Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzungdarauf verständigt, während der Haushaltsberatungen abdem 24. Juni keine Befragung der Bundesregierung,keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stundendurchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage vonMontag, dem 23. Juni, bis Freitag, dem 27. Juni 2014,festgelegt worden. Sind Sie damit einverstanden? – Dasist offenkundig der Fall. Dann verfahren wir so.Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Parlamen-tarischen Versammlung der Organisation für Sicherheitund Zusammenarbeit in Europa, OSZE, Herr RankoKrivokapić, der auch Präsident des Parlaments vonMontenegro ist, mit seiner Delegation Platz genommen.
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deut-schen Bundestages begrüße ich Sie, sehr geehrter Kol-lege Krivokapić, sehr herzlich. Die Bedeutung der OSZEwird ja gerade in diesen Tagen der Weltöffentlichkeitwieder stärker bewusst. Der Deutsche Bundestag fordertalle Konfliktparteien auf, die Beauftragten der OSZE zurespektieren und für ihren Schutz Sorge zu tragen. FürIhren Aufenthalt bei uns und für Ihr weiteres Wirken inder Parlamentarischen Versammlung der OSZE beglei-ten Sie unsere besten Wünsche.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einstu-fung weiterer Staaten als sichere Herkunfts-staaten und zur Erleichterung desArbeitsmarktzugangs für Asylbewerber undgeduldete AusländerDrucksache 18/1528Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKESchutzbedarf von Roma aus Westbalkanstaa-ten anerkennenDrucksache 18/1616Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierunghat das Wort Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasRecht auf Asyl hat für uns einen hohen Stellenwert
und verdeutlicht den Willen Deutschlands, seine histori-sche und humanitäre Verpflichtung zur Aufnahme vonFlüchtlingen zu erfüllen. Wir sollten klug und verant-wortungsvoll mit dieser Verpflichtung umgehen. Eineverantwortungsvolle Asylpolitik muss auch darauf aus-gerichtet sein, die große Aufnahmebereitschaft, die un-sere Gesellschaft auszeichnet, für die Aufnahme vonwirklich Schutzbedürftigen zu erhalten. Das gilt umsomehr, wenn wir uns die aktuelle Entwicklung der Flücht-lingszahlen anschauen.Seit einigen Jahren steigen die Zuzugszahlen inDeutschland wieder stark an. Innerhalb der Europäi-schen Union weist unser Land heute mit großem Ab-stand die meisten Asylbewerber auf. Im Jahr 2013 habenüber 120 000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt,
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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in Italien waren es 28 000, in Frankreich 66 000, inGroßbritannien 30 000 und in den Niederlanden 17 000.Vor diesem Hintergrund würde ich Sie, Frau KolleginRoth, gerne bitten, dass Sie, wenn Sie die Politik derBundesregierung kritisieren, nicht davon sprechen, esginge hier um Reste des Asylrechts. Wir sind stolz da-rauf, das Land in Europa zu sein, das die meisten Asyl-bewerber aufnimmt.
Die Entwicklung setzt sich in diesem Jahr fort. VonJanuar bis Mai 2014 betrug der Anstieg gegenüber dementsprechenden Vorjahreszeitraum erneut mehr als60 Prozent. Wenn diese Entwicklung so weitergeht, dannliegen wir am Ende dieses Jahres bei rund 200 000 Asyl-anträgen. Die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölke-rung ist auch angesichts dieser hohen Zahlen ungebro-chen groß. Das sehen wir am Beispiel Syrien.Deutschlands Unterstützung für Syrien beläuft sich seit2012 auf rund 520 Millionen Euro. Insgesamt sind 2011nahezu 40 000 syrische Staatsbürger nach Deutschlandeingereist, rechnet man die Zahlen aus den Aufnahme-programmen, die wir gemacht haben, und der Asylbe-werber zusammen. Auch hier sind wir mit Abstand dasLand, das außerhalb des Krisengebietes am meistenFlüchtlinge aus Syrien aufnimmt.
Seit drei Jahren werden bundesweit keine Menschenmehr nach Syrien abgeschoben. Auch dafür haben dieMenschen in unserem Land großes Verständnis.
Dagegen gibt es ein wachsendes Unverständnis fürdie Armutsmigration aus Westbalkanstaaten im Asylver-fahren. In der Tat, seit Aufhebung der Visumspflicht –nicht etwa wegen einer veränderten Lage in den entspre-chenden Staaten – für Serbien, Mazedonien und Bos-nien-Herzegowina ist in Deutschland ein sprunghafterAnstieg der Antragszahlen festzustellen.Im Jahr 2009, also im letzten Jahr vor der Aufhebungder Visumspflicht, kamen etwa 1 000 Asylbewerber ausdiesen Herkunftsstaaten. Im Jahr 2013 waren es bereits32 000. Das war ein Viertel aller 2013 in Deutschlandgestellten Asylanträge.Serbien, meine Damen und Herren, ist im Jahr 2014das zweitstärkste Herkunftsland aller Staaten, aus denenAsylbewerber kommen. Die Zahl der anerkanntenSchutzbedürftigen unter den Angehörigen dieser Staatenliegt jedoch bei unter 1 Prozent.Der vorliegende Gesetzentwurf, den ich hier heuteeinbringe, sieht deshalb vor, Mazedonien, Serbien sowieBosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten nachdem Asylverfahrensgesetz einzustufen.
Für sichere Herkunftsstaaten wird kraft Gesetzes vermu-tet, dass aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendungund der allgemeinen politischen Verhältnisse dort keinepolitische Verfolgung droht.
Dadurch sollen aussichtslose Asylanträge schneller bear-beitet und der Aufenthalt in Deutschland schneller been-det werden können.Die gesetzliche Vermutung der Verfolgungsfreiheit istjedoch widerlegbar. Jeder Asylbewerber hat auch danachweiterhin die Chance, darzulegen, dass er abweichendvon der allgemeinen Lage im Herkunftsland in seinemkonkreten Fall mit Verfolgung rechnen muss.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung hat sich die Einstufung von Serbien, Mazedonienund Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaatennicht leicht gemacht. Wir haben uns anhand der Rechts-lage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politi-schen Verhältnisse ein Gesamturteil über die Verhält-nisse in diesen drei Staaten gebildet.In der Begründung des Gesetzentwurfs werden dieErwägungen für jedes dieser drei Länder ausführlichdargelegt. Für alle drei Länder jedoch gilt: Nach der Be-richterstattung des Auswärtigen Amtes, einschließlichder entsprechenden Asyllageberichte, sowie unter Be-rücksichtigung der Erkenntnisse lokaler Menschen-rechtsgruppen, vor Ort vertretener Nichtregierungsorga-nisationen und auch internationaler Organisationen wiezum Beispiel des Hohen Flüchtlingskommissars der Ver-einten Nationen oder des Internationalen Roten Kreuzes,nach all diesen Bewertungen können Serbien, Mazedo-nien und Bosnien-Herzegowina wirklich als sichere Her-kunftsstaaten angesehen werden.
Serbien, mit dem die EU den Status eines EU-Beitritts-kandidaten verabredet hat, bittet selbst um die Auf-nahme in die Liste als sicheres Herkunftsland.
Wir teilen die Einstufung der drei Länder als sichereHerkunftsländer mit vielen unserer europäischen Nach-barn. Frau Roth, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Ös-terreich, die Schweiz und Großbritannien stufen Serbien,Mazedonien und Bosnien-Herzegowina bereits heute alssichere Herkunftsstaaten ein. Das ist ja nun keine Listevon Schurkenstaaten.
Alle diese Staaten stimmen demnach ganz grundsätz-lich überein mit der in unserem Gesetzentwurf vorge-nommenen Einschätzung der Lage in Serbien, Mazedo-nien und Bosnien-Herzegowina.Auch wenn wir diese Staaten als sichere Herkunfts-länder im Sinne des Asylrechts einstufen, so verschlie-ßen wir nicht die Augen vor den bestehenden Defiziten,die es gerade im Hinblick auf den Umgang mit Minder-heiten auch in diesen Ländern gibt.
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Die Bundesregierung setzt sich deshalb kontinuierlichund intensiv dafür ein, die Lebenssituation der Men-schen vor Ort zu verbessern. Im Rahmen der bilateralenstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit werden dienachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und die verbes-serte Ausbildung insbesondere junger Menschen geför-dert. Auf regionaler Ebene werden Regierungen und zi-vilgesellschaftliche Organisationen im Westbalkan dabeiunterstützt, die soziale Situation benachteiligter Gesell-schaftsgruppen zu verbessern. Die Integration der Min-derheiten wird im Rahmen der Regierungsgespräche re-gelmäßig thematisiert. Das gilt umso mehr für dieBeitrittsverhandlungen zur Europäischen Union mit Ser-bien, die im Januar dieses Jahres begonnen haben. Es istvon einem Staat, der Mitglied der Europäischen Unionwerden will, nicht zu viel verlangt, dass er seine eigenenMinderheiten vernünftig behandelt.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass es auchDebatten gibt, zwei andere Staaten, darunter Albanien,in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufzunehmen; da-rüber wird in aller Ruhe zu sprechen sein. Dort ist dieLage teilweise vergleichbar, teilweise nicht ganz ver-gleichbar. Wir sollten das im weiteren Gesetzgebungs-verfahren in Ruhe miteinander besprechen.Der heute von mir vorgelegte Gesetzentwurf enthältzudem eine Regelung, mit der wir die Situation derAsylbewerber in unserem Land künftig spürbar verbes-sern möchten. Die Wartefrist, nach der Asylbewerbernund Ausländern, die eine Duldung besitzen, die Aus-übung einer Beschäftigung grundsätzlich erlaubt werdenkann, möchten wir auf drei Monate verkürzen.
Durch die Verkürzung dieser Wartefrist sollen die Men-schen früher die Möglichkeit erhalten, durch Aufnahmeeiner Beschäftigung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten,und zwar selbst. Auch da gibt es so etwas wie eine Vor-rangprüfung. Aber man kann nicht einerseits sagen, dieAsylbewerber sollen dem deutschen Steuer- und Bei-tragszahler nicht auf der Tasche liegen, aber anderer-seits, wenn es die Arbeitsmarktlage erlaubt und wenn dieBetroffenen arbeiten können und wollen, sagen: Ihr dürftnicht arbeiten. – Deswegen ist es richtig, diese Frist zuverkürzen.
Ich will die Situation in der Vergangenheit jetzt abernicht kritisieren; diese Regelungen haben wir ja schließ-lich auch beschlossen. Eingeführt wurde diese Frist al-lerdings vor dem Hintergrund einer ganz anderen Ar-beitslosenzahl; auch das darf man nicht vergessen. DieLage in Deutschland ist da unterschiedlich. In Gegendenmit einer sehr niedrigen Arbeitslosenzahl war der Druck,diese Frist zu verkürzen, höher als in anderen Gegenden.Wie auch immer, es ist jedenfalls richtig, dass wir jetztso vorgehen. Es ist auch richtig, die Dreimonatsfrist inden Blick zu nehmen. Denn nach dem Asylrecht befin-den sich die Asylbewerber in aller Regel drei Monate inErstaufnahmelagern.
Wir wollen durch verschiedene Bemühungen erreichen,dass die Asylverfahren im Durchschnitt nach drei Mona-ten abgeschlossen sind, sodass nach diesen drei Monatenim Grunde klar ist, wer bleibt und wer nicht bleibt. Wa-rum sollen diejenigen, die bleiben dürfen, nachdem dasVerfahren abgeschlossen ist, nicht arbeiten dürfen, Bei-träge und Steuern zahlen und sich hier integrieren? Dashaben wir jetzt vor.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um ein kon-struktives und verantwortungsvolles Mitwirken an diesemGesetzgebungsverfahren, das, wie wir alle wissen, mitder Entscheidung im Deutschen Bundestag noch keinenAbschluss gefunden hat; das müssen wir alle miteinan-der bedenken. Ich bitte Sie, in der Tonlage der Debatteeinerseits dem Anspruch und der humanitären Verpflich-tung, die wir mit dem Asylrecht in Deutschland gerneübernommen haben, und andererseits mit dem, was vieleMenschen im Hinblick auf Asylbewerber aus bestimm-ten Ländern bewegt, behutsam und so umzugehen, dasswir zusammenbleiben und uns nicht von manchen, diegenau darauf spekulieren, auseinanderdividieren lassen.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor, mitdem Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien zusicheren Herkunftsstaaten erklärt werden sollen. Das be-deutet, dass die Asylanträge aller Asylsuchenden ausdiesen Staaten in Zukunft im Schnellverfahren abgelehntwerden,
weil sie pauschal als unbegründet gelten, und dass sie in-nerhalb einer Woche das Land verlassen müssen.
Faktisch werden auch jetzt schon Asylanträge vonAntragstellern aus dem Westbalkan im Eiltempo abge-fertigt und nur oberflächlich geprüft. Trotzdem erhielten2013 immerhin 60 Asylsuchende aus diesen Ländern ei-nen humanitären Aufenthaltstitel durch das Bundesamtfür Migration und Flüchtlinge, und weitere 82 erkämpf-ten sich dieses Recht vor den Verwaltungsgerichten.Die Linke fordert ganz klar: Es muss weiterhin faireAsylverfahren für Menschen aus den Staaten im West-balkan geben.
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Ulla Jelpke
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Ich will hier ganz deutlich sagen: Länder, in denenschwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangenwerden, dürfen nicht als sichere Herkunftsstaaten einge-stuft werden.
Aus all diesen Staaten kommen vor allem Roma alsAsylsuchende nach Deutschland. 90 Prozent der Asylsu-chenden aus Serbien sind Roma. Aus Mazedonien sindes 80 Prozent und aus Bosnien-Herzegowina 65 Prozent.Es ist bekannt, dass diese Minderheiten dort am Randeder Gesellschaft leben und Opfer von rassistischen Über-griffen und Kampagnen sind. Gerade weil wir als Deut-sche Roma gegenüber eine historische Verantwortunghaben, meinen wir, dass diese Länder nicht einfach alssichere Herkunftsstaaten eingestuft werden können.
Über eine halbe Million Sinti und Roma sind währenddes Faschismus in ganz Europa umgekommen. DieserGesetzentwurf tut gerade so, als hätte es diesen Teil derGeschichte, diesen Antiziganismus, nie gegeben. Ich ap-pelliere an Sie: Handeln Sie, und seien Sie hier nicht ge-schichtsvergessen!
In diesen Tagen gibt es erschreckende Meldungen ausSerbien und Bosnien-Herzegowina. Dort wurden durcheine Überschwemmungskatastrophe Häuser und ganzeSiedlungen zerstört. Zehntausende Menschen sind ob-dachlos, und es besteht Seuchengefahr. Die Behördenversuchen, zu helfen, wo sie können; das ist keine Frage.Diese Hilfe kommt aber längst nicht bei allen an.Insbesondere Roma sind von den Fluten betroffen;denn ihre Siedlungen befinden sich direkt an den Fluss-ufern. Erst in dieser Woche hat der Ombudsmann fürBürgerrechte, Saša Janković, in Bosnien-Herzegowinabeklagt, dass dort einer Gruppe von 30 Roma der Zu-gang zu Aufnahmezentren einfach verweigert wurde,weil sie Roma waren. Sie wurden stattdessen in einenBunker verfrachtet, der durch Rattengift verseucht war –ohne Toiletten, ohne sauberes Wasser und ohne An-schluss an das Abwassersystem. Ihnen wurde die Unter-stützung, die andere Bürgerinnen und Bürger dort selbst-verständlich erhalten haben, nicht zuteil – und das einzigund allein, weil sie Roma sind. Das ist die schrecklicheRealität, die auch Sie von der Koalition einfach einmalzur Kenntnis nehmen müssen.
Das ist eine von vielen Geschichten alltäglicher Dis-kriminierung, die Roma in den Staaten des ehemaligenJugoslawien erdulden und erleiden müssen. Ich willnoch weitere Beispiele aus Serbien nennen:45 000 Roma, Flüchtlinge aus dem Kosovo, lebendort ohne Personaldokumente und damit völlig rechtlos.Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgungund zu Sozialleistungen. Man muss hier ganz deutlichsagen: Insgesamt gibt es dort 400 informelle Roma-Sied-lungen. Ein Drittel davon hat keine Wasserversorgung,70 Prozent der Haushalte sind nicht an das Abwassersys-tem angeschlossen, und häufig gibt es auch keinenStrom. Ich glaube, ich muss hier nicht sagen, was dasdort bedeutet – insbesondere für Kinder und für Frauen.Laut UNICEF ist die Kindersterblichkeit bei Roma inSerbien viermal so hoch wie im Durchschnitt.All diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie schmalder Grat zwischen Diskriminierung und lebensbedrohen-der Ausgrenzung ist.
Wir reden nicht einfach über Armut. Wir reden übermassive Verletzungen der sozialen Menschenrechte.Nach den Asylrichtlinien der EU muss auch eine Mehr-fachdiskriminierung zur Anerkennung als Flüchtlingführen.Herr Innenminister, ich sage es gerne noch einmal:Wenn diese Menschen in irgendeiner Weise von schwer-wiegenden Verletzungen eines grundlegenden Men-schenrechtes betroffen sind, muss auch das zum Schutzin unserem Land führen, nicht nur die enge Sicht auf diepolitische Verfolgung.
Übrigens – auch das hat der Innenminister hier nicht er-wähnt – hat auch der UNHCR in seiner Stellungnahmezu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf klar gefor-dert, dass das europäische Recht angewendet bzw. end-lich in die Praxis umgesetzt werden soll.In der Begründung des Gesetzentwurfs findet sich zuall diesen Menschenrechtsverletzungen kein einzigesWort. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat zu Rechtvon einer „Bagatellisierung“ der Menschenrechtslage inden Westbalkanstaaten gesprochen. In dem vorliegendenGesetzentwurf werden die zahlreichen Berichte vonMenschenrechtsgruppen, Institutionen und dem Europa-rat sowie der US-Menschenrechtsbericht – das sollschon etwas heißen – ignoriert. Diese Ignoranz der Bun-desregierung ist meines Erachtens wirklich unerträglich.
Diese ganze Debatte vergiftet zusehends das gesell-schaftliche Klima in der Bundesrepublik. Am Mittwochwurden zum Beispiel neue Zahlen einer Studie der Uni-versität Leipzig zum Rassismus in der Mitte dieser Ge-sellschaft bekannt. Demnach haben 55,4 Prozent der Be-fragten ein Problem damit, wenn sich Roma und Sinti inihrer Gegend aufhalten. 47,1 Prozent finden, Roma undSinti sollten aus den Innenstädten verbannt werden.55,9 Prozent unterstellen ihnen eine höhere Neigung zuKriminalität. – All diese Werte sind im Vergleich zurUmfrage von 2011 deutlich gestiegen.Der grassierende Antiziganismus ist auch das Ergeb-nis dieser unsäglichen Asylmissbrauchsdebatten, die wirseit mindestens zwei Jahren in dieser Gesellschaft füh-
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ren, besonders auf der rechten Seite dieses Hauses. Dasist unerträglich.
Frau Kollegin.
Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Das müssten Sie schon längst gekommen sein.
Man befeuert damit jedenfalls den Antiziganismus in
dieser Gesellschaft.
Ich sage zum Schluss noch einmal: Ziehen Sie diesen
Gesetzentwurf zurück! Beenden Sie die Asylschnellver-
fahren, und erkennen Sie den Schutzbedarf von Roma
aus den Westbalkanstaaten an! Seien Sie mit dieser
Gruppe solidarisch. Ich denke, sie hat es historisch ver-
dient.
Ich danke Ihnen.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Rüdiger Veit, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ummit einem Bekenntnis zu beginnen: Ich habe an diesemPult und vor Ihnen selten mit so gemischten Gefühlengestanden.Ich beginne mit dem, was aus meiner Sicht uneinge-schränkt positiv ist und was wir mit unserem jetzigenKoalitionspartner erreicht haben. Es ist nach dem Vor-lauf, auf den ich noch zu sprechen komme, in der Tat fastsensationell zu nennen: Die Dauer des Arbeitsverbotesfür Asylbewerber und Geduldete wurde gekürzt.
Diese Frist beträgt im Augenblick noch 12 bzw. 9 Mo-nate. Wenn der vorliegende Entwurf Gesetz wird, wirddie Dauer des Arbeitsverbotes in Zukunft auf 3 Monateverkürzt. Die Betreffenden sind damit in der Lage, sichund ihre Familien selbst zu versorgen.Wenn uns das gelingt, dann gelingt uns zugleich auchdie Durchbrechung eines Teufelskreises in anderer Hin-sicht; denn bei vielen, die hier zwar nicht als Flüchtlingeoder Asylberechtigte anerkannt werden, die aber nichtabgeschoben werden oder ausreisen können, ist es heutenoch immer – so möchte man sagen – wie beimHauptmann von Köpenick: Wenn du keinen Aufenthalts-titel hast, bekommst du keine Arbeit. Wenn du keine Ar-beit hast, bekommst du keinen Aufenthaltstitel. – Auchdiesen Teufelskreis werden wir durchbrechen, wenn diebetroffene Personengruppe nach drei Monaten den Ar-beitsmarktzugang haben wird.Ich bin schon lange in der Politik und erinnere michdaran, dass sogar Otto Schily und Günter Beckstein– das war wirklich so; das ist kein Missverständnis oderHörfehler – in einer gemeinsamen Initiative vor vielenJahren gefordert haben, dass das unselige Arbeitsverbotfür Geduldete und Asylbewerber auf sechs Monate ver-kürzt werden muss. Das hat sich damals nicht durchge-setzt. Heute ist es endlich so weit. Es hat lange genug ge-dauert. Meine Kollegin Daniela Kolbe wird noch imEinzelnen darauf eingehen.Ich komme jetzt zu dem Teil, der mir zugegebenerma-ßen wenig Freude macht. Ich darf vorausschicken – ichbitte um Nachsicht für diese persönliche Bemerkung –:Ich gehörte innerhalb der hessischen SPD zu denjenigen,die den Asylkompromiss von 1993, zu dem auch dasPrinzip und Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ge-hörte und gehört, nachhaltig bekämpft haben. Deswegenkönnen Sie mir gerne glauben, dass es mir in den Koali-tionsverhandlungen wirklich schwergefallen ist, derUnion zuzugestehen, dass wir die drei Westbalkanstaa-ten in die Liste der sicheren Herkunftsländer aufnehmen.
Aber neben diesen grundsätzlichen Überlegungenund Vorbehalten, die ich auch heute noch gegenüber die-sem System habe – das will ich nicht verhehlen; wir sindinnerhalb der SPD durchaus unterschiedlicher Meinung,aber meine Position jedenfalls hat sich im Grundsatznicht verändert –,
muss man klarstellend Folgendes sagen: Zunächst ein-mal ist es nicht so, liebe Ulla Jelpke, dass damit alle, dieaus diesen Ländern zu uns kommen, rechtlos gestelltwerden. Es gibt nach § 36 des Asylverfahrensgesetzesein vereinfachtes, beschleunigtes Verfahren, auf dasauch der Herr Minister bereits hingewiesen hat.Es gibt im Übrigen sogar Praktiker aus den Bundes-ländern, die bestreiten, dass eine Einstufung als sichereHerkunftsländer wirklich zu einer nachhaltigen Arbeits-entlastung des Bundesamtes für Migration und Flücht-linge führt. Wir allerdings hoffen das und gehen davonaus.Es wird aber mit dieser Systematik der sicheren Her-kunftsländer eine für jeden Einzelnen widerlegbare Re-gelvermutung begründet, er sei nicht verfolgt. Er kannalso beim BAMF das Gegenteil geltend machen. Er kanndagegen auch Rechtsschutz in Anspruch nehmen, wennauch in kürzester Frist. Das ist richtig.
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Er kann auch nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsge-richtsordnung einstweiligen Rechtsschutz beantragen
und darf dann, solange darüber nicht entschieden wor-den ist – auch hierbei gibt es eine kurze Frist –, nicht ab-geschoben werden.
Angesichts der Tatsache, dass wir es bei den dreiWestbalkanstaaten mit Schutzquoten zu tun haben, die inden vergangenen Jahren unter 0,5 Prozent gelegen ha-ben, habe ich durchaus Zutrauen in das Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge, in die Qualität, Sorgfalt undSensibilität der dortigen Bearbeiter und Entscheider
– ich komme gleich dazu –, dass es gelingt, nach wie vordie Schutzbedürftigen zu erfassen und sie auch mit Blei-berechten auszustatten.Es ist nicht richtig, liebe Kollegin Amtsberg, dass wirdann ohne Weiteres von 10-Minuten-Anhörungen auszu-gehen haben. Ich sagte schon: Es gibt sogar Praktikeraus den Bundesländern, die meinen, das beschleunigteadministrative Verfahren werde letztendlich gar keinegroßen administrativen Erleichterungen bringen.Ich wiederhole – in diesem Zusammenhang danke ichauch den Mitarbeitern in Nürnberg bzw. dort, wo siesonst in der Bundesrepublik tätig sind –: Anders als frü-her, als die Behörde noch Bundesanstalt für die Aner-kennung ausländischer Flüchtlinge hieß, aber in Wirk-lichkeit eher für die Ablehnung von Flüchtlingen eintrat,ist es heute so, dass unter der sensiblen Amtsführung desdamaligen Präsidenten Albert Schmid und des derzeiti-gen Präsidenten Manfred Schmidt die Mitarbeiter in derLage sind, die Schutzbedürftigen entsprechend heraus-zufinden. Dafür noch einmal meinen herzlichen Dank!
In Albanien und Montenegro – der Minister hat es an-gesprochen – ist die Situation etwas anders. Für Antrag-steller aus Montenegro beträgt die Schutzquote 0,0. BeiAntragstellern aus Albanien ist sie, anders als bei denanderen Herkunftsstaaten, über die wir heute reden,deutlich höher. Das hat aber unterschiedliche Ursachen,die wir in der Tat sorgfältig beobachten müssen. Dazulaufen Gespräche. Ich gebe aber keine Erklärungen da-rüber ab, ob die SPD dazu bereit sein könnte, über diejetzt vereinbarten drei Staaten hinaus weitere Staatenaufzunehmen. Aber ich sichere zu, dass wir diesen Kom-plex weiterhin sachkundig, wie ich hoffe, und ohneScheuklappen bearbeiten werden. Dann wird man dasErgebnis sehen.Übrigens, was Albanien angeht – liebe Ulla Jelpke,auch diesen Hinweis will ich geben –, ist es keineswegsso, dass alle, die aus Albanien zu uns kommen, Romasind. Ausgerechnet aus dem Land sind es nur 6 Prozent.Alle anderen haben eine andere ethnische oder staatsbür-gerschaftliche Herkunft.Jenseits dessen, was wir nun damit schaffen werden,ist dies für mich persönlich ein sehr schwieriger Kom-promiss gewesen. Aber wir haben in den Koalitionsver-handlungen gerade im Bereich des Flüchtlingsrechts ei-niges erreicht. – Nun schaue ich ganz bewusst die beidenVerhandlungsführerinnen in der Arbeitsgruppe „Migra-tion/Integration“, Frau Kollegin Maria Böhmer und FrauKollegin Aydan Özoğuz, an. Ich denke, wir haben unsgerade für Flüchtlinge eine Reihe von Verbesserungenvorgenommen, die sich sehen lassen können. Dazu ge-hört das stichtagsunabhängige Bleiberecht, dazu gehörteine Ausweitung des Resettlement-Programms, dazu ge-hört die Fastabschaffung der Residenzpflicht, dazu ge-hört die frühzeitige Unterweisung in der deutschen Spra-che, und dazu gehört natürlich auch die Frage derHandlungsfähigkeit von 16- und 17-Jährigen, die in Zu-kunft als Kinder einzustufen sind, was das Asylverfah-rensrecht angeht. Das alles sind wichtige Maßnahmenfür Flüchtlinge – auf den Arbeitsmarkt bin ich schon zusprechen gekommen –, die sich sehen lassen können.Eine Koalitionsvereinbarung ist immer – wem sage ichdas eigentlich hier im Haus, wer ist denn so unerfahren,dass er das nicht wüsste – ein Geben und ein Nehmen.Von daher gesehen ist das letztendlich ein Kompromiss,zu dem wir Sozialdemokraten stehen.Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Da ich vonmeiner persönlichen Befindlichkeit bei der Ausweisungvon Ländern als sichere Herkunftsländer gesprochenhabe, will ich darauf hinweisen, dass in unseren Reihen,auch bei unseren Länderinnenministern und Senatorender SPD, durchaus die Sorge besteht, die Bundesministerde Maizière hier artikuliert hat, nämlich dass die Akzep-tanz für die Aufnahme noch schutzbedürftigerer Men-schen als derjenigen vom Westbalkan in unserer Bevöl-kerung schwinden kann, wenn wir alle wieder mitGrößenordnungen konfrontiert sind, die man nur sehrschwer bewältigen kann. Wir sind zwar weit entfernt vonden Größenordnungen von 1991/92. Damals gab es450 000 Asylantragsteller und über 400 000 Spätaus-siedler. Aber man sollte versuchen, die Sensibilität sichselber zu bewahren und in der Bevölkerung zu erhalten.Ich füge hinzu: Wenn das nach dem Prinzip kommu-nizierender Röhren funktioniert und man die Meinungvertritt, dass diejenigen, die vielleicht weniger schutzbe-dürftig sind, möglichst zügig in ihre Heimat zurückkeh-ren sollen, damit wir uns um diejenigen kümmern kön-nen, die in besonderem Maße an Leib und Leben bedrohtund traumatisiert sind, dann gehört dazu – darum bitteich auch unseren Koalitionspartner –, dass wir uns in Eu-ropa, bezogen auf die Aufnahme syrischer Flüchtlinge,weiterhin so vorbildlich verhalten, wie wir das bisher ge-tan haben. Da erwarte ich, Herr Minister, insbesonderevon der nächsten Innenministerkonferenz in Bonn in dernächsten Woche entsprechende Fortschritte.
Lassen Sie mich noch etwas zur Situation der Sintiund Roma sagen. Ich weiß nicht, ob nur ich dieser Mei-
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Rüdiger Veit
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nung bin, aber meine Einschätzung ist, dass diese größteEthnie bzw. Minderheit überall in Europa schlecht be-handelt wird, nicht nur auf dem Westbalkan. Ich erinneremich an einen Besuch in der Harzer Straße in Berlin-Neukölln – die Kollegin Kolbe hat ihn freundlicherweiseorganisiert –, wo wir mit Betroffenen – dabei hat es sichum Roma vorwiegend aus Bulgarien und Rumänien ge-handelt – genauso gesprochen haben wie mit Sozialar-beitern. Bei diesem Besuch wurde uns noch einmal klarund deutlich vor Augen geführt: Selbst hier bei uns inDeutschland – die Zahlen aus der Studie sind eben ge-nannt worden – gibt es so etwas wie eine Hierarchie derFremden. Diejenigen, die nicht zur Stammbevölkerunggehören, unterteilen sich ungefähr wie folgt – so wurdees uns gesagt; ich befürchte, dass das so ist –: Relativweit oben stehen die Türken, die noch gut emanzipiertsind. Dann kommen diejenigen russischer Abstammung,gefolgt von denjenigen arabischer Abstammung oderHerkunft. Ganz am Schluss dieser Kette, wenn es umAnerkennung und Integration sowie um die Frage geht,wie man ihnen begegnet, befinden sich, auch bei uns inDeutschland, Sinti und Roma. Nach meiner Einschät-zung ist das in ganz Europa so. Deswegen müssen wirunsere europäischen Anstrengungen darauf richten, dieLebensbedingungen, die für diese Ethnie in ganz Europawirklich schändlich sind, dort, wo sie sich in erster Linieaufhält, zu verbessern. Das jedenfalls wäre der gemein-samen Anstrengungen wert. Das würde unserer histori-schen Verantwortung dieser Ethnie und dieser Bevölke-rungsgruppe gegenüber entsprechen. Das wäre eineGemeinsamkeit, zu der wir uns zusammenfinden könn-ten.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
„Sie gehören zu den Verwundbarsten unserer Gesell-schaft, vor allem wenn es darum geht, sie in unserem …Umfeld zu integrieren und sie zu fördern.“ Das wurdebei einem Treffen mit Papst Franziskus gestern Abendgesagt. Dieses Zitat stelle ich an den Anfang meinerRede.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen der Großen Koalition! Ichfinde es traurig, dass wir heute im Zusammenhang mitdem ersten Gesetzentwurf der Koalition im flüchtlings-politischen Bereich eine weitere Einschränkung desAsylrechts diskutieren und nach meiner Auffassung mitdiesem Gesetzentwurf dem Asylrecht den finalen Todes-stoß versetzen.
Heute, fast auf die Woche genau 21 Jahre später, brin-gen Sie einen Gesetzentwurf ein, bei dem mehr als deut-lich wird, dass Sie erneut die bundesrechtlichen undeuroparechtlichen Voraussetzungen auf Kosten der Men-schenrechte und auf Kosten der europäischen Idee igno-rieren. Das ist einfach nur enttäuschend.
Bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU, wundert es mich nicht. Von Ihnen haben wir ge-lernt, wie man so eine Grundgesetzverschärfung vonlanger Hand plant und vorbereitet. Blickt man zurückauf das Ende der letzten Legislatur, bekommt man dafüreine perfekte Handlungsanleitung. Das geht so: Erst las-sen Sie den damaligen Bundesinnenminister wegen stei-gender Asylzahlen eine Debatte über die Wiedereinfüh-rung der Visumspflicht und innereuropäische Grenzenauslösen. Mal austesten, wie weit es so geht mit unseremeuropäischen Bewusstsein. – Na ja, für das Aufstellenvon Schlagbäumen hat es zum Glück nicht gereicht,wohl aber dafür, das Bundesamt anzuweisen, das Asyl-verfahren für Menschen aus dieser Region zu beschleu-nigen.Dann lässt man die Schwesterpartei und ihr – nun ja –Flaggschiff Horst Seehofer, der mit seiner Einwande-rungspolitik wirklich nur noch die Emotionalsten unteruns zum Kopfschütteln bringt, an den Ball. Der erzähltdann was vom Missbrauch unseres Sozialsystems – alsob es in Deutschland keine Gesetze gäbe, die diesen ver-hindern würden! –, macht mit Betrügergerüchten Frontgegen Bulgaren und Rumänen und vergiftet damit vorder Europawahl das gesellschaftliche Klima in Deutsch-land gegenüber Europa.
Damit es dann auch alle glauben, spricht sogar die Kanz-lerin von Sozialmissbrauch in einer ihrer Regierungs-erklärungen.Im letzten Schritt – und das ist wirklich unerträglich,durchsichtig und perfide – nehmen Sie die niedrigenSchutzquoten von Menschen aus dieser Region alsRechtfertigung für diesen Gesetzentwurf und berufensich damit auf Fakten, die Sie mit Ihrer vorangegange-nen Politik selber geschaffen haben.
Man muss schon an Amnesie leiden, um diese Taktiknicht zu begreifen. Ihnen, liebe Christdemokraten, kannich also an der Stelle keine unbedachte oder fahrlässigePolitik vorwerfen; denn das, was Sie hier intendieren, istabsolut gewollt.Was aber um alles in der Welt ist eigentlich mit euchlos, liebe Sozialdemokraten?
Wie konntet ihr nach 1993, als das Grundrecht auf Asylseines Inhalts beraubt wurde, mit euren Stimmen – ichweiß, lieber Rüdiger, dass das vielen von euch noch auf
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Luise Amtsberg
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der Seele liegt –, zulassen, dass an diese Politik jetztwieder angeknüpft wird? Ihr wisst doch, dass mit dieserGrundgesetzänderung das elendige Hin- und Herge-schiebe von Schutzsuchenden in Europa erst möglich ge-macht wurde, dass heute nur noch weniger als 2 Prozentder Asylsuchenden in Deutschland über unseren Verfas-sungsartikel geschützt werden, dass alle anderen unterdie Dublin-Regulierung fallen und dass niemand inDeutschland einfach so vom Himmel fällt und Asyl be-antragt. Wie kann es sein, dass ihr erneut vor der Panik-mache der CDU vor steigenden Asylbewerberzahleneinknickt? Ich kann das wirklich nicht glauben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzent-wurf schlägt – das wurde noch nicht gesagt – noch in ei-nem anderen Bereich dem Fass den Boden aus; denn indem Gesetz geht es auch um eine zweite Sache, die be-dauerlicherweise überhaupt gar nichts mit der erstenSache zu tun hat – es handelt sich also um eine Art Sam-melgesetz –: Es geht nämlich auch um den Arbeits-marktzugang von Asylbewerberinnen und Asylbewer-bern in Deutschland.Keine Frage: Die Absenkung der Frist für den Zugangzum Arbeitsmarkt von neun auf drei Monate ist ein gutesAnliegen. Aber auch hier, wie auch schon bei der De-batte über den Optionszwang oder die Residenzpflicht,gehen Sie nur einen halben Schritt. Eine Lockerung derArbeitsverbote macht doch nur dann Sinn, wenn die so-genannte Vorrangprüfung wegfällt. Wenn dieser Schrittnicht gegangen wird, dann ist den meisten Asylbewerbe-rinnen und Asylbewerbern leider überhaupt nicht gehol-fen.
Damit ist dieses zentrale Anliegen, liebe SPD, nochnicht mal mehr ein Zückerchen, sondern einfach nur– und das ist bedauerlich – an der Sache vorbei.Der Gesetzentwurf ist aber auch ein fantastischesLehrstück dafür, mit welcher Arroganz große Mehrhei-ten hier in diesem Parlament Politik machen. Warum hatman denn an dieser Stelle Birnen und Tomaten in einenTopf geschmissen? Das kann man wohl nur damit be-gründen, dass dieser Gesetzentwurf im Bundesrat zu-stimmungspflichtig ist und man versucht hat, den SPD-Innenministern in irgendeiner Form Argumentationshil-fen an die Hand zu geben oder uns als Opposition in dieEnge zu treiben und zu unterstellen, dass wir mit einerAblehnung dieses Gesetzes arbeitsmarktpolitische Ver-besserungen blockieren würden. Ich sage nur: MeineFraktion lässt sich nicht erpressen. Ich hoffe, dass esauch die SPD-Landesinnenminister nicht tun.
Zurück zu den „sicheren Herkunftsstaaten“. Wir wer-den diesen Gesetzentwurf mit aller Schärfe zurückwei-sen. Die Logik darin ist nämlich folgende: Wenn diemeisten Anträge auf Asyl von Bewerbern aus derRegion, um die es geht, abgelehnt werden, dann kann esdort, wo diese Menschen herkommen, ja nicht soschlimm sein; dann kann man so ein Land auch einfachals sicher einstufen. Meine Fraktion hat sich schon im-mer gegen die Praxis der „sicheren Herkunftsstaaten“ausgesprochen. Denn das Einstufen eines Landes als si-cher führt zur pauschalen Ablehnung von Asylanträgenund somit zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen.
Jetzt kommen Sie vermutlich und sagen – ich habe esschon gehört –: Frau Amtsberg, regen Sie sich mal nichtso auf. Es ist ja nicht so, dass niemand Asyl beantragenkann. Die Möglichkeit dazu ist nach wie vor vorhanden.– Das stimmt. Nur, der entscheidende Unterschied ist,dass die Anträge nicht mehr sorgfältig geprüft werden.Damit unterwandert dieses Gesetz einen der zentralstenGrundsätze unseres Asylrechts: das Recht auf individu-elle und gründliche Prüfung eines Asylbegehrens undauf effektiven – nicht individuellen, Herr Strobl! –Rechtsschutz.Der Hauptkritikpunkt an Ihrem Gesetzentwurf musssich zweifelsohne nach meiner Auffassung auf denRechtsbruch beziehen, den Sie begehen, indem Sienicht, wie nach europäischem Recht vorgeschrieben, alleverfügbaren menschenrechtlichen Quellen zurate ziehen,wenn Sie ein Land als sicher einstufen wollen.
Denn unser europäisches Recht erlaubt es ohne Wei-teres, existenzbedrohende Mehrfachdiskriminierung alsAsylgrund einzustufen. Ich sage es mal so: Besondersvor dem Hintergrund unserer Geschichte – Frau Jelpkehat darauf hingewiesen – wäre es mehr als angezeigt,wenn Deutschland diesen Spielraum endlich nutzenwürde.In all den benannten Ländern finden schwerwiegendeDiskriminierungen statt. Fast alle Menschenrechts- undFlüchtlingsverbände haben sich dazu geäußert: dasDeutsche Institut für Menschenrechte, Pro Asyl, Am-nesty International, die Flüchtlingsräte, der UNHCR, dasEuropäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, der Je-suiten-Flüchtlingsdienst, die Diakonie, der UN-Flücht-lingshochkommissar, die Kommission; und sogar dasAuswärtige Amt äußert sich dazu sehr deutlich. Sie allehaben gesagt, dass die menschenrechtliche Lage vor Ortbesorgniserregend ist.Nur ein Beispiel: In Bosnien-Herzegowina sind An-gehörige der Romaminderheit gleich mehrfachen Diskri-minierungen ausgesetzt: Sie stecken in einem Teufels-kreis aus Armut und Arbeitslosigkeit. Der Zugang zuBildung, Arbeit, medizinischer Versorgung oder ver-nünftigen Wohnverhältnissen ist ihnen verwehrt. Romawerden häufig Opfer rassistischer Propaganda und Ge-walt. Die Sterblichkeit von Romakindern ist in allen dreiStaaten, um die es hier geht, doppelt so hoch wie an-derswo. Die älteren Roma sterben zehn Jahre früher alsder Rest der Bevölkerung. Das ist doch kein Zufall!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3497
Luise Amtsberg
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Herr Bundesinnenminister, Sie haben recht, wenn Siesagen, dass man von Beitrittskandidaten und Ländern,die es werden wollen, erwarten kann, dass sie denRechtsstaat und die Menschenrechte aufrechterhaltenund achten. Der Wunsch und die Erwartung sind fromm.Ich teile sie. Auch ich habe diese Erwartung; denn dieAchtung der Menschenrechte ist und muss europäischerKonsens sein.Aber gerade dann ist es doch fahrlässig, nicht zurKenntnis zu nehmen, wie die menschenrechtliche Situa-tion vor Ort ist, und diese Staaten, in denen die Beitritts-kapitel zu Justiz und Menschenrechten noch nicht ge-schlossen sind, einfach als sicher einzustufen. Ein Staatist eben nicht einfach sicher, weil man ihn hier so nennt.
In meinen Augen ist das Vogel-Strauß-Taktik: Kopf inden Sand; denn was nicht sein darf, ist auch nicht.So macht man keine Politik. Liebe SPD, liebe Innen-minister der SPD, macht den Rücken gerade und zeigteure Verantwortung! Denn jeder Einzelfall ist es wert,beachtet zu werden. Wir sollten an unseren asylrechtli-chen Grundsätzen festhalten. Menschen, die Schutz ver-dienen, müssen ihn hier bei uns auch bekommen.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Thomas Strobl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident Hintze! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Wenn wir in diesen Tagen mit Bürgermeisternund Landräten in unseren Wahlkreisen sprechen, dannwerden wir sehr häufig auf die steigenden Zahlen vonAsylbewerberinnen und Asylbewerbern angesprochen.Die Kommunen müssen Unterkünfte bereitstellen. DieBürgerinnen und Bürger fragen uns besorgt: Geht dieserAnstieg immer weiter?2009 waren es 28 000 Asylbewerber in der Bundes-republik Deutschland. Im letzten Jahr waren es knapp100 000 mehr: 127 000. Innerhalb von fünf Jahren gabes also fast eine Verfünffachung der Asylbewerberzahlenin der Bundesrepublik Deutschland. Dabei ist der An-stieg von Asylbewerbern aus den Balkanstaaten beson-ders groß: Fast jeder fünfte Bewerber kommt aus Ser-bien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina.Diese Entwicklung ist kein Anlass für Alarmismus.Ich finde, dass die Koalition heute einen maßvollen Vor-schlag macht. Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen,wollen wir auch: Wir wollen vor allem sicherstellen,dass wir unsere Anstrengungen für syrische Flüchtlingeaufrechterhalten und ausbauen können; denn wennFlüchtlinge aus Syrien zu uns kommen und ein Asylver-fahren durchlaufen, dann liegt die Schutzquote bei100 Prozent. Bei Flüchtlingen aus den Westbalkanstaa-ten liegt sie bei nahe 0 Prozent. Deswegen: Wer aus Sy-rien kommt – Herr Kollege Veit, das möchte ich auchdem Koalitionspartner, der SPD, zusagen –, dem wollenwir effektiv helfen. Hier wollen wir den Schutz im Zwei-fel sogar ausbauen.
Dafür, meine Damen und Herren, ist es aber erforder-lich, dass wir unsere Kräfte bündeln und die Ressourcen,die nicht unbegrenzt sind, entsprechend gezielt einset-zen. Deswegen verfolgt der Gesetzentwurf der Bundes-regierung zwei zentrale Ziele:Erstens. Wir wollen, dass Asylbewerber und gedul-dete Ausländer schneller arbeiten können, nämlichschon nach drei Monaten. Damit soll die Abhängigkeitvon Sozialleistungen reduziert werden. Sie sollen mit ih-rer eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt oder je-denfalls einen Teil davon selbst bestreiten können, undsie sollen auch nicht verdammt sein, tatenlos in den Taghineinleben zu müssen. Das ist ein konkreter Fortschritt,der auch geduldeten Ausländerinnen und Ausländern zu-gutekommt. Frau Kollegin Amtsberg, das sollten eigent-lich auch die Grünen anerkennen.
Wir wollen zweitens zügige Verfahren bei Bewerbernaus sicheren Herkunftsstaaten, damit solche aussichtslo-sen Asylanträge schneller bearbeitet werden und dieMenschen schneller in ihre Heimatländer zurückkehrenkönnen. Das ist ein Kernanliegen, das wir mit diesemGesetzentwurf verfolgen; denn wir brauchen zügig – zü-gig! – eine Verbesserung unseres Asylsystems. Wir er-warten, dass wir damit auch dem eigentlichen Ziel unse-res Asylsystems, den tatsächlich politisch VerfolgtenSchutz und einen sicheren Rechtsstatus gewähren zukönnen, einen Schritt näher kommen.
Das bedeutet konkret: Die steigende Zahl von Bewer-bern stellt unsere Kommunen vor große Herausforderun-gen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen: Stuttgart in-vestiert augenblicklich 21 Millionen Euro in sogenannteSystembauten, in denen 1 000 Asylbewerber unterkom-men sollen. Aber das ist nicht nur ein Problem für diegroßen Städte, sondern auch eines für den ländlichenRaum. Im Ostalbkreis in Baden-Württemberg rechnetman mit 1 000 Asylbewerbern am Ende dieses Jahres.Der Landrat und die Kommunalpolitiker arbeiten inten-siv daran, Unterkünfte zu erstellen. Deshalb brauchenwir eine Entlastung der Kommunen. Unser Gesetzent-wurf leistet dazu einen wichtigen Beitrag.Den Kommunen ist am meisten damit geholfen, wenndie Bewerberzahlen aus Staaten zurückgehen, in denenoffensichtlich keine politische Verfolgung stattfindet.
