Verhandlungen präzisiert. Der Bundeskanzler sagte für die Bundesregierung aus, daß sie bereit sei, die legitimen Sicherheitsinteressen der Sowjetunion zu respektieren. Ich halte diese Grundsatzerklärung, die sich auch auf die folgenden Punkte der Regierungserklärung bezieht, für wichtig und richtig. Im zweiten Punkt der Erklärung wird noch einmal das rüstungskontrollpolitische Strukturprinzip, welches verbal von den USA wie von der Sowjetunion voll anerkannt wird, nämlich das der Gleichheit, bekräftigt. Beachtenswert aber ist, daß ein zweites Prinzip, nämlich das der gleichen Obergrenzen, unerwähnt bleibt. Auch im dritten Punkt ist eine Verdeutlichung festzustellen, die begrüßenswert für mich ist. Der Aussage, daß die britischen und französischen Nuklearsysteme bei den Verhandlungen in Genf über Mittelstreckensysteme keinen Platz haben, entnehme ich, daß die Bundesregierung der Meinung ist, daß sie woanders ihren Platz haben müßten. Ich halte diese Aussage für nicht unerheblich, weil sie letztlich in die Konsequenz einmündet, daß wir der Sowjetunion zugestehen, daß ihr nukleares Gesamtpotential gegen alle anderen Potentiale der Welt aufgerechnet werden darf. Auch der vierte Punkt der letzten Regierungserklärung, wo der Bundeskanzler von der angestrebten Reduzierung der sowjetischen Mittelstreckenpotentiale gegen Europa auf Null spricht, läßt eine Interpretation zu, die in Verbindung mit den folgenden Darstellungen zu verstehen ist. Das erscheint mir als eine interessante Differenzierung des sogenannten globalen Verhandlungsansatzes, der nicht in der fünf Punkte umfassenden Leitlinie des Doppelbeschlusses für die Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion wörtlich erwähnt ist.Zusätzlich möchte ich unterstreichen, daß die Forderung der Bundesregierung unterstützenswert ist und einer seit langem von der SPD erhobenen Forderung entspricht, daß nach einem Verhandlungskompromiß für die Systeme, über die in Genf verhandelt wird, nicht ein Rüstungswettlauf von der Sowjetunion ausgelöst werden darf, der sich auf die Systeme geringerer Reichweite bezieht.Meine Damen und Herren, mein Kollege Horst Ehmke hat am 4. Mai 1983 von dieser Stelle ausgeführt:Die SPD-Bundestagsfraktion hat in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Erbe von Kompetenz, Respekt und Vertrauen zu bewahren, das die Vorgänger — stellvertretend nenne ich hier nur Fritz Erler — hart erarbeitet haben.Diesem Erbe fühlen wir uns weiter verpflichtet. Die sozialdemokratischen Sicherheitspolitiker werden weiter hart für den Frieden arbeiten, die Kooperation dort suchen, wo sie sie mit ihrer Meinung finden können, und mit ihrer Kritik dort, wo sie glauben, sie äußern zu müssen, nicht hinter dem Berg halten. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach meiner Auffassung und festen Überzeugung hat die Auseinandersetzung um den Doppelbeschluß der NATO, die wir heute hier im Deutschen Bundestag führen, die aber weit über unsere Debatte hinaus in der gesamten Bundesrepublik Deutschland mit einer fast
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 753
Bundesminister Dr. Geißlernoch nie dagewesenen Intensität und auch Breitenwirkung geführt wird, nicht nur etwas mit den sicherheitspolitischen und militärstrategischen Problemen zu tun. Diese Diskussion betrifft nach meiner Auffassung in Wirklichkeit auch die geistigen Grundlagen sowie die Zukunft unserer freiheitlichen Demokratie und des westlichen Bündnisses und damit natürlich auch die Zukunft der Jugend in der Bundesrepublik Deutschland. Die Jugend hat die Zukunft ja noch vor sich.
— Sie stellt sich die Frage, ob sie — wie wir es getan haben — in den kommenden 30, 40 oder 50 Jahren in Frieden und Freiheit leben kann.
Deswegen glaube ich, daß man nach Ablauf dieser Debatte auch die Frage stellen kann — ich denke hier zunächst einmal an die Rede, die Egon Bahr hier gehalten hat, aber auch an das, was der Abgeordnete Bastian hier gesagt hat —, ob es richtig ist, diese Debatte fast ausschließlich mit Argumenten zu führen, wie sie meinetwegen bei den Abrüstungsverhandlungen in Genf gebraucht werden, wobei ich nicht bestreite, daß dies notwendig ist. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die der Auffassung sind, daß man auf komplexe Probleme in dieser Gesellschaft pauschale Antworten geben muß. Ich bin vielmehr eindeutig der Meinung, daß komplexe Probleme auch eine differenzierte Antwort erfordern. Wir müssen uns doch aber die Frage stellen, Kollege Bahr — dies sage ich auch an die Adresse von Herrn Bastian —: Wie soll eigentlich jemand, der diese Debatte verfolgt, erkennen — wenn ich einmal von dem absehe, was der Verteidigungsminister, nach meiner Auffassung völlig zu Recht, an Grundsätzlichem gesagt hat —, aus welchen Gründen wir denn nun eigentlich diese verteidigungspolitische Auseinandersetzung, manchmal auch mit Härte und Intensität, führen. Die Leute hören heute, daß die Debatte von Begriffen wie Pershing II, Flexible Response, Backfire, Cruise Missiles, dem neuen Begriff Null-Null-Option und vielen ähnlichen Begriffen beherrscht wird. Machen wir in dieser Debatte, wenn wir fast ausschließlich so debattieren, nicht den Fehler, den ich — ich bitte hier um Verzeihung; ich will jetzt keine Schärfe in die Debatte hineinbringen — eigentlich der alten Bundesregierung zum Vorwurf machen muß: daß sie sich nämlich in der Verteidigungspolitik fast in den militärtechnischen Details verheddert hat, aber die geistige Führung in der Auseinandersetzung um die richtige Verteidigungspolitik verloren hat?
Ich bin der Meinung, daß die Verwirrung — wirhaben eine erhebliche Verwirrung in der Bundesrepublik Deutschland, auch eine geistige Verwirrungin der Verwendung der Begriffe — darauf zurückzuführen ist,
daß gerade Ihre Partei und die frühere Bundesregierung den Verteidigungsgedanken dem deutschen Volk nicht richtig erklärt hat.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe.
Sehr gerne.
Herr Bundesminister Geißler, sind Sie der Auffassung, daß sich die Mehrheit des dänischen Parlaments — dort gibt es keine sozialdemokratische Mehrheit — in geistiger Verwirrung befindet, wenn es zu diesen Fragen eine andere Haltung einnimmt als die dänische Regierung?
Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur auf die Gefahr aufmerksam gemacht. Herr Kollege Ehmke, Sie haben bei einer Diskussion, an der wir beide teilgenommen haben, diese Gefahr genauso artikuliert. Wir, in erster Linie dieses Parlament, haben die Aufgabe, den Gedanken der Verteidigung und ihre ethische Begründung dem deutschen Volk zu erklären.
Daß hier Defizite vorhanden sind, kann nicht bestritten werden.Ich will Ihnen einige Beispiele nennen, die auch in dieser Debatte zum Ausdruck gekommen sind.„Frieden" ist zur Zeit das am meisten gebrauchte Wort. Es ist der am meisten gebrauchte Begriff. Aber es gibt viele, die sagen, Frieden sei ein Grundwert. Unterhalten wir uns einmal allein über die Frage, ob der Frieden ein Grundwert sei!
Ich bin der Auffassung: Frieden ist kein Grundwert, sondern das Ergebnis der Verwirklichung von Grundwerten.
— Lassen Sie uns doch in Ruhe darüber sprechen. Genau das tut not, daß wir diese Diskussion führen.
Lassen Sie mich doch einmal meinen Standpunkt erläutern.Das Hirtenwort der Bischöfe hatte genau diese Überschrift: Gerechtigkeit schafft Frieden — Opus iustitiae pax. Was wir heute über das Gleichgewicht
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754 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. Geißlerder Waffen geredet haben, hat möglicherweise zum Ergebnis, daß die Waffen in Europa schweigen. Aber glaubt denn jemand im Ernst, daß, wenn Waffen schweigen, schon Frieden vorhanden sei? Frieden erfordert doch mehr als das Schweigen von Waffen.Wenn das nicht klar ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommt eine geistige Verwirrung in die verteidigungspolitische Diskussion hinein, die wir alle miteinander nicht verantworten können.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bahr?
Herr Kollege Geißler, teilen Sie die Auffassung, „daß es uns nicht um ein Überleben um jeden Preis, sondern darum geht, daß wir auch weiterhin in der deutschen Demokratie in Frieden und Freiheit leben können"?
Ein Überleben um jeden Preis — Herr Bahr, ich kenne diese Art von Fragen, die Sie mir hier stellen. Ich kenne den Autor nicht.
— Entschuldigung! Lassen Sie mich meine eigene Antwort geben.
Ich kann dieses Zitat in der jetzigen Situation — ich nehme dabei schon etwas vorweg, was ich nachher sagen will — in dieser Form, ohne daß zusätzliche Argumente und zusätzliche Gegebenheiten erörtert werden, nicht akzeptieren, und zwar ganz einfach deswegen nicht, weil ich der Auffassung bin, daß wir uns in der Tat gegenüber den 30er oder 20er Jahren oder der Situation im letzten Jahrhundert heute durch die Existenz atomarer Waffen in einer anderen moralischen Situation befinden, als es früher bei einer rein konventionellen Auseinandersetzung der Fall gewesen ist.
— Das ist ganz richtig. Nur — ich komme auf diesen Punkt nachher zurück — können wir diese Frage nicht auf diese einfache Alternative reduzieren. Ich kann sie allerdings auch nicht auf die Alternative reduzieren: Einseitige Abrüstung sichert den Frieden und das Überleben, genauso wenig kann ich die Alternative gelten lassen: Überrüstung und ständige Weiterrüstung sichern den Frieden. Das eine wäre eine tödliche Verblendung, das andere wäre lebensgefährlicher Irrsinn. Deswegen sagen wir ja: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen,
und zwar aus der Überlegung heraus — auch beider Existenz atomarer Waffen; ich darf das vorweg-nehmen —, daß wir uns diesem moralischen Konflikt, in dem wir uns befinden, stellen müssen.
Wir können diesen Konflikt nicht wegdrängen. Er besteht darin, daß man mit Fug und Recht sagen kann, die Anwendung atomarer Waffen sei unsittlich, sei unmoralisch. Viele in diesem Lande kommen zu dem Ergebnis, daß deswegen auch das Bereithalten atomarer Waffen unsittlich ist.
Diese Position vertreten viele in diesem Land. Ich will überhaupt nicht abstreiten, daß man aus einer moralischen Position diese Auffassung vertreten kann.
Aber es gibt auch die andere Position. In der Erkenntnis, daß die Anwendung atomarer Waffen unsittlich ist — —
— Lassen Sie uns doch diese Diskussion ernsthaft führen, lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende führen; denn wir sind am Kernpunkt unserer Auseinandersetzung, auch was die moralische Frage anbelangt. Ich habe genau verfolgt, was Sie und viele andere, auch bei den GRÜNEN, in der Vergangenheit zu diesem Thema gesagt haben.Aber es gibt die andere Position. Die Vertreter dieser Position erkennen, daß die Anwendung atomarer Waffen moralisch bedenklich, unmoralisch ist. Aber gerade deswegen halten sie es für richtig— aus moralischen Gründen —, diese atomaren Waffen bereitzuhalten. Sie sind der Auffassung, nur so könne verhindert werden, daß diese Waffen überhaupt zur Anwendung gelangten.
Jetzt behaupte ich folgendes. Die Auffassung, die ich als unsere Position darlege, hat mindestens denselben Anspruch auf Moralität und auf Sittlichkeit wie die Position der anderen Seite, die ich eben beschrieben habe. Wenn wir uns darüber einig sind, daß wir uns hier in einer moralischen Grenzsituation befinden und daß wir in dieser moralischen Grenzsituation die Verpflichtung haben, uns zu entscheiden, dann dürfen wir uns gegenseitig nicht Moralität absprechen, wenn aus dieser Grenzsituation heraus der eine zu der einen und der andere zu der anderen Entscheidung kommt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 755
Bundesminister Dr. GeißlerDas ist zunächst einmal eine sehr wichtige Feststellung, die ich als Antwort auf die Frage von Herrn Bahr getroffen habe.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schily?
Bitte schön.
Herr Minister Geißler, sind Sie bereit zuzugestehen, daß die Glaubwürdigkeit der Strategie der Abschreckung voraussetzt, daß der jeweils Drohende bereit ist, Massenvernichtungsmittel im sogenannten Ernstfall einzusetzen, und halten Sie unter diesem Gesichtspunkt den Einsatz oder die Bereitschaft zum Einsatz von Massenvernichtungsmitteln für sittlich gerechtfertigt, bzw. wäre ein solcher Einsatz zu rechtfertigen?
Herr Abgeordneter Schily, ich habe gerade gesagt, daß ich den Einsatz für nicht sittlich gerechtfertigt halte, aber daß ich das ZurVerfügung-Haben, das Bereitstellen atomarer Waffen moralisch für legitimiert halte, weil die andere Seite sie j a hat und weil ich nur so erreichen kann, daß der andere die atomaren Waffen nicht einsetzt. Das ist doch der Punkt, um den es geht.
Ich glaube, es ist wichtig — deswegen habe ich diese Anfangsbemerkung gemacht —, daß wir uns bei der Frage um den Doppelbeschluß der NATO auch auf diese grundsätzliche Auseinandersetzung konzentrieren; nicht nur auf die militärtechnischen Fragen, die ganz sicher eine große Bedeutung haben und denen niemand ausweichen will.
Jetzt will ich, was die Frage der Klarheit der Begriffe und der Notwendigkeit der geistigen Auseinandersetzung anbelangt, ein weiteres Beispiel bringen.
Herr Bahr, übrigens ist das Thema der Sicherheitspartnerschaft eine solche Frage. Der Begriff der Sicherheitspartnerschaft gehört zu dem Problem geistiger Klarheit. Sie verwenden hier die Begriffe „Partnerschaft" und „Sicherheit", die wir z. B. auf unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten anwenden, mit denen uns die Gemeinsamkeit der Werte und die Gemeinsamkeit des Bewußtseins verbinden, daß wir unsere gemeinsamen Werte verteidigen. Deswegen befinden wir uns mit ihnen in einer Sicherheitspartnerschaft.
Denselben Begriff benutzen Sie im Verhältnis zur UdSSR, mit der wir zwar auch in einem bestimmten Sinn Partnerschaft haben, die sich aber uns gegenüber in einem ganz anderen Verhältnis befindet. Wir haben möglicherweise mit der Sowjetunion gemeinsame Interessen, aber sie bedroht unsere Freiheit.
Wenn sie für zwei völlig konträre Sachverhalte denselben Begriff verwenden, dann tragen Sie zur Verwirrung der Geister bei.
Sie machen den großen Fehler, daß Sie damit die Gemeinsamkeit der Überzeugung, warum wir eine Verteidigungspolitik betreiben, im deutschen Volk nicht nur nicht hinreichend erklären, sondern gleichzeitig zerstören.
Ich habe in der neuesten „Spiegel"-Ausgabe ein Interview gelesen. Ich habe in diesem Interview — ich möchte das hier als drittes Beispiel anführen — eine ganz unglaubliche Verbiegung der Begriffe und der Werte gelesen. Ich will das hier zur Debatte stellen. Der Abgeordnete Fischer hat geglaubt, er müsse im Zusammenhang mit unserer Verteidigungspolitik und der Politik der atomaren Abschreckung von einem „zweiten Auschwitz" sprechen.
Ich zitiere das hier wörtlich. Ich führe das hier in die Debatte ein, weil diese Argumente gelesen werden und weil sie in die Köpfe der Menschen hineingehen. Deswegen müssen wir uns mit diesen Argumenten auseinandersetzen.
Der Abgeordnete Fischer sagt in diesem „Spiegel"-Interview sinngemäß folgendes — ich habe das Zitat jetzt nicht hier —: Es sei angesichts von Auschwitz zu bedenken, ob jetzt wieder eine Massenvernichtung vorbereitet werde; früher entlang dem Koordinatensystem der Rasse und heute entlang dem Ost-West-Konflikt.
— Ich habe es vielleicht nicht ganz richtig zitiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Massenvernichtung in Auschwitz gedanklich in Verbindung zu bringen mit der Verteidigung der atomaren Abschreckung eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, dies gehört ebenfalls in das Kapitel einer Verwirrung der Begriffe und der Geister, die wir jetzt bestehen müssen.
Herr Fischer, ich mache Sie als Antwort auf das, was Sie dort gesagt haben, auf folgendes aufmerksam. Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.
Herr Abgeordneter Schily, ich bitte, Platz zu behalten.
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756 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Wenn, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich das in aller Ruhe sagen, die westlichen Mächte — —
Herr Bundesminister, darf ich Sie unterbrechen.
— Herr Abgeordneter Fischer, Sie hatten — —
Ich habe damit nichts anderes ausgesprochen als eine geschichtliche Wahrheit.
Lesen Sie die Auseinandersetzungen zwischen Churchill und Chamberlain, lesen Sie die Auseinandersetzungen im britischen Unterhaus über die Frage nach, wie sich die freiheitlichen westlichen Demokratien gegenüber der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus zu verhalten hätten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kann überhaupt keine Frage sein,
daß der Nationalsozialismus nicht in der Lage gewesen wäre, den Krieg 1939 zu beginnen, wenn die Westmächte eine klare Position in ihrer Verteidigung eingenommen hätten.
Herr Bundesminister, ich bitte, Sie unterbrechen zu dürfen.
Herr Abgeordneter Gansel, der Präsident entscheidet, ob ein Gedanke zum Abschluß gebracht worden ist oder nicht.
Frau Kelly hat sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich erlaube eine Zwischenfrage.
Herr Geißler, Sie haben „atomares Auschwitz" aus dem Interview von Herrn Fischer zitiert. Ist Ihnen bekannt, daß Erzbischof Hunthausen, einer der Autoren des Hirtenbriefs der amerikanischen Bischöfe, diese Formel „atomares Auschwitz" auf dem Marinestützpunkt in Seattle, Washington, gebraucht und erklärt hat, daß das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten
Widerstand geleistet hat und seither dazu nicht mehr in der Lage war? Das Wort „atomares Auschwitz" kommt von einem Erzbischof aus den Vereinigten Staaten. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Ich nehme dies gern zur Kenntnis. Aber ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß die deutschen Bischöfe in ihrem Hirtenwort gesagt haben: „Gerade insofern die staatliche Gewalt dem Unrecht und der Unterdrückung widersteht, die Menschenrechte respektiert und Unschuldige schützt, erweist sie, daß sie im Dienste Gottes steht."
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gar keine Frage, daß eine Politik, die unter Verzicht auf Verteidigung zu Lasten des Schutzes von Unterdrückten, zu Lasten des Schutzes von Bürgern vor unrechter Gewalt betrieben würde, gegen den Geist der Bergpredigt verstoßen würde.
Herr Bundesminister, ich habe vier Meldungen zu Zwischenfragen.
Herr Präsident, ich bin gern bereit, Zwischenfragen zuzulassen, aber ich möchte meine zusammenhängenden Gedanken jetzt vortragen.
— Verehrter Herr Gansel, ich gebe Ihnen nachher gern die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage. Lassen Sie mich erst meinen Gedanken zu Ende führen!Ich wiederhole es: Die ganzen schrecklichen und mörderischen Entwicklungen im nationalsozialistischen Regime mit dem Tod und Mord an Millionen von Menschen wären nicht möglich gewesen, wenn es die damalige Schwäche
— lassen Sie mich das doch einmal sagen — der freiheitlichen Demokratien dem Diktator des nationalsozialistischen Regimes nicht leichtgemacht hätte, den Krieg zu beginnen. Dies ist die Wahrheit.
Herr Präsident, ich bin jetzt nicht bereit, weitere Zwischenfragen zuzulassen, und ich möchte nicht mehr unterbrochen werden.Ich fürchte, wenn diejenigen in diesem weltweiten ideologischen Bürgerkrieg, in dem wir uns heute befinden, siegen würden, die uns, den freiheitlichen Demokratien, anraten, eine einseitige
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 757
Bundesminister Dr. GeißlerAbrüstung durchzuführen, und zwar auch auf dem atomaren Gebiet,
dann wäre ein weltweiter Archipel GULag die Folge. Davon bin ich überzeugt.
Das heißt, bevor wir uns über die Raketen und über das unterhalten, was Herr Bastian hier gemacht hat, der die Zielgenauigkeit von Raketen auf 100 m beschrieben hat, sollten wir uns erst einmal darüber unterhalten,
ob dieser Staat, ob dieses Gemeinwesen, ob diese verfassungsrechtliche Ordnung verteidigungswert ist.
Denn wenn sie nicht verteidigungswert ist, dann brauchen wir auch keine Waffen.
Dieser Frage wird in der jetzigen Diskussion ausgewichen.Wenn wir j a dazu sagen, daß unser Gemeinwesen verteidigungswert ist, dann müssen wir die zweite Frage stellen: Sind wir denn überhaupt bedroht? Denn wenn wir von niemandem bedroht werden, dann brauchen wir uns auch nicht zu verteidigen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese beiden Vorfragen müssen in der Diskussion abgeklärt werden. — Herr Ehmke, die Diskussion, die wir heute in unserem Lande führen, leidet darunter,
daß Sie — offenbar Sie alle miteinander — der Erörterung der ersten beiden Fragen ausweichen.
Herr Bundesminister, ich muß Sie noch einmal fragen, ob Sie bereit sind, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gansel zuzulassen.
Nein, Herr Präsident, ich habe vorhin gesagt, daß ich jetzt nicht bereit bin, Fragen zuzulassen, weil ich diesen Gedankengang jetzt im Zusammenhang vortragen möchte.
— Ich habe ja nun nicht den Anschein erweckt, als ob ich keine Anfragen zulassen werde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir müssen ganz klar sehen, daß wir, wenn wir die Frage erörtern, welche Werte wir verteidigen — —
— Verehrte Frau Hamm-Brücher, das hat sehr wohl etwas damit zu tun, weil wir auf die historischen Konsequenzen aufmerksam machen müssen, wenn die freiheitlichen Demokratien durch innenpolitische Vorgänge nicht mehr in die Lage versetzt werden sollen, ihre Freiheit und ihre Grundrechte verteidigen zu können. Das ist der Punkt, um den es geht.
Deswegen möchte ich hier dazu etwas sagen. Gleichheit vor dem Gesetz, Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Religionsfreiheit, Informations- und Pressefreiheit, Schutz des privaten Eigentums, Unverletzlichkeit der Wohnung, freie Berufsausübung, Recht der Freizügigkeit, unsere gesamte parlamentarische demokratische Ordnung, unsere sozialstaatliche Ordnung, das alles sind Elemente einer staatlichen Ordnung, überhaupt der staatlichen Ordnung der Länder der westlichen Welt, für die Jahrhunderte hindurch unsere Väter und unsere Vorfahren — Sozialdemokraten, Konservative, Christliche Demokraten, Liberale — gegen Feudalismus und Tyrannei gekämpft und sogar ihr Leben hingegeben haben.Jetzt gibt es in dieser Diskussion Menschen, die sagen, wir sollten angesichts der Konfliktlage, in der wir uns befinden, Zuflucht zu dem Konzept der sogenannten sozialen Verteidigung nehmen. Was soll das heißen? Soziale Verteidigung heißt, daß wir auf eine Abwehr, auf eine Verteidigung durch Abschreckung verzichten, daß wir sagen: Wir lassen den ideologischen Gegner in unser Land hinein, und wir werden ihn dann durch die innere Kraft unserer Überzeugung und unseres Glaubens überwinden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich stelle die Frage: Wer gibt uns als Nachkommen derjenigen, die für diese Freiheitsrechte gekämpft haben, eigentlich das Recht, dies alles — teilweise aus purer Angst, die unbegründet ist — aufs Spiel zu setzen? Wir wollen frei sein, und wir wollen frei bleiben; das ist der Sinn unserer Verteidigungspolitik.
Selbstverständlich stellt sich hier die zentrale Frage nach der Glaubwürdigkeit dessen, was wir vertreten.
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758 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. Geißler
— Dieser Zwischenruf war sehr gut. In Chile und in Nicaragua werden unsere Freunde unterdrückt, die Christlichen Demokraten.
Wir wollen in Lateinamerika dafür eintreten, daß rechte Militärdiktaturen abgelöst, aber nicht durch linke Militärdiktaturen ersetzt werden.
Wir werden — ich hoffe, zusammen mit den Sozialdemokraten — für einen demokratischen Weg der Menschenrechte und der Menschenwürde eintreten. Dieselbe Problematik — das sehe ich jetzt in der Diskussion — wird j a wahrscheinlich entstehen, wenn wir die Frage erörtern, ob wir überhaupt bedroht werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstverständlich haben die Völker der Sowjetunion ein Sicherheitsinteresse — das ist sicher so —, auch auf Grund der Erfahrungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Aber — dies ist heute morgen schon gesagt worden — die sowjetische Führung weiß doch genau, daß wir, die freien Länder der westlichen Welt, daß die NATO keinen Angriffskrieg führen kann, daß wir nicht in der Lage sind — weder von der Logistik noch von den Verträgen noch von unseren Absichten her —, einen Angriffskrieg zu führen. Die Wahrheit ist eine ganz andere: Die sowjetische Führung fühlt sich doch nicht von der Bundeswehr oder von der NATO bedroht, sondern sie fühlt sich von der Existenz freiheitlicher Gesellschaftsordnungen, von der Existenz freier Menschen am Rande ihres Imperiums bedroht. Deswegen rüstet die Sowjetunion in Wahrheit nicht gegen unsere Waffen, sondern gegen unser freies Denken.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schily?
Bitte schön, Herr Schily.
Sie haben soeben ausgeführt, Herr Minister, daß die westliche Seite von der Logistik her keinen Angriffskrieg führen könne und auch nicht führen wolle. Sind Sie der Auffassung, daß die östliche Seite von der Logistik, von ihrer militärischen Ausrüstung und von ihrem Vorsatz her einen Angriffskrieg gegen Westeuropa führen kann und will?
Herr Schily, sie ist — im Vergleich zu dem, was wir haben, im Gegensatz zur NATO — auf jeden Fall dazu in der Lage, und zwar schon von der Reichweite, von der Präzision und von der Schlagkraft der SS-20-Raketen her gesehen.
Sie ist darüber hinaus auch allein auf Grund der
Tatsache dazu in der Lage, daß z. B. im Bereich des
Warschauer Pakts mehr als 40 000 moderne Panzer
— das betrifft den Bereich der klassischen Waffen
— stehen, während der NATO 13 000 Panzer zur Verfügung stehen. Also, sie wäre in der Lage. Damit habe ich aber Ihre Frage noch nicht beantwortet, ob sie es will. Ich unterstelle ebensowenig wie der Verteidigungsminister, daß die jetzige sowjetische Führung einen Angriffskrieg gegen den Bereich der NATO führen will. Die Frage, warum sie dann in dieser Form überrüstet, ist das Thema, das uns beschäftigen muß, wenn wir uns die Frage stellen: Fühlt sich die Sowjetunion bedroht? Darüber bin ich mir im klaren: Einen Krieg, einen nuklearen Krieg wagt die Sowjetunion jetzt auch nicht zu führen. Aber die Überrüstung der Sowjetunion hat einen Sinn, der darin besteht, daß sie mit dem Mittel der militärischen Überlegenheit politische Überlegenheit erzielen will; das ist das eigentliche Ziel. Lenin hat einmal gesagt: Unsererseits ist ein Krieg legitim und gerecht; denn er wird für den Sozialismus, für die Befreiung unserer Völker geführt, für die Befreiung unserer Völker von der Bourgeoisie.
— Das heißt: Die Sowjetunion braucht die militärische Überrüstung, Herr Schily, um eine politische Überlegenheit zu erreichen. Denn sie will die Länder, die Gemeinschaften, die Gesellschaften, die freien Staaten am Rande ihres Imperiums neutralisieren. Die Sowjetunion fürchtet sich vor unseren Ideen, vor den freiheitlichen Idealen. Sie will uns durch die militärische Überrüstung einschüchtern und unfähig machen, unsere Ideale mit der Kraft, mit der ansteckenden Kraft der Freiheit und unserer Gedanken auch dorthin zu bringen, zumindest gedanklich, wo sie diese Ideale nicht haben will.
Herr Bundesminister, zwei Kolleginnen wünschen noch eine Zwischenfrage zu stellen, Frau Matthäus-Maier und Frau Hamm-Brücher.
Ja, bitte schön, Frau MatthäusMaier.
Herr Minister, ich habe eine Frage an Sie. Sie haben eben ein Wort gebraucht, einen Satz, der mich sehr deprimiert und niedergeschlagen gemacht hat. Als jemand, der selber oft da vorne geredet hat und der weiß, daß man im Eifer des Gefechts vielleicht etwas sagt, was man nachher gerne zurücknehmen möchte, frage ich Sie als den Minister, der für Jugendpolitik zu-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 759
Frau Matthäus-Maierständig ist und der weiß oder vielleicht erahnt, was das heißt, wenn dieser Satz von Ihnen hoffähig wird: Können Sie nicht ein einziges Mal die Kraft haben, dieses schlicht und einfach zurücknehmen?
Frau Matthäus-Maier, dann darf ich Sie bitten, noch einmal genau zuzuhören, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt: Der Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz möglich gemacht.
— Ja, meine Damen und Herren: möglich gemacht. Dies bedeutet doch keine moralische Schuldzuweisung.
Dies bedeutet, daß in den 30er Jahren — —
— Lesen Sie die Auseinandersetzungen nach, die im britischen Unterhaus geführt worden sind. Lesen Sie nach, was Churchill gesagt hat. Und, meine sehr verehrten Damen und Herren — —
— Bei allem Lärm, den Sie hier erheben — —
— Bei allem Lärm, den Sie hier erheben — —
Ich bin — —
Herr Bundesminister, ich muß Sie noch einmal unterbrechen. — Es hat keinen Sinn, in einer solchen Intensität die Zwischenrufe hier nach vorn zu bringen. Sie können nicht beantwortet werden. Sie sind störend, und der Redner kann nicht darauf eingehen. Ich bitte doch, die Gepflogenheiten dieses Parlaments weiter zu wahren.
Herr Minister, wir haben aber noch zwei weitere Meldungen für Zwischenfragen.
Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, das gehört natürlich ebenfalls zu der Verwirrung der Begriffe, die Sie hier einführen wollen.
— Zu der Verwirrung der Begriffe, die Sie hier einführen wollen.
— Entschuldigung, Herr Präsident, Frau HammBrücher hatte, glaube ich, auch eine Zwischenfrage stellen wollen.
Ich habe schon gefragt, ob Frau Kollegin Hamm-Brücher noch die Zwischenfrage stellen will. Sie hat anscheinend nun verzichtet. — Bitte sehr, Frau Hamm-Brücher.
Herr Kollege Geißler, ich glaube, es kommt hier wirklich darauf an, daß wir im Umgang auch mal eingestehen können, daß wir etwas zurücknehmen müssen. Deshalb möchte ich Sie jetzt ganz konkret fragen: Was hat denn der Pazifismus mit dem Judenhaß in Deutschland zu tun, nachdem längst vor Auschwitz Tausende und Zehntausende deutscher Juden erschossen, getötet und in die Emigration gejagt worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
überlegen Sie das noch einmal, weil ich es für unerträglich halte.
Verehrte Frau Hamm-Brücher, Sie machen hier einen Vorwurf, den ich nicht für gerechtfertigt halte.
— Entschuldigung: den ich nicht für gerechtfertigt halte.
— Ja, das glaube ich schon, daß Sie so reden, wenn wir über die Frage reden. Es geht um die Existenz unserer freiheitlichen Demokratien.
— Nein, verehrte Frau Hamm-Brücher, jetzt will ich Ihnen mal etwas sagen. Ich sage dies aus der Erfahrung auch meiner eigenen Vergangenheit und der Vergangenheit meiner Familie. Wir sind unter dem Nationalsozialismus einen Weg gegangen — meine Familie —, der darin begründet war, daß meine ganze Familie, mein Vater, meine Mutter gegen den
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760 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. GeißlerNationalsozialismus gekämpft haben. Sie brauchen mir solche Vorhaltungen nicht zu machen.
Ich weiß sehr wohl, was Judenhaß im Dritten Reich usw. anlangt. Nichts, kein Wort von dem, was Sie mir hier unterstellen wollen, habe ich hier gerade eben gesagt.
Nichts, kein Wort habe ich von dem gesagt; kein Wort!Es ließe sich viel sagen über den Mangel an geistiger Auseinandersetzung
in der Weimarer Republik, wo die redlichen Demokraten sich nicht um die Begriffe und die Werte gekümmert haben, wo sie redlich gehandelt haben und wo sie die geistige Auseinandersetzung demjenigen überlassen haben, der die verführerische Idee hatte
und damit die Menschen und Völker verführte. Aber dies war ja gerade das Problem: die Verführung der Köpfe, die Verführung der Herzen.
Und mir hat mein Vater gesagt, wie er in der „Deutschen Wochenschau" gesehen hat, wie Chamberlain auf dem Londoner Flughafen aus dem Flugzeug stieg und
die Hände emporhielt und „Peace, peace, peace forever!" rief. Was war denn das, meine sehr verehrten Damen und Herren? Peace forever auf Grund eines — und das will ich überhaupt nicht beurteilen— gesinnungsethischen Pazifismus, der aber die Verantwortung für das aus dem Auge gelassen hat, was er durch seine Entscheidungen hervorgerufen hat.
Ich lasse mich weder von Ihnen noch von Ihnen hier in eine falsche Ecke hineinbringen.
— Nein! Nein! Das wird Ihnen nicht gelingen. Und ich bleibe bei dem.
— Ja, das ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine sehr zentrale Frage. Es ist kein moralischer Vorwurf damit verbunden. Aber es ist die Frage der Verantwortung, auch der ethischen Verantwortung, wenn große Bewegungen uns den Rat geben, einseitig abzurüsten, so wie es in den 30er Jahren der Fall gewesen ist. Das Ergebnis war, daßdie Totalitären die Macht fühlten, die sie hatten, und dann das auch in die Tat umsetzten. Die Gefahr — das hat einmal ein bekannter Journalist gesagt, und, bitte, das gehört in das Kapitel, Frau Hamm-Brücher — ist nicht die Atombombe, sondern die Gefahr ist der totalitäre Staat, und wir zittern deswegen, weil der totalitäre Staat die Atombombe hat. Das ist der Punkt.
Herr Bundesminister, wir haben noch drei weitere Bitten um Zwischenfragen. Als erster hat sich der Abgeordnete Waltemathe gemeldet.
Bitte schön.
Herr Bundesminister, ich möchte Sie noch mal ganz konkret fragen, ob Sie denjenigen, z. B. meinen Verwandten, einschließlich Großvater, die in Auschwitz vergast worden sind und Pazifisten waren, vorwerfen, daß sie selber daran schuld sind, daß sie in Auschwitz umgebracht wurden. Wollen Sie so die Verantwortung darstellen?
Nein. Das habe ich doch überhaupt nicht gesagt.
Sie haben gesagt, an Auschwitz seien Pazifisten schuld gewesen.
Nein! Nein!
Der Pazifismus sei daran schuld gewesen!
Das habe ich eben nicht gesagt!
Das haben Sie hier wörtlich gesagt!
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesminister ist bereit, auf diese Zwischenfrage zu antworten. Herr Schily, geben Sie doch die Möglichkeit! So kann man hier im Parlament nicht miteinander umgehen. Das ist gänzlich ausgeschlossen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 761
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, wir leben in einem Land, wo wir die Redefreiheit haben und vor allem in diesem Parlament die Redefreiheit haben. Ich habe hier die Freiheit, meine Meinung zu sagen.
Und ich nehme mir auch die Freiheit, Unterstellungen zurückzuweisen und mich dagegen zu wehren, daß mir Aussagen unterschoben werden, die ich nie gemacht habe.
Ich habe auf den verhängnisvollen Zusammenhang hingewiesen,
der zwischen dem Pazifismus der 30er Jahre und dem besteht,
was durch den Totalitarismus des Nationalsozialismus
deswegen entstanden ist,
weil auf Grund der pazifistischen Diskussion die freiheitlichen Demokratien sich selber geschwächt haben.
Eine weitere Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Weisskirchen.
Herr Bundesminister, nachdem Sie soeben gesagt haben, daß der Pazifismus in München verhandelt hat, frage ich Sie: Würden Sie denn Herrn Chamberlain als einen führenden Vertreter des Pazifismus betrachten? War er nicht eher ein Politiker des Appeasement,
und würden Sie bitte die Freundlichkeit haben, Carl von Ossietzky und Herrn Chamberlain
voneinander zu unterscheiden?
Aber Chamberlain und Daladier
haben — das wissen wir alle miteinander — in ihren außenpolitischen Entscheidungen auf die immer mächtiger werdenden pazifistischen Strömungen in ihren Ländern Rücksicht genommen.
