Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Die Beratung des gestern mit der Zusatzpunktlisteaufgesetzten Antrags der Fraktion der F.D.P. zur Er-weiterung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersu-chungsausschusses ist für eine der folgenden Plenarsit-zungen vorgesehen. Er soll daher von der heutigen Ta-gesordnung abgesetzt werden.Der in der 59. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene Entwurf eines Altenpflegegesetzes derBundesregierung auf Drucksache 14/1578 soll nachträg-lich auch dem Rechtsausschuss überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragteJahresbericht 1998
– Drucksachen 14/500, 14/1807 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe GöllnerWerner SiemannIch erteile der Wehrbeauftragten, Frau Marienfeld,das Wort.Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des DeutschenBundestages: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Die Bundeswehr steht mitihrem Engagement in Bosnien-Herzegowina und im Ko-sovo vor der größten Einsatzherausforderung ihrer Ge-schichte. Die Beanspruchung von Mensch und Materialist erheblich, und zwar nicht nur an den Einsatzstandor-ten, sondern auch an den Heimatstandorten. Die perso-nellen und materiellen Lücken können oftmals nur durcheine hoch entwickelte Form von militärischer Improvi-sationskunst geschlossen werden. Immer öfter könnendie Lücken aber gar nicht mehr geschlossen werden.Soldaten in so genannten Mangelverwendungen wiezum Beispiel die Angehörigen des Sanitätsdienstes oderder Fernmeldetruppe müssen damit rechnen, mehrmalsin einen Auslandseinsatz kommandiert zu werden.Nun ist es zwar richtig und entspricht auch meinenBeobachtungen, dass die dienstliche Motivation der Sol-datinnen und Soldaten im Einsatzland außerordentlichhoch ist. Wenn aber angesichts einer regelmäßigenKontingentdauer von sechs Monaten trotz der verdienst-vollen Arbeit von Familienbetreuungszentren das privateUmfeld, die Ehen und die Familien der Soldaten in einerWeise beansprucht werden, dass Entfremdungen undKrisen entstehen, dann kann der Preis für den gezeigtenEinsatzwillen zu hoch werden. Motivations- und in derFolge Leistungseinbrüche werden so häufiger.Der Dienst in der Bundeswehr wird unter den gege-benen Verhältnissen nicht mehr als hinreichend attraktivangesehen. Gerade erst sind entsprechende Zahlen überdie Nachwuchslage veröffentlicht worden. Nehmen wirdiese Zahlen und das von ihnen ausgehende Signal ernst.Die Herausforderung der Bundeswehr vor dem Hinter-grund der gewachsenen internationalen Verantwortungder Bundesrepublik Deutschland und die sich daraus er-gebende besondere Fürsorgepflicht des Dienstherrn fürseine Soldaten müssen gerade auch in diesem Hause aufVerständnis treffen.Mit dem Gesichtspunkt der Fürsorge des Dienstherrnfür seine Soldaten berühre ich einen Kernbereich der in-neren Führung. Nun gibt es in dieser Hinsicht vieleGemeinsamkeiten mit dem Bundesminister der Vertei-digung. Gleichwohl habe ich Veranlassung, die konse-quente Umsetzung solcher gemeinsamen Grundüber-zeugungen bei der Lösung der einzelnen Problemstel-lungen einzufordern. Wenn ich beispielsweise in mei-nem letzten Jahresbericht unter der Überschrift „KleineMängel, großer Ärger“ auf flächendeckend auftretendeSchwierigkeiten wegen fehlender Ersatzteile undKleinmaterialien hingewiesen habe, dann erwarte ichauch Aufklärung darüber, inwieweit hier fehlende Mitteloder organisatorische Mängel und Nachlässigkeiten ur-sächlich sind, die letztlich durch angemessene dienstauf-sichtliche und planerische Maßnahmen zukünftig ver-hindert werden können.