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3498 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Thomas Strobl
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Das ist offensichtlich bei Serbien, Mazedonien und Bos-nien-Herzegowina der Fall. Ich möchte nicht auf jedesLand im Einzelnen eingehen, aber lassen Sie mich zuSerbien Folgendes anmerken:Vor einem Jahr hat der Europäische Rat die Auf-nahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien beschlos-sen. Diese Verhandlungen mit Serbien haben im Januardieses Jahres begonnen. Die EU verhandelt mit Serbienauch deshalb, weil man davon ausgeht, dass Serbien in-zwischen ein bestimmtes Maß an Rechtsstaatlichkeit er-reicht hat und dort eben keine politische Verfolgungstattfindet.
Serbien ist auf dem Weg in die europäische Wertege-meinschaft. Deswegen finde ich es sehr bemerkenswertund begrüße es, dass Serbien selbst um Aufnahme in dieListe der sicheren Herkunftsländer gebeten hat. DiesemWunsch sollten wir doch auch entsprechen. Er deckt sichim Übrigen, Frau Staatsministerin Böhmer, mit den Ana-lysen des Auswärtigen Amtes.
Wir sind dabei, Frau Kollegin Amtsberg, auch nichtallein in Europa:
Großbritannien, Frankreich, die Schweiz, Österreich stu-fen Serbien als sicheres Herkunftsland ein.
Wir befinden uns also in guter Gesellschaft. Ich weisezurück, dass Frankreich, Großbritannien und Österreicheuropäisches Recht brechen, wenn sie Serbien in dieListe der sicheren Herkunftsstaaten aufnehmen. Wirkönnen es auch tun.
Es gibt neben den drei Westbalkanstaaten auch andereeuropäische Staaten, aus denen immer mehr Asylbewer-ber nach Deutschland kommen. Herr Kollege Veit, wirsollten diese Entwicklung im Blick behalten und bei denanstehenden parlamentarischen Beratungen auch genauanalysieren, wie sich etwa die Situation in Monteneground in Albanien darstellt.2010 waren es 39 Asylanträge von Albanern, in denersten Monaten dieses Jahres aber schon über 3 000. DieZahlen schießen durch die Decke.
Uns ist bewusst – darauf hat Kollege Veit auch hinge-wiesen –, dass die Schutzquote bei Albanern in den letz-ten Jahren über den Quoten der übrigen Westbalkanstaa-ten lag. Im Augenblick liegt sie bei 2,7 Prozent. Aber siegeht deutlich nach unten. Albanien ist in Frankreich seitDezember 2013 auf der Liste der sicheren Herkunfts-staaten. Die Zahlen albanischer Bewerber sind in Frank-reich deutlich zurückgegangen. Bei uns allerdings sindsie dramatisch angestiegen. Das zeigt aber: Die Einstu-fung als sicherer Herkunftsstaat wirkt entlastend.Albanien ist im Übrigen seit 2009 NATO-Mitglied.Die Europäische Kommission hat gerade dieser Tageempfohlen, Albanien den Status eines Beitrittskandida-ten für die Europäische Union zu verleihen. Auch hiergehen wir in einem anderen Kontext, bei dem es nichtum Asyl geht, davon aus, dass sich Albanien unsererWertegemeinschaft annähert, auch wenn bei rechtsstaat-lichen Standards und bei der Bekämpfung von Korrup-tion sicherlich noch einiges zu tun ist. Wir sollten aberdie Entwicklung Albaniens wie auch die Montenegrosgenau im Blick behalten und uns ernsthaft fragen, obnicht eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten auchfür diese beiden Länder infrage kommt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele Asyl-bewerber kommen aus Syrien. Dafür haben wir und da-für haben die Bürgerinnen und Bürger in diesem Landgroßes Verständnis. Was in Syrien täglich geschieht, er-füllt uns mit Trauer und mit Schrecken. Deshalb begrü-ßen wir von der Koalition es ausdrücklich, dass der Bun-desinnenminister Thomas de Maizière mit den Ländernüber die weitere Aufnahme syrischer Flüchtlinge ver-handelt. Herr Innenminister, wir stehen bei diesen Ver-handlungen als Koalition hinter Ihnen und ermutigen Sieausdrücklich zu diesen Verhandlungen.
Aber nimmt man die drei Balkanstaaten, um die eshier und jetzt geht, zusammen, dann muss man sagen,dass von dort derzeit mehr Asylbewerber kommen alsaus Syrien, nämlich 11 600 Bewerber in den ersten vierMonaten dieses Jahres gegenüber rund 7 500 Asylbe-werbern aus Syrien: 11 600 Bewerber aus dem westli-chen Balkan, bei denen die Anerkennungsquote nahenull ist, 7 500 Syrer, bei denen die Anerkennungsquote,die Schutzquote 100 Prozent ist. Das ist unseren Bürge-rinnen und Bürger schwer zu vermitteln.Damit bin ich beim zweiten Grund, warum wir dieListe der sicheren Herkunftsstaaten maßvoll erweiternwollen: Wir wollen unsere Kapazitäten in Deutschlandfür alle wirklich politisch Verfolgten wie etwa die ausSyrien nutzen. Das sind wir den Verfolgten, den tatsäch-lich politisch Verfolgten, und unseren Bürgerinnen undBürgern auch schuldig. Nur wenn unser Asylsystem diewirklich politisch Verfolgten und die, die aus asylfrem-den Motiven zu uns kommen, klar differenziert und esauch unterschiedliche asylrechtliche Konsequenzen gibt,dann bleibt der Rückhalt in der Bevölkerung für unserAsylsystem vorhanden. Dann können wir unseren Ver-pflichtungen als humaner Rechtsstaat nachkommen. Daswollen wir alle zusammen gerne tun.Danke fürs Zuhören.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3499
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Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Strobl,Sie sagten, man muss das Asylrecht verbessern. Wenndiese Aussage von Ihrer Fraktion kommt, dann ist dasein ernsthafter Grund zu besonderer Besorgnis in diesemHaus, vor allem, wenn man sich anschaut, was mit demAsylrecht in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit Ih-rer Hilfe geschehen ist.Der Minister und Sie haben Syrien erwähnt. Deswe-gen erlauben Sie mir eine kurze Bemerkung zum ThemaSyrien. Vor einer Woche war ich mit dem AußenministerSteinmeier im Libanon und habe ein syrisches Flücht-lingslager des UNHCR besucht. Der Libanon hat bei ei-ner Bevölkerungszahl von 4 Millionen über 1 Millionsyrische Flüchtlinge aufgenommen: Ein Viertel der ge-samten Bevölkerung besteht aus syrischen Flüchtlingen.Angesichts dessen finde ich es wirklich beschämend,dass die Aufnahme weniger Tausend syrischer Flücht-linge in Deutschland meistens zu einer Belastung erklärtwird.
Ich finde, hier muss ein Schritt in die Richtung erfolgen,dass Deutschland deutlich mehr syrische Flüchtlingeaufnimmt, weil die Anrainerstaaten hoffnungslos über-lastet sind.
Dass Roma und andere Minderheiten in Serbien, Ma-zedonien und Bosnien-Herzegowina massiv rassistischdiskriminiert werden, ihnen der Zugang zu Arbeit, zumedizinischer Versorgung, zu regulären Wohnungen undoft auch zu sauberem Trinkwasser verwehrt wird, habenwir schon von meiner Kollegin Jelpke, aber auch vonmeiner Kollegin von den Grünen gehört.Ich möchte mich dem kleinen Feigenblatt des Geset-zes widmen, den vermeintlichen Erleichterungen beimArbeitsmarktzugang, wie es die Bundesregierung nennt.Wir sind der Auffassung: Auch hier haben wir es mit ei-ner Mogelpackung der Großen Koalition zu tun. Zu die-sem Schluss kommt man, wenn man sich die Maßnah-men anschaut bezüglich des Arbeitsmarktzugangs fürAsylbewerber und geduldete Ausländer. Völlig zutref-fend heißt es in der allgemeinen Begründung des Gesetz-entwurfes, dass Asylsuchende und Geduldete durch denZugang zum Arbeitsmarkt die Möglichkeit erhalten sol-len, durch Aufnahme einer Beschäftigung ihren Lebens-unterhalt selbst zu bestreiten, anstatt auf Leistungennach dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen zusein. Diese Position vertritt die Linksfraktion seit Jahren.Aber nach den hehren Worten in der Gesetzesbegrün-dung vermissen wir die Taten.
Die Arbeitsverbote werden nämlich nicht abgeschafft.In der Praxis bleibt es bei dem faktischen Arbeitsverbot.Es wurde oft von der Vorrangprüfung gesprochen. Diesemöchte ich für die Zuschauer erklären. Bei der Vorrang-prüfung – sie soll für die ersten vier Jahre bestehen blei-ben – wird aufwendig geprüft, ob deutsche oder soge-nannte bevorrechtigte Arbeitslose den Job übernehmenkönnten, auf den sich ein Asylsuchender oder ein Gedul-deter bewirbt, ungefähr nach dem Motto: Arbeit zuerstfür Deutsche. Das lehnen wir als Linke ganz konsequentab.
Da ist die Frage, lieber Rüdiger, ob das gesetzliche Ar-beitsverbot drei, neun oder zwölf Monate beträgt, fastschon zweitrangig. Faktisch kommt diese Vorrangprü-fung insbesondere in Regionen mit schlechter Arbeits-marktlage zum Tragen; das sind ja die meisten. Daskommt einem Arbeitsverbot gleich. Wenn diese Men-schen auf staatliche Hilfen angewiesen sind, obwohl siearbeiten wollen, ist es immer wieder auch die Politik, dieihnen unter Benutzung der legalen Basis des Arbeitsver-botes vorwirft, dass sie nur wegen der Sozialleistungennach Deutschland gekommen seien. Diese legale Basiswird sehr oft – ich habe das in meiner Heimatstadt Duis-burg erlebt, besonders bei den Kommunalwahlen – fürrechtspopulistische Kampagnen gegen Asylsuchende,gegen Geduldete und gegen Flüchtlinge benutzt. DiesenKampagnen muss der Boden entzogen werden, undzwar, indem wir die gleichen sozialen Rechte allen Men-schen geben, die in Deutschland leben.
Wie schon gesagt, führt die Koalition in der Begrün-dung an, dass die Asylsuchenden und Geduldeten durchden Zugang zum Arbeitsmarkt die Möglichkeit erhaltensollen, zu arbeiten, anstatt auf Leistungen nach demAsylbewerberleistungsgesetz angewiesen zu sein. Dastellt sich mir die Frage: Wie kann es sein, dass Sie jetztvor der Sommerpause wirklich alle Gesetzesvorhaben,auch in Bezug auf das Staatsangehörigkeitsrecht, durchden Bundestag jagen, aber nichts in Richtung Umset-zung des Bundesverfassungsgerichtsurteils in SachenAsylbewerberleistungsgesetz unternehmen?
Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Ur-teil den Bundestag aufgefordert, dieses verfassungswid-rige Gesetz unverzüglich zu ändern. Das ist im Juli 2014ganze zwei Jahre her. Ich frage mich: Wo ist denn da ei-gentlich der Eifer der Bundesregierung?
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3500 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
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Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich finde,
man kann Deutschland schlecht als Hort des Humanis-
mus darstellen, Herr Minister, wenn man gleichzeitig die
Menschenrechte mit Füßen tritt. Die Sondergesetzge-
bung – Asylbewerberleistungsgesetz, Sachleistungen,
Residenzpflicht, menschenunwürdige Lagerunterbrin-
gung – muss abgeschafft werden. Wir möchten das
Grundgesetz mit Leben füllen. Die Würde des Men-
schen, nicht die Würde des deutschen Menschen, ist laut
unserem Grundgesetz unantastbar. Ich fordere Sie auf,
der sich aus unserer Verfassung ergebenden Verpflich-
tung nachzukommen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Uli Grötsch, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Be-ginn dieser Wahlperiode sind die Schicksale von Flücht-lingen aus Syrien und die Situation der Asylbewerber inDeutschland auf jeder Tagesordnung des Innenausschus-ses, und das zu Recht. Das Schicksal von Flüchtlingenbeschäftigt uns aber nicht nur im Bundestag, sondern be-trifft uns alle auch ganz konkret zu Hause in den Wahl-kreisen, etwa wenn es um geeignete Unterkünfte fürdiese hilfesuchenden Menschen geht. Wir sehen es nichtals Belastung, sondern als Herausforderung für dieKommunen in unserem Land, geeignete Unterkünfte zurVerfügung zu stellen, Frau Kollegin Dağdelen. Seien wirehrlich: Es werden vor allem die Abgeordneten aus denVolksparteien sein, die gemeinsam mit ihren Bürger-meistern und ihren Landräten in den Wahlkreisen imganzen Land dafür werben und nach geeigneten Unter-künften suchen werden.
Wie schwer es oftmals für die Behörden ist, in den Kom-munen noch zusätzliche Unterkünfte für Asylbewerberund Flüchtlinge zu finden, erfahren wir in vielen Städtenund Gemeinden unseres Landes leider viel zu oft.Ein Blick auf die von Jahr zu Jahr steigende Zahl vonAsylanträgen zeigt, dass Deutschland ein attraktivesZielland ist. Das Bundesamt für Migration und Flücht-linge hat mehr als alle Hände voll zu tun, um die Anträgeund Verfahren sorgfältig zu prüfen, und an dieser sorg-fältigen Prüfung habe ich keinerlei Zweifel.
Bislang sind bereits in diesem Jahr knapp 26 000 Erst-und Folgeanträge beim Bundesamt eingegangen. Damitstieg die Zahl der Erstanträge – es wurde heute schon öf-ter erwähnt; es ist aber so wichtig, sodass ich es nocheinmal sagen möchte – um 70 Prozent und die Zahl derFolgeanträge um fast 100 Prozent. Die Tendenz der ein-gehenden Anträge ist nach wie vor steigend. Immermehr Menschen fliehen vor Verfolgung, Folter und Ver-treibung aus ihrer Heimat und suchen bei uns inDeutschland Zuflucht.Ich begrüße es sehr, dass Deutschland neben Schwe-den das Land in der EU ist, das die meisten syrischenBürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen hat.
Damit sind wir top in der EU.
Aber wir wollen noch besser werden. Das hat auch Bun-desaußenminister Frank-Walter Steinmeier erst vor we-nigen Tagen sehr eindrucksvoll bestätigt, und zwar – dashaben wir alle gemerkt – aus seiner vollsten und tiefstenÜberzeugung. Wir spüren seitens der SPD-Bundestags-fraktion sehr deutlich, dass das Schicksal der syrischenBevölkerung, dass das Schicksal der Flüchtlinge aus Sy-rien bei Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeierin den besten Händen ist.
Es ist aber auch so, dass viele Menschen ihre Heimataus anderen Motiven als die syrischen Flüchtlinge ver-lassen und nach Deutschland kommen, um Asyl zu be-antragen. Diesen Menschen droht in ihrer Heimat keinesystematische politische Verfolgung oder gar Folter.Bei der Prüfung zur Einstufung als sicheres Her-kunftsland hat sich die Bundesregierung an den Vorga-ben des Bundesverfassungsgerichts und auch an den eu-ropäischen Vorgaben orientiert und ist zu dem Schlussgekommen, dass Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sogenannte sichere Herkunftsstaatengemäß § 29 a des Asylverfahrensgesetzes einzustufensind. Das heißt, dass zukünftig der Asylsuchende glaub-haft darlegen muss, dass er in seinem eigentlich sicherenHeimatland politisch verfolgt wird.Wir meinen, das ist nachvollziehbar; denn das Bun-desamt für Migration und Flüchtlinge hat 2013 ins-gesamt fast 22 000 Entscheidungen über Asylerst- und-folgeanträge von bosnischen, serbischen und mazedoni-schen Staatsangehörigen getroffen. Nur drei Menschenaus einem dieser Staaten wurde Asyl zugesprochen, vierMenschen wurde Flüchtlingsschutz gewährt, und bei53 Personen wurde ein Verbot der Abschiebung erteilt.90 Prozent der vor Gericht verhandelten und abgelehn-ten Asylanträge von Menschen aus den drei erwähntenStaaten wurden als unbegründet abgelehnt. Mit anderenWorten: Nur im Einzelfall haben die Antragsteller ausden drei Westbalkanstaaten Asyl zugesprochen bekom-men.Gegen eine Äußerung aus Ihrem Antrag, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, ver-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3501
Uli Grötsch
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wehre ich mich ganz entschieden und ausdrücklich: Diehohen Ablehnungsquoten des Bundesamtes für Migra-tion und Flüchtlinge seien „ein Indiz für unzureichendePrüfungen und pauschale Ablehnungen aufgrund politi-scher Vorgaben“. Das ist eine Unterstellung und wirddem Engagement der betroffenen Behörden nicht ge-recht.
Laut aktueller Asylgeschäftsstatistik hat das BAMFbislang in diesem Jahr mehr als 26 000 Entscheidungengetroffen. Das ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraumeine Zunahme um mehr als 130 Prozent – und das beiauch dort leider knappen personellen Ressourcen. Werschon einmal eine solche Behörde besucht hat, weiß,was dort geleistet wird. Von dieser Stelle aus möchte ichden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesamtfür Migration und Flüchtlinge im Namen der SPD-Bun-destagsfraktion meine ausdrückliche Anerkennung aus-sprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die genannten Zah-len belegen eines: Unbegründete Asylanträge binden oh-nehin erschöpfte Kapazitäten bei Bund, Ländern undKommunen und verhindern auch eine noch zeitnähereBearbeitung von Anträgen tatsächlich schutzbedürftigerAsylsuchender beispielsweise aus Syrien, Afghanistanoder dem Irak. Selbstverständlich muss nach wie vor je-der Asylantrag gewissenhaft geprüft werden, egal auswelchem Land die Flüchtlinge stammen.
Aber es ist angesichts der erwähnten Zahlen, so meineich, keine Zumutung für die Asylsuchenden aus den be-troffenen Staaten, die Menschenrechtsverletzungen ein-zeln darzulegen, aufgrund derer sie um Asyl ersuchen.Ja, das ist eine Beweislastumkehr. Sie sollte deshalb ineinem fairen und geordneten Verfahren stattfinden.Ich möchte auch ganz klar sagen: Wir leugnen nicht,dass insbesondere Sinti und Roma Anfeindungen undDiskriminierungen in ihren Heimatländern ausgesetztsind. Wir wissen natürlich, dass gerade diese Bevölke-rungsgruppe in ihren Heimatländern oftmals von sozia-ler Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung be-troffen ist. Nicht nur für diese Menschen, sonderngenerell auch für andere Menschen, die aufgrund vonPerspektivlosigkeit ihre Heimatländer verlassen, gilt es,die Bedingungen vor Ort in ihren Heimatländern in denBlick zu nehmen. Die Verbesserung der gesellschaftli-chen Realitäten kann die deutsche Asylpolitik nicht leis-ten.
Das ist eine europäische Aufgabe. Ich bin davon über-zeugt, dass die Bundesregierung im Europäischen Ratentsprechend darauf hinwirken wird, dass die Regierun-gen von Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzego-wina ihre Bemühungen entsprechend intensivieren wer-den. Es steht übrigens auch im Koalitionsvertrag, dasswir uns gegenüber den Regierungen dieser drei Staatenund gegenüber der EU-Kommission dafür einsetzenwollen, rasche und nachhaltige Schritte zur Verbesse-rung der Lebenssituation vor Ort zu ergreifen.
Herr Kollege, wenn Sie einen Blick auf die Zeit wer-
fen, werden Sie feststellen, dass sie abgelaufen ist.
Ich komme zum Schluss. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir sind uns unserer Verantwortung ganz si-
cher bewusst. Deutschland kann mehr machen, und
Deutschland wird auch mehr machen. Wir sind aber der
Meinung, dass wir uns angesichts von Bürgerkriegen
und massenhaften Vertreibungen in verschiedenen
Brandherden der Welt schnell und effizient um die akut
Schutzbedürftigen kümmern müssen.
Vielen Dank.
Als nächster Rednerin in der Debatte erteile ich derAbgeordneten Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen,das Wort.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eswar mein Vater, der mir als Kind erklärt hat, was unserGrundgesetz, die Grundrechte bedeuten: dass die Men-schenwürde kein Konjunktiv ist, dass die Menschen-würde ganz ohne Adjektiv auskommt und dass dieGrundrechte jedem einzelnen Menschen gehören. Soverhält es sich auch mit dem Grundrecht auf Asyl. Es istein individuelles Recht. Kein Staat, keine Regierungkann mich einfach enteignen, und wenn ich es für michbeanspruche oder einklagen will bzw. muss, dann binnicht ich die Missbraucherin. Vielmehr missbrauchendiejenigen den Geist unserer Verfassung, die Menschen,die sich um Asyl bewerben, kriminalisieren.
Unser Asylrecht wird seit 20 Jahren malträtiert. Herrde Maizière, es soll jetzt weiter entleert und in sein Ge-genteil verkehrt werden. Nichts anderes passiert doch,wenn per Gesetz sichere Herkunftsstaaten definiert wer-den, wenn per Gesetz politische Verfolgung sowie un-menschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Be-handlung ausgeschlossen und als nicht existentdekretiert werden. Ganz in kafkaesker Logik braucht esdann ja auch keinen vorläufigen Rechtsschutz mehr;denn das Recht hat gerade Sicherheit definiert. Mannennt das unter Juristen, so habe ich mir sagen lassen,„normative Vergewisserung“. Ich nenne das: Umdefini-tion der Realität in eine Welt, die es zwar so gar nichtgibt, die aber perfekt ins politische Kalkül passt.
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Claudia Roth
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Ich wundere mich schon, liebe Kolleginnen und Kol-legen, dass Sie sich nicht einmal ein bisschen schämen,das auch noch schwarz auf weiß zu benennen. Da stehtgeschrieben: „Deutschland soll … weniger attraktiv wer-den.“ Also geht es wieder einmal um die Anreizminde-rung, aber nicht um die Gründe, warum Menschen ihreHeimat verlassen.
Es wird eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgemacht: We-niger Asylbewerber bedeuten mehr Geld in den Kassenvon Bund, Ländern und Kommunen. – Ich befürchte,dass diese kalte Rechnung uns sehr teuer zu stehen kom-men wird, weil wir damit das verlieren, was Humanität,Schutzgewährung und Schutzverantwortung ausmachen:unseren moralischen Imperativ nach dem Naziterror, der500 000 Sinti und Roma das Leben gekostet hat.Ich lese im Gesetzentwurf, dass Menschen aus Ser-bien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina angeblich– ich zitiere – „aus nicht asylrelevanten Motiven“ kom-men. Lieber Herr Minister, waren Sie eigentlich schoneinmal persönlich unter der Autobahnbrücke in Belgrad,wo die Roma zu überleben versuchen, die ihrer Men-schenwürde beraubt wurden? Waren Sie im Lager vonDeponija in Belgrad, wo die Menschen, die Roma, wieAbfall behandelt werden? Waren Sie schon einmal per-sönlich in Skopje, in Šutka, der wohl größten Romasied-lung weltweit, einem grauenhaften Ort, der an Bangla-desch, aber nicht an Europa erinnert? Ich war vor Ort;ich habe die Not gesehen, ich habe die Verzweiflung er-lebt, die Angst der Menschen vor rassistischer Gewalt,vor pogromartigen Angriffen.„Nicht asylrelevante Motive“? Trotz Diskriminie-rung, trotz versperrten Zugängen zur Gesundheitsversor-gung, zum Bildungssystem, zur Arbeit, zur Ausbildung,trotz einer zehn Jahre geringeren Lebenserwartung?„Nicht asylrelevante Motive“? Trotz Verweigerung ele-mentarster Teilhaberechte für Menschen, die oft aus demKosovo vertrieben wurden und alles, aber wirklich allesverloren haben? Keine gruppenspezifische Verfolgung,Herr Minister de Maizière? Ich bin, nachdem ich dortwar, wirklich davon überzeugt: Wenn Sie in einem somenschenverachtenden Umfeld leben würden, dannwürden auch Sie alles dafür tun, Ihre Kinder, Ihre Fami-lie zu retten und ihnen eine Zukunft in Sicherheit zu er-öffnen.
Eine vorgestern veröffentlichte Studie zum Rechts-extremismus in unserem Land, die schon genannt wor-den ist, hat erschreckende Auffassungen belegt: Über50 Prozent der Deutschen glauben, dass Sinti und Romakriminell sind; über 50 Prozent wollen nicht in ihrerNähe leben. Verantwortliche Politik – da gebe ich Ihnenrecht – muss Ängste und Vorurteile sehr ernst nehmen,aber sie darf sie nicht schüren. Doch genau das tut IhrGesetzentwurf nicht.
Deshalb sage ich: Bitte, bewahren wir unser Grundrechtauf Asyl! Das macht uns als Gesellschaft reich. Undbitte, spielen wir nicht Flüchtlinge aus Syrien gegenFlüchtlinge aus anderen Ländern aus!
Errichten wir keine zusätzlichen Mauern, sondern be-wahren wir unser Grundrecht, und schaffen wir endlichein modernes Einwanderungsrecht!Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Deutschland verfügt überein humanes, weltoffenes und tolerantes Asylrecht.
Ich glaube, gerade in einem Gedenkjahr wie diesemist es wichtig, dass wir uns ständig unserer historischenVerantwortung bewusst werden, dass gerade Deutsch-land jederzeit für jeden offen sein muss, der verfolgtwird, aus welchen Gründen auch immer, und an Leibund Leben bedroht ist. Es ist unsere historische Aufgabe,dass wir jederzeit dem Schutz gewähren, der aufgrundseiner Religion, aufgrund seiner Ethnie, aufgrund seinersexuellen Orientierung oder aus politischen Motivenverfolgt wird. Ich glaube aber, dass wir mit Fug undRecht behaupten können: Wir Deutsche haben ein derar-tiges humanes und weltoffenes Asylrecht.Kein Land in Europa nimmt so viele Asylbewerberauf wie Deutschland. Deswegen stimmt es einfach nicht,Frau Kollegin Roth, dass wir mit diesem Gesetzentwurfunser Asylrecht malträtieren oder entleeren. Es stimmtauch nicht, Frau Kollegin Amtsberg, dass wir mit diesemsinnvollen Gesetzentwurf unserem Asylrecht den Todes-stoß versetzen. Das Gegenteil ist der Fall. Deutschland istoffen für alle, die schutzbedürftig sind. Im letzten Jahrhaben wir insgesamt 127 000 Asylbewerber aufgenom-men. Die Zahlen entwickeln sich weiter rasant nach oben.Allein im ersten Quartal dieses Jahres hatten wir50 000 Erst- und Folgeanträge. Wenn sich die Entwick-lung der ersten drei Monate fortschreibt, dann werden amEnde dieses Jahres in Deutschland über 200 000 Asyl-anträge gestellt worden sein.
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Ich glaube, dass es deshalb richtig ist, dass wir unsGedanken darüber machen, wo wir die Prioritäten set-zen. Da unter den sechs Ländern, aus denen die meistenAsylbewerber nach Deutschland kommen, vier Länderdes westlichen Balkans sind, sollten wir das intensiverbetrachten. Im letzten Jahr gehörten Bosnien-Herzego-wina, Serbien, Mazedonien und Albanien zu diesen ers-ten sechs Ländern. Auch in den ersten vier Monaten die-ses Jahres war das der Fall. Allein aus den drei LändernSerbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien wurdenin den ersten drei Monaten dieses Jahres insgesamt13 000 Asylanträge gestellt. Im Vergleich dazu waren esin den ersten drei Monaten des letzten Jahres5 000 Asylanträge. Die Anerkennungsquote liegt bei al-len drei Ländern bei 0,0 Prozent. Die Schutzquote liegt,wenn man die Flüchtlinge und die subsidiär Schutzbe-rechtigten hinzuzählt, bei maximal 0,4 Prozent. Bezogenauf Mazedonien, das Land mit der – in Anführungszei-chen – höchsten Schutzquote, liegt sie bei gerade einmal0,4 Prozent.Ich möchte eines klar herausstreichen: Auch mit die-sem Gesetzentwurf bleibt es bei unserem individuellenRecht auf Asyl. Es gibt eine widerlegbare Vermutung,dass Personen aus den drei genannten Ländern, aus Ser-bien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien, politischnicht verfolgt werden. Aber natürlich gibt es für jeder-mann die Möglichkeit, im Einzelfall nachzuweisen, dassdies doch der Fall ist.
Es ist nur so: Das Verfahren wird insgesamt unkompli-zierter, die Klagefrist wird auf eine Woche verkürzt, undeine Klage hat zunächst einmal zwar keine aufschie-bende Wirkung, aber die aufschiebende Wirkung kannnatürlich sofort angeordnet werden.Mit diesem Gesetzentwurf leisten wir einen aus mei-ner Sicht wichtigen Beitrag dazu, das Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge und seine Mitarbeiter zu ent-lasten. In der vergangenen Nacht hat der Haushaltsaus-schuss des Deutschen Bundestages richtigerweise denBeschluss gefasst, dass das Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge insgesamt 300 zusätzliche Stellen be-kommt.
Das ist ein wichtiger Schritt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch erwäh-nen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge900 zusätzliche Stellen als sachgerecht angemeldet hatund dass derzeit auch 40 Beamte der Bundespolizei ih-ren Dienst beim BAMF leisten. Um es klar zu sagen:Diese wären an anderer Stelle mindestens genauso not-wendig.
Aber aus durchaus verständlichen Gründen sind dieseMitarbeiter derzeit zum BAMF abgeordnet worden; siesollen dort die Arbeitsbelastung etwas reduzieren. Wenndurch die Deklaration von drei Ländern des westlichenBalkans als sichere Herkunftsländer erreicht wird, dassdie Verfahrensdauer bzw. die Dauer der Einzelprüfungverkürzt wird, dann wird dies auch zusätzliche Ressour-cen im BAMF schaffen. Diese Ressourcen sind dringenderforderlich angesichts der weiterhin rasant wachsendenAsylbewerberzahlen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichempfinde es als unanständig von der Fraktion Die Linke,wenn uns in dem Antrag unterstellt wird, dass die Mitar-beiter des BAMF erst einmal dazu angehalten werdenmüssen, sorgfältig, gewissenhaft und gründlich zu prü-fen.
Das ist kein Affront gegenüber der Bundesregierung unduns – das würde man im politischen Geschäft vielleichtnoch verstehen –, sondern gegenüber den Mitarbeiterndes BAMF. Es ist, sehr verehrte Kollegin Jelpke, wirk-lich nicht fair, dass Sie den Mitarbeitern des Bundesam-tes für Migration und Flüchtlinge, die wirklich keineneinfachen Job machen und unter einer enorm hohen Ar-beitsbelastung leiden, unterstellen, sie würden die An-träge nicht gewissenhaft und gründlich prüfen.
Ich möchte auch noch einmal auf Folgendes hinwei-sen: Es gibt ein gemeinsames Ziel. Ich hoffe, dass dasZiel, die Dauer der Asylverfahren zu reduzieren, von al-len hier im Haus geteilt wird. Derzeit beträgt die durch-schnittliche Dauer der Asylverfahren neun Monate. Esgibt die klare Aussage im Koalitionsvertrag, dass wir dieDauer der Asylverfahren auf drei Monate reduzierenwollen. Wenn wir nur annähernd an dieses Ziel heran-kommen wollen, dann ist es erforderlich, diese Länder,insbesondere die, bei denen die Schutz- und Anerken-nungsquoten gegen 0,0 Prozent tendieren oder wirklich0,0 Prozent betragen, als sichere Herkunftsländer zu de-klarieren.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirsollten uns aber auch die Mühe machen, in dem anste-henden Gesetzgebungsverfahren intensiv zu prüfen,noch zwei weitere Länder des westlichen Balkans, Alba-nien und Montenegro, als sichere Herkunftsstaaten zudeklarieren. Auch ich bin da für eine vorurteilsfreie undoffene Prüfung. Wenn man sich aber zum Beispiel imFalle Albaniens ansieht, dass im letzten Jahr insgesamt1 247 Erstanträge gestellt wurden und allein in den ers-ten fünf Monaten dieses Jahres 3 204, also fast dreimalso viel wie im gesamten letzten Jahr, dann sollte dies,glaube ich, schon Anlass sein, intensiv zu prüfen, obnicht auch Albanien ein sicheres Herkunftsland ist.
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Zur Erklärung: Wie kommt es gerade im Fall Alba-niens zu diesem rasanten Anstieg? Frankreich hat genaudas getan, was wir jetzt bezüglich der drei anderen Län-der vorhaben.
Frankreich hat im Dezember des vergangenen Jahres Al-banien als sicheres Herkunftsland deklariert.
Das führt jetzt zu den genannten Umlenkungseffekten,was die Ströme der Asylbewerber anbelangt. Ähnlich istes bei Montenegro. Da waren es im vergangenen Jahrinsgesamt 258 Erstanträge und allein in den ersten fünfMonaten dieses Jahres schon 351.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mirist wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir in unserer Be-völkerung – aus meiner Sicht; das ist zumindest meineWahrnehmung – eine außerordentlich hohe Empathie,Sympathie und auch ein großes Verständnis für die Si-tuation von Asylbewerbern und Flüchtlingen haben. DieSituation der Kommunen ist alles andere als einfach. Ichmöchte noch einmal sagen, Frau Kollegin Roth: Es gibtmittlerweile auch einige Bürgermeister, die der FraktionBündnis 90/Die Grünen angehören. Die ächzen genausounter der Notwendigkeit, jetzt händeringend Unterkünftefür die Asylbewerber finden zu müssen.
Das ist für keinen Oberbürgermeister, für keinen Bürger-meister und für keinen Landrat, egal in welchem Bun-desland, derzeit eine einfache und angenehme Aufgabe.
Alle Kommunalpolitiker tun hier ihr Möglichstes, unab-hängig davon, welcher Fraktion und welcher Partei sieangehören. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir dieBereitschaft in der Bevölkerung gerade auch zu ehren-amtlichem Engagement und zu einer ehrenamtlichenUnterstützung der Asylbewerber weiterhin auf diesemhohen Niveau halten.Die Studie der Universität Leipzig, die vorgesternhier in Berlin veröffentlicht wurde, ist ja schon erwähntworden. Was ich an dieser Studie interessant finde, ist,dass wir in Deutschland – ich glaube, darauf können wirauch ein Stück weit stolz sein – einen deutlichen Rück-gang der Ausländerfeindlichkeit, auch des Antisemitis-mus, zu verzeichnen haben. Was ich aber aus dieser Stu-die mit großem Ernst und auch mit einer gewissen Sorgezur Kenntnis genommen habe – das gebe ich ganz offenzu –, ist, dass es laut der Zahlen dieser Studie eineenorme Ablehnung gegenüber Asylbewerbern gibt. Inden neuen Bundesländern liegt sie bei 85 Prozent, in denwestlichen Bundesländern bei 74 Prozent. Ich möchte ei-nes nicht, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen:dass wir in Deutschland wieder Zustände bekommen wiezu Beginn der 90er-Jahre. Ich möchte nicht, dass hierBrandstifter, politische Hetzer wieder das Sagen bekom-men. Ich glaube, gerade deshalb müssen wir das gemein-same Ziel haben, die Empathie, das Verständnis der Be-völkerung gegenüber Asylbewerbern und Flüchtlingenauf diesem hohen Niveau zu halten.
Es ist daher richtig, sich Gedanken zu machen, fürwen wir prioritär offen sein sollen. Die syrischen Flücht-linge sind da schon genannt worden. Die größte humani-täre Katastrophe auf unserem Globus spielt sich aus mei-ner Sicht derzeit in Syrien und in den Anrainerländernvon Syrien ab. Gerade gegenüber syrischen Flüchtlingengibt es in Deutschland eine hohe Aufnahmebereitschaftin der Bevölkerung.
Frau Kollegin Roth, ich wehre mich dagegen, dass Sieuns unterstellen, wir würden die Menschen gegeneinan-der ausspielen oder das eine Schicksal gegen das andereSchicksal aufwiegen. Aber ich bin schon der Meinung,dass wir für zusätzliche Kontingente gegenüber syri-schen Flüchtlingen offen sein sollten. Wir unterstützenhier unseren Bundesinnenminister in seinen Verhandlun-gen mit seinen Länderkollegen.Ich sage ganz offen: Es muss weitere zusätzlicheKontingente für die Aufnahme von syrischen Flüchtlin-gen geben.
Ich füge aber hinzu: Wir bekommen diese Bereitschaftin der Bevölkerung nur dann, wenn wir die Bevölkerungnicht überstrapazieren und nicht überfordern. Deshalbsollten wir, glaube ich, in den nächsten Wochen –
Die Zeit, Herr Kollege!
– dieses Gesetzgebungsverfahren gründlich, aberauch zügig vorantreiben. Insbesondere unsere Kommu-nen harren dringend darauf, dass wir diese Probleme lö-sen.In diesem Sinne freue ich mich auf ein konsequentes,auf ein gründliches, aber auch auf ein zügiges Gesetzge-bungsverfahren.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Daniela Kolbe, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich werde mich in meinem Redebeitrag aufden arbeitsmarktpolitischen Teil des Gesetzentwurfskonzentrieren. Er ist mir ein bisschen zu kurz gekom-men, und ich finde es wichtig, dass wir uns darüber auchnoch einmal kurz unterhalten.Mit dem Gesetzentwurf wird vorgeschlagen, Asylbe-werbern und Geduldeten bereits nach drei Monaten denZugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. – Viele derZuhörerinnen und Zuhörer wissen das vielleicht nicht:Nach der geltenden Gesetzeslage dürfen Asylsuchendeerst nach neun Monaten arbeiten und Geduldete erstnach zwölf Monaten. – Die Opposition hat das hier in ih-ren Redebeiträgen anklingen lassen, aber ein bisschenkleingeredet. Die Kollegin Amtsberg hat es als „Zücker-chen“ bezeichnet.
Das finde ich, ehrlich gesagt, sehr schade; denn für dieBetroffenen ist das ein riesiger Schritt nach vorn.
Wir als SPD stehen dafür, dass es ein starkes Rechtauf Asyl geben muss. Frau Roth, da sind wir uns sicher-lich einig. Wir wollen Schutzsuchenden Schutz gewäh-ren, und wir müssen das auch tun. Aber wenn wir unsdas gegenwärtige Asylsystem anschauen, dann sehenwir, dass selbst für die Menschen, die davon profitieren– das sind doch einige –, das Asylsystem derzeit einezeitweilige Sackgasse ist, weil es sie ganz ungewollt inPassivität und Hilfsbedürftigkeit drängt.Die Regel, über die wir heute sprechen, dieses zwölf-monatige Arbeitsverbot, stammt aus dem Jahr 1980.Damals gab es einen Anstieg der Zahlen der Asylsu-chenden, auch dadurch ausgelöst, dass mit dem Anwer-bestopp von 1973 legale Zuwanderungsmöglichkeitenbeseitigt worden waren.Seither hat sich nicht nur die Welt weitergedreht,sondern es hat sich auch einiges auf dem Arbeitsmarkt– und nicht nur da – verändert. Wir reden wieder über le-gale Zuwanderung, wir reden über Fachkräftebedarf, wirreden über Globalisierung und eine weltoffene Gesell-schaft. Insofern ist es schlichtweg anachronistisch, dasswir Menschen per se von Erwerbstätigkeit ausschließen,zumal diese vielfach nichts lieber täten, als ihren Le-bensunterhalt selbst zu verdienen.
Viele gut ausgebildete Menschen landen im Asylsys-tem. Bezeichnenderweise wissen wir, ehrlich gesagt, ei-gentlich gar nicht so richtig, was für eine Ausbildung dieAsylsuchenden mitbringen. Das ist bezeichnend, weilwir uns bisher in diesem Zusammenhang gar nicht mitdiesen Menschen auseinandergesetzt und uns gefragt ha-ben, was für Fähigkeiten sie mitbringen. Ich weiß nur,dass ich in den Heimen, in den Asylbewerberunterkünf-ten, die ich besuche, auf sehr unterschiedliche Menschentreffe, vielfach auch auf Ärzte, auf Ingenieure, auf Men-schen, die vor allen Dingen eines beschreiben: dass siees unerträglich finden, dass sie in diese Langeweile, indieses Nichtstun, in dieses Ausharren gesteckt werden.Das empfinden sie wirklich vielfach als das größte Übel,das sie erleben, wenn sie hier in Deutschland einen Asyl-antrag gestellt haben. Die Neuregelung ist insofernlängst überfällig. Wir schaffen jetzt das formale Arbeits-verbot nach einer dreimonatigen Ankunftsphase ab. Dasfreut mich sehr.Das Asylrecht hat bisher den Aufenthaltsstatus vonAsylbewerberinnen und Asylbewerbern grundsätzlichals vorübergehend angesehen, als Provisorium. Die Rea-lität sieht aber anders aus. Wir haben heute schon vielvon Schutzquoten gehört. Im Durchschnitt liegt dieSchutzquote bei 25 Prozent. Bei Menschen aus vielenHerkunftsstaaten liegt sie aber bei deutlich über 50 Pro-zent, zum Teil bei über 80 oder 90 Prozent, zum Beispielbei Menschen aus Syrien.Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, deneigenen Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Viele der85 000 Menschen, die geduldet in Deutschland leben, le-ben hier sehr lange, jahrelang. Insofern leben die Men-schen nicht regelmäßig nur vorübergehend hier, sondernregelmäßig nicht vorübergehend. Auch dieser Denk-weise werden wir an dieser Stelle mit dem vorliegendenGesetzentwurf gerecht. Denn bisher war es so, dass wirTausende Menschen über Jahre hinweg systematischvom Arbeitsmarkt desintegriert haben, um sie dann nacheiner positiven Aufenthaltsentscheidung individuell wie-der zu integrieren. Erst dann gab es Sprachkurse, erstdann gab es Qualifizierung. Das war viel mühevollerund hatte viel weniger Aussicht auf Erfolg. Das ist totalwidersinnig, teuer, unmenschlich und falsch, sowohl fürdie Betroffenen als auch für die Gesellschaft insgesamt.
Wir geben den Betroffenen mit diesem Gesetz einMehr an Selbstbestimmung und die Chance, ihren Le-bensunterhalt selbst zu verdienen. Die Gesellschaft spartden Arbeits- und Kostenaufwand, der mit der Wiederein-gliederung dieser Menschen, die jahrelang nicht auf denArbeitsmarkt durften, verbunden wäre.Richtig ist auch – das ist von der Opposition ange-sprochen worden –, dass die Vorrangprüfung erhaltenbleibt und die Arbeitsaufnahme im Regelfall nur nach-rangig möglich ist. Gleichwohl ist das ein deutlicherSchritt, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Es ist ein ganzstarkes Signal in Richtung der betroffenen Menschen:Sobald ihr euch nach drei Monaten zurechtgefundenhabt, dürft, könnt und sollt ihr versuchen, auf dem Ar-beitsmarkt Fuß zu fassen, euren Lebensunterhalt selberzu bestreiten. – Es gibt auch derzeit schon Bereiche, indenen Menschen, die noch nicht gut Deutsch sprechenoder vielleicht auch nicht die erforderliche Qualifikation
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Daniela Kolbe
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mitbringen, händeringend gesucht werden. Das heißt,trotz Nachrangigkeitsprüfung gibt es Bereiche, in denenAsylsuchende eine Chance haben.
Es gibt auch Bereiche, die nicht von der Nachrangig-keitsprüfung betroffen sind. Da geht es um die Berufs-ausbildung und Weiterbeschäftigung; auch das sei andieser Stelle gesagt.Ehrlich gesagt ist mir ein Punkt am wichtigsten – erist noch gar nicht angeklungen –: Dadurch, dass dieseMenschen nun den prinzipiellen Zugang zum Arbeits-markt haben, haben sie unabhängig davon, ob sie einenJob finden oder nicht, Zugang zu Leistungen, zu arbeits-marktpolitischen Leistungen aus dem Bereich der Bun-desagentur für Arbeit, dem SGB III, und zu einigenESF-Programmen.
– Ich sage das trotzdem, und zwar richtig laut. Ich er-kläre Ihnen einmal, worum es dabei geht. Es geht umBeratung, um Vermittlung in Arbeit, um Förderung ausdem Vermittlungsbudget. Jetzt sage ich Ihnen aufDeutsch, was das heißt. Dabei handelt es sich zum Bei-spiel um die Übernahme von Bewerbungskosten, wieDolmetscherkosten, und von Kosten für die Anerken-nung im Ausland erworbener Abschlüsse.Nach dem SGB III hat man auch ein Recht auf Maß-nahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederungsowie zur beruflichen Weiterbildung, ein Recht auf Ein-stiegsqualifizierung und einen Eingliederungszuschussund ein Recht auf die Förderung der Teilhabe behinder-ter Menschen, was für viele Menschen, die als Flücht-linge nach Deutschland kommen, auch sehr wichtig ist;denn es kann auch für Menschen mit posttraumatischenBelastungsstörungen denkbar sein, eine solche Förde-rung zu bekommen.Mit dieser Änderung ist im deutschen Asylsystembeileibe nicht alles gut. Sie kennen ja die SPD: Wir wol-len noch viele andere Verbesserungen. Es ist aber einesignifikante Verbesserung für die Menschen.
Insofern freue ich mich für die Betroffenen und auchfür die gesamte Gesellschaft von Herzen über diese Ver-änderungen, wenn wir sie hinbekommen.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte erhält die Abge-
ordnete Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieZahl der Asylbewerber in Deutschland – das haben wirbereits gehört – steigt seit einigen Jahren deutlich. Zuden zehn Hauptherkunftsstaaten zählen aktuell nicht nurLänder mit massiven gewaltsamen innerstaatlichen Kon-flikten, wie etwa Syrien, Afghanistan, Somalia oder derIrak, sondern auch Länder aus der direkten Nachbar-schaft zur EU, wie Serbien, Mazedonien sowie Bosnienund Herzegowina.Allein aus den Balkanländern kamen zwischen Januarund April dieses Jahres 25 Prozent aller Asylantragstel-ler in Deutschland – und das, obwohl nach verschie-denen glaubhaften Quellen in diesen Ländern wederVerfolgung noch andere systematische Menschenrechts-verletzungen drohen, die ein Asylgrund wären.