— Lieber verehrter Herr Ehmke, in derselben Situation befinden wir uns auch heute. Der pazifistischen Gesinnung wird niemand einen Vorwurf machen.
— Nein, ich mache denjenigen, die den Pazifismus vertreten haben, natürlich keinen Vorwurf. Das ist ganz selbstverständlich. Aber die pazifistischen Strömungen haben die Möglichkeit gehabt, in den westlichen Demokratien ihre Auffassungen zu artikulieren, sie zu vertreten und um Mehrheiten zu kämpfen, und sie haben damit politischen Einfluß gehabt, während die Pazifisten im Deutschen Reich diese Möglichkeit nicht gehabt haben, sondern eingesperrt worden und umgebracht worden sind. Das ist doch der Unterschied, um den es geht!
Heute befinden wir uns in derselben Situation. Wir müssen uns in den freiheitlichen Demokratien mit den Folgen des Pazifismus auseinandersetzen.
Herr Bundesminister, Frau Hamm-Brücher möchte die nächste Zwischenfrage stellen.
Herr Präsident, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen mehr zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind bei der Auseinandersetzung um diese Frage — das erweist auch diese Diskussion — am Kernpunkt der gesamten Auseinandersetzung. Es geht um die Frage, ob wir als Politiker es uns erlauben können — der Verteidigungsminister hat das heute morgen schon gesagt —, die reine Gesinnung zur Grundlage einer politischen Entscheidung zu machen, oder ob wir nicht auch aus moralischen Gründen die Verantwortung tragen, die Folgen unserer Entscheidungen zu bedenken. Ich weiß, daß es viele gibt, die diese Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht akzeptieren, und zwar zum großen Teil auch dadurch, daß sie sich auf die Bergpredigt berufen.Viele berufen sich auf die Bergpredigt. Ich finde, diese Auseinandersetzung um die Bergpredigt ist etwas, was die Diskussion auch in der Friedensbewegung und darüber hinaus — ich sage: in der sogenannten Friedensbewegung, weil, so hoffe ich, wir alle in diesem Parlament zur Friedensbewegung gehören, auch wenn wir uns nicht organisieren — —
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762 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. Geißler— Daß Sie dies schon in Frage stellen, ist ein Zeichen des Unfriedens!
Genauso, wie wir es nicht für möglich halten, daß jemand den Frieden einseitig für sich in Anspruch nimmt, sind wir nicht bereit, zu akzeptieren, daß jemand die Bergpredigt allein und ausschließlich für sich in Anspruch nimmt und anderen die Möglichkeit abspricht, die Politik, auch die moralische Position, auf der Bergpredigt aufzubauen.
Die Bergpredigt ist zunächst einmal eine persönliche Herausforderung an jeden einzelnen Christen, an jeden einzelnen! Meine Damen und Herren — —
— Wenn Sie nach der Bergpredigt leben würden, würden Sie mich jetzt vielleicht einmal ausreden lassen,
sozusagen als Zeichen friedlicher Gesinnung. Es gehört zum friedlichen Nebeneinander, daß man den anderen nicht zusammenschreit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese persönliche Herausforderung muß jeder für sich entscheiden. Wenn alle Völker, alle Länder, alle Staaten nach der Bergpredigt leben würden, bräuchten wir, Herr Schily, in der Tat keine Waffen. Das ist klar. Aber wir leben nicht in einer solchen Welt. Es gibt viele Theologen — es sind die meisten —, die uns noch nicht einmal ein Leben auf dieser Erde so, wie sie es sich vorstellen, verheißen.
Herr Schily, es muß doch der Bundesminister, der Redner hier, die Möglichkeit haben, seine Gedanken vorzutragen, ohne permanent gestört zu werden.
Herr Schily und Herr Fischer, bei dieser Art der Konzentration der Zwischenrufe handelt es sich nicht mehr um Zwischenrufe im Sinne der Geschäftsordnung, sondern das sind störende Elemente.
Der Präsident ist dann gezwungen, hier Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kennen diese, ich will nicht sagen,Praktiken, aber auf jeden Fall die Praxis, jemanden nicht mehr zu Wort kommen zu lassen, aus einer ganzen Reihe von anderen Veranstaltungen.
Ich möchte nur sagen: jemanden zum Schweigen zu bringen, jemanden zum Schweigen bringen zu wollen, z. B. durch Schreien, durch psychische Gewalt, das sind totalitäre Praktiken. Das ist meine Meinung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie von der Bergpredigt sprechen, dann müssen Sie das gesamte Christentum nehmen. Niemand ist gezwungen, im Sinne des Christentums zu glauben und das Evangelium ernst zu nehmen, wenn aber jemand die Bergpredigt ernst nimmt, dann muß er auch die andere christliche Wahrheit ernst nehmen und zur Kenntnis nehmen — das hat etwas mit dem Pazifismus zu tun —, daß es nämlich das real existierende Böse gibt, und zwar nicht nur im einzelnen Menschen und zwischen den einzelnen Menschen,
sondern, weil es sich um Menschen handelt, auch zwischen den Völkern und Staaten. Deswegen kann und muß es ein Ausdruck und eine Verpflichtung der Nächstenliebe sein, unrechte Gewalt von anderen Menschen abzuhalten.
Im Hirtenwort der Bischöfe heißt es:
So ist aber das Wort „Leistet dem, der euch Böses tut, keinen Widerstand" kein neues radikales Gesetz, aus dem für das Handeln des einzelnen und des Staates unter allen Umständen ein Verzicht auf Anwendung von Gewalt abzuleiten wäre. Wo ein solcher Verzicht auf Kosten des Wohles anderer, zumal dritter geht, kann es sogar gegen die Absicht Jesu sein. In seinem Namen haben Christen um der Nächstenliebe willen zugunsten von Armen, Schutzbedürftigen und Entrechteten deren Unterdrückern wirksam entgegenzutreten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, es gehört zu unserer Verpflichtung auf Grund der Forderung der Nächstenliebe, unrechte Gewalt von denen abzuwenden, für die wir verantwortlich sind, im Innern wie nach außen.
Ich sage, ich habe Respekt vor jedem, der von der Bergpredigt zum Pazifismus kommt. Wir müssen uns aber jenen widersetzen, die aus der Bergpredigt nur das herauslesen, was ihnen politisch in den Kram paßt. Denen muß man sich widersetzen.
Wenn, dann gilt schon das ganze Christentum. Ichhalte es z. B. für unglaubwürdig, wenn Ostermarschierer Abrüstung fordern und gleichzeitig Geld
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 763
Bundesminister Dr. Geißlerfür Waffen in El Salvador sammeln. Das halte ich für unglaubwürdig.
Franz Alt hat sich vor den Ostermarschierern zu Ostern im Zeichen des Friedens für den Schutz des ungeborenen Lebens eingesetzt;
er ist dafür von Teilen der Ostermarschierer ausgepfiffen worden. Ich halte es für unglaubwürdig, gegen Gewaltanwendung zu demonstrieren und Gewalt gegen ungeborenes Leben hinzunehmen. Beides zusammen geht nicht.
Die halbe Bergpredigt ist keine Bergpredigt. Wer sich für Abrüstung und den Abbau von Gewalt in der Welt einsetzt, der darf eben auch nicht schweigen zu Mauer, Schießbefehl und Todesanlagen mitten in Deutschland. Beides gehört zusammen.
Wir dürfen nicht schweigen — dies ist richtig — zur sozialen Ungerechtigkeit auf der ganzen Welt. Das geht auch nicht. Wer sich auf die Bergpredigt beruft, der muß sich genauso für die Bekämpfung des Hungers in der Welt einsetzen. Wir hier in der Bundesrepublik Deutschland können uns nicht mit der Tatsache zufriedengeben, daß die Bundesrepublik Deutschland mehr Entwicklungshilfe leistet als der gesamte Ostblock zusammen.Die Bergpredigt verlangt von uns allerdings,
daß wir uns in der Erkenntnis der Existenz des Unrechts und des Bösen selber freihalten vom Denken an Vergeltung, daß wir Konflikte friedlich lösen und die Zusammenarbeit auch mit dem Gegner anstreben und zu Verhandlungen und zu Verträgen immer bereit sind. Und dies hat auch zur Folge — das ist ein klarer Satz, den der Bundesverteidigungsminister heute morgen gesagt hat —: Die Bundesregierung, wir Christliche Demokraten, wollen keine militärische Überlegenheit, sondern wir wollen Gleichgewicht. Wir wollen stark sein, aber wir wollen keine militärische Überlegenheit.Noch zum Doppelbeschluß der NATO, weil immer wieder die Behauptung aufgestellt worden ist, wir, die Bundesregierung, würden sagen: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen". Es wird gefragt: Ja, warum wollt ihr dann im Herbst neue Raketen aufstellen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? — Der NATO-Doppelbeschluß war von Anfang an nichts anderes als ein Fahrplan zur Abrüstung. Und wenn die Verhandlungen in Genf so ausgehen, wie wir es von Anfang an beabsichtigt haben, wie es der Westen von Anfang an gewollt hat, dann wird es am Ende dieser Verhandlungen nicht mehr Waffen in Europa geben, sondern weniger Raketen in Europa.
Deswegen stimmt beides zusammen: unser Einsatz und unser Eintreten für den NATO-Doppelbeschluß und gleichzeitig für die Forderung: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen".Ich habe über das Kernproblem unserer moralischen Auseinandersetzung gesprochen.
— Sie haben mich j a nicht einmal bei diesem Punkt ausreden lassen. Es ist doch fast nicht möglich gewesen, eine schwierige, eine zentrale Frage, eine Frage, mit der sich Millionen von Menschen beschäftigen, und zwar auf Grund moralischer Überlegungen, die Frage nämlich, was wir in dieser Grenzsituation tun, zu welcher Entscheidung wir kommen können, hier in Ruhe zu erörtern. Aber ich habe meine und unsere Position hier dargelegt.Ich behaupte auf der Basis dessen, was ich gesagt habe, und mit dieser Erkenntnis, daß in dieser moralischen Grenzsituation ein Christ aus voller Überzeugung und im Geist der Bergpredigt j a sagen kann zu unserer Verteidigungspolitik, konkret auch zum NATO-Doppelbeschluß.
— Daß Sie „nein" sagen, beweist wiederum, daß Sie nicht bereit sind, in einer friedlichen Diskussion, in einer friedlichen Auseinandersetzung den Weg zu beschreiten,
der darin besteht, daß wir miteinander ringen, auf welche Weise wir dieses Ziel des Friedens am besten sichern können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als abschließende Bemerkung noch etwas zu den konkreten Folgerungen sagen, die wir in der öffentlichen Diskussion, zum Teil auch hier im Parlament zu erörtern haben werden. Es ist vom Widerstandsrecht und von der demokratischen Legitimation die Rede.Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
— Ich zitiere hier das Grundgesetz. Das Grundgesetz sagt weiter — und das müssen Sie zur Kenntnis nehmen —:Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung,— also dem Deutschen Bundestag — der vollziehenden Gewalt,— also der deutschen Bundesregierung — und der Rechtsprechung— also zum Beispiel dem Bundesverfassungsgericht —ausgeübt.
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764 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Bundesminister Dr. GeißlerDie Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.Und jetzt fährt das Grundgesetz fort:Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, ...
Ein Recht zum Widerstand gibt es daher nicht gegen den Deutschen Bundestag, nicht gegen die deutsche Bundesregierung,
nicht gegen die freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung, sondern Widerstand gibt es nur zum Schutze dieser Ordnung.
Die Bundesregierung ist in der Frage des Widerstandsrechts einer Meinung mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Widerstand gilt es gegen diejenigen zu leisten, die ihre Minderheitenmeinung durch eine Beugung der Verfassung der Mehrheit mit Gewalt aufzwingen wollen. Dagegen ist Widerstand zu leisten.
Ich füge als letztes hinzu: Die Bundesregierung verfügt auch über die unmittelbare politische Legitimation für ihre Entscheidungen im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses. Am 6. März wußte jeder Wähler, daß die Christlich Demokratische Union, die Christlich-Soziale Union und die Freie Demokratische Partei für die Verwirklichung des NATO- Doppelbeschlusses eintreten würden. Fraglich war dies allenfalls bei den Sozialdemokraten. Die Sozialdemokraten haben einen Wahlkampf um die Raketen geführt, und sie haben diesen Wahlkampf verloren.
Wir haben für unsere Politik der umfassenden und kontrollierten Abrüstung im Rahmen des NATO- Doppelbeschlusses auch die Legitimation durch den Wähler. Wir brauchen keine neue Volksbefragung. Die Volksabstimmung war am 6. März 1983.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Scheer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte und habe noch vor, auf die Äußerungen des Bundesministers Wörner von heute vormittag einzugehen. Dennoch wird es besonders notwendig sein, ausführlich auf die Dinge einzugehen, die Herr Geißler soeben vorgetragen hat. Das wird mein Kollege Ehmke nachher noch tun. Trotzdem kann ich das nicht ohne weiteres ohne Übergang einfach auf sich beruhen lassen und will auch von mir aus zwei Sätze dazu sagen.
Herr Geißler hat von „geistiger Führung" gesprochen und vor „geistiger Verwirrung" gewarnt. Ich sage das folgende nicht, um hier eine zusätzliche Polemik in die Debatte zu bringen. Ich selbst bin wahrscheinlich im strengen Sinne kein Pazifist; aber ich sage, daß es diesem Lande gutgetan hätte, wenn es in früheren Jahrzehnten mehr Pazifisten als Nazis und Militaristen in Deutschland gegeben hätte.
Ich sagte dies soeben, um einen Beitrag zur geistigen Entwirrung zu leisten.
Geistige Verwirrung, Herr Geißler, besteht auch dann, wenn man auf der einen Seite nach außen hin so tut, als mache man sich Sorgen um den Gebrauch von Begriffen, auf der anderen Seite aber tatsächlich — und das nicht nur heute — eine gezielte
geistige Spaltung des Volkes mit nahezu kriegswissenschaftlich ausgesuchten verunglimpfenden Begriffen betreibt.
Und geistige Verwirrung ist es wohl auch, wenn man Gesinnungsethik und Verantwortungsethik so gegenüberstellt. Herr Geißler, nach meiner Überzeugung gibt es keine Verantwortung ohne Gesinnung.
Wenn wir schon davon sprechen, daß Begriffe klar sein müssen, und wir heute über Abrüstung, über ihre Verhandlungen und ihre Chancen sprechen, dann ist es wohl wesentlich, daß wir auch hierbei sehr stark darauf aufpassen, gerade, wenn es um geistige Führung geht, daß nicht — insbesondere in der jüngeren Generation, aber auch darüber hinaus — der Verdacht weiterkeimt, daß von Abrüstung geredet werde, die tatsächliche Sachlage aber insgeheim auf Aufrüstung zielt. Das ist eines der Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, gerade, wenn es um die Glaubwürdigkeit von Begriffen geht. Wir müssen uns damit auseinandersetzen.Deswegen — damit komme ich auf Herrn Wörner und das, was heute vormittag auch von Bundesminister Genscher gesagt worden ist — ist es von großer Bedeutung, daß wir uns, wenn wir uns über Abrüstungsfragen unterhalten, nicht nur auf einseitige Schuldzuweisungen und auf einseitiges Fingerstrecken verlassen und damit im Grunde genom-
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Dr. Scheermen die tatsächlichen Dinge und Verantwortlichkeiten vernebeln. Ich will ein Beispiel dazu nennen. Es ist angemahnt worden, auch von der Bundesregierung — das halte ich für richtig — die Notwendigkeit eines umfassenden Teststoppabkommens. Schauen wir uns aber die jetzt 20jährigen Bemühungen an: Die Verantwortung dafür, daß es seit 1963 immer noch nicht zu einem Teststoppabkommen gekommen ist, liegt sicherlich nicht allein bei der östlichen Seite;
denn es geht bei diesem Teststoppabkommen um Kontrollen. Das hat damals ein umfassendes Teststoppabkommen verhindert. Heute sind die Techniken so weit, daß man solche ausführlichen Kontrollen an Ort und Stelle nicht mehr braucht; trotzdem gibt es kein umfassendes Abkommen. Es gibt dieses Abkommen doch wohl auch deshalb nicht, weil man nach wie vor — auch auf westlicher Seite —, Zeit haben will, um bestimmte weitere, neue nukleare Waffensysteme auszuprobieren. Wenn das dann der Sachverhalt ist, dann reicht eben die Überschrift „Wir wollen ein umfassendes Teststoppabkommen" nicht aus, sondern dann keimt der Verdacht, daß möglicherweise das Gegenteil geplant ist.Wir haben heute früh Wert darauf gelegt — durch die Ausführungen vom Kollegen Bahr —, daß es bei den umfassenden Kriterien bleibt, die 1979 zum NATO-Doppelbeschluß geführt haben. Wir haben ihn als ein Instrument verstanden, die Entspannungspolitik in den 80er Jahren fortzusetzen zu einer Rüstungskontrollpolitik, an der es, zumindest auf Europa bezogen, in den 70er Jahren in der Tat noch mangelte. Wesentliche Punkte für uns waren dabei: eine europäische nukleare Rüstungskontrolle im Rahmen der globalen Stabilität; wohlgemerkt nicht ein gesondertes regionales Gleichgewicht. Ein zweites wichtiges Kriterium war die Grundlage des Harmel-Berichts: Fortsetzung der Entspannung mit Rüstungskontrollen. Die dritte Grundlage war das SALT-II-Abkommen, und zwar nicht nur der Text — ich komme gleich noch darauf zu sprechen —, sondern der gesamte SALT-II-Rahmen, wie er im Sommer 1979 verabschiedet und vereinbart worden war. Der vierte Punkt war der Verhandlungsvorbehalt.Herr Minister Wörner, wenn Sie schon an frühere Dinge erinnern, die noch von der sozialliberalen Koalition gemacht worden sind — das ist etwas müßig, weil wir inzwischen andere Entwicklungen haben und Politik auch ein Resultat von Entwicklungen und Erfahrungen ist, die man dabei gemacht hat —, dann kann man auch daran erinnern, wie etwa Strauß den NATO-Doppelbeschluß wegen seines Verhandlungsteils als Geburtsfehler bezeichnet hat oder wie Sie selbst, Herr Wörner, noch 1979 den Verhandlungsteil für problematisch gehalten haben. Ich will Ihnen das nicht noch im nachhinein vorhalten. Nur hätten Sie im folgenden den Doppelbeschluß in seinem gesamten Rahmen tatsächlich übernehmen oder sich entsprechend dafür einsetzen müssen. Die Frage ist aber, ob dies tatsächlich so der Fall ist.Ich sehe im Moment die Gefahr, daß bei der Art und Weise, wie wir über den Doppelbeschluß diskutieren, er isoliert betrachtet wird, als mache er Politik aus sich selbst heraus, und daß das Handeln, das politische Handeln, und die tatsächliche Zielsetzung der Handelnden, die ja das eigentlich Wesentliche sind, dabei zu sehr außen vor bleiben. Und darum geht es aber. Wie wurde in den letzten Jahren auf der Grundlage dieses Beschlusses gehandelt?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Huyn?
Ja, gern. Vizepräsident Stücklen: Bitte schön.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der bayerische Ministerpräsident nicht deswegen den Verhandlungsteil in Frage gestellt hat, wie Sie sagen — er hat sich nur nachträglich kritisch darüber geäußert —, weil er nicht für Verhandlungen war, sondern gerade deswegen, weil er der Überzeugung war, daß, wenn die Atlantische Allianz nur beschlossen hätte, Maßnahmen zu ergreifen wegen der sowjetischen Vorrüstung — d. h., daß die Entschlossenheit der Atlantischen Allianz, dieser entgegenzutreten, das Entscheidende ist —, sie um so eher Verhandlungen mit der Sowjetunion zu erhalten hätte?
Ich respektiere, daß Sie Ihren Parteivorsitzenden hier interpretieren. Ich habe das interpretiert, was an öffentlichen Äußerungen tatsächlich überkam. Diese öffentlichen Äußerungen haben ihr politisches Eigenleben, insbesondere dann, wenn man später auf den Sachverhalt zurückkommt.
Gestatten Sie zu diesem Sachverhalt noch eine Zwischenfrage, und zwar vom Abgeordneten Horn?
Ja.
Herr Kollege Scheer, würde es genau im Sinn der von Ihnen eben gemachten Äußerungen liegen, wenn ich Herrn Strauß zitiere:
Die Unionsparteien stehen ohne Wenn und Aber zum Vollzug des Nachrüstungsbeschlusses. Wir haben uns nie der Illussion hingegeben, daß man durch einseitige Priorität für Verhandlungen das Gleichgewicht zwischen Ost und West wieder herbeiführen kann.
Strauß am 12. Juni 1981 in der „Wirtschaftswoche".
Das unterstreicht das, was ich gesagt habe.Herr Minister Wörner, ich will jetzt an einigen Punkten kurz aufzeigen, wo wir vermuten, und zwar teilweise ziemlich erhärtet vermuten, daß
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Dr. ScheerGrundlinien, wie sie 1979 vorgelegen haben und für uns maßgeblich waren und sind, nicht mehr erkennbar sind. Die Fragen, die man dabei zu stellen hat, müssen Sie sich gefallen lassen. Wenn ich bei diesen Grundlinie vor allem auch auf die amerikanische Regierungspolitik verweise, dann hat das nichts mit einseitiger Betrachtungsweise zu tun; denn unsere Interessen bei den Genfer Verhandlungen werden ja von amerikanischer Seite aus vertreten. Um so wichtiger ist es, daß wir hier natürlich aufpassen, ob wir richtig vertreten werden. Das muß ja unser Anliegen sein. Deswegen ist der Verweis darauf, daß man häufig von der amerikanischen Position redet und nicht gleichzeitg von der sowjetischen, eigentlich billig und eher Ausdruck einer wohl ungewollten Äquidistanz bei denjenigen, die uns so etwas vorwerfen.Ich will folgenden Punkt hervorheben. Ist es noch der Beschluß, wenn inzwischen zunehmend die Positionen durchkommen, daß erst stationiert werden solle und dann möglicherweise erst der richtige Verhandlungsdruck bestehe? Das hat z. B. Generalsekretär Luns von der NATO in der letzten Woche selbst noch gesagt. Herr Kollege Todenhöfer hat vor einiger Zeit ausgeführt:Mit unseren Bündnispartnern sind wir darüber einig, daß die Sowjetunion möglicherweise erst dann zu wesentlichen Konzessionen bereit ist, wenn der Westen, wie vorgesehen, mit der Dislozierung beginnt und sie nötigenfalls planmäßig zu Ende führt.Das ist nicht mehr der Doppelbeschluß. Und Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, ob dieses nicht doch eine neue Linie ist und von der alten abweicht.Ein zweiter Punkt. Herr Minister Wörner, SALT II war eine Grundlage. Es gab bei SALT II eine gemeinsame Erklärung. Diese gemeinsame Erklärung über die Prinzipien und grundlegenden Richtlinien für Anschlußverhandlungen über die strategischen Rüstungen enthielt auch die Vereinbarung über Verhandlungen über die Lösung der Fragen, die im Protokoll zum Vertrag enthalten sind. Das waren die Fragen der künftigen Cruise Missiles, deren Einführungsverbot gemäß Protokoll des SALT-II-Vertrages Ende 1981 auslief.Diese Verhandlung gemäß der gemeinsamen Erklärung hat nie stattgefunden. Statt dessen ist Ende 1981 die Entscheidung der neuen Regierung in den Vereinigten Staaten bekanntgeworden, mehrere tausend nuklear geladener Cruise Missiles auf Flugzeugen und Schiffen einzuführen. Das sind Mittelstreckenraketen. Sie sind im Moment nicht Bestandteil der Mittelstreckenraketenverhandlungen, obwohl diese Mittelstreckenraketenverhandlungen mit einem globalen Ansatz geführt werden.Das SALT-II-Rahmenwerk ist offensichtlich doch nicht eingehalten. Auf jeden Fall haben wir es hier mit einer veränderten militärischen Lage in dem Bereich zu tun, mit dem wir uns hier auseinandersetzen.Ein dritter Punkt: die britischen und französischen Systeme. Es geht nicht in erster Linie darum, wieviel britische und französische Systeme es gegenwärtig gibt. Es geht zwar darum, daß wir natürlich nicht daran vorbei können, daß Großbritannien und Frankreich zu Europa gehören, daß es sich um Mittelstreckenraketen handelt, daß beide Länder zur NATO gehören, wenn auch in unterschiedlicher Form, daß beide sagen, ihr Potential sei Teil der Abschreckung des Westens überhaupt. Es geht darum, daß sowohl Großbritannien als auch Frankreich in den 80er und 90er Jahren einen Aufwuchs ihrer Systeme planen, der bis zu einer Versiebenfachung und Verachtfachung ihres jetzigen Nuklearpotentials führt.Dann kann man dieses Potential nicht mehr vergessen, wie Bundeskanzler Helmut Kohl und auch andere aus den Reihen der CDU/CSU immer wieder sagen. Das ist nicht mehr möglich. Wenn es um europäische nukleare Rüstungskontrolle geht, dann muß man das doch wohl berücksichtigen. In welcher Form auch immer — es muß berücksichtigt werden.Die Hauptargumente lassen sich bei den Briten und Franzosen im Kern darauf zurückführen, daß sie bei den Verhandlungen nicht beteiligt seien. Warum werden dann aber nicht Wege gesucht und formuliert, die diese unmittelbare Einbeziehung möglich machen, da es doch um eines der wichtigsten Ziele für unseren ganzen Kontinent geht?Es hieß im Zusammenhang mit solchen Vorschlägen — etwa bei dem Wernke-Vorschlag —, eine Nichtstationierung der amerikanischen Raketen bei gleichzeitiger Berücksichtigung britischer und französischer Potentiale bedeute eine Abkoppelung von den Vereinigten Staaten. Auch dieses Argument wirft Fragen auf. Es gibt bisher keine Mittelstreckenraketen der Amerikaner in Westeuropa. Waren wir nach dieser These also bisher abgekoppelt? Diese These wird doch wohl keiner aufstellen.Geht es also nicht sehr viel mehr denjenigen, die diese These vertreten, darum, auf jeden Fall eine Nachrüstung zu vollziehen, auf jeden Fall in bestimmten Größenordnungen? Ist hier nicht möglicherweise doch ein neues Konzept, das noch nicht offen ausgesprochen ist, unterwegs, das Mittelstreckenwaffen im Rahmen eines neuen NATO- Konzepts, gemixt mit konventionell bestückten Mittelstreckenwaffen, gewissermaßen als neues, wie es so fachmännisch heißt, Interdiktionskonzept einführen will?Welche Wirkungen hätte dieses? Würde es die nukleare Schwelle tatsächlich heben? Besteht nicht die Gefahr durch die Vermischung von nuklearen und konventionellen Waffen, daß diese Schwelle gesenkt wird? Besteht nicht die Gefahr, daß dann die nukleare Rüstungskontrolle unmöglich gemacht wird? Wenn solche Konzepte heute unterwegs sind — daran besteht wohl kein Zweifel, wenn man die Verlautbarungen genau liest —, stellen sich für uns neue Notwendigkeiten, darauf politisch zu antworten.Ein fünfter Punkt. Es gibt sowjetische Vorschläge. Dazu ist sicherlich noch einiges nachzufragen.
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Dr. ScheerAber 1978 gab es 642 Sprengköpfe, die gegen Westeuropa gerichtet waren. Der Vorschlag des sowjetischen Generalsekretärs Andropow sieht vor, bietet an, daß bis auf 450 Sprengköpfe zurückgegangen werden soll. Das wäre eine Größenordnung, die unter der Zahl von 1978 liegt. Warum wird auf solche Angebote nicht konkret eingegangen? Das läge doch wohl im Sinne des Beschlusses von 1979. Warum wird überhaupt verhandelt, wenn auf solche Angebote nicht eingegangen wird? Oder will man überhaupt ein entsprechendes Ergebnis? Auch diese Fragen müssen Sie sich gefallen lassen.Damit komme ich zum Schluß zum Verhandlungsansatz. Herr Wörner, Sie heben — sicherlich zu Recht — hervor, daß die Verhandlungsansätze, die auch von der neuen Regierung nach dem 1. Oktober übernommen worden sind, älteren Datums sind. Trotzdem muß man hierzu wohl einige Worte verlieren. Wir haben früheren Verhandlungsansätzen zugestimmt, weil wir froh waren, daß mit den Verhandlungen überhaupt erst einmal begonnen worden ist; denn das stand lange in Frage. Dabei haben sich von Anfang an folgende zwei Probleme ergeben, und auch darüber müssen wir heute diskutieren. Das eine Problem sind die gesonderten Mittelstreckenraketen-Verhandlungen, und das zweite Problem ist die Ausgangsposition der Null-Lösung auf beiden Seiten.Auch unmittelbar danach haben wir bereits gesagt, daß sich diese Positionen selbstverständlich verändern müssen, weil sie in dieser Form unrealistisch sind und zu keinem Ergebnis führen können. Deswegen ist es falsch, sich mühsam an solche Eröffnungspositionen zu klammern, möglicherweise als Ausrede dafür, daß man sich jetzt nicht mehr weiter bewegt. Das Problem ist doch unverkennbar, daß es sich bei den Mittelstreckenraketen um ein isoliertes Problem handelt, das die Verhandlungen auf Ergebnisse hin erschwert. Es ist ein doppeltes isoliertes Problem, da zum einen nur über Mittelstreckenraketen gesprochen wird, zum anderen nur über landgestützte Mittelstreckenraketen gesprochen werden soll und gesprochen wird und trotzdem ein globaler Verhandlungsansatz vorhanden ist. Dieses wirft Probleme auf, die selbst bei strengem Verhandlungs- und Erfolgswillen gegeben wären.Deswegen kommen wir zu dem Ergebnis, daß START-Verhandlungen und Mittelstreckenraketen-Verhandlungen in eine Verbindung gebracht werden müssen, um aus diesen künstlichen Verhandlungsausschnitten, die für sich schon ein Hindernis darstellen, herauszukommen. Das alles meinen wir mit den strengsten und allerstärksten Anstrengungen, die gemacht werden müssen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Es tut uns sehr leid, daß wir diese allergrößten Anstrengungen gegenwärtig vermissen müssen und statt dessen eine Veränderung der von uns einmal eingeleiteten Politik auf teilweise sehr grundlegende Art feststellen müssen. Dieses wäre nicht mehr unsere Politik und zwingt uns zu neuen Antworten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stehen im Herbst in der Tat vor einer Bewährungsprobe unserer Demokratie. Wir entscheiden nicht nur über Waffen, wir entscheiden auch darüber, ob das demokratische Europa noch den Willen zur Selbstbehauptung hat, ob es sein Gesellschaftssystem noch für verteidigungswürdig hält oder ob sich Europa innerlich bereits der sowjetischen Überlegenheit des Ostens gebeugt hat.
Abrüstungspolitik hat für die CDU/CSU einen sehr hohen Stellenwert. Angesichts der großen Zukunftsprobleme der Menschheit, angesichts der Probleme in der Dritten Welt, angesichts der Umweltprobleme, angesichts der Arbeitslosenfrage ist die ständige Steigerung der Rüstungsausgaben in der ganzen Welt ein unerträgliches Ärgernis.
Unsere Abrüstungspolitik versucht mitzuhelfen, ein Gleichgewicht der verteidigungspolitischen Optionen auf möglichst niedrigem Niveau herzustellen. Keine Seite — weder der Osten noch der Westen — soll die Möglichkeit haben, sich auf Grund ihrer militärischen Potentiale Vorteile zu verschaffen. Unsere Abrüstungspolitik ist Gleichgewichtspolitik. Wir wollen Gleichgewicht, wir wollen kein Übergewicht. Wir wollen ein Maximum an Sicherheit bei einem Minimum an Rüstung.
Zu unserer Politik der aktiven Friedenssicherung gehört, daß wir auf alle Waffen verzichten, die wir zur Abschreckung und zur Verteidigung nicht brauchen. Es gibt Waffen, die von keiner Seite benötigt werden. Das gilt beispielsweise für chemische Waffen. Wir brauchen neben der nuklearen Abschrekkung keine chemische Abschreckung.
Das Gleichgewicht bei den chemischen Waffen muß weltweit und überprüfbar Null zu Null lauten.Die CDU/CSU vertritt den NATO-Doppelbeschluß in seinen beiden Teilen. Horst Ehmke hat am 1. April 1981 hier im Deutschen Bundestag mit dankenswerter Klarheit festgestellt, daß dieser Beschluß nicht auf eine Forderung der Amerikaner, sondern auf eine Forderung der Europäer zurückgeht. Er heißt j a auch nicht ganz zu Unrecht „Helmut-Schmidt-Doppelbeschluß". Jeder Satz dieses Doppelbeschlusses ist mit den Sozialdemokraten abgesprochen worden. In über 18 Sitzungen der Besonderen Beratungsgruppe der NATO, der sogenannten special consultative group, ist die Verhandlungsposition des Westens Punkt für Punkt mit der SPD-geführten Bundesregierung abgestimmt worden. Wenn die SPD, wenn führende Sozialdemokraten jetzt in der Opposition den NATO-Doppelbeschluß — teilweise offen, teilweise verdeckt — be-
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Dr. Todenhöferkämpfen, dann bekämpfen sie ihre eigene Abrüstungspolitik.
— Führende sozialdemokratische Politiker, wie z. B. Egon Bahr.
Dann bekämpfen Sie die eigene Abrüstungspolitik der SPD.Die Regierung Kohl/Genscher hat ihre Rüstungskontrollpolitik fugenlos von der Regierung Schmidt/Genscher übernommen.
Die SPD hat weder eine moralische noch eine politische Legitimation, dieser Abrüstungspolitik der Bundesregierung unter Helmut Kohl ihre Unterstützung zu versagen. Wir fordern daher die SPD auf, in der Abrüstungspolitik wieder zur Gemeinsamkeit der großen demokratischen Parteien unseres Landes zurückzukehren. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kelly.
Liebe Freundinnen und Freunde!
Die parlamentarischen Mehrheiten stoßen an moralische Grenzen. — Herr Geißler, ich möchte zu Ihnen ganz gewaltfrei sagen: Lernen Sie Bekehrung, und lernen Sie die Umkehr, denn Sie haben Todesstrukturen und sehr viel Liebloses heute aufgebaut. Ihre Sprache stellt den Tod des Denkens dar, denn was machen Sie mit der Verantwortung, die die Wähler Ihnen als Minister, der für die Jugend verantwortlich ist, gegeben haben?
Unter uns war heute der argentinische Friedensnobelpreisträger Perez Esquivel anwesend; vielleicht hätte er einen Teil ihrer Redezeit benutzen dürfen, Herr Geißler, um hier seine Vorstellungen vom Frieden darzustellen.
Mein Bruder Polizist mein Bruder Soldat,
— vielleicht hören Sie mir zu —
vergib mir,wenn ich Dich nötigedurch mein einfaches Dasitzenauf der Straße,mich als ein Hindernis,das die sogenannte Ruhe und Ordnung dieses Staates angeblich stört,wegzutragenmit der Kraft Deiner Arme.Ja, nimm mich, ich bin ganz friedlich,ich leiste keinen Widerstand, außer, daß ich mich stelle wie leblos.Es ist notwendig,daß Du daraus lernstsolche Art lebloswirst Du einst daliegenmit gebrochenen Augen, zerrissener Lungein der Stunde des Ernstfalls,wenn Du unsere Warnung nicht lernstvor dem Wahnsinn dieser Waffen dieser letzten Waffenin jenem letzten aller Kriege!Dieses Gedicht, Herr Geißler und Herr Wörner, werden wir, die Friedensbewegung und diese Fraktion, geschlossen bei der gewaltfreien Blockade in Schwäbisch-Gmünd im Herbst 1983 wiederholen.
Vielleicht haben Sie noch nicht begriffen, daß strukturelle und persönliche zerstörende Gewalt unserem innersten Wesen fremd ist. Wenn wir gewaltfreien Widerstand, sei es durch Rüstungssteuerboykott, sei es durch solche Friedensfeste wie den Evangelischen Kirchentag, leisten, so berufen wir uns auf die Worte von Erzbischof Hunthausen, der über diese atomaren Waffen und die Androhung, sie einzusetzen, gesagt hat — ich zitiere —: Das ist das Auschwitz der Menschheit.
Der atomare Rüstungswettlauf, immer wieder und wieder von der NATO initiiert — die NATO ist j a bekanntlich zuerst gegründet worden —, von der amerikanischen Administration sowie auch durch die Nachrüstung der Sowjetunion vorangetrieben, ist der wahnsinnige Versuch von Menschen, Herr Geißler, Gott noch einmal umzubringen. Wir berufen uns auch auf die Worte von Papst Leo XIII — ich zitiere —: „Wenn aber die Staatsgesetze sich offen gegen das göttliche Recht auflehnen, ... dann ist Widerstand Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen." Die NATO verzichtet nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen. Warum beantworten Sie, Herr Wörner, nicht die Frage, warum die Pershing II nicht auch in anderen europäischen Ländern stationiert wird? Sie wollen, Herr Wörner, so sagten Sie, die „Politik der Abschreckung" überwinden. Doch die Mittel für die Friedensforschung in diesem Lande sind geringer als die Mittel für den Werbeetat der Bundeswehr.