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7596 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Der Minister hat in seinen ZielgruppengesprächenAnfang des vergangenen Jahres eine Entbürokratisie-rung und Modernisierung gerade des Beschaffungswe-sens angekündigt. Meine Wahrnehmung ist, dass dieSoldaten sehr auf die Erschließung der Effizienzreservenin diesem Bereich hoffen. So wird mit großer Aufmerk-samkeit beobachtet werden, ob und welche praktischenKonsequenzen die vertragliche Vereinbarung zwischendem Bundesminister der Verteidigung und namhaftenFirmen der deutschen Wirtschaft haben wird.Schwierigkeiten gibt es auch in der sanitätsdienstli-chen Versorgung in den Heimatstandorten. Auf dem Pa-pier gibt es zwar eine recht zufrieden stellende Nach-wuchs- und Stellenbesetzungslage bei den Sanitätsoffi-zieren und auch beim Sanitätsassistenzpersonal. In derRealität sieht dies aber anders aus. Einsatz- und lehr-gangsbedingte bzw. auch mutterschaftsbedingte Ausfällesind an der Tagesordnung. Im Jahr 1998 lag beispiels-weise die durchschnittliche Tagesantrittsstärke bei Sa-nitätsoffizieren knapp über 50 Prozent. Ständiger Arzt-wechsel und überbeanspruchte Militärärzte, die dem ein-zelnen Patienten einfach nicht mehr gerecht werdenkönnen, machen die sanitätsdienstliche Versorgung derSoldaten zu einem Dauerthema. Im Interesse der Men-schen, die hier Arbeit und Aufgabe finden, bitte ich umschnelle Verbesserung und Planungssicherheit.Mit Bezug auf einen weiteren Einzelpunkt möchte ichdas Thema Infrastruktur aufgreifen. Das Bundesministe-rium der Verteidigung hat meine Anmerkungen dahingehend kommentiert, dass die angespannte Haushaltsla-ge die Beseitigung selbst gravierender Mängel in ange-messenen Zeiträumen nicht zulasse. Ich möchte hier wieauch im Bereich der Überalterung von ausbildungs- undeinsatzwichtigem Gerät mit aller Deutlichkeit daraufhinweisen, dass wir es hier mit einer seit vielen Jahrenanhaltenden Entwicklung zu tun haben. In den Jahrenunmittelbar nach der Wiedervereinigung war es richtig,die Kasernenanlagen in den neuen Bundesländern zu re-staurieren, um das passende Wort zu verwenden. Jetztdroht in den alten Bundesländern vielfach ebenfalls derVerfall der Liegenschaften. Unter ökonomischen Ge-sichtspunkten ist hierbei zu bedenken, dass unterlasseneErhaltungsinvestitionen eine Bugwelle von in der Fol-gezeit notwendig werdenden teureren Baumaßnahmennach sich ziehen.
Mein Punkt ist aber vor allen Dingen: Die Soldaten ha-ben einen Anspruch auf menschenwürdige Truppenun-terkünfte sowie hygienische Verhältnisse in Truppenkü-chen und Sanitätseinrichtungen.Ich möchte zu einem ganz anderen Thema kommen,bei dem sich im zurückliegenden Jahr eine ausgespro-chen positive Entwicklung vollzogen hat. Bei der Prä-sentation meines Jahresberichts im März 1999 habe ichdarauf hingewiesen, dass 1998 in der Truppe zwar dieZahl der bestätigten Vorkommnisse mit rechtsextremi-stischen Hintergrund zugenommen habe, dass dieseEntwicklung jedoch vor dem Hintergrund einer gewach-senen Sensibilisierung und Meldebereitschaft nicht alsBesorgnis erregend zu werten sei. Durch die Erkenntnis-se des Jahres 1999 fühle ich mich in dieser Einschätzungbestätigt; denn es konnte ein deutlicher Rückgang derZahl der einschlägigen Vorkommnisse verzeichnet wer-den. Wir werden es fast mit einer Halbierung zu tun ha-ben. Angesichts dessen möchte ich der militärischenFührung für die eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesse-rung der politisch-historischen Bildung, zur Intensivie-rung der Dienstaufsicht und schließlich auch zu einerkonsequenten Ahndung rechtsradikaler Vorfälle aus-drücklich danken.
Vorgesetzte auf allen Ebenen haben daran teil, dass dieMaßnahmen so positiv gegriffen haben.Abschließend möchte ich noch eine Wahrnehmungvermitteln, die sich an knapp 200 Tagen bei Truppenbe-suchen in 1998 und 1999 immer wieder bestätigt hat. Ichmöchte diese Wahrnehmung mit einer Bitte verbinden.Die Wahrnehmung ist: Soldaten sind bereit, vieles leisezu ertragen. Sie sind Staatsdiener im besten Sinne desWortes. Sie leben seit Jahren mit Veränderungen – auchtief greifenden Veränderungen – ihrer beruflichen undprivaten Lebensplanung, zum Teil auch mit herben per-sönlichen Enttäuschungen. Die Truppe wird sich bemü-hen, auch im Jahre 2000 alle Erwartungen zu erfüllen.Leiden wird sie nur, wenn der Virus der Planungsunsi-cherheit und der Gerüchte und Befürchtungen weitergrassiert. Meine Bitte ist, höchste Priorität auf Klarheitund Wahrheit zu legen.