Zu diesem Schluss kommen entgegen der Kritik indem vorliegenden Antrag der Linken nicht nur die Lage-bilder des Auswärtigen Amtes, das seine Informationenaus verschiedenen Quellen bezieht, sondern auch dieFortschrittsberichte der EU-Kommission, die die Ent-wicklung eines Landes bekannterweise sehr kritisch be-urteilt.Die einzelnen Berichte kommen zu der Einschätzung,dass es in allen drei Ländern keine diskriminierendenGesetze gibt. Willkürliche oder unmenschliche Bestra-fungen sowie staatliche Repression oder Verfolgung ein-zelner Bevölkerungsgruppen finden nicht statt.
Bemerkenswert ist, dass selbst in den Berichten desUNHCR und von Menschenrechtsorganisationen dieseLänder betreffend nicht von Verfolgung oder schwerenMenschenrechtsverletzungen die Rede ist.
Um dennoch einen Schutzgrund annehmen zu kön-nen, wird von den Menschenrechtsorganisationen unddem UNHCR sowie im vorliegenden Antrag der Links-fraktion mit dem Begriff der „kumulativen Verfolgung“aus der EU-Qualifikationsrichtlinie argumentiert. Dem-nach soll auch die Beeinträchtigung von wenigerschwerwiegenden Rechten einen Anspruch auf Asyl be-gründen können. Betont werden muss hier allerdings,dass dies nur dann gilt, wenn die Rechtsverletzungenoder Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtwirkung einerschweren Menschenrechtsverletzung gleichkommen.Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass in Ser-bien, Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina vieleMenschen – darunter auch viele Sinti und Roma – auf-grund der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der ge-sellschaftlichen Probleme in großer Armut leben.Ebenso ist unumstritten, dass viele Roma in diesen Län-dern gesellschaftlich diskriminiert werden. Diskriminie-rung und soziale Ausgrenzung stellen zwar eine erhebli-
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che Härte dar, sind aber selten mit Verfolgung undSchaden im asylrechtlichen Sinn gleichzusetzen.Um diesem Problem zu begegnen, ist vielmehr drin-gend ein Prozess des Umdenkens in der Gesellschaft die-ser drei Balkanländer erforderlich. Dabei muss auchgesagt werden, dass sich die Regierungen dieser Länderbemühen, diesen Prozess des Umdenkens voranzutrei-ben. Es wurden Gesetze zum Schutz nationaler Minder-heiten verabschiedet, und durch verschiedene Pro-gramme wird versucht, die Lage der Roma zuverbessern, auch wenn sie bislang leider noch nicht dieerhoffte Wirkung erzielt haben. Ein solcher Prozess kannnicht von heute auf morgen Erfolg haben.Umso wichtiger ist es, dass wir gemeinsam mit unse-ren europäischen Partnern und Akteuren vor Ort imZuge einer koordinierten Entwicklungszusammenarbeitdafür sorgen, dass die notwendigen Maßnahmen ergrif-fen werden und die Hilfe bei den Betroffenen ankommt.Dazu müssen wir die Regierungen der drei Balkanländerdiesbezüglich stärker in die Pflicht nehmen; denn dieseerhalten im Zuge des Stabilisierungs- und Assoziie-rungsprozesses mit der EU beträchtliche Finanzhilfenzur Integration ihrer nationalen Minderheiten.Vor diesem Hintergrund kann die Lage in Serbien,Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina, auchwenn sie nach wie vor wirtschaftlich und sozial schwie-rig sein mag, nicht mit den Auswirkungen für die Betrof-fenen von Verfolgung oder anderen systematischenMenschenrechtsverletzungen, wie etwa in Syrien oderAfghanistan, gleichgesetzt werden. Vielmehr stellt sichbei der Prüfung der Asylanträge aus den Balkanstaatenin der Regel heraus, dass Armut und die wirtschaftlichschwierigen Verhältnisse in diesen Ländern die wahrenGründe sind, zusammen mit der Gewissheit, dass jeder,der in Deutschland Asyl auch nur beantragt, bereits So-zialleistungen erhält. Zu glauben, all dies sei kein An-reiz, um in Deutschland Asyl zu beantragen, ist naiv. Da-für sprechen auch die erheblich gestiegenen Zahlen derAsylfolgeanträge aus den Balkanstaaten. Aus Sicht derAntragsteller mag dieses Verhalten menschlich nachvoll-ziehbar sein. Ihnen kann man es nicht verdenken, dasssie alles tun, um ihre Situation zu verbessern.Auf der anderen Seite geht dieses Verhalten zulastender tatsächlich schutzbedürftigen Flüchtlinge, etwa ausSyrien, die in ihrer Heimat verfolgt werden und jedenTag um ihr Leben bangen müssen. Diese Flüchtlingemüssen aufgrund der Flut von Anträgen aus den Balkan-staaten oft länger als notwendig warten, bis über ihreAnträge entschieden werden kann. Zudem sind mittler-weile – das haben wir gehört – die meisten Bundesländerbzw. Kommunen mit ihren Aufnahmekapazitätenschlicht an ihre Grenzen geraten. Wegen der Antragstel-ler aus den Balkanstaaten können dort weniger Flücht-linge aus den Krisenregionen aufgenommen werden.Konzentrieren wir uns auf die wirklich Hilfsbedürfti-gen, auf diejenigen, in deren Herkunftsländern Krieg,Verfolgung, Plünderungen und Unterdrückung herr-schen. Der Antrag der Linksfraktion differenziert nichtrichtig. Es wird versucht, für alle irgendwie einen An-spruch auf Aufnahme zu begründen. Damit geht derSchuss, meine Damen und Herren Kollegen von derLinksfraktion, am Ziel vorbei.
Wir sagen stattdessen: Lassen Sie uns das Augenmerkauf die wirklich Hilfsbedürftigen richten, damit unsereAsylpolitik gerecht und durchführbar ist. Vor diesemHintergrund ist es richtig und verantwortungsvoll, dassdie Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf zur Ein-stufung von Serbien, Mazedonien sowie Bosnien undHerzegowina als sichere Herkunftsstaaten eingebrachthat. Wie der Bundesinnenminister bereits erläutert hat,können durch die Einstufung Asylanträge von Staatsan-gehörigen aus diesen Ländern schneller bearbeitet wer-den, da sie grundsätzlich als offensichtlich unbegründetbetrachtet werden. Der Aufenthalt von nicht schutzbe-dürftigen Antragstellern kann künftig schneller beendetwerden, wodurch den tatsächlich Schutzbedürftigenmehr Aufnahmekapazitäten zur Verfügung stehen.Davon unabhängig kann dennoch jeder Antragstellerweiterhin im Verfahren Beweise vorlegen, dass in sei-nem konkreten Fall eine schwere Menschenrechtsverlet-zung vorliegt. Dadurch ist sichergestellt, dass die betrof-fenen Menschen im Einzelfall nach wie vor Schutzerhalten.Gleichzeitig sollen mit dem Gesetzentwurf Asylbe-werber schon nach drei Monaten Zugang zum Arbeits-markt bekommen. Das bedeutet für viele Asylbewerber,die arbeiten können und wollen, eine Chance auf einselbstbestimmtes Leben, was dazu beitragen kann, dasTrauma von Flucht und Verfolgung zu überwinden.Obendrein werden dadurch die Haushalte von Bund,Ländern und Kommunen entlastet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Akzeptanzdes Asylrechts in der Bevölkerung ist es wichtig, dassAsyl den tatsächlich Schutzbedürftigen vorbehaltenbleibt. Das ist und muss der Maßstab für die Zuerken-nung dieses zentralen Menschenrechts bleiben. Ich spre-che mich deshalb dafür aus, auch die beiden weiterenBalkanländer Albanien und Montenegro als sichere Her-kunftsstaaten einzustufen; denn auch für diese beidenLänder gilt, dass dort keine Gefahr durch Verfolgungoder schwere Menschenrechtsverletzungen für die Men-schen drohen und nur in wenigen Einzelfällen Schutz ge-währt wird.Trotzdem ist die Zahl der Anträge von Asylbewerbernaus diesen Ländern in jüngster Vergangenheit stark ge-stiegen und hat sich innerhalb eines Jahres mehr als ver-zehnfacht. Besonders auffällig ist, dass es sich bei denAntragstellern überwiegend um junge Menschen han-delt, die zuvor schon in Griechenland oder Italien gelebthaben. Dass es in diesen Fällen vor allem um wirtschaft-liche Motive geht, liegt aus meiner Sicht auf der Hand.Mit dieser Einschätzung sind wir in Europa nicht al-lein. Viele weitere EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich,Belgien, Luxemburg, Österreich und Großbritannien ha-ben nicht nur Serbien, Mazedonien sowie Bosnien undHerzegowina, sondern auch Albanien und Montenegrobereits als sichere Herkunftsstaaten eingestuft.
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Nina Warken
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Dem Versuch, die Asylgründe so weit auszudehnen,dass allein aufgrund von Armut und sozialen Problemenein Asylrecht besteht, möchte ich eine entschiedene Ab-sage erteilen.
Unser Asylsystem würde unter dem zu erwartenden An-sturm kollabieren.Zudem verwahre ich mich gegen den Vorwurf derLinken, Roma seien in Deutschland unerwünscht. Ganzim Gegenteil! Lassen Sie mich dies so klar formulieren– womit ich dann auch zum Ende kommen möchte –:Deutschland ist sich seiner historischen Verantwortungsehr bewusst. Deshalb ist es auch richtig, dass dieGruppe der Sinti und Roma als nationale Minderheit inunserem Land anerkannt ist und einen besonderenSchutz und eine spezifische Förderung erhält. Geradedeshalb müssen wir unbedingt darauf hinwirken, dassRoma denselben Schutz auch in Serbien, Mazedoniensowie Bosnien und Herzegowina genießen.Meine Damen und Herren, vor Ort kann damit vielmehr Menschen geholfen und ein Beitrag zur Verbesse-rung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in den si-cheren Herkunftsstaaten geleistet werden. Lassen Sieuns das tun.Lassen Sie mich am Ende der Debatte noch eine An-merkung an meine Kolleginnen und Kollegen aus demInnenausschuss richten und erklären, warum wir bzw.unser Obmann bislang einem gemeinsamen flüchtlings-politischen Antrag eine Absage erteilt haben. Ich glaube,wir führen im Innenausschuss eine sehr moderate und inTeilen auch konstruktive Debatte zu diesem Thema.Aber hier wurde heute aus meiner Sicht diametral andersdiskutiert als im Ausschuss.
Deswegen sehe ich auf dieser Grundlage momentankeine Veranlassung zu einem gemeinsamen Antrag allerFraktionen in dieser Frage.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/1528 und 18/1616 an die an der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann ,
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Sanktionen bei Hartz IV und Leistungsein-
schränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen
Drucksache 18/1115
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Katja Kipping, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linkemeint: Das Existenzminimum, also das Mindeste, wasein Mensch zum körperlichen und sozialen Überlebenbraucht, darf nicht gekürzt werden.
Deshalb bringe ich heute den Antrag ein, die Sanktionenbei Harz IV und Leistungseinschränkungen bei der So-zialhilfe abzuschaffen.Wir sagen Ja zur Sanktionsfreiheit. Das ist für uns einerster wichtiger Schritt zu einer sanktionsfreien Mindest-sicherung, und das wiederum ist ein Meilenstein auf demWeg zu einer angstfreien Gesellschaft.
Über 1 Million Sanktionen wurden im Jahr 2013 ver-hängt. Um den Begriff „Sanktionen“ noch einmal zu er-läutern: Sanktion bedeutet, dass das ohnehin niedrigeArbeitslosengeld II gekürzt wird, und zwar im erstenSchritt um 30 Prozent, dann um 60 Prozent, und amEnde komplett gestrichen wird.Um Missverständnisse auszuschließen, möchte ichFolgendes klarstellen: Wenn wir das schikanöse Hartz-IV-System kritisieren, dann meinen wir damit ausdrücklichnicht die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in derBundesagentur und den Jobcentern, die unter schwerenUmständen arbeiten und nach besten Kräften versuchen,die Betroffenen zu unterstützen. Ihnen gilt unser Dankund Respekt.
Meine Kritik gilt den politisch Verantwortlichen, alsoall jenen Bundestagsabgeordneten, die immer wiederNein zur Sanktionsfreiheit gesagt haben. Davon gibt esleider noch viel zu viele, und ich finde, das muss sich än-dern.
Die Gegner der Sanktionsfreiheit bedienen sich unteranderem, vereinfacht ausgedrückt, folgender Behaup-tung: Wer suchet, der findet. Also im Klartext: Wer er-werbslos ist, ist selber schuld. Die Mathematik sprichteine andere Sprache. Ich habe mich informiert: Das Ver-hältnis von offenen Stellen zu offiziell Erwerbsarbeitsu-
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Katja Kipping
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chenden war im vergangenen Jahr eins zu neun, wennman nur die offensichtlichen statistischen Tricks heraus-nimmt. Auf eine offene Stelle kommen also neun Er-werbsarbeitsuchende. Das heißt, egal wie sich dieseneun anstrengen: Acht von ihnen müssen nach mathema-tischen Grundsätzen leer ausgehen.Halten wir also fest: Erwerbslosigkeit ist keine indivi-duelle Schuld; sie hängt mit dieser Wirtschaftsweise zu-sammen. Deswegen müssen wir da ansetzen.
Ein weiteres Gegenargument, das ein Redner derCDU/CSU vor einigen Jahren bedient hatte, lautet:Sanktionen betreffen nur 3 Prozent aller Leistungsbe-rechtigten; wenn wir uns darum kümmern, dann machenwir Politik vom Rande her. Ich finde, das ist eine unge-heuerliche Ignoranz gegenüber Menschen, die in einerbesonderen existenziellen Notlage sind.
Es stimmt vor allen Dingen nicht, weil die Möglichkeiteiner Sanktion, dieses Damoklesschwert, viele bedrohtund verunsichert.Die Sanktionen sind auch ein Angriff auf die Mitte.Deswegen ist die Standardantwort vonseiten der CDU/CSU so verlogen, man müsse auch an diejenigen den-ken, die von früh bis abends arbeiten. Ja, wenn Sie dieMitte steuerlich entlasten wollen, können Sie das ma-chen. Sorgen Sie mit uns gemeinsam für Steuergerech-tigkeit! Aber tun Sie nicht so, als ob die Verkäuferin, derLehrer, die Kindergartenerzieherin oder der Kranken-pfleger einen Cent mehr in der Tasche hätten, nur weilErwerbslose noch schärfer und weiter sanktioniert wer-den. Das ist einfach verlogen.
Wir wissen doch: Das Gegenteil ist der Fall. Das ist offi-ziell durch das IAB belegt worden. Im Zuge vonHartz IV hat die Bereitschaft zugenommen, schlechteLöhne und familienunfreundliche Arbeitszeiten zu akzep-tieren. Hartz IV ist also auch ein Angriff auf das Lohnge-füge. Deswegen liegt die Abschaffung der Hartz-IV-Sank-tionen im Interesse sowohl von Erwerbslosen und prekärBeschäftigten als auch von Kernbelegschaften.
Ein weiteres Vorurteil lautet, Sanktionen träfen nurdiejenigen, die den ganzen Tag faul vor dem Fernsehersitzen. Die offiziellen Zahlen sprechen eine andere Spra-che. 72 Prozent der Sanktionen gehen auf Meldever-säumnisse zurück. Möglicherweise sind die Betroffenennicht zu einem Termin erschienen, weil sie keinen Brieferhalten haben oder Angst hatten, den Brief zu öffnen,der in einer Sprache verfasst ist, die für viele bedrohlichwirkt. Nur 12 Prozent der Sanktionen gehen zurück aufmögliche Ablehnungen von Maßnahmen oder Arbeits-plätzen. Darunter sind Maßnahmen, die oft nichts ande-res als eine fragwürdige Beschäftigungstherapie für Er-wachsene darstellen.Ich habe mich mit einer Sozialarbeiterin aus Neuköllnunterhalten. Sie sagte mir: Das SGB sollte doch eigent-lich ein Sozialgesetzbuch sein. Ich erlebe es zunehmendals Strafgesetzbuch.
Ja, Sanktionen sind Ausdruck eines paternalistischen Er-ziehungsstaates. Das steht in der Tradition des Arbeits-hauses. Erwachsene werden als Erziehungsbedürftigebetrachtet. Wir als Linke sagen Nein zu diesem paterna-listischen Verständnis. Wir sagen Ja zu einem demokrati-schen Sozialstaat, der von demokratischen und sozialenRechten ausgeht. Für uns ist es nicht hinnehmbar, wennErwachsene als Erziehungsbedürftige behandelt werden.
Es gibt einen weiteren Grund für uns. Das Regelsatz-urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt ganz klar:Das Grundrecht auf Gewährleistung eines men-schenwürdigen Existenzminimums ist dem Grundenach unverfügbar …Weiter heißt es:Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausge-staltet sein, dass er stets den gesamten existenznot-wendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechts-trägers deckt.Ich wiederhole: „Unverfügbar“ und „stets“ muss es dennotwendigen Bedarf decken. Beim soziokulturellenExistenzminimum handelt es sich also um ein Grund-recht, und Grundrechte kürzt man einfach nicht.
Vor einigen Wochen fand im Petitionsausschuss dieöffentliche Behandlung der Massenpetition zur Abschaf-fung der Sanktionen gegen Inge Hannemann statt. VieleBetroffene sind zu diesem Termin angereist, um zuzuhö-ren. Meine Fraktion hat danach die Betroffenen zu ei-nem Fachaustausch eingeladen. Wir haben Expertinnenund Experten der Praxis angehört. Ich habe in den zwei-einhalb Stunden, in denen ich zugehört habe, viele be-rührende Berichte vernommen, die mir gezeigt haben,wie sehr Hartz IV Spuren auf den Seelen der Betroffe-nen hinterlassen hat. Am Ende habe ich die Frage aufge-worfen: Wir haben uns nun ausgetauscht, wer und wasalles unter Hartz IV leidet. Aber gibt es auch Profiteurevon Hartz IV? Die Antwort lautete: Ja. Denn im Zugevon Hartz IV ist die Bereitschaft gestiegen – ich sprachbereits darüber –, schlechtere Arbeitsbedingungen zu ak-zeptieren. Ja, ein Ziel von Hartz IV war und ist auch,Menschen gefügig zu machen und die Widerstandsfähig-keit zu schwächen.
– Mir ist schon klar, dass Sie das nicht gerne hören.
Um es auf den Punkt zu bringen: In der Auseinander-setzung zwischen oben und unten stärkt Hartz IV die Be-sitzenden und schwächt diejenigen, die nur ihre Arbeits-
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3510 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Katja Kipping
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kraft als Ware haben. Deswegen werden wir, die Linke,uns niemals mit Hartz IV zufriedengeben.
Wir sagen ganz klar: Wer wie wir eine angstfreie Gesell-schaft möchte, der muss Hartz IV und vor allem dieHartz-IV-Sanktionen abschaffen und eine sanktionsfreieMindestsicherung einführen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Liebe Frau Kipping, ich selbst habe nachmeinen Ausbildungen bei der Eisenbahn Klos geputzt,ich habe Wagen gereinigt, aus den Aschenbechern Kau-gummis herausgekratzt und fühlte mich dabei nicht un-wohl; denn das war meine Arbeit, und ich wollte nichtarbeitslos werden. Sicherlich wollte ich das nicht aufDauer machen, aber ich habe es gemacht, weil ich nichtarbeitslos werden wollte. Ich fühle mich von Ihnen diffa-miert. Keine Arbeit ist schändlich. Jeder soll für seineArbeit geehrt werden. Das ist wichtig. Ich ehre jeden,egal was er tut, auch wenn er, wie ich es getan habe,Aschenbecher saubermacht.
Es ist wieder einmal so weit. Der obligatorische An-trag der Linken zur Abschaffung der Sanktionen beiHartz IV ist da. Zum wiederholten Mal beschäftigt sichder Deutsche Bundestag mit diesem Antrag der Linken.
Es war sicherlich nicht das letzte Mal.
Ich habe recherchiert. Allein in den letzten zwei Wahlpe-rioden ist immer wieder ein derartiger Antrag von Ihneneingebracht, diskutiert und abgelehnt worden. Ich sehe,dass Ihre Führungsspitze nicht da ist; dann ist das wohlauch Ihnen gar nicht so wichtig. Das ist eher Wahl-kampfpropaganda. So werden wir auch heute wieder da-mit verfahren. Lassen Sie uns also die bekannten Argu-mente, die wir schon so oft ausgetauscht haben, nocheinmal austauschen. Ich bin gerne bereit dazu.Kopfschütteln und Kommentare wie „Schwachsinn“,„Geht’s noch?“ und „Man nimmt uns damit das letzteMittel, das wir haben“ waren nur ein Teil der Reaktionender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Jobcentern inBerlin und Thüringen, denen ich Ihren Antrag vorgelegthabe und die ich gebeten habe, diesen zu bewerten. DasGespräch mit den Fachleuten in den Jobcentern hat michdarin bestärkt, dass ich mit meinem Gefühl der Ableh-nung Ihres Ansinnens doch richtig liege.
Überall sind Regeln notwendig, in der Schule, imVerkehr, so auch in der Politik wie hier im DeutschenBundestag. Es hat mit Fairness, Gerechtigkeit und Ver-antwortung zu tun, dass wir ein solches Sanktionssystemhaben. Wir müssen ein solches haben; denn wenn unserSozialsystem nicht ausgenützt würde, dann brauchtenwir solche Sanktionen nicht.Das ist Fairness gegenüber den Arbeitnehmern undArbeitgebern, die diesen Sozialstaat erst ermöglichen,und – das wird oft vergessen – gegenüber den arbeits-losen Menschen, die sich regelkonform verhalten. DieJobcentermitarbeiter bestätigten mir, dass gegenüber97 Prozent der Hartz-IV-Bezieher keine Sanktionen ver-hängt werden bzw. verhängt werden müssen. DieserGroßteil will ernsthaft aus seiner Notsituation heraus-kommen und einen Job finden. Lediglich 3 Prozent derHartz-IV-Empfänger sind von Sanktionen betroffen. Wirsprechen hier wahrlich nicht von einem Massenphäno-men, wie Sie es immer wieder darstellen,
um Wahlkampfpropaganda zu betreiben. Wir habenschließlich in Thüringen und Sachsen wieder Wahl-kampf. Jetzt versuchen Sie, die Randgruppen noch wei-ter an den Rand zu drängen, um zu zeigen, dass Sie dieGuten sind, die gewählt werden sollen. Das tun Sie indem Wissen, dass man nichts erreicht; aber Sie wollennur Stimmen fischen.Ich würde mir sehr wünschen, dass die Linken end-lich damit aufhören, Politik vom Rand aus zu betreibenund so zu tun, als sei die Mehrheit der Gesellschaft vondiesem Problem betroffen.
Wir nehmen die gesamte Gesellschaft in den Blickund sorgen dafür, dass mit unserer Politik die guten Rah-menbedingungen erhalten bleiben.Wann bedankt sich die Partei Die Linke eigentlich beiden über 42 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3511
Albert Weiler
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die durch ihr fleißiges Tun und ihre Steuern und Abga-ben erst ermöglichen, dass wir überhaupt Hartz IV zah-len können?
Schauen wir uns doch einmal die Zahlen an. Worüberreden wir hier eigentlich? 2013 wurden laut Statistik derBundesagentur für Arbeit rund 1 Million Sanktionen ge-genüber Menschen mit Hartz-IV-Bezug verhängt. Circa726 000 Personen melden sich einfach nicht auf Schrei-ben der Jobcenter. Frau Kipping hat versucht, das klein-zureden.
Aber wenn ich Arbeit habe, dann muss ich mich auchmelden, wenn ich krank bin oder nicht kommen kann.Andere weigern sich sogar, eine Arbeit anzunehmen. Ichhabe selbst auf Stellen gearbeitet, auf denen man nichtunbedingt arbeiten will, aber ich habe es getan.Manche weigern sich, eine Ausbildung aufzunehmen.Rund 5 000 von den vollsanktionierten Personen sindunter 25 Jahre. Es sind also junge Leute, die nicht arbei-ten wollen. Das geht nicht.Die Sanktionen fallen nicht plötzlich und unangekün-digt vom Himmel. In jeder Einladung zu einem Ge-spräch mit dem Betreuer im Jobcenter wird schriftlichdarauf hingewiesen, dass bei unentschuldigtem Nichter-scheinen oder bei Ausbleiben einer Rückmeldung eineKürzung von 10 Prozent der Leistungen droht. Dem, deres dann noch nicht verstanden hat, drohen noch mehrKürzungen. Zudem werden die Rechtsbelehrungen im-mer wieder mündlich im persönlichen Gespräch zwi-schen dem Betreuer und dem Empfänger vorgetragen.Es ist sogar so, dass Betreuer und Empfänger gemein-sam eine Vereinbarung unterzeichnen, in der explizit aufdie Möglichkeit von Sanktionen hingewiesen wird.Es kann mir keiner erzählen, dass man keine Rück-meldung auf eine Einladung zum Gespräch im Jobcentergeben kann. Jeder Arbeitnehmer muss sich beim Arbeit-geber melden, wenn er krank ist oder einen wichtigenTermin wahrnehmen muss. Das ist, liebe Freunde, ganzeinfach Ausdruck gesunden Menschenverstands. Denwürde ich Ihnen gerne unterstellen. Im Moment fällt esmir schwer.
Wenn man sich nicht bewerben will, folgen Sanktio-nen, und das halte ich für richtig. Schließlich muss esdas Ziel sein, einen Arbeitslosen wieder in Arbeit zubringen. Es ist nun einmal so, dass die Arbeit nicht vomHimmel fällt. Ohne Bewerbung kein Job! Deshalb wol-len wir den Betroffenen helfen, durch Bewerbungen wie-der Arbeit zu finden.
Das Stichwort „Mitwirkungspflichten“ findet sich inallen Zweigen des Sozialgesetzbuches. Ohne die Mitwir-kung der Menschen, für die die Leistungen des Sozial-staats angeboten werden – das ist gut so –, können keineAnträge gestellt, kann keine Untersuchung stattfinden,kann kein Anspruch geprüft werden, kann aber auchkein Geld ausgezahlt und keine Leistung erbracht wer-den. Es kann doch nicht sein, meine Damen und Herren,dass ich einen angebotenen Job ablehne oder zu Termi-nen unentschuldigt nicht erscheine und trotzdem unkon-trolliert Steuermittel von fleißigen Arbeitern einkassiere.Das geht nicht.
Das ist der Kern des Ganzen: In einer guten Gesellschaftmuss jeder seinen Beitrag leisten. Regeln müssen von al-len eingehalten werden. Gegen Regeln zu verstoßen undweiter Geld einzukassieren, ist in unserem SozialstaatGott sei Dank verboten. Das ist nicht lediglich einerechtliche Frage, sondern betrifft auch das Funktions-prinzip der Solidarität. Sie gilt für alle Seiten.An dieser Stelle gilt mein besonderer Dank den vielenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen Job-centern, die eine hervorragende Arbeit machen. Sie sindin einem sehr sensiblen Bereich tätig; denn sie haben esmit arbeitslosen Menschen zu tun, die sich teilweise ineiner sehr schwierigen persönlichen Situation befinden,und sie müssen sich individuell auf diese Arbeitsloseneinstellen. Das ist für beide Seiten nicht einfach. Dafürnoch einmal vielen Dank an die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter der Jobcenter!
An die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion DieLinke gerichtet – passen Sie noch einen Moment auf; ichbin gleich fertig –:
Nur weil man einen Antrag immer wieder hervorholt,wird er nicht besser und nicht richtiger. Noch vielschlimmer: Mit Umsetzung dieses Antrags würde nichtein einziger Langzeitarbeitsloser in Arbeit gebracht.
Gerade das muss unser Ziel sein.Bitte sorgen Sie dafür, dass sich Firmen in unseremLand ansiedeln, und bringen Sie Leute in Arbeit. Danntun Sie mehr, als nur den Betrieb zu stören.
Gerne diskutieren wir hier mit Ihnen, wie wir Menschenohne Arbeit wieder in Lohn und Brot bringen. Ein An-trag aber, der auf Spaltung der Gesellschaft fokussiert istund nur der Wahlpropaganda dient, ist falsch und mussdaher, auch wenn wir Wahlkampf haben, heute zum wie-derholten Male abgelehnt werden, egal wie leid Ihnendas tut.Vielen Dank.
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3512 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Albert Weiler
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Weiler, Sie haben angekündigt, dass SieArgumente gegen den Antrag der Linken vorbringenwollen. Ich habe kein einziges Argument gehört.
Stattdessen wird ein Menschen- und Gesellschaftsbildverbreitet, das eigentlich weder zu unserem Grundgesetznoch zum gesellschaftlichen Konsens passt.
Wir haben an dieser Stelle vor zwei Wochen einenFestakt aus Anlass des 65. Jahrestages der Verkündungdes Grundgesetzes mit einer großartigen Rede vonNavid Kermani erlebt.
Artikel 1 des Grundgesetzes beginnt mit den Worten:„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das Bun-desverfassungsgericht leitet aus Artikel 1 und aus Arti-kel 20 des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Gewäh-rung eines menschenwürdigen Existenzminimums ab.Ich finde, dieses Grundrecht müssen wir rechtfertigen,verteidigen und den Menschen tatsächlich gewähren.
Aber die Frage der Sanktionen ist nicht nur einerechtliche Frage. Es geht darum: In welcher Gesellschaftwollen wir tatsächlich leben? Wir Grüne wollen in einerGesellschaft leben, die inklusiv ist, in der niemand aus-gegrenzt wird und in der jeder Mensch ein Recht aufselbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe hat. An die-sen Maßstäben – Grundrecht auf Existenzminimum undeine gesellschaftliche Realität, die allen selbstbestimmteTeilhabe ermöglicht – messen wir auch die Sanktionen.Wenn wir uns die derzeitige Sanktionspraxis angucken,stellen wir fest, dass die Sanktionen zurzeit diesen Maß-stäben nicht genügen.
Die meisten Sanktionen sind in der Tat demütigend,sie sind häufig unnötig, und sie sind meist auch kontra-produktiv. Deswegen sagen wir: Wir brauchen ein Sank-tionsmoratorium. Die Zeit, in der die Sanktionen ausge-setzt werden, sollten wir nutzen, um die Sanktionsregelnso zu ändern, dass sie den Maßstäben des Grundgesetzesaber auch den Maßstäben einer inklusiven Gesellschaftgenügen, also Menschen nicht ausgrenzt werden undTeilhabe gefördert wird.
An der Stelle eine kleine Anmerkung zu den Vorstel-lungen der Linken. Ich glaube, man muss auch darübernachdenken, ob die sofortige Abschaffung aller Sanktio-nen diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird oder obnicht die komplette Abschaffung der Sanktionen auchdazu führen kann – wohlgemerkt: unter den derzeitigenBedingungen –, dass Menschen von gesellschaftlicherTeilhabe und aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden.Ich stelle das einmal als eine Frage in den Raum, überdie man intensiv nachdenken müsste.
Was heißt das, wenn wir sagen: „Menschen müssen indie Gesellschaft hereingeholt werden, dürfen nicht aus-gegrenzt werden“? Das heißt, wir müssen Barrieren ab-bauen, wir müssen Hürden abbauen, wir müssen Mauerneinreißen, und wir müssen Türen aufschließen, die ver-hindern, dass Menschen in die Gesellschaft hineinkom-men. Die derzeitige Sanktionspraxis schafft das nicht.Zwei Beispiele:Totalsanktion. Dass Menschen eine Leistung kom-plett verweigert wird, das geht unseres Erachtens nicht.Meines Erachtens ist das auch nicht mit dem vom Ver-fassungsgericht festgestellten Grundrecht auf Gewäh-rung eines Existenzminimums vereinbar. Dass Men-schen gar nichts bekommen, das geht so nicht.
Wir hatten dazu schon Anhörungen im Ausschuss; da istdieser Punkt von allen Experten kritisiert worden, auchvon den Verfassungsrechtlern. Wir haben jetzt die Bun-desregierung einmal gefragt, wie viele Fälle das eigent-lich sind. Es sind 9 000 Fälle. Da kann man sagen: Dassind nicht viele. Aber: 9 000 Menschen, denen das Exis-tenzminimum tatsächlich verweigert wird – das müssenwir dringend ändern.
Von diesen 9 000 Menschen sind 5 000 Menschen unter25 Jahre. Wir finden, gerade bei jungen Menschen mussman darauf achten und ihnen dabei helfen, dass sie in dieGesellschaft hineinkommen.
Zweitens. Wir haben besonders scharfe Sanktionsre-geln für die unter 25-Jährigen. Das ist von der letzten Gro-ßen Koalition eingeführt worden. Auch das wurde von al-len Verfassungsrechtlern als problematisch bezeichnet.Insbesondere Altersdiskriminierung ist da ein rechtli-ches Problem. Diese schärferen Sanktionsregeln für un-ter 25-Jährige gehören also abgeschafft.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3513
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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Schließlich ist es wichtig, noch einmal die Bedeutungeiner Grundsicherung für die Gesellschaft insgesamt zubetonen. Für uns als Freiheitspartei
ist es wichtig, dass die Selbstbestimmung der Menschengewährleistet wird. Zur Selbstbestimmung gehört eineverlässliche Grundsicherung als Existenzsicherung in al-len Lebenslagen unmittelbar dazu. Eine stabile Grund-sicherung ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtesLeben.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die Sozialdemokraten spricht jetzt
die Kollegin Dagmar Schmidt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Be-vor ich zu den Sanktionen direkt komme, möchte ich et-was Grundsätzliches zum Sozialstaatsverständnis sagen,weil Sie diesen Punkt nicht nur in Ihrem Antrag, sondernauch in Ihrer Rede angesprochen haben.Es ist für uns selbstverständlich, dass der Sozialstaatein menschenwürdiges Existenzminimum sichern muss.Aber es sollte genauso selbstverständlich sein, dass alleMenschen, die es können, auch ihren Beitrag zur Ent-wicklung und zum Wohlstand unserer Gesellschaft leis-ten und sich bemühen, ihren Lebensunterhalt selbststän-dig zu verdienen.
Wir sind uns wahrscheinlich einig, dass die ganz großeMehrheit genau das auch möchte.Die Menschen sind unterschiedlich. Sie haben unter-schiedliche Voraussetzungen und befinden sich in unter-schiedlichen Lebenslagen. Man kann nicht von allen dasGleiche erwarten. Aber dass man etwas von den Men-schen erwartet, das hat auch etwas mit Respekt zu tun.Ich will keine Grundsatzdebatte zum bedingungslosenGrundeinkommen führen. Ich will aber ein paar kleineWorte dazu verlieren, weil es in Ihrem Antragstext zu-mindest angedeutet ist.Chancengleichheit stellt man nicht dadurch her, dassman Menschen bedingungslos alimentiert, sonderndurch eine aktive, gute und gerechte Bildungspolitik, dieindividuell fördert mit Ganztagsschulen und die einenNachteilsausgleich für sozial Schwächere vorsieht, unddurch eine gute Familienpolitik, die Familien mit Zeit,Geld und guter Betreuung unterstützt.
Man verändert Arbeitsbedingungen nicht dadurch,dass man alle Menschen alimentiert und eine eigenstän-dige Existenzsicherung überflüssig macht, sonderndurch solidarisches gewerkschaftliches Handeln unddurch gute gesetzliche Rahmenbedingungen. Einen gro-ßen Schritt in die richtige Richtung haben wir gesternmit der Verabschiedung des Tarifpakets bereits gemacht.
Statt den Menschen Scheinfreiheit unbegrenzter eh-renamtlicher Arbeit zu geben, wollen wir ihnen die Frei-heit geben, durch eigenes Einkommen ihr Leben selberin die Hand zu nehmen. Aus Ihrer Sicht ist Fördern undFordern Ausdruck eines paternalistischen Sozialstaates,aus unserer Sicht ist es Ausdruck eines emanzipatori-schen Sozialstaats.
Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial-hilfe hat für viele Menschen die Tür zu Hilfe und Unter-stützung geöffnet. Wir wollen keinen Sozialhilfestaatmehr, der Menschen alimentiert und dann links liegenlässt. Fördern und Fordern heißt: Wir brauchen alle, wirwollen alle, wir erwarten von allen etwas, aber wir gebenauch allen Hilfe und Unterstützung.Damit komme ich zu den Sanktionen. Entscheidenddafür, dass es gelingt, Arbeitslose in gute Jobs zu brin-gen, ist neben dem eigenen Engagement eines jeden Ein-zelnen – wir lassen da auch keinen raus – all das, waswir zur Förderung und Unterstützung zur Verfügungstellen. „Wir lassen den Einzelnen nicht raus“ heißt aberauch, dass wir Sanktionen nicht grundsätzlich abschaf-fen wollen. Ob sie in der jetzigen Form aber die Zieleerreichen, die wir damit erreichen wollen, ist fraglich.Darüber muss geredet werden. Deswegen haben wir ge-meinsam im Koalitionsvertrag verabredet, dass wir unsvor allem mit der Überprüfung der Sanktionsregelungenund der Sanktionspraxis für die unter 25-Jährigen be-schäftigen wollen.Wir haben darüber hinaus beschlossen, dass wir unsmit den Ergebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppezur Rechtsvereinfachung im SGB II beschäftigen wer-den,
und zwar dahin gehend beschäftigen werden – das stehtauch so im Koalitionsvertrag –, dass wir Verbesserungensowohl für die Arbeitslosen als auch für die Verwaltungerreichen wollen.
Diese Ergebnisse werden bald auf dem Tisch liegen undsicher eine gute Grundlage für eine spannende und hef-tige Debatte werden.
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3514 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Dagmar Schmidt
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Ich persönlich kann mir vorstellen, dass wir uns ander Stelle vor allem über die Frage der Gleichbehand-lung der unter und über 25-Jährigen unterhalten; denndie Unterscheidung in Altersgruppen hat sich weder alsgerecht noch als zielführend erwiesen.
Ich möchte an der Stelle der Debatte noch nicht vor-greifen, aber zumindest möchte ich einen kurzen Ein-druck davon vermitteln, was nach meinen Vorstellungennoch auf den Tisch kommen müsste. Auch mit derFrage, ob die Sanktionen auf den Bereich der Kosten derUnterkunft ausgedehnt werden sollten, müssen wir unsbeschäftigen. Dies ist nämlich ein Punkt, der ganz hart indie Existenz von Menschen eingreift.
Wir werden uns darüber unterhalten, welche Sanktionwofür angemessen und was an dieser Stelle zielführendist.Zum Weg in die selbstständige Existenzminderunggehört Förderung genauso wie eigenes Engagement. Esgehört dazu, Erwartungen zu formulieren und sich dannauf Vereinbarungen verlassen zu können. Wenn nicht,dann muss man auch mit Sanktionen rechnen. Das ist inanderen gesellschaftlichen Bereichen nicht anders. WerVereinbarungen, wer Verträge, wer Verabredungenbricht, muss mit Konsequenzen rechnen. Das ist nichtpaternalistisch, sondern hat etwas mit einem normalenund respektvollen Umgang miteinander zu tun.
Aber entscheidend ist dabei doch: Handelt es sich umeine Verabredung oder eine Verordnung? Deshalb findeich andere Fragen viel entscheidender als die Frage derSanktion.Nehmen wir als erstes Beispiel einmal die Eingliede-rungsvereinbarung. Ich finde, eine Eingliederungsver-einbarung ist ein Schlüsselinstrument, um Menschen denWeg in den Arbeitsmarkt zu ebnen, und zwar dann,wenn eine echte Verständigung stattfindet, die den Wün-schen der Arbeitsuchenden genauso gerecht wird wie sieden realistischen Möglichkeiten entspricht, und sich dieArbeitsuchenden mit ihr auch identifizieren können.Dann ist sie ein Erfolgsinstrument. Aber sind die Vo-raussetzungen dafür überall geschaffen? Lässt der Be-treuungsschlüssel an allen Stellen eine so intensive Be-treuung und Beratung zu, dass es wirklich klappt?Stimmt die Chemie zwischen den Beratern und denen,die Beratung wünschen? Was passiert, wenn das nichtder Fall ist? Wer hat dann welche Rechte? Das sind fürmich die viel interessanteren Fragen
als die, ob man grundsätzlich für oder gegen Sanktionenist.Der zweite Punkt – Sie haben es angesprochen –:Sind die Schriftstücke, die informieren und darüber auf-klären sollen, welche Rechte und Pflichten man hat, füralle wirklich immer so verständlich, dass daraus dasrichtige Handeln resultieren kann?Mit diesen Fragen möchten wir uns gerne in Zukunftbeschäftigen.Die Reform des SGB II ist ein steter Prozess. Wir allehaben die Aufgabe, zu überprüfen, ob die angewandtenMittel die bestmöglichen sind, um zu den Zielen zu füh-ren, die wir erreichen wollen. Unser sozialpolitischesZiel ist es aber eben nicht, Arbeitslosigkeit zu bezahlenund uns mit Ihnen über die Höhe der Transferleistungenzu streiten. Unser Ziel ist es, Menschen in Arbeit zubringen, und zwar zu guten Bedingungen und so, dasssie sich und ihre Familien ernähren können.
Die allermeisten Menschen wollen arbeiten und stolz aufdas Geschaffene sein.Wir sind der Auffassung, dass „Menschen in Arbeitzu bringen“ Ausdruck eines emanzipatorischen Sozial-staatsverständnisses ist. Wir wollen alles dafür tun, dienotwendige Hilfe und Unterstützung zu gewährleisten,auch und gerade für die, die es besonders schwer haben;frei nach Abraham Lincoln:Je schwerer etwas fällt, desto größer die Freude,wenn es uns gelingt.
Nächster Redner ist der Kollege Professor
Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Psalm 127sagt bekanntlich, dass es unnütz sei, früh aufzustehenund hernach lange zu sitzen, um das Brot mit Sorgen zuessen, denn den Seinen gebe es der Herr im Schlaf. Ichfühle mich ein wenig an diesen Psalm erinnert, wenn wir– nicht zum ersten Mal – auf Antrag der Fraktion DieLinke die Abschaffung von Sanktionen in der Welt derSozialgesetzgebung debattieren. Ich will an einigenPunkten deutlich machen, warum die biblische Verhei-ßung und die Solidarität in unserer Gesellschaft zweiverschiedene Dinge sind, in der Hoffnung – denn diesestirbt bekanntlich zuletzt –, dass die ganze Debatte einwenig von der vordergründigen Perspektive der Fairnessim Einzelfall auf das Grundsätzliche gestellt werdenkann und am Ende die Kolleginnen und Kollegen derFraktion, die sich des Themas immer wieder annehmen,das Irrige ihrer Argumentation einzusehen in der Lagesind.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3515
Dr. Matthias Zimmer
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Von der Abschaffung der Sanktionen in der Sozialge-setzgebung, meine Damen und Herren, ist es ein kaumnoch wahrnehmbarer Schritt zum bedingungslosenGrundeinkommen. Ich habe sehr wohl wahrgenommen,dass es hierüber in der Fraktion der Linken wie auch beiden Grünen sehr unterschiedliche Auffassungen gibt.Aber ein sanktionsfreies Regime in der Sozialgesetzge-bung ist ein bereits auf niedrigem Niveau installiertesGrundeinkommen, das an keine erzwingbaren Bedin-gungen mehr geknüpft ist. Hiergegen habe ich dreigrundsätzliche Einwände.Der erste Einwand ist, dass wir durch ein solches Sys-tem die Bedingungen von Solidarität selbst untergraben.Solidarität ist ein Sozialprinzip der gesamtschuldneri-schen Haftung. Es ist aus dem römischen Privatrechtentlehnt und in der französischen Revolution dann zu ei-nem politischen Prinzip der Gesellschaftsgestaltung um-gedeutet worden. Mit anderen Worten: Wir kennen inder Gesellschaft, im Sozialverband das solidarische Ein-treten für den Einzelnen, wenn er in Not gerät. Wir ken-nen hier unbedingte und bedingte Solidaritätspflichten.Unbedingte Solidaritätspflichten sind solche, dienicht auf Gegenseitigkeit beruhen oder beruhen können.Der Mensch, der sich in einer solchen Lage befindet,kann sich aus eigener Kraft und auch mit Hilfe andererdaraus nicht mehr befreien. Er bedarf der dauerhaftenHilfestellung.Anders in Fällen der bedingten Solidaritätspflichten.Hier kann sich der Einzelne selbst oder mit Hilfe andereraus der Notlage befreien; denn sie ist nicht dauerhaft.Mehr noch: Die Legitimität der gesellschaftlichen Res-source Solidarität ist gerade davon abhängig, dass er diesauch tut, weil er es kann. Solidarität versteht sich hier alsEinstehen für andere in unverschuldeten Notlagen, abernicht als eine dauerhafte Subventionierung der Unwillig-keit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.Mein zweiter Einwand ist, dass damit der Wert vonArbeit selbst diskreditiert wird. Überspitzt formuliert:Wer arbeitet, ist der Dumme; denn es ginge ja auch an-ders. Das ist im Übrigen auch mein Haupteinwand gegenein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Befürworterrechnen damit, dass sich in der Summe die Anzahl derje-nigen, die durch produktive Arbeit ein solches Grund-einkommen finanzieren, nicht verändert.
Ich hingegen glaube schon, dass die Anzahl derjenigen,die sich ohne Arbeit auf niedrigerem Niveau einrichten,deutlich ansteigt. Die Finanzierung eines Grundeinkom-mens lebt damit von Voraussetzungen, die sie selbst un-tergräbt. Das gilt eben auch für die Überstrapazierungder Solidarität.
Mein dritter Einwand ist, dass damit Menschen nichtmehr als selbstständig wahr- und ernstgenommen wer-den, sondern zum dauerhaften Objekt staatlicher Betreu-ung werden. Der enge Zusammenhang von Freiheit undSelbstverantwortung wird aufgelöst. Man kann Freiheitdurchaus denken als dauerhafte staatliche Alimentie-rung, aber das ist ein Freiheitsbegriff, dem die Dimen-sion der Selbstverantwortung fehlt. Aus meiner Sicht– ich glaube, hier spreche ich auch für die Union alsGanzes – verfehlt ein solcher Freiheitsbegriff den Kernder Personalität des Menschen.