Es gibt keine eindeutigen sittlichen Grenzen in der Abschreckungsstrategie mehr, Herr Geißler. Während die gewaltfreie Friedensbewegung schon in den Anfängen des Krefelder Appells 1980 ständig kriminalisiert und diskriminiert worden ist — mal war es Verteidigungsminister Hans Apel, mal war es Helmut Schmidt, mal ist es wieder ein christli-
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Frau Kellycher Politiker —, verhalten sich die NATO-Regierungen und auch Helmut Kohl mit seiner Regierung formal zwar legal, tatsächlich aber anarchistisch, illegal und menschenfeindlich. Ohne den Deckmantel der Legalität könnten unsere Regierungen den atomaren Wahnsinn mit Erstschlagwaffen nicht betreiben. So bewegen wir uns in Richtung Massenmord und Selbstmord — alles im Namen der Legalität. Sollte jemals ein amerikanischer Präsident oder sowjetischer Kreml-Chef auf den Knopf drücken und die menschliche Geschichte beenden, so wird auch das legal sein — legal im Rahmen der herrschenden Vorstellungen und Gesetze. Doch ich erinnere daran, Herr Geißler, daß es der Grundsatz von Hitler war, immer wieder zu sagen: „Gesetz ist Gesetz." Hitler mußte seine Verbrechen legalisieren und alle Andersdenkenden damals kriminalisieren.
Weil das Gesetz Gesetz, also das Gesetz des Staates der einzige Maßstab für das Gewissen war,
mußte daraus folgen, daß es kein höheres Gesetz geben könne, daß man sich nicht auf ein Gesetz des Gewissens berufen dürfe.Wir alle — in Europa, in Amerika, wie auch in den Ostblockstaaten —, die sich solchen Entwicklungen von unten widersetzen, stehen außerhalb des herrschenden Gesetzes,
und zwar in dem Maße, in dem wir ernsthaften und gewaltfreien Widerstand im Sinne von Martin Luther King und Gandhi leisten.
Jede staatliche Macht, Herr Geißler, ist relativ. Wenn man Gehorsam als Stück gelebter Gemeinschaft versteht, dann hat Loyalität dort ihre Grenze, wo die Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt und gefährdet wird. Das Ja zum Staat ist immer nur ein bedingtes Ja. In allen diesen Ländern ist man dabei, Massenmord zu legalisieren und Andersdenkende zu kriminalisieren. Das verbindet uns mit der Friedensbewegung von unten in der DDR. So werden wir untereinander loyal, niemals aber den Militärblöcken gegenüber.
Ihre Politik, meine Herren, sei es die Gewaltanwendung in der Wirtschaft durch Rohstoffkriege, Schnelle Eingreiftruppe oder US-Interventionspolitik in Lateinamerika, sei es die Gewaltanwendung in der Politik — kürzlich sprach man ja in Kopenhagen, wo auch das neueste „NATO-Mitglied" Japan dabei war, von der „Diplomatie der Abschrekkung" —, schafft das Umfeld von Gewalt, in dem wir leben müssen.Sie, Herr Geißler, sprechen von einer Mauer durch beide Teile Deutschlands. Aber es gibt auchMauern in Irland-Süd und -Nord und auch zwischen Nord- und Südkorea. Es gibt Mauern in beiden Blöcken.Wenn Sie dann auch noch, Herr Geißler, in Ihrer „Friedensrede" von der Gewalt gegen ungeborenes Leben sprechen, dann sollten Sie auch über die Politik der finanziellen Unterschlagung sprechen, warum 16 Millionen Kinder in der Dritten Welt jährlich sterben und warum z. B. Männer nicht in unserem Strafgesetzbuch beim § 218 vorkommen und sie lieber dazu übergehen, uns Frauen zu bestrafen — wenn Sie allerdings von dieser Gewalt sprechen.
Wir werden uns an diese Gewalt, an diese Ungerechtigkeit nicht gewöhnen. Aber am allerwenigsten — an die Adresse von CDU/CSU und FDP — können wir es hinnehmen, daß die Gewalt durch die Androhung von Massenvernichtungswaffen als ein Erfordernis des Glaubens dargestellt wird, als Rettung humanistischer und christlicher Werte, die verteidigt werden müssen.Die sogenannte Sicherheitspolitik, die Sie uns verkaufen, macht uns unsicher. Im Zeichen des Kampfes gegen das „Zentrum des Bösen", so Herr Reagan, den Kommunismus, benutzen Sie dieselben Waffen und dieselben Methoden, deren Gebrauch Sie der anderen Seite vorwerfen. Sie planen also weiterhin Bösartigkeiten, um Bösartigkeiten zu verhindern.Die Atomwissenschaftler zusammen mit Gustav Heinemann hatten 1956 appelliert: Wir dürfen nicht das Leben von Millionen Menschen bedrohen, auch nicht um der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit willen. Hat auch Gustav Heinemann damals zur „geistigen Verwirrung" beigetragen? Ist das Ihre Meinung, Herr Geißler? Das ist die Absage an westliche wie östliche Rechtfertigung von Massenvernichtungswaffen in gleicher Weise, auch die Absage an den Vorbehalt, daß es nötig sein könnte, eine letzte Zuflucht zu solchen Waffen zu nehmen. Das umfaßt auch die Absage an Frau Thatcher, die am 8. Juni 1983 erklärt hat, sie würde nicht zögern, den Einsatz britischer Atomwaffen anzuordnen, und betont hat, nukleare Abschreckung setze voraus, daß man bereit sei, auf den Knopf zu drücken.Aber die innere und äußere Aufrüstung geht voran. Im „Bayernkurier" steht geschrieben, daß wir im Herbst nicht nur friedliche Massendemonstrationen organisieren, aber auch das mit unseren Schlägertrupps tun würden. Und von den sogenannten christlichen Parteiangehörigen wie von Herrn Pachmann ist zu hören, daß eine Bürgerwehr organisiert wird, um gewaltfreie Demonstranten in Schwäbisch-Gmünd höchstpersönlich zu entfernen. Die FAZ berichtete, daß amerikanische Soldaten auf Demonstranten schießen dürfen, wenn diese eine militärische Einrichtung in der BRD blockieren. So zeigt sich, wie unsere Gesetze die Bombe schützen und nicht die Menschen.Vielleicht aber sollten gerade christliche Politiker den Art. 25 im Grundgesetz noch einmal lesen, in dem steht:
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770 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Frau KellyDie allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten für alle Bewohner ...Das heißt, Herr Wörner: Das Verbot, sich an der Vorbereitung militärischer Angriffswaffen zu beteiligen, und das Verbot, den Ersteinsatz von Massenvernichtungswaffen zu planen, das sind völkerrechtliche Pflichten, die nicht nur den Staat BRD,
sondern auch jeden seiner Bewohner unmittelbar binden.Sehen Sie nicht den offenkundigen Gegensatz zwischen Völkerrecht und NATO-Planung — gewiß nicht, denn Sie beginnen ja mit den Vermessungs- und Stationierungsarbeiten, noch ehe die Genfer Gespräche beendet sind. In Neu-Ulm, Heilbronn und Mutlangen vermessen Soldaten die künftigen Feuerstellungen und installieren die elektronische Ausrüstung. Eingesetzt für die Vorbereitungen sind auch bundesdeutsche Dienste wie der MAD, der Vorsorge zu treffen hat. Leitende Polizeibeamte haben schon die Bauplätze für die Stationierung besichtigt. Das US-Hauptquartier in Heidelberg hat Verstärkung der US-Landstreitkräfte angefordert, und Bundeswehreinheiten sollen Bewachungsringe um die Stationierungsorte ziehen. Während wir unseren gewaltfreien Widerstand planen, wird auch das Demonstrationsrecht verschärft.Doch laut Nordatlantikvertrag ist die NATO entschlossen — ich zitiere —,die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten.Doch 1974 walzten die griechischen Obristen das, was die NATO gewährleisten und schützen soll, mit ihren Panzern nieder, angeleitet vom US-Geheimdienst CIA.Nicht weniger brutal herrschen heute die NATO- Generäle in der Türkei. Und die Bundesrepublik leistet es sich immer noch, ihnen weiterhin Militär- und Wirtschaftshilfe zu gewähren, nachdem Sie einst die portugiesischen Diktatoren und dann die griechischen Obristen unterstützt haben. Die USA sind dabei, die Zahl ihrer Stützpunkte in der Türkei zu vergrößern und die vorhandenen auszubauen. Die NATO betrachtet die Basen auf türkischem und kurdischem Territorium als besonders wichtig für die Stärkung für die Süd-Ost-Flanke der NATO. Aber ist Ihnen nicht bekannt, daß die türkische Militärjunta wie auch die polnische und all die anderen in Ost und West gegen viele internationale Abkommen verstößt, z. B. gegen die Charta der Vereinten Nationen, gegen die Deklaration von Helsinki, gegen die Menschenrechtskonvention?Ich erinnere daran gerade Sie, die immer von Polen und Afghanistan sprechen. Sie sollten doch wissen, daß bei der Güterabwägung zwischen einer Stärkung der militärischen Südflanke der NATO und der Erhaltung elementarer Menschenrechte wir uns für die Menschenrechte entscheiden müssen.Was für ein glatter Hohn, wenn das Kommuniqué der Ministertagung in Paris von den freundschaftlichen Beziehungen und vom Wohlergehen in der Dritten Welt spricht und sogar erklärt — ich zitiere —:Die Staaten der Dritten Welt sollten sich politisch und sozial und wirtschaftlich ohne Einmischung von außen frei entwickeln können. Die Bündnispartner rufen zur Respektierung von Souveränität und echter Blockfreiheit auf.Nennen Sie es „ohne Einmischung von außen frei", wenn führende Geheindienstvertreter der Reagan-Regierung und hochrangige amerikanische Beamte gute Chancen für eine Niederwerfung der Sandinisten-Regierung in Nicaragua bis zum Jahresende voraussagen?
Ist es freundschaftlich und friedlich, und fördert es das Wohlergehen in der Dritten Welt, wenn William Casey, zur Zeit Direktor des CIA, in Ihrer Zeitung „Die Welt" am 8. Mai erklärt hat:Wir müssen ihre Kommunikationssysteme — die der Dritten Welt —sowie ihre Geheimdienste ausbauen. Wir brauchen eine Änderung unserer Gesetze, damit wir im Notfall Waffen schneller liefern können.Herr Casey meint weiter: Unsere NATO-Verbündeten und Japan — Japan ist ja neuestes NATO-Mitglied seit der letzten Tagung in Paris, wie ich höre — müssen eine gemeinsame Strategie entwickeln, um Investitionen in der Dritten Welt zu fördern.Vielleicht sollte Herr Lambsdorff — aber er ist nicht da — das hören, was Herr Casey, Direktor des CIA, erklärte: Die Sowjets sind hilflos, wenn sie in diesen Ländern mit dem Privatkapital konkurrieren müssen.In aller Offenheit verkündeten ja die Tageszeitungen wie auch der CIA-Chef in Ankara, der jetzige Vertreter im Nationalen Sicherheitsrat, Paul Henze, daß die Türkei ein Modell für die Länder der Dritten Welt ist. Sie wird — ich zitiere — „wie Chile zu einem Hort von Stabilität".Leider spricht auch die SPD in ihrem Antrag von der Türkei als einem uns in der NATO eng verbundenen Partner.Am Beispiel Türkei kann man sehen, daß in der NATO nicht nach moralischen Maßstäben, sondern nach Zweckmäßigkeit gehandelt wird.Auch im Europaparlament war man schon dabei, darüber zu entschließen, daß durch den Ausbau ihrer Flotten die EG-Länder den Schutz der Seewege selber in die Hand nehmen können. Hier manifestiert sich eine neue Strategie der USA sowie der NATO. Denn die Regionen des Persischen Golfs und der Anliegerstaaten sind von militärischem In-
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Frau Kellyteresse, um ihr Einflußgebiet zu sichern und neue Absatzmärkte zu erobern.Und soeben haben im Befehlsbunker in Großbritannien, von wo die Befehle im Falkland-Konflikt ausgegangen sind, die NATO-Marinekommandeure einen Mangel an Kriegsschiffen aller Art entdeckt — trotz ihres dichten US-Marine-Stützpunktrings rund um die Welt.Als allerletztes: Auf der Ministertagung des NATO-Rats in Paris wurde auch verkündet: Einzelne Mitgliedsregierungen, die dazu in der Lage sind, werden sich bemühen, souveräne Staaten, deren Sicherheit und Unabhängigkeit bedroht sind, auf deren Ersuchen hin zu unterstützen. Es heißt weiter: Diejenigen Bündnispartner, die in der Lage sind, die Verlegung von Streitkräften nach außerhalb des Vertragsgebiets zu erleichtern, können dies auf Grund nationaler Entscheidungen tun.Was heißt das eigentlich? Was sind das für Gedanken in diesem Kommuniqué? Ich glaube, die Politik wird immer deutlicher. Man zeichnet ein Feindbild, das man braucht. Dann führt man einen amerikanischen Interventionskrieg — morgen am Persischen Golf oder vielleicht sogar bald einen atomaren in Europa.Ich komme zum Schluß. Das Feindbild sieht ganz merkwürdig aus: Wo immer es unterdrückte und ausgebeutete Menschen gibt, steckt nach Ansicht des Herrn Reagan und der NATO die Sowjetunion dahinter. Doch man schweigt über die Vorgehensweise der amerikanischen Konzerne in der Dritten Welt, man schweigt gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika, man schweigt und bedauert die 120 000 verschwundenen Menschen in Zentral- und Lateinamerika.
Wir wollen nicht ebenfalls zum amerikanischen Hinterhof werden.
Frau Abgeordnete Kelly, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wir wenden uns gewaltfrei gegen diese Politik.
Meine Damen und Herren, es ist deutlich, daß fast alle in diesem Saal an ihre eigenen moralischen Grenzen gestoßen sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Ehmke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute morgen die Regierung sich in einer gewissen Rollenverteilung präsentieren sehen. Herr Kollege Genscher hat eine sehr formale Rede — fast mit gestanzten Formeln — gehalten, und wenn ich die Herren des Auswärtigen Amtes nicht so hoch schätzen würde, würde ich sagen, es war eine Beamtenrede.
Herr Wörner hat dagegen etwas stärker die Fanfaren geblasen und hat manches an „Rettet die Freiheit"-Parolen gebracht, was wir aus früheren Zeiten aus ideologischen Kreuzzügen des Kollegen Barzel in Erinnerung haben.
Wenn nicht inzwischen in der Bundeswehr die Innere Führung eingeführt worden wäre und sich darum nicht auch der Kasinoton geändert hätte, würde ich fast sagen, er hat hier im Kasinoton gesprochen.
Herr Kollege Wörner, ich verstehe nicht, daß ein Mann, der so viel weiß wie Sie, der so nachdenklich ist, glaubt, diese Debatte im Hause und nach außen mit Parolen und Platitüden bestreiten zu müssen.
Ich bin der Meinung, die SPD hat sich mit ihrer „Handreichung" zur Sicherheitspolitik sehr viel Mühe gemacht, die sicherheitspolitische Lage und die sicherheitspolitischen Alternativen darzustellen. Wir haben auch gezeigt, daß man in der Tat die Raketenfrage im Gesamtbündnisrahmen und außerdem im Rahmen der Entwicklung der Strategiedebatte sehen muß. Ich denke, Herr Kollege Wörner, wir könnten vom Verteidigungsminister mindestens eine so ernste Anstrengung, die Probleme zu behandeln, verlangen, wie die SPD-Fraktion sie unternommen hat.
— Da Sie uns nicht loben, muß ich uns einmal selbst loben.Meine Herren, wenn ich mir jetzt einmal Ihre Lage ansehe, so ist es doch in Wirklichkeit so, daß wir mit diesem Papier in der Öffentlichkeit — auch bei den konservativen Zeitungen — ein großes Echo gehabt haben. Das liegt doch nicht nur daran, daß das Papier ziemlich gut ist, sondern auch daran, daß man ja bis weit in Ihre Kreise hinein glücklich wäre, wenn sich das ermöglichen ließe, was die SPD dort als Ziel unserer Sicheheitspolitik aufgeschrieben hat.
Aber nach außen wagen Sie das nicht zuzugeben, sondern treten hier in der Pose von Herrn Wörner auf: der starke Mann mit den starken Nerven. Das von den starken Nerven höre ich nun schon jeden zweiten Tag, aber in Wirklichkeit haben wir von Ihnen bis jetzt nur starke Worte gehört, aber keine Lösungen. Wie es um die Nerven steht, werden wir in einigen Monaten ja noch sehen.
Nun, der Dritte in der Runde war Herr Geißler. Der sollte nach der Beamten- und der Kasino-Variante — sozusagen als CDU-Moralist — die besinn-
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liche Einlage machen, aber dabei hat er sich nur noch einmal als ein schlimmer Eiferer mit einem skrupellosen Umgang mit der Wahrheit entpuppt.
Ich habe selten eine Rede, die im Geist so wenig christlich war, gehört, bei der man sich so oft auf Jesus Christus berufen hat.
Vielleicht sollte man Herrn Geißler einfach die Teilnahme an evangelischen und katholischen Kirchentagen für deren volle Dauer als Zwangsübung verschreiben.
Das, was Herr Geißler hier vertreten hat, hat in dem Bereich, aus dem er kommt, Vorläufer und Vorbilder, aber leider nur schlechte. Sie lassen sich mit dem Schlagwort, das Sie auch gut kennen, bezeichnen, daß man im Bewußtsein der Relativität kein Blut vergießen kann. Aber das hat mit christlichem Glauben nichts zu tun.Herr Geißler hat hier gesagt, der Pazifismus habe Auschwitz möglich gemacht. Dann hat er, bedrängt von Frau Kollegin Hamm-Brücher und anderen, gesagt, er habe nicht den Pazifismus gemeint, sondern die Appeasement-Politik von Daladier und Chamberlain. Nun muß ich zunächst einmal sagen, die Appeasement-Politik ist nicht Pazifismus. Übrigens ist die Appeasement-Politik auch nicht Friedenspolitik, wie wir sie getrieben haben, das will ich gleich dazusagen.
Um nun mit der Geschichtsklitterung ein wenig aufzuräumen, will ich zunächst einmal sagen: Die Maginot-Linie war sicher kein Ausdruck von Pazifismus, wohl aber ein Ausdruck falschen sicherheitspolitischen Denkens.
Der verehrte Neville Chamberlain war nicht ein Pazifist, er war ein britischer Rechter, der mit vielen anderen Konservativen in Europa die Meinung teilte, wenn man zu dem Herrn Hitler ein bißchen nett sei, könnte er vielleicht gegen die Bolschewisten ganz nützlich sein.
Herr Abgeordneter Ehmke, Frau Hamm-Brücher würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich, gnädige Frau.
Herr Kollege Ehmke, weil ich die Frage vorhin nicht mehr an den
Herrn Minister Geißler loswerden konnte, möchte ich sie jetzt an Sie richten:
Ist es wirklich richtig, daß in den 30er Jahren auf Druck von pazifistischen Bewegungen in den westlichen Demokratien abgerüstet worden ist? Ist es nicht im Gegenteil so, daß überall — man denke nur an die Maginot-Linie, die Flottenrüstung in Großbritannien — aufgerüstet worden ist und daß Hitler nur schneller aufgerüstet hat als die anderen?
Frau Kollegin, ich stimme Ihnen zu. Die Wahrheit ist, man hat gemeint, man könne Hitler benutzen, und ist hinterher von ihm mit Krieg überzogen und geschlagen worden.
— Nein, Herr Kollege Haase, ich möchte jetzt auch einmal zu Ende sprechen.Was den wirklichen Pazifismus betrifft, so ist hier mit Recht der Name Carl von Ossietzky schon genannt worden. Die persönliche Intervention von Ernst Waltemathe hat dasselbe noch einmal aus unseren Reihen unterstrichen.
Der Pazifismus hat Auschwitz nicht möglich gemacht, er ist in Auschwitz umgekommen.
Auschwitz möglich gemacht hat die deutsche Rechte in Weimar, die Hitler in den Sattel geholfen hat.
— Ja, das stimmt, aber das ist jetzt nicht mein Thema.Wenn irgend etwas an der Geißler-Rede interessant war, dann war es dies, daß sie noch einmal unterstrichen hat, welche Verbindung es noch heute zwischen dieser Tradition der deutschen Rechten und Teilen der Unionsparteien gibt. Mein Kollege und Freund Alex Möller hat bei anderer Gelegenheit darüber in diesem Hause alles Notwendige gesagt.
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Dr. Ehmke
— Ich weiß, jetzt schreien Sie „Pfui", aber erst klatschen Sie, wenn Herr Geißler den Pazifismus für Auschwitz verantwortlich macht.
Ich will Ihnen etwas sagen: Dieser Mann, den Sie zum Minister für Jugend und Familie gemacht haben und der bei jedem seiner Auftritte den Ungeist der Intoleranz verkörpert,
der ist geradezu ein Symbol dafür, was an Ihrer Koalition „christlich" und „liberal" ist.
Aber auch von Herrn Geißler werden wir uns nicht abbringen lassen von den Fragen, die der Herr Kollege Bahr heute morgen gestellt hat und auf die zu meinem großen Erstaunen der Kollege Wörner mit keinem Wort eingegangen ist. Der Bundeskanzler, der angesprochen ist, glänzt durch Abwesenheit.
— Das stimmt nicht? Das stimmt schon seit mehreren Stunden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Schäuble? — Bitte!
Herr Kollege Ehmke, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß der Bundeskanzler zur Vorbereitung des europäischen Gipfels in dieser Stunde ein Gespräch mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments führt?
Schönen Dank, das nehme ich zur Kenntnis. Dann ist er sicher entschuldigt.
Ich bin sicher, daß Herr Wörner ihm berichten wird, was ich hier zu sagen habe.Herr Kollege Wörner, der Kollege Kolbow hat sich schon auseinandergesetzt mit dem, was Sie zu Bahrs Darstellung der Entwicklung des Doppelbeschlusses gesagt haben.
Herr Kollege Wörner, die SPD und Helmut Schmidt haben diesen Doppelbeschluß als Instrument angesehen und sehen ihn noch dafür an, um Druck auszuüben,
und zwar auf beide Supermächte, und dieses Instrument hat ja auch seine begrenzte Nützlichkeit erwiesen, denn ohne es würden heute Verhandlungen in Genf gar nicht stattfinden. Und worum es jetztgeht, Herr Kollege Wörner, ist, mit diesem Instrument in Genf auch zu einem Ergebnis zu kommen.
Von einem Automatismus war überhaupt nie die Rede, außer vielleicht in Ihren militärischen Planungen und denen Ihrer Vorgänger. Die SPD-Beschlußlage ist da völlig klar. Übrigens war es die SPD-Beschlußlage, die die deutsche Bundesregierung dann auch mit veranlaßt hat, auf die Aufnahme des letzten Satzes in den Doppelbeschluß zu bestehen.
Sie berufen sich doch immer auf frühere Beschlüsse, die wir gemeinsam gefaßt haben, z. B. den vom 26. Mai 1981. Verehrte Kollegen, in diesem Beschluß steht — ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren —:Er unterstreicht in diesem Zusammenhang die Feststellung des Doppelbeschlusses, daß der Westen den Bedarf an Mittelstreckenwaffen der NATO im Licht konkreter Verhandlungsergebnisse überprüfen wird.
Und darauf berufen wir uns hier.
Herr Kollege Wörner, wenn es überhaupt einen Schwenk gegeben hat, dann doch wohl einen Schwenk der deutschen Regierung, nachdem Herr Kohl Bundeskanzler geworden war. Da fuhr er nämlich nach Amerika. Ob das nun mehr aus Wahlkampfinteresse war, um sich für den Wahlkampf als der große Freund von Präsident Reagan darzustellen, oder aus sachlicher Unkenntnis, die Wahrheit ist doch, daß der große Schwenk vollzogen worden ist, als der Bundeskanzler zu unserem Entsetzen — und zum Erstaunen der Amerikaner, füge ich hinzu — in Washington erklärte, es gebe eine automatische Aufstellung, er würde sogar aufstellen, wenn die anderen nicht aufstellten. Der Herr Bundeskanzler hat das nie bestritten. Er hat immer nur gesagt, wenn ihm Fragen gestellt wurden, daß die NATO-Planung anders aussehe. Das ist wahr. Dank Helmut Schmidt sah sie anders aus.Die Wahrheit ist doch: Helmut Kohl hat sich in eine Position begeben, in der er fast keinerlei Einflußmöglichkeiten mehr auf Amerika hat.
Das ist der Schwenk in der Politik mit dem Doppelbeschluß. Wenn Sie Helmut Schmidt fragen, wird er Ihnen sagen, daß ihn ganz bis zum Schluß der sozialliberalen Koalition nur eine Frage bewegt hat:
Soll er Schluß machen, oder soll er nicht Schluß machen? Denn er hatte Angst, daß das Abtreten seiner Regierung dazu führen würde — und leider ist diese Befürchtung bestätigt worden —, daß Washington macht, was es will, und wir nicht mehr
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unsere Position in Washington voll zur Geltung bringen. Das ist der eigentliche Schwenk, und es hat gar keinen Zweck, davon abzulenken.
Wenn ich mir jetzt die Situation in Genf ansehe, so kann von Transparenz, Herr Kollege Genscher, wirklich keine Rede sein. Sie selbst haben heute den Schleier der Formalität darübergelegt. Ich darf zunächst einmal sagen, daß der Doppelbeschluß davon ausgeht, SALT II würde ratifiziert und die eurostrategischen Waffen würden dann im Rahmen von SALT III behandelt werden. Der amerikanische Kongreß hat SALT II nicht ratifiziert. Wir kamen dann, um überhaupt einmal anzufangen, zu den INF-Verhandlungen, begrenzt auf eurostrategische Raketen — Sie nicken mir zu —, dann kam START, und das Logische wäre gewesen, beides zusammenzuführen. Dann wäre man in etwa wieder beim Doppelbeschluß gewesen. Das hat man nicht getan. Darum sagen wir mit dem amerikanischen Repräsentantenhaus, was dieses mit Zwei-Drittel-Mehrheit in Ziffer 6 der „Freeze-Resolution" beschlossen hat, man sollte das jetzt tun, man würde damit zum Doppelbeschluß zurückkehren.Was wäre der große praktische Vorteil davon? Der Vorteil wäre vor allem, Herr Kollege Genscher, daß man im Rahmen von INF und START eine viel größere Möglichkeit hätte, Einigung über ein Gesamtgleichgewicht zu erreichen. Wir haben früher oft darüber geredet — es ist nicht mehr, aber es war Politik der deutschen Regierung —, daß wir nicht ein isoliertes eurostrategisches Gleichgewicht wollen, weil auch ein solches uns von den USA abkoppeln könnte. Sie werden sich sicher an viele solche Gespräche erinnern.Also, Herr Kollege Genscher, von Transparenz kann überhaupt keine Rede sein. In Williamsburg ist ein Kommuniqué verabschiedet worden. Darin wird gesagt: In den INF-Verhandlungen könnten die britischen und französischen Systeme nicht behandelt werden. Und es klingt so an: Eventuell könnten sie dann bei START behandelt werden. — Heute lese ich in der Zeitung, daß unter Vorsitz des Abrüstungsbeauftragten der Bundesregierung, Herrn Dr. Ruth, ein Treffen mit Herren des Auswärtigen Amtes in Bonn stattfinde, die mit Abrüstung zu tun hätten. In dem Bericht steht der Satz, man könne über britische und französische Systeme bei START reden. — Und ich sage Ihnen: Man wird darüber reden. Es ist doch völlig unglaubwürdig, in eine Entwicklung zu gehen, in der nach den bestehenden Plänen Frankreich und Großbritannien 1990 zusammen etwa 1200 nukleare Sprengköpfe haben werden, den Sowjets aber zu sagen: Das ist nur „Butterbrot". Diese Position ist doch nicht ernst zu nehmen.
Man konnte aus Williamsburg also in etwa heraushören: Bei INF geht es nicht, es geht bei START. — Nun hat aber der amerikanische Unterhändler, bevor er die Verhandlungen wieder aufnahm, ausdrücklich erklärt: Auch bei START wird über britische und französische Systeme nicht geredet. —Herr Kollege Genscher, das ist das Gegenteil von Transparenz.
Hier wird verschleiert, was die eigentliche Position ist. Und Sie dürfen nicht damit kommen, daß dies alles so ablaufen könne und keine Auswirkung auf die innenpolitische Entwicklung und das Verhältnis zum Bündnis haben werde. Ich kann davor nur warnen.
— Nein, Johnny, entschuldigen Sie, wir heizen nicht an, sondern wir versuchen, hier noch einmal zu sagen, daß Sie nicht glauben dürfen, überall mit Tricks, mit Ausweichen und mit Ausklammern durchzukommen. Ihr Kanzler ist zwar ein Kanzler des Ausklammerns; aber er wird scheitern, wenn er das auch bei dieser Gelegenheit versucht.
Etwas ist hier gesagt worden, worüber Herr Kollege Wörner seine Späßchen gemacht hat. Vielleicht hört Herr Wörner mir sogar einmal zu.
— Bei Ihrer Intelligenz lohnt es sich für Sie nie zuzuhören, weil Sie alles wissen, Herr Kollege Jäger. Das ist selbstverständlich richtig.Herr Kollege Wörner hat gesagt: Bei der NullNull-Lösung muß doch Null herauskommen. — Das hat eine gewisse Logik. Der Kollege Bahr hatte aber etwas ganz anderes gesagt; nämlich: Die NATO hat im Doppelbeschluß gesagt, wir sollten den weiteren Aufwuchs der sowjetischen SS-20-Raketen stoppen. — Von einer Null-Null-Lösung ist im NATO-Beschluß nichts enthalten. Herr Wörner, Sie könnten sagen: Es war doch die von Ihnen geführte Regierung, die dann in Genf mit zu dieser Ausgangsposition gekommen ist. — Ja! Ich sage Ihnen, Herr Kollege Wörner: Wir sind dazu gekommen, weil wir ohne diese die Amerikaner gar nicht an den Verhandlungstisch gebracht hätten.
Wir haben nämlich sehr viel mehr Zeit dafür gebraucht, die Reagan-Administration an den Verhandlungstisch zu bringen, als im Falle der sowjetischen Führung. Das haben Sie hoffentlich nicht vergessen. Man sollte doch jetzt nicht so tun, als ob das alles schon 1979 im Beschluß enthalten war.Es hat in den Genfer Verhandlungen eine substantielle Bewegung gegeben. Das war der „Walk in the woods", d. h. der Waldspaziergang der Herren Nitze und Kwizinski. Ich wiederhole eine Bemerkung von Egon Bahr: Unsere kritische Haltung gegenüber der amerikanischen Position in Genf bezieht sich nicht auf den Unterhändler. Wir reden über diejenigen, die die Instruktionen geben.
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Ich sage das noch einmal, damit unsere Darlegung nicht als Angriff auf den Unterhändler verstanden wird, vor dem wir großen Respekt haben, wenn wir seine Meinung auch sicher nicht in allem teilen.Eine der wirklichen Bewegungen — politisch klug und überlegt — war, daß der Westen für eine substantielle Reduzierung der sowjetischen SS-20- Raketen auf die Pershing II verzichten sollte. Meine Damen und Herren, muß ich das hier noch einmal sagen — diesbezüglich werden ja auch Märchen erzählt, wird Intransparenz erzeugt —: Diese Möglichkeit der Einigung ist nicht erst in Moskau und dann in Amerika abgelehnt worden. Sie ist parallel in Moskau und in Washington abgelehnt worden, und zwar ohne daß wir konsultiert worden sind. Auch die Regierung ist nicht konsultiert worden. Das würde mich aber noch nicht aufregen.Was mich wirklich aufgeregt hat, Herr Kollege Genscher, ist, daß Sie dann zur Vorbereitung des Kanzlerbesuches nach Amerika gefahren sind und dort die Position übernommen haben: Es muß bei der Pershing II bleiben. — Darüber ist in der amerikanischen Administration lange gestritten worden. Sie haben sich auf die Seite derer geschlagen, die sich jetzt schließlich in Washington durchgesetzt haben: Es muß beim Waffen-Mix bleiben. Der Herr Bundeskanzler hat sich dann natürlich ganz ergebenst diese Position auch zu eigen gemacht, als er in Washington war.Ich muß Ihnen sagen: Dies war ein schwerer Fehler, ein schweres Versäumnis der neuen Bundesregierung. Das können Sie nicht auf den Doppelbeschluß schieben.
Das müssen Sie vielmehr darauf zurückführen, daß Sie sich gegenüber Washington in eine Position gebracht haben, in der Sie nur noch wenig bewegen können. Man kann sehr darüber streiten, ob unser lieber Freund Helmut Schmidt seinen pädagogischen Eros immer in der richtigen Form verströmt. Das ist wahr.
Wenn es darum geht, wer der Liebste in Amerika ist, wird er den Wettbewerb mit Herrn Kohl nie gewinnen können. Das wissen wir. Aber deutsche Interessen hat er wahrgenommen!
Jetzt sagen Sie: Na ja, den Nitze-Vorschlag und die Verbindung von INF und START haben wir uns abgeschminkt. Aber wir haben ja eine „Zwischenlösung". Herr Kollege Genscher, diese Zwischenlösung ist ein eindeutiges Abweichen vom Doppelbeschluß. Mit ihm ist nicht nur der Vorteil des Nitze-Vorschlags weg. Der Doppelbeschluß sagt, Herr Kollege Klein, daß man zwar de jure auf Parität besteht — das hat auch etwas mit dem amerikanischen Senat zu tun —, aber auf eingehende Vorhaltung gerade der deutschen Seite, der Herren Kollegen Genscher und Apel, hat man sich dann darauf geeinigt, daß es nicht darum gehen kann, eine numerische Gleichheit in eurostrategischen Waffen anzustreben.So kam die Zahl 572 zustande. Man sagte: Eine numerische Gleichheit sähe so aus, als ob man einen Krieg mit diesen Waffen auf Europa beschränken könne. Das würde auch eine Abkoppelungsgefahr mit sich bringen. Es wurde daher bewußt die numerische Nichtgleichheit gewählt.Dieser wichtige Grundsatz der früheren deutschen Regierung, der in der NATO durchgesetzt worden ist, ist durch das, was Sie „Zwischenlösung" nennen, verlassen worden.
Sie sind mit der „Zwischenlösung" auf den Boden der numerischen Gleichheit gegangen. Man sagt: Auf jeder Seite gibt es gleiche Zahlen, sei es, daß man Sprengköpfe zählt, sei es, daß man Raketen zählt. Das ist das Gegenteil dessen, was ursprünglich beabsichtigt war, und macht übrigens eine Einigung sehr viel schwerer.
Auch dagegen, Herr Kollege Genscher, kommt kein Einwand aus Bonn. Der Nitze-Vorschlag fällt weg. Dann wird plötzlich numerische Gleichheit hineingeschoben. Bonn macht das alles mit.Sie dürfen sich nicht wundern, daß bis hin zu Helmut Schmidt Zweifel an der Verhandlungsbereitschaft aufkommen, wenn solche Abweichungen vorgenommen werden, während man aus Bonn kein Wort hört, abgesehen von der treuen, ergebenen Zustimmung.
— Es ist die, die jetzt vorgeschlagen ist. Irgendeine Zwischenlösung — aber mit numerischer Gleichheit — ist vorgeschlagen.Jetzt kommt ein Punkt, Herr Genscher, auf den ich Sie schon im Ausschuß angesprochen habe. Ich würde Sie gern noch einmal dazu hören. Er war einer der Zentralpunkte des Doppelbeschlusses. Herr Baudissin hat ihn als einen modernen Vorschlag für Rüstungskontrolle gelobt, weil er nämlich Verhandlungen über Waffen vorschlug, die noch gar nicht da waren.Das hat übrigens etwas mit dem Freeze-Gedanken zu tun. Solange wir nicht wirklich die Entwicklung von Waffen, schon wenn sie auf dem Reißbrett sind, in die Hand kriegen, dann wird die Politik in Ost und West mit hängender Zunge den Technologien nachlaufen.
Und das sowjetische System hat nicht mehr Kontrolle über seine Labors und über seine Generäle als das westliche.Ich will Ihnen ein Beispiel geben, wenn ich das hier einschieben darf: Die SS 20 ist nicht als Europarakete gebaut worden. Gebaut war die sowjetische Interkontinentalrakete SS 16. Dann hat man sich in Wladiwostok auf den Rahmen von SALT II geeinigt. Jetzt konnten die Sowjets die SS 16 nicht mehr bauen. Dann sind die Marschälle in der Sowjetunion zum Politbüro gegangen und haben gesagt: Schmeißt das Ding nicht ganz weg; wir neh-
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men eine Stufe weg; dann haben wir eine Zweistufenrakete. Das ist die SS 20.