Die Änderungen in Struktur und Ausstattung derBundeswehr zu definieren, ist die verantwortungsvolleAufgabe des Bundesministers. Natürlich ist der Inhaltder politischen Entscheidung das Wichtigste. Aber eskommt hinzu: Es ist auch die Form der Vermittlung indie Truppe hinein, die Möglichkeit des Verstehen-Könnens aus der Sicht der Soldaten.Ende April endet meine Amtszeit. Ich habe mich ent-schieden, nicht erneut für dieses Amt zu kandidieren.Ich spreche also heute zum letzten Mal vor Ihnen. Ichmöchte die Gelegenheit nutzen, den Mitgliedern desVerteidigungsausschusses und insbesondere den beidenMinistern, dem alten und dem neuen Minister, für dievertrauensvolle Zusammenarbeit in den letzten fünf Jah-ren herzlich zu danken.Meine persönliche Bilanz ist – bei allen Schatten, dienaturgemäß mit dieser Aufgabe verbunden sind – unein-geschränkt positiv. Ich danke Ihnen, meine Damen undHerren, dass Sie mir dieses schöne und interessante Amtübertragen haben.Herzlichen Dank.
Wehrbeauftragte Claire Marienfeld
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7597
Frau Marienfeld, ich
darf Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
im Namen des ganzen Hauses ein herzliches Danke-
schön für Ihre Arbeit sagen.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Uwe Göllner,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Wir diskutieren heute den Bericht derWehrbeauftragten für das Jahr 1998. Wir haben ebengehört: Es wird der letzte Bericht sein, der unter derVerantwortung der ersten Frau, die dieses schwere undschöne Amt ausgeübt hat, abgegeben worden ist. Ichdarf im Namen meiner Fraktion – ich vermute aber,auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen der an-deren Fraktionen – der Frau Wehrbeauftragten für diefünfjährige Arbeit, die sie geleistet hat, danken. FrauMarienfeld, ich habe Ihre Arbeit drei Jahre begleitet. Eswar eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sie war es injeder Situation – unabhängig von der Parteizugehörig-keit –, was in diesem Parlament selten geworden ist, wasuns Kolleginnen und Kollegen im Sicherheitsbereichaber auszeichnet. Herzlichen Dank, Frau Marienfeld!
Meine Damen und Herren, die Institution des Wehr-beauftragten ist im letzten Jahr 40 Jahre alt geworden.Sie ist eine Einrichtung des Parlaments und hat ganz we-sentlich dazu beigetragen, dass die Bundeswehr in derdeutschen Gesellschaft großes Ansehen genießt. DiesesAnsehen reicht weit über die Grenzen der Bundesrepu-blik Deutschland hinaus. Hätten nicht vor etwas mehrals 40 Jahren Rainer Barzel, Helmut Schmidt, ErichMende und andere diese Institution, wie sie in Art. 45 bdes Grundgesetzes beschrieben ist, geschaffen, somüssten wir sie heute erfinden.Ich setze diese lobenden Worte an den Anfang meinerAusführungen, weil die positiven Grundansätze in derDiskussion um den Bericht der Wehrbeauftragten, dermeist als Mängelbericht diskutiert wird, naturgemäß inden Hintergrund treten. Bei all diesen Mängeln, über diewir in der Debatte zu diesem Bericht reden werden, darfeines nicht vergessen werden: In der Einrichtung Bun-deswehr arbeiten 340 000 Soldaten und nahezu 150 000Zivilbeschäftigte. Wenn man diese Zahlen in Verhältniszu den im Bericht erwähnten Mängeln setzt, dann kannman feststellen: Die Bundeswehr ist auch im Berichts-jahr 1998 ihrem positiven Ruf in der BundesrepublikDeutschland durchaus gerecht geworden.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und derF.D.P., Sie haben, als Sie noch in der Regierung waren,die Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Un-tersuchungsausschuss abgelehnt. Dies war aus meinerSicht ein Fehler; denn die Bundeswehr hat die mit die-sem Untersuchungsausschuss verbundenen Chancen vollgenutzt. Unter der umsichtigen Leitung der KollegenRossmanith und Heistermann hat der Untersuchungsaus-schuss die Bundeswehr von dem Verdacht befreit, esgäbe in ihr rechtsradikale Netzwerke. Nach den Beob-achtungen der Wehrbeauftragten geht die Bundeswehrheute mit der Traditionspflege weit bewusster und aus-gewogener um als je zuvor.