Er nimmt den Menschen nicht als mündig wahr. Wäre esnicht Aufgabe einer neuen Aufklärung, den Menschenan seine Mündigkeit zu erinnern und ihn aufzufordern,aus allen Formen der Unmündigkeit sich zu befreien,auch wenn diese noch so benevolent als staatliche Be-treuung daherkommt?Damit zusammen hängt ein weiteres Argument. DieLinke behauptet in ihrem Antrag, dass Sanktionen gegendie Würde des Menschen verstoßen. Wenn wir aber Frei-heit und Selbstverantwortung ernst nehmen, dann müs-sen wir auch die Entscheidungsfreiheit des Einzelnenernst nehmen. Wir knüpfen Sozialleistungen an Bedin-gungen und machen dies auch sehr deutlich; der KollegeWeiler hat in seiner Rede davon ja ausführlich gespro-chen. Wenn diese Bedingungen wissentlich und willent-lich nicht erfüllt werden, und zwar im Wissen um dieKonsequenzen, dann ist das mitnichten ein Verstoß ge-gen die Würde. Es ist Ausfluss der Entscheidungsfreiheitdes Einzelnen.
Es verstieße, meine Damen und Herren, meines Erach-tens gegen die Würde des Menschen, diese Entschei-dungsfreiheit sozialtherapeutisch oder gesellschaftlichaufheben zu wollen.
Hinter dem unscheinbar daherkommenden Antrag derLinken, die Sanktionen in der Sozialgesetzgebung abzu-schaffen, verbirgt sich also mehr. Sie, meine Damen undHerren von den Linken, stellen damit in Wahrheit dieGrundlagen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung in-frage, Sie stellen die Systemfrage.
Nicht mehr und nicht weniger hatte ich auch von Ihnenerwartet. Im Wege der heutigen Rede wollte ich Sie wis-sen lassen: Wir haben es gemerkt und lehnen deshalb Ih-ren Antrag ab.
Nächste Rednerin ist für die Linken die KolleginSabine Zimmermann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Zimmer, es geht in unseremAntrag nicht um das bedingungslose Grundeinkommen.Ich glaube, da haben Sie etwas falsch verstanden; dennbeim bedingungslosen Grundeinkommen sollen alleGeld bekommen, egal ob sie arbeiten, ob sie nicht arbei-ten, ob sie Millionäre sind oder sonst was. Es geht hiereinfach darum, die Aussage von Artikel 1 des Grundge-setzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ umzu-setzen. Um nichts anderes geht es hier.
Meine Damen und Herren, über 1 Million Sanktionenwurden im letzten Jahr wieder gegenüber Hartz-IV-Be-zieherinnen und -Beziehern verhängt. Das sind alles Ein-zelschicksale; davon, wie es diesen Menschen geht, ha-ben die meisten hier im Saal allenfalls eine vageVorstellung. Wie ist es denn, wenn von einem Betrag,der als Existenzminimum gilt, noch etwas weggenom-men wird? Was heißt denn das überhaupt: Leben unter-halb des Existenzminimums? Ich frage Sie hier: Kannman denn mit weniger als dem Existenzminimum über-haupt noch ein Leben in Würde führen?Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kenne viele Men-schen – zum Beispiel Frauen über 50 –, die vor dem Job-center stehen, zittern und Angst haben, dort hineinzuge-hen. Ich habe letztens erst einen alleinerziehenden Manngetroffen, der Aufstocker ist und 150 Euro gestrichenbekommen sollte. Der hat nächtelang davor nicht ge-schlafen. Wissen Sie, wie es den Kolleginnen und Kolle-gen geht?
– Die sollte er ungerechtfertigerweise gestrichen bekom-men, das ist dann später herausgekommen, was ich rich-tig finde. Danach konnte der Kollege wieder richtigschlafen. Vorher hatte er nur noch 700 Euro verdient undkonnte sein Kind nicht mehr ernähren. Das war nämlichdas ganze Problem dabei.
Mit den Sanktionen sollen – so das angebliche Ziel –Erwerbslose dazu angehalten werden, sich um Arbeit zubemühen. Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen sa-gen, dass das ziemlicher Unsinn ist. Ich will es Ihnenauch belegen. Vor etwas längerer Zeit hat die Bundes-agentur für Arbeit Arbeitslosengeld-II-Bezieher befragt.Danach stimmten 76 Prozent der Aussage zu: Arbeit zuhaben ist das Allerwichtigste im Leben. 86 Prozent er-klärten sogar: Arbeit ist wichtig, weil sie einem das Ge-fühl gibt, dazuzugehören. Meinen Sie wirklich, diesenArbeitslosen müsste man noch mit Sanktionen drohen,damit sie sich um Arbeit bemühen? – Ich glaube daseher nicht.
Denn sie bewirken zudem das Gegenteil: Sie entmutigendie Betroffenen, und das kann so weit gehen, dass man-che den Kontakt zu den Jobcentern total abbrechen. Siefördern keine Motivation, im Gegenteil, sie machen siekaputt. Und das, meine Damen und Herren, ist Ihre Poli-tik.
Warum das alles? – Die Antwort ist einfach. Sanktio-nen drangsalieren nicht nur Erwerbslose, sie zwingenauch dazu, schlechte, unsichere Jobs anzunehmen. Da-mit üben Sie auch Druck auf die Löhne aus. Erwerbsloseim Hartz-IV-System sind bei der Jobsuche meist zu Zu-geständnissen bereit. Meine Kollegin Katja Kipping hates gesagt. Dazu sagt auch die erwähnte Befragung derAgentur für Arbeit: acht von zehn Hartz-IV-Beziehernsind bereit, eine Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation an-zunehmen. Zwei Drittel würden ungünstige Arbeitszei-ten in Kauf nehmen und knapp die Hälfte ein geringeresEinkommen.Dass Sanktionen dazu führen, jede x-beliebige Arbeitanzunehmen, zeigt auch eine aktuelle Studie des Ar-beitsministeriums aus Nordrhein-Westfalen. Dort heißtes: Harte Sanktionen führen häufig nicht zu einem „kon-tinuierlichen Beschäftigungsverhältnis“, sondern nur zueiner „kurzfristigen Beschäftigung zur Verbesserung derfinanziellen Situation“.Wenn Sie glauben, dass ohne Sanktionen Erwerbslosezumutbare Arbeit ablehnen würden, dann muss ich Ih-nen sagen, dass nur jede achte Sanktion zustande ge-kommen ist, weil Arbeit, Ausbildung oder eine Maß-nahme abgelehnt oder abgebrochen wurden. Wenn Siesich diese Fälle einmal ganz genau anschauen, dann er-kennen Sie, dass in vielen Fällen Erwerbslose miss-braucht und ihre Rechte mit Füßen getreten werden. Dasist der Ist-Zustand.Aber Sanktionen sind nicht nur ein Problem der Er-werbslosen. Wer einmal Betriebe besucht hat, die inwirtschaftlich schwierigen Situationen stecken, weiß,welches Drohpotenzial auch Arbeitgeber damit besitzen,welche Angst unter den Kolleginnen und Kollegen ge-schürt wird, auf Lohn zu verzichten, damit sie nicht inkürzester Zeit in Hartz IV landen; das will nämlich kei-ner.Auch der DGB merkte erst kürzlich in einer Stellung-nahme zu den Sanktionen an, mit Hartz IV und anderenMaßnahmen der Hartz-Gesetze sollte erklärtermaßen derNiedriglohnbereich ausgebaut werden. – Das, meine Da-men und Herren, ist Ihnen wirklich gelungen.Deutschland hat nach Litauen den zweitgrößten Nie-driglohnsektor Europas. Sogar die internationale Wirt-schaftsorganisation OECD hat die Bundesregierunginzwischen aufgefordert, das Problem des Niedriglohn-bereichs zu bekämpfen. Das geht nicht, wenn manHartz IV außen vorlässt. Nach den derzeitigen Mindest-lohnplänen sollen die Langzeitarbeitslosen – das sind1,1 Millionen Menschen – für Löhne unterhalb des vor-gesehenen Mindestlohns von 8,50 Euro arbeiten. Für uns
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Sabine Zimmermann
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gilt aber auch hier das Prinzip „Gleicher Lohn für glei-che Arbeit“.
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Großen Koalition und hier insbesonderevon der SPD, wenn es Ihnen wirklich ernst damit ist,Niedriglöhne zu bekämpfen und für gute Arbeit zu sor-gen, kommen Sie nicht daran vorbei, die Sanktionen ab-zuschaffen. Das liegt im gemeinsamen Interesse der Er-werbslosen und der Beschäftigten. Die Linke bleibtdabei – jetzt, Frau Pothmer, kommt mein Satz –:Hartz IV muss weg, und auch das Sanktionssystem mussweg. Es ist nichts anderes als ein Programm zur Drang-salierung der Erwerbslosen und zur Disziplinierung derBeschäftigten. Wir brauchen eine sanktionsfreie, armuts-feste Mindestsicherung.Danke schön.
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Matthias Bartke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eines vorweg: Die überwältigende Mehrheitder Hartz-IV-Empfänger ist gesetzestreu. Es gibt unzäh-lige Gründe, warum man in den Hartz-IV-Bezug gelan-gen kann: Verwerfungen am Arbeitsmarkt, Betriebs-schließungen und persönliche Schicksalsschläge. Nureinen Grund gibt es fast nie: Unlust oder Faulheit.
Es ist wichtig, dies zu Beginn zu betonen; denn man hatin der Debatte über Leistungsmissbrauch zuweilen denEindruck, dass ein signifikanter Anteil der Hartz-IV-Empfänger Leistungsmissbrauch betreibt. Ich sage Ih-nen: Das stimmt nicht; das ist nicht zutreffend.
Von Sanktionen sind nach Angaben des IAB im Laufeder Zeit gerade einmal 5 Prozent der Leistungsbezieherbetroffen, und die ganz häufig nur wegen Meldever-säumnissen; das wurde eben schon gesagt.
Dennoch sind Sanktionen im System des SGB II un-erlässlich. Grundsätzlich muss man sich vor Augen füh-ren, dass es sich bei Hartz-IV-Leistungen um Steuergel-der handelt, die von anderen Menschen hart erarbeitetworden sind. Gerade die wenig verdienenden Menschensind es, die in der Regel am wenigsten Verständnis dafürhaben, wenn Menschen nicht alles daransetzen, aus demLeistungsbezug wieder herauszukommen.Der richtige Grundgedanke, der hinter dem Sankti-onskonzept steht, ist der Ansatz der fordernden Aktivie-rung. Damit soll sichergestellt werden, dass die Leis-tungsberechtigten mit den Jobcentern kooperieren, undes sollen dadurch Bewerbungsaktivitäten und die An-nahme von angebotenen Stellen gewährleistet werden.Wenn man arbeitslos und bedürftig ist und kein ALG Ierhält, bekommt man ALG II. Man muss dafür nicht ar-beiten; das liegt in der Natur der Sache. Aber man mussschon die Auflagen des Jobcenters erfüllen. Das ist dieGegenleistung für staatliche Unterstützung, und das ist,mit Verlaub, auch richtig.
Die Linke fordert in ihrem vorliegenden Antrag, beiFehlverhalten von Leistungsbeziehern komplett auf Sank-tionen zu verzichten. Das, meine Damen und Herren, istein weitgehender Schritt in Richtung bedingungslosesGrundeinkommen:
Man muss keine Leistung erbringen, man muss keineAuflagen erfüllen, und man muss nicht arbeiten, aberGeld vom Staat bekommt man trotzdem. Meine Damenund Herren, das geht nicht.
Die Große Koalition ist ohne Wenn und Aber gegen einbedingungsloses Grundeinkommen, und ich war bisherdavon ausgegangen, dass es auch bei der Linken diffe-renziert betrachtet wird. In Ihrem Wahlprogramm for-dern Sie noch eine Enquete-Kommission dazu;
nun fordern Sie aber die völlige Abschaffung der Sank-tionen im SGB II. Damit setzen Sie einen Kurs fort, denSie mit der ziemlich populistischen Kampagne von IngeHannemann zum bedingungslosen Grundeinkommenbegonnen haben.
Ich kenne Frau Hannemann; sie kommt aus meinemWahlkreis. Ich sage Ihnen: Sie ist zweifellos eine klugeFrau, die mit ihrer Kritik in vielen Einzelpunkten rechthat; nur sind die Handlungskonsequenzen – so ist dashäufig bei Kritikern – nicht zu Ende gedacht.Meine Damen und Herren von der Linken, in IhremAntrag fordern Sie die Totalabschaffung aller Sanktio-nen im SGB II. Damit hat sich bei Ihnen in dieser zentra-len Frage der populistische Flügel durchgesetzt. Ich be-daure das sehr. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Das
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Dr. Matthias Bartke
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heißt im Umkehrschluss aber keineswegs, dass wir dasSanktionssystem in seiner jetzigen Form gutheißen.
Es ist nicht gut; es ist zu kompliziert, es ist intransparent,und es wird von vielen Betroffenen als Schikane emp-funden.
Besonders das verschärfte Sanktionssystem gegen Ju-gendliche geht gar nicht. Verstöße von Jugendlichen ge-gen Auflagen der Jobcenter werden stärker geahndet alsdie von Erwachsenen. Das ist eine Verdrehung der tat-sächlichen Notwendigkeiten.
Eine Streichung sämtlicher ALG-II-Leistungen inklu-sive aller KdU-Leistungen ist bei Jugendlichen deutlichschneller möglich als bei Erwachsenen. Das setzt häufigeine Abwärts- und Verschuldungsspirale in Gang, dieniemand wollen kann. Sogar das IAB hat kürzlich fest-gestellt, dass das zutiefst problematisch ist. Selbst imStrafrecht werden Jugendliche milder behandelt als Er-wachsene. Dabei stehen pädagogische Erwägungen imVordergrund. Solche Erwägungen müssen auch imSGB II stärker zum Tragen kommen.
Das vorhin schon von Ihnen zitierte Institut für Sozial-und Gesellschaftspolitik hat dazu festgestellt: Je höherdie Sanktionen bei Jugendlichen, desto stärker schwin-det ihr Vertrauen in die Berater. Das ist ja auch keinWunder.Das Sanktionssystem des SGB II, insbesondere dasfür Jugendliche, gehört auf den Prüfstand. Das hat dieGroße Koalition daher auch in ihrem Koalitionsvertragfestgeschrieben. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechts-vereinfachung im SGB II“ hat sich dieses Auftrags ange-nommen. Vorgestern haben wir im Ausschuss erfahren,dass sich die Arbeitsgruppe auf der Zielgeraden befin-det. Wir werden also in Kürze mit Ergebnissen rechnenkönnen. Es ist geplant, dass die notwendigen SGB-II-Änderungen spätestens im kommenden Frühjahr imBundesgesetzblatt stehen werden. Das Sanktionssystemfür Erwachsene wird vereinfacht und transparenter, unddas Sanktionssystem für Jugendliche wird völlig geän-dert. Ich sage: Je schneller das passiert, desto besser.
Meine Damen und Herren, ich komme aus Hamburg.Wir haben dort das System der Jugendberufsagenturenentwickelt. Ein Bestandteil dieses Systems ist, dass wirimmer wieder auf Jugendliche zugehen. Wir sorgen sodafür, dass keiner von ihnen verloren geht. Das, was dieHamburger Jugendberufsagenturen machen, hat derHamburger Bürgermeister Olaf Scholz einmal fürsorgli-che Belagerung genannt. Ich sage Ihnen: Eine solchefürsorgliche Belagerung ist viel wirksamer als Sanktio-nen.
Es ist daher gut, dass die Große Koalition die bundes-weite Einführung der Hamburger Jugendberufsagentu-ren im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat.Unterm Strich lässt sich festhalten:Erstens. Die ganz überwältigende Mehrheit der Hartz-IV-Empfänger verhält sich rechtskonform.Zweitens. Das von der Linken geforderte weitgehendbedingungslose Grundeinkommen ist ein gesellschaftli-cher und politischer Irrweg.
Drittens. Das gesamte Sanktionsregularium imSGB II bedarf dringend der Überarbeitung, insbesonderehinsichtlich der unter 25-Jährigen.Viertens. Die GroKo ist dabei. Wir liefern.Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Dr. Bartke, vielen Dank. – Es spricht
jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrWeiler ist leider schon gegangen, aber ich möchte trotz-dem das Argument, das er hier vorgebracht hat, aufgrei-fen. Herr Weiler sagte: Wo ist eigentlich das Problem?Es sind doch sowieso nur 3 Prozent aller Arbeitslosenvon Sanktionen betroffen. – Das zeigt, dass er die Wir-kung von Sanktionen total verkennt; denn wenn 3 Pro-zent sanktioniert werden, erleben 97 Prozent der Betrof-fenen die Sorge, ebenfalls von Sanktionen betroffen zuwerden. Sanktionen wirken weit über die Gruppe hinaus,die von ihnen unmittelbar betroffen ist.
Trotzdem sage ich an dieser Stelle – HerrStrengmann-Kuhn hat es schon angedeutet –: Die Grü-nen sind ausdrücklich nicht grundsätzlich und in jedemFall gegen Sanktionen. Wir stehen zu dem Prinzip „Soli-darität ist keine Einbahnstraße“. Da, wo es möglich ist,müssen diejenigen, die Solidarität erfahren haben, imRahmen ihrer Möglichkeiten etwas zurückgeben. Dasfinden wir richtig.Aber dafür müssen die Voraussetzungen stimmen,und die Voraussetzungen stimmen ausdrücklich nicht.
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Brigitte Pothmer
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Sanktionen können nicht nach dem Prinzip „Vogel frissoder stirb“ ausgesprochen werden.Herr Zimmer, wir haben die Situation – das könnenSie mir glauben; denn ich bin wirklich Handlungsrei-sende in Sachen Jobcenter –, dass Arbeitslose jeden Jobannehmen müssen, dass sie jede ihnen angebotene, auchjede unsinnige, Maßnahme annehmen müssen. Das istaus meiner Sicht ein Verstoß gegen die Würde. Ich finde,das geht gar nicht.
Wenn immer sofort mit der Keule der Sanktionen ge-droht wird, dann ist das ebenfalls ein Angriff auf dieWürde.Frau Schmidt, Sie haben hier zu Recht gesagt, dass esum Fordern und Fördern geht. Aber finden Sie nichtauch, dass die Balance zwischen Fordern und Fördern,die herzustellen wir den Menschen versprochen haben,nie da war und dass das Verhältnis zwischen Fordern undFördern im Laufe der Jahre sogar vollständig aus denFugen geraten ist? Ich finde, an der Stelle ist es der Staat,der nicht vertragstreu ist, es sind nicht die Arbeitslosen.
Die Mittel der Arbeitsförderung sind auf der einenSeite immer weiter gekürzt worden. Auf der anderenSeite sind die Sanktionen, insbesondere für die unter25-Jährigen, verstärkt worden. Das ist auch der Grunddafür, dass dieses Hartz-IV-System in der gesamten Ge-sellschaft, aber in besonderer Weise von den Arbeitslo-sen als ein sehr repressives System wahrgenommenwird.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, da-ran ändert die Abschaffung aller Sanktionen schlicht garnichts. Dadurch bekommt kein einziger Arbeitsloserwieder einen Job. Dafür brauchen wir tatsächlich ganzandere Jobcenter. Wir müssen die Jobcenter umbauen inServicecenter für Arbeitslose, aber auch in Servicecenterfür Beschäftigte, die zum Beispiel nach einer neuen be-ruflichen Perspektive suchen. Wir brauchen Jobcenter, indenen diejenigen, die vor dem Schreibtisch sitzen, unddiejenigen, die hinter dem Schreibtisch sitzen, tatsäch-lich auf Augenhöhe miteinander kommunizieren.
Obrigkeitsstaatliches Verhalten darf da keine Rolle spie-len.Wir haben, Herr Zimmer, nach wie vor ein asymmet-risches Machtverhältnis zwischen den Jobcentern undden Arbeitslosen. Immer noch kommen sich die Arbeits-losen in den Jobcentern wie Bittsteller vor. Deswegenmüssen wir die sozialen Bürgerrechte dringend stärken,und wir müssen die Zumutbarkeitsregelungen ändern.Daran führt kein Weg vorbei,
jedenfalls dann nicht, wenn wir wirklich die Potenzialeder Arbeitslosen heben wollen. Wenn wir Arbeitslosenachhaltig in Arbeit bringen wollen, dann geht das nichtmit Drohungen, sondern nur dann, wenn Arbeitsloseauch mitarbeiten, wenn ihre Ideen und ihre Vorstellun-gen in diesen Prozess einbezogen werden, wenn sie aucheinmal Nein sagen können, wenn sie eine echte Wahl-möglichkeit haben.Ich sage Ihnen noch etwas: Natürlich gibt es auch Si-tuationen, in denen ein Arbeitsloser und ein Fallmanagersich so ineinander verhaken, dass es nicht weitergeht. Indiesem Fall müssen Arbeitslose sich einen anderen Fall-manager suchen können; da muss es eine Wechselmög-lichkeit geben.
Ich plädiere im Übrigen dafür, dass wir in allen Job-centern Ombudsstellen einrichten.
Ich prognostiziere Ihnen: Das wird die Zahl der Klagen,die es derzeit vor den Arbeitsgerichten gibt, exorbitantreduzieren. Das lohnt sich also in jeder Hinsicht.
Meine Damen und Herren, es geht um weniger Büro-kratie und mehr Freiheit. Es geht um qualifiziertes Per-sonal. Es geht um bessere und individuelle Förderung.Am Ende geht es tatsächlich auch um mehr Geld. So-lange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, solangewir diese Arbeitssituation in den Jobcentern haben, wiesie sich derzeit leider immer noch darstellt, so lange wol-len wir ein Sanktionsmoratorium. Wenn die Bedingun-gen sich bessern, dann muss es, finde ich, tatsächlich einProjekt auf Gegenseitigkeit werden.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege
Matthäus Strebl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Wir beraten heute über den Antrag „Sanktio-nen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei derSozialhilfe abschaffen“ der Linken. Um es gleich vor-wegzusagen: Die vornehmste Aufgabe des deutschenSozialstaats ist es, einen erwerbsfähigen Leistungsbe-rechtigten, der nicht in der Lage ist, seinen Lebensunter-halt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, finanziell zu un-terstützen. An dieser Aufgabe werden wir nach wie vorfesthalten.
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3520 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Matthäus Strebl
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Jedem kann es passieren, dass er unverschuldet ineine Notlage gerät, und dann sollte er nicht allein zu-rückgelassen werden und nicht sich selbst überlassenwerden.Wenn wir uns jetzt mit dem Kapitel 1 des ZweitenBuches Sozialgesetzbuch befassen, müssen wir uns dieStichwörter Fördern und Fordern als grundlegende Maß-stäbe vergegenwärtigen. Neben ihrer Regelleistung, denKosten für Unterkunft und Heizung, können Beziehervon Arbeitslosengeld II weitere Unterstützung erhalten.Ich nenne hier Qualifizierungsmaßnahmen, Umschulun-gen, finanzielle Unterstützung beim Umzug oder beimFührerschein und Coaching. Dies sind nur einige dervielen Maßnahmen, die bei der Eingliederung in den Ar-beitsmarkt helfen.Aber wir müssen uns auch dem Stichwort Fordernwidmen. Dabei müssen wir uns vor Augen halten, dassdas Arbeitslosengeld II nur eine temporäre Unterstüt-zung sein sollte und nicht zur Dauerleistung im Sinne ei-ner Bürgerrente oder ein bedingungsloses Grundeinkom-men werden darf.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darin unter-scheiden wir uns von der Antragstellerin. Der Arbeitslo-sengeld-II-Bezieher wird aktiv gefordert, seine Hilfsbe-dürftigkeit zu beenden. Allein gelassen wird er dabeiauch nicht. Unterstützung erhält er zum Beispiel durchdie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den Jobcenternund den Trägern. Dafür muss er Meldetermine in denJobcentern wahrnehmen.Nur in einem persönlichen Gespräch können Qualifi-zierungsmöglichkeiten oder Stellenausschreibungen an-geboten werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitersind bemüht, Meldeversäumnisse zu verhindern. Einneuer Weg ist zum Beispiel die kostenlose Erinnerungper SMS durch das Jobcenter einen Tag vor dem Termin.Allein im März dieses Jahres wurden fast 500 000 SMSan Arbeitslosengeld-II-Bezieher versandt. Diese Zahl istbezeichnend.Mit jeder Einladung zu einem Meldetermin erhält derArbeitslose auch eine Rechtsfolgenbelehrung für denFall, dass er nicht zum Termin erscheint.
Außerdem erfolgt bei Nichterscheinen nicht gleich eineKürzung der Leistung. Der Arbeitslose erhält zunächstdie Möglichkeit einer Anhörung mit einer erneutenRechtsfolgenbelehrung. Ihm bleibt somit offen, die Ent-schuldigungsgründe zu benennen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, entgegender weitverbreiteten Auffassung werden Sanktionennicht willkürlich und plötzlich erlassen. Liegt kein wich-tiger Grund vor und die Sanktion wird erlassen, hat dasnicht zur Folge, dass der Arbeitslose keine Unterstüt-zung mehr bekommt. Er kann dann immer noch ergän-zende Sachleistungen beantragen.Außerdem kann von dem Leistungsbezieher erwartetwerden, dass er alles Mögliche unternimmt, um sich ausdem Leistungsbezug zu lösen. Dazu gehört eben auch,dass man sich eine Arbeit sucht, die nicht immer den ei-genen Fähigkeiten oder Vorlieben entspricht. Aber auchhier werden Grenzen der Zumutbarkeit nach § 10 desZweiten Buches Sozialgesetzbuch beachtet. Jeder Leis-tungsbezieher hat die Möglichkeit, zunächst eine nichtso beliebte Tätigkeit aufzunehmen, sich aber trotzdemweiterhin auf andere Jobs zu bewerben. Somit kann eineVerfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit verhindertwerden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Tätig-keit ist zum Beispiel dann nicht zumutbar, wenn jemandkörperlich dazu nicht in der Lage ist oder wenn durch dieAusübung der Arbeit die Erziehung des Kindes gefähr-det wäre.Entgegen der Auffassung der Linken teilen wir dieAnsicht, dass Sanktionen weder gegen das Grundrechtder Berufswahlfreiheit noch gegen das Grundrecht aufGewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini-mums verstoßen. Auch bleibt es mir unverständlich,welchen Weg die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derJobcenter wählen sollen, wenn sich diejenigen, die Leis-tungen beziehen, jeglicher Mitwirkung entziehen.
Bei aller Kritik, meine sehr verehrten Damen undHerren, die an den Sanktionen geäußert wird, darf einesnicht vergessen werden: Leistungen nach dem ZweitenBuch Sozialgesetzbuch sind steuerfinanzierte Leistun-gen, die von der Allgemeinheit aufgebracht werden. DieAllgemeinheit kann erwarten, dass jemand, der vorsätz-lich und in Kenntnis aller Rechtsfolgen nicht dazu bei-trägt, seine Hilfsbedürftigkeit zu überwinden, mit Kon-sequenzen rechnen muss. Das ist auch die Grundlage dersozialen Marktwirtschaft.
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die Rege-lungen und auch die Praxis der Sanktionen im SGB IIauf ihre Wirkung zu überprüfen. Dieser Aufgabe werdenwir uns effizient widmen. Wir wollen im Herbst erste Er-gebnisse vorlegen.Zusammenfassend kann zum Schluss gesagt werden:Im Ergebnis halten wir an Sanktionen und Leistungsein-schränkungen im Zweiten und Zwölften Buch Sozialge-setzbuch fest. Wir werden deshalb den Antrag der Lin-ken ablehnen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Strebl. – Für die Sozialde-
mokraten spricht jetzt die Kollegin Daniela Kolbe.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Ich finde, über Sanktionen zu sprechen, ist
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3521
Daniela Kolbe
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mehr als sinnvoll. Immerhin sprechen wir auch über ei-nen zum Teil sehr massiven Eingriff in das Leben vonMenschen. Deshalb lohnt die Reflexion darüber, auchals Gesetzgeber, ob wir mit dem Sanktionsregime, daswir installiert haben, die Ziele wirklich in dem Maße er-reichen, wie wir uns das vorstellen.Auch deshalb gibt es derzeit eine Bund-Länder-Kom-mission mit dem Titel – ob er eingängig ist, darüber kannman sich streiten – „Rechtsvereinfachung im SGB II“.Diese Kommission beschäftigt sich auch mit dem ThemaSanktionen. Wir haben am Mittwoch im Ausschuss fürArbeit und Soziales einen ersten Zwischenbericht ge-hört, der sich aus meiner Sicht sehr positiv anlässt. Aller-dings wird dort nicht die Abschaffung aller Sanktionengefordert oder vorgeschlagen, und das ist auch gut so.Sehr wohl aber deutet sich an, dass die verschärftenSanktionen gegenüber U25, also unter 25-Jährigen, kri-tisch gesehen werden. Das sehen wir als Sozialdemokra-ten ähnlich. Es gibt aus meiner Sicht keine wirklich gu-ten Gründe, warum unter 25-Jährige härter bestraftwerden sollten als Ältere. Ich finde auch, dass dies Sank-tionen als erzieherische Maßnahme ein ganzes Stücküberbewertet. Ich bezweifle, dass möglichst scharfeSanktionen dazu führen, dass sich bei jungen Erwachse-nen Verhaltensänderungen einstellen oder dadurch gareine Nachsozialisation möglich wird. Scharfe Sanktio-nen sind dann womöglich gerade eine Maßnahme, dieTüren nicht öffnet, sondern zuschlägt.Die verschärften Sanktionen haben zudem oft krasseAuswirkungen auf das reale Leben der Betroffenen. Siestehen häufig von einem Tag auf den anderen ohne Res-sourcen für alltägliche Dinge da. Die verschärften Sank-tionen widersprechen auch dem gesellschaftlich eigent-lich weitverbreiteten Ansatz, dass Menschen am Anfangihrer Berufskarriere eher eine zweite Chance verdienthaben, als sofort abgestraft zu werden. Deswegen findeich den Ansatz der Bundesregierung richtig, einen ande-ren Weg zu wählen, nämlich diese jungen Menschen ge-zielt zu fördern und eine viel stärkere Betreuung durchdie Behörden zu organisieren.Wir orientieren uns dabei an den sehr guten Erfahrun-gen, die unter SPD-Führung in Hamburg gemacht wur-den, und an den dort sehr erfolgreich erprobten Jugend-berufsagenturen. Dort gibt es eine enge Zusammenarbeitzwischen allen Behörden, die damit zu tun haben: zwi-schen Jugendämtern, Schulen, Jobcentern, Arbeitsagen-turen und vielen anderen mehr. Ziel ist ganz klar: Nie-mand soll durchs Netz fallen, weder nach der Schulzeitnoch dann, wenn es mit der Ausbildung schiefgegangenist und man sie abgebrochen hat, noch nach Beendigungeiner Ausbildung. Niemand soll also durchs Netz fallen.Das ist genau der richtige Ansatz.
Im besten Fall führt das dazu, dass die jungen Menschendie Behörden eben nicht mehr als Gegner, wie es manch-mal mitunter der Fall ist, sondern als Partner wahrneh-men. Uns als Sozialdemokraten erscheint es zielführen-der, genau diesen Zustand zu erreichen.Sanktionen sind allerdings grundsätzlich notwendig.Wir lehnen die radikale Abschaffung aller Sanktionenab. Oft wird in diesem Zusammenhang von den Gegnernder Sanktionen eine Studie aus NRW ins Feld geführt– die ich übrigens sehr interessant finde –, die auch imAntrag erwähnt ist. Man sucht sich aus Studien ja immergerne das heraus, was passt. Es stehen aber auch einigeandere Aspekte darin, zum Beispiel, dass die Tatsache,dass Leistungen des Staates an bestimmte Pflichten ge-bunden sind, auch bei den Betroffenen auf Zustimmungstößt und dass der überwiegende Teil der Betroffenenweiß, warum eine Sanktion gegen ihn oder sie ergangenist. 80 Prozent der Betroffenen haben zudem auch dieRechtsschutzbelehrung verstanden. Sie wissen also, wel-che Folgen ihr Handeln hat. Am wichtigsten finde ich:Es gibt ein grundsätzliches Verständnis der Betroffenendafür, dass es Sanktionen gibt und warum es sie gibt.Wir halten Sanktionen als grundsätzlich vorhandenesMittel für notwendig, und daran werden wir als SPDauch weiter festhalten. Trotzdem sagen wir ganz klar:Veränderungen in diesem Bereich sind notwendig. Ge-rade wenn es um den KdU-Bereich – Wohnung, Miete,Heizung – geht, sind Sanktionen oft kontraproduktiv.Wenn jemand erst einmal obdachlos geworden ist, sindviel größere Maßnahmen und Ressourcen notwendig.Ganz grundsätzlich halte ich noch einmal fest: Ziel-stellung ist, dass die Jobcenter als Partner gesehen wer-den. Dazu gehört, dass die Jobcenter die Kundinnen undKunden als individuelle Personen wahrnehmen könnenund wahrnehmen. Das wird zunehmend schwieriger.Ich will noch einen Aspekt einführen, der noch garnicht richtig zur Sprache gekommen ist. Wir erlebenauch eine Veränderung bei den Arbeitsuchenden. Einimmer größerer Anteil der Kundinnen und Kunden derJobcenter ist durch wirklich große Schwierigkeiten be-lastet und hat es auf dem Arbeitsmarkt sehr schwer. Dashat unterschiedlichste Gründe: persönliche Gründe, ge-sundheitliche Gründe, psychologische Schwierigkeiten,Suchtprobleme, Verschuldung. Ich denke, dass wir allemit unserem gesunden Menschenverstand sagen: Beidieser Klientel ist einfach nur ein Mehr an Sanktionenwomöglich nicht der richtige Weg; vielmehr sind hierVerbesserungen in ganz anderer Weise vonnöten. Ichrede allerdings nicht von der Abschaffung von Sanktio-nen, sondern es geht zum Beispiel darum, eine bessereBetreuung durch einen besseren Betreuungsschlüssel zuorganisieren. Die Jobcenter müssen in der Lage sein, aufjeden Einzelnen wirklich individuell zugehen zu können.Dazu brauchen sie die notwendigen Ressourcen, aber si-cherlich auch die richtige Grundhaltung, um jeden, derkommt, als Individuum zu betrachten. Daneben brau-chen wir eine bessere Zusammenarbeit der verschiede-nen Träger in diesem Bereich usw. usf.Zum Schluss will ich sagen: Das ist ein sehr wichtigesThema. Reformen sind nötig, allerdings keine pauschaleAblehnung von Sanktionen. Insofern lehnen wir an die-ser Stelle nur Ihren Antrag pauschal ab.Wir werden die Diskussionen anhand eines Gesetz-entwurfs, der noch vorgelegt wird – wir haben die Bund-Länder-Kommission ja nicht zum Spaß eingesetzt –,
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3522 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Daniela Kolbe
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fortsetzen. Nach der Sommerpause werden wir dann vielGelegenheit haben, miteinander zu diskutieren. Ich freuemich darauf.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Christel Voßbeck-Kayser, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist eigentlich schon alles gesagt worden, nur noch nicht
von mir.
Vielleicht ist es ja auch gut, einmal aus NRW-Sicht über
dieses Thema zu reden.
Bis September letzten Jahres habe ich fast 30 Jahre
lang im Sozialpsychiatrischen Dienst gearbeitet – auch
in Zusammenarbeit mit den Jobcentern. Ich fühle mich
durch Ihren Antrag, Kolleginnen und Kollegen der Lin-
ken, schon auch angegriffen und verärgert. Die Arbeit,
die in den Jobcentern von den Mitarbeitern geleistet
wird, finde ich hier nicht ausreichend gewürdigt.
Ich habe in den letzten Wochen öfter hier gestanden und
habe auch immer wieder negative Äußerungen gehört.
Alles wird kaputtgeredet. Das ist wieder Stimmungsma-
che vor anstehenden Landtagswahlen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kipping?
Nein, ich würde gerne meine Rede zu Ende führen.Vielleicht erledigt sich die Frage dann von selbst.Zur Sache. Die Gewährung von Leistungen nach demSGB II basiert auf dem Solidaritätsprinzip. Dieses Prin-zip unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens hat sichseit Jahrzehnten bewährt. Das ist kein einseitiges Sys-tem, keine Einbahnstraße. Jedes Mitglied in unsererGesellschaft hat Rechte und Pflichten. Ja, in der Gewäh-rung von Leistungen nach dem SGB II sind Einschrän-kungen aufgeführt. Aber es kann und wird abgewogen.Es wird nicht willkürlich gekürzt. Es gibt unterschiedli-che zeitliche Abläufe, es gibt auch unterschiedlichefinanzielle Abstufungen.Die Möglichkeit, Leistungen zu mindern, ist sehrwohl ein arbeitsmarktpolitisches Instrument. Es ist auchein pädagogisches Instrument. Mir haben in meiner be-ruflichen Tätigkeit viele Kunden rückgemeldet: Ja, dieKürzung war ein Schock. Sie hat wehgetan. Aber sie hatmich auch wachgerüttelt. – Die Kürzung entmutigt nicht,und die Menschen werden auch nicht alleine gelassen.Das Beratungs- und Hilfesystem in Deutschland ist miteines der größten. Wer will, kann sich mit den Mitarbei-tern ein entsprechendes Beratungssystem aussuchen.
Die Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung ist schon genannt worden. Es wird darineindeutig aufgezeigt, dass eine Kürzung, die dazu dient,Fehlanreizen im System der Arbeitslosenversicherungentgegenzuwirken, als Maßnahme sehr wohl Früchteträgt und als Sanktion dazu führt, dass die Leute in dieGänge kommen. Somit ist Ihre Aussage widerlegt, dassSanktionen nicht zu Verhaltensänderungen führen wür-den. Sie tun es sehr wohl.
Damit die zur Verfügung stehenden Arbeitsmarkt-instrumente, die den Jobcentern zur Verfügung stehen,Wirkung zeigen können, bedarf es nun einmal eines re-gelmäßigen Kontaktes zwischen den Leistungsbeziehernund den Jobcentermitarbeitern, sonst können die einge-setzten Maßnahmen nicht wirken.Leistungsempfänger erhalten nicht nur finanzielleUnterstützung, sondern sie werden auch aktiv unter-stützt. Diese aktive Unterstützung heißt Fallmanage-ment; darüber haben wir uns gestern im Rahmen einerDebatte zu diesem Thema ausgetauscht. Hier sitzen dieMitarbeiter der Jobcenter mit Mitarbeitern der Bera-tungsstellen – ich kann Ihnen das, wie gesagt, aus mei-nem eigenen Erleben und aus meiner beruflichen Tätig-keit versichern – zusammen und suchen gemeinsamnach dem richtigen Instrument für die Zusammenarbeitmit den Kunden.Im Rahmen des Fallmanagements, der aktiven Unter-stützung, gibt es verschiedene Formen. Es gibt die Qua-lifizierung und Unterstützung zur Eingliederung, sei esein Bewerbungstraining, sei es eine fachspezifische Wei-terbildung, seien es Arbeitsgelegenheiten in unterschied-lichen Gewerken zur Berufsorientierung.Die Sanktionen wegen Meldeversäumnissen – derhäufigste Grund für Sanktionen – sind angesprochenworden. Seit dem vergangenen Jahr versenden die Job-center Termin-SMS. Von Januar bis Oktober letzten Jah-res waren das 430 000 Termin-SMS. Ich frage Sie, Kol-leginnen und Kollegen: Welcher Arbeitnehmer erhältdiese Form der Unterstützung von seinem Arbeitgeber?
Wie gesagt, die Personen mit Vermittlungshemmnis-sen, die wirklich auf Unterstützung angewiesen sind, be-kommen diese Unterstützung auch. Ich kann doch nichtsagen: Es gibt in Deutschland kein Hilfe- und Fürsorge-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3523
Christel Voßbeck-Kayser
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system. – Die Sache ist eher die: Ich muss dort hingehen. –Darüber hinaus wird auch aufsuchende Hilfe geleistet.Es werden nicht einfach Sanktionen ausgesprochen unddann, plumps, steht auf einmal keiner mehr als An-sprechpartner zur Verfügung. Das ist Unsinn. Dasstimmt so nicht.Das Prinzip des Förderns und Forderns, insbesonderedas Prinzip des Förderns, habe ich anhand der gerade ge-nannten Beispiele sehr deutlich gemacht. Aber es darfdoch auch gefordert werden, dass eine Person mithilft,die eigene Situation nach ihren Möglichkeiten zu verbes-sern.
Wenn Sie die Abschaffung von Sanktionen fordern,dann erklären Sie uns bitte, was Sie einer Kranken-schwester, einem Handwerker oder einem Fabrikarbeitersagen und damit all denen, die jeden Tag frühmorgensaufstehen, zur Arbeit gehen, ihrer Arbeit nachgehen undvielleicht auch noch zwischendurch Familienmanagersind,
also Kinder zur Kita, zur Schule, zu Freunden, zum Kin-derarzt oder zum Vereinssport bringen, und die hart fürihren Beitrag zur Sozialversicherung arbeiten. Wie er-klären Sie ihnen, dass ihre Sozialversicherungsbeiträgeper Gießkannenprinzip verteilt werden, ohne etwas zufordern?
Dieses Gießkannenprinzip können Sie niemandem er-klären. Es widerspricht auch allen Grundsätzen unseresZusammenlebens und der sozialen Gemeinschaft in un-serem Land. Das alles hat nichts mit einer Solidarge-meinschaft zu tun.
Ein anderer Aspekt: Hat nicht jeder, der einen Beitragfür die Solidargemeinschaft leistet, indem er Beiträgeeinzahlt, das Recht, dass mit seinem Beitrag verantwor-tungsvoll umgegangen wird? Ich fände es deshalb we-sentlich hilfreicher, Kolleginnen und Kollegen der Frak-tion Die Linke, wenn Sie statt wiederholter Showanträgezu Sanktionen bei Hartz IV einmal einen konstruktivenAntrag einbringen würden, der einer Solidargemein-schaft gerecht wird.Wir haben im Koalitionsvertrag – meine Vorrednerin-nen und Vorredner haben es schon erwähnt – gerade diejunge Generation berücksichtigt. Wir wollen uns denjungen Menschen widmen und Lücken zwischen der Ju-gendhilfe und anderen Hilfesystemen weiter reduzieren.
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam konstruktiv an Lö-sungen und Ideen arbeiten,
um den Menschen zu helfen, in Arbeit zu kommen unddamit eine geregelte Tagesstruktur zu haben.
Sie stellen mit Ihrem Antrag quasi die Jobcentermit-arbeiter unter den Generalverdacht, nichts Besseres zutun haben, als den Leistungsbeziehern immer nurSchlechtes zu wollen und sie zu sanktionieren. Dasstimmt einfach nicht.Eben wurde es schon angesprochen: Worum geht esheute Mittag? Es geht um 3 Prozent der Leistungsbezie-her.
– Doch, das ist so. Der Jahresdurchschnitt der Leistungs-berechtigten mit mindestens einer Sanktion lag im ver-gangenen Jahr bei 147 000 Personen. Das sind die ge-nannten 3 Prozent. 97 Prozent der Leistungsberechtigtensind nicht von Sanktionen betroffen.
Die Mehrheit der Leistungsberechtigten verhält sich ver-antwortungsvoll. Auch das Instrumentarium der Leis-tungsminderung wird von den Jobcentermitarbeiternnicht ausgenutzt.
Ihr Antrag vermittelt den Eindruck, es gäbe eine ge-nerelle Ungerechtigkeit im gesamten Leistungsbereichdes SGB II. Ich wünsche mir, wie sicherlich viele andereKollegen auch, dass Sie aufhören, Einzelfälle, die nichtgut laufen, als allgemeingültig hinzustellen und damitein Versagen des ganzen Hilfesystems zu unterstellen.Denn dies entspricht in keiner Weise der Realität.
Deshalb lehnen wir auch diesen Antrag, den Sie ein-gebracht haben, ab. Denn er verstößt gegen den Grund-satz der Solidargemeinschaft und torpediert das Prinzipder Solidarität.Vielen Dank.
Bevor der Kollege Paschke gleich das Wort ergreifenwird, hat die Kollegin Kipping die Möglichkeit zu einerKurzintervention.
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3524 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
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Frau Voßbeck-Kayser, es ist ein beliebtes Spiel Ihrer-
seits: Wir kritisieren die gesetzliche Regelung, und Sie
unterstellen uns, wir würden die Arbeit der Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter nicht würdigen. Ich möchte Sie
an den Beginn meiner Rede erinnern: Ich habe gleich zu
Anfang den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Respekt
und Anerkennung ausgesprochen.
Meine Fraktion hat darum gekämpft, dass die vielen
befristeten Stellen bei der Bundesagentur in unbefristete
Stellen umgewandelt werden. Wir haben gegen Kürzun-
gen bei der Bundesagentur für Arbeit gekämpft, die den
Mitarbeitern das Leben schwermachen. Wir wissen von
vielen Mitarbeitern, dass sie selber darunter leiden, dass
sie laut Gesetz verpflichtet sind, Sanktionen umzusetzen,
weil sie ansonsten mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen
zu rechnen haben. Das ist nicht nur mein Eindruck.
Meine Kollegin Zimmermann ist in verschiedenen Bei-
räten von Jobcentern tätig und hat das ebenfalls bestä-
tigt. Deswegen sage ich noch einmal: Stellen Sie sich Ih-
rer politischen Verantwortung, und hören Sie auf, sich
hinter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verste-
cken!
Weil Sie mir unterstellt haben, dass ich immer nur auf
Einzelfälle verweise, will ich daran erinnern – das sind
die offiziellen Zahlen der Regierung –: Rund 40 Prozent
der Widersprüche gegen Sanktionen wird – je nach Jahr –
in Gänze oder teilweise stattgegeben. Das heißt, allein
bei den falschen Sanktionen reden wir nicht über Einzel-
fälle, sondern über 40 Prozent. Es ist also etwas grundle-
gend falsch. Da muss man ran.
Frau Kollegin Voßbeck-Kayser, möchten Sie darauf
erwidern? – Das ist nicht der Fall.
Dann hat jetzt der Kollege Markus Paschke, SPD, das
Wort.
Nur noch nicht von mir. – Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Es macht keinen Sinn, wennwir uns über den Prozentsatz der Betroffenen streiten.Gerade bei diesem Thema geht es um Recht, Gerechtig-keit und Gerechtigkeitsempfinden. Da zählt für mich imZweifel jeder Einzelne.Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich sofort denEindruck gewonnen – auch wenn Sie das in der heutigenDebatte immer wieder abstreiten –: Es geht darum, dasbedingungslose Grundeinkommen light einzuführen.
Die Diskussion in der Gesellschaft darüber ist erst amAnfang. Es gibt aber auch viele, die behaupten, sie seischon zu Ende. Jedenfalls finde ich, dass die Einführungeines solchen Einkommens durch die Hintertür gegendie gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten erfol-gen würde. Das ginge auch meilenweit an den Interessender Menschen vorbei.Stattdessen sollten wir uns die Frage stellen: Waswollen wir denn mit dem SGB II und den Sanktionen er-reichen? Wollen wir Erwachsene erziehen, oder wollenwir alle motivieren und befähigen, am gesellschaftlichenLeben – dazu gehört maßgeblich auch die Erwerbsarbeit –teilzuhaben? Das führt wiederum zu der Frage: Wie er-reichen wir dieses Ziel am besten? Sind Sanktionen dasbeste Mittel, und wenn ja, wann und in welcher Höhesind sie angemessen und akzeptiert?
Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels verdeutli-chen. Ein junge Frau unter 25 Jahren bezieht seit Jahrenununterbrochen Leistungen nach dem SGB II. TrotzHauptschulabschluss stellt das Amt immer wieder fest,dass sie keine Ausbildungsreife hat. Verschiedene För-dermaßnahmen konnten sie weder in eine Ausbildungnoch in eine Anstellung bringen. Hinzu kam, dass dieMutter sie aus dem gemeinsamen Haushalt geworfenhatte und die junge Frau daraufhin zu ihrem Vater in eineEinzimmerwohnung zog. Die Geschichte der jungenFrau lässt vermuten, dass sie Schwierigkeiten hat, Inhaltund Bedeutung amtlicher Schreiben zu verstehen undden Aufforderungen Folge zu leisten.Zwischen ihr und dem Jobcenter wurde dann eineEingliederungsvereinbarung getroffen. Die darin enthal-tenen Auflagen hat sie nicht vollständig erfüllt. Als Re-aktion gab es seitens des Jobcenters eine Sanktion: DerLeistungsanspruch wurde gemindert; die junge Frau be-kam weniger Geld. Für sie brach die Welt zusammen.Sie hat keinen Widerspruch eingelegt, aber auch keineEinladung des Jobcenters mehr angenommen. Kurz undgut: Es dauerte nicht lange, und ihr Leistungsanspruchwurde auf null herabgesetzt. Sie bekam also nicht nurweniger, sondern gar kein Geld. Auch die Mittel zur De-ckung der anteiligen Miete für die Einzimmerwohnungund der Heizkosten wurden gekürzt. Damit drohten Va-ter und Tochter als Bedarfsgemeinschaft die Wohnungzu verlieren.Das ist zwar ein Einzelfall, aber wir finden sicher injedem Wahlkreis ähnliche Fälle. Es ist eine völlig unan-gemessene Bestrafung eines Vaters, der seinen Beitragleisten wollte, um seiner Tochter zu helfen. Deswegen istdas für mich ein gutes Beispiel, das zeigt: Es gibt Be-darf, das bestehende System zu verändern.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3525
Markus Paschke
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Ein erster Schritt hierzu wäre für mich eine verständ-liche Sprache in den Schreiben an die Betroffenen.
Anträge und Bescheide sind rechtlich einwandfrei, aberfür Laien häufig völlig unverständlich verfasst.
Wie sollen Menschen darauf reagieren, wenn sie nichtoder nur teilweise verstehen, was man eigentlich von ih-nen will? Haben Sie schon einmal das Vergnügen ge-habt, ein solches Schreiben jemandem erklären zu müs-sen, der es nicht verstanden hat? Manche Sätze mussauch ich zwei- oder dreimal lesen. Das ging mir aller-dings bei dem vorliegenden Antrag ähnlich.
Zweitens. Bei der Ausgestaltung der Sanktionen be-steht für mich Handlungsbedarf. Ich finde, Gelder fürMiete und Heizung dürfen nicht gekürzt werden.
Wir wollen Teilhabe organisieren, nicht Wohnungslosig-keit.Drittens. Die Verhältnismäßigkeit des bürokratischenAufwands müssen wir überprüfen. Macht es denn wirk-lich Sinn, alle sechs Monate einen neuen Antrag zu stel-len? Ich finde, wir sollten weniger verwalten und mehrunterstützen und fördern.
Viertens. Wir brauchen mehr Klarheit und Verständ-lichkeit in den Regeln zum SGB II. Wir wollen nichtRichter und Rechtsanwälte beschäftigen, sondern Men-schen zur Teilhabe befähigen.
Ich stelle also fest: Die Sanktionspraxis bedarf einergründlichen und nachhaltigen Überprüfung. Ich sage be-wusst: Überprüfung. Denn bei den Leistungen nach demSGB II handelt es sich um einen Interessenausgleichzwischen Leistungsempfängern und Leistungsgebern.Die Leistungsgeber sind wir alle; das ist unsere Gesell-schaft. Ich denke, unsere Gesellschaft hat einen An-spruch darauf, dass sich jeder im Rahmen seiner Mög-lichkeiten bemüht, diese Unterstützung zu beenden.
Wir haben aber auch die Pflicht, diejenigen, die sichbemühen, zu unterstützen, egal in welchem Bereichdiese Unterstützung benötigt wird. Ich persönlich habeden Eindruck, dass in den vergangenen Jahren das For-dern gegenüber dem Fördern deutlich die Oberhand ge-wonnen hat.
Hier muss wieder eine Balance geschaffen werden.
Deshalb packen wir die Themen in der Großen Koali-tion an.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, in einem ers-ten Schritt die gesonderten Sanktionen für junge Men-schen bis 25 Jahre zu überprüfen. Unterschiedliche Stra-fen für jemanden, der 25 Jahre alt ist, und jemanden, der26 Jahre alt ist, sind für mich und für ganz viele Betrof-fene überhaupt nicht nachvollziehbar.Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet bereitsseit letztem Jahr sowohl für den Bereich Rechtsvereinfa-chung als auch für den Bereich Sanktionen konkreteVorschläge für Verbesserungen. Erste Ergebnisse erwar-ten wir noch in diesem Sommer. Danach werden wir unshier im Bundestag mit diesen Vorschlägen auseinander-setzen. Ich finde, es ist ein gutes parlamentarisches Ver-fahren, wenn man erst einmal den Rat der Experten ab-wartet, bevor man politische Entscheidungen trifft.Gute politische Arbeit bedeutet für uns: motivierenund fördern statt alleinlassen, einfache und verständlicheRegeln statt Bürokratiemonster – und vor allem: küm-mern statt verwalten. Bei allem, was wir hier in dieWege leiten, sollten wir immer die Menschen in denMittelpunkt stellen.In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeitund wünsche allen frohe Pfingsten.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU, dem ich
hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Heute reden wir überSanktionen für Leistungsempfänger – ein Thema, liebeLinke, das Ihnen am Herzen liegt. Seit Jahren stellen SieAnträge hierzu. Man sollte meinen, dass Sie sich mit die-sem Thema sehr gut auskennen. Ich saß also mit IhremAntrag da und habe überlegt, wie ich das Ganze am bes-ten kritisieren kann. Zwei Dinge ließen mich dabei nichtmehr los:
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3526 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Kai Whittaker
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Das eine war in der Tat die Reflexartigkeit meinerHandlung. Ich habe gerade erst hier angefangen, undschon habe ich mir ein Ritual dieses Hauses angewöhnt:Da flattern Anträge von der Opposition herein, und nochbevor man sie gelesen hat, weiß man, dass man sie ab-lehnen wird. Der Grund ist einfach: Trotz vielleicht wah-rem Kern glänzen viele der Anträge durch unrealistischeForderungen. Das ist aus Sicht der Opposition nichtwirklich schlimm; denn für sie muss Politik nicht realis-tisch sein, sondern großzügig klingen. Wenn die amSteuer aussehen wie zynische Geizhälse, dann wird dasgern in Kauf genommen, quasi als Kollateralschaden –Ziel erreicht!Unsichtbar für die Außenstehenden werfen dann diezuständigen Abgeordneten die Selbstverteidigungsma-schinerien an: Da sitzen dann knapp eine Woche langungefähr 50 emsige Mitarbeiter in unseren Büros undgoogeln sich die Finger blutig. Man will alles wissen:Was für Anträge hat die Opposition in den letzten100 Jahren zu dem Thema gestellt? Irgendetwas Peinli-ches? Gibt es irgendwo Widersprüche?
Hauptsache, man kann sie bloßstellen. – Eine hausin-terne Detektei hätte wahrscheinlich mehr zu tun als un-ser Wissenschaftlicher Dienst.
Diebisch freut man sich dann über jede Verwundbar-keit, die da auftaucht, und Suchergebnisse verwandelnsich in wahre Trefferlisten. Manchmal macht so ein Tref-fer ja auch Spaß. Auch ich bekenne mich schuldig imSinne der Anklage.Doch, meine Damen und Herren, ich frage Sie ganzim Ernst: Ist das die Existenzberechtigung der Opposi-tion?
Anträge zu schreiben, bloß damit die regierenden Par-teien schlecht dastehen? Sie hauen hier ein Ding raus mitmeterlangen Begründungen – für zwei magere Forderun-gen.Klar, es wäre toll, wenn die Sanktionen wegfielen.
Da freuten sich alle Betroffenen – für fünf Minuten.Aber aus der Arbeitslosigkeit, aus der sozialen Not holenSie die Leute damit nicht heraus.
Wie Sie das Problem lösen wollen, dazu sagen Sienichts.
Wem wäre mit Ihrem Antrag denn wirklich geholfen?Doch nur Ihrem Profil! Dafür verstopfen Sie den halbenAusschuss, während wichtige Arbeit liegen bleibt. Dasist weit unter dem Potenzial, das parlamentarische Ent-scheidungsfindung leisten kann. Sicher, die eigentlicheArbeit findet in den Ausschüssen statt. Aber genau die-ser Moment im Plenum, an dem Sie oder ich hier stehenund reden, das ist der Moment, in dem die wenigen Zu-schauer, die wir hier noch haben, den Bundestag erleben.Lassen Sie uns den Zuschauern doch wirklich einmal et-was bieten statt der sitzungstäglichen Show,
die wir hier veranstalten.
Vielleicht wollen uns die Wählerinnen und Wähler etwassagen, wenn sie eine Partei mit dem Slogan „Inhalteüberwinden“ wählen. Die Partei mit diesem Slogan hatbei der letzten Europawahl nämlich 180 000 Stimmenbekommen.Ich will hier nicht den Moralapostel spielen; nach sokurzer Zeit der Zugehörigkeit steht mir das auch nichtzu. Aber wir sollten aufhören, uns mit uns selbst zu be-fassen, und wir müssen konstruktiv zusammenarbeiten.Liebe Linke, bitte geben Sie sich da ein bisschen mehrMühe.Die zweite Sache, die mir auffiel, klang zum Teilschon durch. Das Thema Sanktionen ist nur ein Bruch-teil eines großen Problems, das wir alle gemeinsam tra-gen: Arbeitslosigkeit. Bei diesem Thema hatte ich,ehrlich gesagt, gar keine Lust, Ihren Antrag auseinander-zupflücken und in Definitionsorgien zu verfallen.
Es bringt doch niemanden weiter, ständig Scheindiskus-sionen über dieses Thema zu führen. Ich bin überzeugt,dass unsere Gesellschaft hier eine Großbaustelle igno-riert.
Lassen Sie uns wirklich einmal über das Thema Ar-beitslosigkeit reden. In der Tat werden manche unsererGesetze oder auch deren Ausführungen der Realitätnicht gerecht. Fest steht: Bei der Arbeitslosigkeit warteneine Menge Probleme auf uns. Wenn wir die Langzeitar-beitslosen in den Blick nehmen, dann sehen wir Folgen-des: Akribisch verfolgen wir da die Regelverstöße.Manchmal verlieren wir die aus dem Blick, die statt
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3527
Kai Whittaker
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komplizierter Regeln Hilfe bräuchten. Diesen Menschenmüssen wir ein besseres Angebot machen.
Wir bieten ihnen momentan nicht sehr viel außer Be-schäftigungsprogrammen, die eher Ablenkungsmanö-vern gleichen. Damit geben wir in der Tat eine halbeMillion Menschen in diesem Land einfach auf.Wir müssen unsere Kriterien der Realität anpassen.Wir brauchen Regeln, denen die Arbeitslosen gerechtwerden können. Versuchen Sie einmal, einen Ball in ei-nen Briefkasten zu bekommen: Da können Sie drücken,so fest Sie wollen, das wird nicht passen. Genauso ist esmanchmal mit unseren Sozialgesetzen, die Vielfalt kei-nen Raum lassen. Es ist eine Illusion, zu glauben, dasswir Menschen mit unterschiedlichsten Problemenschnell in den ersten Arbeitsmarkt bringen können. Undeine bessere Bastelstunde ist auch nicht die Lösung. Wirsollten einsehen, dass manch einer nur langfristig wiederzum Arbeitsmarkt findet und wir eine Arbeitsvermitt-lung brauchen, die Wirtschaft, sozialpädagogische Be-treuung und Integrationsbetriebe miteinander verzahnt.Arbeitslosigkeit macht krank; das wissen wir. Wirwissen ebenfalls, dass Sanktionen, wie wir sie jetzt ha-ben, nicht so effizient sind, wie wir uns das wünschen,dass manche jungen Menschen Schwierigkeiten bekom-men und aus dem System auch verschwinden, bis sievielleicht auf der Straße oder gar im Gefängnis wiederangespült werden.
Aus rechtlicher und aus volkswirtschaftlicher Perspek-tive müssen wir dieses System tatsächlich in einigen Be-reichen überdenken.
Da wir gerade bei der Wirtschaft sind, möchte ichgern einen Vorschlag machen: Warum nicht auch An-reize setzen? Eine Menge an Belegen deutet darauf hin:Mit einer durchdachten Anreizstruktur schafft man Mo-tivation und Ziele für die, denen keiner mehr etwas zu-traut. Man kann, wenn man will, sanktionieren ohne dieganzen negativen Effekte. Wo wirkliche Belohnungengegeben werden, können wir sie auch wieder nehmen.Fazit: Wir dürfen die Leute nicht einfach so abschrei-ben. Unsere Gesetzgebung und unsere Verwaltungs-strukturen müssen Möglichkeiten schaffen, haushaltsge-recht und bedürfnisgerecht zu fördern.Ein weiteres Problem, meine Damen und Herren,sehe ich bei der Messung unserer Ergebnisse. Die Bun-desagentur kann mir zum Beispiel nicht sagen, wie langeein Langzeitarbeitsloser insgesamt unter dem Systemdes ALG II betreut wurde.
Wenn jemand zum Beispiel sieben Wochen krank ist,fängt seine offizielle Betreuungsdauer wieder bei nullan. Das halte ich wirklich für absurd. So kann der Bun-destag, so können wir nicht effektiv sehen, wie unsereMaßnahmen wirken. Für ein klares Bild darüber, wie er-folgreich wir sind, brauchen wir bessere Erfolgskrite-rien, transparentere Daten und das gesammelte Know-how all jener, die sich mit Arbeitslosen beschäftigen.Nachdem wir angefangen haben, unsere Arbeitslosenin den Agenturen und Jobcentern „Kunden“ zu nennen,sollten wir sie nun auch so behandeln und sie in den Mit-telpunkt unserer Bemühungen stellen. So könnten wir,wenn wir uns denn dafür entscheiden, Politik zur Dienst-leistung für den Bürger machen – eine Sichtweise, dieder britischen Verwaltungsstruktur übrigens Millioneneinspart. Denn wenn ich den Kunden im Blick habe,schaffe ich ein Produkt, das jeder versteht, das einfachwirkt und die versprochene Leistung bringt.Aber konkret noch einmal zu Ihrem Antrag, liebeLinke. Sie haben vielleicht gemerkt: Den innersten KernIhres Antrags zu den Sanktionen habe ich gehört. Ableh-nen muss ich Ihren Antrag trotzdem. Lassen Sie mich imGeiste der Großen Koalition hier einen SPD-Politiker,Kurt Schumacher, zitieren:
Das Wesen der Opposition ist der permanente Ver-such, an konkreten Tatbeständen mit konkretenVorschlägen der Regierung und ihren Parteien denpositiven Gestaltungswillen der Opposition aufzu-zwingen.Sie haben zwar einen Teil des Problems im Ansatzrichtig benannt, aber den positiven Gestaltungswillenkonnte ich nicht finden.
Die notwendige Einordnung in den Kontext und einenechten Lösungsvorschlag bleiben Sie uns schuldig. Da-mit bewegen Sie sich weit unter Ihren Möglichkeiten alsOpposition. Nehmen Sie mir das nicht krumm; das istkonstruktiv gemeint.
Ich sage Ihnen auch ganz eindeutig: Ich lasse michnicht in die Ecke drängen, dieses Parlament in die Gutenund die Bösen aufzuteilen. Wir machen hier Bundespoli-tik und müssen die Verantwortung für die viertstärksteWirtschaftsnation der Welt sowie für 80 Millionen Men-schen übernehmen. Sowohl unsere Anträge als auch un-ser Gebaren müssen das widerspiegeln; denn die Men-schen bezahlen uns nicht für rhetorische Schaukämpfe.
Daher biete ich Ihnen an, liebe Kollegen: Schalten Siedie automatische Wiedervorlage für „Antrag stellen:Sanktionen abschaffen“ aus,
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3528 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Kai Whittaker
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und lassen Sie uns gemeinsam ein System überarbeiten,bei dem es offensichtlich Probleme gibt und das denMenschen in unserer Republik nicht hilft! Dafür werdenwir alle gewählt. Ich denke, das ist eine angemesseneAufgabe für ein selbstbewusstes Parlament wie uns.Vielen Dank.
Damit sind alle vorgesehenen Redebeiträge zu diesem
Tagesordnungspunkt gehalten, und deshalb schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1115 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass sich
kein Widerspruch dagegen erhebt. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sta-
bilisierung des Künstlersozialabgabesatzes
Drucksache 18/1530
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin
Gabriele Lösekrug-Möller, der ich hiermit das Wort er-
teile.
G
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir wissen: Ohne die Ge-staltungskraft der Künstler und Kreativen wäre unserLand nicht so lebenswert und um einiges ärmer. Aberauch für unsere Wirtschaft ist diese Branche ein wichti-ger Impulsgeber. Immerhin 143 Milliarden Euro Umsatzmachte die Kreativwirtschaft allein im Jahr 2012 – Ten-denz steigend.Hinter diesen Zahlen stehen mehr als 1 MillionFrauen und Männer, die ihren Beruf mit ganz besonde-rem Einsatz und viel Herzblut ausüben. Viele von ihnennehmen dafür soziale Risiken auf sich: selbstständigeund abhängige Beschäftigung, die sich abwechseln oderüberschneiden, projektbezogene und unvorhersehbareArbeit und nicht zuletzt unregelmäßiges Einkommen,das oft kaum zum Leben reicht. Aufgrund all dieser Un-sicherheiten brauchen Künstler und Designer, Kreativeund Werbefachleute, Schriftsteller und Publizisten einesoziale Absicherung, auf die sie sich verlassen können.
Die Einführung der Künstlersozialkasse vor 30 Jahrenwar dafür ein Meilenstein. Heute leisten wir mit demGesetz zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesat-zes dazu einen weiteren wichtigen Beitrag. Es sind vorallem zwei Ziele, die wir mit diesem Gesetzentwurf er-reichen: erstens echte Abgabengerechtigkeit zwischenden Unternehmen und zweitens einen stabilen Abgabe-satz. In den letzten beiden Jahren musste der Künstlerso-zialabgabesatz deutlich angehoben werden: von 3,9 auf5,2 Prozent. Einen weiteren Anstieg werden wir mit die-sem Gesetzentwurf durch einen effektiven Prüfmecha-nismus verhindern, und zwar ohne dass unnötiger büro-kratischer Aufwand entsteht.Die Rentenversicherung wird die Künstlersozialab-gabe bei den alle vier Jahre stattfindenden Sozialversi-cherungsprüfungen mitprüfen. Das ist effizient, weilkeine zusätzlichen Kontrolltermine notwendig sind. Zu-gleich wird die Rentenversicherung die Arbeitgeber um-fassend informieren und beraten. Von den Unternehmen,die weniger als 20 Beschäftigte haben, werden nur die-jenigen geprüft, bei denen das Bestehen einer Abgabe-pflicht am wahrscheinlichsten ist. Arbeitgeber, die nichtgeprüft werden, müssen bestätigen, abgabepflichtigeSachverhalte von sich aus zu melden. Genau damit wirdder Verwaltungsaufwand für kleinere Betriebe gegen-über flächendeckenden Prüfungen deutlich reduziert.Gleichzeitig aber stellen wir sicher, dass alle abgabe-pflichtigen Arbeitgeber erfasst werden.Darüber hinaus führen wir eine Bagatellgrenze ein.Wer zum Beispiel zu Werbezwecken kleinere Aufträgean einen selbstständigen Designer erteilt, die unterhalbvon 450 Euro im Jahr liegen, ist nicht abgabepflichtig.Das erleichtert die Anwendung des Künstlersozialversi-cherungsgesetzes. Es schafft auch mehr Rechtssicherheitfür Unternehmen ohne nennenswerte Einnahmeausfälle.Wir stellen also sicher, dass es gerecht zugeht. Aber wirverlieren auch nicht die Lebenswirklichkeit in den Un-ternehmen aus den Augen. So haben wir es im Koali-tionsvertrag vereinbart, und so setzen wir es um.
Die Künstlersozialkasse und die Rentenversicherungwerden bei der Arbeitgeberprüfung eng zusammenarbei-ten. Die Künstlersozialkasse erhält zudem ein eigenesPrüfrecht, um branchenspezifische Schwerpunktkontrol-len und anlassbezogene Prüfungen selbst durchzuführen.Gleichzeitig wird sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter der Rentenversicherung mit ihrem Wissen über dieKultur- und Kreativwirtschaft, eine ja besondere Bran-che, unterstützen. So verbessern wir Fachkompetenz vorOrt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3529
Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine starke, innova-tive Kulturbranche braucht eine zukunftsfeste Künstler-sozialkasse. Mit diesem Gesetz sorgen wir dafür, dassKünstlerinnen, Künstler und Kreative Zeit für das haben,was sie am besten können, ohne sich ständig Sorgenüber ihre soziale Absicherung machen zu müssen; dennwir wissen: Nur wer den Kopf frei hat, kann wirklichkreativ sein. Das wollen wir erreichen.Vielen Dank.
Es steht dem Präsidenten nicht zu, die Bundesregie-
rung oder andere zu loben, aber ich muss doch feststel-
len, dass Ihre Rede bezüglich der Redezeit eine Punkt-
landung war, nämlich auf die Sekunde.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sigrid Hupach, Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Ich freue mich, dass die jetzige Koalition imGegensatz zur vorherigen endlich den so dringend not-wendigen Gesetzentwurf zur Stabilisierung des Künst-lersozialabgabesatzes vorgelegt hat.
Die Gesetzesnovelle war überfällig und ist ein ersterSchritt in die richtige Richtung. Das Gesetz stellt klar,dass geltendes Recht auch umgesetzt werden muss. Esermöglicht eine gegenüber der bisherigen Praxis deutlichausgeweitete Überprüfung von Unternehmen. Diese re-gelmäßige Überprüfung der Abgabepflicht ist unabding-bar und sollte eine Selbstverständlichkeit sein:
für die Deutsche Rentenversicherung als Überprüfendegenauso wie für die Unternehmen. Aber von dieserSelbstverständlichkeit sind wir beim Thema Künstler-sozialkasse leider noch weit entfernt.In den letzten Jahren haben sich so viele Unterneh-men ihrer Abgabepflicht entzogen, dass 2014 der Abga-besatz von 4,1 Prozent auf 5,2 Prozent hochgesetzt wer-den musste. Wir, die Linke, fordern schon lange eineflächendeckende Überprüfung der Verwerter, sprich: derUnternehmen.
Denn wir brauchen Abgabegerechtigkeit. Die gibt es nurmit einem gesetzlich festgelegten Prüfrhythmus. Es kannnicht sein, dass die Unternehmen, die ehrlich zahlen,letztendlich mit einem höheren Abgabesatz bestraft wer-den, weil andere ihre Beiträge nicht zahlen.Gut finde ich, dass Rentenversicherung und Künstler-sozialkasse zukünftig enger zusammenarbeiten sollen.Effektivere Abläufe helfen sicherlich, auf Unterneh-mensseite das Verständnis für die Abgabe zu verbessern.Akzeptanz ist wichtig; denn fatalerweise steigt oder fälltdie Akzeptanz der Künstlersozialkasse mit der Höhe desjeweiligen Abgabesatzes. Es darf aber nicht sein, dassbei jeder neuen Festlegung des Beitragssatzes über dieZukunft der Künstlersozialkasse neu diskutiert wird.Leicht hatte es die Kasse nie. Immer war sie massivenAngriffen von Arbeitgeberseite ausgesetzt. Für eine der-artig großartige sozialpolitische Errungenschaft wie dieKünstlersozialkasse ist es aber verheerend, wenn dieDebatte um eine potenzielle Erhöhung des Abgabesatzesjedes Jahr neu zur Existenzfrage wird.
Hier brauchen wir endlich Stabilität, nicht zuletzt für un-sere Künstlerinnen und Künstler.
Warum, zeigt ein Beispiel, das der Deutschlandfunkvor einiger Zeit sendete: Sonntagnachmittag in einemKindertheater in Köln. Auf der Bühne: Hänsel und Gre-tel. Gretel heißt eigentlich Sophie. Die 28-Jährige spieltdiese Rolle mehrmals im Monat, allerdings ohne festesBühnenengagement. Gerade einmal 50 Euro brutto ver-dient sie pro Auftritt. Der Weg in die Selbstständigkeitwar für sie nur machbar, weil sie sich günstig sozial absi-chern kann, wie eine Angestellte. Möglich ist das nur mitder Künstlersozialversicherung. So wie Sophie sind inDeutschland fast 180 000 Kreative sowie Publizistinnenund Publizisten versichert. Laut Künstlersozialkasse ha-ben sie ein durchschnittliches Einkommen von circa14 500 Euro im Jahr. Das ist nicht gerade üppig. Deswe-gen gibt es diese Kasse.Ich verstehe nicht, dass die Wirtschaft schon wiedersagt, dass das neue Abgabeverfahren zu kompliziert und/oder der Aufwand zu hoch sei. Die Abgabepflicht derUnternehmen wird schließlich nicht durch eine neue Ge-setzeslage begründet, sondern besteht seit Jahren. Ichplädiere zudem dafür, dass in einer neuen gesetzlichenRegelung auch die Grundlagen für ein elektronischesMeldeverfahren geschaffen werden. Dies könnte demArgument des potenziell zu hohen bürokratischen Auf-wands den Wind aus den Segeln nehmen.Der heute debattierte Gesetzentwurf ist ein Kompro-miss, ein Kompromiss vor allem mit der deutschen Ren-tenversicherung, deren völlig überzogene Zahlen maß-geblich für das Scheitern einer Überprüfungsregelung imletzten Sommer mit verantwortlich waren.Die grundsätzlichen finanziellen Probleme der Künst-lersozialkasse kann dieses Gesetz allein aber nicht lösen,und ob es sich bewährt, wird die für das Jahr 2019 ge-plante Evaluation zeigen.Will man die Künstlersozialkasse dauerhaft erhalten,müssen wir weitergehen, als es dieses Gesetz heute tut.Da wäre einerseits über den Bundeszuschuss zu reden,andererseits über die Weiterentwicklung und den Zu-gang zur Künstlersozialkasse. Denn in ihr spiegelt sich
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3530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Sigrid Hupach
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ein gesamtgesellschaftliches Problem wider: Viele Men-schen sind heute kurzfristig beschäftigt oder in wech-selnden Erwerbsformen tätig. Vor allem betrifft diesFreiberufler und Selbstständige, vorwiegend im künstle-rischen Bereich. Für die soziale Absicherung und Alters-vorsorge dieser Menschen brauchen wir dringend Lö-sungen.Danke.
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin
Jana Schimke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Die Künstlersozialversicherung hat eine Sonderstel-lung in der deutschen Sozialversicherung, und das ausgutem Grund; denn den Raum für das Andersdenken zugarantieren und Freiheit von Kunst und Kultur zu för-dern, ist das Prinzip der Bundesregierung. Es ist Arbeits-auftrag und Verpflichtung zugleich.Künstlerinnen und Künstler in Deutschland – das sindzahllose Schriftsteller, Musiker, Grafiker, Fotografen,Tänzer oder auch Schauspieler. Sie leben von ihren krea-tiven Leistungen, und die Gesellschaft lebt von und mitihnen. Kunst und Kultur sind mehr als eine Bereicherungfür unsere Gesellschaft, sie haben identitätsstiftendeKraft. So sorgen der föderale Aufbau Deutschlands unddie Kulturhoheit der Länder für eine Vielzahl kulturellerEinrichtungen und eine reiche Kulturszene in Deutsch-land. Mehr als 100 Opernspielstätten gibt es bundesweit,so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Ebensogehört unser Land mit über 94 000 neuen und neu aufge-legten Büchern pro Jahr zu den großen Buchnationen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe davon aus,dass alle hier Anwesenden mindestens eine Tageszeitungam Tag lesen. Die insgesamt etwa 350 Tageszeitungenund die enorme Zeitschriftenvielfalt in Deutschland sindnicht nur der Beleg für eine lebendige Medienlandschaft.Sie sind der Beleg für Meinungsfreiheit und für Vielfalt,die sich täglich in der Arbeit unserer Journalistinnen undJournalisten ausdrückt. Kunst und Kultur existierennicht einfach so, sondern sie entstehen überhaupt erstdurch die Arbeit der Künstler. Wir brauchen unsereselbstständigen Künstlerinnen und Künstler in Deutsch-land. Sie sind Voraussetzung für diese lebendige Kultur-landschaft.Das alles geht nicht ohne einen Schutz in der Sozial-versicherung. Die Künstlersozialversicherung bietet die-sen Schutz in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- undinsbesondere Rentenversicherung. Sie ist eine bedeu-tende Einrichtung für die soziale Absicherung undAltersvorsorge der deutschen Künstler. Der heute disku-tierte Gesetzentwurf zur Stabilisierung des Künstlerso-zialabgabesatzes ist eine Antwort auf die Entwicklungder letzten Jahre.Zum 1. Januar stieg der Beitragssatz über 1 Prozent-punkt von 4,1 Prozent auf 5,2 Prozent. Jetzt schaffen wirAbgabengerechtigkeit und Beitragssatzstabilität und set-zen damit die Vereinbarungen des Koalitionsvertragesum. Dazu werden wir auch die Prüfungen durch dieTräger der Rentenversicherung erheblich ausweiten.Denn unser Ziel ist es, einen weiteren Anstieg derKünstlersozialabgabe zu vermeiden und die Künstler-sozialkasse zu stabilisieren.Das Ziel der Stabilisierung des Abgabesatzes istwichtig und richtig. Wir wissen alle, dass die Höhe vonAbgaben und das Ausmaß von Bürokratie Arbeit inDeutschland verteuern können. Deshalb ist es wichtig,an die Unternehmen und insbesondere an unsere kleinenUnternehmen zu denken. Sie erteilen oft Aufträge nurzum Zweck der Eigenwerbung und werden jetzt über dieEinführung der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euroentlastet. Auch die Begrenzung auf stichprobenartigePrüfungen bei kleinen Betrieben ist positiv und zeigt,dass wir bei den Anforderungen kleine Betriebe berück-sichtigt haben.Natürlich kann man immer darüber nachdenken, woweitere Entlastungen geschaffen und Vereinfachungenerzielt werden müssen. Ich halte deshalb auch die Anre-gungen der Wirtschaft für wichtig, künftig unter ande-rem über die Höhe der Geringfügigkeitsgrenze oder auchüber die Anzahl der Aufträge, an die diese Grenze ge-koppelt ist, zu sprechen. Deshalb ist es sinnvoll, dass wirdiese neuen Regelungen im Jahr 2019 einer Prüfung un-terziehen werden. Sie wissen, wir reden gerade auch imRahmen der Mindestlohndebatte darüber, wie und wannwir evaluieren. Ich glaube, das ist etwas, was alle Ge-setzgebungsverfahren kennzeichnen sollte.Eine Evaluation ist auch deshalb geboten, da der Auf-wand und die zusätzlichen Einnahmen durch die ver-stärkte Prüftätigkeit sehr unterschiedlich eingeschätztwurden. Ich denke, wir sind mit der jetzigen Reform aufdem richtigen Weg. Dennoch sollten wir auch für wei-tere Diskussionen und alternative Regelungen offenblei-ben.Nicht von der Hand zu weisen ist die Kritik, dass Un-ternehmen die Künstlersozialabgabe auch zahlen müs-sen, wenn Künstler nicht in der Künstlersozialversiche-rung versichert sind. Diese Regelung ist kritikanfällig,da weder der Auftraggeber noch der Künstler oder dieKünstlerin selbst von diesem Beitrag profitieren. Sie er-innern sich vielleicht an die Diskussion um das Renten-paket und die Einführung der Flexirente. Auch da habenwir diese Frage im Zusammenhang mit der Beschäfti-gung älterer Arbeitnehmer und der Beschäftigung vonRentnern diskutiert. Sie tritt hier erneut auf. Ich denke,die Debatte sollte deswegen auch in Zukunft aufgegrif-fen, geführt und bewertet werden.Auch die Ausweitung des Künstlerbegriffs und dieFrage „Was ist Kunst?“ sind letztendlich gerechtfertigt.Ebenso müssen wir abwarten, wie sich die Schaffung ei-nes eigenen Prüfrechts auf die Künstlersozialkasse aus-wirken wird. Mit der Reform im Jahr 2007 wurde dieflächendeckende Prüfung der Abgabepflicht explizit aufdie Deutsche Rentenversicherung übertragen, um Abga-
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Jana Schimke
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begerechtigkeit herzustellen. Unser zukünftiger Auftragwird deshalb sein, zu beobachten, wie dieser Prüfauftragwirkt.Auch sollten wir über grundlegende Fragen wie zumBeispiel über die des Verwerters im Gespräch bleiben.Verlage, Theater oder auch Musikproduzenten könnenals Verwerter angesehen werden. Trifft dies aber auchauf das kleine Unternehmen zu, das sich die Homepagevon einem Webdesigner gestalten lässt, der nicht in derKünstlersozialversicherung versichert ist?Die Künstlersozialversicherung ist ein kompliziertesKonstrukt für eine spezifische Gruppe der Selbstständi-gen. Unser Ziel und Auftrag für die Zukunft sollte dahersein, weiterhin über die grundsätzlichen und sozialpoliti-schen Fragen der Künstlersozialversicherung im Ge-spräch zu bleiben.Heute aber leisten wir einen wichtigen Beitrag für dieRechtssicherheit in der Künstlersozialversicherung undfür den Fortbestand der Kunst und Kultur in Deutsch-land.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieKünstlersozialversicherung ist ein typisches Beispiel da-für, wie soziale Sicherung eine Grundlage für selbstbe-stimmte Tätigkeit, für Freiheit, für Kreativität und fürdie Förderung von Innovationen sein kann. Ich glaube,dass man das nicht stark genug betonen kann, weil oftFreiheit, Kreativität, Selbstbestimmung und soziale Si-cherung als Widerspruch gesehen werden. Sie ist abergeradezu die Voraussetzung für tatsächliche Freiheit undSelbstbestimmung.
Man sollte auch über eine Sozialversicherung nichtnur für diese Gruppe der Selbstständigen, sondern viel-leicht für alle Selbstständigen nachdenken im Sinne ei-ner Bürgerversicherung für alle Selbstständigen. Aberdas ist ein anderes Thema, das wir an anderer Stelle si-cher noch einmal diskutieren müssen.Wichtig ist, dass eine Einrichtung wie die Künstler-sozialversicherung auch gesellschaftliche Akzeptanz fin-det. Dazu ist es wichtig, dass die Abgabensätze nicht insUferlose steigen. Es ist wichtig, dass die finanzielle Sta-bilität gewährleistet ist, dass die Mittel vernünftig flie-ßen. Zu diesem Zweck leistet dieser Gesetzentwurf tat-sächlich einen wichtigen Beitrag.
Man darf das aber auch nicht überschätzen. Es ist einwichtiger Beitrag, aber nicht der Einzige. Ich möchte andieser Stelle übrigens nicht nur der Bundesregierungdanken, der es – im Gegensatz zur letzten Bundesregie-rung – gelungen ist, jetzt einen Gesetzentwurf vorzule-gen, sondern auch den über 70 000 Menschen, die einePetition an den Deutschen Bundestag gerichtet haben, inder das, was jetzt umgesetzt worden ist, gefordert wurde.Das ist ein Zeichen lebendiger Demokratie und zeigtnoch einmal, wie wichtig der Petitionsausschuss für un-sere Demokratie ist.
Wie gesagt: Manches, was im letzten Jahr in der Dis-kussion gesagt worden ist – es hieß, durch das fehlendeGesetz würde die Existenz der Künstlersozialversiche-rung gefährdet oder sie quasi abgeschafft –, halte ich fürübertrieben. Andererseits ist es aber auch übertrieben, zubehaupten, dass mit dem Gesetz, das wir hoffentlich baldverabschieden können, alle Probleme gelöst sind. Viel-mehr gibt es weitere strukturelle Probleme bei derKünstlersozialversicherung. Man muss schauen, wiesich der Beitragssatz weiterentwickelt und wovon sonstdie Abgabenentwicklung abhängt. Ich glaube, wir soll-ten hier ohne Tabus herangehen. Es gibt da wichtigestrukturelle Fragen, die wir tatsächlich angehen müssen.Auch so etwas wie der Bundeszuschuss darf meines Er-achtens kein Tabu sein; möglicherweise muss man auchan der Stelle nachjustieren.
Die Einnahmeseite ist nicht das einzige Problem imHinblick auf die Akzeptanz einer Sozialversicherung;auch die Ausgabenseite, die Leistungsseite, ist wichtig.Es ist schon angesprochen worden: Die Einkommenssi-tuation von Künstlerinnen und Künstlern ist in vielenFällen mehr als prekär. Das Durchschnittseinkommender in der Künstlersozialversicherung Versicherten liegtbei ungefähr 16 000 Euro, in manchen Berufsgruppen– Musiker, bildende Künstler – deutlich darunter.
Das heißt, die Armutsbedrohung ist bei Künstlerinnenund Künstlern sehr groß. Viele von ihnen haben Angstvor Altersarmut. Wir haben mit der Garantierente einKonzept vorgelegt, das auch für diese Gruppe eine guteAbsicherung bedeuten würde, weil 30 Versicherungs-jahre reichen würden, um das Minimum der Garantie-rente zu erhalten. Die Künstlersozialversicherung gibt esjetzt seit über 30 Jahren. Wer dauerhaft in der Künstler-sozialversicherung war, hätte also nach unserem ModellAnspruch auf ein Minimum in der gesetzlichen Renten-versicherung. Auch bei der solidarischen Lebensleis-tungsrente – wenn sie denn überhaupt mal kommensollte – müsste dieser Aspekt berücksichtigt werden, da-mit sie für Künstlerinnen und Künstler überhaupt er-reichbar ist; ich habe da meine Zweifel.Ich will die letzte halbe Minute meiner Redezeit nut-zen, um auf ein weiteres Problem aufmerksam zu ma-
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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chen. Nicht nur Altersarmut ist für Künstlerinnen undKünstler ein Problem, sondern auch Armut im aktuellenLeben, während sie erwerbstätig sind und Kunst schaf-fen. Auch da müssen wir über Lösungen nachdenken,wie vielleicht innerhalb der Künstlersozialversicherung,aber vielleicht auch mit anderen Maßnahmen dafür ge-sorgt werden kann, dass das Existenzminimum vonKünstlerinnen und Künstlern gewährleistet wird. DennHartz IV ist für Künstlerinnen und Künstler sicherlichnicht die perfekte Existenzsicherung. Wir brauchen daandere Maßnahmen, um die Existenz zu sichern und da-mit tatsächlich Freiheit und Kreativität in dieser Gesell-schaft zu fördern; davon brauchen wir noch mehr.Vielen Dank.
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Ralf Kapschack.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! EinGruß an die Zuschauer auf der Besuchertribüne! „Kunstist schön, macht aber viel Arbeit“ – diese Erkenntnisstammt von Karl Valentin, dem genialen bayerischenKünstler, der am Mittwoch 132 Jahre alt geworden wäre.Ja, Kunst und Kultur machen Arbeit, aber sind auch Ar-beit; sie sind für viele Künstlerinnen, Künstler und freieAutoren – auch um sie geht es heute – Quelle des Le-bensunterhalts. Sie leben häufig in prekären Verhältnis-sen. Deshalb ist es notwendig, ihnen einen sicheren Zu-gang zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung zugewährleisten;
das war die Idee, als die Künstlersozialversicherung1981 ins Leben gerufen wurde.Der SPD-Abgeordnete Egon Lutz hat den Gesetzent-wurf damals so begründet – mit Genehmigung des Präsi-denten zitiere ich aus dem Protokoll –:Nichts zu tun und die Künstler und Publizisten wei-terhin ohne jeden sozialen Schutz zu belassen, wieer für die weit überwiegende Mehrheit der Bevölke-rung längst schon eine Selbstverständlichkeit ist,das ist in einem gewissen Umfang … schändlich.Aus heutiger Sicht wäre es also schändlich, durchNichtstun die Künstlersozialversicherung vor die Wandfahren zu lassen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Künstlersozial-versicherung ist einzigartig in Europa, und sie ist Aus-druck der Wertschätzung für die vielen Kulturschaffen-den, die mit ihrer Arbeit diese Gesellschaft bereichernund etwas lebenswerter machen.
Zurzeit sind 180 000 von ihnen über diesen Weg abgesi-chert.Die Finanzierung der Künstlersozialversicherung isteine solidarische: über die Beiträge der Versicherten,über den Bundeszuschuss und über die Beiträge der Un-ternehmen und Einrichtungen, die Aufträge an freischaf-fende Künstler und Publizisten vergeben, die sogenann-ten Verwerter. Genau da liegt der Hase im Pfeffer: Es istoffensichtlich, dass einige Unternehmen ihrer Zahlungs-pflicht nicht nachkommen. Die schwarz-gelbe Bundes-regierung hat es noch abgelehnt – das ist schon erwähntworden –, eine gesetzliche Überprüfung durch die Deut-sche Rentenversicherung auf den Weg zu bringen. DieGroße Koalition dagegen hat vereinbart, die Künstler-sozialkasse zu erhalten und zu stabilisieren.
Deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf konse-quent. Er ist ein konkreter, dringend notwendiger Schritthin zu mehr Abgabengerechtigkeit und damit zur Bei-tragssatzstabilität; denn durch die verstärkten Prüfungenwerden auch die Verwerter herangezogen, die sich bisherihrer Zahlungspflicht entzogen haben. Davon profitierenalle – wir haben es schon gehört –, weil die Chance, denBeitragssatz stabil zu halten, mit höheren Einnahmengrößer wird.In der Diskussion ist mir in der Tat das Argument be-gegnet, durch die Ausweitung der Prüfungen würdenUnternehmen unter Generalverdacht gestellt. Das ist na-türlich völliger Unsinn.
Dass der Staat kontrolliert, dass geltendes Recht durch-gesetzt wird, ist für mich nicht besonders bemerkens-wert, sondern eigentlich selbstverständlich.
Mangelnde Kontrolle hat dazu geführt, dass längstnicht alle Unternehmen, die dazu verpflichtet wären, dieAbgabe zahlen. Das kann aus Unkenntnis, aber auch ausanderen Gründen so sein. Beim Deutschen Kulturrat istuns erzählt worden, dass Steuerberater ihre Unterneh-men animiert haben, sich der Zahlungspflicht zu entzie-hen, weil ja gar nicht geprüft würde. An diesem Beispielkann man sehen, dass da einiges im Argen liegt. Durchdie regelmäßige Prüfung, alle vier Jahre, wird der Druckerhöht, der Zahlungspflicht nachzukommen. Wir findendas gut so.
Gleichzeitig gibt es eine Bagatellgrenze, um den bü-rokratischen Aufwand für die Verwerter in einem ver-tretbaren Rahmen zu halten. Das ist für eine ganze Reihevon ihnen eine deutliche Entlastung. Aus unserer Sicht
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Ralf Kapschack
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gibt es auch einen ausreichenden Schutz der ehrenamt-lich Tätigen, zum Beispiel der Musikvereine. Wir sehenhier keine unzumutbare Belastung und auch keine Not-wendigkeit für Sonderregelungen. Wir werden gleichmöglicherweise noch etwas dazu hören.Es taucht immer wieder die Frage auf: Brauchen wirdie Künstlersozialkasse eigentlich als eigene Einrich-tung? Unsere Antwort ist: Ja. Als Ziel haben wir Sozial-demokraten allerdings nach wie vor die Ausweitung derRentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversiche-rung, in der dann auch alle Selbstständigen pflichtversi-chert wären.