— Ja. Aber es ist trotzdem interessant, wozu die Waffe ursprünglich gedacht war. Im übrigen lesen Sie doch bitte einmal, was die SPD-Fraktion zur Bedrohung durch SS 20 in der letzten Woche wiederholt hat! Ich sage nur: Die Rakete war ursprünglich nicht zur Bedrohung Europas gedacht. Das ist das eine.Das andere ist dies: Das ganze Problem kommt von Wladiwostok. Es ist ein Ergebnis der Rüstungskontrollverhandlungen. Das ist ironisch. Ich mache keinem einen Vorwurf. Aber es heißt, es ist ungeheuer wichtig, in der Rüstungskontrolle von bloßen Zahlenbegrenzungen wegzukommen, die dann einen qualitativen Wettlauf auslösen. In SALT I hat man gesagt: Wir beschränken die Zahl der Raketen. Dann hat man sie „ge-MIRV-t" — auf Neudeutsch —, d. h. man hat mehrere Sprengköpfe auf eine Rakete gesetzt. Man hat auf beiden Seiten dafür viele Milliarden ausgegeben. Und jetzt kommt der amerikanische Scowcroft-Bericht zu dem Ergebnis: Das war eine wahnsinnige Entwicklung; laßt uns zu Raketen mit einem Sprengkopf zurückkehren! Das heißt, einer der entscheidenden Schritte beim Doppelbeschluß war, daß es nicht um existierende Waffen ging, sondern daß ein Angebot gemacht wurde in bezug auf Waffen, die noch nicht existieren.Jetzt mache ich eine Pause, um dann wieder zu der Frage an den Kollegen Genscher zurückzukommen. — Sie hatten eine Frage.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Professor Ehmke, da Sie schon über die Vorgeschichte der SS 20 gesprochen haben: Können Sie uns bitte erklären, warum dann die Sowjetunion damals im Sinne des SALT-Prozesses auf diese Waffe nicht vollständig verzichtet hat, sondern daraus statt dessen eine neue Bedrohung für uns Europäer geschmiedet hat?
Ich kann das nur ahnen, da ich die Akten in Moskau nicht lesen kann. Ich nehme an, daß die Generäle den Politikern gesagt haben: Die SS 4 und SS 5 stehen seit Anfang der 50er Jahre, 600 Stück. Mit ihnen haben wir schon eine ganze Menge Unglücke gehabt. Wo wir nun schon die SS 16 stehen haben, laßt uns eine Stufe wegnehmen. Dann stellen wir die SS 20 an die Stelle der SS 4 und SS 5. Das ist Modernisierung.
Was erstens nicht erkannt wurde, ist, daß Europa die SS 20 mit Recht für eine andere Bedrohung hält als die der SS 4 und der SS 5. Und was zweitens von der Sowjetseite auch nicht berücksichtigt wurde, ist, daß die SS 4 und die SS 5 stationiert waren, als die Amerikaner noch eine große Überlegenheit im strategischen Bereich hatten. Dagegen besteht jetzt Parität.
Ich bin der Meinung, die SS-20-Rüstung ist ein kardinaler Fehler sowjetischer Politik. Ich habe meine Meinung insoweit nicht geändert. Ich sage nur: Interessant ist, daß dieses Problem als ein Nebenprodukt von Rüstungskontrollverhandlungen entstanden ist, die allein auf die Begrenzung von Zahlen gerichtet waren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Berger?
Nein, ich möchte jetzt weitermachen.
Ich komme zurück auf die Frage an Herrn Kollegen Genscher. Herr Kollege Genscher, das politische Washington äußert sich nicht nur offiziös, sondern offiziell in dem Sinne, daß mit einem Fortschritt bei den Genfer Verhandlungen erst zu rechnen sei, wenn die Stationierung angefangen habe. Es überrascht mich nicht, daß Herr Perle oder der Chef des Pentagon das sagen. Mich hat aber überrascht, daß das neulich auch vom amerikanischen Außenminister zu lesen war. Herr Genscher: Auch das ist ein eindeutiges Abweichen vom Doppelbeschluß.
— Herr Rühe, machen Sie es doch nicht so billig. Wir werden damit doch noch genug zu tun haben. Der Doppelbeschluß lautet: Wir verhandeln über Waffen, die noch nicht da sind, um zu verhindern, daß die Waffen hierher müssen. Jetzt wird das Gegenteil behauptet, als ob der Doppelbeschluß laute: Erst müssen die Klamotten her, dann kommt man überhaupt erst zu aussichtsreichen Verhandlungen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Kollege Ehmke, wären Sie bereit, zu unterscheiden zwischen der Analyse der Amerikaner im Hinblick auf die sowjetische Verhandlungsbereitschaft und einer eigenen Planung in diese Richtung?
Ich bin gern bereit zu unterscheiden. Nur, leider liegt beim zweiten Punkt, den Sie erwähnen, die Sache noch schlimmer.
— Ich möchte ja einmal in die Herzen oder in die Köpfe der Leute schauen können, die das behaupten.
— Nein, das ist nicht nötig. Die Antwort auf die Frage war beendet. Er sitze in Ruhe.
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Dr. Ehmke
Herr Rühe, ich möchte wirklich einmal wissen, wer von denen, die sagen, die Sowjets würden sich erst bewegen, nachdem stationiert worden ist, das ernst meint oder das überhaupt nur als Vorwand nimmt, damit erst einmal stationiert werden kann.
Die Lage der Sowjetunion, Jonny Klein, ist doch die: Sie haben bis jetzt die SS 22, SS 23 in ihre Verbände in der westlichen Sowjetunion eingeführt, haben sie aber bisher — verbunden mit einem Angebot in Genf auch über Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 1 000 km; jawohl, Herr Wörner, wir sind uns einig, hinsichtlich der Reichweite muß das noch ein bißchen tiefer gehen —, in die sowjetischen Verbände in Osteuropa nicht eingeführt. Sie kündigen uns an — und ich nehme das wörtlich —: Wenn die NATO stationiert, ist das erste, was sie tun, die Einführung dieser Waffen.Dann wird man bei uns sagen: Nun sind wir noch viel schlechter dran; denn die brauchen vom Harz nur drei Minuten, zielgenauer sind sie auch noch, also müssen wir wieder auf der westlichen Seite etwas machen.
— Ich komme j a gleich dazu. Ich frage zunächst einmal, ob wir uns beide einigen können, d. h. Sie mir nur nicht folgen können, sondern mir zu folgen bereit sind, daß es wirklich nicht glaubhaft ist, wenn einer sagt: Sowie stationiert ist, geht das aussichtsreiche Verhandeln überhaupt erst los. Das läßt schon der Prestigegesichtspunkt der Sowjets nicht zu. Nein, sie machen das, was sie ohnehin machen wollten, dann aber gestoppt haben: sie schieben mindestens diese Raketen nach vorne.Sie müssen sich aber auch folgendes überlegen: Eine Stationierung vor Ausschöpfung aller Verhandlungsmöglichkeiten ist eine Einladung zu einem innenpolitischen Konflikt in der Bundesrepublik.
Dann wird sich die sowjetische Führung in ihre Sessel zurücklehnen, um einmal zu sehen, wie das ausgeht.Statt diejenigen zu beschimpfen, die demonstrieren, die die Waffen nicht wollen, sollten Sie sich als verantwortliche Politiker überlegen, was Sie und was wir von unserer Seite aus tun können, um diese Dinge nicht noch schlimmer zu machen, als sie schon sind. Hier wird eine Theorie vertreten — erst stationieren, dann verhandeln —, die erstens im Gegensatz zum Doppelbeschluß steht und zweitens in ihren Erfolgsaussichten unglaubhaft ist.
Herr Kollege Wörner, Sie sagen — und Herr Weinberger hat dies auch erklärt —, es sei unerhört, daß Helmut Schmidt oder andere über Zweifel am amerikanischen Verhandlungswillen sprechen. Ich muß Ihnen sagen, die Amerikaner haben es uns im letzten halben Jahr sehr schwer gemacht, an ihren Verhandlungswillen zu glauben. Vieles von dem, was Manfred Wörner mit dem Pathos der Überzeugung hier als „unsinnig" bezeichnet hat, stammt aus der „Military Guidance" der amerikanischen Armee, verehrter Herr Verteidigungsminister. Es ist eine Sache, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Das mit der horizontalen Eskalation oder mit der begrenzten Kriegführung ist unsinnig." Sagen Sie das doch einmal denen, die das in die „Military Guidance" geschrieben haben! Das wäre eine Hilfeleistung für den Bündnispartner.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wörner?
Bitte.
Mich würde interessieren, ob Sie die „Military Guidance" gelesen haben, Herr Kollege Ehmke.
Ich habe das gelesen, was amerikanische Zeitungen und Zeitschriften darüber veröffentlicht haben, und habe festgestellt, daß diese Veröffentlichungen nicht dementiert worden sind.Um aber jetzt auf Ihren Antrag zu kommen, verehrte Kollegen von der Union: Er enthält viel weiße Salbe; aber ein Klassepunkt ist die Ziffer 10. Darin steht: Man muß vor allen Dingen auch — und die CDU will das — den Weltraum waffenfrei halten. Wir Deutschen werden das auch schon deswegen tun, weil wir noch gar nicht im Weltraum sind. Die Europa-Raketen sind leider bis jetzt eher Instrumente der Meeresforschung geworden,
und Waffen transportieren sie sowieso nicht. Aber dann bitte ich doch den Herrn Kollegen Wörner, hier heraufzukommen und unter Berufung auf Ziffer 10 des CDU-Antrages zu sagen, wie entsetzt er über die „war of stars-Rede" des amerikanischen Präsidenten war, zu der er mit von mir gebilligter Diplomatie nur erklärt hat, das sei ferne Zukunftsmusik. Hier ist eine Rede gehalten worden, die eine neue Rüstungsrunde einläutet. Hier ist eine Rede gehalten worden, von der viele Experten annehmen, sie bedeute das Ende des ABM-Vertrages. Und Sie stellen sich hier hin und sagen unter Ziffer 10: Aber der Weltraum darf nicht militarisiert werden! Das hat unser Hauptverbündeter in einer Präsidentenrede zum Programm erhoben, Herr Wörner. So geht es nicht: im Bündnis alles mitmachen und hier so tun, als ob nichts geschehen sei.
Nein, wir müssen aus eigenem Interesse und im Interesse des Bündnisses in aller Freundschaft sagen, daß wir von einer Politik der Konfrontation nichts halten. Herr Wörner, ich zitiere den Vorgänger des jetzigen amerikanischen Außenministers.
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Dr. Ehmke
— Herr Klein, vielleicht leihen Sie Ihr geneigtes Ohr wenigstens dem früheren amerikanischen Außenminister, zumal er vorher auch Allied Supreme Commander in Europa war. — Herr Haig hat gesagt, es sei eine seltsame Politik, die der Meinung sei, Amerika sei nicht stark genug, um mit der Sowjetunion zu verhandeln, wohl aber stark genug, um gegen die Sowjetunion einen Konfrontationskurs zu fahren. — Herr Haig hat recht: Es ist eine seltsame Politik.
Ich bleibe dabei, und ich spreche den Kollegen Genscher, den ich aus vielen Jahren der Zusammenarbeit in diesen Dingen kenne, persönlich an: Ich muß hier den schweren Vorwurf erheben, daß die deutsche Bundesregierung, u. a. durch das voreilige Vorpreschen des Bundeskanzlers, aber auch durch ihre generelle Politik, möglichst Streit zu vermeiden, in eine Position gekommen ist, in der sie wenig dazu beiträgt, die Linie, die den Doppelbeschluß getragen hat, durchzuhalten. Mit formelhaften Beschwörungen wie in Ziffer 1 und 2 Ihres Antrags vermag man da gar nichts.
Das sind doch Formeln des Versagens, die Sie da in Ziffer 1 und 2 haben. Wenn Sie das wirklich so meinen wie wir, muß etwas herauskommen, dann muß man auch auf Amerika drücken. Deswegen bitte ich Sie herzlich: Stimmen Sie den Abschnitten 2, 3 und 4 unseres Antrags zu. Daß wir bei dem „Freeze" verschiedener Meinung sind, ist mir klar. Wir können das ja getrennt abstimmen. Aber wer den Ziffern 2, 3 und 4 unseres Antragsentwurfs nicht zustimmt, der zeigt mir, daß er es in Genf mit wirklichem Druck nicht ernst meint.
Damit komme ich zum letzten Punkt, zur Frage des Stationierungsverfahrens. Da muß ich dem Kollegen Wörner sagen: Herr Wörner, ich verstehe das wirklich nicht, daß Sie nicht hier hochgehen und klarmachen und auf das antworten, was Herr Bahr gefragt hat. Wir werden Sie von dieser Antwort nicht entbinden.
Ich sage Ihnen: Hier gibt es nicht nur keine Offenheit — —
— Herr Kollege Wörner, erstens einmal rege ich mich im Augenblick nicht künstlich auf, sondern echt.
Zweitens danke ich Ihnen, daß Sie mich bei diesem wichtigen Punkt wieder zu etwas mehr Ruhe im Ton bringen; das will ich gerne aufgreifen.Ich will sagen, Herr Wörner: Hier gibt es weder Offenheit noch Transparenz. Was sich hier abzeichnet, ist am Ende eine Mißachtung dieses Hohen Hauses. Lassen Sie mich das hier einmal in Ruhe darlegen.Sie haben die Frage von Herrn Bahr nicht beantwortet. Der Bundeskanzler hat sie nicht beantwortet. Vielleicht war er auch überfordert: Herr Bahr hatte eine kristallklare Antwort gefordert. Das ist ein hoher Anspruch, den Herr Bahr da stellt.
Das Problem ist doch so, und das ist nicht Ihr Problem, das ist unser Problem.
— Ja, ich mache mit dem, was jetzt kommt, überhaupt keinen Vorwurf; ich analysiere zunächst.Die meisten Menschen im Lande denken, Stationierung heißt: Da werden die Raketen eingeflogen, hingestellt, und dann kann man damit schießen. Wie man weiß, ist es in Wirklichkeit anders. Die Stationierung ist ein Prozeß. Der Kollege Bahr hat heute schon Äußerungen von amerikanischen Militärexperten, deutschen Publizisten bis hin zu Herrn Wörner und Herrn Weinberger vorgetragen, in denen dieser Prozeßcharakter deutlich wird.Ich will die Gelegenheit benutzen, Herr Kollege Wörner, mich bei Ihnen zu entschuldigen, weil ich neulich meinem Fraktionsvorsitzenden gesagt habe, Sie hätten gesagt, die Stationierung beginne „nicht vor September". Ich habe mich überzeugt, daß das unrichtig war. Sie haben es nicht gesagt. Ich will mich ausdrücklich — obwohl es kein öffentlicher Vorgang war — bei Ihnen dafür entschuldigen, daß ich da einem Irrtum erlegen bin.Es gibt also einen Stationierungsprozeß. Der ist übrigens im Detail bei dem schon von Bahr zitierten Herrn Arkin dargelegt. Das sieht so aus: Erst kommt die Infrastruktur, da hatten wir uns auch geeinigt. Ob das Pershing II oder Cruise Missiles sind, die Infrastruktur, also alles, was aus Beton ist, wird als Vorbereitung gebaut.
— NATO-Infrastruktur; darüber haben wir ja in der letzten Legislaturperiode im Haushaltsausschuß lange diskutiert. — Dann ist Feierabend. Dann wird entschieden. Die nächsten etwaigen Schritte wären dann: Erst kommen Teile des Systems, dann kommen Teile der Waffen, dann kommen die Motoren und die Sprengköpfe, dann die Bedienungsmannschaften und deren Ausbildung und — Sie selbst haben es in dem Zitat gesagt, das Herr Kollege Bahr schon gebracht hat — am Ende soll im Dezember die Einsatzbereitschaft der ersten Einheit stehen.Jetzt möchte ich ausdrücklich noch einmal sagen: Nicht nur, daß diese Stationierung sich über mehrere Monate hinzieht, sondern auch der Zeitplan stammt von der Regierung Schmidt. Damit das hier ganz klar ist: Es ist ein Plan, den diese Regierung vorgefunden hat und der aus den Jahren 1979 und 1980, parallel zum Doppelbeschluß, stammt und der beinhaltet, die Stationierung vorzubereiten. Davon ist überhaupt nichts abzustreichen. Wir machen Ih-
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Dr. Ehmke
nen nicht den Vorwurf, Herr Kollege Wörner, Sie hätten etwas zum Negativen geändert. Wir machen Ihnen nicht den Vorwurf, Sie machten irgendetwas Sinisteres. Darum geht es überhaupt nicht; das möchte ich klarstellen. Es wird kein Vorwurf erhoben. Ich weiß, Herr Kollege Genscher: Die Regierung hat den Plan von der alten Regierung übernommen. Darüber gibt es überhaupt keinen Streit. Das ist mißverstanden worden. Das hat auch Herr Bahr nicht gesagt. Es geht um etwas ganz anderes: Diese alte Planung kommt in Konflikt mit der politischen Situation, wie sie jetzt ist. Das ist unser eigentliches Problem.
Die Zeitplanung ist vor vier Jahren gemacht worden. Damals hat man gehofft, in drei Jahren hätten wir längst ein Verhandlungsergebnis. Und die Soldaten mußten j a irgendwie planen. Denen ist kein Vorwurf zu machen.
— Natürlich ist denen kein Vorwurf zu machen. Die hatten den Auftrag, und sie sagen, parallel zu den Verhandlungen: wie sieht es aus, wenn stationiert werden soll? Aber wir haben schon in unserer „Handreichung" gesagt, Herr Kollege Wörner — ich werbe darum, Herr Dregger, daß wir uns in diesem Punkt einigen —: wir können doch nicht an einem vier Jahre alten Zeitplan, der außerdem unter dem Vorbehalt des Doppelbeschlusses steht, daß am Ende das Verhandlungsergebnis geprüft wird — das gilt natürlich auch für den Stationierungszeitplan —, bis zu einem Punkt festhalten, in dem folgende Situation entsteht.
— Herr Möllemann, darf ich es zu Ende machen? Seien Sie nicht böse. Ich komme auf Sie zurück.Die alte Planung gerät in Widerspruch zu der politischen Situation, wie sie sich entwickelt hat. Wie Herr Kollege Genscher und auch die amerikanische Seite uns gesagt haben, gibt es im Herbst eine Verhandlungsrunde vom 15. September bis 15. November. Dann soll der Deutsche Bundestag das Ergebnis beurteilen und entscheiden können. Kollege Genscher war erst anderer Meinung, aber sein Präsidium hat ihn zu unserer Freude auf den Pfad der Tugend geführt. Bevor der Deutsche Bundestag entscheidet, werden sich die Parteien noch äußern wollen. Die SPD hat einen außerordentlichen Parteitag in Aussicht genommen. Das alles wird bis etwa Dezember dauern.Herr Kollege Wörner, Herr Kollege Genscher — sagen Sie das, Herr Vizekanzler, bitte auch dem Kanzler —, wir können uns doch nicht im Ernst in eine Situation bringen, wo dieses Hohe Haus, alle Fraktionen zusammen, hier eine fulminante Debatte darüber führt, ob wir denn nun nach dem Verhandlungsergebnis stationieren oder nicht, und in Wirklichkeit stehen die Raketen längst hier. Es ist doch nicht Ihr Ernst, daß Sie das machen können.
Hier muß doch die Öffentlichkeit — ich will hier kein unparlamentarisches Wort gebrauchen — sich veralbert vorkommen, das Gefühl haben, daß sie und auch das Hohe Haus getäuscht werden. Sie machen das Parlament zum Gespött, und Sie machen diese Republik zum Gespött, wenn Sie in einer solchen Existenzfrage so verfahren, daß faits accomplis, daß vollendete Tatsachen geschaffen werden, weil das nun einmal vor vier Jahren zeitlich so eingeordnet war, während daß Parlament noch so tut, als ob es täte. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, daß Sie das machen wollen.
Sie wissen doch, wie das dann gehen wird. Es wird die Meinung wachsen: Na ja, das ist eben doch nur eine Bananenrepublik, das ist ein verlängerter Arm der US-Administration; nicht einmal das Parlament hat sich äußern können. Die Bürokratie des Bündnisses macht das ganz alleine.
Ich bitte Sie herzlich darum, dies nicht zu tun.Ich sage Ihnen noch ein Zweites. Gerade diejenigen, die wie Sie gegenüber den Friedensbewegungen, gegenüber Demonstrationen der Friedensbewegung, gegenüber Sit-ins usw. sagen, diese Frage dürfe nicht „auf der Straße" entschieden werden, müsse dann aber auch dafür sorgen, daß sie im Parlament entschieden wird. Wo soll sie denn sonst entschieden werden?
Wer auch nur einen Teil eines Waffensystems oder einer Waffe vor einer Entscheidung des Bundestages in die Bundesrepublik bringen läßt und damit das Parlament in eine Lage bringt, in der es nur zum Gespött werden kann, muß sich dann nicht wundern, was im Herbst in diesem Land passiert.
Ich sage Ihnen das hier in völliger Ruhe. Auch für die deutsche Sozialdemokratie ist die Klärung dieser Frage von großer Bedeutung. Sie haben an der „Handreichung", die wir vor kurzem beschlossen haben, gesehen, daß wir sicherheitspolitisch seriös argumentieren und unsere Vorstellungen einbringen.Um jedoch dieser Linie treu bleiben zu können, gehört eine Erklärung der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers hierher — kristallklar —, so, wie es in unserem Antrag steht, daß, solange das Parlament das Verhandlungsergebnis nicht beurteilen konnte und seine Konsequenzen daraus nicht gezogen hat, es nicht in Frage kommt, daß eine etwaige Stationierung beginnt. Darum bitte ich Sie herzlich. Das ist keine Drohung, sondern eine Bitte.
— Herr Kollege Klein, ich baue keine falschen Konstruktionen. Ich versuche vielmehr, diese Demokratie und uns alle vor Schaden zu bewahren.
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780 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Dr. Ehmke
Dabei betone ich nochmals in Fairneß, daß hier nichts gemacht worden ist, was Sie neu erfunden haben.Das ist übrigens auch der Grund — damit komme ich zum Schluß —, daß wir darüber hier heute noch nicht abstimmen wollen. Wir möchten das in der nächsten Woche im Auswärtigen Ausschuß beraten.
— Ja. Da wir eine parlamentarische Demokratie sind, bin ich auch dafür, daß das Parlament entscheidet.
— Herr Kollege, Ihr Antrag zur Volksbefragung wird von uns noch eingehend behandelt werden. Sie können sicher sein, daß wir Sozialdemokraten dazu eine Meinung haben, eine andere als Sie. Jedenfalls: Was immer man darüber denkt, man sollte mit Verfassungsinstitutionen so nie umgehen, daß man sie ad hoc ändert; das haben wir nie gemacht.
— Wir kommen zu dem Thema. — Setzen wir uns — das ist auch eine Einladung an Sie — über diese Frage in der nächsten Woche im Ausschuß mit der Regierung — falls sie heute nicht mehr antworten kann, das noch besprechen will, was ich verstehe; es soll hier niemand gedrängt werden — zusammen. Aber dann wollen wir glasklar wissen, was Sache ist, oder wir bringen diesen Antrag in der nächsten Woche noch einmal im Plenum ein und lassen dann über ihn abstimmen. — Schönen Dank für Ihre Geduld.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute morgen in der Rede des Herrn Kollegen Bahr zur Kenntnis nehmen können, daß sich die Sozialdemokratische Partei von der gemeinsamen Sicherheitspolitik und dem Doppelbeschluß der NATO verabschiedet hat; das ist die Wahrheit.
Sie, Herr Kollege Ehmke, haben die Aufgabe übernommen, nach der Methode „Haltet den Dieb!" davon abzulenken, daß Sie nicht mehr in der Lage sind, heute in Ihrer Partei die Politik durchzusetzen, die Sie früher mit uns gemeinsam vertreten haben.
Es steht fest, daß die doppelte Null-Lösung, die hier von den Sprechern der sozialdemokratischenFraktion kritisiert worden ist, nicht eine amerikanische Erfindung ist, sondern daß sie von der Bundesregierung in das Bündnis eingeführt und — nach Überzeugungsarbeit der Bundesregierung — von den Amerikanern übernommen worden ist. Wenn Sie von deutschen Interessen reden, Herr Kollege Ehmke, dann sage ich Ihnen: Ich bin unverändert der Überzeugung, es würde deutschen Interessen am meisten entsprechen, wenn weder sowjetische Mittelstreckenraketen noch amerikanische Mittelstreckenraketen stationiert sind.
Sie stören sich heute an diesem Begriff, weil Sie in Wahrheit eine Position einnehmen, in der Sie sich mit der einseitigen Null-Lösung, dem Verzicht auf die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, abfinden, weil Sie die damalige Politik bei sich nicht mehr durchsetzen können.Als wir den Doppelbeschluß im Bundeskabinett und in der Koalition erarbeitet haben, waren wir uns einig, daß französische und englische Systeme nicht berücksichtigt werden sollen — aus den Gründen, die ich heute dargelegt habe. Später haben Sie versucht, durch Einführung der englischen und französischen Systeme einen Berechnungsfaktor zu schaffen, der es Ihnen ermöglicht, im Falle des Scheiterns der Verhandlungen auf der westlichen Seite auf die Stationierung zu verzichten. Wir haben damals festgelegt, daß über die Stationierung für Ende 1983 unter der auflösenden Bedingung entschieden wird, daß für den Fall des Erreichens von Verhandlungsergebnissen von der Stationierung ganz oder teilweise abgesehen werden kann — aber nur unter dieser Voraussetzung! Die Stationierungsentscheidung ist damals gefallen. Sie haben ja selbst den Begriff „auflösende Bedingung" in eigenen Publikationen verwendet. So heißt es z. B. in einer Verlautbarung des SPD-Vorstandes vom 11. Februar 1981:Zum Doppelbeschluß der NATO hat der Parteitag in Berlin beschlossen, daß die Bundesregierung der Stationierung nur unter der auflösenden Bedingung zustimmt, daß auf deren Einführung verzichtet wird, wenn Rüstungskontrollverhandlungen zu Ergebnissen führen.Wenn es diese Ergebnisse nicht gibt — das heißt das in klaren deutschen Worten —, waren Sie unverändert mit der Stationierung einverstanden.Ich wiederhole es: Die Bundesregierung hat bei der Verabschiedung des Doppelbeschlusses erstens entschieden: Stationierung Ende 1983, es sei denn, es gibt vorher konkrete Verhandlungsergebnis se, die es möglich machen, den Nachrüstungsbedarf zu prüfen, so wie es im Doppelbeschluß steht.
Zweitens. Sie sagen: Sie wollen keine Ergebnisse. Das zeigt, daß Sie in Wahrheit schon gar nicht mehr sachlich diskutieren können, sondern daß Sie der eigenen Regierung unterstellen, sie wolle nicht ein Ergebnis in einer unser Volk bedrückenden Frage. Das ist die Gesinnung, Herr Kollege, die ganz sicher
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Bundesminister Genschernicht dazu beitragen wird, daß eine Friedensdiskussion in diesem Land aus der Gesinnung des inneren Friedens heraus geführt werden kann.
Hier ist oft über Friedensfähigkeit gesprochen worden. Zum Frieden ist nicht fähig, wer den anderen Demokraten den Willen zum Frieden bestreitet. Das will ich Ihnen sagen.
Deshalb ist es nicht die Bundesregierung, die von der Position der früheren Regierungen abgeht,
sondern es sind diejenigen, die heute nicht mehr die Kraft haben, gegen die Widerstände in der eigenen Partei die damalige Position zu vertreten. Es wäre viel ehrlicher, wenn Sie hier darlegen könnten, daß für Sie die Umstände sich geändert haben. So etwas kann es in der Politik geben. Darüber kann man sich sachlich auseinandersetzen. Aber denunzieren Sie nicht diejenigen, die konsequent eine hier diskutierte, beschlossene, im Bündnis vereinbarte Politik fortführen, als diejenigen, die angeblich von dieser Politik abweichen!
Sprechen Sie nicht davon, daß diejenigen, die zu dieser Politik stehen, nicht die eigenen, die deutschen Interessen wahrnehmen! Ich kann es nicht verstehen. Ich kann es nicht verstehen aus der Interessenlage dieses Landes heraus, daß jemand Kritik daran üben kann, daß eine Bundesregierung alles daran setzt, zu erreichen, daß die Sowjetunion ihre Mittelstreckenraketen gänzlich abbaut, damit die Bedrohung verschwindet, damit wir hier keine amerikanischen Raketen brauchen. Das ist die Frage.
Ich weiß nicht, was wer in den Vereinigten Staaten gesagt hat. Nur, wenn jemand die Vermutung geäußert hat, erst nach der Stationierung werde die Sowjetunion zu konkreten Verhandlungen bereit sein, dann hat er doch nicht gesagt, er will danach nicht verhandeln. Es ist nicht meine Position. Ich bin der Meinung, wir werden vorher Chancen haben, zu konkreten Verhandlungsergebnissen zu kommen. Aber unterstellen Sie nicht hier, daß andere, die mit uns gemeinsam diese Politik vertreten, in Wahrheit stationieren, aber nicht verhandeln wollten.Und unterstellen Sie der Bundesregierung nicht, daß sie vor dem vorgesehenen Termin stationieren wolle! Herr Kollege Wörner hat Herrn Dr. Vogel geschrieben: Im Sinne dieses Beschlusses erfolgt eine etwaige Stationierung nicht vor dem 15. November 1983. — Bis dahin werden wir noch oft Gelegenheit haben, im Deutschen Bundestag zu diskutieren. Täuschen Sie sich nicht: weder die Bundesregierung noch die sie tragenden Parteien werden jedem einzelnen von Ihnen es ersparen, Farbe bekennen zu müssen, ob sie noch zu unserer Politik stehen oder nicht.
Da werden Sie mehr Gelegenheit haben, hier zu diskutieren, als manchen von Ihnen lieb ist. Ehe Sie Verbündeten von uns unterstellen, daß sie nicht verhandeln wollten, sondern daß sie nur stationieren wollten, sage ich Ihnen: Tun Sie doch lieber alles dazu, daß die Verhandlungen zu einem Erfolg führen! Und das können Sie, indem Sie nicht Zweifel aufkommen lassen, daß auch Sie zur gemeinsamen Politik stehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir haben uns im atomaren Felsen verstiegen und stehen jetzt am Abgrund."
— Im atomaren Felsen verstiegen. Wenn Sie Ihrem Kollegen Kurt Biedenkopf häufiger zuhören, kommen Sie auf genau dieselbe Formulierung; denn sie stammt von ihm. Sie zeigt, daß es auch in der CDU Funktionsträger gibt, die es riskieren, ihre Beunruhigung über die zunehmende atomare Vernichtungsgefahr der Öffentlichkeit mitzuteilen.
„Aber wer den Abgrund schon vor sich sieht, darf der noch weiter auf den Abgrund zugehen?" So fragt ein anderer Christdemokrat, den ich sogar für einen Christenmenschen halte.
Er sagt das sicher aus der Freiheit eines Christenmenschen heraus. Er fährt fort: „Wer den Abgrund vor sich sieht, kann nur eines tun: anhalten und umkehren. Als ersten Schritt sagt er: Keine Nachrüstung in diesem Herbst. Und wenn der andere trotzdem weiter auf den Abgrund zugeht und die SS 20 nicht verschrottet? Was dann? So werde ich von meinen konservativen Freunden gefragt." Das berichtete Franz Alt in seiner Osteransprache dieses Jahres in Köln.„Meine Antwort", so sagt der Autor, der die politische Vernunft der Bergpredigt wiederentdeckt hat — ich habe einmal versucht, sein Buch dem Kollegen Dregger mit freundlichen Empfehlungen hier zu überreichen —, „lautet: Trotzdem anhalten. Das ist noch keine einseitige Abrüstung, aber wenigstens ein einseitiges Anhalten."Diesen rationalen Schritt müssen wir in einer Situation wagen, in der Ost und West zusammen
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782 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Vogt
1,6millionenmal Hiroshima fabrizieren können. Alles andere wäre Wahnsinn.
— Sie sehen: Jetzt haben die GRÜNEN ihrem Parteifreund zugestimmt, Franz Alt.
„Der Klügere hält als erster an. Es gibt heute keine andere Möglichkeit mehr. Einer muß anfangen aufzuhören. Das Anhalten ist die Voraussetzung für die notwendige Umkehr in Richtung Abrüstung."Meine Damen und Herren, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Ihr Parteifreund Biedenkopf hätte genauso gut sagen können, daß die atomare Abschreckung politisch außer Kontrolle geraten ist. Denn wie soll man den Zustand anders werten, daß ein Verteidigungsminister hier von der Leidenschaft redet, mit der er für Abrüstung eintrete, und dann lediglich — ich zitiere wörtlich aus dem Protokoll — „den unterschiedslosen Einsatz von Atomwaffen auf die Bevölkerung und Bevölkerungszentren" und „den atomaren Angriffskrieg" für ein Verbrechen erklärt? Herr Wörner, wie sollen wir das hier verstehen, und was geht in Ihnen vor? Wäre der differenzierende Einsatz von punktgenauen Atomwaffen auf militärische und politische Befehlszentralen und Nervenstränge des gegnerischen Systems und ist die Verteidigung mit Atomwaffen etwa kein Verbrechen, Herr Verteidigungsminister? Mir kommt es dabei nicht auf den juristischen Begriff des Verbrechens an, denn welchen Sinn hätten dann, nach einem atomaren Schlagabtausch, noch Schuld, Sühne, Ankläger oder Richter? Mir kommt es auf das Bewußtsein an, aus dem heraus Sie eine Differenzierung vornehmen, in der für einen atomaren Verteidigungskrieg Platz bleibt.Ich möchte eine Vermutung wagen, Herr Wörner: Ich nehme an, Sie haben ein voratomares Bewußtsein. Die meisten Zeitgenossen haben ein voratomares Bewußtsein. Der Grenzübergang vom 6. August 1945 ist nicht verkraftet, vielleicht deswegen, weil er nicht verkraftbar ist.Aus der Sicht der US-Regierung war die Vernichtung von Hiroshima ein Demoralisierungsschlag zu Verteidigungszwecken, gerichtet gegen den militärischen Angreifer von Pearl Harbour, Japan. In Nagasaki war es etwas anders; da mußte man schon davon reden, daß dies — auch aus der Sicht der US-Regierung — ein Experiment am lebenden Objekt „Mensch" mit einer neuen atomaren Waffengattung war. Hiroshima also etwa kein Verbrechen?Jetzt wird es interessant, wenn wir fragen, was Sie, Herr Wörner, daraus gelernt haben. Sie haben es hier gesagt: Sie haben daraus gelernt, wie gefährdet doch atomwaffenfreie Zonen seien. In Ihrer Rede haben Sie Hiroshima in klassischer Weise zum Baustein einer Legitimation der atomaren Abschreckung gemacht. Ihre Annahme, nur der atomaren Abschreckung verdankten wir den Frieden in Europa, j a, die Drohung mit der Anwendung von Atomwaffen sei das einzige Mittel, Frieden zu erhalten, ist weder bewiesen noch beweisbar. Rudolf Augstein hat uns daran erinnert, daß auch die Zeit von 1872 bis 1914 für unsere Region relativ krieglos war. Wie erklären Sie sich diese rätselhaften 42 Jahre der voratomaren Epoche?Die These von der friedenserhaltenden Kraft des atomaren Gleichgewichts des Schreckens läßt zudem den Gedanken an die Möglichkeit einer Heilung vom Kriege erst gar nicht aufkommen. Sind aber nicht bereits zwei Regionen in Europa, die Schweiz und Schweden, nach mehr oder weniger kriegerischer Geschichte dieser Heilung teilhaftig geworden? Was spricht eigentlich dagegen, daß auch die übrigen Europäer nach zwei mörderischen, in Europa angezettelten Weltkriegen „an sich" dazu fähig sind, den Krieg auch ohne den an der Leine gehaltenen atomaren Schrecken und Gegenschrekken aus ihrer Region zu verbannen?Alarmierend ist, daß Sie, Herr Wörner, diese Hymne auf die friedenserhaltende Kraft atomarer Abschreckung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt anstimmen, da die Waffenentwicklung dieses Prinzip außer Kraft setzt; befinden wir uns doch im Übergang von einer Nuklearstrategie zu einer anderen, von der Strategie der wechselseitig zugesicherten Zerstörung mit dem Ziel der Kriegsvermeidung durch Abschreckung zur atomaren Erstschlagsstrategie als einer möglichen Strategie. Dieser Übergang ist es, der die Erschütterung mit herbeigeführt hat, die Robert Jungk als „Menschenleben" — als vielleicht letzte Auflehnung der Gattung Mensch — beschreibt.Dieser Übergang wird von vielen Beobachtern als ein Moment einer äußerst bedrohlichen Instabilität und als der wesentliche Grund dafür bezeichnet, daß das Abschreckungsgleichgewicht politisch außer Kontrolle geraten ist. Die Pershing II und die Cruise Missiles sind die Vorreiter der Erstschlagsstrategie. Sie sind nutzlos zur Abschreckung, aber brauchbar zur Führung eines atomaren Krieges. In weiteren fünf Jahren werden sie durch seegestützte ballistische Raketen ergänzt, und in noch einmal 15 Jahren kommen die Anti-U-Boot-Raketen-, die AntiRaketen-Raketen- und die Satellitenkillersysteme dazu. Dann ist die Erstschlagsstrategie vollendet möglich und damit wahrscheinlich, dann könnten Strategien der Gewinnbarkeit eines atomaren Krieges die Oberhand gewinnen.Die größte Gefahr aber erwächst aktuell aus der Kombination von punktgenauen Mittelstreckenwaffen in Europa mit den strategischen Atomwaffen der Supermächte. Mit welch fahrlässiger Arroganz und Ignoranz politische Führungen auf diesen Zustand reagieren, ist einem Dokument der Westeuropäischen Union zu entnehmen. Ein italienischer Unterstaatssekretär behauptet dort, die 112 bei Comiso an der Südspitze Siziliens zur Stationierung kommenden Cruise Missiles seien gar kein lohnendes Ziel für einen Gegenschlag, da sie ständig auf Sizilien hin- und hergeschoben würden. Das ist auch so ein schlaumeierisches Bewußtsein aus der voratomaren Zeit. Dieser begnadete Herr Unter-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 783
Vogt
Staatssekretär übersieht dabei, daß genau dieser Umstand ganz Sizilien zur Zielscheibe eines Präventivschlages mit gröberen Atomraketen machen könnte.