Die Zahl der vermeintlichen und tatsächlichen Vor-fälle mit rechtsextremistischem Hintergrund hat sich imBerichtsjahr nicht verringert; die Frau Wehrbeauftragtehat vorhin darauf hingewiesen. Aber es ist zu berück-sichtigen, dass dies Ausfluss der höheren Sensibilisie-rung und Meldebereitschaft innerhalb der Bundeswehrist. Ich denke, wir müssen das als Ergebnis der von derBundeswehr vorgenommenen Abwehrmaßnahmen wer-ten. Grund, sich zurückzulehnen, ist dies dennoch nicht.Ich habe schon vor zwei Jahren in der Diskussion umden Bericht der Wehrbeauftragten darauf hingewiesen,dass die Bundeswehr in puncto Rechtsradikalismus ebenkein Spiegel der Gesellschaft sein darf. Sie muss in die-sem Bereich besser sein als der Durchschnitt der Gesell-schaft.Der politischen Bildung gebührt daher unsere hoheAufmerksamkeit. Gerade vor dem Hintergrund der Ein-sätze im Ausland macht dies großen Sinn. Im Berichts-jahr waren 7500 Männer und Frauen der Bundeswehr imAusland stationiert. Die Art und Weise, wie sie ihrenDienst dort verrichtet haben, hat das Ansehen der Bun-deswehr und damit der Bundesrepublik Deutschland imAusland, insbesondere bei unseren Verbündeten, sehrgestärkt. Dafür gilt es Dank zu sagen.
In diesen Dank müssen wir auch all jene Soldaten ein-schließen, die die dadurch im Inland aufgerissenen Lük-ken klaglos geschlossen haben.
Über den positiven Gesamteindruck dürfen wir abernicht die negativen Kleinigkeiten, auf die die FrauWehrbeauftragte hingewiesen hat, vergessen, die denAlltag der Soldaten oft unnötig belasten. Die FrauWehrbeauftragte oder ihr Nachfolger bzw. ihre Nachfol-gerin muss deshalb mit dem Verteidigungsministeriumauch künftig im ständigen Dialog bleiben.Meine Damen und Herren, auf den hohen Stellenwertder politischen Bildung in der Bundeswehr habe ichhingewiesen. Es ist erschreckend, wie wenig junge Sol-daten politische und historische Zusammenhänge erken-nen und vor allen Dingen bewerten können. Die Defizitebei den Kenntnissen über unsere Werte und Normensind oft beachtlich. Dabei erfordert gerade das Bild desStaatsbürgers in Uniform einen Soldaten, der den eige-nen Auftrag und den Auftrag der Bundeswehr in politi-sche Zusammenhänge einordnen kann.Die Bundeswehr kann gesellschaftliche Versäumnissenaturgemäß nicht nachholen, aber sie kann sie mildern.
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7598 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Wenn die Frau Wehrbeauftragte im Jahresbericht 1998zum wiederholten Male feststellen muss, dass die politi-sche Bildung nicht zweitrangig werden darf, dann zeigtuns dies, dass wir in diesem Bereich noch besser werdenmüssen. Junge Menschen können durch Vorbilder ge-prägt werden. Von daher kommt es stark auf das Ver-halten ihrer Vorgesetzten an.Unser Kollege Gerd Höfer wird seit geraumer Zeitnicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Rechtspflegewegen ihrer Bedeutung ein eigener Titel im Einzelplan14 gebührt. Mir scheint, der Bericht der Wehrbeauf-tragten bestätigt den Kollegen Höfer. Wenn ich die Si-gnale aus dem Hause recht verstehe, so wird seinem Be-gehren im nächsten Haushaltsjahr auch entsprochenwerden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo immer jungeMenschen in so großer Zahl zusammenkommen, ist dasThema Drogenmissbrauch erfahrungsgemäß relevant.Die Zahl der gemeldeten Fälle ist konstant, Gott seiDank leicht rückläufig. Aber jeder Einzelfall ist einer zuviel. Wenn man den missbräuchlichen Umgang mit Al-kohol hinzunimmt, so erkennt man schnell, dass auchältere Soldaten davor nicht gefeit sind. Dem Bericht sind– zugegebenermaßen – Einzelfälle zu entnehmen, die er-schrecken. Wer mit Menschen, Waffen und Munitionumgeht, der hat in jeder Situation einen klaren Kopf zubehalten. Raum für