Bis dahin steht die SPD zur Künstlersozialversiche-rung. Aber wir wissen natürlich – das ist vom KollegenStrengmann-Kuhn vorhin schon angesprochen worden –,dass das nicht reicht, um die soziale Lage der Künstlerund freischaffenden Publizisten grundlegend zu verbes-sern. Wir sind uns dessen durchaus bewusst. Zu einerVerbesserung gehört zum Beispiel ein leichterer Zugangzum Arbeitslosengeld I. Darüber werden wir in nächsterZeit sprechen. Mit großem Interesse wird im Kulturbe-reich auch unser Plan zur solidarischen Lebensleistungs-rente verfolgt.Kultur fällt uns nicht wie eine reife Frucht in denSchoß. Der Baum muß gewissenhaft gepflegt wer-den, wenn er Früchte tragen soll.Das hat Albert Schweitzer gesagt. Es gibt noch einigeszu tun. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das in die-sem Haus mit einer großen Mehrheit hinbekommen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren auf der Tri-büne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Was macht dieKunst?“, fragt der Prinz in Lessings Emilia Galotti denHofmaler Conti. Dieser antwortet: „Prinz, die Kunst gehtnach Brot“, was so viel heißt, wie: Erst einmal muss mansatt werden, bevor an die Kunst zu denken ist. Lessingwar nicht der einzige Schriftsteller, der das Einkommenund die soziale Lage von Künstlern und Publizisten the-matisiert hat. Johann Wolfgang von Goethe hat demThema bekanntlich mit seinem Torquato Tasso gleich einganzes Stück gewidmet. Im Vordergrund dieser Werkestehen die Abhängigkeiten der Künstler und Dichter vonMäzenen und Monarchen. Ohne die war Künstlerlebendamals nicht denkbar. Nun gibt es heute keine Prinzen,Fürsten und Könige, keine Friedrichs und Ludwigsmehr, welche die Kunst und deren Erschaffer nach eige-nem Gusto aus der Staatsschatulle fördern könnten. Dasist ja im Prinzip auch ganz gut so. Doch umso mehr Ver-antwortung für die Entwicklung von Kunst und Kulturliegt nun beim Demos, beim Volk, also bei uns.Nun ist die Bundesrepublik Deutschland ja bekannt-lich nicht nur ein Sozial- und Rechtsstaat, sondern auchein Kulturstaat, worauf wir immer wieder gern und zuRecht verweisen. Wir haben deshalb eine ganz beson-dere Verantwortung. Das bedeutet ausdrücklich nicht,dass wir alle Künstler alimentieren müssten. Eine Ali-mentierung kann nicht Aufgabe eines freiheitlichen Kul-turstaates sein. Sie würde neue Abhängigkeiten schaffen,die wir nicht wollen. Was wir aber tun können, ist, denBoden zu schaffen, den Kultur braucht, um gedeihen zukönnen.Das Kunstwerk, zum Beispiel einen Roman oder einGedicht, das der Künstler oder Publizist schafft, verste-hen wir oft als öffentliches Gut. Die soziale Absicherungdes Künstlers ist aber Privatsache. An genau diesemPunkt greift die Künstlersozialversicherung. Seiner Auf-gabe kann der Künstler oder Publizist nämlich nur ge-recht werden, wenn auch seiner sozialen Situation Rech-nung getragen wird. Diese unterscheidet sich zum Teilganz erheblich von der anderer Berufsgruppen. DieErwerbsbiografien von selbstständigen Künstlern undPublizisten sind risikoreich. Das zeigen auch die Werde-gänge berühmter Künstler und Dichter, die eben oft auchbrotlose Künstler waren und sind. Die Einkommensver-hältnisse unterliegen überdurchschnittlichen Schwan-kungen – und das oft auf niedrigem Niveau. Die Gründehierfür sind vielschichtig, zum Beispiel die Abhängig-keit vom Publikumsgeschmack oder von geistigen Mo-deströmungen, die wirtschaftliche Situation des öffentli-chen Kulturbetriebes und die Fördermöglichkeiten vonBund, Ländern und Kommunen, Stiftungen und Banken.Umso wichtiger war die Einführung der Künstlerso-zialversicherung vor gut 30 Jahren. Mit ihr wurde es denfreischaffenden Künstlern und Publizisten de facto erstermöglicht, die größten Lebensrisiken abzusichern. Siebekamen Zugang zur Kranken-, Renten- und Pflegever-sicherung zu Konditionen, die sie sich leisten konnten.Damals betrat Deutschland Neuland. Bis heute ist dieKünstlersozialversicherung ein weltweit einmaligesKonstrukt, aber eben auch eine herausragende sozial-politische Institution in der deutschen Kulturlandschaft,um die wir im Übrigen von vielen Ländern beneidet wer-den.
Genauso einmalig wie die Versicherung selbst ist dieFinanzierung. Die Hälfte der Kosten tragen die versi-cherten Kulturschaffenden selbst, 20 Prozent trägt derBund, und 30 Prozent übernehmen die Verwerter, alsodie Unternehmen, welche die künstlerische Leistung inAuftrag geben.So weit, so gut. Aber es gibt ein Problem, sonst wärenwir heute nicht hier. Der Abgabesatz für diese abgabe-pflichtigen Verwerter steigt gerade rasant an, allein in-nerhalb der vergangenen beiden Jahre von 3,9 auf
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Dr. Astrid Freudenstein
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5,2 Prozent. Das liegt zum einen an der stark steigendenMitgliederzahl der Künstlersozialversicherung, zum an-deren an der ausbaufähigen Zahlungsmoral einiger Un-ternehmen bei der Künstlersozialabgabe, was oft daranliegt, dass die Unternehmen noch nicht einmal wissen,dass sie abgabepflichtig sind. Ein steigender Abgabesatzgefällt jedoch niemandem und gefährdet die Stabilitätder Versicherung als Ganzes.Genau hier setzt der vorliegende Gesetzentwurf an,den wir von der Union ausdrücklich begrüßen. Im Kerndes Entwurfs wird festgelegt, dass ab 2015 ein strenge-res Prüfverfahren eingeführt wird, das die Finanzierungauf solide Beine stellt und für Abgabegerechtigkeitsorgt. Mehr Unternehmen werden regelmäßiger auf ihreAbgabepflicht hin geprüft. Denn wir bleiben dabei: Wervon der Arbeit freischaffender Künstler profitiert, musssich auch an deren sozialer Sicherung beteiligen.
Entscheidend war für uns dabei von Anfang an dieArt und Weise der Prüfungen. Wir wollen ein Prüfver-fahren, dass effektiv und effizient ist. Das ist, meine ich,mit dem Vorschlag, der jetzt auf dem Tisch liegt, gut ge-lungen. Im Rahmen der alle vier Jahre stattfindenden Ar-beitgeberprüfungen werden alle bei der Künstlersozial-kasse erfassten Unternehmer und alle Arbeitgeber mitmindestens 20 Beschäftigten auch auf die Künstlerso-zialabgabe hin geprüft. So wird sichergestellt, dass Un-ternehmen ihre Abgabepflicht aufgrund fehlender Prü-fungen nicht vernachlässigen.Von den kleineren Arbeitgebern mit bis zu 19 Be-schäftigten werden im Kalenderjahr mindestens 40 Pro-zent geprüft. Jene Arbeitgeber, die nicht Teil des Prüf-kontingents sind, werden von den Prüfern der DeutschenRentenversicherung beraten und bestätigen schriftlich,dass sie abgaberelevante Sachverhalte melden werden.So erreichen wir – das war uns wichtig –, dass klei-nere mittelständische Unternehmen im Schnitt nur allezehn Jahre geprüft werden. Das bedeutet weniger Auf-wand für diese und hält die allgemeinen Bürokratiekos-ten im Rahmen.Trotzdem: Die Rentenversicherung benötigt und be-kommt dafür zusätzliches Personal. Die Mehrkostenwerden jetzt auf 12,3 Millionen Euro geschätzt. Demstehen erwartete Mehreinnahmen in Höhe von 32 Mil-lionen Euro gegenüber. Aufwand und Ertrag stehen alsoin einem akzeptablen Verhältnis zueinander.Das alles sind Schätzungen, daher können wir nichtgenau sagen, wie sich die neuen Regelungen letztlichtatsächlich in der Praxis auswirken werden. Deshalb istes gut und richtig, dass wir nach einem vierjährigenPrüfturnus eine Evaluation vorsehen. Denn erst dannsind klare Aussagen über das Kosten-Nutzen-Verhältnismöglich.Ein weiterer wichtiger Punkt im Gesetzentwurf ist dieEinführung einer Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro.Wer innerhalb eines Jahres Aufträge erteilt, die insge-samt diese Summe nicht überschreiten, wird von der Ab-gabe befreit. Mit dieser Bagatellgrenze schaffen wirRechtssicherheit; denn in diesem Punkt war das Gesetzbisher missverständlich.Nebenbei hat diese 450-Euro-Grenze auch den Effekt,dass insbesondere kleine Unternehmen – etwa Hand-werksbetriebe –, die nur in geringem Umfang Aufträgean Künstler erteilen, entlastet werden.Der Gesetzentwurf berücksichtigt damit die Aspekteder Abgabegerechtigkeit, der Effektivität und der Effi-zienz. Er beinhaltet die richtigen Instrumente, um dieKünstlersozialversicherung kurz- und mittelfristig zustabilisieren. Die regelmäßige Überprüfung, die nunfestgeschrieben wird, ist notwendig, um das System indieser Weise in Deutschland zu erhalten.Wir müssen aber auch überlegen, wie wir die Künst-lersozialversicherung langfristig stabilisieren können.Dabei darf eine kritische Überprüfung der Kriterien fürdie Aufnahme in diese Versicherung kein Tabu sein.
Auch die Abgrenzung zwischen ehrenamtlicher undkünstlerischer Arbeit, wie wir sie uns im Koalitionsver-trag vorgenommen haben, steht noch auf der Agenda.Das Ehrenamt, das die kulturelle Vielfalt in unseremLand wahrt, darf nicht über Gebühr belastet werden.Doch nun wollen wir mit dem Gesetz zur Stabilisie-rung des Künstlersozialabgabesatzes einen ersten undsehr, sehr wichtigen Schritt tun. Künstler und Publizistenwären in früheren Jahren vermutlich heilfroh gewesen,wenn sie eine Künstlersozialversicherung gehabt hätten.Man stelle sich einmal vor, wie viele Werke der Weltlite-ratur hätte Friedrich Schiller wohl noch schreiben kön-nen, hätte er eine ordentliche Krankenversicherung ge-habt.
Während einer seiner etlichen Erkrankungen soll erseine Nachwelt aufgefordert haben: Sorgt für eure Ge-sundheit, ohne diese kann man nicht gut sein.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/1530 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der Multidimensio-nalen Integrierten Stabilisierungsmission derVereinten Nationen in Mali aufGrundlage der Resolution 2100 des Si-cherheitsrates der Vereinten Nationen vom25. April 2013Drucksache 18/1416
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-mentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe.D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bundesregierung ersucht heute um Ihre Zustimmungzur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Sta-bilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali,MINUSMA. Die Entwicklung der Sicherheitslage imNorden Malis ist beunruhigend und zeigt, dass eine Sta-bilisierung des Landes weiter notwendig ist. Bedauerli-cherweise sind durch die bewaffneten Auseinanderset-zungen immer wieder Opfer zu beklagen, die durcheinen durch alle Seiten getragenen Vermittlungs- undVersöhnungsprozess vermieden werden könnten. Mehrdenn je sind wir deshalb gefordert, die uns zur Verfü-gung stehenden Mittel einzusetzen, um die Lage in die-sem westafrikanischen Staat zu verbessern.Mit dem vorliegenden Mandat zu MINUSMA stehenwir auch weiterhin zusammen mit unseren europäischenund internationalen Partnern zu der durch uns übernom-menen sicherheitspolitischen Verantwortung für die Re-gion. Das Ziel unseres gesamten Engagements in Malibleibt es, die malischen Streitkräfte selbst in die Lage zuversetzen, die wiedererlangte territoriale Integrität Malisaufrechtzuerhalten und nachhaltig für Stabilität zu sor-gen. Wir Deutsche engagieren uns im europäischen Ver-bund für die Menschen in Afrika, damit sie ihre Pro-bleme selbst lösen können. Das ist und bleibt der richtigeAnsatz. Ihn verfolgen wir weiter, liebe Kolleginnen undKollegen.
Wir müssen uns weiterhin bewusst sein, dass der mili-tärische Beitrag zu dieser VN-Mission nur ein Teil desmit unseren Partnern abgestimmten mehrdimensionalenAnsatzes zur Stabilisierung der Region sein kann. Insbe-sondere im Norden Malis bleibt die Lage fragil. Einezentrale Herausforderung bleibt vor diesem Hintergrunddie Stabilisierung der großen Bevölkerungszentren imNorden des Landes.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die humanitäreLage in Mali hat sich seit dem Beginn der internationa-len Bemühungen insgesamt verbessert. Ein ungehinder-ter Zugang zu allen Regionen Malis ist für die Entwick-lungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe aberweiterhin noch nicht vollständig sichergestellt. Insbeson-dere die langfristigen Aufgaben der Entwicklungszu-sammenarbeit im Norden Malis können bisher nur sehrbegrenzt umgesetzt werden. Zur Stabilisierung des Lan-des als Grundvoraussetzung zur Verbesserung der Si-cherheitslage bleibt deswegen das weitere Engagementder internationalen Gemeinschaft auch im Rahmen derVN-geführten Mission MINUSMA erforderlich.Der Einsatz im Rahmen von MINUSMA bleibt Teileines umfassenden Engagements der Bundesregierungfür Mali im Rahmen eines vernetzten Ansatzes. Damitstellen wir einen Teil der Voraussetzungen zum Einsatzvon Krisenpräventionsmitteln, von Entwicklungshilfe,dem Ausstattungshilfeprogramm der Bundesregierungund der Ausbildung von Polizei und Sicherheitskräftenim Rahmen der EU- und VN-Missionen.Die kürzlich durch die Bundesregierung verabschie-deten afrikapolitischen Leitlinien haben einen Bogen fürunser Engagement in Afrika aufgespannt, aus dem wirbei weiterer Verbesserung der Sicherheitslage noch wei-tere Instrumente im Rahmen eines regionalen Ansatzeszum Einsatz bringen können. So sollen Konfliktursachenbekämpft und die malischen Behörden und Sicherheits-kräfte in die Lage versetzt werden, Sicherheit und staat-liche Souveränität selbst aufrechtzuerhalten. Entspre-chende Beschlüsse, zum Beispiel für das Engagement imRahmen von EUTM Mali, sind auf europäischer Ebenebereits gefasst. Auch darüber hinaus wird uns ein kom-plementär und umfassend angelegter Ansatz langfristigfordern, gerade im Bereich der direkten Stabilisierungdes Landes und beim Aufbau von Sicherheitskräften alsGrundvoraussetzung eines insgesamt erfolgreichen Vor-gehens.Meine Damen und Herren, die Entsendung bewaffne-ter deutscher Streitkräfte steht unter dem Vorbehalt derkonstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages.Die Fortsetzung erfolgt auf der Grundlage der Resolu-tion 2100 des Sicherheitsrates der Vereinten Na-tionen vom 25. April letzten Jahres. Aller Voraussichtnach wird der UN-Sicherheitsrat nach Ende Juni eineVerlängerung des Mandats um ein Jahr bis zum 30. Juni2015 beschließen. Im Rahmen des deutschen Engage-ments bei MINUSMA können bis zu 150 Soldatinnenund Soldaten eingesetzt werden, solange ein Mandat desSicherheitsrates der Vereinten Nationen und die konsti-tutive Zustimmung des Deutschen Bundestages vorlie-gen, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2015.Das Mandat der Mission MINUSMA soll inhaltlichunverändert bleiben. Die deutsche Beteiligung soll imzweiten Mandatszeitraum vergleichbar zum bisherigenRahmen beibehalten werden.MINUSMA, die wesentlich von afrikanischen Trup-penstellern getragen wird, verfolgt eine umfassende Sta-bilisierung des Landes. Sie bildet den unverzichtbarenGesamtrahmen für den fokussierten Beitrag der EU zumAufbau der Streitkräfte.Das Mandat umfasst die Unterstützung bei der Wie-derherstellung der staatlichen Autorität im gesamtenLand, die Unterstützung für die Umsetzung des Fahr-plans für den Übergang, die sogenannte Roadmap, den
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Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Schutz von Zivilpersonen, die Förderung und den Schutzder Menschenrechte, die Unterstützung für humanitäreHilfe, die Unterstützung für die Erhaltung des Kultur-guts und die Unterstützung für die nationale und interna-tionale Justiz.Diese abgestimmte Aufgabenteilung mit besondererEinbeziehung regionaler Akteure, ergänzt um vielfältigeMaßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit und wei-terer nationaler und internationaler Bemühungen, illus-triert unsere Vorstellung davon, wie eine ganzheitlicheStabilisierung eines Landes mit einem Konfliktherd ge-staltet werden kann, nämlich umfassend, multidimensio-nal und auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.Seit Beginn der internationalen militärischen Missionund des darüber hinausgehenden umfassenden Engagementsder internationalen Gemeinschaft zur Unterstützung dermalischen Sicherheitskräfte bei der Wiederherstellungder staatlichen Integrität Malis und der nachhaltigen Ver-besserung der Sicherheitslage sind bereits beachtlicheFortschritte erzielt worden. Der für die Lösung des Kon-flikts entscheidende politische Prozess hat auch seit demBeginn der Mission wesentliche Fortschritte gemacht.Mali verfügt nach den weitgehend friedlich verlaufe-nen freien und demokratischen Präsidentschafts- undParlamentswahlen wieder über eine demokratisch legiti-mierte Regierung, die den Reform- und Aufbauprozessin die Hand genommen und sich den Aussöhnungspro-zess zwischen den Volksgruppen im Land als wichtigesZiel gesetzt hat. Die Gespräche dazu dauern weiter an,wobei unstrittig ist, dass man diesen Prozessen Zeit ge-ben muss.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, ich finde, es ist wichtig, dass wir uns immerwieder vor Augen führen bei all den Problemen, die es inLändern gibt, in denen wir uns entwicklungspolitischund auch militärisch engagieren, dass diese Problemenicht durch die Bundeswehr ausgelöst worden sind, son-dern dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Gegenteileinen Beitrag dazu leisten, dass diese Probleme gelöstwerden. Sie können sie nicht alleine lösen, aber sie leis-ten einen Beitrag zur Problemlösung, und sie haben dieProbleme nicht verursacht.
Weil dies so ist und weil unsere Soldatinnen und Sol-daten in Mali einen sehr wichtigen Beitrag zur Stabilisie-rung des Landes, zum Aufbau selbsttragender Streit-kräfte und für die Zukunft der Menschen in der Regionleisten, ist es gut, dass unsere Soldatinnen und Soldatendort sind. Sie sind in unserem Auftrag dort.Um die Zustimmung zur Verlängerung dieses Auftra-ges bittet Sie die Bundesregierung. Ich bitte Sie um Un-terstützung dieses Antrags.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! AlsFrankreich im Januar 2013 im Alleingang in Mali inter-venierte, haben wir das scharf kritisiert. Wir haben da-mals auch kritisiert, dass die Bundesregierung Frank-reich sofort militärische Unterstützung angeboten hat;denn damals wie heute – das ist Ihnen wahrscheinlichgenauso klar wie mir – ging es Frankreich nicht um dieMenschen in Mali. Es geht nicht um den Schutz der Zi-vilbevölkerung oder um die Menschenrechte, sondernals ehemaliger Kolonialmacht geht es Frankreich natür-lich um regionalen Einfluss und auch um den Zugriff aufdie Ressourcen in der Region.Leider hat der UNO-Sicherheitsrat vor einem Jahrbeschlossen, Frankreich mit einem Militäreinsatz– MINUSMA – zu unterstützen. Diesen wollen Sieheute verlängern, und wieder einmal sind Ihre beidenArgumente – das läuft doch gut und ist erfolgreich undaußerdem weiterhin nötig – falsch. Das wissen Sie auch.
Ein Blick in den jüngsten Mali-Bericht des UN-Gene-ralsekretärs spricht hier eigentlich Bände: Die Sicher-heitslage im Norden des Landes ist katastrophal. Die Ge-walt durch bewaffnete Gruppen hat in den letzten dreiMonaten massiv zugenommen; es gab allein 25 Raketen-angriffe, und das, obwohl mehr als 7 000 MINUSMA-Sol-daten und zusätzlich 3 000 französische Soldaten imLand sind!
In Kidal, im Nordosten des Landes, gab es am17. Mai 2014 wieder offene Kämpfe zwischen mali-schen Soldaten und der MNLA. Die MNLA, die Natio-nale Befreiungsbewegung für Azawad, ist eine überwie-gend aus Tuareg bestehende Bewegung. Sie will imNorden einen eigenen Staat errichten. Der Anlass am17. Mai 2014 war der Versuch des malischen Premiermi-nisters Moussa Mara, die Stadt Kidal zu besuchen. AmEnde gab es an die 50 tote malische Regierungssoldaten.Das Erschütternde daran ist, dass all das unter den Au-gen und sogar mit der Billigung der Franzosen stattge-funden hat.Sie wissen: Nach dem Waffenstillstand im letztenJahr hätte die MNLA schon lange Kidal verlassen unddie Waffen abgeben müssen, und die malische Regie-rung hätte Kidal übernehmen müssen. Es waren dieFranzosen, die dafür gesorgt haben, dass die MNLA dieWaffen nicht abgegeben und weiter die Kontrolle überKidal behalten hat. Der Grund dafür ist relativ simpel:Zum einen kämpfen die Franzosen gemeinsam mit derMNLA gegen die Islamisten, und zum anderen verhan-
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Jan van Aken
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deln die Franzosen gerade mit der MNLA über die Aus-beutung der Ressourcen im Norden Malis. Das ist dieWahrheit.Um das Ganze einmal auf den Punkt zu bringen – dasmuss ich mir immer wieder vor Augen halten –: Sieschicken jetzt Bundeswehrsoldaten zur Unterstützungder malischen Regierung, um gegen die MNLA zukämpfen, die wiederum von Frankreich unterstützt wird.Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein.
Es kommt noch schlimmer. Ich habe gesagt: Bei denKämpfen um Kidal sind 50 malische Regierungssoldatengetötet worden. Das sind genau die malischen Soldaten,die Sie gerade in einer anderen Mission, EUTM Mali,ausbilden. Da wird es für mich am Ende vollkommenabsurd.Ich fasse das einmal zusammen: Sie bilden malischeSoldaten für den Kampf gegen Separatisten aus, die vonFrankreich unterstützt werden. Sie unterstützen wiede-rum Frankreich im Kampf gegen die Islamisten, die wie-derum von Katar unterstützt werden, einem Land, daswiederum Sie mit Waffen beliefern. – Irgendwann fin-den Sie sich auf beiden Seiten des Konfliktes wieder. Esist doch vollkommener Irrsinn, was Sie da machen. EineFriedensmission ist das jedenfalls nicht.
Sie wissen auch: Nach einem Jahr können SieMINUSMA nicht als Erfolgsgeschichte verkaufen. DasLand ist nicht friedlicher geworden. Die Probleme sindnicht einmal im Ansatz gelöst. Das ist auch kein Wun-der: Militärisch – das haben Sie selbst gesagt, HerrBrauksiepe – lassen sich die Probleme nicht lösen, aberfür einen politischen Prozess haben Sie im letzten Jahrnullkommanichts getan.Sie reden hier immer von einem vernetzten Ansatz– das haben Sie auch eben wieder getan –, in demMINUSMA nur ein Baustein sei. Aber ich sehe nur Mili-tär. Ich sehe Bundeswehrsoldaten, die andere Soldaten indas Einsatzgebiet fliegen. Ich sehe Bundeswehrsoldaten,die französische Kampfflugzeuge auftanken. Ich seheBundeswehrsoldaten, die malische Soldaten ausbilden.Ich will einmal konkret hören: Wo sind die anderen Bau-steine? Wo sind die politischen Maßnahmen? Was habenSie getan?Es gibt in Mali ganz viele Partner für zivile Konflikt-lösungen. Hier sehe ich bei Ihnen gar nichts. Warum set-zen Sie sich zum Beispiel nicht dafür ein, dass die jetztwieder neu gebildete Wahrheits- und Versöhnungskom-mission nicht wieder so eine Farce wird wie die Vorgän-gerkommission, sondern dieses Mal funktioniert? SetzenSie sich doch einmal ganz konkret und knallhart dafürein, dass in dieser Wahrheitskommission auch die zivil-gesellschaftlichen Organisationen mitreden und auchwirklich mitbestimmen können; denn diese gibt es dort,und sie machen eine gute Arbeit.Setzten Sie sich doch endlich für ein vernünftigesProgramm zur Beseitigung der Ursache der Krise ein.Die Ursache – das wissen Sie so gut wie ich – ist dieAusgrenzung des Nordens und die Armut im NordenMalis. Auf diesem Gebiet tun Sie gar nichts.Anstatt jetzt weitere 15 Millionen Euro in einen Bun-deswehreinsatz in Mali zu versenken, sollten Sie diese15 Millionen Euro in eine zivile Konfliktbearbeitung inMali investieren. Damit könnten Sie wirklich für einefriedliche Situation vor Ort sorgen. Das aber verweigernSie.Zum Abschluss muss ich sagen: Es gäbe in Mali soviel Gutes zu tun. Aber dieser Militäreinsatz gehört ganzsicher nicht dazu. Beenden Sie die Beteiligung anMINUSMA! Vor allem: Sorgen Sie dafür, dass IhrBündnispartner Frankreich endlich mit dieser blutigenInteressenpolitik aufhört!
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen mehr exportieren sollte. Ich will noch hin-zufügen: im Moment nicht nach Frankreich und nachMali sowieso nicht.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Achim Post das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege van Aken, die Sache mit demExport von Waffen nach Frankreich überlegen wir unsnoch einmal. Wenn wir keine Waffen mehr nach Frank-reich liefern und nicht mehr mit den Franzosen zusam-menarbeiten dürfen, frage ich mich, mit wem wir alsBundesrepublik Deutschland Ihrer Ansicht nach über-haupt noch zusammenarbeiten dürfen.
Ich fange einmal ganz anders an. Was ist in der Au-ßen- und Sicherheitspolitik das wichtigste Gut oder einesder höchsten Güter? – Vertrauen und Verlässlichkeit.Das gilt gerade in dieser Debatte. Das macht gerade derAntrag der Bundesregierung deutlich; denn wir gewähr-leisten beides mit der Fortsetzung der Beteiligung be-waffneter deutscher Streitkräfte in Mali.Fast alle hier wissen: Mali galt bis 2012 als Muster-beispiel der Demokratisierung in Afrika.Ende 2012 drohte dieses Land in die Hände von radi-kalen islamistischen Gruppen und Terroristen zu fallen.Gewalt, Vertreibung, Hunger und Tod gingen mit demVormarsch dieser Rebellengruppen einher. Es ist vor al-lem Frankreich zu verdanken, dass der Vormarsch derRebellen gestoppt werden konnte.Seit Beginn des internationalen Engagements gibt esFortschritte: die weitgehende Wiederherstellung der ter-ritorialen Integrität des Staates, die Verbesserung der Si-cherheitslage und die Präsidentschafts- und Parlaments-
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Achim Post
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wahlen im Spätsommer 2013. Ich bin fest davonüberzeugt: MINUSMA und der deutsche Beitrag habenerheblich zu diesen Fortschritten beigetragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sowohl Mali als auchunsere UN-Partner verlassen sich auf unseren Beitrag.Es ist richtig: Es bleibt noch sehr viel zu tun. Die si-cherheitspolitische Lage in Mali ist fragil. Die Ziele derMission werden nur schrittweise erreicht. Der Dialog-und Versöhnungsprozess läuft unstet. Die Bemühungenum die Friedensverhandlungen wurden durch die Aus-einandersetzungen in Kidal unterbrochen. Immer nochsind Hunderttausende Menschen auf der Flucht.Warum ist die Verlängerung des Mandats notwendig?Lassen Sie mich für die SPD-Fraktion vier Kernpunktenennen.Erstens. Mali braucht Unterstützung bei der Umset-zung des Aktionsplans der Regierung, das heißt bei derSchaffung starker und glaubwürdiger Institutionen, beider Wiederherstellung der Sicherheit, bei der Umsetzungeiner aktiven Politik der nationalen Versöhnung, beimWiederaufbau des malischen Schulwesens und beimAufbau einer aufstrebenden Wirtschaft.Die malische Regierung kann all diese Herausforde-rungen noch nicht alleine bewältigen. Deshalb geht esdarum, die politischen Probleme auch politisch zu lösen.Zweitens. Mali braucht die langfristige Entwicklungs-zusammenarbeit – das hat der Herr Staatssekretär geradeausgeführt – in der Landwirtschaft, bei der Dezentrali-sierung, bei guter Regierungsführung und bei der Was-serversorgung. Deshalb ist die Erhöhung der Mittel fürdie staatliche Entwicklungszusammenarbeit auf 120 Mil-lionen Euro für 2013/2014 richtig. Ich glaube, dass es imInteresse des gesamten Hauses ist, dass Mali einSchwerpunktland der deutschen Entwicklungspolitikbleibt.
Drittens. Mali braucht eine nachhaltige sicherheits-politische Stabilisierung. Dabei leisten die genanntenMissionen der EU gute Arbeit.Viertens. Mali braucht einen Friedensprozess und ei-nen strukturierten Dialog zwischen den Konfliktpar-teien. Die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkom-mens in Kidal vor zwei Wochen ist ein erster Lichtblick.Das gilt es zu nutzen. Wir brauchen verstärkten diplo-matischen Druck auf die malische Regierung und die Or-ganisationen der Rebellen, um die zügige Implementie-rung von Friedensverhandlungen zu erreichen.Ich fasse zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen:Deshalb braucht diese Mission internationale Unterstüt-zung.
Diese Mission braucht eine umfassende politische Stra-tegie, und sie braucht einen steten und zügigen Dialogzwischen den Konfliktparteien.Deshalb unterstützt meine Fraktion den Antrag derBundesregierung und die vorgeschlagene Mandatsver-längerung. Mali hat ein Recht auf Vertrauen und Verläss-lichkeit.Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr van Aken, eigentlich habe ich mir geschworen,nicht auf Sie einzugehen. Aber ich habe gestern einenFehler gemacht: Ich habe nämlich Ihre Rede vom23. Juni 2013 gelesen. Dabei habe ich gelernt, wie SieIhre Reden zusammenstellen: Sie gehen dabei modularvor. Die Rede, die Sie damals gehalten haben, „fits forall those questions“. Das ist ganz phantastisch.
– Vom 23. Juni 2013.
– Ja, das ist ein Basismodul, das sich immer für solcheThemen eignet. Sie müssen es nur ein bisschen individu-ell anpassen.
– Ja, da sind Sie jetzt durcheinandergekommen.Mit der französischen Intervention und dem vorgese-henen Mandat sind die Gefahren in Mali bei weitemnicht gebannt. Die Lage – das wurde schon gesagt – isterschreckend. Nichtsdestotrotz können wir heute sagen,dass das Mandat seine Aufgabe in einer noch akzeptab-len Weise erfüllt.Die Alternative zu diesem Mandat und der französi-schen Intervention wäre ein radikaler islamistischerStaat gewesen, in dem die Terrorherrschaft zum domi-nierenden Regierungsprinzip geworden wäre. Es gibt garkeinen Grund zu der Annahme, dass bei einer erfolgrei-chen Einnahme Malis der Ausdehnungswille der Terro-risten gestoppt gewesen wäre. Es wäre verantwortungs-los gewesen, Burkina, Mauretanien, Niger und dieanderen angrenzenden Staaten einer schleichenden terro-ristischen Unterwanderung oder einer offenen militäri-schen Konfrontation auszusetzen.Die Beispiele Boko Haram und Lords ResistanceArmy und viele andere Terrorgruppen mit ihren War-lords zeigen doch deutlich, dass solche Terrorgruppen,so sie einmal Fuß gefasst haben, nicht mehr oder kaummehr unter Kontrolle zu bringen sind und welche Gefah-ren mit ihnen verbunden sind. Boko Haram – Sie wissen
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Uwe Kekeritz
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es – hat in den letzten Jahren 4 000 Menschen ermordet.Beim Kampf gegen die terroristischen Islamisten in Maliging es deshalb nicht nur um die Situation in Mali. Esmusste unbedingt eine Destabilisierung der gesamtenRegion verhindert werden, genauso wie das Entsteheneines gefestigten, erstarkten Terrorbandes von Mali bisNigeria.Wir alle in diesem Hause wissen, dass durch diesesMandat allein keine langfristige Stabilisierung erfolgenwird. Wir müssen in Mali Menschenrechte etablierensowie soziale und ökologische Gerechtigkeit entwickeln.Deshalb begrüßen wir es natürlich sehr, dass vor zwei,drei Wochen in Bamako die Wiederaufnahme derentwicklungspolitischen Zusammenarbeit beschlossenwurde, und auch, dass diese Zusammenarbeit europäischkoordiniert werden soll. Ich bedanke mich in diesem Zu-sammenhang beim Parlamentarischen Staatssekretärbeim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung, Herrn Fuchtel.Zwei Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszu-sammenarbeit sind besonders zu begrüßen. Den einenSchwerpunkt bildet die ländliche Entwicklung. Dabeigeht es vor allem um Wasserversorgung und Wasserent-sorgung sowie die Ernährungssituation im Land. Denzweiten Schwerpunkt bildet das Thema Good Gover-nance.In Mali könnte Good Governance tatsächlich sehrschnell große Wirkung erzielen. Das mag Sie etwas ver-blüffen, weil Good Governance in vielen Entwicklungs-ländern eigentlich zu den Bereichen gehört, in denen nurwenige Fortschritte zu erzielen sind. Im Sinne von GoodGovernance müssten bestehende Altverträge gerade imBergbaurecht überprüft werden. Ich fordere den Staats-sekretär Fuchtel auf, dafür zu sorgen. Ich spreche ganzbesonders den Goldabbau an. In Mali werden jährlichcirca 90 Zentner Gold gefördert. Tatsächlich verbleibenvon diesem Goldwert in Mali gerade einmal 1 bis 2 Pro-zent, ein erschreckender Wert. Dies reicht noch nichteinmal aus, um den ökologischen Schaden, der durchden auf unqualifizierte Art und Weise betriebenen Gold-bergbau entstanden ist, auszugleichen. Bei einer fairenBesteuerung des Goldabbaus mit 60 oder 70 Prozent– bei Gold und Diamanten sind solche Sätze durchausüblich und legitim – ließe sich der Haushalt Malis inner-halb eines Jahres schlichtweg verdoppeln. Der Staatsse-kretär hat vorhin gesagt, dass eine Eigenleistung Maliserwünscht ist und auch erbracht werden muss. Eine sol-che Besteuerung wäre ein sehr guter Weg dorthin.Wir müssen allerdings feststellen, dass es Freihan-delsverträge gibt, die Investitionen enorm schützen. Dahaben wir ein riesengroßes Problem. Diese Freihandels-verträge sorgen dafür, dass Investitionen einen höherenStellenwert als ökologische, soziale oder menschen-rechtliche Aspekte haben. Das verhindert natürlich einevernünftige Entwicklung in Mali. Deswegen sollten wiruns Gedanken darüber machen, welche Möglichkeitenwir haben, alte Abbauverträge zu kündigen. Es kannnicht sein, dass wir, global gesehen, Milliarden in Formvon Investitionen oder Hilfeleistungen zur Verfügungstellen und gleichzeitig zulassen, dass die eigentlichenWerte, über die dieses Land verfügt, zum Beispiel dasGold, das Land verlassen.
Kollege Kekeritz, Sie sind schon weit über Ihre Rede-
zeit.
Herr van Aken hat mir meine Redezeit geklaut.
Er nicht.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Philipp
Mißfelder das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen!
– Ich kann Ihnen, Herr van Aken, nur sagen: Hören Siegenau zu! Von dem, was unser Kollege von den Grünengerade gesagt hat, konnten Sie etwas lernen, was verant-wortungsvolle Opposition und Politik angeht.Sie wiederholen bei jeder Rede Ihr „ceterum censeo“,dass Karthago zerstört werden muss. Es lohnt sichschon, das Ganze genauer zu betrachten. Sie können na-türlich eine radikalpazifistische Position vertreten, aberSie können uns gerade im Fall von Mali nicht unterstel-len, dass das ein interventionistischer Vorstoß der Bun-desregierung sei. Ganz im Gegenteil, wir sichern mitdem, was wir tun, unsere gesamten humanitären Aktivi-täten ab. Darum geht es an der Stelle, um nichts anderes.Deshalb ist es ein Zerrbild, was Sie gezeichnet haben.Vor dem Hintergrund weise ich das, was Sie sagen, zu-rück.
Ich behaupte angesichts der Komplexität des Kon-flikts nicht, dass Sie mit allem, was Sie sagen, unrechthaben. Deshalb prüfen wir auch ganz genau, inwieferndieses Mandat Sinn macht oder nicht. Wir können einJahr nach Beginn des MINUSMA-Mandats sagen: DerEinsatz war richtig, und er ist es immer noch. Deshalbunterstützen wir die Verlängerung und werden diesemMandat auch zustimmen.Die Ereignisse der vergangenen Wochen – ich ver-weise auf die Ausschreitungen in der nordmalischen
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Philipp Mißfelder
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Stadt Kidal am 17. Mai – machen deutlich, dass die Lageweiterhin fragil ist, selbst wenn die Medien sich nicht indem Umfang damit beschäftigen, wie wir das hier imDeutschen Bundestag mit Blick auf das Mandat tun müs-sen.Wir sind in einer schwierigen Situation. Es sind nochimmer über 200 000 Menschen auf der Flucht. Davonbefinden sich rund 140 000 Menschen in den Nachbar-ländern Malis, sodass die Gefahr besteht, dass der Kon-flikt übergreift. Vor dem Hintergrund haben wir die Ver-antwortung, uns um diese Nachbarländer zu bemühen,sie zu stabilisieren und ihnen die Möglichkeit zu geben,mit der Flüchtlingsproblematik klarzukommen.Das Mandat MINUSMA, wozu Deutschland konkreteinen sehr bescheidenen Beitrag leistet, ist eine beruhi-gende und stabilisierende Maßnahme. Wir beteiligen unsmit bis zu 150 Soldatinnen und Soldaten. Davon sindzurzeit 77 im Einsatz. Das ist wie jedes Bundeswehr-mandat eine nicht ungefährliche Mission. Deshalb dankeich all denjenigen, die für unser Land dort ihren Diensttun.
Wir beteiligen uns darüber hinaus mit einer polizeili-chen Komponente, die aus bis zu zehn Polizisten besteht.Die Hauptaufgabe der deutschen Soldaten liegt weiter-hin, auch beim neuen Mandat, darin, den Lufttransportund die Luftbetankung zu unterstützen und in Führungs-und Verbindungsstäben Beratungs- und Unterstützungs-aufgaben zu übernehmen. Das ist wichtig; denn das zeigtden Charakter des Mandats und wie wir in diesem Landvorgehen, nämlich unterstützend und nicht interventio-nistisch.Das gehört aus meiner Sicht zu den Kernaufgaben derBundeswehr und fügt sich in das ein, was die Bundesre-gierung mit ihrer Afrika-Strategie anstrebt. Auch das ist– das sage ich hier ganz deutlich – an manchen Stellennoch ausbaufähig. Wir diskutieren und ringen darum,welcher Weg der beste für Afrika sein soll. Ich schließenicht aus, dass auch militärische Maßnahmen zur Kon-fliktlösung gehören können. Sie sind aber nicht einAllheilmittel. Das hat im Übrigen auch niemand von un-serer Fraktion oder von der Regierung gesagt. Insbeson-dere der Beitrag von Staatssekretär Brauksiepe hat ge-zeigt, dass sich dieses Mandat in ein Gesamtkonzepteinfügt, das entwicklungspolitische und diplomatischeMaßnahmen umfasst.Vor dem Hintergrund können wir diesem Mandat zu-stimmen. Wir hoffen, dass in den nächsten zwölf Mona-ten dieses Mandat einen kleinen stabilisierenden Beitragfür das Land leistet.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Vöpel das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Afrika wird unterschätzt. In weiten Teilen des Konti-nents vollzieht sich ein dramatischer, wenn nicht garepochaler Wandel zum Besseren. Es ist noch nicht langeher, da hätte das niemand für möglich gehalten, da galtdie Wiege der Menschheit als hoffnungsloser Fall. DerName Afrika war nur ein anderes Wort für Hunger, Ge-walt, Stagnation und millionenfaches Elend. Natürlichgibt es nach wie vor Regionen, auf die das alles zutrifft;aber in seiner Einseitigkeit ist dieses Afrika-Bild, dasviele Menschen noch immer im Kopf haben, definitivfalsch.Viele Länder Afrikas erleben eine ökonomische undsoziale Gründerzeit, die in ihrer Dynamik vielleicht nurmit dem Aufbruch der asiatischen Tigerstaaten ver-gleichbar ist. Mali gehört zu den Ländern, die nach wievor auf der Schattenseite dieses afrikanischen Aufbruchsstehen. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt undstand vor zwei Jahren unmittelbar vor dem Staatszerfall.Eine Rebellion im Norden und ein Putsch im Südenhatten den westafrikanischen Staat innerhalb eines Vier-teljahres von einer scheinbar stabilen Demokratie in ei-nen neuen internationalen Krisenherd verwandelt. Nurdas Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, insbe-sondere der Franzosen im Rahmen der Operation Serval,hat den Absturz in das völlige Chaos verhindert. Seitdem Anlaufen der VN-Mission MINUSMA, die vonafrikanischen Partnern ganz wesentlich mitgetragenwird, ist die Gesamtsituation in Mali nicht schlechter,sondern besser geworden. Staatsgewalt und territorialeIntegrität sind im Wesentlichen wiederhergestellt, wennman von den weiten Wüstengebieten im Norden absieht.Diese sind schon aus geografischen Gründen nur sehrschwer zu kontrollieren.Die Sicherheitslage und damit auch die Arbeitsvo-raussetzungen für die zivilen Aufbauhelfer konnten imSüden und in der Mitte des Landes erheblich verbessertwerden. Die politische Stabilisierung hat mit den Präsi-dentschafts- und den Parlamentswahlen im letzten Jahrebenfalls große Fortschritte gemacht. Nur wo sich die re-gionale Sicherheitslage entspannt, verbessert sich auchdie humanitäre Situation. Es gibt also Hoffnung fürMali; aber es ist noch lange nicht über den Berg.Die Unterstützung durch die internationale Gemein-schaft und damit auch durch Deutschland bleibt notwen-dig. Sie bleibt notwendig, um das bisher Erreichte abzu-sichern und weitere Fortschritte überhaupt erst inReichweite zu bringen. Gerade die besorgniserregendenEreignisse der jüngsten Tage im Norden Malis zeigenüberdeutlich, dass die Fähigkeiten auch zu einem robus-ten Vorgehen zurzeit nicht verzichtbar sind, wenn manden mühsam erkämpften Erfolg nicht aufs Spiel setzenwill.
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Dirk Vöpel
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Diese Ereignisse zeigen aber auch, dass der stockendeFriedensprozess wieder in Gang kommen muss. Seit denWahlen sind hier leider keine sichtbaren Fortschritte er-zielt worden. Eine Befriedung des Nordens hängt aber inhohem Maße gerade von diesen politischen Fortschrittenab. Jetzt ist weiterer diplomatischer Druck auf die mali-sche Regierung und die MNLA sowie auf deren Verbün-dete zwingend erforderlich.
Heute liegt uns der Antrag der Bundesregierung aufFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der MINUSMA-Mission der VereintenNationen in Mali vor. Das deutsche Engagement bleibthinsichtlich der Instrumente und des entsandten Perso-nals im Rahmen der Gesamtoperation MINUSMA einekleine Mission. Die Bereitstellung von taktischen Luft-transportkapazitäten wie auch – im Anforderungsfall –die zugesicherte Fähigkeit zur Luftbetankung gehörenjedoch zu den Kompetenzen, ohne die eine solche Mis-sion kaum durchgeführt werden könnte.Bemerkenswert und vorbildlich finde ich die konse-quente entwicklungspolitische Unterfütterung und Flan-kierung des MINUSMA-Einsatzes. Es ist sehr erfreulichund markiert durchaus einen beachtlichen Fortschritt,dass mit den deutsch-malischen Regierungsverhandlun-gen Mitte Mai nun auch ganz offiziell die vollständigeWiederaufnahme der entwicklungspolitischen Zusam-menarbeit in Mali erfolgen kann.Auch die Mission EUTM Mali und die zivile EU-Mission EUCAP Sahel Mali zeigen deutlich, dass derLösungsansatz für Mali gut vernetzt und breit aufgestelltist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für unsere interna-tionalen Partner, aber vor allem für Mali ist unsere Un-terstützung auch weiterhin wichtig und notwendig.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Florian Hahn hat nun für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! In Malis Norden liegt die Oasenstadt Timbuktu:Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, geprägt vom Sufis-mus, Heimat Tausender Handschriften aus dem Mittelal-ter, Standort vieler Heiligengrabmäler, Moscheen undBibliotheken, UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit.Erinnern wir uns an das Frühjahr 2012: Die Regie-rung in Bamako wird gestürzt. Tuareg und Söldner ausdem libyschen Bürgerkrieg erobern die Stadt Timbuktu.Nach wenigen Tagen werden die Tuareg von Islamistender Gruppe Ansar al-Din aus der Stadt gejagt. Zusam-men mit al-Qaida des Islamischen Maghreb versuchendiese, die Scharia in ihrer strengsten Form durchzuset-zen. Es beginnt ein Regime des Terrors und der Verwüs-tung. Mehrere berühmte Mausoleen wurden als „unisla-misch“ zerstört, eine Bibliothek mit unersetzlichenHandschriften wurde in Brand gesetzt.Erst Ende Januar 2013 machte die Militäraktion Ser-val der Franzosen diesem Spuk Gott sei Dank ein Ende –ein gutes Beispiel, das zeigt, warum in bestimmten Fäl-len auch kurzfristige militärische Interventionen uner-lässlich sein können.Ziel der Mission MINUSMA in Mali ist es nun, Be-völkerungszentren zu stabilisieren, staatliche Autoritätim ganzen Land wiederherzustellen und den Übergangs-fahrplan zu unterstützen, vor allem den nationalen politi-schen Dialog.Der deutsche militärische Beitrag dazu ist im Schwer-punkt taktischer Lufttransport mit zwei Flugzeugen vomTyp Transall, die in Dakar im Senegal und in Bamakobereitstehen. Sie bilden die German Airlift SupportGroup und fliegen fast täglich Transporte in den unruhi-gen Norden zur Versorgung der UN-Truppen. Außerdemstellen wir optional Luftbetankung für französischeStreitkräfte bereit, und Einzelpersonal ist in den Füh-rungsstäben bzw. als Verbindungsoffizier tätig.Nicht alle Probleme sind mit militärischen Mittelnlösbar – schon gar nicht ethnische Konflikte. Aber wirmüssen als Übergangslösung so viel Stabilität und Si-cherheit schaffen, dass ein geordneter Neuaufbau von Si-cherheitskräften und Verwaltungsapparat beginnen kann.Im nichtmilitärischen Bereich hilft Deutschland durchdie Bereitstellung von Krisenpräventionsmitteln – allein2013 10 Millionen Euro – für Versöhnung und Entwick-lung im Norden Malis, durch humanitäre Hilfe, insbe-sondere Nahrungsmittelhilfe – hierfür sind 8,1 MillionenEuro ausgegeben worden – und die Entwicklungszusam-menarbeit: Hier werden allein 2013/2014 120 MillionenEuro aus den Mitteln der staatlichen Entwicklungszu-sammenarbeit und 20 Millionen Euro über nichtstaatli-che Träger bereitgestellt. Außerdem beteiligen wir unsan der Ausbildung von Polizei und Sicherheitskräften.Lassen Sie mich abschließend sagen: Unsere Trans-portflieger leisten unter extremen Bedingungen Heraus-ragendes. Wir müssen auch hier unserer Fürsorgepflichtnachkommen und sicherstellen, dass bei den Einsatzbe-dingungen, was Material und Einsatzzeiten angeht, dieBelastungsgrenze nicht überschritten wird.Militärische Unterstützung und Ausbildung in Malistehen für uns nicht allein; wir verfolgen zu Recht einenganzheitlichen Ansatz beim Staatsaufbau. Versöhnungaller Volksgruppen und Beteiligung aller Regionen amStaatswesen sind Voraussetzungen für langfristige Stabi-lität. Die jüngsten Rückschläge im Norden zeigen deut-lich: In Mali werden wir einen längeren Atem brauchen.Aber unser Engagement ist wichtig und notwendig fürMali, für die Menschen dort und ist nicht zuletzt auch inunserem eigenen Interesse.