Dieses Szenario läßt sich auf die ganze Bundesrepublik, auf ganz Mitteleuropa übertragen, und zwar bei noch erhöhter Gefahr, wenn die Pershing II stationiert werden. Hinzu kommen die Risiken eines Atomkrieges aus Versehen, eines Atomkriegs durch Fehleinschätzung, durch Computerpannen, durch Außer-Kontrolle-Geraten eines lokalen Konfliktes usw.Nun, wo Gefahr ist — so haben wir uns angewöhnt zu hoffen —, wächst auch das Rettende. Es mag aber auch die Umkehrung gelten. Ich weiß, daß Herr Wörner so denkt, und ich weiß auch, daß Herr Geißler so denkt. Er hat das heute gezeigt. Er ist durchaus in guter Gesellschaft. Ernst Bloch meint: „Wo das Rettende ist, wächst auch die Gefahr, und zwar durch das Rettende."Man kann sich darüber unterhalten, inwieweit Instabilität entsteht, wenn zwei Denkschulen, zwei Systeme aufeinandertreffen und die eine die andere ablösen will. Sie sind dieser Meinung. Ich meine, auch über diesen Punkt sollte man ernsthaft diskutieren.Aber zur sogenannten Nachrüstung sagen wir wie Franz Alt kompromißlos in Anwendung der politischen Vernunft der Bergpredigt: bis hierher und nicht weiter. Solange Atomwaffen in Europa stationiert werden, erscheint es unausweichlich, daß das Erfordernis, sie zu modernisieren, schließlich zu den atomaren Kriegführungswaffen und der damit verknüpften Strategie führt. Daraus ergibt sich folgerichtig die Forderung, die Atomwaffen vom europäischen Kontinent gänzlich zu verbannen, also: atomwaffenfreies Europa.
An der dritten Forderung scheiden sich allerdings, wie wir hier gesehen haben, auch in der Opposition die Geister — übrigens bis hinein in die Friedensbewegung. Im Gegensatz zu Egon Bahr lehne ich die Seestationierung als Ausweg ab. Die Meere als Manövriermasse für die auf Rettung bedachten Festländer zu betrachten, die dort schon jetzt Raketen- und Atomversuche machen, ist ein Zeichen fehlenden Zusammenhangdenkens. Es ist sozialdemokratisches Kompromißdenken auf Kosten Dritter, und es ist auch noch unökologisch.
Herr Abgeordneter, darf ich bitten, zum Schluß zu kommen. Sie haben Ihre Zeit überschritten.
Es wird dabei übersehen, daß auch auf den Meeren Menschen leben, und zwar auf Inseln.
Wir sind gerade auch hier, in diesem Parlament, dazu verdammt, neue Ansätze für die Abrüstung zu finden. Ich kann das aus Zeitgründen jetzt nicht ausführen. Es handelt sich dabei um das Konzept der Politik der kalkulierten Vorleistungen. Auch ein anderes Konzept, das in diesem Zusammenhang zu nennen wäre und das von Herrn Geißler hier leider verunstaltet beschrieben worden ist, das Konzept der Sozialen Verteidigung, wäre zu diskutieren. Ich hoffe, dazu wird Gelegenheit sein, wenn das von Herrn Wörner angekündigte Hearing zu alternativen Verteidigungskonzepten einmal stattfinden sollte. Alles in allem sind wir verdammt, solche neuen Ansätze auch, wo möglich, gemeinsam zu entwickeln, vielleicht auch einiges neu zu erfinden; denn wer will, daß die Welt bleibt, wie sie ist, will nicht, daß sie bleibt. — Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema, das wir heute zu behandeln haben, ist kompliziert, es ist vor allem ernst. Es geht um nichts weniger als um Sicherheit im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel, im atomaren Zeitalter, und Frieden in einem ideologischen Weltbürgerkrieg. Bei diesem Thema geht es um unsere persönliche Existenz, um unsere nationale Existenz, ja, um die Existenz der Menschheit. Ich glaube, daß wir als Abgeordnete des deutschen Volkes unserer Verantwortung nur gerecht werden, wenn wir dieses Thema in einer Weise behandeln, die diesem Ernst Rechnung trägt.
Dazu gehört auch, meine Damen und Herren, daß wir die parlamentarischen Umgangsformen einhalten.
Ich muß zutiefst bedauern, daß heute nachmittag der Versuch gemacht worden ist, einen Abgeordneten dieses Hauses, einen Kollegen meiner Fraktion, ein Mitglied der Bundesregierung, niederzuschreien, ihn daran zu hindern, seine Gedanken darzulegen, und,
was noch schlimmer ist, man dann gezielt den Versuch gemacht hat, ihn in seiner moralischen Integrität und in seiner demokratischen Gesinnung in Zweifel zu ziehen.
— Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu, und ich bitte Sie, einmal zuzuhören.
Die Kontroverse hat sich an einem „Spiegel"-Zitat des Abgeordneten Fischer entwickelt. Herr Geißler hatte es nicht zur Hand. Ich habe es hier zu Hand. Ich zitiere. Herr Fischer hat ausgeführt:
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784 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Dr. DreggerIch finde es moralisch erschreckend, daß es offenbar in der Systemlogik der Moderne auch nach Auschwitz noch nicht tabu ist, weiter Massenvernichtung vorzubereiten, diesmal nicht entlang der Rassenideologie, sondern entlang des Ost-West-Konflikts.
Meine Damen und Herren, ich finde es eine unglaubliche Unverschämtheit, die Massenmörder von Auschwitz und die demokratischen Regierungen, die sich darum bemühen, den Frieden und die Freiheit ihrer Völker zu erhalten, auf eine Stufe zu stellen.
— Nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu.
— Ich entwickle es.Daraus entwickelte sich eine Aussage von Herrn Geißler — sinngemäß —:
Ohne den Pazifismus der 30er Jahre wäre Auschwitz nicht möglich geworden. Das war doch der Gegenstand der Erregung. Einer der Kollegen der SPD-Fraktion hat daraus gefolgert: Also sind die Pazifisten schuld an Auschwitz.
— Das ist Rabulistik, Herr Kollege Ehmke. Ich habe Ihnen das schon einmal in anderen Zusammenhängen sagen müssen.Meine Damen und Herren, um zunächst einmal mitzuteilen, was Herr Geißler selber zum Pazifismus und Ihrer moralischen Position gesagt hat, zitiere ich jetzt aus dem Protokoll:
Wir können diesen Konflikt nicht wegdrängen. Er besteht darin, daß man mit Fug und Recht sagen kann, die Anwendung atomarer Waffen sei unsittlich, sei unmoralisch. Viele in diesem Lande kommen zu dem Ergebnis, daß deswegen auch das Bereithalten atomarer Waffen unsittlich ist.Dann kam der Zwischenruf: „Schily : Sehr war!" Und nun weiter Geißler:Diese Position vertreten viele in diesem Land. Ich will überhaupt nicht abstreiten, daß man aus einer moralischen Position heraus diese Auffassung vertreten kann.Ich stelle also fest, daß Herr Kollege Geißler den Pazifisten eine moralische Position zuerkannt hat.Und er hat dann fortgeführt: Aber es gibt auch die andere Position, nämlich die Position, daß wir nicht das Recht haben, waffenlos zu sein und uns damit unfähig zu machen, unrechte Gewalt abzuwehren von denen, für die wir Verantwortung tragen. Er hat also zwei Positionen einander gegenübergestellt und ihnen beiden moralische Qualität zuerkannt.
— Hören Sie doch zu. Ich bin doch noch nicht fertig. Ich möchte sagen —, daß dies auf Grund Ihrer Zwischenrufe und Bemerkungen notwendig ist, ist an sich traurig —: An Auschwitz sind nicht die Pazifisten schuldig. An Auschwitz sind der Antisemitismus, der Faschismus, der Nazismus schuldig; persönlich verantwortlich sind diejenigen, die Auschwitz vorbereitet und durchgeführt haben. Darüber kann es in diesem Hause doch wohl keinen Zweifel geben.
Herr Geißler hat eine ganz andere Frage untersucht, nicht, wie Auschwitz zu bewerten sei. Herr Geißler hat die Frage untersucht, ob wir Christen auf Grund der Bergpredigt verpflichtet oder berechtigt sind, auf den Besitz von Waffen zu verzichten oder nicht. Er hat diese Position verneint: Wir sind nicht berechtigt, uns waffenlos zu machen, weil wir dann nicht mehr unrechte Gewalt von unserem Volk abwehren können. Er hat in diesem Zusammehang einen historischen Hinweis gegeben, nämlich daß ohne den Pazifismus der 30er Jahre Hitler nicht in der Lage gewesen wäre, ganz Europa zu unterwerfen und nicht nur in Auschwitz; sondern auch darüber hinaus schreckliche Verbrechen zu begehen. Das ist doch eine geschichtliche Tatsache.
1939 haben junge britische Studenten in London dafür demonstriert, daß man Frieden mit Hitler-Deutschland schließen solle, daß man einseitig abrüsten solle. Das waren die gleichen jungen Männer, die nachher als Spitfire-Jagdflieger heldenhaft gekämpft haben. Zunächst aber haben sie aus einem sittlichen Impuls heraus gesagt: Wir wollen keine Waffen. Wir wollen Frieden. Wir wollen keinen Krieg haben. — Auf diese Tatsache hat Herr Kollege Geißler mit vollem Recht hingewiesen. Das ist doch die Frage der Nutzanwendung auf uns. Er hat gesagt: Wir wollen verhindern, daß eine andere Diktatur die ganze Welt beherrscht und daß die ganze Welt nachher ein Archipel GULag sein wird.
Ich meine, daß das eine Position ist, die moralisch ist. Wenn wir den Pazifisten eine moralische Qualität zubilligen, wie es Herr Geißler getan hat, kann ich erwarten, daß die anderen das gegenüber unserer Position ebenfalls tun.
Ich gehe jedenfalls davon aus, daß alle Mitglieder dieses Hauses die schrecklichen Morde und Verbrechen in Auschwitz und die Schändung des deutschen Namens, die damit verbunden war, verabscheuen. Ich gehe aber auch davon aus, daß alle Mitglieder dieses Hauses den Frieden wollen und daß sie wünschen, daß wir in Freiheit und Menschenwürde zusammenleben können, und daß un-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 785
Dr. Dreggersere ganze Verteidigungsüberlegungen nur unter dem Aspekt zu sehen sind, wie wir das in dieser schwierigen Zeit möglich machen können.
Im Hinblick auf den Stil der künftigen Debatten zu diesem Thema, die immer schwierig sein werden, bitte ich darum, daß wir jedem Kollegen in diesem Hause — ganz gleich, welcher Fraktion er angehört — diesen Willen und diese moralische Qualität zubilligen. Wenn das nicht mehr möglich ist, können wir Meinungsverschiedenheiten nicht mehr durch Argumente austragen.
Dann ist der Parlamentarismus am Ende. Das darf nicht passieren, denn dieser Parlamentarismus gehört zur demokratischen Qualität und zur Freiheit unseres Volkes. — Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vereinfachungen haben immer ihre Gefahren in sich. Dies haben wir heute wieder einmal erlebt. Ich kann nur bitten, daß die Chance, die in der Vereinfachung liegt, damit eine Schlagzeile zu bekommen, gerade bei so sensiblen Dingen, wie sie hier Gegenstand der Auseinandersetzung waren, nicht genutzt wird.
Herr Kollege Geißler, bitte nehmen Sie sich den Satz wirklich noch einmal genau vor. Selbst wenn Sie von sich aus glauben, daß in dem Satz eine innere Logik sei, seien Sie sich bitte bewußt, daß es eine so eiskalte Logik ist, die dem Tatbestand deshalb nicht gerecht werden kann, weil die Verfolgung der jüdischen Mitbürger ja nicht erst nach den Verhandlungen von Godesberg eingesetzt hat, sondern längst vorher gewesen ist und deshalb dieser Zusammenhang zwischen pazifistischer Einstellung und Judenverfolgung in dieser Weise nach meiner Überzeugung einfach nicht gegeben sein kann. Das sollte man nicht tun.
Ich möchte allerdings ein weiteres hinzufügen. Alle, die eine pazifistische Gesinnung haben, dürfen doch nicht annehmen, daß diejenigen, die Verteidigungsbereitschaft sichtbar werden lassen, im Grunde ihres Herzens gegen alles seien, was Pazifismus ist. Möglicherweise sind manche, weil sie eine pazifistische Grundgesinnung haben, bereit, aus diesen Gründen auch die Verteidigungsbereitschaft als ein Mittel zu sehen, den Frieden zu sichern. Und Pazifisten könnten ihre Auffassung gar nicht zum Ausdruck bringen, wenn nicht andere bereit wären, für sie verteidungsbereit zu sein, damit sie Pazifismus vertreten können.
Auch das sollte man auf beiden Seiten zugestehen, ohne dabei den einen oder anderen moralisch höher oder tiefer zu bewerten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe?
Herr Kollege Mischnick, ich darf Sie als Pazifist fragen. Auch wenn ich Ihrer Schlußfolgerung zustimmen könnte, daß auch Pazifisten anerkennen müssen, daß andere Verteidigungsbereitschaft zeigen, frage ich: Glauben Sie nicht, daß im atomaren Zeitalter auch Verteidigungsbereite gleichwohl Atompazifisten, wie man das in Holland nennt, sein können? Und wie beurteilen Sie, daß z. B. Christdemokraten in Holland, selbst wenn sie in der Regierung sind, sehr unterschiedlicher Auffassung darüber sind, ob man atomare oder andere Verteidigungsbereitschaft zeigen sollte?
Ich leugne nicht, daß man zu diesem Ergebnis kommen kann. Nur bin ich etwas erschrocken darüber, daß zwischen atomaren und konventionellen Waffen in der allgemeinen Diskussion eine Unterscheidung getroffen wird, als wären die einen gar nicht so gefährlich, während allein die anderen Vernichtung bringen könnten.
Ich bin als einer, der den letzten Krieg miterlebt hat, gegen jede Waffe. Das wollen wir in der Welt erreichen und nicht nur im Atomwaffenbereich.
Deshalb bin ich gegen die Verengung auf den einen Bereich, bei dem man so tut, als liege dort das alleinige Problem.Ich bin etwas erstaunt darüber, daß bei der Auseinandersetzung über die Position der Bundesrepublik Deutschland kaum noch davon gesprochen wird, daß wir eines der wenigen Länder sind, die auf ABC-Waffen — atomare, biologische und chemische Waffen — einen Verzicht ausgesprochen haben. Wenn alle, die uns kritisieren, daß wir hier bereit sind, innerhalb unseres Bündnisses einen Beitrag zu leisten, bereit wären, diese Forderung, die wir erfüllt haben, an alle anderen in der gleichen Weise zu richten, dann würde die moralische Begründung ihrer Haltung besser und stärker sein, als es manchmal durch einseitige Argumentation hier leider geschieht.Herr Kollege Ehmke, Sie haben mit Recht davon gesprochen, daß der NATO-Doppelbeschluß ein Instrument sei — Sie haben formuliert, der Doppelbeschluß werde als Instrument angesehen —, um ein Ergebnis zu erreichen. Herr Kollege Ehmke, ist es da nicht logisch, daß ich das Instrument in keinem Teil, bevor ein Abschluß der Verhandlungen erreicht ist, aus der Hand gebe?
— Wenn das richtig ist, dann wäre es gut, wenn Siealle Energie darauf verwendeten, daß nicht der Eindruck entsteht, daß zumindest Teile ihrer eigenen
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786 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
MischnickKollegen dabei sind, auf Teile des Instruments und auf das ganze Instrument zu verzichten.
— Entschuldigen Sie! Dazu komme ich. Keine Sorge!Es war doch in der Bundesrepublik, wo immer wieder davon gesprochen wurde — wenn ich an einige Ihrer Kollegen denke —, daß der NATO-Doppelbeschluß in seiner Gesamtheit eben nicht mehr relevant sei. Gerade wenn ich ihn als Hebel, wenn ich ihn als Instrument benutzen will, muß ich ihn auch bis zum Abschluß der Verhandlungen voll erhalten.Nun haben Sie darauf hingewiesen, daß es Stimmen aus den Vereinigten Staaten gebe — wichtige Stimmen, weniger gewichtige Stimmen; unterschiedlich —, die die Zielsetzung des Doppelbeschlusses in Frage stellten. Die Antwort darauf kann doch nicht sein, daß ich den Doppelbeschluß dann auf der anderen Seite etwas in Frage stelle. Die Antwort kann doch vielmehr nur sein, daß ich um so konsequenter an der Ausgangsposition festhalte, weil dann meine eigene Verhandlungsposition im Bündnis um so stärker gegenüber denjenigen wird, die möglicherweise, wie Sie glauben, in die falsche Richtung abweichen wollen. Die Logik spricht also immer dafür, auf diesem Wege weiterzugehen, so wie es bisher geschehen ist, entsprechend dem Beschluß, den wir im Mai 1981 gefaßt haben.Herr Kollege Ehmke, wenn Sie dann sagen, hinsichtlich dessen, was von der alten Regierung — das ist jetzt übernommen worden — an technischen Überlegungen angestellt worden sei, müßte man zu diesem Zeitpunkt überprüfen, ob manches noch weiter durchgeführt werden könne, frage ich Sie: Sind Sie dann nicht auch bereit, zumindest die Überlegung anzustellen, daß man aus einer solchen Haltung den falschen Schluß ziehen könnte, vielleicht könne doch eine Aufweichung vorhanden sein,
wenn ich nicht an den bisher gefaßten Beschlüssen, auch in der terminlichen Überlegung, festhalte?Wenn Sie nicht dieser Meinung sind,
muß ich Ihnen entgegenhalten, daß wir diese Überlegung damals doch auch aus dem Grunde angestellt haben, um sichtbar zu machen, daß der Doppelbeschluß in beiden Teilen ernstgemeint ist.
— Natürlich, in beiden Teilen ernstgemeint ist. — Denn ich sage Ihnen in aller Offenheit: Ich hätte den Doppelbeschluß für sinnlos gehalten, wenn er nicht von vornherein in beiden Teilen ernstgemeint gewesen wäre. Dann hätte man ihn überhaupt nicht zu fassen brauchen. Dann muß man aber auch bis zum Letzten dazu stehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, Herr Kollege.
Herr Kollege Mischnick, in der Grundposition stimmt Ihnen die SPD in der Handreichung zu. Aber meine Frage an Sie ist, da Sie ein viel länger gedienter Parlamentarier als ich sind: Ist nicht allein die Idee, hier könnte das Parlament eine Frage behandeln, über die bürokratisch schon entschieden worden ist, so gewichtig, daß die Antwort, wenn wir diesem Parlament und dieser Demokratie keinen Schaden zufügen wollen, nur lauten darf, die technische Planung muß verschoben werden?
Herr Kollege Ehmke, ich darf Sie daran erinnern, in der Entschließung vom Mai 1981 ist noch einmal festgelegt worden, daß die Stationierung bis Ende des Jahres 1983 vorgenommen werden muß — ich lege mich jetzt nicht auf den Tag fest —, wenn kein Ergebnis vorliegt.
— Wenn das unbestritten ist, würde auch jedes Abweichen von der Zeitplanung den falschen Eindruck erwecken, als würde man vom Beschluß selbst abweichen.
Nun haben Sie gesagt, dem Parlament werde etwas genommen, und dann haben Sie eine Zwischenbemerkung gemacht: Der Herr Kollege Genscher sei jetzt auch auf dem Pfad der Tugend, weil das Präsidium ihn dahin gebracht habe. Herr Kollege Genscher hat nichts anderes gesagt als das, was wir im Präsidium gesagt haben. Die Entscheidung, daß stationiert werden soll, wenn es zu keinem Ergebnis kommt, ist gefallen; gefallen mit dem Kabinettsbeschluß, gefallen mit der Entschließung aus dem Jahr 1981. „Bedarf" heißt, daß geprüft wird, ob 0, 20, 30, 50, 80 oder wieviel Prozent in Betracht kommen. Deshalb sehe ich eine Beschlußfassung des Bundestages, wenn sie beantragt werden sollte, nur unter dem Gesichtspunkt, daß sie entweder lautet, der gefaßte Beschluß wird aufgehoben, oder daß festgestellt wird, die Ergebnisse sind so, daß die ursprünglich vorgesehene Gesamtzahl nicht notwendig ist. Das brächte bei dem zweiten Beschluß aber keinerlei Beschwerden für das Parlament mit sich; denn bis zu diesem Zeitpunkt ist mit Sicherheit nicht, was Sie vielleicht befürchten, alles stationiert. Ich bin ziemlich sicher, daß nicht einmal das erste Gerät stationiert wäre, bis wir im September/Oktober/ November zu Entscheidungen kommen. Ich kann also die Gefahr, die Sie sehen, daß wir uns selbst entmachten, nicht teilen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Kollege Mischnick, würden Sie im gemeinsamen Interesse die nächsten Tage dazu benutzen, sich zu vergewissern, daß diese Gefahr besteht, und könnten wir dann noch einmal darüber reden, um hier gemeinsam Schaden
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 787
Dr. Ehmke
von der parlamentarischen Demokratie abzuwenden?
Ich brauche mich nicht zu vergewissern, weil ich weiß, daß der Weg, den ich hier genannt habe, der richtige ist. Ich bin nicht bereit, auch nur die geringste Handhabe dafür zu geben, daß jemand glaubt, wir hätten es nicht ernst gemeint auch mit dem zweiten Teil des Doppelbeschlusses. Deshalb gehe ich keinen Fingerbreit davon ab.
Lassen Sie mich zum Abschluß folgende Berner-kung machen. Wenn ich Verhandlungen beginne, brauche ich am Anfang Nerven, um eine Entscheidung durchzusetzen. Aber noch viel wichtiger sind die Nerven am Ende der Verhandlungen. Wer da nervös zu werden beginnt, kann das ganze mögliche Verhandlungsergebnis in Gefahr bringen.
Wir denken nicht daran, auf dem letzten Teil dieser Wegstrecke nervös zu werden, sondern wir werden standfest und zielsicher diesen Weg weitergehen, weil wir überzeugt sind, 1979 einen richtigen Beschluß gefaßt zu haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann die Kolleginnen und Kollegen der Christlich Demokratischen Union und der CSU verstehen, daß es ihnen Sorge macht, wenn hier das Wort „Auschwitz" im Zusammenhang mit der Strategie der atomaren Abschreckung fällt. Aber Sie müssen sich auf die Realität der atomaren Abschreckung einlassen. Es geht nicht so sehr um die Frage des Vorsatzes und des Friedenswillens, sondern es geht zunächst einmal um die Tatsache: Was steckt denn real in der atomaren Abschreckung? Das ist es, womit Sie sich auseinanderzusetzen haben.
Das geht nicht nur an die Adresse einer Supermacht, sondern das geht an die Adresse beider Supermächte. Das sagen wir GRÜNEN.
Wenn man mit Massenvernichtungsmitteln droht — sie heißen zu Unrecht „Waffen" —, dann droht man mit einem vielfachen Auschwitz. Das ist das Faktum.
Wenn Sie sich auf die Realität einlassen, müssen Sie sich vergegenwärtigen, daß Sie mit der Vernichtung von Kindern, Frauen, Greisen, Männern in millionenfacher Zahl drohen. Halten Sie es denn unter irgendeinem Gesichtspunkt — Zweck-MittelRelation oder was immer — für rechtfertigbar, daß Sie einem anderen Volk zur vermeintlichen Verteidigung androhen,
daß Sie die Menschen vergasen? Das würden Sie
doch wohl im Ernst nicht annehmen. Es macht aber
keinen Unterschied, ob Sie die atomare Verstrahlung und Vernichtung androhen oder die Vergasung. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.
Wissen Sie, was Herr Geißler hier gemacht hat, das war keine geistige Führung, das war Verführung zu Fehlschlüssen. Das war das, was Herr Geißler hier gemacht hat!
Das macht uns um so mißtrauischer gegenüber Ihrer Argumentation.
Was Sie hier als Verteidigung bezeichnen, ist Vergeltung,
Vergeltung wollen Sie üben mit Massenmord. Sie kommen in der Welt nicht weiter, wenn Sie das als Ihr Prinzip bezeichnen.
Da verirren und verstricken Sie sich. Selbst wenn Sie die besten Vorsätze haben, werden Sie irgendwann — diesen Gedankengang haben nicht wir GRÜNEN erfunden, sondern das sagt etwa auch von Weizsäcker, nicht der Bürgermeister, sondern der Bruder — in die Automatik geraten, daß nur noch Maschinen über die Existenz der Menschheit entscheiden. Es gibt historisch schließlich Tatbestände, in denen es so verlaufen ist, so daß man gar nicht mehr politisch entscheiden konnte, sondern politisch zugunsten militärischer Zwangsläufigkeiten abdankte.
Sie müssen auch wissen, was immer beiseite geschoben wird, daß gerade diese Frage der Glaubwürdigkeit der Abschreckung, die auch — das sei zur Ehre der Militärs gesagt — immer noch mit einem gewissen Grad an Selbstabschreckung verbunden ist, zu einer Veränderung der strategischen Linie geführt hat, von der massiven Vergeltung über die flexible response, und jetzt in eine sehr viel gefährlichere Phase kommt, in der man mit dem Gedanken eines auf Europa begrenzten Krieges umgeht. Bei den Autoren des Doppelbeschlusses mag der Irrtum vorhanden gewesen sein, daß in der Defensive eine Abkoppelung Europas von den Vereinigten Staaten möglich sein könnte, aber jetzt beschwören Sie mit der sogenannten Nachrüstung die Abkoppelung Europas von den Vereinigten Staaten in der Offensive herauf, und das ist sehr viel gefährlicher.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Dregger hat sehr ernst, ruhig und nachdenklich angefangen.
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788 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
BahrWenn ich das richtig verstanden habe, dann hat er eine Quasientschuldigung oder erläuternde Entschuldigung oder entschuldigende Erläuterung für Herrn Geißler gegeben, die dieser besser selbst hätte geben sollen.
Aber wir akzeptieren auch das.
— Wenn Sie sagen: Das ist falsch — —
— Warum?
— Und Sie haben das für Herrn Geißler gemacht.
— Es geschah aber so, daß wir es akzeptieren können und nicht so verstehen sollen, wie Herr Geißler es gesagt hat.
Wenn Sie das zurückweisen oder nicht akzeptieren, was ich hier soeben formuliert habe, dann nehme ich das, allerdings mit Bedauern, auch zur Kenntnis.Außerdem wäre es besser gewesen, Herr Kollege Dregger, wenn Sie die Gelegenheit benutzt hätten, wenn Sie schon über den Stil des Umgangs in diesem Hause reden, auch das Wort „Dolchstoß" zurückzunehmen.
In der ganzen Diskussion über Frieden oder Pazifismus oder Frieden in Freiheit ist natürlich ein Punkt nicht berücksichtigt worden, der, Herr Dr. Geißler und Herr Kollege Dregger, nach meiner Auffassung berücksichtigt werden muß. Man kann über die Frage des Pazifismus nicht mehr so reden und Vergleiche ziehen wie zu einer Zeit vor 1933 oder 1945, also zu einer Zeit, in der es Atomwaffen noch gar nicht gegeben hat.
Denn, Herr Kollege Mischnick, es ist doch zwischen uns nicht umstritten, wie schrecklich ein konventioneller Krieg sein kann. Wir sind doch gar nicht unterschiedlicher Meinung darüber, daß die technologische Entwicklung die Möglichkeit schafft, mit konventionellen Waffen in fünf Wochen das zu zerstören, was im letzten Weltkrieg in fünf Jahren zerstört wurde. Aber dies darf man nicht gleichsetzen mit der anderen Qualität, daß nämlich im atomaren Krieg nicht entsetzliche Zerstörungen angerichtetwerden, sondern die Existenz unseres Volkes auf dem Spiele steht und mehr als die Existenz unseres Volkes. Diesen qualitativen Unterschied muß man sehen. Er bedeutet sicher, daß der Ansatz der katholischen Bischöfe insofern eben neu und fundamental ist und die Erhaltung des Friedens an die erste Stelle stellt. Es ist eben dann auch richtig in der Umkehrung, daß nichts mehr von Freiheit und nichts mehr von Menschenrechten übrigbleibt, wenn es nicht gelingt, den Frieden zu bewahren.
Ich möchte eine kurze Bemerkung zu dem machen, was der Bundesaußenminister hier gesagt hat. Herr Bundesaußenminister, ich habe nicht verstanden, warum Sie hier mit großen Worten darauf hingewiesen haben, daß wir die Bundesregierung in Ihrem Bemühen unterstützen sollen, die SS 20 möglichst wegzubringen. Ich kenne keine einzige sozialdemokratische Äußerung — nicht nur in diesem Hause, auch draußen —, die nicht davon ausgeht, daß die Zahl der SS 20 mindestens reduziert werden muß; es gibt sie nicht. Wir sind uns doch auch einig, daß es das beste wäre, wenn es überhaupt keine Mittelstreckenwaffen gäbe, keine sowjetischen, keine französischen, keine englischen und keine amerikanischen, überhaupt keine! Da wir aber doch wissen, daß Frankreich und Großbritannien mit Recht — das ist verständlich — darauf beharren, daß über sie nicht verhandelt wird, müssen wir eben zur Kenntnis nehmen, daß es mindestens die Waffen dieser beiden Staaten geben wird und daß es deshalb das Null dieser Art von Raketen in Europa eben nicht geben wird.Wenn Sie dann sagen, wir, die SPD, sollten uns Mühe geben, die Position in Genf zu verstärken, dann hätte ich erwartet, daß Sie am Ende dieses Tages vielleicht ein Wort der Würdigung dafür gefunden hätten, daß die SPD durch ihren Sprecher Argumente zur Situation der sowjetischen Rüstung, Aufrüstung und Ankündigungen in die Debatte eingeführt hat, die für diese Bundesregierung vielleicht wertvoll sein werden, wenn sie in Moskau zu verhandeln haben wird.
Aber das nun umzudrehen und zu sagen, wir sollen auf alle Fälle die westliche Verhandlungsposition unterstützen — von der der Kollege Ehmke mit Recht gesagt hat: Sie wird zum Teil vernebelt — ist unter Umständen die Aufforderung, wenn unsere Verbündeten Fehler machen, sollen wir sie bitte kollektiv machen. Dadurch wird es auch nicht richtiger. Daß wir uns eine kritische Haltung gegenüber Äußerungen unserer amerikanischen Verbündeten bewahren, kann Sie doch im Grunde nicht wundern. Am vergangenen Sonnabend hat Lord Mayhew, der Ihnen parteipolitisch doch wohl sehr viel näher steht als irgendeinem von uns hier in diesem Hause, im Politischen Ausschuß der Nordatlantischen Versammlung in Kopenhagen in diesem Zusammenhang den Amerikanern dort gesagt: „Wir sind keine Satelliten; Europa muß natürlich mit den Verbündeten auf die Wahrung seiner Interessen achten." — Ich bin also der Auffassung, daß die kriti-
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Bahrschen Bemerkungen, die Sie insoweit hier uns gegenüber gemacht haben, an der Realität vorbeigehen.Wir haben uns auch nicht aus dem NATO-Doppelbeschluß verabschiedet. Ich habe im Gegenteil darauf hingewiesen, daß wir in der Kontinuität unserer Beschlüsse geblieben sind, so schwer uns das auch gefallen ist und heute noch fällt, und zwar seit dem Dezember 1979, über den Parteitag im April vergangenen Jahres in München, über Dortmund, bis zu dem, was wir hier in der vorigen Woche als Handreichung beschlossen haben. Dies als einen Abschied aus dem NATO-Doppelbeschluß anzusehen, schwächt unsere Position, schwächt Ihre und unsere Position in Moskau und bewirkt das Gegenteil von dem, was Sie uns eigentlich empfohlen haben. Wir haben statt dessen gesagt: Gerade in der Logik der bisherigen Politik muß man die letzte Chance bei den Verhandlungen in Genf nutzen, die es noch geben mag, um zu einem Ergebnis zu kommen.Letzter Punkt. Ich stelle fest, daß die Bundesregierung trotz mehrfacher Aufforderungen, Stellung zu nehmen, in ihren Äußerungen unklar geblieben ist, was die Stationierungsfrage und den zeitlichen Ablauf angeht. Auch das, was der Bundesaußenminister und Vizekanzler dazu gesagt hat, ist nicht ausreichend. „Die Stationierung erfolgt nicht vor dem 15. November dieses Jahres", hat Herr Genscher
— „eine etwaige Stationierung" — aus dem Brief von Herrn Wörner an Herrn Vogel zitiert. Das bedeutet eben nicht, daß es keine Raketen und keine Sprengköpfe hier geben wird, bevor dieses Parlament in der Lage gewesen sein wird, sein Wort zu sagen.
Ich füge noch etwas hinzu: Wir müssen uns dann auch darüber im klaren sein, was Stationierung heißt. Ich habe es soeben gesagt: keine Raketen und keine Sprengköpfe hierher zu bringen. Wir werden auf der Klärung dieser Frage bestehen. Wir werden darauf bestehen, weil es, glaube ich, im Interesse aller hier im Hause Versammelten ist, daß die Stellung des Parlaments gewahrt bleibt, aber auch noch aus einem ganz anderen Grund: Wenn wir in diesem Hause nicht Klarheit schaffen, werden wir das bedauern, weil das dann nämlich draußen versucht werden wird. Und das müssen wir verhindern. — Vielen Dank!
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Zu Tagesordnungspunkt 2 liegen Entschließungsanträge vor, und zwar von der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/150, von der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/151 und 10/152 sowie von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 10/155. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 10/150 und 10/155 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 10/151 soll zur federführenden Beratung dem Verteidigungsausschuß und zur Mitberatung dem Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Für den Entschließungsantrag auf Drucksache 10/152 wird Überweisung an den Auswärtigen Ausschuß beantragt. Wer den Überweisungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke. Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Überweisungen sind so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 3
Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Sofortiger Stopp der Türkeihilfe — Drucksache 10/107 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und den Zusatzpunkt
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Türkei
— Drucksache 10/149 —
auf.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist der Fall. Das Wort hat der Abgeordnete Reents.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, der Ihnen auf Drucksache 10/107 vorliegt, kurz begründen. Wir beantragen sofortige Aussetzung der Wirtschafts- und Verteidigungshilfe der Bundesrepublik Deutschland für die Türkei in einem Punkt 1. In einem Punkt 2 beantragen wir die Gewährung von Asyl für alle politischen Verfolgten aus der Türkei.Ich will zur Begründung mit einer kurzen Presseschau beginnen. Am 24. Mai dieses Jahres meldeten die Nachrichtenagenturen, daß in dem Mamutprozeß gegen 572 mutmaßliche Mitglieder der in der Türkei verbotenen kurdischen Arbeiterpartei — PKK — das Kriegsgericht von Diyarbakir 35 Todesurteile gefällt hat, 28 lebenslange Haftstrafen und 331 Haftstrafen zwischen 3 und 36 Jahren gefällt hat.Einen Tag später, am 25. Mai dieses Jahres, stand im Bonner „General-Anzeiger" zu lesen:
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790 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
ReentsDie Bundesrepublik wird der Türkei weiter Wirtschafts- und Militärhilfe gewähren. Dies erklärte Bundeswirtschaftsminister Lambsdorff gestern in Ankara zum Abschluß eines zweitägigen Besuchs und Gesprächen mit türkischen Politikern.Einen Monat vorher, am 26. April dieses Jahres, fand man in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine andere Meldung. Ich zitiere daraus:Die Möglichkeiten für ein größeres Türkeigeschäft wachsen wieder, nachdem die türkische Zahlungsbilanz 1982 erstmals seit Jahren mit einem Überschuß abschließen konnte und sich die beachtlichen Exportsteigerungen der türkischen Wirtschaft fortsetzen.Das war die Sicht des Bundesverbandes des deutschen Exporthandels.Drei Meldungen, drei Tatsachen: In der Türkei wird staatlich gemordet, die Bundesregierung füttert das türkische Militärregime und die deutsche Industrie frohlockt.Worte sind manchmal ziemlich verräterisch. Nicht nur das wurde angesichts dieser Vorgänge in der Türkei von der deutschen Industrie im Mai geäußert, sondern schon vor zwei Monaten am 11. April 1983 berichtete das „Handelsblatt" über eine Reise einer deutschen Unternehmer- und Bankerdelegation in die Türkei und schrieb dazu:Die Delegation gewann den Eindruck, daß die türkische Binnenwirtschaft durch die— wörtliches Zitat —zupackende Politik der Generale Fortschritte gemacht hat.Worte sind, wie gesagt, ziemlich verräterisch. Diese „zupackende Politik" sieht nach einer Zusammenstellung der „Türkei-Information" folgendermaßen aus: Seit dem Militärputsch am 12. September 1980 sind in der Türkei 208 Menschen zu Tode gefoltert worden, 46 Menschen wurden hingerichtet. 248 Todesstrafen wurden verhängt, insgesamt 5 942 Todesstrafen beantragt und 2 418 Menschen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.