Toleranz, so stellt die Wehr-beauftragte fest, ist hier nicht gegeben. Dieser Feststel-lung können wir uns alle nachdrücklich anschließen.Auch hier gilt das vorhin Gesagte: Vorbildliches Ver-halten der Vorgesetzten kann hilfreich sein.Der Bericht stellt fest, dass in der Bundeswehr pro-fessionell und mit angemessener Härte ausgebildet wird.Er hält aber auch fest, dass dabei seitens der Vorgesetz-ten, welche die grundlegenden Werte unserer Rechts-ordnung eigentlich schützen sollen, gelegentlich Gren-zen überschritten werden. Die Gewährleistung der Men-schenrechte ist Teil der Zweckbestimmung unsererStreitkräfte und somit Grundlage ihrer Legitimation.Beim Überschreiten dieser Grenzen liegen immer Ver-stöße gegen bestehende Vorschriften zugrunde. Dieslässt auf deutliche Defizite in der Ausbildung schließen,die beseitigt werden müssen. Bisweilen deutet es auchauf Defizite bei der Auswahl hin.Meine Damen und Herren, die Auslandseinsätze derBundeswehr haben die Militärseelsorge mehr in denMittelpunkt gerückt, als dies in den zurückliegendenJahren der Fall war. Die Evangelische und die Katholi-sche Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung, dieFamilienbetreuungszentren und die Militärseelsorgeleisten gemeinsam einen unschätzbaren Dienst auch ge-rade an den Angehörigen der Soldaten, die im Auslandeingesetzt sind. Aber auch junge Soldaten selbst, obgläubige Christen oder nicht, stellen sehr viel häufigerals früher die Frage nach dem Sinn. Die Militärpfarrerbeider Konfessionen hören zu und beraten und stellennie die Frage nach der Religionszugehörigkeit. IhrDienst ist sicher belastender geworden. Deshalb gilt al-len, die in diesem Bereich arbeiten, unser herzlicherDank.
Das Ost-West-Verhältnis wird immer noch durch die86,5-Prozent-Regel belastet. Ich kenne die Zwänge desBeamtenrechts und ich kenne die Nöte der Länderfi-nanzminister. Aber im Interesse des Friedens in derBundeswehr müssen wir bald zu einer Lösung kommen.
Ich schließe mich dem wiederholten Appell der FrauWehrbeauftragten an, besonders junge Soldatenfamilienzu unterstützen, die freiwillig von Ost nach West oderumgekehrt umziehen, denn sie leisten einen wichtigenBeitrag zur Überwindung von Vorurteilen auf beidenSeiten.
Der Bundesminister der Verteidigung hat eine Kom-mission eingesetzt, die unter der Leitung des früherenBundespräsidenten von Weizsäcker über die Zukunft derBundeswehr berät. Auch dies ist gegen den Widerstandder heutigen Opposition geschehen. Wir wissen aus denDiskussionen des vergangenen Jahres, dass es bessergewesen wäre, wenn die Kommission sehr viel frühereingesetzt worden wäre. Ich persönlich habe immerwieder der Versuchung widerstanden, mich in die Arbeitdieser Kommission einbringen zu wollen. Ich denke, wiralle sollten bis Mai abwarten können. Das käme auchder Forderung der Wehrbeauftragten entgegen, die indiesem Prozess einen möglichst breiten Konsenswünscht. Wie immer sich das politische Klima in dieserRepublik bis Mai entwickeln wird, wir Abgeordnete imSicherheitsbereich tragen eine besondere Verantwor-tung, wenn es um den Konsens in diesem Politikfeldgeht. Ich denke, wir sollten uns gemeinsam darum be-mühen.Danke schön.
Ich erteile dem Kol-
legen Werner Siemann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehrverehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen! Lie-be Kollegen! Frau Wehrbeauftragte, ich darf Ihnen na-mens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Ihre fünf-jährige Tätigkeit außerordentlich danken. Sie haben mitAugenmaß und mit Einfühlungsvermögen Ihre Aufga-ben wahrgenommen und sich durch diese Tätigkeit inden fünf Jahren große Anerkennung bei allen Beteilig-ten, insbesondere bei den Soldaten erworben. Dafürdanke ich Ihnen noch einmal ausdrücklich.