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3542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Florian Hahn
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Den zivilen und militärischen Beteiligten an der Un-terstützung in Mali wünsche ich Gesundheit, Erfolg undGottes Segen bei ihrem Tun.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1416 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Kai
Gehring, Özcan Mutlu, Beate Walter-
Rosenheimer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über befristete Ar-
Drucksache 18/1463
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor zwei Wochen hat dieses Haus gegen die Stimmender grünen Bundestagsfraktion ein milliardenschweres,aber ungerechtes Rentenpaket verabschiedet. Aber wasist mit der jungen Generation? Was tut die Bundesregie-rung für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutsch-land, der mit seinem Wissen und Können für dringendbenötigte Innovationen sorgt? Die Antwort ist: bishernichts. Wenn es um verlässliche Perspektiven für Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler an den Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen geht, zeigt sichdiese Koalition erschreckend ideenlos und erschreckendtatenlos. So darf es nicht bleiben.
Hochschulen und Forschungseinrichtungen sindHerzstücke unseres Wissenschaftssystems. Sie müssenattraktive Arbeitgeber mit guten und zukunftsfähigenArbeitsbedingungen sein.Schauen wir uns den Gesetzentwurf an, den wir heutedebattieren. Ich möchte zunächst fragen: Liebe Koali-tion, warum muss diese Initiative zur Novellierung desWissenschaftszeitvertragsgesetzes eigentlich aus der Op-position kommen? Sie selbst kündigen doch im Koali-tionsvertrag eine Novelle des Gesetzes an.
Der Gesetzentwurf, den wir heute in den Bundestag ein-bringen, wurde schon im Frühjahr 2013 von grün-rotund rot-grün regierten Ländern in den Bundesrat einge-bracht. Sie – und hier meine ich vor allem die Kollegin-nen und Kollegen der SPD – hätten längst handeln kön-nen. Ihre Zögerlichkeit als Koalition schadet demwissenschaftlichen Nachwuchs.
Meine Fraktion hat die prekären Arbeitsbedingungendes wissenschaftlichen Nachwuchses schon mehrmalsim Bundestag zum Thema gemacht. Sie kennen die Zah-len: Beinahe neun von zehn Wissenschaftlerinnen undWissenschaftlern an den deutschen Hochschulen undForschungseinrichtungen sind befristet beschäftigt. Dasgilt auch für die Phase nach der Promotion, in der51 Prozent der Verträge an den Hochschulen und 40 Pro-zent der Verträge in den Forschungseinrichtungen eineLaufzeit von unter einem Jahr haben. Das sind Zustände,die sich kein Unternehmen leistet, das genauso wie derWissenschaftsbetrieb auf Spitzenpersonal angewiesenist. Hier ist etwas aus dem Lot geraten, und das müssenwir ändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hierdurchaus von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-lern, die gut und gern ihr viertes, teils sogar fünftes Le-bensjahrzehnt erreicht haben. Diese erfahrenen Kräftewollen Sie weiter mit kurzfristigen Verträgen hinhalten.
Mit einer solchen Politik schafft man keine Innovationenund kein wettbewerbsfähiges Wissenschaftssystem, daskreative Menschen an sich bindet. Man schafft vielmehrFrustration und riskiert das Abwandern dieser klügstenKöpfe in die Wirtschaft oder ins Ausland. Das kann hierniemand ernsthaft wollen.
Mit unserer Novelle des Wissenschaftszeitvertragsge-setzes schlagen wir konkrete Verbesserungen vor. Dabeiist uns bewusst, dass es nur ein Baustein ist, den wir imdeutschen Wissenschaftssystem voranbringen müssen.Im Bereich dieses Gesetzes hat der Bund originäre Zu-ständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Deshalbschieben Sie in der Debatte die Verantwortung nicht nur
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Kai Gehring
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auf die Länder und Hochschulen, sondern lassen Sie unsdort, wo wir es als Bund können, einen klaren Rahmensetzen!
Zu diesem klaren Rahmen gehört, Mindestvertrags-laufzeiten für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerin der zweiten Qualifizierungsphase einzuführen. Werseine Promotion erfolgreich abgeschlossen hat, soll nurnoch in begründeten Ausnahmefällen eine Vertragslauf-zeit von unter zwei Jahren erhalten. Außerdem soll fürMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Qualifizie-rungsphasen gelten, dass die Laufzeit der Verträge, dieauf Drittmittelbefristung beruhen, mindestens der Lauf-zeit der Finanzierungsbewilligung des Drittmittelgebersentsprechen muss. Sorgen wir endlich dafür, dass sach-grundlose Befristungen Vorrang haben vor Drittmittelbe-fristungen. Das täte dem wissenschaftlichen Nachwuchsgut. Mit diesen Vorschlägen können wir einiges tun ge-gen das Befristungsunwesen in unserem Wissenschafts-system.
Wenn wir schon dabei sind: Lassen Sie uns auch dieTarifsperre im Wissenschaftszeitvertragsgesetz aufhe-ben, um so die Autonomie der Hochschulen zu stärken.Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreterinnen und -ver-treter im Wissenschaftsbereich müssen endlich die Mög-lichkeit erhalten, eigene adäquate Tarifregelungen fürdie Wissenschaft auszuhandeln. Es ist aus unserer Sichtallerhöchste Zeit, dass die Bundesregierung auch jungeBeschäftigte in Deutschland in den Blick nimmt. Promo-vierende und Postdocs an den Hochschulen und For-schungseinrichtungen sind Teil einer Generation, vonder sich dieses Land superwichtige Impulse für seinewirtschaftliche, soziale und ökologische Modernisierungerhofft.Um diese Hoffnung zu erfüllen, brauchen Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler verlässliche Perspek-tiven und planbare Karrierewege. Das beginnt bei derNovelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, es gehtweiter bei der Zukunft der Wissenschaftspakte und endetim Kern bei der dringend notwendigen Verbesserung derGrundfinanzierung der Hochschulen. Letzterem, liebeKoalitionäre, haben Sie im Haushalt 2014 und in dergestrigen Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusseseinen Bärendienst erwiesen. Die bei Schäuble zwischen-geparkte halbe Milliarde Euro fließt nun doch nicht inBildung und Forschung, sondern Sie stopfen damit Lü-cken im Gesamthaushalt.
Damit hätten Sie so viel für die Wissenschaft tun kön-nen, unter anderem ein neues Juniorprofessorenpro-gramm mit Tenure Track auflegen, wie wir es in denHaushaltsberatungen beantragt haben. Ihre Politik ist da-gegen unsäglich zukunftsvergessen.
– Wenn Sie das „alte Kamelle“ nennen, dann rate ich Ih-nen: Sprechen Sie einmal mit Vertretern des Wissen-schaftsbetriebs. Die werden Ihnen sagen, dass ein neuesJuniorprofessorenprogramm Perspektiven schafft,
wichtig und ein Fortschritt ist. Das könnten Sie machen,anstatt 500 Millionen einfach so zu versenken.
Ich sage Ihnen: Es ist dringend notwendig, Wissen-schaft als Beruf wieder attraktiver zu machen. Wir wol-len es im Wissenschaftssystem fair statt prekär.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin
Alexandra Dinges-Dierig das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das Wichtigste vorweg:Deutschland ist ein hervorragender und attraktiver For-schungsstandort. Diesen gilt es weiter zu stärken. Dieshaben wir bei den Haushaltsberatungen ganz deutlichgezeigt. Die Regierungskoalition aus CDU, CSU undSPD hat sich ausgesprochen für zusätzliche 3 MilliardenEuro für die Forschung und, lieber Herr Gehring, fürweitere 6 Milliarden Euro, die sich auf Kita, Schulen undHochschulen verteilen. Es bleibt also bei den 9 Milliar-den Euro, egal bei welchem Posten sie nun stehen.
Unsere politische Verantwortung ist es, den geeignetenRahmen für erfolgreiche Forschung zu schaffen. Da sindwir beieinander, Herr Gehring; das haben auch Sie ge-sagt. Wir sind auch da beieinander, dass das Wissen-schaftszeitvertragsgesetz dazu ein Baustein ist.Wir debattieren heute das Wissenschaftszeitvertrags-gesetz auf Wunsch der Grünen noch einmal. Ich mussaber sagen – Sie haben es selber erwähnt, Herr Gehring –:Ihr Gesetzentwurf entspricht dem Gesetzentwurf derSPD aus dem letzten Jahr
– nahezu –; ich vermisse die Ergebnisse der Debattenund der Anhörungen des letzten Jahres.
Es hätte uns in der Diskussion viel weiter gebracht,wenn Sie dies konstruktiv eingebaut hätten. Dann hättenwir jetzt über andere Inhalte sprechen können, nämlich
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3544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Alexandra Dinges-Dierig
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über die Stärkung der Forschung und die Schaffung ver-lässlicher Karrierewege für Nachwuchswissenschaftle-rinnen und Nachwuchswissenschaftler.
Weil es ein Gesetzentwurf von gestern ist, wird dieCDU/CSU ihn auch diesmal wieder ablehnen.
Meine Damen und Herren, Kern des Gesetzes ist – fürdiejenigen, die sich damit noch nicht beschäftigt haben –die Regelung von Möglichkeiten, im Bereich der Wis-senschaft Arbeitsverträge abzuschließen, die befristetsind. Das betrifft besonders Nachwuchswissenschaftler,also Personen, die ihr Studium abgeschlossen haben. Esgeht um die Befristung für einen festen Zeitraum, undzwar ohne Angabe von Gründen. Natürlich gibt es auchbefristete Arbeitsverträge mit Angabe von Gründen.Hier geht es insbesondere um Arbeitsverträge mit Be-fristungsgrund, zum Beispiel bei Drittmittelprojektenoder auch wegen notwendiger Kinderbetreuung oderPflege.Eine Evaluation aus dem Jahr 2011 und eine Exper-tenanhörung im vergangenen Jahr haben gezeigt: DasWissenschaftszeitvertragsgesetz wird in hohem Maßeder projektorientierten Arbeitsweise in der Forschunggerecht. Es gibt den Arbeitgebern die notwendigeRechtssicherheit bei Arbeitsverträgen, weil es einfach zuhandhaben ist. Außerdem – für diejenigen, die das nichtso gerne hören – stößt das Wissenschaftszeitvertragsge-setz auch bei den jungen Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftlern aufgrund ihrer individuellen Arbeitsweiseauf hohe Akzeptanz. – Diese Punkte sollten wir nicht un-ter den Tisch fallen lassen.Darüber hinaus können wir in Deutschland beobach-ten: Seitdem wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetzhaben, nimmt die Anzahl der Promotionen enorm zu.Wir liegen in Deutschland inzwischen weit über demEU-Durchschnitt. Dass wir international attraktiv sind,das zeigt der nicht nachlassende Zustrom von Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftlern an unsere Universi-täten. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
Ich stelle also fest: Das Wissenschaftszeitvertragsge-setz ist im Kern ein wichtiger und richtiger Baustein. Mitseiner Hilfe gewinnen wir die Besten der Besten. Gleich-zeitig – das haben Sie leider nicht erwähnt – können wirden Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchs-wissenschaftlern vermehrt die Möglichkeit des Einstiegsin eine wissenschaftliche Laufbahn bieten. In dem Zeit-raum seit 1992 bis heute stieg die Zahl derer immerhinum 80 Prozent. Das ist ein gutes Zeichen für einen sichentwickelnden Wissenschaftsstandort.
Meine Damen und Herren, aber neben viel Licht gibtes auch Schatten. Dieser Schatten ist die zunehmendeZahl kurzfristiger Arbeitsverträge. Dies war – und ist –nicht die Intention des Gesetzgebers in 2007. Ich gebeIhnen zu 100 Prozent recht, dass hier Handlungsbedarfbesteht.
Die Debatten des letzten Jahres haben aber gezeigt, dasses keine Lösung ist, die Fristen mit Mindestzeiten beigleichzeitig begründeter Verkürzungsmöglichkeit zu be-legen.
Denn das wiederum führt zu Starrheit in einem flexiblenSystem, zu Rechtsunsicherheit und vor allem zu neuerUngerechtigkeit.
Eine kurzfristige Verlängerung der bestehenden Ver-träge, für sechs Monate, weil jemand mit der Arbeitnicht fertig ist, weil jemand in die Familienphase eintrittoder weil ein Überbrückungsvertrag nötig ist, bis einneuer Vertrag geschlossen wird, wird extrem schwierig.Das hemmt unsere Entwicklung. Deshalb sind in meinenAugen systemfremde Änderungen der falsche Weg.Der Gesetzentwurf der Grünen, so wie er jetzt vor-liegt, ist in meinen Augen wieder ein Beispiel dafür, dassversucht wird, Symptome zu bekämpfen, ohne die Ursa-chen aufzudecken.
Ich sage es ganz deutlich: Es gibt kein Problem von ge-setzgeberischer Seite, sondern ein Umsetzungsproblemin den Ländern. Die Hochschulen haben in vielen Län-dern nicht den Stellenwert, der ihnen zusteht.
Es fehlen – das zeigt auch die Empfehlung der HRKvom 13. Mai 2014; das ist gerade einmal drei Wochenher – die rechtlich und finanziell verlässlichen Rahmen-bedingungen an den Hochschulen. Hier sind die Länderin der Pflicht.Lassen Sie mich eines deutlich machen: Die Regie-rungskoalition von CDU, CSU und SPD hat in den ver-gangenen Tagen beschlossen, dass der Bund zukünftigdie Kosten für das BAföG vollständig übernimmt. Damithaben die Länder zusätzliche finanzielle Möglichkeiten,in Schule und Hochschule zu investieren. Jetzt geht esdarum, dass die Länder dies auch tun.
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Alexandra Dinges-Dierig
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Im Bereich der Hochschulen zum Beispiel könnte mitdiesen Mitteln eine veränderte, attraktive Personalstruk-tur aufgebaut werden.Neben den Ländern sind bezüglich der Umsetzungdes Wissenschaftszeitvertragsgesetzes auch die Hoch-schulen in der Pflicht. Herr Gehring hat gerade einigeZahlen genannt; die sind richtig. Ich möchte aber zeigen,dass, wenn man eine andere Auswahl von Zahlen heran-zieht, man vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommt.
Frau Kollegin, das können Sie gerne tun, aber ab jetzt
geht das zulasten der Kollegen Ihrer Fraktion.
Ich bin auch sofort fertig. – An den Hochschulen ha-
ben wir 53 Prozent kurzfristige Verträge, an Helmholtz-
Instituten nur 23,8 Prozent. An den Hochschulen haben
wir 11 Prozent langfristige Verträge, an Helmholtz-Insti-
tuten 50 Prozent. Das spricht für sich.
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz schafft einen
flexiblen Rahmen. Schwächen in der Umsetzung des
Gesetzes sind bei den Ländern und Hochschulen zu be-
heben. Der Bund will gern dabei unterstützen, dieses zu
ändern. Das werden wir mit der Änderung des Arti-
kels 91 b Grundgesetz auch tun. Die Flexibilität zu neh-
men, ist der falsche Weg. Deshalb werden wir vonseiten
der CDU/CSU, wie zu Beginn ausgeführt, den Gesetz-
entwurf ablehnen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Eine Novelle zum Wissenschaftszeitver-tragsgesetz ist überfällig. Es reicht aber nicht, FrauDinges-Dierig, nur die Schwächen zu benennen und al-les andere schönzubeten; Sie müssen handeln.
Mit dem Handeln ist das bei Ihnen aber so eine Sache:Sie kündigen an, und es passiert nichts.Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie mit 19 ein Stu-dium beginnen, nach Studienabschluss über vier Jahre in20 Stunden Teilzeit mit Halbjahresverträgen bis zur Pro-motion angestellt werden, aber real über 40 Stunden imLabor schuften und abends zu Hause büffeln, um dannweitere sechs Jahre mit jahresbefristeten Teilzeitverträ-gen am wissenschaftlichen Fortschritt der Bundesrepu-blik teilzuhaben und sich anschließend mit Quartalsver-trägen auf Drittmittelprojekten bis zur Rente hangeln zumüssen? Ausgebeutet und missbraucht würden Sie sichfühlen – zu Recht. Deshalb ist es höchste Zeit, diesesGesetz zu hinterfragen.
Mit flexibleren Forschungsmöglichkeiten und mehrChancen für angehende Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler begründete die letzte GroKo die Einführungdieses Gesetzes. Was hat es für unseren wissenschaftli-chen Nachwuchs an den Hochschulen gebracht? Nurnoch einer von zehn Wissenschaftlern hat eine festeStelle. 50 Prozent der Befristungen sind kürzer als einJahr. Kettenbefristungen sind die bittere Realität. Damithaben die Betroffenen oft mehr abgelaufene Arbeitsver-träge als Lebensjahre. An den außeruniversitären For-schungseinrichtungen ist die Situation nicht viel besser.
Und die Folgen? Es ist kein Wunder, dass Absolven-ten die erste Chance ergreifen, in die Industrie oder insAusland zu wechseln.
Mehr Geld, mehr Anerkennung und eine planbare Zu-kunft sind starke Argumente.
Entscheiden sich Akademikerfamilien für die Wissen-schaft, dann wird Familienplanung verdammt schwer,und der Kinderwunsch wird häufig zu lange aufgescho-ben. Ignorieren Sie dies nicht länger! Sie beschädigendie Zukunft unserer Familien.
Begreifen Sie endlich, dass Sie so auch die Qualität un-serer Hochschulen und Forschungseinrichtungen ruinie-ren!Die ständigen Projektbefristungen bei Verwaltungs-angestellten und technischem Personal sind für die Linkeebenfalls inakzeptabel. Unternehmen der freien Wirt-schaft haben auch keine Auftragssicherheit über mehrereJahre. Trotzdem arbeitet die Industrie mit wesentlichmehr Dauerverträgen. Warum? Weil es strengere Ge-setze für Befristungen gibt. Ehrlich: Unsere Professorensind doch nicht unfähiger als die Manager in der Indus-trie. Bringen wir Hochschulen und Forschungseinrich-tungen mit härteren Befristungsvorschriften zum Ab-schluss von Dauerverträgen! Alle Beschäftigten habenein Recht auf eine planbare Zukunft.
Es sind erste gute Schritte, die unsere Kollegen vonBündnis 90/Die Grünen mit ihrem Gesetzentwurf vor-schlagen: weniger Willkür bei Befristung durch die ver-pflichtende Einbeziehung der Tarifpartner und durch ga-rantierte Qualifizierungszeiten bei wissenschaftlichenBefristungen. Das unterstützt die Linke.
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Ralph Lenkert
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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Doktoran-den und das gesamte Personal an Hochschulen und For-schungseinrichtungen haben für die Linke Anspruch,erstens, auf eine Mindestbefristungszeit der Verträgenach Dauer der Qualifizierungsphase, jedoch mindestensauf zwölf Monate, zweitens, bei Drittmittelprojekten aufeine Mindestbefristung nach Projektdauer und gesicher-ter Finanzierung, jedoch mindestens auf zwölf Monate,und, drittens, einen rechtssicheren Anspruch auf Verlän-gerung vereinbarter Befristungen um die Länge von Kin-derbetreuungs- und Pflegezeiten. Wir fordern, dass beiDrittmittelprojekten das nichtwissenschaftliche Perso-nal unbefristete Arbeitsverträge erhält. Grundsätzlichwollen wir die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen fürPersonal in Lehre und Forschung an öffentlichen Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen für die Wiederbe-lebung des akademischen Mittelbaus.
Es wird höchste Zeit, die Lehr-, Lern- und Forschungs-bedingungen an öffentlichen Einrichtungen des Wissen-schafts- und Forschungssystems zu verbessern. MachenSie da mit! Verweigern Sie sich nicht; sonst gefährdenSie den Wissenschaftsstandort Deutschland.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Simone Raatz für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Gehring, ich bin schon ein bisschen verwundert,
dass Ihre Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, es wirklich
schafft, einen SPD-Gesetzentwurf aus dem vergangenen
Jahr zu 100 Prozent, nahezu wortwörtlich, als ihren eige-
nen in diese Debatte einzubringen
und dazu nicht ein Wort zu sagen. Man kann das natür-
lich verschmitzt machen. Ich verstehe es ja. Es ist Auf-
gabe der Opposition, ein paar Themen zu setzen und zu
sagen: Guckt mal, das habt ihr vergangenes Jahr ge-
macht. – Aber Sie sollten es wirklich nicht so unkritisch
zu 100 Prozent übernehmen. Vielleicht haben Sie es
nicht ganz zu 100 Prozent übernommen. Dann sind es
99,9 Prozent; denn es sind wirklich nur zwei Punkte an-
ders und auch die haben Sie aus Vorlagen von Nord-
rhein-Westfalen und Hamburg abgeschrieben.
Ein bisschen Kreativität hätte ich mir sehr gewünscht,
weil – da stimme ich, wie viele andere auch, mit Ihnen
überein – gute Arbeit in der Wissenschaft ein ganz wich-
tiges Thema ist.
Ich denke, dass wir uns des Themas „gute Arbeit in
der Wissenschaft“ in dieser Legislatur unbedingt anneh-
men müssen. Hier wurden schon einige Argumente ge-
nannt.
Kollegin Raatz, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Klein-Schmeink?
Gerne.
Kann ich, nachdem Sie darauf hingewiesen haben,
dass der Gesetzentwurf im Wesentlichen dem entspricht,
was rot-grün regierte Länder in den Bundesrat einge-
bracht haben, davon ausgehen, dass Sie diesem Gesetz-
entwurf im weiteren Verfahren zustimmen werden?
Ich denke, Sie haben verfolgt, dass wir weiter an einerVorlage arbeiten werden, gemeinsam mit unserem Koali-tionspartner. Ich werde in den paar Minuten Redezeit,die ich habe, schon einige Punkte benennen, an denenwir über die Bundesratsinitiative hinausgehen. Prinzi-piell entspricht Ihr Gesetzentwurf dem vom vergangenenJahr, den wir damals gerne durchgebracht hätten. Aberseitdem ist ein bisschen Zeit vergangen, und wir werdendas nun weiterentwickeln. Wir würden uns freuen, wennSie uns dabei unterstützten.
Im vergangenen Jahr wurde intensiv über diesesThema debattiert; ich war noch nicht dabei, aber konntedie Debatte nachverfolgen. Die Zahlen haben sich seit-dem nicht verändert: 83 Prozent der hauptberuflich täti-gen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiteran Hochschulen sind in befristeten Beschäftigungsver-hältnissen. Auch an außeruniversitären Forschungsein-richtungen – da muss ich meiner geschätzten KolleginFrau Dinges-Dierig ein klein wenig widersprechen –sieht die Lage nicht besser aus. Sicherlich ist die Situa-tion an einigen Instituten schon ganz gut – wir hatten ei-nen Vertreter der Helmholtz-Gemeinschaft im Aus-schuss zu Gast –, aber an manchen Instituten gibt es eineBefristungsquote von 80 bis 90 Prozent. Ich kann mirüberhaupt nicht erklären, wie gerade an außeruniversitä-ren Forschungseinrichtungen solch eine Befristungs-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3547
Dr. Simone Raatz
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quote zustande kommt. Da muss dringend etwas geän-dert werden.
Wenn man sich einmal anschaut, wohin unsere Spit-zenwissenschaftler gehen,
dann sieht man: zum großen Teil in die USA. Warum?Wie ist da die Befristungsquote? Sie liegt bei 14 Prozent.Das ist natürlich etwas anderes. In England liegt sie bei28 Prozent. Ich denke, daran sollten wir uns orientierenund auch messen lassen.Es wurde schon gesagt: Die Hälfte der befristeten Be-schäftigungsverhältnisse an den Einrichtungen inDeutschland ist auf weniger als ein Jahr angelegt; über20 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen undMitarbeiter müssen sogar mit Sechsmonatsverträgen le-ben. Das können wir nicht fortführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das macht deutlich:Hier ist etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen. DiesemMissstand müssen und werden wir einen Riegel vor-schieben. Wir werden mit der Novellierung des Wissen-schaftszeitvertragsgesetzes – ich denke, dass wir da zu-künftig unseren Koalitionspartner an der Seite haben –Mindeststandards einführen; denn dies allein den Hoch-schulen zu überlassen, hat, wie wir gesehen haben, nichtzu dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen. Wirwünschen uns für unsere Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler planbare und verlässliche Karrierewege; daswurde hier schon gesagt.
Drei unserer Kernforderungen, die sich im Gesetzes-text wiederfinden werden, will ich an dieser Stelle be-nennen – ich staune und freue mich, dass wir diesbezüg-lich sogar etwas weiter sind als die Linken –:
Erstens. Wichtig ist für uns, dass zukünftig sowohl inder ersten als auch in der zweiten Qualifizierungsphaseeine Vertragslaufzeit von mindestens 24 Monaten gilt.Natürlich können Sachgründe dagegen sprechen – Siehaben einige genannt –, aber das ist die Ausnahme.Wenn Sachgründe dagegen sprechen, dann kann man si-cherlich einmal davon abweichen; aber prinzipiell wol-len wir in der Qualifizierungsphase Vertragslaufzeitenvon mindestens 24 Monaten.Zweitens. Die Drittmittelbefristung wird zukünftig andie Dauer der Drittmittelförderung gekoppelt. Das heißt,bei Dreijahresverträgen gibt es einen Beschäftigungsver-trag über drei Jahre.Drittens ist uns die Tarifsperre sehr wichtig. Die Lin-ken haben 12 Monate genannt. Ich gehe etwas weiterund sage: 24 Monate. Das ist doch etwas.
Ich denke, das allein reicht nicht, um die Situation fürunsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach-haltig zu verbessern. Dazu gehört in jedem Fall auch,dass die Grundfinanzierung unserer Hochschulen deut-lich verbessert wird, um dem Stellenkürzungswahn Ein-halt zu gebieten. In Sachsen – das ist Wahnsinn – sollenüber 1 000 Stellen gestrichen werden; keiner weiß, wie.Dem muss Einhalt geboten werden. Wir müssen – das istunser Ziel – mehr dauerhafte Stellen im Hochschul- undForschungsbereich einrichten.
Die komplette Übernahme der Kosten für das BAföGdurch den Bund wurde schon von meiner Kollegin er-wähnt. Die Aufhebung des Kooperationsverbots stehtauch bevor. Das eröffnet zeitnah Spielräume für die Län-der. Dieser Spielraum muss – da bin ich ganz an IhrerSeite – aber auch genutzt werden.
Für Sachsen bedeutet das 84 Millionen Euro. Damitkann man doch etwas machen.
Bei der Verlängerung des Paktes für Forschung undInnovation sollten wir auch daran denken, mit den außer-universitären Forschungseinrichtungen messbare Ziel-vereinbarungen zu treffen, die eine wirklich signifikanteReduzierung der Befristungsquote sicherstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es ist ei-niges zu tun. Ein erster wichtiger Schritt wurde bereitsunternommen. So haben wir die Novellierung des Wis-senschaftszeitvertragsgesetzes gemeinsam mit der Unionim Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir sind uns alsoeinig, dass es hinsichtlich der prekären Beschäftigungs-verhältnisse in der Wissenschaft einen dringenden Hand-lungsbedarf gibt. Der nächste Schritt wird sein, gemein-sam mit unserem Koalitionspartner und im Dialog mitden Betroffenen und den Fachgemeinschaften von GEWoder Verdi in den nächsten Monaten an einer Lösung zuarbeiten, die attraktive Beschäftigungsverhältnisseschafft und so das deutsche Wissenschaftssystem inter-national wieder wettbewerbsfähiger macht. Anderenfallswerden wir – das wurde schon gesagt – unsere Spitzen-leute und guten Nachwuchswissenschaftler verlieren,weil sie aus dem System ausscheiden oder abwandern.Ich denke, damit wäre keinem geholfen.Ich lade also die Fraktionen, aber auch Sie persönlich,Herr Gehring, ganz herzlich dazu ein, sich jetzt in denProzess der Ausgestaltung des Wissenschaftszeitver-tragsgesetzes konstruktiv einzubringen,
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3548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Dr. Simone Raatz
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und zwar nicht durch Abschreiben von Gesetzentwürfen,sondern mit eigenen Ideen.
Vielen Dank.
Der Kollege Tankred Schipanski hat für die Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darfdie Debatte an dieser Stelle wieder ins richtige Fahrwas-ser führen. Insbesondere nach dem Beitrag der Linkenscheint es nötig zu sein, den Sachstand aufzuzeigen undden Fahrplan der Koalition in dieser Frage zu skizzieren.Lassen Sie mich Folgendes voranstellen – das wurdeschon gesagt –: Herr Gehring, ich finde es einfallslos, ei-nen Gesetzentwurf einzubringen, der fast identisch istmit einer Vorlage, über die in der letzten Legislaturpe-riode diskutiert wurde und die mit sehr guten Argumen-ten abgelehnt worden ist.
Von daher knüpfe ich argumentativ gerne an meine Aus-führungen in der letzten Legislaturperiode an. Ich darfSie herzlich einladen, unsere Debatten vom 10. Aprilund vom 27. Juni letzten Jahres in den Parlamentsproto-kollen nachzulesen. Der Eindruck, der in dieser Debattevermittelt wird, die Politik würde ein als wichtig erkann-tes Problem nicht lösen, ist grob falsch. Ich finde es un-verantwortlich, dass die Grünen hier einen solchen Ein-druck erwecken, zumal Ihnen, lieber Herr Gehring, dieverschiedensten Maßnahmen bekannt sein müssten, daSie in der letzten Legislaturperiode dabei waren.Ausgangspunkt und Impuls dieser gesamten Debattewaren die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsge-setzes durch die HIS GmbH im Jahre 2011 sowie derBundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs im Jahr2013.
Die Kernbotschaften waren damals: Dem wissenschaftli-chen Nachwuchs in Deutschland geht es gut. Die Ar-beitsbedingungen sind insgesamt zufriedenstellend.Noch nie strömten mehr Wissenschaftler an unsere Uni-versitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtun-gen. Noch nie schlossen so viele junge talentierte Men-schen eine Promotion ab. Noch nie entschieden sichmehr junge Menschen für eine Karriere in der Wissen-schaft.
Liebe Frau Raatz, die Leute verlassen Deutschland alsForschungsstandort nicht, sondern sie kommen zu uns,weil wir die attraktiveren Bedingungen haben.
Die Berichte benennen zwei Probleme, unter denenjunge Wissenschaftler in Deutschland leiden. Das istzum einen die Personalstruktur, die derzeit als einzigesKarriereziel die Vollprofessur bietet.
Das ist zum anderen die überbordende Befristungspraxis– wir haben es gehört –: Stellensplitting, Vertragslaufzei-ten von teilweise unter einem Jahr, Kettenverträge. Jederkennt Beispiele aus seinem Bekanntenkreis.
Die christlich-liberale Koalition hat daher in der letz-ten Legislaturperiode konkrete Maßnahmen ergriffenund vor allen Dingen mit Blick auf die Universitäten– Sie kennen die Vorlage, die wir hier behandelt haben –konkrete Verbesserungen vorgeschlagen. Stichwortartigdarf ich Ihnen nennen: Associate-Professuren, befristeteAssistenzprofessuren mit Tenure-Track-Option, also einganz ausgewogenes Karrieremodell neben der Vollpro-fessur und nicht irgendwelche aufgewärmten Juniorpro-fessorenprogramme. Das sind Modelle, die sich in derPraxis bewähren. Wir können das an der TU Münchensehen, die diese Personalstruktur eingeführt hat. Das istpraxistauglich. Jede andere Uni kann dieses Modell ein-führen. Es bedarf keiner Änderung des Wissenschafts-zeitvertragsgesetzes, um hier planbare Karrierepfade zuermöglichen.
Zum zweiten Problem, der überbordenden Befris-tungspraxis, hat die christlich-liberale Koalition in die-sem Hohen Hause im Jahre 2013 sowie bereits 2012 imAusschuss einen Antrag beschlossen, in dem wir dieVerantwortlichen auffordern, die Vertragslaufzeiten „andie Laufzeit der Qualifikationsphase bzw. der Projektezu koppeln, in denen die wissenschaftlichen Nach-wuchskräfte beschäftigt sind. … Das Stellensplitting inEinheiten von weniger als einer halben Stelle muss gänz-lich unterbleiben“. Wir wissen zudem um die Notwen-digkeit, auf den immer schneller werdenden Wissen-schaftsbetrieb mit flexiblen Personallösungen zureagieren. – Adressiert waren diese Forderungen an dieForschungseinrichtungen und Hochschulen, die darauf-hin Leitlinien erlassen haben für die Ausgestaltungbefristeter Beschäftigungsverhältnisse mit ihrem wissen-schaftlichen Personal, sogenannte Selbstverpflichtungs-erklärungen. Wir werden schauen, ob sich die Einrich-tungen an diese Selbstverpflichtungserklärungen haltenoder nicht. Das evaluieren wir jetzt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3549
Tankred Schipanski
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Sind die Missstände in der Befristungspraxis aufgeho-ben, werden wir nicht reagieren. Sind sie nicht aufgeho-ben, bedarf es eventuell einer gesetzlichen Regelung.Diese gesetzliche Regelung – meine Kollegin von derSPD hat es angesprochen – haben wir im Koalitionsver-trag als „flankierend“ bezeichnet.Sie haben es angesprochen, liebe Frau Raatz: Wirkönnen uns auch vorstellen, dass der Bund bei der Aus-gestaltung der Pakte lenkend einwirkt. Aber darüberkönnen wir erst entscheiden, wenn wir wissen, wie esum die Selbstverpflichtungserklärungen steht. Der Aus-schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung hat in der letzten Legislaturperiode einen ähn-lichen Gesetzentwurf diskutiert und am 12. Juni letztenJahres eine Sachverständigenanhörung dazu durchge-führt. Im Rahmen dieser Anhörung wurde eindeutig auf-gezeigt, dass mit den vorgeschlagenen Änderungen andiesem Wissenschaftszeitvertragsgesetz ein Missbrauchder Befristungsmöglichkeiten nicht ausgeräumt werdenkann.
Vielmehr müssen die einschlägigen Landeshochschulge-setze geändert werden; Frau Dinges-Dierig hat das hierzu Recht betont.
Die damalige Expertenanhörung – das kann ich Ihnennicht ersparen – hat zudem gezeigt, dass der Grund fürdie überbordende Befristungspraxis nicht dieses Gesetzist, sondern die mangelnde finanzielle Planbarkeit derHochschulen. Um diese zu verbessern, dürfen die Län-der auf gar keinen Fall bei der Grundfinanzierung spa-ren. Die Redner der Koalition haben es angesprochen:Wir haben vereinbart, das BAföG komplett zu überneh-men. Das ist eine milliardenschwere Entlastung der Län-der. Das Geld können sie in die Grundfinanzierung ihrerHochschulen investieren. Somit setzen wir auch unserVersprechen im Koalitionsvertrag um, uns an der Grund-finanzierung zu beteiligen.
Die Verfassungsänderung im Hinblick auf Artikel 91 bhaben wir im Blick.Meine Damen und Herren, das sind Meilensteine inder Wissenschaftspolitik, die natürlich auch positiveAuswirkungen auf den wissenschaftlichen Nachwuchshaben werden. Ich darf den Grünen nur empfehlen, sichhieran konstruktiv zu beteiligen und nicht alte Gesetz-entwürfe aufzuwärmen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Daniela De
Ridder das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! In einer Großen Koalition ist man miteinanderverpartnert, Herr Schipanski. Das bedeutet auch – sokenne ich das aus meiner Ehe –, dass man gelegentlichbeim Abendessen, beim Frühstück eine hitzige Diskus-sion führt. Auf die mit Ihnen im Ausschuss, auch jen-seits des Ausschusses, freue ich mich,
weil ich Sie gerne davon überzeugen möchte, dass wirhier wirklich Änderungs- und Handlungsbedarf haben.
Die Einladung steht. Sie können das auch gleich heuteeinlösen.Heute sprechen wir aber zunächst – scheinbar – überdie Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen, die sich jainhaltlich weitestgehend bei jenem Gesetzentwurf be-dient haben, den die SPD im vergangenen Jahr in diesesHohe Haus eingebracht hat.
– Es freut mich doch, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen, dass Sie unseren Gesetzentwurf offen-sichtlich so klasse fanden, dass Sie ihn fast eins zu einsübernommen haben.
Worum ging es bei diesem Gesetzentwurf? Wir woll-ten gegensteuern, weil im wissenschaftlichen Bereich inder Tat prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmendzum Standard zu werden drohen. Davon werden wir Sie,Herr Schipanski, auch noch überzeugen. Fast der ge-samte akademische Mittelbau arbeitet nämlich befristet,meist projektbezogen, häufig sogar mit Arbeitsvertrags-laufzeiten von unter einem Jahr. Am Ende stehen danndie meisten vor der ungeklärten Frage, wie ihre Jobpers-pektiven aussehen. Gelingt der Aufstieg zur Professur,oder folgt der Abstieg in die Arbeitslosigkeit?Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Sozialdemokra-tinnen und Sozialdemokraten haben keineswegs verges-sen, was wir gesagt haben. Heute, ein Jahr danach, wis-sen wir noch besser, was wir wollen. Es ist nämlichunser Gesetzentwurf aus dem vergangenen Jahr, der dieGrundlage für die Arbeit in dieser Legislaturperiode
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3550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Dr. Daniela De Ridder
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legt. Wie gesagt: Sie sind alle herzlich eingeladen, mituns darüber zu diskutieren, um mit uns für den wissen-schaftlichen Nachwuchs den besten Weg zu entwickeln.
Mich stimmt es sehr optimistisch, wenn wir hier zu einergroßen Übereinstimmung kommen. Die werden wir her-stellen; davon bin ich felsenfest überzeugt. Denn es gehtum faire Arbeitsbedingungen; das wollen wir für unsereWissenschaft weiterentwickeln.Beim Wissenschaftszeitvertrag, lieber Herr Gehring,geht es um die Perspektive für die Jüngeren. Unser wis-senschaftlicher Nachwuchs braucht bessere Arbeitsbe-dingungen. Wer heute als junger Mensch einen sicherenJob will, dem kann man in der Tat kaum empfehlen, ander Uni zu bleiben.
80 Prozent – ich wiederhole: 80 Prozent – der wissen-schaftlich Beschäftigten unter 30 Jahren arbeiten auf be-fristeten Stellen. Das sind die Zahlen des StatistischenBundesamtes. Das ist, ehrlich gesagt, alles andere alsPlanbarkeit. Das gilt nicht nur für den wissenschaftli-chen Nachwuchs, sondern umso mehr für die Universitä-ten und Forschungseinrichtungen; denn die wollen ihreTalente bewahren können.Wer also Exzellenz will, insbesondere wissenschaftli-che Exzellenz, muss lebensnahe und faire Arbeitsbedin-gungen schaffen. Das gilt im Übrigen auch – lassen Siemich das aus meiner Perspektive betonen – für die Fami-lienfreundlichkeit an Hochschulen. Schon vor rund20 Jahren habe ich mich als Gleichstellungsbeauftragtean einer Hochschule für mehr Familienfreundlichkeiteingesetzt. Am Ende meiner Wünsche bin ich heutenoch lange nicht; aber das Ziel – da bin ich ganz sicher –scheint heute näher zu rücken. Wir müssen dafür sorgenund klarstellen, dass die sogenannte familienpolitischeKomponente deutlich häufiger angewandt wird. Die er-laubt nämlich, dass der Arbeitsvertrag, den Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler haben, aus familiä-ren Gründen pro Kind um jeweils zwei Jahre verlängertwerden kann. Beschäftigte – das ist unser Problem, HerrSchipanski – haben darauf bislang aber noch keinen ver-bindlichen Rechtsanspruch.
Das ist ein Problem, und deshalb müssen wir hier tätigwerden und nicht nur die Länder.
– Weil es nicht im Gesetz steht, haben wir hier Hand-lungsbedarf. Wie gesagt: Ich überzeuge Sie gern davon,dass das eine Perspektive ist, die wir gemeinsam disku-tieren müssen. Kommen Sie also ruhig mit mir! Ichtrinke gerne Tee oder Kaffee. Über anderes reden wirdann noch.
Die SPD wird in der Diskussion dafür Sorge tragen– das versichere ich Ihnen –, dass an den HochschulenElternzeit, Betreuungs- und Pflegezeiten ernster genom-men werden als bisher. Denn unser Versprechen – Siekennen es – lautet: gesagt, getan, gerecht. Ich lade Siealle, die Sie sich als Bildungspolitikerin bzw. -politikerverstehen, dazu ein. Dies ist eine Situation, die wir her-stellen müssen, insbesondere in der Bildungspolitik.Wer, wie wir in der SPD, will, dass wir möglichst vie-len jungen Menschen mehr Chancen geben, der darfdoch vor den Toren der Hochschulen nicht haltmachen.Wer will, dass unsere Talente, unsere Wettbewerbsfähig-keit und unser Innovationspotenzial in einer globalis-ierten Welt konkurrenzfähig bleiben – denn darum gehtes –, der lässt nicht zu, dass der wissenschaftliche Nach-wuchs ausgebeutet wird. Wir sollten deshalb klar benen-nen, welche Stressfaktoren in der wissenschaftlichen Ar-beitswelt leistungssteigernd und welche blockierendwirken.Wir haben – das bleibt eine Tatsache – zu viele Be-schäftigungsverhältnisse, die am Menschen vorbei nurnegativen Stress produzieren. Deshalb brauchen wirfaire Arbeitsbedingungen. Dazu werden wir Mindest-standards entwickeln –
Kollegin De Ridder, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
– das tue ich – und positive Anreize setzen, mit mehr
Planungssicherheit.
Das gilt im Übrigen für alle Phasen der wissenschaftli-
chen Qualifikation. Wir machen das – davon bin ich
überzeugt – gemeinsam, wohlüberlegt, zeitnah und im
Konsens. Ich lade Sie alle herzlich ein, daran mitzuwir-
ken.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Wolfgang Stefinger.
Liebe Frau Kollegin De Ridder, wenn ich richtig in-formiert bin, haben wir bereits einen Termin ausge-macht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3551
Dr. Wolfgang Stefinger
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Nach Ihrer Rede freue ich mich umso mehr auf das Mit-tagessen mit Ihnen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Den Beginn meiner heutigen Rede möchte ichnutzen, um mich bei unseren Wissenschaftlern für dieInnovationskraft zu bedanken, mit der sie Deutschlandim Forschungsbereich international wettbewerbsfähighalten.
– Ja, da darf man ruhig klatschen.Zahlreiche Studien und Berichte der letzten Zeit bele-gen: In vielen Bereichen ist die deutsche Wissenschaft,sind unsere Wissenschaftler Weltspitze. Unser Wissen-schaftssystem scheint attraktiv zu sein. Welche Zahlenkönnten dies eindrucksvoller belegen als die der auslän-dischen Wissenschaftler, die gerne zu uns kommen, umhier zu forschen und sich weiterzuentwickeln?Wir wissen nämlich: Spitzenwissenschaftler gehendorthin, wo sie die besten Arbeitsbedingungen vorfin-den. Sie wollen unter optimalen Bedingungen arbeitenund Grundlagenforschung betreiben. Hervorragende Be-dingungen bieten auch unsere außeruniversitären Ein-richtungen. Sie genießen weltweit ein hohes Ansehenund sind national wie international begehrte Arbeitgeber.Ja, unsere Einrichtungen ziehen Wissenschaftler an.Dies liegt zum einen an ihrem weltweit hervorragendenRuf und zum anderen auch an den Arbeitsbedingungen;davon konnte ich mich bei meinen Besuchen in For-schungszentren überzeugen. Denn das Ziel unserer For-schungseinrichtungen ist und muss es sein, als attrakti-ver Arbeitgeber im deutschen Wissenschaftssystemwahrgenommen zu werden.
Gute Entwicklungsmöglichkeiten gehören selbstver-ständlich dazu.Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz hat hierfür dieRahmenbedingungen geschaffen. Unsere Einrichtungenwissen – davon bin ich überzeugt –, dass sie eine Verant-wortung haben: nicht nur eine Verantwortung gegenüberdem Staat oder den Drittmittelgebern, die für die For-schung bewilligten Gelder zu rechtfertigen, sondernauch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft,mit neuen Erfindungen und durch die Erforschung vonUrsachen Probleme zu lösen, Krankheiten zu bekämp-fen, neue Technologien zu entwickeln und ressourcen-schonende Werkstoffe zu erfinden. Sie wissen auch umihre Verantwortung für ihre Mitarbeiter und deren Fami-lien. Genau diese Verantwortung spiegelt sich in denLeitlinien der Forschungsorganisationen wider. VieleEinrichtungen haben in diesen nämlich geregelt, dass sieverantwortlich und nachvollziehbar mit der Befristungvon Arbeitsverhältnissen umgehen.
Wenn ich mit den Einrichtungen spreche, dann sagenmir diese auch: Bitte engt uns mit gesetzlichen Vorgabennicht zu sehr ein. Wir brauchen eine gewisse Flexibilität,um an Themenfelder herangehen zu können.Bei meinen Besuchen treffe ich auch Wissenschaftler,die nur an einem Teilbereich eines Forschungsprojektesmitarbeiten möchten und von sich aus nur sechs, achtoder zwölf Monate mitforschen wollen.
Hier stelle ich mir die Frage: Wollen wir für diese hoch-motivierten Forscher wirklich eine Begründungspflichteinführen? Brauchen wir wirklich ein Mehr an Bürokra-tie?
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Gerade als jun-ger Mensch weiß ich natürlich, wie wichtig es ist, Per-spektiven zu haben und sich Ziele zu setzen. Natürlichist es notwendig, ein Stück weit berufliche Planungssi-cherheit zu bekommen, vor allem dann, wenn es an dieFamiliengründung geht. Aus diesem Grund werden beider Weiterentwicklung unserer großen Wissenschafts-pakte auch verlässliche und planbare Karrierewege inder Wissenschaft eine wichtige Rolle spielen.Wir wollen die bisherigen Bemühungen der Wissen-schaftsorganisationen durch eine maßvolle Novellie-rung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes unterstützenund nicht belasten.
Das 2007 in Kraft getretene Gesetz wurde 2011 eva-luiert. Die gesetzlichen Befristungsvorschriften habensich, so das Ergebnis der Evaluation, im Grunde be-währt.