Die Zahl der politischen Gefangenen in der Türkei wird gegenwärtig nach unterschiedlichen Quellen auf ungefähr 100 000 bis 150 000 geschätzt.Die Bundesregierung weiß dies alles. Sie hat sogar in ihrem Bericht vom 2. Dezember 1982, dem dann sechs Tage später eine Neubewilligung der Wirtschafts- und Militärhilfe in den Ausschüssen für Auswärtiges und für Wirtschaftliche Zusammenarbeit folgte, selbst bestätigt, daß in der Türkei gefoltert wird. Aber der Stabilisierung der Türkei und der waffentechnologischen Fütterung des türkischen Militärregimes tun diese Kenntnisse sichtbar keinen Abbruch. Im Januar dieses Jahres wurden die ersten 4 deutschen Leopard-Panzer von insgesamt 70, die geliefert werden sollen, in Ankara übergeben. Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Herr Oncken, hat anläßlich dieser Übergabe in der Zeremonie diese Lieferung der deutschen Panzer als ein „Zeichen der zwischen beiden Ländern bestehenden freundschaftlichen Zusammenarbeit" bezeichnet.
— Daß Sie da klatschen, ist nicht anders zu erwarten.Was von der Bundesrepublik insgesamt an Wirtschafts- und Militärhilfe an die Türkei geleistet wurde und geleistet wird, ist ziemlich schwer exakt zu ermitteln. Vollständige und völlig zuverlässige Informationen sind für uns zumindest bislang nicht erhältlich gewesen. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, daß bestimmte Programme bereits ausgelaufen seien oder am Auslaufen seien, teilweise mit sehr widersprüchlichen Informationen.Auf jeden Fall: Die Tatsache, daß die eine oder andere Hilfe nicht mehr geleistet wird, kann sich diese Bundesregierung kaum als Lorbeer ans Jackett heften. Daß die Hilfe nicht mehr geleistet wird, ist nicht deswegen der Fall, weil die Bundesregierung Druck wegen der Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei ausüben will, sondern weil schlicht und einfach die dafür bereitgestellten Kassen leer sind.Wir beantragen jedoch, daß all das eingestellt wird — und zwar sofort —, was noch am Laufen ist. Das ist zumindest die derzeitige 13. Tranche der sogenannten Verteidigungshilfe in Höhe von 130 Millionen DM; die Ausrüstungshilfe der Bundesrepublik für die türkische Polizei, für die in diesem Jahr noch 5 Millionen DM und im nächsten noch 6 Millionen DM anstehen; und die noch nicht getätigten Lieferungen der von 1980 bis 1983 terminierten Rüstungssonderhilfe mit einem Volumen von 600 Millionen DM, wozu u. a. die 70 LeopardPanzer und ca. 250 Panzerabwehrraketen Milan mit ca. 5 000 Flugkörpern gehören.Es wird von seiten der Regierung und in den Ausschüssen von seiten der Vertreter der Regierungskoalition immer wieder darauf hingewiesen, daß diese Hilfe geleistet werden müsse, weil es darum gehe, die Türkei in der NATO zu halten, weil man auch über den Weg, daß sich die Türkei in der NATO befinde, Einfluß auf den Demokratisierungsprozeß ausüben könne. Wenn die Türkei in der NATO bleibe, könne man unterstützen, daß in der Türkei irgendwann wieder parlamentarische, demokratische Zustände an die Stelle des Militärregimes träten.Diese Ansicht halten wir für sehr absurd. Man kann — unseres Erachtens mit Fug und Recht — eher die Gegenthese aufstellen, daß es in der Türkei vermutlich nicht zu einem Militärputsch gekommen wäre, wenn die Türkei nicht Mitglied der NATO wäre.
Denn zweieinhalb Monate, bevor es diesen Militärputsch in der Türkei gegeben hat, hat das erstemal seit 20 Jahren in Ankara wieder eine NATO-Ministertagung stattgefunden. Und diese Ministertagung war es, die seinerzeit ein Kommuniqué verabschiedet und darauf hingewiesen hat, daß es not-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 791
Reentswendig ist, die Südostflanke der NATO wegen der für die NATO gefährlichen Entwicklung in der GolfRegion zu stärken. Zweieinhalb Monate später war der Militärputsch, und zum gleichen Zeitpunkt fand das damalige NATO-Manöver „Anvil Express" unter Beteiligung von Einheiten der Bundeswehr statt, ähnlich wie heute, wo das türkische Militärregime einen Krieg gegen die Kurden führt und abermals ein NATO-Manöver unter Beteiligung von Bundeswehreinheiten stattfindet.Eines sei hier nur kurz eingeschoben: Wenn von Herrn Dregger, von Herrn Geißler und von anderen aus der CDU darauf hingewiesen wird, daß es zur Zeit des Dritten Reiches in Deutschland außerhalb Deutschlands Regierungen und Parteien gegeben hat, die durch eine bestimmte Politik dazu beigetragen haben, daß sich der deutsche Faschismus an der Macht halten und Krieg führen konnte, wobei es sich damals um rechte Regierungen, um konservative Regierungen gehandelt hat, dann sage ich, es ist, wenn man eine historische Analogie ziehen will, wohl eher erlaubt, heute zu sagen, daß genau die gleiche Politik der Bundesregierung gegenüber dem türkischen Militärregime den türkischen Faschismus am Leben erhält.
Ich will noch ein Wort zum SPD-Antrag sagen. In dem Antrag der SPD, der alternativ zu dem unsrigen eingebracht wurde, heißt es, daß die völkerrechtlich verbindlichen Verpflichtungen gegenüber der Türkei eingehalten und lediglich keine neuen Soforthilfemaßnahmen und Verteidigungshilfen gewährt werden sollten. Dieser Antrag der SPD läßt befürchten, daß weiter nach dem bewährten Muster aus sozialliberaler Zeit verfahren werden soll. Da wurde — damals nach dem Putsch — auch erst wieder nicht neu bewilligt, später aber doch wieder, und wenn man die Endsummen zusammenzählt, kann man feststellen, daß es lediglich zeitliche Verschiebungen gegeben hat, dem türkischen Militärregime auf diese Weise aber kein einziger Pfennig verlorengegangen ist. Das war übrigens das gleiche wie 1974, als es schon einmal um den Stopp und die Aussetzung der NATO-Verteidigungshilfe — damals der 7. und der 8. Tranche — anläßlich des Zypern-Konflikts ging, und wenig später wurde doch alles nachgezahlt.Wir meinen, diesen Weg sollte man nicht erneut beschreiten. Eigentlich sollte auch in der SPD das Bewußtsein heranreifen, daß in dieser Situation wirklich nur noch der sofortige und vollständige Stopp der Wirtschafts- und Militärhilfe hilft.Im übrigen sollte sich die SPD, so meine ich, jetzt, wo sie in der Opposition ist, auch einmal das eifersüchtige Schauspiel abgewöhnen, daß sie immer dann, wenn die GRÜNEN etwas beantragen, von dem anzunehmen ist, daß es einen gewissen Anklang auch in der Wählerschaft der SPD findet, daß wir damit also auch Forderungen sozialdemokratischer Wähler erfüllen, mit einem eigenen, etwas geänderten Antrag sofort nachstößt, wie es auch schon beim Flick-Untersuchungsausschuß der Fall gewesen ist.
— Das stört mich nicht! — Beweisen Sie lieber einmal Ihre demokratische Qualität dadurch, daß Sie auch einen Antrag von uns unterstützen können.
Nun noch kurz zum zweiten Teil unseres Antrags. Im letzten Jahr sind nach Informationen der türkischen Zeitung „Milliyet" 30 in der Türkei — wie es dort heißt — gesuchte mutmaßliche Terroristen von der Bundesrepublik an die Türkei ausgeliefert worden. Gegen weitere 48 Personen liegen Auslieferungsersuchen vor, die noch geprüft würden, wobei die Bundesrepublik in 20 Fällen wegen gegebenenfalls zu erwartender Todesurteile die Auslieferung ablehnt.Wir begrüßen, daß die Bundesregierung nicht ausliefern läßt, wenn gegebenenfalls Todesurteile zu erwarten sind. Wir begrüßen, daß die Bundesregierung Todesurteile ablehnt. Aber: alle Untersuchungskommissionen, die bislang in die Türkei gereist sind — wir haben kürzlich in der Türkei selbst ähnliche Informationen erhalten können —, bestätigen, daß Gefangene in der Türkei regelmäßig gefoltert werden, und zwar namentlich während der 45 Tage Haftzeit in den Polizeigefängnissen. Die deutsche Botschaft selbst hat uns in Ankara bestätigt, daß sie in keiner Weise überprüft, was mit den aus der Bundesrepublik Ausgelieferten passiert.Bei dieser Auslieferungspraxis muß man schlußfolgern, daß die Bundesregierung zwar Todesurteile, nicht aber grundsätzlich Folter ablehnt.
Es ist in der Tat ein Skandal in der Auslieferungspraxis der Bundesrepublik,
daß sie diese Unterscheidung macht.
Diese Haltung ist — Sie können es nachlesen — in der letzten Woche in der Fragestunde bzw. in den Schriftlichen Antworten auch noch einmal ausdrücklich bestätigt worden. Da ich nicht davon ausgehe, daß alle hier Anwesenden die Anlagen zum Plenarprotokoll der Sitzung vom 10. Juni gelesen haben, will ich dazu noch kurz etwas sagen. Auf eine Frage des SPD-Abgeordneten Schreiner zum Thema „Folter und Asylanspruch" hat Staatssekretär Dr. Fröhlich vom Bundesinnenministerium letzte Woche mitgeteilt, daß das Bundesverwaltungsgericht am 17. Mai 1983 in zwei Revisionsverfahren festgestellt habe, daß — ich zitiere Staatssekretär Dr. Fröhlich — „Folter zwar stets als Menschenrechtsverletzung anzusehen sei, erlittene oder drohende Folter jedoch nur dann zu einem Asylanspruch führe, wenn ihr die Motivation der politischen Verfolgung zugrunde liege. Dabei seien die Umstände des Einzelfalls unter Würdigung der je-
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Reentsweiligen Verhältnisse in den Verfolgerstaaten heranzuziehen.Diese nach der Zielrichtung differenzierende Beurteilung wird von der Bundesregierung geteilt, weil sie im Sinngehalt Artikel 16 des Grundgesetzes entspricht."
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich habe nur noch eine Minute Redezeit. Wenn mit der Diskriminierung durch knappe Redezeiten hier endlich einmal Schluß ist, dann ist es auch möglich, Zwischenfragen zu beantworten.
Es muß nach der Meinung der Bundesregierung vom Standpunkt des Asylrechts aus also zulässige und unzulässige Folter geben. Das ist in der Tat ein Skandal.
Wir fordern, daß in die Türkei überhaupt nicht mehr ausgeliefert wird, daß alle Asylantragsteller aus der Türkei hier auch Asyl erhalten müssen. Stellvertretend für alle anderen Fälle will ich hier den Fall von Hüseyin Inci nennen, der im Dezember letzten Jahres Asyl beantragt hat, gegen den am 16. Mai 1983 ein Auslieferungsersuchen des türkischen Militärregimes einging und der seit dem 24. Mai 1983, übrigens seit dem Tag der Todesurteile von Diyarbakir, in Hamburg in Haft sitzt. Hüseyin Inci war Mitglied der Lehrergewerkschaft und Sympathisant von Dev Yol. Deswegen will ihn das türkische Militärregime in seine Fänge bekommen. Wir verlangen seine sofortige Freilassung und Asylgewährung für alle Asylsuchenden aus der Türkei.
Wir fordern Sie auf, unserem Antrag in diesen beiden Teilen zuzustimmen, und wir beantragen darüber eine namentliche Abstimmung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Althammer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU wird dem Antrag der GRÜNEN nicht zustimmen, sondern sie wird ihn ablehnen.Wir können auch einem Teil des Antrags der SPD — soweit er die Einstellung der Militärhilfe anbelangt — nicht zustimmen.Ich möchte zunächst etwas zu dem Auslieferungsverfahren und zu der Asylgewährung sagen. Es dürfte in diesem Hause allgemein bekannt sein, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland dazu ein rechtsstaatliches Verfahren haben, in dem die Gerichte über solche Auslieferungs- bzw. Asylgewährungsanträge entscheiden. Es ist meines Erachtens rechtlich überhaupt nicht zulässig, wenn hier die Justizhoheit und die Entscheidungsfreiheit der Gerichte etwa durch irgendwelche Beschlüsse dieses Parlaments beeinflußt werden sollen.Wir bedauern es, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die SPD diesmal nicht wie bei dem letzten gemeinsam beschlossenen Antrag den Versuch gemacht hat, mit den anderen Fraktionen des Bundestages, die dem Antrag vom 5. Juni 1981 zugestimmt haben, ein Einvernehmen herzustellen. Meiner Meinung nach wäre es möglich gewesen, so wie damals zwischen den drei Fraktionen dieses Hauses eine gemeinsame Entschließung zu erreichen.
Was den Antrag der GRÜNEN anbelangt, ist ganz eindeutig festzustellen — das steht auch im Antrag der SPD —, daß die Zustimmung zu diesem Antrag einen Rechtsbruch bedeuten würde. Es würde bedeuten, daß verbindlich eingegangene Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht erfüllt würden.
Solange die CDU/CSU in der BundesrepublikDeutschland mitzubestimmen hat, wird es nicht sosein, daß wir eingegangene Verträge nicht erfüllen.
Die Bundesregierung hat dem Parlament am 2. Dezember 1982 einen Bericht über die Lage in der Türkei vorgelegt. Dieser Bericht war realistisch und sachlich, auch versehen mit einer ganzen Reihe von kritischen Anmerkungen. Die Bundesregierung hat dort festgestellt, daß sie künftig Leistungen an die Türkei vom Einvernehmen der Fraktionen und der Ausschüsse des Deutschen Bundestages abhängig machen wird. Dies ist im Dezember vorigen Jahres geschehen. Die zuständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages haben die Situation geprüft und haben beschlossen, weitere Entwicklungshilfeleistungen und Ausrüstungshilfeleistungen an die Türkei zu gewähren. Diese Verträge laufen bis Mitte des Jahres 1984, und diese Verträge sind einzuhalten.Wir finden es ausgezeichnet, daß die Bundesregierung im November dieses Jahres einen neuen, abschließenden Bericht über die Situation in der Türkei vorlegen wird, weil nämlich am 6. November dieses Jahres in der Türkei Wahlen stattfinden werden, aus denen eine demokratische Regierung hervorgehen soll. Und wir werden in der Türkei dann einen Vertrags- und Ansprechpartner haben, von dem wir hoffen, daß wir eine gute und gedeihliche Zusammenarbeit erreichen werden.
Es ist notwendig, bei dieser Gelegenheit auch von unserer Seite eine gewisse Zwischenbilanz der Entwicklung in der Türkei hier vorzulegen. Ich empfehle aber allen, sich die Leitsätze der sozialistischen Regierung Frankreichs zu eigen zu machen, worin der Präsident Mitterrand ganz eindeutig festgestellt hat, daß es nicht zulässig sei, in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einzugreifen. Ich empfehle jedem, die einzelnen Kategorien, die die französische Regierung hierin festgelegt hat, noch einmal nachzulesen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 793
Dr. AlthammerDie Türkei ist Mitglied des Europarates. Sie ist der Europäischen Gemeinschaft assoziiert. Sie ist Mitglied der NATO. Damit hat sich die Türkei zu der Wertegemeinschaft des Westens bekannt.
Und dies ist für uns Veranlassung, in der Türkei immer wieder nachzufragen und darauf zu drängen, daß diese Werte des Westens, die Rechte, wie wir sie hier haben, auch dort zur Anwendung kommen.
Eines möchte ich hier mit aller Deutlichkeit sagen: Leute, die Menschenrechtsforderungen nur gegenüber gewissen Staaten und Regierungen erheben, in andere Richtung aber blind sind, haben meines Erachtens ihre Legitimation in dieser Richtung verwirkt. Ich möchte ganz deutlich sagen, was ich damit meine. Ich kann mich auch darauf beziehen, was der Kollege Voigt in seiner letzten Rede zu diesem Thema gesagt hat. Er hat denselben Punkt behandelt.Wer in der Zeit, als die USA in Vietnam eingegriffen hatten, große Protestaktionen veranstaltet hat, aber über die Ermordung von fast drei Millionen Kambodschanern durch die Roten Khmer kein Wort verloren hat, der hat meines Erachtens seine Legitimation dazu verloren.
Oder, um ein aktuelles Beispiel zu bringen: Wer die Entwicklung in El Salvador mit Recht kritisiert, aber die Ausrottung von Indianern in Nicaragua mit keinem Wort erwähnt, der hat auch seine Legitimation dazu verloren.
Man könnte diese Beispiele nach Belieben fortsetzen. Denken Sie an die Situation in Afghanistan.
— Sie werden mich nicht aus der Ruhe bringen.Ich glaube, wer die gegenwärtige Situation in der Türkei würdigt, muß auch die Entwicklung der letzten drei Jahre ganz eindeutig sehen. Das Militär in der Türkei hat eine jahrzehntealte Verpflichtung an die Grundsätze Atatürks, der dieses Land aus einer veralteten Struktur herausgeführt und sich bemüht hat, durch seine Grundsätze die Türkei einer modernen westlichen Entwicklung zu öffnen.
Die türkischen Generäle haben bereits im Jahre 1960 und im Jahre 1971 eingreifen müssen, um die türkische Demokratie zu retten. Sie haben jedesmal sehr schnell wieder die Gewalt an die Demokraten zurückgegeben. Sie mußten 1979/80 feststellen, daß dieses Land am Rande der Anarchie war. 120 Abstimmungen des türkischen Parlaments haben nicht genügt, einen neuen Staatspräsidenten zu wählen. Kein neues Gesetz konnte mehr verabschiedet werden. Die Bevölkerung der Türkei litt akute Not. Schlangen an den Läden waren vorhanden.
Und, was das Schlimmste war, die Türkei stand am Rande eines Bürgerkriegs. In den letzten Monaten sind jeden Tag über 20 Menschen Opfer von Terroranschlägen und sonstigen Auseinandersetzungen geworden.
Es war so, daß sogar die Polizei nicht mehr in der Lage war, diese Zustände zu beherrschen, sondern, im Gegenteil, selbst hineingerissen wurde in diese Auseinandersetzung zwischen Rechts- und Linksextremen. Und innerhalb der Armee drohte die gleiche Entwicklung. In dieser Situation haben die türkischen Generäle eingegriffen. Diese Fakten muß man einfach sehen und würdigen,
wenn man die weitere Entwicklung betrachten will. Es ist dem türkischen Sicherheitsrat gelungen, in einer langen und mühsamen Entwicklung den Terrorismus in der Türkei abzubauen, ich will nicht sagen: abzuschaffen.
Es ist leider so, daß auch jetzt noch Terroranschläge in der Türkei erfolgen. Jetzt sage ich etwas, was den GRÜNEN natürlich gar nicht passen wird: Es ist leider auch so, daß kurdische Terroristen dort einen traurigen Rekord von Angriffen auf unschuldige Menschen, die mit vielen Todesfällen enden, haben.
— Ich werde auf diesen Punkt auch noch kommen.Die türkische Militärregierung hat es immerhin fertiggebracht, daß sich die Bevölkerung in der Türkei heute wieder sicher fühlt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Duve?
Ja, bitte schön.
Herr Abgeordneter, Sie haben soeben von kurdischen Terroristen gesprochen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es ein kurdisches Volk gibt, das schätzungsweise 20 Millionen Menschen umfaßt und das von der derzeitigen türkischen Regierung so sehr negiert wird, daß davon in der Türkei nicht einmal gesprochen werden darf, und daß unter solchen Umständen gegenüber einer Diktatur dieser Art, die Sie hier ja eben fast ge-
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Duverechtfertigt haben, jedenfalls nach unserem Verfassungsverständnis der Widerstand erlaubt ist?
Ich darf Ihnen dazu folgendes sagen. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß Widerstand, wenn er in der Sache auch berechtigt sein mag, nie dazu führen darf, daß unschuldige Menschen — wie z. B. auf dem Flughafen von Ankara — zu Dutzenden umgebracht werden. Hier ist die Grenze des Widerstandes. Die türkische Regierung ist, wie ich meine, im Recht, wenn sie diese Art von Terrorismus unterbindet.
Sie dürfen davon ausgehen, daß ich die Situation in der Türkei kenne. Ich habe mit vielen Menschen in der Türkei gesprochen. Diese Menschen sind froh, daß sie heute wieder ungefährdet auf die Straße gehen können,
was sie 1980 nicht mehr konnten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Duve?
Ich bitte um Entschuldigung, mir stehen nur noch zehn Minuten Redezeit zur Verfügung. Ich kann leider keine Zwischenfragen mehr zulassen. Ich würde das sonst sehr gerne tun.
Jetzt kommt ein in unseren Augen ganz wichtiger Punkt. Die türkische Militärregierung hat einen Zeitplan für die Rückkehr zur Demokratie festgelegt, und sie hat diesen Zeitplan bis heute eingehalten.
Sie hat 1980 eine verfassunggebende Versammlung einberufen. 1981 wurde die neue türkische Verfassung mit über 90 % der Stimmen angenommen. Sie hat inzwischen in diesem Jahr eine Reihe von Begleitgesetzen — ein Parteiengesetz, ein Gewerkschaftsgesetz, ein Pressegesetz — erlassen, und im Augenblick bildet sich eine ganze Reihe neuer demokratischer Parteien.
— Ich will Ihnen jetzt etwas ganz Eindeutiges sagen. Die Begleitumstände dieses Prozesses — z. B. wie die verfassunggebende Versammlung zustande gekommen ist —, der Inhalt dieser Verfassung und der Begleitgesetze finden in vielen Bereichen unsere ganz eindeutige Kritik. Wenn wir mit westlichen demokratischen Maßstäben messen,
genügen diese Gesetze bei weitem nicht den Anforderungen, die wir stellen.
Ich stelle aber fest, daß es möglich sein wird, am 6. November dieses Jahres demokratisch ein neues Parlament zu wählen. Wir haben die Hoffnung, daß eine neue, demokratisch legitimierte Regierung nach dem 6. November eine neue Entwicklung einleiten wird.
— Ich will Ihnen auch dazu etwas sagen.
Die türkischen Generäle haben immer wieder gesagt, wenn sie das Land jetzt wieder an die Politiker zurückgeben, wollen sie erreichen, daß sie in wenigen Jahren nicht wieder eingreifen müssen. Sie haben gesagt, die Leute, die damals die Zustände herbeigeführt haben, seien ihrer Meinung nach nicht primär dafür vorgesehen, daß sie die künftige Entwicklung leiten.
Ich stimme nicht den Maßnahmen gegen die ehemaligen Politiker in der Türkei zu.
Ich muß aber sagen: Angesichts der Erfahrungen, die die Türkei gemacht hat, habe ich Verständnis dafür, daß man versucht, einen neuen Anfang zu schaffen, der in diesem Lande eine stabile Demokratie gewährleisten kann.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aus Zeitgründen leider nicht.Ich möchte zum Abschluß meiner Ausführungen noch einen Blick in die Zukunft lenken. Die neue demokratische Regierung in der Türkei, mit der wir im November dieses Jahres rechnen, wird vor schweren Aufgaben stehen. Eine Außenverschuldung von enormem Ausmaß ist vorhanden. Zinszahlungen und Tilgungen belasten die Bilanz dieses Landes. Es ist zwar gelungen, die Inflationsrate von 130 % auf etwa 30 % zu senken, aber der Lohnstopp, der seit Jahren in der Türkei herrscht, hat zu einer Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung geführt. Dazu kommt noch eine Arbeitslosenrate von rund 30 %. Und als eines der schwierigsten Probleme haben wir in der Türkei eine Geburtenrate, die in Europa absolut an der Spitze steht, nämlich
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Dr. Althammermit über 1 Million jährlichem Zuwachs der Bevölkerung.Wenn Sie diese schwierige Wirtschaftssituation in Betracht ziehen, können Sie sich vorstellen, vor welch enormen Aufgaben eine künftige demokratische Regierung in der Türkei steht.
Die Bundesrepublik Deutschland hat hier noch ein ganz spezielles Interesse.
— Ja, das spezielle Interesse liegt darin, daß 1986 nicht die Freizügigkeit innerhalb der EG stattfindet. Wir haben bis jetzt über 1,5 Millionen türkische Bewohner in unserem Land. Die Bundesrepublik Deutschland kann es nicht verkraften, daß ab 1986 ungehemmt eine Zuwanderung hierher erfolgt, weil auch unser Land das nicht aushält.
— Das ist genau der Punkt. Wir werden der Türkei Wirtschaftshilfe leisten müssen, damit die Menschen im eigenen Land ihre Existenz finden.
Die Lösung darf nicht darin bestehen, daß die Familien hierher bzw. ins Ausland verpflanzt werden.Eben kam hier der Zwischenruf mit den Panzern. Die Türkei ist als NATO-Mitglied ein entscheidender Faktor unserer Sicherheit. Ich möchte nicht haben, daß in der Türkei sowjetische Panzer stehen, wie das vielleicht manche Leute, die sich jetzt als Märtyrer feiern lassen, gern gewollt hätten. Wir haben als Bundesrepublik Deutschland ein eminentes Sicherheitsbedürfnis daran, daß angesichts der Lage in Afghanistan, der Instabilität im Iran und in anderen Gegenden des Orients die Türkei ein verläßlicher NATO-Partner bleibt. Das ist unser legitimes deutsches Interesse.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß, daß die Debatte, die heute hier stattfindet, in der Türkei großes Interesse und große Aufmerksamkeit finden wird.
Ich werde Anfang Juli in Istanbul sein und mich mit einer Reihe der neuen Parteiführer treffen. Ich hoffe, daß ich auch Herrn Inönü treffe, den Sohn des berühmten Staatspräsidenten der Türkei. Wir hoffen, daß wir mit den neuen demokratischen Politikern in der Türkei gute Kontakte aufbauen und herstellen können.
— Herr Kollege Ehmke, unterhalten wir uns über diese Situation bitte nach dem November! Ich weiß, wie schwierig die Lage der Demokraten in der Türkei ist. Wir haben wahrhaftig unseren Teil dazu beigetragen, diesen Menschen zu helfen, und wir werden das auch in Zukunft tun.
— Die werden die Rede lesen.Ich will Ihnen eines sagen: Unterhalten Sie sich mal mit Herrn Ecevit, und hören Sie, was der Ihnen sagt, ob der Ihnen sagt, daß Sie Sanktionen ergreifen und alle Hilfen einstellen sollten. Die türkischen Demokraten sagen Ihnen: Bitte, wirken Sie auf diese Regierung ein, damit wir vorankommen; aber brechen Sie nicht die Brücken ab! — Reden Sie mal mit Herrn Ecevit; dann wissen Sie, wie die Situation ist.
Ich möchte abschließend eines sagen. Die Bundesrepublik Deutschland und früher das Deutsche Reich und überhaupt Deutschland hatte seit Jahrhunderten ein historisch gutes Verhältnis mit der Türkei. Ich kann das aus Zeitgründen jetzt nicht ausführen. Aber eines möchte ich unseren türkischen Freunden sagen: Wir Deutsche haben nicht vergessen, daß die Türken in den Jahren 1933 bis 1945 viele deutsche Demokraten, die aus dem Nazireich vertrieben worden sind, aufgenommen haben.
Ich nenne nur einen Namen stellvertretend für viele, einen großen Mann der ersten Stunde in der SPD: Ernst Reuter. Wir haben das nicht vergessen. Wir wollen jetzt den türkischen Demokraten helfen. Wir möchten das tun, weil wir der Türkei helfen wollen, wieder in die Familie der demokratischen Völker zurückzukehren. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bisher bin ich davon ausgegangen, daß wir auf der Grundlage der gemeinsamen Resolution aus dem Jahre 1981 auf mehr Menschenrechte und mehr Demokratie in der Türkei drängen. Der Zusammenhang, den der Kollege Althammer hergestellt hat zwischen der Zahl ausländischer Arbeitnehmer türkischer Nationalität in der Bundesrepublik Deutschland und unserem Drängen auf die Wiederherstellung von Menschenrechten und der Demokratie in der Türkei, läßt mich daran zweifeln. Ich halte es für unerträglich, wenn wir uns unser Drängen auf die Wiederherstellung der Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei zu Lasten der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bun-
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Voigt
desrepublik Deutschland abhandeln, j a abkaufen lassen.
Denn das hieße nicht, auf mehr Menschenrechte in beiden Bereichen zu drängen, sondern das hieße, zu Lasten der Menschenrechte der ausländischen Arbeitnehmer hier und zu Lasten der Menschenrechte derjenigen, die in der Türkei leben, dieses — das wäre es in diesem Fall — Geschäft zu machen. Das war die Substanz Ihrer Aussage.
Die Türkei ist ein Mitglied der NATO und Partner im westlichen Bündnis. Bundeskanzler Kohl hat davon gesprochen, daß die NATO eine Wertegemeinschaft sei. Er beliebt auch davon zu sprechen, daß das Bündnis dazu diene, den Frieden in Freiheit zu sichern. Deshalb geht es bei dieser Debatte vor allen Dingen auch darum, diesen Anspruch mit der Wirklichkeit und diese Worte mit der Tat zu vergleichen. Da stellen wir fest, daß der Anspruch, das westliche Bündnis bestehe aus einer Gemeinschaft von demokratischen Staaten, hinsichtlich der Türkei nicht eingelöst ist.Wir stellen weiter fest, daß die Worte, man solle den Frieden in Freiheit sichern, durch die Bundesregierung insofern nicht eingelöst werden, als sie in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit nicht mehr vernehmbar auf die Wiederherstellung der Menschenrechte und der Demokratie in der Türkei gedrängt hat. In den letzten Monaten gibt es von seiten der Bundesregierung ein in dieser Beziehung beredtes Schweigen.
Dieses beredte Schweigen wird dann noch verschönert als stille Diplomatie; eine stille Diplomatie, die nur verschleiert, daß man in der Öffentlichkeit nicht mehr im Sinne der Bundestagsresolution Druck auf die Türkei ausüben, Einfluß auf die Entwicklung in der Türkei nehmen will.
Ausgangspunkt unserer Diskussion ist die gemeinsame Entschließung des Bundestages vom 3. Juni 1981. Darin heißt es: Die Rückkehr zu einer funktionsfähigen Demokratie soll sichergestellt werden; die freien Betätigungsrechte für politische Parteien sollen bald wieder hergestellt werden; die volle Pressefreiheit soll bald wieder hergestellt werden; die Foltervorwürfe sollen überprüft werden; die demokratischen Politiker sollen sich weiter betätigen können, und das gilt insbesondere auch für die Parlamentarier.Vergleiche ich diese Erwartung des Deutschen Bundestages mit der heutigen Wirklichkeit in der Türkei, so muß ich feststellen, daß es keine funktionsfähige Demokratie gibt, daß es keine freien Betätigungsrechte für demokratische Parteien und demokratische Politiker gibt, daß die Pressefreiheit nicht wieder voll hergestellt worden ist, daß die Prozesse nicht nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien ablaufen, daß die Foltervorwürfe nicht alle überprüft werden und daß es Massenprozesse und Massenhinrichtungen gibt.Dies ist nicht das, was wir von der Türkei erwartet haben. Deshalb sind die Erwartungen des Bundestages nicht eingelöst, und daraus muß man Konsequenzen ziehen. Dies muß man öffentlich diskutieren, besonders deshalb, weil die Bundesregierung in der letzten Zeit nicht mehr öffentlich darüber diskutiert.Ich meine auch, daß wir einen Punkt neu ansprechen müssen, den wir in früheren Resolutionen nicht erwähnt haben: Das ist die Behandlung nationaler Minderheiten in der Türkei. Wir haben diese Frage damals bewußt in der gemeinsamen Resolution von 1981 ausgeklammert, weil das Problem der Behandlung und der Unterdrückung nationaler Minderheiten in der Türkei nicht nur ein Problem der Generäle heute ist, sondern weil es das Problem bereits auch früher gegeben hat. Ich muß sagen: Es hat dieses Problem auch unter Ecevit gegeben, also auch unter Leuten, die sich als Sozialdemokraten bezeichnen.Aus diesem Grund haben wir es damals nicht in die gemeinsame Resolution aufgenommen. Wir haben es auch deshalb nicht aufgenommen, weil wir nicht den falschen Eindruck erwecken wollten, als stünde für uns die territoriale Integrität der Türkei irgendwie zur Disposition, als wollten wir in irgendeiner Weise separatistische Bewegungen unterstützen, die es dort ja auch gibt. Aber unsere Ablehnung von separatistischen Bewegungen kann nicht bedeuten, daß wir die Unterdrückung nationaler Minderheiten rechtfertigen
— und ihrer Kultur —, weil das unserem Verfassungsverständnis, wie es in der westlichen Welt herrscht, wie es die gemeinsame Grundlage des Europarates bildet, diametral widerspricht.
Aus diesem Grund haben wir in unserer Entschließung heute in Ergänzung der gemeinsamen Entschließung von 1981 die Frage der Behandlung der nationalen Minderheiten mit aufgegriffen.Wir haben auch die Frage des Asylrechts aufgegriffen, weil es tatsächlich nicht angeht, daß trotz des massenhaften Vorkommens von Folter in der Türkei und trotz der tatsächlichen politischen Verfolgung, die in der Türkei geschieht, so getan wird, als gäbe es keine politisch Verfolgten, die Anspruch auf Asyl in der Bundesrepublik Deutschland haben.Weil es in dieser Frage in Gerichtsverfahren merkwürdige und problematische, ja unakzeptable Stellungnahmen von seiten des Auswärtigen Amts gibt, müssen wir auch den Hinweis auf das Asylrecht von politisch Verfolgten und von durch die
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Voigt
Folter Bedrohten jetzt mit in unsere Entschließung aufnehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, können Sie bestätigen, daß selbst diejenigen Türken, die kein Asylrecht bekommen, obwohl sie mit der Folter bedroht sind, was ich bedaure, nach dem geltenden Ausländerrecht nicht abgeschoben werden können?
Der Druck, der von den Behörden — auch von deutschen Behörden — auf die Türken, die politisch verfolgt sind, ausgeübt wird, ist mir in letzter Zeit in einer großen Zahl von Fällen besonders in der Wahlkreisarbeit bekanntgeworden. Der Druck, daß sie von hier weggehen, obwohl sie hierbleiben könnten, ist von deutschen Behörden vorhanden. Selbst wenn sie hierbleiben dürften, löst dies nicht das Problem des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Asyl, sobald man politisch verfolgt ist. Dieser verfassungsrechtliche Anspruch wird nicht eingelöst. Aus diesem Grund haben wir diesen Abschnitt mit in unsere Resolution aufgenommen.
Wir sind der Meinung, daß es bei dieser Frage keine Einäugigkeit geben darf. Darauf hat Herr Kollege Althammer selber hingewiesen.
Aber er hat auch einen Satz aus einer Rede von mir vom Januar 1982 zitiert, in der ich auf den Unterschied in der Art und Weise hingewiesen habe, wie die Bündnissysteme Warschauer Pakt und NATO im Fall Polens und der Türkei reagieren. Ich habe damals hervorgehoben, daß die NATO auf die Wiederherstellung der Demokratie drängt.
Diesen Unterschied habe ich damals hervorgehoben.
Ich erkenne, lieber Kollege Mertes, in der letzten Zeit kein Drängen von seiten der Reagan-Administration in Richtung auf Wiederherstellung der Demokratie in der Türkei.
Aus diesem Grunde meine ich, daß der Unterschied zwischen NATO und Warschauer Pakt, den ich damals unter dem Beifall dieses Hauses hervorgehoben habe, zunehmend schwindet,
weil nämlich im westlichen Bündnis zunehmend aus angeblichen sicherheitspolitischen Interessen das Drängen auf Wiederherstellung der Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte in den
Hintergrund gedrängt werden. Dies ist nicht verantwortlich, und dies kann durch uns nicht akzeptiert werden.