Uwe Göllner
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7599
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am16. März 1999 wurde der Jahresbericht 1998 der Wehr-beauftragten, den wir heute diskutieren, dem Parlamentvorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nicht ahnen,welche Ereignisse uns acht Tage danach in Atem haltenwürden. Am 24. März 1999 begannen die Luftschlägegegen Jugoslawien. Während des ersten Kampfein-satzes der Bundeswehr nach Beendigung des ZweitenWeltkrieges haben sich unsere Soldaten in hervorragen-der Weise bewährt. Nach Einstellung der Luftoperationhaben sie eine herausragende Rolle bei der Sicherungdes Friedens übernommen. Zurzeit befinden sich 8056Angehörige der Bundeswehr auf dem Balkan im Aus-landseinsatz. Nach Abschluss des letzten Kontingent-wechsels haben dann 63 000 deutsche Soldaten dort ih-ren Dienst verrichtet.Der Kosovo-Konflikt führt uns zweierlei eindrucks-voll vor Augen: zum einen, dass die Bundeswehr überprofessionelle und engagierte Soldaten verfügt, die mitGeschick und Einfühlungsvermögen den gefährlichenAuftrag ausführten. Zum anderen verdeutlichte er denEuropäern im Allgemeinen und uns Deutschen im Be-sonderen sehr auffällig und gleichsam dramatisch dieProbleme innerhalb der NATO. Ohne das amerikanischeEngagement hätte der Kosovo-Konflikt, wie er sich zu-erst darstellte, nicht zu einem erfolgreichen Ende geführtwerden können.Vor dem Hintergrund der massiven Kürzungen imWehretat durch das Sparpaket des Finanzministers mussbefürchtet werden, dass Deutschland zukünftig nichtmehr imstande ist, solche Einsätze durchzuführen bzw.die Einsätze so durchzuführen, wie wir es jetzt können.Durch den verabschiedeten Verteidigungshaushalt wirdsich der Gesamtzustand der Streitkräfte meines Erach-tens auf dramatische Art und Weise verschlechtern. Dasführt dazu, dass sich viele der im Bericht der Wehrbe-auftragten thematisierten Kritikpunkte und Mängel wei-ter verschärfen werden. Nachfolgend möchte ich auf ei-nige Punkte des Berichts eingehen, die meines Erachtensvon besonderer Relevanz sind.Äußerst problematisch wirken sich die Baumaßnah-men in den neuen Bundesländern auf die Bundeswehr-liegenschaften im Westen aus. Die erforderliche Reno-vierung ehemaliger Liegenschaften der NVA führteoftmals dazu, dass keine Haushaltsmittel für notwendigeRenovierungen, etwa im Unterkunfts- und Kantinenbe-reich, in den alten Bundesländern vorhanden waren.Dies hatte zur Folge, dass Kantinen geschlossen werdenmussten und in Küchen unzureichende hygienische Ver-hältnisse vorherrschen.Bei allem Verständnis für eine meines Erachtens auchzwingende finanzielle Bevorzugung der Bundeswehrlie-genschaften in den neuen Bundesländern kann es nichtlänger angehen, dass die Standorte in den alten Ländernin einem unvertretbaren Ausmaß darunter zu leiden ha-ben.
Leider haben auch die Hinweise der Wehrbeauftragtenin der Vergangenheit nicht geholfen, das Problem zulösen.Auch die von der Wehrbeauftragten bemängelte feh-lende Zivilcourage und Eigenverantwortung und die ihroft begegnete Sprachlosigkeit geben Anlass zur Sorge.Wir müssen in der Bundeswehr Strukturen schaffen, indenen der Soldat im Einklang mit der Befehlsstrukturdie Möglichkeit hat, Kritik und Alternativvorschläge zuäußern.Ein weiterer Kritikpunkt der Wehrbeauftragten ist dieunterschiedliche Behandlung einzelner Dienstgradgrup-pen, insbesondere die zurückhaltendere Ahndung vonDienstvergehen dienstgradhöherer Soldaten. Entgegender Einschätzung des Ministeriums sind die im Berichtdargestellten Fälle nicht von singulärer, sondern von re-präsentativer Natur.Besondere Sorge – auch dies soll angesprochen wer-den – bereitet der Anstieg der Zahl von Kriegsdienst-verweigerungen. Auch wenn die Wehrpflichtigen voneiner faktischen Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Zi-vildienst ausgehen, was der vor zwei Tagen im Verteidi-gungsausschuss behandelte Jahresbericht der Jugendof-fiziere wieder bestätigte, so darf dieser Eindruck nichtauch noch gestützt werden. Die Wehrpflicht ist der per-sönliche Ausdruck der Mitverantwortung des Bürgersfür das Leben in Frieden und Freiheit.