Auf einer seiner nächsten Sitzungen wird sich derWissenschaftsrat mit den Perspektiven des wissenschaft-lichen Nachwuchses befassen. Ich denke, dessen Stel-lungnahme sollten wir abwarten.Eines ist klar: Wo Anpassungen sinnvoll sind, werdenwir diese vornehmen,
aber mit Maß und Ziel.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
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3552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/1463 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der „United NationsInterim Force in Lebanon“ aufGrundlage der Resolution 1701 vom11. August 2006 und folgender Resolutionen,zuletzt 2115 vom 29. August 2013 desSicherheitsrates der Vereinten NationenDrucksache 18/1417Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-mentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Entwicklungen in Syrien und darüber hinaus im gan-zen Nahen und Mittleren Osten verdienen unverändertunsere ganze Aufmerksamkeit; denn das Leiden der Be-völkerung in Syrien geht weiter. Millionen von Flücht-lingen haben das Land bereits verlassen und suchen Zu-flucht in den Nachbarstaaten.Erst kürzlich hat deshalb der Deutsche Bundestag ausguten Gründen mit großer Mehrheit einer Beteiligungdeutscher Streitkräfte am maritimen Begleitschutz fürdie Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zuge-stimmt. Das ist aus Sicht der Bundesregierung weit mehrals nur ein symbolischer Beitrag. Wir leisten einen akti-ven Beitrag dafür, dass Massenvernichtungswaffen ver-nichtet werden, und ich bin dankbar, dass es dafür eineso große Zustimmung hier in diesem Hohen Hause gege-ben hat. Wer dem nicht zugestimmt hat, hat hinsichtlichder Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen wirk-lich jede politische Glaubwürdigkeit verloren.
Ursprünglich eine reine Beobachtermission, machteUNIFIL den Waffenstillstand zwischen Israel und demLibanon vom 14. August 2006 erst möglich. Seitdem istdiese robuste VN-Mission ein entscheidender Stabilitäts-faktor in der Region.Der Auftrag der Mission ist es letztlich, den Rahmenfür politische Lösungen offener Fragen zwischen demLibanon und Israel zu bieten. Es gilt, die Beziehungenzwischen diesen beiden Nachbarn stabil zu halten unddamit zur Stabilität der gesamten Region beizutragen.Genau das ist das, was wir tun können. Man kann alserster Redner nicht alles vorhersehen, was nachher nochgesagt wird. Aber wir haben heute ja schon eine Debatteüber ein Mandat gehabt, und wir haben unsere Erfahrun-gen.Es ist wahr: Natürlich sind die Konflikte zwischendem Libanon und Israel noch längst nicht gelöst. Aberdiese Konflikte hat nicht die Bundeswehr ausgelöst, dieUrsachen dafür liegen ganz woanders. Wir leisten mitder Bundeswehr einen Beitrag für einen Rahmen zurKonfliktlösung. Den Konflikt müssen andere lösen. Wirtragen zur Konfliktlösung bei.
Es geht aber auch konkret darum, die libanesische Re-gierung auf Anforderung bei der Sicherung der Grenzenzu unterstützen und zu verhindern, dass Rüstungsgüterund sonstiges Wehrmaterial illegal in den Libanon ver-bracht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, werwirklich dagegen ist, dass Rüstungsgüter unkontrolliertund illegal in ein Land verbracht werden, der muss fürdieses Mandat bzw. die Fortsetzung dieses Mandatsstimmen. Nur so kann in dieser Region ein Beitrag zurVerhinderung der illegalen Verbringung geleistet wer-den.
Wir sind mit der Bundeswehr seit dem Jahr 2006 anUNIFIL beteiligt, genauer gesagt: am damals neu aufge-stellten Marineeinsatzverband der Mission. Auftrag un-serer Soldatinnen und Soldaten ist es, die seeseitigenGrenzen des Libanon zu sichern. Wichtiger Teil desdeutschen Beitrags ist aber auch der Fähigkeitsaufbauder libanesischen Marine. Wir wollen die libanesischeMarine so weit ausbilden und ausstatten, dass sie denSchutz der seeseitigen Grenzen künftig selbstständigdurchführen und gewährleisten kann. Es ist durch deut-sche Unterstützung in den vergangenen Mandatszeiträu-men bereits ein bemerkenswerter Fähigkeitsaufbau beider libanesischen Marine erreicht worden.Als letztes großes Projekt wurde bisher im vergange-nen Jahr der Aufbau der Küstenradarorganisation mitdeutschen Mitteln abgeschlossen. Heute sind acht Statio-nen personell besetzt und bereits voll funktionsfähig.Zusätzlich haben wir seit dem Jahr 2007 drei Patrouil-lenboote, Schiffssicherungsausstattung, Anlagen für eineMaschinenwerkstatt und Schulmöbel an die libanesischeRegierung übergeben. Zudem wurde eine hochmoderneNavigations- und Radarausbildungsanlage beschafft.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3553
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Auch für dieses Jahr ist wieder ein wichtiges Projektgeplant. Ressortübergreifend werden durch das Auswär-tige Amt und das Bundesministerium der Verteidigungdrei Elektronikwerkstätten sowie ein Werkstattfahrzeugaufgebaut und ausgerüstet. Damit soll die libanesischeMarine in die Lage versetzt werden, die Ausbildung undDurchführung von Wartung und Instandsetzung elektro-nischer Anlagen künftig eigenständig wahrzunehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheitslageim Nahen und Mittleren Osten ist nach wie vor ange-spannt. Innenpolitische Probleme vieler Länder und derKonflikt in Syrien fordern unverändert unsere ganzeAufmerksamkeit. UNIFIL ist dabei einer der wichtigstenStabilitätsanker in der Region. Er kann nicht allein dieProbleme lösen, aber er ist und er bleibt ein wichtigerStabilitätsanker. Deswegen ist es gut, dass wir mit unse-ren Soldatinnen und Soldaten zu dieser Stabilität beitra-gen.Deswegen ist es naheliegend und nicht erstaunlich,dass sowohl der Libanon als auch Israel eine Fortsetzungder Mission wünschen. Sie legen ausdrücklich großenWert auf eine fortgesetzte deutsche Beteiligung an dieserso nachhaltigen Mission. Gemeinsam mit ihren Kamera-den aus 36 anderen Nationen haben unsere deutschenSoldatinnen und Soldaten für UNIFIL viel geleistet undfür die Region eine Menge erreicht.Unsere Soldatinnen und Soldaten auf unserenSchnellbooten, unsere Stabs- und Unterstützungskräftein Limassol auf Zypern, unsere Soldaten in den Stäbendes UNIFIL Force Headquarters im Libanon sowie un-sere Ausbilder im Libanon erfüllen die ihnen zugewiese-nen Aufgaben gewissenhaft und erfolgreich. Sie könnenstolz auf das Geleistete sein. Wir können dankbar für dassein, was unter diesen schwierigen Bedingungen geleis-tet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch unsere viel-fältigen Beiträge haben sich über die letzten acht Jahreintensive Kontakte zwischen Deutschland und dem Li-banon entwickelt. Deutschland wird heute als vertrau-ensvoller Partner in der Region geschätzt. Auch in Zu-kunft wird es noch eines starken internationalenEngagements bedürfen, um die Lage vor Ort zu stabili-sieren und den Aufbau der libanesischen Streitkräfte vo-ranzubringen.Die personelle Obergrenze für die deutsche Beteili-gung am UNIFIL-Flottenverband wird bei 300 Soldatin-nen und Soldaten belassen. In der Realität liegen wirdeutlich darunter. Aber es ist sicherlich sinnvoll, dieseObergrenze zu belassen; denn sie erlaubt es uns, alle imRahmen des Mandats vorgesehenen Aufgaben zu erfül-len, und sie trägt der unverändert angespannten Sicher-heitslage in der Region Rechnung.Wir wollen auf dem bisher Erreichten aufbauen undweiterhin einen Beitrag zu Stabilität und Sicherheit in ei-ner Region leisten, die in unserer Nachbarschaft liegtund diese Stabilität im Hinblick auf eine friedliche Ent-wicklung ganz dringend braucht. Deswegen ist es derWunsch der Bundesregierung, dass das Mandat für diedeutsche Beteiligung an UNIFIL um zwölf Monate ver-längert wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung bittet Sie daher um Unterstützung für diesen Antragim Sinne der Stabilität in unserer Nachbarregion und imSinne der Menschen im Nahen und Mittleren Osten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrStaatssekretär, die Unterstützung der Linken werden Sieauch im neunten Jahr des UNIFIL-Mandates nicht be-kommen.
Die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen,aber auch der Grünen, die diesen Einsatz immer be-fürwortet haben, müssen sich immer dringender dieFrage stellen, ob der Aufwand – bislang hat der Einsatz330 Millionen Euro gekostet – und der Ertrag diesesEinsatzes in einem guten Verhältnis zueinander stehen.Wenn wir uns den Anspruch der Mission, den Waf-fenschmuggel vor der Küste des Libanon zu unterbin-den, vor Augen führen, und dann den Blick daraufrichten, wie das Ganze vor Ort gehandhabt wird, dannmüssen auch dem stärksten Befürworter der globalenPräsenz deutscher Streitkräfte eigentlich Zweifel amSinn des Einsatzes kommen.
Wie sieht die Unterbindung dieses Waffenschmuggelsdurch die deutsche Marine aus? Die Bundeswehr meldetverdächtige Schiffe an die libanesische Küstenwache,die diese dann im Rahmen ihrer eigenen Kapazitätendurchsucht. Bei all diesen Aktionen in neun Jahrenwurde rein gar nichts gefunden. Vielleicht muss ich michkorrigieren: Die UNIFIL-Mission hat doch etwas gefun-den, nämlich geschmuggelte Zigaretten. Das ist zwarauch verdienstvoll, aber ich frage mich und Sie: Recht-fertigt dies aus Ihrer Sicht den Einsatz der Bundeswehrvor der libanesischen Küste?
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3554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
Sevim Dağdelen
(C)
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Ich denke, das ist keine Rechtfertigung. Die Linke je-denfalls will diesen kafkaesken Einsatz beenden. DasGeld, das für den Schiffsdiesel der Bundeswehrflottillehinausgeblasen wird, könnte weitaus besser verwendetwerden als dafür.
Dass bei dem Einsatz rein gar nichts an Waffen gefun-den wurde, ist nicht weiter verwunderlich, meine Damenund Herren. Der Einsatz ist nämlich so angelegt, dassnichts gefunden werden kann.
Bei unserem Besuch letzte Woche mit AußenministerSteinmeier im Libanon hatten wir Abgeordneten die Ge-legenheit, die Bundeswehroffiziere der UNIFIL selbst zubefragen. Zu unser aller Überraschung wurde uns mitge-teilt, dass es trotz des Ausbruchs des Syrien-Krieges underhöhten Waffenschmuggels auch für diesen Krieg bis-her keine gesteigerte Aktivität von UNIFIL gibt,
und dies, obwohl wir wissen, dass ein Gutteil der Waffenfür den Syrien-Konflikt über den Libanon und seineKüste kommt.Ebenso verwunderlich ist diese Aussage vor demHintergrund, dass Auseinandersetzungen im Libanon imKontext des Syrien-Krieges bereits über 400 Menschendas Leben gekostet haben. Die Hisbollah jedenfalls giltbereits seit mehreren Jahren trotz der peniblen Kontrol-len der Bundeswehr als viel stärker ausgerüstet als vordem Waffengang 2006. Auch diverse andere paramilitä-rische Akteure im Libanon sind bis an die Zähne bewaff-net.
Letzteres kann man auch an den immer wiederkeh-renden gewaltsamen Aktionen der saudi-arabisch undvor allen Dingen US-amerikanisch finanzierten islamis-tischen Fatah al-Islam ablesen, als Teil des Syrien-Kon-fliktes, der in den Libanon hineingetragen wurde.Die Bevölkerung des Libanon braucht deshalb ganzdringend die Lösung des Syrien-Konflikts.
Die Bevölkerung des Libanon braucht keine Bundes-wehrschiffe vor der Küste, die nach Phantomen jagen.Nachdem die angebliche Aufgabe von UNIFIL mitt-lerweile schon fast in Vergessenheit geraten ist, verän-dern Sie nun auch noch den Fokus. Die verschiedenenwesteuropäischen Soldatenkontingente wollen nämlichjetzt verstärkt auf die Ausbildung der libanesischen Ar-mee setzen. Was dieser neue Schwerpunkt bedeutenkönnte, haben jüngst wieder die italienischen UNIFIL-Soldaten gezeigt. Vergangene Woche haben italienischeSoldaten zum wiederholten Mal libanesische Soldatenim Bereich Riot Control, also in der Bekämpfung zivilerAufstände, ausgebildet. Was der Libanon tatsächlichbraucht, ist Hilfe für die vielen Flüchtlinge im Land undnicht eine Armee, die das Zerschlagen von Demonstra-tionen trainiert.
Wenn wir heute über den Libanon sprechen, müssenwir auch darüber sprechen, dass wir dringend eine politi-sche Lösung des Syrien-Konflikts brauchen. Unsere li-banesischen Gesprächspartner jedenfalls haben sich indiesem Zusammenhang über die neue Initiative des US-amerikanischen Präsidenten Obama zur verstärkten Auf-rüstung der Aufständischen entsetzt gezeigt, weil sie da-von ausgehen, dass dies die Region noch mehr destabili-sieren und noch mehr Blutvergießen bedeuten wird. DieBundesregierung schweigt sich dazu bislang leider öf-fentlich aus. Ich finde, das ist wirklich absurd. Ein Teilder Waffen wird an der libanesischen Küste angelandet,wo sie die Bundeswehr selbstverständlich wieder einmalnicht finden wird. Deshalb lautet unser Appell: BeendenSie lieber diesen Einsatz! Die beantragten 23,6 Millio-nen Euro für diesen UNIFIL-Einsatz wären an andererStelle viel besser aufgehoben, zum Beispiel für eine sub-stanzielle Unterstützung des libanesischen Roten Kreu-zes oder eine stärkere Unterstützung bei der Aufnahmevon Flüchtlingen im Libanon. Der Libanon hat bei einerBevölkerung von rund 4 Millionen Einwohnern über1 Million syrische Flüchtlinge aufgenommen. Hier undnicht bei der Bundeswehr sollte ein substanzieller Bei-trag geleistet werden.Danke.
Das Wort hat der Kollege Niels Annen für die SPD-
Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen undHerren! Liebe Kollegin Dağdelen, Sie haben die berech-tigte Frage nach dem Verhältnis von Aufwand zu Er-trag gestellt. Ich glaube, diese Frage lässt sich relativeindeutig beantworten. Wir sollten uns zurückerinnern,welches der Anlass für die maritime Komponente vonUNIFIL war. Ich erinnere Sie an das Jahr 2006. Damalsgab es Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. DieserKrieg hat weit über 1 000 Tote gefordert und wichtigeTeile der libanesischen Infrastruktur zerstört und ist ineiner ökologischen Katastrophe gemündet. Frau Kolle-gin, darf ich Sie daran erinnern, dass es der damalige undheutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier gewe-sen ist, der mit unermüdlichen diplomatischen Anstren-gungen mit dafür gesorgt hat, dass es zu einem Waffen-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3555
Niels Annen
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stillstand gekommen ist, der bis heute hält! Kernelementdieses Waffenstillstands und der entsprechenden Verein-barung ist die maritime Komponente von UNIFIL, überdie wir heute diskutieren. Aufwand und Ertrag stehenalso in einem hervorragenden Verhältnis zueinander,Frau Kollegin Dağdelen.
Ich habe bei der logischen Argumentation, die Sievorgetragen haben, genau zugehört. Sie haben aus einemGespräch berichtet, an dem ich teilgenommen habe. Ichhabe in den letzten Monaten zweimal die Gelegenheitgehabt, mit UNIFIL-Soldaten zu sprechen. Bei einemGespräch waren Sie dabei. Das war ein Briefing amRande des Besuchs von Außenminister Steinmeier. Inder Tat sind bislang keine Waffen gefunden worden.Wenn das Ziel dieser Operation ist, den Küstenschutzinsgesamt zu stabilisieren und die lokale Marine in dieLage zu versetzen, diese Aufgabe eigenständig wahrzu-nehmen,
und alle sagen: „Wir sind in die Lage versetzt wordenund haben in einer ganz schwierigen Situation dafür ge-sorgt, dass dieser Seeraum inzwischen kontrolliert wirdund kein Schmuggel mehr stattfindet“, dann ist das dochein Erfolg und nichts, was man kritisieren sollte. Ichfinde Ihre Logik ein wenig merkwürdig.
Ich will die Gelegenheit nutzen, auf Folgendes auf-merksam zu machen – der Staatssekretär hat bereits da-rauf hingewiesen –: Wir diskutieren nicht über eine iso-lierte Mission, sondern über einen deutschen Beitrag ineiner Region, in der wir einen Konflikt erleben, der in-zwischen biblische Ausmaße angenommen hat, eine Ka-tastrophe von ungekannter Intensität, die uns alle hierbetrifft, wenn es um Flüchtlinge und regionale Stabilitätgeht. Da haben Sie, Frau Kollegin, wie ich finde, zuRecht auf die prekäre Lage im Libanon hingewiesen.Man kann die Zahlen gar nicht häufig genug wiederho-len. Es sind inzwischen über 1 Million Flüchtlinge, dieein Land mit etwas über 4 Millionen Einwohnern auf-nimmt. Das ist eine gigantische Leistung. An dieserStelle muss man vielleicht auch sagen: Ohne den Beitragder Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen,UNHCR, Welternährungsprogramm, aber auch UNIFILim Libanon, wäre dieses Land überhaupt nicht in derLage, mit diesem immensen Druck klarzukommen.Deswegen will ich Ihnen Folgendes berichten: Ichhabe mir die Arbeit des deutschen Einsatzkontingentesin Nakura angeschaut. Vielleicht erinnert sich der eineoder andere an diesen Krieg 2006. Damals gab es eineVereinbarung über eine sogenannte Waffenstillstandsli-nie. Das ist nicht die völkerrechtliche Grenze zwischenIsrael und dem Libanon, sondern es ist eine vereinbarteGrenze, die dort markiert wird. Das ist ein ganz schwie-riger, im Grunde genommen technischer Prozess. Esgeht darum, dass weithin sichtbare, blau angemalte Ton-nen verankert werden, um diese Linie zu markieren.Ich würde das nicht erläutern, wenn es sich nur um ei-nen technischen Prozess handeln würde. Es handelt sichum einen Prozess, auch wenn die libanesische Seite dasoffiziell in dieser Form nicht eingesteht, in dem UNIFIL,Israel und der Libanon zusammenarbeiten. Sie, FrauKollegin, werden bei unserer gemeinsamen Reise in denLibanon festgestellt haben, dass dort über viele Pro-bleme geredet worden ist; aber über ein Problem ist nichtmehr geredet worden, nämlich über den andauerndenKonflikt mit Israel. Der Süden des Libanon ist heute– das muss man einmal sagen – im Grunde genommender sicherste und stabilste Teil des Landes.Ist der Libanon deswegen ein stabilisiertes Land?Nein, natürlich nicht, weil die Konflikte jederzeit wiederaufbrechen können. Aber die Präsenz von UNIFIL unterprofessioneller und engagierter Beteiligung unsererdeutschen Soldatinnen und Soldaten leistet dazu einenessenziellen Beitrag. Wir sollten dazu beitragen, dassdiese Arbeit fortgesetzt werden kann.Deswegen will ich auf Folgendes hinweisen: Die un-terschiedlichen Komponenten – einmal die Präsenz derVereinten Nationen, gerade in diesem ehemals so um-strittenen und umkämpften Teil im Süden des Landes,der technische Vorgang der Markierung, der ein prakti-scher Beitrag zur Vertrauensbildung ist, und die mari-time Komponente, über die wir hier diskutieren – gehö-ren zusammengedacht. Deswegen ist es richtig, dass dieBundesregierung diesen Antrag hier vorgelegt hat.Gleichzeitig tragen wir dazu bei, dass die technischenFähigkeiten der libanesischen Marine verbessert werden,dass die Soldatinnen und Soldaten ausgebildet werden,dass technisches Gerät angeschafft und auch die Fähig-keit vermittelt wird, dieses Gerät eigenständig zu wartenund einzusetzen. Ich halte das für ganz essenziell.Ganz am Ende meines kurzen Beitrages will ich nochFolgendes sagen: Die libanesische Armee genießt etwas,was im Libanon kaum jemand genießt, nämlich Ver-trauen von allen Seiten, und das in einem Land, in demes weiterhin intern massive Probleme gibt. Die soge-nannte Antiterroroperation, begonnen in Tripoli im Nor-den des Landes, dann in der Bekaa-Ebene und im Südenund in der Hauptstadt des Landes fortgeführt, ist von al-len Teilen des politischen Spektrums im Libanon mitge-tragen worden.Riot Control ist etwas, was die libanesische Armeebeherrschen muss, um den Terrorismus beispielsweise inTripoli zu bekämpfen, und zwar mit Unterstützung dergesamten Regierung. Das ist geschehen. Wenn die italie-nischen Soldaten dazu einen Beitrag geleistet haben, ha-ben sie einen Beitrag zum Frieden geleistet.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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3556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Herzlich Willkommenvon meiner Seite aus zum Endspurt.Die nächste Rednerin ist Dr. Franziska Brantner fürBündnis 90/Die Grünen.
Danke. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Liebes Publikum! Aus dem Nahen Ostenkommen seit geraumer Zeit eigentlich nur schlechteNachrichten. Zwischen Israel und Palästina scheint nachden gescheiterten Verhandlungen ein friedliches Neben-einander weiter entfernt denn je, in Ägypten hat sich ge-rade der Exmilitärchef zum Präsidenten „wählen“ las-sen, der sich anschickt, sein Land in die Vor-Mubarak-Ära zurückzuführen, auch in Syrien gibt es einen „Wahl-sieger“, Baschar al-Assad, obwohl die Schreckensherr-schaft weitergeht.Direkt betroffen von diesem Krieg ist eben nicht nurJordanien, sondern auch der Libanon. Es wurde vonNiels Annen gerade schon gesagt: Vom Libanon wurdenüber 1 Million Menschen aufgenommen. Jeder Fünfteim Libanon ist Flüchtling, die Nachbarstaaten Syriensnehmen gerade ungeheure Belastungen – so hat es HerrSteinmeier bezeichnet – auf sich.Leider ist nur selten Positives zu vermelden. Ichglaube, man kann sagen, dass der UNIFIL-Einsatz, derden Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanonabsichert, positive Auswirkungen hat. Man darf nichtvergessen, was zu diesem Einsatz geführt hat. Nach jah-relangen blutigen Auseinandersetzungen im israelisch-libanesischen Grenzgebiet stellte dieser Einsatz, be-schlossen im Jahr 2006, eine Möglichkeit dar, dort we-nigstens für weniger Tote und für etwas Frieden zu sor-gen. Man sollte auch daran erinnern, dass die meistenLeidtragenden der Auseinandersetzungen damals Zivi-listen waren. Viele von ihnen kamen durch diesen Kon-flikt ums Leben.Es geht um eine Mission, die sich in dieser sich täg-lich weiter destabilisierenden Region um zumindest et-was Stabilität bemüht. Ich glaube, wenn diese Missionheute aufhören würde, würden die Spannungen zwi-schen Israel und dem Libanon sofort wieder aufflackern,
weil die Grenzstreitigkeiten noch nicht endgültig beige-legt sind.
Wir wissen ja durch Gerüchte oder schon bewieseneneue Informationen über Rohstoffquellen in diesem Ge-biet, dass der Konflikt dort nach Abzug von UNIFIL be-stimmt nicht kleiner würde; vielmehr könnte es zu einerVerschärfung der Auseinandersetzungen über Grenzfra-gen kommen. Deswegen ist UNIFIL heute immer nochgenauso wichtig wie zuvor.Ein Abzug von UNIFIL wäre politisch nicht nur einfatales Signal für den Libanon, sondern auch für dieganze Region. Das bedeutet nicht, wie ich finde, dasswir der internationalen Gemeinschaft oder Europa Ver-sagen im Hinblick auf den Konflikt in Syrien vorwerfenmüssen, auch wenn es die internationale Gemeinschaftnicht schafft, dort für Frieden und damit für ein Ende derwirklich grausamen Situation – sie ist nicht akzeptabelund nicht länger ertragbar – zu sorgen. Ich habe mich ge-wundert, als ich gelesen habe, dass Gerd Müller, immer-hin einer unserer Minister, der Europäischen Union inder Syrien-Krise ein Aussitzen vorgeworfen hat. Ichhabe mich da schon gefragt: Was trägt die deutsche Bun-desregierung denn dazu bei, diesen Krieg wirklich zu be-enden?
– Wir glauben, dass man über Dialog in dieser Regionwesentlich mehr erreichen könnte und dass man sowohlauf die russische Seite als auch auf die Partner Saudi-Arabien und Katar wesentlich mehr Druck ausübenmüsste.
Beide Seiten sorgen dafür, dass der Konflikt dort anhältund sich somit für sie lohnt, weil sie Waffen dorthin lie-fern können. Für uns ist klar: Beide Kriegsparteien inSyrien haben Akteure hinter sich, die dafür sorgen, dassman von dem Krieg dort profitiert und man sich nichtauf eine friedliche Einigung einlässt.
– Nicht mit Waffenlieferungen; die dürfen auf jeden Fallnicht stattfinden.
Erlauben Sie mir am Ende meiner Rede noch einenkritischen Hinweis zu dem Mandat, über dessen Verlän-gerung wir abstimmen. Nicht nur bei der Debatte überdieses Mandat haben wir festgestellt, dass die Bundesre-gierung im Antrag auf seine Verlängerung darauf ver-zichtet, wichtige Angaben, zum Beispiel die völker- undverfassungsrechtlichen Grundlagen, den Auftrag, dieeinzusetzenden Fähigkeiten, den Rechtsstatus und dasEinsatzgebiet, explizit zu nennen. Stattdessen verweistsie einfach nur auf die Fortgeltung der Regelungen deracht Mandatsbeschlüsse seit 2006. Wir bitten wirklichdarum, dass die Bundesregierung dem Bundestag künf-tig Mandate vorlegt, die zumindest die im Parlamentsbe-teiligungsgesetz aufgeführten Angaben enthalten. Im In-teresse aller Abgeordneten wünschen wir uns, dass uns
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. Juni 2014 3557
Dr. Franziska Brantner
(C)
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diese Angaben wieder vollständig und korrekt vorgelegtwerden.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke, Frau Kollegin Brantner. – Nächster Redner
für die CDU/CSU-Fraktion ist Philipp Mißfelder.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Frau
Dr. Brantner, ich kann mich noch daran erinnern, dass
vor nicht allzu langer Zeit hier einmal eine Abgeordnete
– sie ist heute Ministerin – gestanden und ein Lied ge-
sungen hat; singen kann ich nicht so gut wie sie. Ich
kann nur sagen, dass der Inhalt des Liedtextes in etwa
dem entsprach, was Sie gerade an außenpolitischer Kon-
zeption aufgezeigt haben: Sie malen sich die Welt, wie
es Ihnen gefällt. Nichts anderes machen Sie.
Den wegweisenden und bahnbrechenden Hinweis, man
solle jetzt auf Dialog setzen, nehmen wir gern auf. Nur:
Das tun wir seit Ausbruch des Konflikts.
Angesichts dessen bin da ein bisschen sprachlos. Ich
weiß nicht, was wir da noch tun sollen. Ich weiß nicht,
wie lange Sie jetzt schon dabei sind, Frau Brantner – ich
habe nicht im Volkshandbuch nachgesehen –, aber lassen
Sie sich von einem zweifellos älteren Abgeordneten sa-
gen:
Auch in der vorherigen Koalition haben wir auf Dialog
gesetzt. Ich habe hier schon mehrmals zum Thema ge-
sprochen, das letzte Mal vor ein paar Tagen, als wir den
gemeinsamen Antrag zu Syrien auf den Weg zu bringen
versucht haben.
Der Konflikt, was Syrien angeht, hat sich natürlich
auch insgesamt verändert. Man ging von einer ganz an-
deren Ausgangssituation aus. Wir haben über Monate
hinweg Treffen mit den sogenannten Friends of Syria ge-
habt, die wir für die – in Anführungszeichen – „Richti-
gen“ gehalten haben, zumindest für solche, die hehre
Motive für die Zukunft ihres Landes haben. Nur: Wäh-
renddessen hat sich der Konflikt verändert, wie Sie ja
selbst sagen. Von außerhalb des Landes sind zusätzliche
Spieler hinzugekommen – mit eigenen Interessen und
mit einer eigenen Agenda.
Die Alternative zu unserer Dialogbereitschaft damals
wäre Intervention gewesen. So schlimm das Leid in
Syrien auch ist: Ich bin froh, dass wir nicht interveniert
haben, weil ich mir sicher bin, die Situation wäre da-
durch nicht besser geworden.
Deshalb sage ich, dass es von uns richtig war, von An-
fang an die militärische Option vom Tisch zu nehmen.
Herr Mißfelder, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung des Kollegen Omid Nouripour? Er ist ein
bisschen älter als Sie.
Selbstverständlich, Frau Präsidentin.
Wollen Sie eine Bemerkung dazu machen, Herr
Mißfelder? – Nein. Gut.
Nein; ich nehme das einfach so hin.
Herr Nouripour, bitte.
Herr Kollege Mißfelder, herzlichen Dank, dass Sie
die Zwischenfrage zulassen.
Selbstverständlich.
Ich glaube nicht, dass jemand im Hohen Hause sagenwürde: Es gibt eine klare militärische Lösung für die Si-tuation in Syrien. – Aber das, was die Kollegin Brantnerangesprochen hat, blieb unbeantwortet. Die Frage wardoch – und das ist gerade auch aus Ihren Reihen gekom-men –: Wie kann man denn Druck auf Staaten machen,die doch einiges an Unheil ins Land bringen? Zu nennensind auf der einen Seite die Russen und die Iraner, aufder anderen Seite die Golfstaaten. Wir sagen ja – nichtmeine Fraktion, aber die Bundesrepublik sagt es dieganze Zeit –, dass genau diese Golfstaaten unsere Part-ner sind.Also: Welche Vorstellung haben Sie davon, wie wirDruck auf Saudi-Arabien und Katar machen können?Das sind Staaten, von denen wir wissen, dass sie, wäh-rend wir ihnen gleichzeitig Waffen liefern, Gruppierun-gen finanzieren, die nicht nur Terror nach Syrien brin-
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Omid Nouripour
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gen, sondern auch in Ländern wie Afghanistan oder MaliGruppen finanzieren, die auf Bundeswehrsoldaten schie-ßen. Wie wollen Sie diesen Druck überhaupt aufbauenund aufrechterhalten?
Sie sprechen die Problematik zu Recht an. Das betrifft
unsere Partner in Peace und unsere Partner im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus ganz klar. Die Ja-
nusköpfigkeit manch unserer Partner in der Region ist
uns schon bewusst. Sie ist ja auch Ihnen bekannt; Sie
sind ja bei den Besprechungen dabei, Herr Kollege
Nouripour.
An einer Stelle muss ich Sie korrigieren. Wenn Sie
per se sagen: „Saudi-Arabien unterstützt das, Katar un-
terstützt das“, dann ist das nicht ganz korrekt; das wissen
Sie selbst. Es sind zum Teil Einzelpersonen, die konkrete
Aktionen unterstützen. Ich würde sie nicht gleichsetzen
mit dem Staat. Davor würde ich warnen. Das ist gerade
der Balanceakt, den man in der gesamten Golfregion
schaffen muss. Es ist ja so, dass wir die Golfstaaten nicht
als Partner abschreiben wollen, sondern mit ihnen zu-
sammenarbeiten wollen, wissend, dass es schwierige
Partner sind und dass Einzelpersonen, wenn nicht sogar
größere Gruppierungen in einzelnen Ländern, Leute, die
sehr viel Einfluss haben, konkret hinter solchen Aktio-
nen stecken. Wir können die ja zum Teil genau lokalisie-
ren und auch konkret benennen, wer das ist. Aber ich
würde trotzdem nicht sagen: Der Staat Saudi-Arabien
selbst ist hier die treibende Kraft. – Das würde ich schon
differenzierter darstellen. Was die Art und Weise der Zu-
sammenarbeit angeht: Ich kann Ihnen da – wir haben da-
rüber schon oft gesprochen – nur recht geben. Es gibt
halt kein Schwarz und Weiß in dieser Region; es gibt
aber Interessen.
Wir reden hier über UNIFIL. Denken Sie nur daran
zurück, wie UNIFIL auf den Weg gekommen ist.
UNIFIL ist – Niels Annen hat es angesprochen – auf den
Weg gekommen, weil wir damals einen Beitrag dazu
leisten wollten, das Existenzrecht des jüdischen Staates
Israel zu sichern. Das war der Ausgangspunkt. Bei uns
lief die Debatte damals eigentlich in die falsche Rich-
tung. Bei uns haben alle ausgeschlossen, dass Deutsch-
land in dieser Region militärisch tätig werden könne,
während der damalige israelische Premierminister
Olmert uns öffentlich aufgefordert, eingeladen und drin-
gend gebeten hat, tätig zu werden. Wir wurden tätig,
aber nicht mit Landstreitkräften, sondern mittels eines
sehr moderaten und, wie ich finde, gelungenen Beitrages
im Rahmen von UNIFIL. Deshalb ist dieses Mandat
auch eine Erfolgsgeschichte.
Wenn wir über die Region insgesamt reden, dann dür-
fen wir die deutschen Interessen nicht außen vor lassen.
Dazu gehören auch wirtschaftliche Interessen und vieler-
lei andere Aspekte. Definitiv gehört aber auch der
Schutz Israels dazu.
Wir beschäftigen uns mit der Menschenrechtssitua-
tion in Saudi-Arabien eingehend. Es ist zum Teil sehr
schwer nachvollziehbar, was dort passiert. Aber aus stra-
tegischen Gründen gilt: Saudi-Arabien ist und bleibt ein
wichtiger Verbündeter und Partner für uns, wenn es da-
rum geht, den Hegemon Iran teilweise in seine Schran-
ken zu weisen. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich
sagen. In welchem Grad Unterstützung und Kooperation
stattfinden kann, das wird im Bundessicherheitsrat – das
steht ja in der Zeitung – offenbar sehr lebhaft diskutiert.
Wir im Parlament spiegeln diese Diskussion wider und
tun uns deshalb mit Rüstungsexporten insgesamt sehr
schwer. Niemand trifft hier leichtfertige Entscheidungen.
Ich komme zum UNIFIL-Mandat zurück. Ich halte
dieses Mandat, wie gesagt – ich wiederhole mich – nach
wie vor für eine Erfolgsgeschichte. Es zeigt, wie einsatz-
fähig unsere Streitkräfte mittlerweile sind und zu welch
großartigen Leistungen sie in der Lage sind. Ich sehe
diesen Einsatz auch deswegen als Erfolgsgeschichte an,
weil es nicht jeden Tag Vorkommnisse gibt. Ehrlich ge-
sagt, wünsche ich mir das auch nicht. Lieber berate ich
hier über ein Mandat, bei dem es nur wenige Zwischen-
fälle gibt und das nach außen weniger spektakulär zu
sein scheint. Ich werte dieses Mandat also als vollen Er-
folg und sage im Namen meiner Fraktion die Unterstüt-
zung für dieses Mandat zu.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Mißfelder. – Nächster
Redner ist Thomas Hitschler für die SPD.
Sie sagten viel, sie schrieben viel,Tränenschiffe und Seidenlandschaften.Gedichte, die das Ende der Erde erreichten,verwundete Gedichte.Sie sagten: Die Heimat des Taubengurrens verfällt,die Heimat der Zeit, die abermals baute und lehrte.Und die Erde weinte.Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Diese Zeilen stammen von der libanesischenSängerin Fairuz. 1978 veröffentlichte sie das Lied „DerVogel kehrt zurück“, zu einer Zeit, als sich ihr Heimat-land mitten in einem blutigen Bürgerkrieg befand.Fairuz hat sich damals bewusst nicht für eine Seite ent-schieden. Sie engagiert sich für die Einheit von Nordenund Süden, von Arm und Reich, von allen Menschen imLibanon und für den Frieden. Dies ist ein wichtiger Bei-trag in einem Land, das wie kaum ein anderes in der Re-gion von verschiedenen Konfliktlinien durchzogen undgeteilt wird. Nicht zuletzt deshalb gilt Fairuz als eine derbeliebtesten und am meisten respektierten Persönlichkei-ten in der arabischen Welt.Im Jahr 1978 startete die Mission UNIFIL, über diewir gerade beraten. Heute ist es jedoch der Bürgerkriegim benachbarten Syrien, der die Sicherheit im Libanonbedroht – zusätzlich zu allen anderen Problemen, die
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Thomas Hitschler
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dieses Land hat. Wir haben die Zahlen heute schon daseine oder andere Mal gehört: Etwa 1 Million Flüchtlingeaus Syrien sind im Libanon, eine enorme Belastung fürein Land mit gerade einmal 4 Millionen Einwohnern.Zum Vergleich: Deutschland müsste die gesamte Bevöl-kerung Australiens aufnehmen, um eine ähnliche Quotezu erreichen.
Bei uns finden aber gerade einmal 40 000 syrischeFlüchtlinge Zuflucht. Ich meine, Deutschland müsste daeiniges mehr tun. Frank-Walter Steinmeier hat in dervergangenen Woche angekündigt, mehr Menschen ausSyrien nach Deutschland zu holen und ihnen damitSchutz zu gewähren. Gut, wieder einen echten Außen-minister zu haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es muss auch unser Anliegen sein, den Libanon zuentlasten. Die großen Flüchtlingsströme haben enormeAuswirkungen auf die Lage der Gesellschaft, Auswir-kungen auf das fragile Gleichgewicht zwischen denKonfessionen. Auch hier müssen wir helfen.Die Syrienkrise hat auch enorme Auswirkungen aufdie wirtschaftliche Entwicklung des Libanon, und sie istin hohem Maße sicherheitsrelevant, nicht nur, weil dieHisbollah an der Seite Assads und sunnitische Kräfteaufseiten der Rebellen direkt in den Konflikt eingreifen.Es grenzt eigentlich an ein Wunder, dass der syrischeBürgerkrieg noch nicht auf den Libanon übergegriffenhat.Die aktuelle Situation im Libanon gleicht, wenn mandas vergleichen darf, dem Spiel „Jenga“, bei dem mankleine Bausteine aus einem Turm ziehen muss. Wenn derTurm umfällt, hat man verloren. Nur gewinnen würde imLibanon niemand. Mit den genannten Konfliktlinien, mitAkteuren wie der Hisbollah, mit den demografischen,wirtschaftlichen und sozialen Problemen und dem Bür-gerkrieg vor der eigenen Haustür schwankt der libanesi-sche Turm gewaltig. UNIFIL mag dabei nur ein kleiner,ein stabilisierender Baustein sein. Wer ihn in dieser Si-tuation jedoch wieder herauszieht, riskiert den Zusam-mensturz des gesamten fragilen Gebildes mit schlimmenFolgen für die Region.
UNIFIL ist ein Beitrag zu mehr Stabilität. Bei allenZwischenfällen an den libanesischen Grenzen möchteich mir nicht ausmalen, wie die Lage ohne die Missionaussehen würde. Dass sich die libanesische und die is-raelische Armee bei regelmäßigen Treffen im UNIFIL-Hauptquartier direkt austauschen können, ist ein von al-len Seiten hochgeschätzter Beitrag zu mehr Stabilität.Der Aufbau der Marine mit dem Ziel einer eigenständi-gen Sicherung der Seegrenzen ist ein langfristiger Bei-trag zu mehr Stabilität.Wir müssen die Kräfte in der Region stärken, die sichfür mehr Stabilität einsetzen. Wir müssen den Dialogund die Zusammenarbeit zwischen allen gesellschaftlichrelevanten Akteuren unterstützen. Und wir müssen wei-terhin helfen, tragfähige Sicherheitsstrukturen aufzu-bauen. Dazu wird auch der deutsche Beitrag zu UNIFILbenötigt, der sowohl von den Vereinten Nationen alsauch von der libanesischen und der israelischen Regie-rung ausdrücklich begrüßt wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mission UNIFIList eine der ältesten UN-Missionen überhaupt. Ange-sichts dieser langen Zeit wäre es naiv, zu hoffen, dass sieschon bald überflüssig sein könnte. Nicht aufgeben willich aber die Hoffnung, dass ein erneuter Bürgerkrieg imLibanon verhindert werden kann, dass der Frieden unddie Vögel zurückkehren bzw., um es mit den Worten vonFairuz zu sagen:Aber wir kehren zurück.Wir kehren aus Bränden zurück.Aus Straßen unter Geschossen.Der wahre Libanon kehrt zurück,räumt gefärbte Geschichteund falsche Versprechen weg.Und der Winter nimmt sie fort.Liebe Heimat,der Fluss glüht vor Freude,und mit der Morgendämmerung wird das Lebenstrahlen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege, auch für die schönen Zi-
tate, die Sie gebracht haben. Wie heißt das Spiel, das Sie
genannt haben? Ich habe neugierige Blicke gesehen.
Jenga.
Jenga. Gut, beim nächsten Mal werden wir es spielen.
Mal schauen, welcher Turm dann einstürzt.
Letzter Redner in der Debatte ist Florian Hahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Bevor ich zum Thema komme, möchte ichkurz Stellung nehmen zu dem Zwischenruf, den ich vor-hin gemacht habe. Ich möchte nämlich nicht, dass derKollege Mißfelder frustriert in die Ferien geht. Ichmeinte natürlich, dass der Kollege Nouripour jünger aus-sieht, als er ist. Das war nicht auf dich gemünzt, lieberPhilipp; nur, damit da nichts aufkommt.
:
Aha!)Als letzter Redner vor den Pfingstferien, darf ich viel-leicht eins sagen: Spätestens nach Ihrer Rede, FrauDağdelen, bin ich urlaubsreif. Die Mischung aus Ideolo-gie, Weltverschwörungstheorie und Unsinn ist so un-
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Florian Hahn
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glaublich anstrengend – das war leider nicht das ersteMal in dieser Woche –, dass ich froh bin, dass wir gleichin die Ferien gehen können.
Meine Damen und Herren, wenn wir über die interna-tionalen Mandate sprechen, stellen wir naturgemäß dendeutschen Beitrag ganz besonders heraus. Ich möchteaber heute mit Brasilien beginnen. Wenn man über Bra-silien redet – aktuell denkt man hier vor allem an denFußball und die kommende Fußballweltmeisterschaft;darüber hinaus fallen einem vielleicht noch andere Bra-silienklischees ein –, vergisst man meistens, dass es umein aufstrebendes Schwellenland geht, das internationaleVerantwortung übernimmt und sich im Rahmen der Ver-einten Nationen militärisch engagiert. Schon seit Anfang2011 führt Brasilien den Flottenverband, die MaritimeTask Force, im Rahmen von UNIFIL an. Dafür möchteich an dieser Stelle Brasilien ganz herzlich danken.
Daneben sind noch viele andere Nationen vor derKüste des Libanon beteiligt. Insgesamt haben schon15 Nationen die Maritime Task Force unterstützt. Zur-zeit sind etwa 10 500 Soldatinnen und Soldaten imUNIFIL-Einsatz, davon etwa 1 000 im Flottenverband.Dieser besteht aus drei Fregatten aus Brasilien, Indone-sien und Bangladesch sowie vier Patrouillenbooten ausBangladesch, der Türkei, Griechenland und Deutsch-land. Hier ist das Schnellboot „Wiesel“ unterwegs.Die Operation UNIFIL dient als Friedensmission zumeinen der Begleitung der Waffenruhe zwischen dem Li-banon und Israel und zum anderen der Unterstützung derlibanesischen Regierung bei der Grenzsicherung. Derdeutsche Beitrag dient im Schwerpunkt dem Ausbau derFähigkeiten der libanesischen Marine, Küste und Terri-torialgewässer zu überwachen, damit sie sie irgendwanneinmal selbstständig überwachen kann. Unsere Beteili-gung soll bis zum 30. Juni 2015 mit einer unverändertenPersonalobergrenze von 300 Soldatinnen und Soldatenfortgesetzt werden.UNIFIL war bislang erfolgreich. Die Mission ist abernoch nicht abgeschlossen. Damit ein nachhaltiger Erfolgsichtbar wird, müssen wir das Engagement fortsetzen.Aufbau und Training der libanesischen Marine sindwichtig, damit der Libanon seine Sicherheitsaufgabenkünftig eigenverantwortlich wahrnehmen kann. Hierbeiwurden erste Erfolge erzielt.Hervorzuheben ist, dass Israel ebenso wie die libane-sische Regierung und die Vereinten Nationen weiterhingrößten Wert auf eine deutsche Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband legen. UNIFIL wird auch als Forum fürVertrauensbildung und Austausch zwischen Israel undLibanon genutzt.Die Beteiligung am Flottenverband ist – wie bei prak-tisch allen unseren Mandaten – nur ein Teil eines umfas-senderen Engagements für den Libanon und die gesamteRegion. Deutschland hilft dem Libanon bei der Durch-führung des nationalen Dialogs, beim Hariri-Tribunal,bei der Verbesserung der Flüchtlingssituation, bei derGrenzsicherung, beim Wiederaufbau der Wasser- undAbwasserinfrastruktur sowie bei der Berufsausbildung.Der deutsche Beitrag im Rahmen von UNIFIL ist einwichtiges Element im Hilfskonzept für den Libanon unddie Region. Für mich ist er durch den klar greifbarenNutzen, die erkennbaren Fortschritte bei der libanesi-schen Marine, ein besonders überzeugender Beitrag.Wie bei vielen anderen Einsätzen zeigt sich auch hier,wie viel man mit einem konsequenten und durchdachtenEinsatz bewegen kann. Dies wird auch auf libanesischerSeite anerkannt. Gerade in dieser zerrissenen Region, indiesem Land am Abgrund, ist dieses enge Zusammen-wirken ein kleines, ermutigendes Signal.Hier ist in den Jahren seit 2006 nicht nur eine pro-fessionelle Beziehung vertieft worden, sondern auchFreundschaft gewachsen. Im letzten November pflanz-ten deutsche und libanesische Soldaten im Marinestütz-punkt Beirut eine deutsche Steineiche als Geschenk andie libanesische Marine. Der deutsche UNIFIL-Kon-tingentführer merkte an: „Wir pflanzen einen jungenBaum, der so groß und stark werden soll wie die Freund-schaft zwischen unseren Marinen“. Die Tafel neben demBaum trägt die Inschrift: „Wo Freunde sind, da istReichtum“.Ich wünsche Ihnen allen schöne Pfingstferien.
Vielen Dank, Herr Kollege Hahn.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1417 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ja. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Dienstag, den 24. Juni 2014, 10 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen,
aber auch unseren Gästen und den Mitarbeitern des Hau-
ses ruhige, friedliche und schöne Pfingsttage. Wer daran
glaubt: Hoffentlich schickt uns der Heilige Geist ziem-
lich viel Erleuchtung. Schöne Pfingsten und bis zum
nächsten Mal!
Die Sitzung ist geschlossen.