— Behaupten Sie etwa, daß das, was in der Türkei angekündigt ist —, wobei General Evren sogar sagt, daß es eventuell verschoben wird, wenn sich die Politiker nicht brav verhalten —, freie Wahlen sind? Es sind keine freie Wahlen, wenn Tausende von Politikern von der politischen Betätigung ausgeschlossen sind, andere in die Verbannung geschickt worden sind und die Wahlmöglichkeiten auch noch unter bestimmten Repressionen stehen. Das sind nicht freie Wahlen, wie ich sie verstehe.
Ich spreche hier davon, daß die NATO nicht mehr in dem Sinne darauf drängt, wie ich das damals 1982 bei meiner unterschiedlichen Bewertung vorausgesetzt habe. Wenn Sie wollen, daß es anders ist, dann verhalten Sie sich anders! Dann müssen sich insbesondere auch noch die Amerikaner in dieser Frage anders verhalten.
Ich bin trotzdem der Meinung, daß der Antrag der GRÜNEN so für uns nicht akzeptabel ist. Der sofortige Stopp aller finanziellen Hilfen ist ein Rechtsbruch.
— Rechtsbruch ist immer ein formales Argument, liebe Kollegin, aber es ist auch ein substantielles Argument; denn wir Sozialdemokraten legen immer Wert darauf, daß sich die CDU/CSU an die Verträge hält, die gegen ihren Willen von der sozialliberalen Bundesregierung beschlossen und durchgesetzt worden sind.
Weil wir so sehr darauf Wert legen, daß sie sich an die Verträge, z. B. auch an die Ost-Verträge, hält, und weil wir meinen, daß die Bundesregierung und die Bundesrepublik Deutschland kalkulierbar sein und bleiben müssen, sind wir der Meinung, daß die völkerrechtlich verbindlichen Verträge auch dann eingehalten werden müssen, wenn sie gegen unseren Willen beschlossen worden sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Kelly?
Gleich selbstverständlich, aber ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen.In den Fällen, in denen keine rechtsverbindliche Verpflichtung eingegangen worden ist, bei der Soforthilfe, bei der Verteidigungshilfe, sind wir der Meinung, daß keine neuen Hilfsmaßnahmen beschlossen werden sollten. Übrigens haben wir das
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Voigt
bereits im vorigen Jahr in einem Antrag, der damals nicht die Mehrheit fand, hier auch so eingebracht.
Das ist keine neue Position.Auch bei der Frage der Entwicklungspolitik haben wir eine andere Auffassung. Wir sind der Auffassung, daß die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Türkei nicht völlig gestoppt werden soll, weil es im Interesse der notleidenden Menschen in der Türkei weiterhin möglich sein muß, Projekte zu vereinbaren, wenn diese entwicklungspolitisch sinnvoll sind und wenn sie im Rahmen der gesamtentwicklungspolitischen Prioritäten zu verantworten sind. Das muß von Fall zu Fall geprüft werden. Aus diesem Grunde kommen wir in diesen Punkten zu einem anderen Ergebnis als der Antrag der GRÜNEN.
Frau Abgeordnete Kelly, Sie haben jetzt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Abgeordneter Voigt, wie kommen Sie dazu, das mit den Ost-Verträgen zu vergleichen? Wo sind da Parallelen? Es ist Ihnen bekannt, welche Menschenrechtsklauseln durch die türkischen Generäle verletzt werden. Was schlagen Sie vor, um dort Druck auszuüben? Ich verstehe Ihren Vergleich überhaupt nicht.
Die Soforthilfe wird von uns abgelehnt, weil wir durch die Ablehnung auf die türkische Regierung einen Druck in Richtung auf Wiederherstellung der Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte ausüben wollen.
Durch die Soforthilfemaßnahmen selbst werden keine Menschenrechte verletzt.
Der angesprochene Vergleich ist insofern statthaft, weil in Fragen der Rechtsordnung nicht zwischen völkerrechtlich verbindlichen Verträgen erster und zweiter Kategorie unterschieden wird. Eine Bundesregierung muß völkerrechtlich kalkulierbar sein. Man muß sich darauf verlassen können, daß sie sich an völkerrechtlich verbindliche Verträge hält. Wir Sozialdemokraten treten dafür ein, daß dies auch dann der Fall ist, wenn Verträge und Vereinbarungen geschlossen worden sind, die gegen unseren Willen eine Mehrheit gefunden haben. Dies ist eine Position, die wir auch in diesem Fall einnehmen. Darüber können wir jetzt miteinander streiten, aber ich glaube, daß dies ein zumindest erwähnenswerter Unterschied ist. Ich halte es auch für richtig, ihn hier darzulegen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Herr Kollege Voigt, gibt es nach Ihrer Auffassung im Völkerrecht auch so etwas wie den Wegfall der Geschäftsgrundlage, und meinen
Sie nicht, daß, gerade was die Türkei-Hilfe angeht, vielleicht die clausula rebus sic stantibus eine Rolle spielen könnte?
Sie sind ein besserer Jurist als ich, denn ich bin überhaupt keiner.
Ich glaube, daß Sie in diesem Fall deshalb Unrecht haben, weil die völkerrechtlich verbindlichen Verträge in mehreren Fällen zu einer Zeit eingegangen worden sind, als die Generäle bereits an der Macht waren. Insofern ist keine grundsätzlich andere Lage eingetreten. Aus diesem Grunde kann dieses Argument nicht zum Bruch bestehender Vereinbarungen herangezogen werden. Es kann als Argument herangezogen werden, um keine neuen Vereinbarungen und Verträge zu schließen. Dafür plädieren wir.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Bitte sehr. Vizepräsident Frau Renger: Bitte schön.
Herr Kollege Voigt, trifft es dann zu, daß diese Vereinbarungen ohne Rücksicht darauf getroffen worden sind, ob die Türkei Menschenrechte einhält und die Demokratie wiederherstellt bzw. sie überhaupt erst herstellt?
Nein, dies trifft nicht zu. Diese Vereinbarungen sind mit der Absicht geschlossen worden, auf Grund dieser Hilfen zu erreichen, daß die Türkei die Demokratie wiederherstellt und die Menschenrechte einhält. Weil diese Absicht, diese Erwartung, die ausgesprochen worden ist, nicht eingelöst ist, treten wir heute wie im letzten Jahr dafür ein, daß keine neuen Vereinbarungen eingegangen werden. Das ist die logische Position.
— Nein. Lieber Herr Kollege Schily, Sie haben j a noch die Möglichkeit, darauf einzugehen. — Ich glaube, daß der Antrag der SPD-Fraktion in der logischen Konsequenz dessen ist, was wir — erstens — 1981 hier gemeinsam eingebracht haben und was wir — zweitens — auf Grund der Tatsache, daß die Erwartungen nicht eingetroffen sind, Ende 1982 hier als Beschlußvorlage der Sozialdemokratie vorgelegt haben.Ich beantrage im Namen der SPD-Fraktion für unseren Antrag namentliche Abstimmung. Ich bitte Sie im Sinne der Kontinuität der Beschlußfassung von 1981 und im Sinne ihrer konkreten Anwendung von 1982 dieser Vorlage, dieser Entschließung zuzustimmen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 799
Das Wort hat Frau Dr. Hamm-Brücher.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir — meine Fraktion hat mir das im Rahmen meiner Redezeit auch genehmigt —, doch noch einmal kurz auf die vorherige Auseinandersetzung mit dem Herrn Bundesminister Geißler zurückzukommen.
Es gibt j a auch im Parlament so etwas wie eine seelische Hygiene,
die einen auch wieder befähigen muß, sich nachher wieder die Hand zu geben.
— Meine lieben Freunde, wir haben das schon öfters erlebt. Es wird mir wohl gestattet sein — nachdem es meine Fraktion gestattet hat —, daß ich die der Fraktion zur Verfügung stehende Redezeit dazu benutze, mich doch noch zu drei oder vier Punkten zu äußern.
Ich möchte einmal vorausschicken, daß das, was der Herr Fraktionsvorsitzende Dregger vorhin in seinem Versuch auszugleichen — den ich sehr begrüßt habe —, vorgelesen hat, ja die zweite Runde war, nachdem ich Herrn Geißler gebeten hatte, doch noch einmal zu überdenken, was er da vorher gesagt hat.
Frau Kollegin, entschuldigen Sie bitte. Ich hatte Ihre Anfangssätze nicht gehört. Aber jetzt höre ich, daß Sie zum vorherigen Tagesordnungspunkt sprechen wollen.
— Nein, ich muß Sie herzlich bitten, zu Punkt 3 der Tagesordnung zu sprechen. Wir sind inzwischen bei Tagesordnungspunkt 3. Ich bitte Sie daher, Ihre Rede darauf einzustellen.
Frau Präsident, ich bedaure Ihre Entscheidung.
Ich verhalte mich nach der Geschäftsordnung, Frau Kollegin.
Ich habe in diesem Hohen Hause schon mehr als ein halbes dutzendmal erlebt, daß man in einer Debatte auch wieder auf den vorigen Tagesordnungspunkt zurückgekommen ist.
Ich akzeptiere es im Augenblick und werde mir überlegen, in welcher Form ich eine persönliche Erklärung abgeben kann.
Frau Kollegin, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das so handhaben würden.
Ich werde aber dem hohen Präsidium nachweisen, in wie vielen Fällen das schon ohne Beanstandung so gehalten worden ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte für die Fraktion der FDP zu den vorliegenden Anträgen sprechen und vorausschicken, daß der Antrag der SPD in der Beurteilung der Situation in der Türkei — bis auf einen entscheidenden Punkt — weitgehend gleichlautend mit dem ist, was wir wollen, daß wir aber den Antrag der GRÜNEN auf jeden Fall ablehnen müssen. Ich werde Ihnen gleich sagen, weshalb.Es ist nicht so, sehr geehrte Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN, daß wir die Motive Ihres Antrags nicht verstünden und Ihre tiefen Sorgen nicht teilten, die auch Sie hier über die Situation der Menschenrechte in der Türkei und über viele Vorkommnisse geäußert haben, über die wir hier im Deutschen Bundestag j a sehr oft und, wie ich mich erinnere, immer sehr bewegend debattiert haben. Denn es gab in den letzten Jahren wohl kaum ein Thema, das uns in der Abwägung des Für und Wider so bewegt hat wie die Frage: In welcher Weise können wir in geeigneter Form dazu beitragen, diesem armen, geschundenen Land erstens bei der Beseitigung der schwierigsten wirtschaftlichen Probleme zu helfen und ihm zweitens einen neuen Einstieg in eine demokratische Entwicklung zu ermöglichen?Im übrigen dürfte der Begriff „Wiedereinführung der Demokratie" gar nicht genau zutreffen. Denn es hat ja nun schon seit Jahren überhaupt keine demokratisch geordneten Verhältnisse in der Türkei mehr gegeben. Das, was wir in der Zeit vor der Übernahme der Regierung durch die Militärs in der Türkei 1980 erlebt haben, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, war ja nun auch alles andere als die Beachtung der Menschenrechte, alles andere als die einfachsten Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie.Die Tatsache, daß Militärs in der Türkei seit 1960 dreimal die Regierung vorübergehend in die Hand genommen haben, um sie dann wieder an die Politiker und an die Parteien zurückzugeben, macht ja — im Unterschied zu anderen Militärregierungen, z. B. der in Griechenland seinerzeit — doch ganz deutlich, daß hier der Versuch, Demokratie wieder möglich zu machen, doch immerhin respektiert werden muß.Also, meine Damen und Herren von der Fraktion DIE GRÜNEN: Es bedurfte nicht Ihrer Initiative, um uns bewußt zu machen, wie zutiefst unbefriedigend die Situation in der Türkei wirklich ist. Ich glaube auch, daß wir alle in diesem Hause uns nie-
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800 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Frau Dr. Hamm-Brüchermals damit abfinden werden, daß die Türkei ein Mitglied der NATO, ein Mitglied des Europarats, ein Unterzeichner der Menschenrechtskonvention des Europarats ist und doch nach wie vor in so eklatanter Weise die Grundrechte, Bürgerrechte und Menschenrechte verletzt; ich werde darauf nachher zurückkommen.Wenn wir mit einer minimalen Zufriedenheit, Herr Kollege Althammer, hier feststellen können, daß der Zeitplan für die Demokratisierung, der gegeben worden ist, eingehalten worden ist, so muß man aber doch gleich hinzufügen, daß dies ein Zeitplan mit außerordentlichen Schönheitsfehlern ist. Denn wenn Sie einmal die Pressegesetze, die Parteiengesetze nachlesen, sich die Parteizulassungen angucken und sich vergegenwärtigen, was z. B. Ihr Kollege von Hassel erst kürzlich zu dem Fall „Große Türken-Partei" gesagt hat, dann müssen wir uns doch darüber im klaren sein, daß dies alles nicht der Demokratisierungsprozeß ist, den wir uns vorgestellt haben. Denn wenn ohne jede Begründung aus Parteilisten, aus Wahllisten Kandidaten herausgestrichen werden können, wenn mißliebige Politiker verbannt werden können, wenn der Pressefreiheit solche starken Beschränkungen auferlegt werden, dann kann man j a noch nicht sagen, man sei auf dem Wege zur Demokratie.Wir haben oft über die schlimmen und schweren Foltervorwürfe gesprochen. Wir haben wiederholt Erklärungen erhalten, daß die Militärregierung Foltervorwürfe strafrechtlich verfolgen würde. Ich möchte den Vertreter des Auswärtigen Amtes bitten, uns einmal zu sagen, in wieviel Fällen und in welcher Höhe bei Folter nachweislich Verurteilungen ausgesprochen worden sind. Denn allein die Erfolgsmeldung, daß die Zeit, in der Verhaftete ohne anwaltliche Betreuung sind, von 90 Tagen auf 45 Tage reduziert wurde, kann mich und kann meine Fraktion in keiner Weise befriedigen. Denn wir gehen ja von dem rechtsstaatlichen Standpunkt aus, daß schon ein Tag Verhaftung ohne anwaltliche Betreuung zuviel ist. Deshalb müssen wir hier vom Auswärtigen Amt genauere Auskünfte erbitten, wie sich die Frage der Strafverfolgung bei Foltervorwürfen mittlerweile entwickelt hat.Wenn wir uns an die Delegation erinnern, die der Bundestag nach meiner Erinnerung 1981 entsandt hat — ich glaube, Herr Kollege Mertes, Sie waren auch dabei —, dann hat uns nach ihrer Rückkehr doch vieles sehr nachdenklich gestimmt, z. B. auch der Bericht, der von Herrn Karsten Voigt und von Frau Schuchardt besonders hervorgehoben wurde. Er enthielt den dringenden Wunsch des großen, darf man sagen, demokratischen türkischen Politikers Ecevit, auf keinen Fall die Hilfen einzustellen und diese Hilfen als Druckmittel zu benutzen, um den Weg in eine rechtsstaatliche und demokratische Staatsform überhaupt erst zu ermöglichen.Wenn uns nichts überzeugt hat, so doch diese Überlegung: Was würde denn in der Türkei passieren, wenn wir und wenn der Westen seine Hilfe zurückzögen?
— Nein, dann kämen sie nicht unter Druck, sondern dann würden die Menschen dort endgültig der Anarchie, dem Chaos und dem Terrorismus preisgegeben sein. Jeder, der das in der Türkei vor 1980 erlebt hat, und jeder, der die Türkei kennt, bestätigt einem das. Ich habe es mir auch nicht leichtgemacht, Frau Kollegin, aber ich habe am Schluß doch eingesehen, daß wir um der Menschen willen und in der Hoffnung, daß wir dort im Laufe der Zeit eine funktionierende Demokratie erreichen werden, weiter helfen müssen. Wir wissen, daß die soziale Lage sich zunehmend verbessert. Das Außenhandelsdefizit ist, glaube ich, von rund drei Milliarden auf eine Milliarde heruntergegangen. Der Lebensstandard hat sich ganz offensichtlich erhöht. Die Inflationsrate ist ganz entscheidend heruntergegangen. Also, von daher hat es sich doch schon gelohnt.
— Nein, die Todesurteile sind kein Schönheitsfleck, sondern für uns ein Skandal. Ich habe mir die genauen Zahlen noch einmal besorgt. Mir wurde die Auskunft gegeben, daß im Augenblick 161 Todesurteile vorliegen und insgesamt 49 vollstreckt worden sind. Ich kann hier nur auf die Angaben rekurrieren, die mir vom Auswärtigen Amt gemacht wurden. Sie dürfen ganz sicher sein, Frau Kollegin, daß wir dies nicht hingehen lassen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voigt ?
Wenn ich noch Zeit habe, tue ich das gerne, Herr Kollege Voigt.
Sie haben noch Zeit.
Frau Kollegin Hamm-Brücher, Sie haben soeben Herrn Ecevit zitiert, ohne ihn selber in Anspruch zu nehmen. Das kann man auch nicht, wenn man ihn nicht gefährden will. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein Teil der demokratischen Politiker, die damals, als wir mit der gemeinsamen Delegation dort waren — mit ihnen haben wir auch später Kontakt gehabt, den wir zum Teil durch andere Kontakte ergänzt haben — für die Hilfen waren, auf Grund der inneren Entwicklung der Türkei gegenüber unseren Methoden der Fortsetzung der staatlichen Zusammenarbeit im Bereich der Soforthilfe und der Verteidigung zum Teil skeptisch, zum Teil ablehnend geworden sind?
Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Kollege Voigt. Deshalb hatte ich ja sehr gehofft, wir würden beide Anträge in die Ausschüsse verweisen, um uns dort noch einmal in Ruhe über diese ganzen sehr vielschichtigen Probleme zu unterhalten. Vor allem deshalb, weil im November der angeforderte und von der Bundesregierung zugesagte Bericht über die innere Situation der Türkei kommen soll und dann die Entscheidung
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Frau Dr. Hamm-Brücherfür 1983 sehr viel fundierter ausfallen könnte, als es im Augenblick der Fall ist, bedauere ich, daß wir uns die Möglichkeit nehmen, nochmal über die Anträge zu sprechen.Ich darf zusammenfassen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen. Die Freie Demokratische Bundestagsfraktion wird wie bisher auch in Zukunft durch ihre Sprecher und durch ihre Abgeordneten die Situation und die Entwicklung in der Türkei genauestens überprüfen. Eine Fortsetzung unserer Hilfe ist vor allem im Bereich der Projekthilfe notwendig und angezeigt. Ich unterstütze es sehr, daß wir über die Freigabe jener 130 Millionen — die wohl durch Mischfinanzierung aufgestockt werden können — so bald wie möglich in den Ausschüssen entscheiden, Herr Kollege Mertes.Im übrigen sind wir der Meinung, daß die Fortsetzung der Türkeihilfe wirklich nur dann zu rechtfertigen ist, wenn damit dreierlei erreicht wird: erstens eine spürbare Rückkehr zu funktionierenden demokratischen Verhältnissen — es wird sich ja in und nach den Wahlen zeigen, ob sich das so anläßt —, zweitens eine spürbare Verbesserung der Menschenrechtsituation und drittens eine Verbesserung der sozialen Lage in der Türkei. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, läßt sich auch nach unserer Ansicht die Fortsetzung der Hilfe verantworten.Ich gebe am Schluß eine Anregung, meine Damen und Herren. Auch mir sind haarsträubende Asylurteile zu Ohren gekommen, die türkische Christen, aber auch andere mit der Folter bedrohte Asylbewerber betreffen. Wir sind hier gottlob ein freies Parlament. Man sollte sich im Innenausschuß von den Innenministern einen klaren Bericht geben lassen,
in wie vielen Fällen solche Asylanträge abgelehnt worden sind. Denn dann kann man und muß man nach meiner Ansicht auch in diesem Hohen Haus darüber sprechen. Es ist ja nicht zuletzt die Erfahrung des Dritten Reichs gewesen, die die Grundgesetzgeber bewogen hat, ein Asylrecht zu garantieren, das allen politisch Verfolgten und an Leben und Gesundheit Bedrohten bei uns die Möglichkeit der Asylgewährung gibt. Daß lange Zeit sehr viel Mißbrauch mit diesem Asylrecht getrieben worden ist, kann uns nicht davon abhalten, in diesen Fällen nach dem Rechten zu sehen. Meine Fraktion würde eine solche Initiative voll unterstützen. — Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schneider .
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe türkische, liebe kurdische und liebe deutsche Zuhörer!
Ich bin mit der Debatte, wie sie bisher gelaufen ist, überhaupt nicht zufrieden.
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, daß viele der Kollegen, durch jahrelange politische Arbeit abgenutzt, auch schon den Sinn für die wirklichen Verhältnisse in anderen Ländern verloren haben. Ich glaube nicht, daß es nur an der späten Stunde liegt, daß die Stellungnahmen der beiden großen Parteien hier so dürftig ausgefallen sind.
Die Stellungnahme der SPD, Herr Voigt, hat sich eigentlich mit der Situation in der Türkei nur marginal beschäftigt. Sie hat hier nicht deutlich auf den wunden Punkt hingewiesen und weitere Zahlen und Fakten zur Situation in der Türkei gegeben. Sie, meine Damen und Herren, haben nur Angst um ihre staatspolitische Reputation als „konstruktive" Opposition gehabt, und deswegen haben Sie darauf verwiesen, daß unser Antrag nicht rechtmäßig und insofern nicht ganz in Ordnung sei. Sie haben also auf das Recht abgehoben, haben dabei aber vergessen, daß das Recht auf Leben — dieses Recht ist in der Türkei auf das empfindlichste angegriffen — ein viel höheres Recht ist als die Sorge, die Sie haben, daß die Verträge, die Sie eingegangen sind, jetzt vielleicht nicht ohne weiteres zu lösen seien.
Auf der anderen Seite hat die CDU durch Herrn Althammer hier wieder ein Beispiel dafür geboten, wie man die Situation in der Türkei verharmlosen kann, so daß jemand, der nur diese Informationen von Herrn Althammer bekommt, der Meinung sein muß, in der Türkei herrsche eitel Friede und Freude, und es gebe dort keinerlei Menschenrechtsverletzung.
— Herr Althammer hat auf den gleichen Punkt — Rechtsbruch — hingeweisen, als er den Antrag der GRÜNEN kritisierte. Was aber hat er zu den Rechtsbrüchen gesagt, die die türkische Regierung tagtäglich begeht? Ich glaube, Sie haben die Zahlen, die der Kollege Reents genannt hat, einfach durch ein Ohr hereingelassen und durch das andere gleich wieder heraussausen lassen.Was bedeutet es eigentlich für Sie, wenn Sie die Zahlen hören, die hier über die Wirklichkeit in der Türkei auf den Tisch des Hauses gelegt werden, nämlich daß in zweieinhalb Jahren fast 6000 Todesurteile in der Türkei gefordert worden sind, oder wenn gesagt wird, daß allein 208 Morde an politischen Gefangenen in den Gefängnissen der Türkei, und zwar durch Folter, bekanntgeworden sind? Was bedeutet es für Sie, wenn Sie einmal nachlesen — Sie haben diese Meldung ebenso wie die Regierung bekommen —, daß im Gefängnis von Diyarbakir in Kurdistan allein von Amnesty International über 60 Kinder zwischen 11 und 14 Jahren festgestellt worden sind, daß Kinder in andere Gefängnisse einge-
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Schneider
sperrt, gefoltert und teilweise auch zum Tode verurteilt worden sind? Darüber sagen Sie hier kein Wort. Folterungen von Kindern hat es nicht nur in 60 Fällen gegeben, sondern die Dunkelziffer ist weitaus höher.Sie reden sich damit heraus, daß ein so geradliniger und genauer Antrag, wie wir ihn stellen, rechtlich nicht zulässig sei. In dem Beispiel El Salvador haben Sie ganz anders entschieden. Als dort eine Militärregierung an die Macht kam, haben Sie sehr schnell solche rechtlichen Bedenken weggewischt und die Entwicklungshilfe eingestellt.In der Türkei herrscht keine Pressefreiheit, es gibt keine freien Gewerkschaften. In der Türkei besteht keine Möglichkeit, daß, wenn überhaupt Ende dieses Jahres Wahlen kommen, dann auch wirklich dort eine demokratische Regierung kommen wird. Die Hoffnung, die Herr Althammer hier geäußert hat, heißt Sand in die Augen streuen. Das letzte Beispiel, wo sogar die Großtürkische Partei verboten worden ist, müßte Ihnen deutlich gemacht haben, wie es dort wirklich aussieht. Sowohl die eine Gewerkschaft, die es noch gibt, als auch alle Parteien, die bisher zugelassen worden sind, existieren ausschließlich von Gnaden des Militärregimes.
Die Menschenrechte sind nicht teilbar; das haben wir nicht zuletzt und auch heute wieder zu allem Überdruß von Politikern in diesem Hause gehört. Aber wenn angesichts dieser erschreckenden Zahlen, die genannt worden sind, und der Wirklichkeit eines faschistischen Militärregimes in der Türkei hier im Deutschen Bundestag mit einer wahren Orgie von Verharmlosungen uns Sand in die Augen gestreut wird, dann setzen wir auf Ihre Glaubwürdigkeit keinen Pfifferling mehr,
und wir müssen Ihnen den Vorwurf machen, daß Sie mit Ihrer Haltung, gewollt oder ungewollt, ein Militärregime überhaupt erst stützen und am Leben halten.
Wenn einige aus Ihrer Mitte keine Hemmungen haben, den Herztod eines Transitreisenden in Drewitz
als Mord zu bezeichnen, und wenn Sie jede — durchaus kritikwürdige — Handlung eines Ostblockstaates an die große Glocke hängen, dann erwarten wir auch, daß Sie mit ähnlichem Engagement protestieren, wenn es um Massenmord in Nicaragua, El Salvador und in anderen Ländern der Welt geht, und vor allen Dingen, wenn es um diese gravierenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei geht.
Wir erwarten aber auch, daß Sie hier nicht nurwohlklingende Worte machen, sondern daß Sie mitTaten beweisen, daß es Ihnen ernst mit Ihrer Verteidigung der Menschenrechte ist.Durch die Millionenbeträge aus Kassen der deutschen Steuerzahler, die Sie jetzt an die Militärmachthaber überweisen wollen, machen Sie sich objektiv mitschuldig an den Verbrechen des Militärregimes in der Türkei. Dieser Staat kann bei den von Ihnen beschworenen Werten des Westens kein Partner sein. Sie wünschen sicherlich, daß das so wäre, um die militärische Front gegen den Ostblock zu verstärken, und aus wirtschaftlichen Gründen. Aber derzeit verbünden Sie sich objektiv mit dem Faschismus.
Zum Abschluß möchte ich noch einen Wunsch aussprechen. Ich wünche mir, daß einige Herren hier im Saal — besonders die, die so laut schreien, wenn ich solche Bemerkungen mache —
einmal wenigstens eine einzige Woche im Militärgefängnis von Diyarbakir in Kurdistan verbringen und zwar unter den gleichen Bedingungen, wie die kurdischen und türkischen Gefangenen in diesem Gefängnis.
Dann würden Sie hier sicherlich anders reden, und dann würden Sie, trotz der Differenzen, die in vielen, vielen Punkten zwischen uns und den anderen Parteien hier im Saale bestehen, auf Grundlage der Fakten und Verhältnisse und auf Grundlage eines persönlichen Erlebnisses vielleicht sagen: In diesem Punkt hat die Grüne Partei recht. Und Sie würden dann sehr wahrscheinlich auch unserem Antrag ohne Wenn und Aber zustimmen und die Militärhilfe und die Wirtschaftshilfe für die türkische Regierung verweigern.
Das Wort hat Herr Staatsminister Möllemann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne zu drei Punkten, die hier angesprochen worden sind — zu einem speziell ist die Bundesregierung gefragt worden — Stellung nehmen. Ich möchte aber zu Beginn dieser Stellungnahme in aller Deutlichkeit den erneuten Versuch, der auch in anderen Zusammenhängen heute schon gemacht worden ist, zurückweisen, die Bundesregierung der Kumpanei mit menschenrechtswidrigen Praktiken zu bezichtigen.
Es gibt dafür keinen Anlaß. Die Bundesregierung tritt weltweit für die Einhaltung der Menschenrechte ein, so auch in diesem Fall.
— Ja, das ist in der Tat richtig, Herr Kollege Bindig.
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Staatsminister MöllemannDieses Eintreten für die Menschenrechte geschieht in der Tat bei allen Bundesregierungen manchmal laut, manchmal leiser.
Sie wissen aus Ihrer Erfahrung auch in der DritteWelt-Politik sehr genau, daß es gelegentlich zweckmäßiger ist, die Lautstärke etwas zurückzunehmen, um die Intensität der Wirkung zu verstärken.
Ich glaube, wenn Sie sich mit Ihren früheren Kabinettsmitgliedern unterhalten, werden die Ihnen gerade im Blick auf das hier in Rede stehende Land gute Gründe dafür nennen können, daß die Lautstärke allein über Wirkungen noch nichts aussagt.
Ich möchte nun zu den angesprochenen Punkten Stellung nehmen.Zunächst zur Lage der Menschenrechte folgende Feststellung: Nach Angaben der türkischen Regierung wurden bis 31. März in Verfahren vor Militärgerichten 32 650 Personen verurteilt und 10 952 Angeklagte freigesprochen. 28 524 sind bis zu 5 Jahren, 2 418 Personen zwischen 5 und 10 Jahren, 1 017 Personen zu 10 bis 20 Jahren, 433 Personen zu über 20 Jahren, 141 zu lebenslanger Freiheitsstrafe und 117 zur Todesstrafe verurteilt.Ich möchte diese Zahlen nur nennen, weil gerade die Rede von 6 000 Todesurteilen war. Ich glaube, es macht keinen Sinn, wiewohl doch hier im Hause keinerlei Dissens darüber besteht, daß wir alle die Todesstrafe ablehnen.
Man sollte dieses Argument dann nicht mit falschen Zahlen unterlegen. Wir alle haben mehr davon, wenn wir die Zahlen sachlich betrachten.
Vollstreckt wurden zwischen dem 12. September 1980 und heute 49 Todesurteile, wobei die Verurteilung in 23 Fällen wegen extremistischer oder terroristischer Aktivitäten erfolgte.Der Massenprozeß gegen 572 Angeklagte aus der Kurdischen Arbeiterbewegung ist am 24. Mai 1983 in erster Instanz abgeschlossen worden. Die Anklage lautete auf Mitgliedschaft in einer separatistischen Organisation sowie auf zahlreiche Gewalttaten, darunter Tötung von 243 Menschen. 63 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, 38 Todesurteile wegen mildernder Umstände, z. B. jugendlichen Alters, in lebenslange oder zeitliche Freiheitsstrafen umgewandelt. 331 Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen zwischen 3 und 36 Jahren, die übrigen Angeklagten wurden freigesprochen.Die Todesurteile wie auch die Verurteilungen zu mehr als 15 Jahren Freiheitsstrafe werden nach türkischem Strafprozeßrecht von Amts wegen vom Kassationshof überprüft. Vor Vollstreckung müssen Todesurteile noch durch die Beratende Versammlung und den Nationalen Sicherheitsrat bestätigt werden. Nach den Wahlen vom 6. November 1983 sieht die entsprechende Gesetzgebung dann eine Bestätigung durch das Parlament vor.Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß das von der Militärregierung übernommene türkische Strafrecht die Todesstrafe vorsieht, daß frühere türkische Parlamente einer Vollstreckung aber seit Jahren nicht mehr zugestimmt haben. Die Bundesregierung hat sich stets gegen die Vollstrekkung von Todesstrafen eingesetzt und wird dies auch weiterhin mit allem Nachdruck tun.
— Dazu komme ich gleich.Die Bundesregierung ist sich der Verantwortung, die wir hinsichtlich der Wahrung von Freiheits- und Menschenrechten tragen, bewußt. Diese klare Haltung wird die Politik der Bundesregierung auch in Zukunft bestimmen. Sie wird daher auch weiterhin gegenüber der türkischen Führung auf Herstellung und Schutz der Menschenrechte drängen.
— Intensiv und hoffentlich wirkungsvoll, Frau Kollegin. Ich glaube jedenfalls nicht, daß spektakuläre Reiseaktionen, bei denen man von vornherein weiß, daß bestenfalls die Finanzmittel des Steuerzahlers für Tickets aufgewendet werden, um einen Brief dann am Ende doch durch den Botschafter übergeben zu lassen, gegen Todesurteile wirksam werden können.
Die Bundesregierung hat sich in ihrem Bericht an den Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1982 ausführlich mit der Folter in der Türkei befaßt. Damit komme ich zu Ihrer Frage, Frau Kollegin Hamm-Brücher. Sie geht begründeten Foltervorwürfen weiterhin konsequent nach und setzt ihre Einwirkungen auf die türkische Regierung, derartige Vorwürfe zu überprüfen und gegebenenfalls Strafprozesse einzuleiten, fort. Es gibt bisher 500 solcher Verfahren, die in einem uns nicht präzise bekannten Ausmaß auch zu Verurteilungen geführt haben.Die türkische Regierung selbst räumt ein, daß es zu Folterungen kommt. Sie nimmt jedoch für sich in Anspruch, die erste türkische Regierung zu sein, die energisch dagegen vorgeht. Ich glaube, man sollte keinen Zweifel haben, daß unter den früheren Regierungen bedauerlicherweise Folterungen eben auch vorgekommen sind — und diese früheren Regierungen waren demokratische oder jedenfalls demokratisch strukturierte Regierungen —, ohne daß deswegen die Vorwürfe hierdurch relativiert werden. Es hat nur keinen Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen.
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804 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Staatsminister MöllemannMeine Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusammenhang ist eine Entscheidung des obersten türkischen Verwaltungsgerichts vom 14. Juni 1983 — die Entscheidung ist also neuen Datums — von Bedeutung, mit der das türkische Innenministerium zu einer Schadensersatzleistung und einem Schmerzensgeld an den Vater eines zu Tode gefolterten Häftlings verurteilt wurde. Das Gericht hat seine Entscheidung damit begründet, daß das Innenministerium nach den Feststellungen des Militärstaatsanwaltes seine Pflicht verletzt habe, ein Verbrechen zu verhindern, die Schuldigen festzunehmen und sie der Justiz zu überstellen. Ich zitiere nach türkischen Pressemeldungen aus der Entscheidung des Staatsrats:Das Ministerium muß das Personal, das mit der Aufgabe, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, betraut ist, ausbilden und erziehen.Die Folter richtet sich gegen alle Grundsätze von Menschenrechten und bürgerlicher Freiheit und stellt ein Verbrechen nach den Bestimmungen des türkischen Strafgesetzbuches dar. Die Tatsache, daß eine Folterung stattgefunden hat, beweist, daß die Verwaltung ihre Pflicht, ihr Personal beruflich und moralisch zu schulen, vernachlässigt hat.Das Urteil betrifft einen Fall, in dem ein Türke zu Tode gefoltert wurde und der daran schuldige Polizeibeamte zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Dieser wurde jedoch zwei Tage vor Urteilsverkündung auf freien Fuß gesetzt und ist heute noch flüchtig.Es wird sicher noch großer Anstrengungen bedürfen, um die Anwendung der Folter in der Türkei tatsächlich zu unterbinden. Die eben zitierte Entscheidung ist jedoch ein ermutigendes Zeichen, ebenso wie die Tatsache, daß die türkische Presse darüber berichtet hat. Unsere Bemühungen um eine weitere Besserung der Situation werden fortgesetzt.
— Es hat doch keinen Zweck, sich darüber zu streiten, daß das nicht hinreichend ist. Wenn wir doch dafür kämpfen, daß die Situation verbessert wird, sollte man einen solchen Einstieg auch positiv würdigen und begrüßen und daran die Erwartung knüpfen, daß dieser Prozeß sich schnell fortsetzt und die Folter abgeschafft wird.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird sich weiterhin für die Beachtung der Grundfreiheiten und Menschenrechte, den Schutz von Minderheiten und die Wiederherstellung der Demokratie in der Türkei einsetzen. Unsere Möglichkeiten bestehen in Wahrheit nur im direkten Kontakt, im Gespräch, im Versuch, zu überzeugen. Von diesen Möglichkeiten wird intensiv Gebrauch gemacht, um der Türkei unsere Sorgen und Beanstandungen zur Kenntnis zu bringen. Ich will hier nur an die zahlreichen Bemühungen des Bundesaußenministers, an die Gespräche des Regierenden Bürgermeisters von Berlin in der Türkei im März sowie an die Gespräche des Bundeswirtschaftsministers im Mai erinnern.Ein weiterer Bericht über die Entwicklung in der Türkei wird nach den für den 6. November 1983 vorgesehenen Wahlen dem Parlament im Auswärtigen Ausschuß erstattet werden. Eine Entscheidung über die Fortführung der Türkeihilfe sollte nach Auffassung der Bundesregierung erst nach Vorlage dieses Berichts getroffen werden, zumal die zuständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages den laufenden Hilfsmaßnahmen noch im Dezember 1982 zugestimmt haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung. Es gibt keinen Zweifel, daß die Bundesregierung sich mit besonderem Nachdruck für die Einhaltung und Wiederherstellung der Menschenrechte bei unserem Bündnispartner Türkei einsetzt, weil wir meinen, daß die Mitgliedschaft in Europarat und NATO in besonderer Weise zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Ich bitte Sie — insbesondere diejenigen, die gerade mit Zurufen Kritik deutlich gemacht haben — aber ebenso herzlich, zu erkennen, daß sich angesichts der Tatsache, daß nach dem letzten Jahresbericht von amnesty international in 105 Staaten dieser Erde regelmäßig und systematisch die Menschenrechte verletzt werden, unsere Möglichkeiten, die Wiederherstellung der Menschenrechte herbeizuführen, auf all diese Länder erstrecken müssen. Dies überfordert naturgemäß unsere Möglichkeiten, wenn wir glauben, dies sehr schnell bewirken zu können.Darüber hinaus weigert sich die Bundesregierung, mit einer gewissen, manchem hier offenbar sehr eigenen Einäugigkeit Einzelfälle herauszupikken, aus welchen politischen Gründen auch immer. Wir kämpfen vielmehr für die Menschenrechte weltweit. — Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Pohlmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN richtet sich in seiner Konsequenz gegen das türkische Volk. Er nützt den türkischen Menschen nicht, und in seinen Konsequenzen schadet er dem türkischen Volk.