Der Zivildienst ist keine Alternative zum Wehrdienst, erist die zu begründende Ausnahme. Dies ist keine politi-sche Bewertung, sondern entspricht der durch Gerichtealler Instanzen bestätigten Rechtslage.Im Berichtszeitraum 1998 erreichte die Zahl derKriegsdienstverweigerungen einen neuen Negativrekordvon etwa mehr als 172 000. Für das zurückliegende Jahrwird sogar noch eine Steigerung erwartet. Voraussicht-lich haben 1999 knapp 174 000 junge Männer denDienst an der Waffe verweigert. Diese bedenklicheEntwicklung darf jedoch nur partiell verwundern. Dieunausgewogenen Kürzungen im Verteidigungshaushaltwirken sich eben auch auf die Wehrpflicht aus, waswiederum zu Verunsicherungen bei den Jugendlichenführt. Darüber hinaus kommen bei den Jugendlichenauch Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Bundeswehrim Ganzen auf. Auch die Forderung von Bündnis 90/DieGrünen nach Abschaffung der Wehrpflicht trägt wederzu ihrer Stärkung noch zur Abnahme der Kriegsdienst-verweigererzahlen bei.
Mit der rigiden Kürzungspolitik höhlt die Regierungzudem die Bundeswehr aus, schwächt dadurch dastransatlantische Bündnis und setzt die VerlässlichkeitDeutschlands als NATO-Partner aufs Spiel.Obwohl der Kosovo-Konflikt doch sehr deutlich dieerheblichen technologischen Defizite der Bundeswehrgezeigt hat, wird nicht nur der Wehretat, sondern auchdessen investiver Anteil abgesenkt. Deutschland wirdseiner außenpolitischen Rolle damit nicht mehr gerecht.Auch die europäische Handlungsfähigkeit wird infrageWerner Siemann
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7600 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
gestellt, wenn Deutschland als Wirtschaftsnation Num-mer eins in Europa nicht bereit ist, einen adäquaten Bei-trag zur gemeinsamen Verteidigung bereitzustellen. Esist deshalb unzureichend, wenn der Regierungschef vorden Kommandeuren der Bundeswehr ein funktionalesSicherheitsverständnis anmahnt und den Vergleich derVerteidigungsetats der NATO-Mitgliedstaaten als zukurz greifend ablehnt. Es ist unzureichend, in diesemZusammenhang auf Leistungen der Vergangenheit zuverweisen. Diese Leistungen können nicht mit denenverrechnet werden, die wir heute zu erbringen haben.Zurzeit ist Deutschland nur bedingt europafähig. EineFortführung des Kurses setzt unsere Rolle als gestalten-der Akteur internationaler Politik aufs Spiel.Auch durch den Umbau und die Modernisierung derStreitkräfte werden, wenigstens kurzfristig, keine zu-sätzlichen Mittel verfügbar sein, da jede Reorganisationzumindest einer Anschubfinanzierung bedarf. Damitsteht für mich fest: In dem gegenwärtig vorgegebenenFinanzplan der Bundesregierung ist für eine Moderni-sierung unserer Bundeswehr kein Raum.Die von Bundesminister Scharping angekündigtenEinsparungen stellen zwar einen ersten Schritt in dierichtige Richtung dar, aber bei der Restrukturierung undModernisierung der Bundeswehr geht es stärker um dieInvestition von Milliarden, die nur sehr bedingt durchRationalisierungsmaßnahmen im Bereich der Bundes-wehr zu erwirtschaften sind.Was wir benötigen, ist schlichtweg eine Erhöhungdes Wehretats. Die rhetorisch-verbale Aufrüstungsa-krobatik von Bundeskanzler Schröder steht der finan-ziellen Abrüstung im Verteidigungsetat diametral entge-gen. So verwundert es wirklich keinen von uns, wennVerteidigungsminister Scharping eingestehen muss, dassder Bundeswehr elementare Fähigkeiten fehlen, um ei-nen wirkungsvollen und international angemessenenBeitrag zur kollektiven Verteidigung im Bündnis sowiezu Einsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung und derKonfliktverhütung zu leisten. Angesichts der drastischenKürzungen im Verteidigungshaushalt kommt MinisterScharping zu dem Schluss: „Auftrag, Umfang, Ausrü-stung und Mittel sind aus der Balance geraten.“Allerdings zieht die Bundesregierung daraus nicht dienotwendigen Konsequenzen. Stattdessen soll der Vertei-digungshaushalt in den nächsten vier Jahren 18,6 Milli-arden DM verlieren. Dies ist gleichbedeutend mit demfinanziellen Super-GAU der Bundeswehr.