Der Antrag der SPD, der hier heute nachgeschoben worden ist — es ist übrigens sehr interessant, dieses Verfahren zur Kenntnis zu nehmen —, verdient in einigen Punkten eine Erörterung. Darin gibt es Punkte, denen wir zustimmen können. Es gibt kritische Punkte, und es gibt auch Punkte, denen wir nicht zustimmen können. Deswegen wären wir bereit gewesen, Herr Kollege Voigt, diesen Ihren Antrag nach Überweisung in den Ausschüssen zu erörtern. Aber Sie haben einen anderen Vorschlag gemacht.
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Dr. PohlmeierMeine Damen und Herren, wenn wir hier heute abend über die Türkeihilfe beraten, dürfen wir nicht außer acht lassen, in welchem Zustand sich dieses Land bis 1980 befand. Herr Kollege Althammer hat schon darauf hingewiesen, wie heillos sich die türkischen Parteien — bis aufs Messer — befehdeten. Sie konnten in über hundert Wahlgängen keinen Staatspräsidenten wählen. Gesetzgebung und Regierungskontrolle waren erloschen. Extremistische Banden bis in die Polizeitruppen hinein terrorisierten die Bevölkerung. Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, gehen Sie einmal in dieses Land, befragen Sie die Menschen, und beobachten Sie, und stellen Sie fest, welche Erleichterung durch breiteste Bevölkerungsschichten der Türken hindurchgegangen ist. Die wirtschaftliche Produktion war bis 1980 weitgehend zum Erliegen gekommen. Das Land hatte eine Inflationsrate von über 120 %. Die ausländischen Investitionen tendierten auf Null. 1980 war die Türkei ein Land am Rand des Bürgerkriegs.Nach kemalistischer Tradition haben in dieser Lage 1980 Armeegeneräle die Regierungsgewalt übernommen. Seitdem steht die Türkei in der westlichen Welt und in unserer öffentlichen Meinung unter außerordentlich kritischer Beobachtung; ich füge hinzu: zu Recht. Diese kritische Begleitung ist deswegen notwendig, weil sich die Türkei ausdrücklich als Mitglied der westlichen Staatengemeinschaft versteht.Ich bezweifle nun nicht, daß die Generäle den Willen haben, zu einem parlamentarischen System zurückzukehren. Sie haben einen Zeitplan aufgestellt und diesen im wesentlichen eingehalten. Darüber haben wir in den Ausschüssen, Herr Kollege Voigt, im Dezember vergangenen Jahres hier beraten.
— Ich komme dazu noch. Ich teile Ihre Kritik hier weitgehend.Nach alledem, was wir in den letzten Monaten haben erfahren müssen, ist das offensichtlich eine Demokratie, die sich sicher von unseren Vorstellungen, von westlichen Vorstellungen in vielen Punkten entfernt.
Deshalb muß der kritische Dialog mit allen führenden Kräften dieses Landes, muß eine offene und klare Aussprache für alle Freunde der Türkei geführt werden. Dieser Dialog ist für uns eine selbstverständliche Pflicht. Wir müssen uns aber davor hüten, der türkischen Gesellschaft ein westeuropäisches Demokratiemodell überzustülpen. Die ganz andersartigen und in großen Teilen noch halb orientalischen Strukturen dieser Gesellschaft lassen das nicht zu.Ich bedaure, daß diese wie alle vorherigen türkischen Regierungen kein Verhältnis zu ihren Minderheiten gefunden hat, nicht in der Lage ist, mit den Minderheiten ihres Landes umzugehen. Die Kurden, die in ihrer gesamten Geschichte weitgehend eine Nation ohne Staat gewesen sind, sind heute auf drei Länder verteilt.
— Vier, wenn Sie Syrien hinzunehmen.
— Ja, Herr Kollege, vielleicht auch dort. — Sie werden in nahezu allen Ländern verfolgt, in denen sie wohnen. Ich bedaure mit Ihnen, daß diese wie alle vorherigen türkischen Regierungen den Umgang mit diesen und anderen Minderheiten noch nicht gefunden hat.Wer lupenreine Demokratie im westlichen Sinne bedingungslos einfordert, setzt sich dem Verdacht aus, daß er eine Entwicklung in der Türkei tatsächlich überhaupt nicht will, sondern einen revolutionären Umsturz. Wir wollen diesem Land im Vorhof Europas zu einer echten demokratischen, rechtsstaatlichen und sozial gerechten Entwicklung verhelfen. Deshalb treten wir der türkischen Regierung mit einer gewissen Toleranz gegenüber, allerdings mit einer kritischen und fordernden Toleranz.Wenn wir der Türkei helfen wollen, ihren schwierigen Weg erfolgreich zu gehen, dann ist wirtschaftliche Zusammenarbeit dafür unerläßlich. Für diese wirtschaftliche Zusammenarbeit gibt es für uns drei Hauptmotive. Erstens. Wir wollen den wirtschaftlichen Fortschritt in der Türkei fördern, um den Menschen zu helfen, die zu Millionen in drükkender Armut leben und ohne Lebensperspektiven sind. Zweitens. Wir wollen im Vollzug der wirtschaftlichen Zusammenarbeit den politischen Dialog fördern und dadurch den Weg zu mehr Demokratie, zu mehr persönlicher Freiheit sicherer machen.
Drittens. Wir wollen durch einen intensiveren wirtschaftlichen Austausch die Bindung dieses Landes an den Westen stärken.Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei in den letzten drei Jahren zeigt, daß wir hier ein markantes Beispiel der wirtschaftlichen Gesundung und des Wiederaufstiegs aus dem Chaos vor uns haben. Das ist um so bemerkenswerter, als dieser Wiederaufstieg in die Zeit einer schweren Weltwirtschaftskrise fällt. Die Türkei hat in den letzten beiden Jahren ein jährliches reales Wirtschaftswachstum von 4 bis 5% erzielt. Die Zahlungsbilanz ist 1982 annähernd ausgeglichen. Exporterfolge liegen besonders in den Ländern des Nahen Ostens vor. Die Inflationsrate ist von über 100% auf annähernd 30% gedrückt worden.Die große OECD-Rettungsaktion für die Türkei, in deren Rahmen von 1979 bis 1982 etwa 15 Milliarden Dollar in das Land geflossen sind, hat einen durchschlagenden Erfolg gehabt. Im übrigen sollte auch einmal angemerkt werden, daß das nur möglich war, weil die Türkei eng mit dem Internationa-
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Dr. Pohlmeierlen Währungsfonds eng zusammengearbeitet und dessen Rezepte angewandt hat.
Ohne die entschlossene Abkehr von staatswirtschaftlichen Prinzipien und eine deutliche Hinwendung zur Marktwirtschaft wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen.Es bleiben allerdings noch gewaltige Probleme. Der Bevölkerungsdruck wächst wie eine Lawine. Bei jetzt 46 Millionen Einwohnern gibt es jedes Jahr, Jahr für Jahr, alle zwölf Monate, eine Million mehr Türken. Die statistisch kaum erfaßbare Arbeitslosigkeit ist bedrückend und ausweglos. Das Land brauchte jährlich 400 000 bis 500 000 Arbeitsplätze zusätzlich. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung liegt im Jahr bei 1 500 Dollar. Zum Vergleich: Das ärmste Land in der Europäischen Gemeinschaft, nämlich Griechenland, hat etwa das Dreifache.Aus dieser Lage, meine Damen und Herren, ergeben sich die Notwendigkeit und die Schwerpunkte unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Wir wollen und müssen die großen Projekte der finanziellen Zusammenarbeit und die technische Beratungshilfe fortsetzen. Wollen Sie etwa, meine Damen und Herren Antragsteller von den GRÜNEN, das Kohlekraftwerk von Seytömer nicht fertig bauen? Wollen Sie das Kraftwerk Elbistan nicht in Betrieb nehmen, weil die elektrischen Leitstände dann nicht geliefert werden können? Wollen Sie die zahlreichen technischen Beratungsprojekte abbrechen? Wollen Sie das wirklich, mit allen Konsequenzen für die Menschen?Wir halten die wirtschaftliche Zusammenarbeit aus diesem, aber noch aus einem weiteren Grund für unerläßlich. Von den 1,7 Millionen Türken in unserem Land ist hier gesprochen worden. Jeder der über Türkei-Probleme spricht, neigt natürlich dazu, diese Problematik auf Türken- — sprich: Ausländerprobleme bei uns — zu verkürzen. Ich spreche mich dafür aus und die CDU/CSU-Fraktion setzt sich ein für eine umfassende Türkei-Politik. Heimkehrende Türken aus der Bundesrepublik Deutschland — es gibt jetzt schon jährlich etwa 70 000 — stellen ein wertvolles Potential für die Entwicklung der Türkei selbst dar. Die meisten rückkehrwilligen Türken wollen sich in ihrer Heimat selbständig machen. Es ist eine hervorragende entwicklungspolitische Aufgabe, diese Menschen durch produktive Anlagen ihres Sparkapitals und durch intensive Beratungshilfe zu fördern, damit sie so in ihren Heimatregionen Arbeitsplätze schaffen können. Die Rückkehrförderung entschärft unser Ausländerproblem und dient gleichzeitig der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei.Auf dem Hintergrund des wirtschaftlichen Gesundungsprozesses ist die Türkei reif für stärkere privatwirtschaftliche Investitionen. Die bald 50 Millionen Menschen, davon viele Millionen wertvolle Arbeitskräfte, die reichen Ressourcen des Landes und die wirtschaftsstrategische Lage zwischen Europa und dem Nahen Osten machen die Türkei zu einem außerordentlich interessanten Land. Wir erwarten von der türkischen Regierung, daß sie nicht nur nach privatwirtschaftlichen Investitionen ruft, sondern daß sie auch ihrerseits für diese Investitionen die Voraussetzungen schafft, indem sie die bürokratischen Hemmnisse abbaut, indem sie die Staatswirtschaft eingrenzt und das Land attraktiv für westliches Kapital macht.Die Türkei, meine sehr verehrten Damen und Herren, liegt im Vorhof Europas. Seit der Begründung des türkischen Nationalstaats vor 60 Jahren hat sich dieses Land wie kein anderes in der nahöstlichen Region dem europäischen Westen geöffnet. In der Türkei gibt es in weiten Bevölkerungsschichten eine große Sehnsucht nach Europa. Das Land braucht Europa, wenn es wirtschaftlichen Fortschritt erreichen will und wenn es die riesigen Probleme der Bevölkerungszunahme lösen will.Allerdings stellt — das sage ich hier mit allem Nachdruck — der Bevölkerungsexport keine Lösung dar. Das bedeutet, daß 1986 auf keinen Fall die Schleusen für Millionen von Türken in die Länder der EG, d. h. besonders in die Bundesrepublik Deutschland, geöffnet werden können.
Wenn wir aber das soziale und das wirtschaftliche Gefälle nicht für erträglich halten — und es ist nicht erträglich in dieser nahen Nachbarschaft, in der wir uns befinden —, dann gibt es nur den einen Weg: den der intensiven langfristigen und verläßlichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Wir sind zu dieser wirtschaftlichen Zusammenarbeit bereit.
Das bedeutet keineswegs, daß wir den Türken hier Rechte abhandeln wollen, aber wir wollen in einem Gespräch, in einem vernünftigen Dialog die Türken auf dieses Problem aufmerksam machen. Ich hoffe, daß die türkische Regierung zu der Erkenntnis kommt, daß sie im wohlverstandenen eigenen Interesse handelt, wenn sie auf diesen Dialog und das Gespräch mit dieser Zielrichtung eingeht.
Ich bin überzeugt, daß eine Blockadepolitik, wie sie die sofortige Konsequenz Ihres Antrages ist, den türkischen Menschen nicht hilft. Wem es wirklich um Entwicklung, mehr Wohlstand, mehr Freiheit, mehr Sicherheit und mehr Frieden in dieser Region zu tun ist, der muß sich auch für die Wirtschaftshilfe an die Türkei einsetzen. — Ich bedanke mich sehr.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Luuk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte gern dem Herrn Möllemann noch etwas sagen. Wir meinen nicht, daß die
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Frau LuukBundesregierung in dieser Frage nichts tut; aber sie tut zu wenig, und wir hätten gern noch etwas dazugelegt.
Die Bundesregierung hat die für 1982 vorgesehenen Mittel der Soforthilfe für die Türkei im März dieses Jahres freigegeben, obwohl die Erwartungen hinsichtlich einer Rückkehr des Landes zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die der Deutsche Bundestag in seiner einstimmig verabschiedeten Entschließung vom 5. Juni 1981 an eine solche Freigabe geknüpft hatte, bei weitem nicht erfüllt waren.
Dies haben nicht nur oppositionelle Gruppen innerhalb und außerhalb der Türkei festgestellt, nicht nur Organisationen, die sich um Menschenrechte kümmern, wie etwa amnesty international oder Terre des Hommes, dies hat auch die Bundesregierung selbst in ihrem Bericht vom Dezember 1982 festgestellt, in dem sie ihre Haltung so zusammenfaßt: „Die Erwartungen des Deutschen Bundestages an die Türkei sind bisher nur teilweise erfüllt worden." Selbst dies ist nur regierungsamtlicher Euphemismus; denn die neue Verfassung stellt keinen echten Schritt auf dem Weg zurück zur Demokratie dar, weil demokratische Grundsätze und Grundrechte nicht gesichert sind und einige Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention widersprechen.Ehemalige Politiker bleiben weiterhin vom politischen Leben ausgeschlossen, Presse- und Gewerkschaftsaktivitäten unterliegen starken Einschränkungen, nationale und religiöse Minderheiten werden ihrer kulturellen Identität beraubt. Die anhaltenden Berichte über Folterungen und die große Zahl der Inhaftierten, die vielen politischen Prozesse, oft mit Hunderten von Angeklagten, und die Flut harter Strafen bis hin zur Todesstrafe haben unserer Auffassung nach mit Demokratie nichts zu tun.
Welche Gründe haben also die Bundesregierung bewogen, dennoch für die Freigabe der Soforthilfemittel einzutreten und sie durch ihre neugewonnene Mehrheit im Auswärtigen Ausschuß, im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und im Haushaltsausschuß auch gleich absegnen zu lassen?
— Das heißt, daß die Sozialdemokraten andere Vorstellungen hatten und mit ihrem Antrag unterlegen sind.An erster Stelle wird die internationale Türkeihilfe mit der hohen geostrategischen Bedeutung der Türkei für die westlichen Sicherheitsinteressen gerechtfertigt, die ein Abgleiten dieses Landes in ein politisches und wirtschaftliches Chaos nicht zulassen. Diese Begründung erscheint so offensichtlich, daß sie bisher kaum hinterfragt worden ist. Tatsächlich ist aber der Hinweis auf den geostrategischen Wert nicht nur eine unvollkommene, sondern teilweise auch eine irreführende Erklärung für die Notwendigkeit der Türkeihilfe.
Zwar mag unbestritten sein, daß die geographische Lage und die Größe der Türkei sowie die zahlreichen militärischen Anlagen der USA und der NATO diesem Land innerhalb des Bündnisses einen Wert verleihen, der weit über den unmittelbaren Verteidigungsbeitrag der türkischen Streitkräfte hinausreicht. Aber gerade in bezug auf den Nahen und Mittleren Osten, der sicherheitspolitisch für Westeuropa und die USA von vitaler Bedeutung ist, kann nicht von einer Interessengleichheit ausgegangen werden.Was ist von der Idee der politischen Stabilisierung in der Türkei zu halten? Wir wollen doch gerade nicht, daß sich in Ankara ein Militärregime auf Dauer etabliert, das die Menschenrechte mit Füßen tritt.
Wir möchten, daß in der Türkei wieder demokratische Verhältnisse herrschen, die das Land zu einem Partner in der NATO und im Europarat machen, zu dem wir uns als seine Freunde auch bekennen können.
Deshalb haben wir die Pflicht, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die derzeitige Militärregierung dazu zu bewegen, Menschenrechte und Grundfreiheiten zu respektieren.Wir wissen selbst, daß die Zustände vor dem Putsch im September 1980 nicht ideal gewesen sind. Mich hat der Staatsstreich nicht erstaunt, nachdem allein in den 14 Tagen zuvor über 200 Menschen als Ergebnis gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen ermordet wurden.
Ich weiß auch, daß die Militärs die großen politischen Kräfte des Landes ermahnt hatten, gemeinsame Anstrengungen zur Befriedung des Landes zu unternehmen. Ich bedaure sehr, daß dies vor dem Putsch nicht möglich gewesen ist.Es ist auch nicht das erste Mal, daß das Militär dort die Verantwortung übernimmt, man muß aber in diesem Zusammenhang wissen, daß das türkische Militär eine andere Tradition hat als das Militär beispielsweise in einigen lateinamerikanischen Staaten. Atatürk hat zusammen mit der Armee die moderne Türkei geschaffen, und nach dem Putsch war die Hoffnung, daß von dieser Tradition noch etwas lebendig geblieben sei.Diese Hoffnungen aber sind bitter enttäuscht worden. Mit dem Referendum für General Evren haben die Militärs gezeigt, daß sie sich wohl auf Dauer in der Regierung einrichten wollen. Sie haben das Gefüge der demokratischen politischen Parteien weitgehend zerstört. Sie haben Arbeitneh-
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808 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
Frau Luukmerrechte und die Rechte nationaler Minderheiten weitgehend außer Kraft gesetzt, und sie haben zugelassen, daß in der Türkei Menschenrechtsverletzungen, Verhaftungen, Folter und Mord in einem Maße zur Alltäglichkeit geworden sind, das an die Verhältnisse unter dem Obristenregime in Griechenland oder an Diktaturen auf der iberischen Halbinsel erinnern.Wir wollen ein solches System nicht stabilisieren. Deshalb lehnen wir jede NATO-Verteidigungshilfe ab, die über die derzeit völkerrechtlich verbindlichen Verpflichtungen hinausgeht.
Deshalb sind wir gegen Sofortmaßnahmen innerhalb und außerhalb des Rahmens der OECD.Wir wollen auch nicht, daß das Regime in Ankara durch Entwicklungshilfe gestärkt wird. Ich hoffe, daß alle im Bundestag vertretenen Fraktionen, die am 5. März letzten Jahres einstimmig den Beschluß zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung mitgetragen haben, auch heute noch in folgender Überzeugung übereinstimmen — ich zitiere —:Bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland sollte die Verwirklichung der Menschenrechte ein wesentliches Ziel der Politik sein. Bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit— heißt es weiter —sollten jene Länder bevorzugt unterstützt werden, die sich um den Aufbau demokratischer Strukturen bemühen.Das letztere Kriterium trift aber doch wohl kaum auf die Türkei zu.Die Frage ist, ob deshalb auch die reguläre entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Türkei gestoppt werden muß. Wir meinen, dies ist aus zwei Gründen nicht zu empfehlen.Erstens. Ein sofortiger Stopp der Entwicklungszusammenarbeit mit der Türkei, wie ihn beispielsweise die GRÜNEN empfehlen, würde nur dazu führen, daß Entwicklungsruinen stehenbleiben, die alle Mittel, die bisher dafür aufgewendet worden sind, als hinausgeworfenes Geld erscheinen lassen.Zweitens. Bei der Entscheidung über die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit diktatorischen Staaten stellt sich immer wieder die Frage, ob die Bevölkerung, die ohnehin unter Willkür, Einschüchterung und physischer Bedrohung zu leiden hat, noch zusätzlich durch den Entzug von Entwicklungshilfe bestraft werden soll. Wir meinen: Falls eine Zusammenarbeit überhaupt in Frage kommen kann, muß sie auf Vorhaben beschränkt sein, die der notleidenden Bevölkerung unmittelbar zugute kommen. Diese Aussage entspricht auch der erwähnten Bundestagsentschließung.
Deswegen sind wir nicht grundsätzlich dagegen, im Rahmen der regulären entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit der Türkei weitere Projekte zu fördern. Sie müssen aber im Interesse der notleidenden türkischen Bevölkerung liegen, und sie müssen ihren Bedürfnissen dienen. Die betroffenen Menschen müssen an der Planung, Vorbereitung und Durchführung dieser Vorhaben beteiligt sein.
Das heißt: Neue Projekte dürfen nicht mehr großangelegte Vorhaben wie Staudämme oder Kohlegruben sein, die für die betroffenen Menschen weniger Arbeitsplätze, dafür aber erhebliche soziale Umbrüche und wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen. Wir wollen überschaubare ländliche Projekte, kleingewerbliche Projekte, Hilfe bei der Beratung und Ausbildung oder die Bereitstellung günstiger Kredite für kleine Unternehmen und Bauern.Auf diese Weise könnte auch die Reintegration türkischer Arbeitnehmer aus der Bundesrepublik in ihre Heimat besser und wirksamer gefördert werden als durch die bisherige Beschränkung auf die Prämierung jener, die unser Land freiwillig verlassen wollen.
So würde verhindert, daß sich die Investitionen eines zurückkehrenden türkischen Arbeitnehmers auf den Bau eines eigenen Hauses oder den Kauf eines Taxis beschränken. Gerade wir von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion haben in diesem Zusammenhang seit längerer Zeit die Bildung von Arbeitnehmergesellschaften in der Türkei unterstützt. Nur so, meinen wir, können wir dazu beitragen, daß die türkische Infrastruktur verbessert wird und Arbeitsplätze geschaffen werden. Nur so können Arbeitnehmer zur Rückkehr in ihre Heimat bewogen werden, die unser demokratisches System und den Wert demokratischer Grundrechte für ihr eigenes Land kennengelernt haben. Meine Damen und Herren, durch unsere Entschließung wollen wir dazu beitragen, daß sie in eine demokratische Türkei zurückkehren können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schwarz.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Luuk, Sie haben gesagt, Sie wollten mit der Entschließung der Sozialdemokratischen Partei dazu beitragen, daß die Türkei zur Demokratie zurückkehre. Sie haben an Beispielen deutlich gemacht, daß wir derzeit keine Demokratie in der Türkei haben. Niemand in diesem Hause, weder Vertreter der Union noch Vertreter der Bundesregierung, hat gesagt, daß wir in diesem Augenblick in der Türkei eine Demokratie haben. In der Türkei wird mit Hilfe des Ausnahmezustandes regiert; der Weg zum Ausnahmezustand und die Gründe dafür sind dargelegt worden. Die Generale haben uns versprochen, daß sie zur Demokratie zurückkehren wollten. Auf dieser Grundlage haben wir, die Parteien im Deutschen Bundestag — ich nehme die GRÜNEN hier aus; die wollen keinen Konsens, sie sind auch in
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983 809
Schwarzdieser Frage nicht konsensfähig —, unsere Politik gegenüber der Türkei gemeinsam — wir als damalige Oppositionspartei, Sie als Koalitionspartei — betrieben. Ich finde, es stünde dem traditionellen Verhältnis Deutschland-Türkei gut an, wenn wir im Interesse des historischen Bündnisses zwischen Deutschland und der Türkei den Weg zu einer gemeinsamen Politik in der Türkei-Frage suchten.
Ich halte dies für eine wichtige Sache. Ich meine, es bringt uns nichts, wenn die eine Seite die Lage der Türkei verharmlost, die andere Seite die Lage der Türkei dramatisiert.
Wir sind uns in einem Punkt einig: Wir alle wollen die Rückkehr der Türkei zur Demokratie. Da haben die Sozialdemokraten ihre historischen Freunde, da haben wir unsere Freunde, die im Augenblick nicht reden können, die zum Schweigen verurteilt sind. Ich finde, wir müssen klar aussprechen, daß dies im Augenblick so ist. Ich persönlich sehe keine Einmischung in innertürkische Verhältnisse darin, wenn wir dies feststellen; das ist der Tatbestand.
Wenn wir das für die Union sagen, dann sagen wir das als Freunde der Türkei. Ich finde, ein Freund kann eher ein hartes Wort sagen als jemand, den man nicht so gerne mag.Ich finde ein Weiteres. Wir haben eine vertragliche Legitimation, uns über die innere Situation in der Türkei im Deutschen Bundestag zu unterhalten. die Türkei ist NATO-Partner;
was die NATO will, ist klar gesagt. Die Türkei ist Partner im Europarat; das haben nicht wir unterschrieben, sondern das haben die Vorgänger der jetzigen Regierung unterschrieben, das haben die demokratisch gewählten Parlamente der Türkei akzeptiert. Deshalb können wir uns über die Türkei unterhalten. Und dann müssen wir feststellen: es gibt keine Demokratie. Ich finde, daß ein Terminkalender, von Generalen erstellt, allein nicht ausreicht, sondern es kommt auch auf den Inhalt an, was in diesem Terminkalender vereinbart ist.
Ich würde mich persönlich — ich sage das in aller Offenheit — schuldig fühlen, wenn ich nicht die Gelegenheit dieser Debatte dazu benutzte, festzustellen, daß ich von den Generalen enttäuscht bin, die ausgerechnet auf dem Weg der Rückkehr zur Demokratie in der vergangenen Woche Freunde von uns, der CDU, und Freunde der Sozialdemokraten nach Canakele geschickt haben, um Demokratie zurückzugeben. Das verträgt sich mit meinem Verständnis von der Rückkehr zur Demokratie nicht.
Ich finde, das sollten wir hier in aller Offenheit aussprechen: daß es für uns von der Union schwererträglich ist, wenn ein Mann wie Cindoruk, der dieWorte der Generale ernstgenommen hat — „Jetzt beginnt wieder Freiheit in der Türkei, jetzt könnt ihr wieder Parteien gründen" — und der mit zu den Gründern der großen Türkeipartei gehört, weil er dazugehört, d. h. von der Freiheit Gebrauch gemacht hat, von den Generalen nach Canakele geschickt wird. Das müssen wir doch hier als Freunde dieser Menschen in der Türkei, als Demokraten sagen. Da brauchen wir uns doch nicht zu streiten zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten und Liberalen. Das ist doch das, was die Freiheit unseres Parlaments ausmacht, und das ist das, was die Freiheit des NATO-Bündnisses und des Europarates ausmacht.
Ich finde, die Generale täten gut daran, die Männer, die sie nach Canakele geschickt haben, wieder nach Hause zu ihren Frauen und zu ihren Kindern zu schicken, um uns zu beweisen, daß sie die Rückkehr zur Demokratie wollen.
Ich glaube, daß die Türkei ihre eigene Form der Demokratie braucht. Ja, ich glaube, daß die Türkei aus ihrer historischen Entwicklung heraus ihre eigene Form der Demokratie braucht. Ich habe etwas dagegen, wenn manche junge deutsche Demokraten quer durch die Welt gehen und nach dem Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" überall die gleiche demokratische Form haben wollen, wie sie in der Bundesrepublik ist.
Wir haben doch in demokratisch verfaßten Ländern unterschiedliche Strukturen. Stellen Sich sich mal vor, wir hätten in der Bundesrepublik Deutschland das englische Wahlrecht; die Sozialdemokraten wären ja nie an die Regierung gekommen.
Trotzdem reden wir nicht davon — oder die Engländer von uns —, daß das keine Demokratie sei. Gestehen wir doch den Türken zu, daß sie ihren eigenen Weg zu ihrer Demokratie in ihrem historischen Verständnis finden!Ich finde nur, wir sind unseren Freunden, unseren Partnerparteien schuldig, daß der Weg der Rückkehr zur Demokratie nicht beginnen kann mit Verboten neugegründeter Parteien nur, weil der Generalpräsident Angst davor hat, die Große Türkei Partei würde ihm die Stimmen wegnehmen, die er eigentlich für seine Partei, die des Herrn Sunalp, haben will. Das ist keine Demokratie, und das müssen wir aussprechen.
Ich bin der Bundesregierung dankbar, daß sie dies getan hat. Herr Staatsminister, ich glaube, es nützt der Bundesregierung in ihren Gesprächen mit den Regierenden in Ankara, wenn sie sagen kann, daß dieses Parlament weiterhin ja sagt zur Hilfe für die Türkei, zur Entwicklungshilfe, zur Polizeihilfe, zur Militärhilfe, daß wir aber erwarten, daß diese
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810 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 13. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983
SchwarzHilfe nicht benutzt wird, gegen unsere Freunde vorzugehen, sondern daß diese Hilfe benutzt wird, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei zu entwickeln und Demokratie in der Türkei wieder zuzulassen.
Wir alle hier sind Politiker, und wir haben Verständnis dafür, daß wir kritisiert werden. Das haben wir gelernt: als Politiker von der Presse kritisiert zu werden. Gelernte Soldaten sind da empfindsamer als wir. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß ein General, der anders großgeworden ist, ein bißchen empfindsamer reagiert, wenn die Presse ihn kritisiert. Aber wenn ein General Politik macht, dann unterzieht er sich bestimmten Gesetzmäßigkeiten, denen wir als Politiker unterliegen. Eine große Schweizer Zeitung hat gesagt, in der Türkei werde der Versuch unternommen, „Politik ohne Politiker" zu machen. Damit ist etwas Richtiges dargestellt, wie die Entwicklung heute ist. Nur, ich glaube, eine Armee ohne Generale, eine Wirtschaft ohne Manager, eine Gewerkschaft ohne erfahrene Gewerkschafter, eine Presse ohne Journalisten geht nicht. Ich meine, wir sollten von dieser Stelle aus sagen: Wenn die Türkei zur Demokratie zurückkehren will, dann braucht sie auch Politiker, dann braucht sie die Erfahrung, dann braucht sie die Routine, ja, dann braucht sie alles, was wir von einem demokratischen Staat erwarten.Ich finde, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, verehrte Frau Kollegin Luuk, wir haben uns über die Verhältnisse in der Türkei mit den Türken lange unterhalten. Sie sollten die Position überprüfen, die Sie teilweise in Ihren Antrag eingebracht haben. Wir von der CDU/ CSU-Fraktion wollen Ihnen die Gelegenheit dazu geben. Wir werden den Antrag der GRÜNEN ablehnen.
— Wir werden den Antrag der GRÜNEN ablehnen. Nun weiß ich, Herr Parlamentarischer Geschäftsführer — danke schön für die Belehrung —, daß es heute abend nützlich ist, daß wir, damit wir dies gemeinsam mit dem Antrag der Sozialdemokraten in den Ausschüssen beraten können, beantragen, auch diesen Antrag zu überweisen,
damit wir uns dann weiter unterhalten können.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist spät in dieser Stunde, daß wir über die Türkei reden. Ich nütze meine Zeit heute abend nicht aus, weil ich weiß, daß Sie alle das Bedürfnis haben, daß dieser Tag nicht zu spät zu Ende geht.Ich möchte allerdings die Gelegenheit nutzen, an uns alle zu appellieren, an uns, die Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland. Lassen wir uns über die Türkeifrage und das jetzige System nicht auseinanderstreiten! Präsidenten gehen, Regierungen gehen, aber die Völker bleiben. So wird es auch in der Türkei sein.
Deshalb sollen wir versuchen, gemeinsam einen Weg zu finden, von diesem freien Parlament aus, für die in der Türkei zu reden, die unsere Freunde und unsere Partner sind, und alles zu tun, die Rückkehr zur Demokratie sicherzustellen.Dazu müssen wir uns über die Anträge unterhalten, die Sie, die SPD, gestellt haben. Deshalb stelle ich namens der Fraktion der CDU/CSU den Antrag, die Anträge 10/107 und 10/149, wie vom Ältestenrat ursprünglich vorgesehen, an den Auswärtigen Ausschuß als federführenden Ausschuß und an den Innenausschuß, den Verteidigungsausschuß und den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überweisen.Ich bitte die Bundesregierung, die Debatte des Parlaments dazu zu nutzen, mit allem Nachdruck die Regierenden in Ankara dringend zu bitten, den Weg zur Demokratie freizugeben und nicht nur den Terminkalender einzuhalten, sondern auch in der Substanz, in der Gründung demokratischer Parteien, unseren Freunden in der Türkei zu helfen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/107 und über den Antrag der SPD auf Drucksache 10/149.
Für diese beiden Anträge ist namentliche Abstimmung beantragt, und dies ist ausreichend unterstützt. Von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP ist Überweisung beantragt. Der Überweisungsantrag geht nach unserer Geschäftsordnung vor.
Ich lasse über die Überweisung der soeben aufgerufenen Anträge abstimmen. Wer dieser Überweisung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit ist die Überweisung angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind noch nicht am Ende unserer heutigen Aussprache.
— Einen Augenblick! Einen Augenblick! Nach § 32 unserer Geschäftsordnung hat Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher das Wort zu einer Erklärung. Bitte, Frau Abgeordnete.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich werde Sie wirklich nur noch ganz kurz in Anspruch nehmen; nur habe ich einfach das Bedürfnis, doch noch ein paar kurze Bemerkungen zu Protokoll zu geben.Herrn Kollegen Dregger möchte ich für seine Vermittlung danken. Ich möchte hinzufügen, daß er nur den zweiten Teil der Bemerkungen des Herrn Bundesministers Geißler zitiert hat. Ich habe mir den Originalton noch einmal angehört. Herr Geißler hat gesagt, daß der Pazifismus der 30er Jahre
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Frau Dr. Hamm-BrücherAuschwitz — und jetzt kommen die entscheidenden Worte — überhaupt erst möglich gemacht hat.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir wollen um der inneren Hygiene willen die Sache jetzt einfach noch einmal darlegen und dann vielleicht versuchen, auch weiter zusammenzuarbeiten.Daß dies geschichtlich schlicht falsch ist, meine Damen und Herren, wurde bereits geklärt. Ich möchte aber doch noch einmal sagen, warum mich diese Bemerkung oder diese Konstruktion so erregt hat.Es hat doch über 30 Jahre gedauert, bis wir hier in der Bundesrepublik Deutschland die Kraft aufgebracht haben, uns wirklich ernsthaft mit den Ursachen des Geschehens im Dritten Reich auseinanderzusetzen. Nur sehr mühsam begreifen wir, nur sehr schwer können wir auch der jungen Generation vermitteln, wie der Rassenhaß bei uns entstanden ist, wie der Antisemitismus geschürt wurde — übrigens bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von Hofpredigern und ähnlichen Leuten — und wohin dieser Antisemitismus und dieser Rassenhaß geführt haben.Meine Damen und Herren, ich glaube einfach, daß es hier keine Fluchtwege geben darf.
Wir müssen festhalten, daß es dieser Rassenhaß, dieser Antisemitismus war, der Auschwitz schließlich möglich gemacht hat,
und in gar keinem Fall, in gar keinem Fall der Pazifismus!Ich wollte das noch einmal sagen, weil wir uns — gerade gegenüber unserer sehr sensiblen jungen Generation — hüten sollten, hier bequeme Ausreden zu konstruieren, und weil wir das schlicht auch nicht verantworten können.
Wir können es, liebe Kollegen, nicht verantworten, in der innenpolitisch so aufgeheizten Situation pazifistische Gesinnung gedanklich auch nur im entferntesten im Zusammenhang mit Auschwitz zu nennen.
Darf ich noch einen letzten Satz sagen, weil er eine dringende Bitte an uns alle enthält — und ich glaube, da könnten wir alle uns dann auch einigen —: Wir sollten in Respekt vor dem Andenken an die Opfer Begriffe wie Auschwitz und Holocaust nicht zum tagespolitischen Schlagabtausch benutzen.
Ich möchte das gerade den neuen Kollegen sagen, die diese Begriffe auch in ihrem Interview benutzt haben,
einfach weil wir ja voneinander lernen wollen. Abgesehen davon, daß ich es ungewöhnlich geschmacklos finde, Herr Kollege Fischer, zeugt es auch von einer gewissen Verwilderung des politischen Stils, und wir alle sollten trotz der Meinungsunterschiede, die wir haben, dazu beitragen, den guten Stil zu erhalten.
Vielen Dank dafür, daß Sie noch die Geduld gehabt haben!
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 16. Juni 1983, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.