Eine Erhöhung des Wehretats sowie die Umstruktu-rierung der Streitkräfte sind unausweichlich. Das sehenauch wir. Diese Umstrukturierung darf jedoch nicht un-ter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zu-erst muss definiert werden, welche Aufgaben die Bun-deswehr zukünftig erfüllen soll. Wir benötigen eine Ar-mee, die so strukturiert und ausgestattet ist, dass sienicht nur humanitäre Aufgaben und Verteidigungsope-rationen wahrnehmen, sondern auch verzugslos Krisenbewältigen kann. Daher muss die Bundeswehr von einerausbildungsorientierten auf eine einsatzorientierte Ar-mee umgestellt werden.Die Beibehaltung der Wehrpflicht und damit dieAufwuchsfähigkeit stellen den spezifischen BeitragDeutschlands als strategischen Rückhalt der potenziellenBündnisverteidigung dar. Auch unsere europäischenVerbündeten fordern von uns einen stärkeren Beitrag,wenn die europäische Verteidigungsidentität kein Ge-schöpf von Absichtserklärungen sein soll.Zu bedauern ist vor diesem Hintergrund der unange-messene Umgang mit dem Bericht der Wehrbeauftrag-ten. Die Stellungnahme des Verteidigungsministeriumsmuss leider als sehr oberflächlich bezeichnet werden.Die von der Wehrbeauftragten thematisierten Problemewerden bagatellisiert und als Einzelfälle abqualifiziert.Dies ist jedoch unzutreffend. Nicht Einzelfälle wurdendurch die Wehrbeauftragte aufgegriffen, sondern eswurde lediglich die Spitze des Eisbergs skizziert. Esstellt eine unzulässige Verharmlosung der Probleme undMängel der Bundeswehr dar, wenn diese als „Einzelfäl-le“ und „Ausnahmen“ deklariert werden. Bei den imWehrbeauftragtenbericht angeführten Beispielen handeltes sich eben nicht um die unzulässige Verallgemeine-rung von Einzelfällen, sondern um exemplarische Ver-anschaulichungen. Der Bericht des Verteidigungsminis-teriums ist jedoch von der stereotypen Behauptung ge-kennzeichnet, dass es sich bei den Beanstandungen um„individuelles Fehlverhalten“ und um „Einzelfälle“ han-deln würde.Es kann nicht die Aufgabe einer Stellungnahme sein, dieKritikpunkte in allgemeiner Form lapidar zu wiederho-len. Vielmehr verpflichtet ein verantwortungsvollerUmgang mit dem Bericht dazu, die Kritikpunkte auf-zugreifen und Lösungsansätze aufzuzeigen. Diesemwünschenswerten Prinzip wird leider nicht gefolgt.Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hatin den vergangenen Jahren immer wieder auf Problemeund Defizite in der Truppe hingewiesen. Ihrem Enga-gement ist es zu verdanken, dass in der Vergangenheitvor möglichen Fehlentwicklungen gewarnt wurde.Durch ihre Berichte erhält das gesamte Parlament einBild über die Lage der Bundeswehrsoldaten. – FrauWehrbeauftragte, Ihnen und Ihren Mitarbeitern gebührtnochmals Dank für die Erstellung dieses Berichts.Der Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan hat unsgelehrt, dass Friedenserhaltung gleich bedeutend mitFriedenserzwingung sein kann. Nur eine funktionsfähigeArmee wird in der Lage sein, solche gefährlichen undkomplexen Einsätze zu meistern. Auch vor diesem Hin-tergrund wird die Bedeutung des Amtes eines Wehrbe-auftragten zukünftig noch zunehmen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Marienfeld! Mit erheblicher VerzögerungWerner Siemann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7601
debattiert heute das Plenum den Jahresbericht 1998 derWehrbeauftragten. Im vorigen Jahr dominierten der Ko-sovo-Einsatz, die Entwicklung des Einzelplan 14 unddie Modernisierung der Bundeswehr unsere Debatte.
Wir müssen aufpassen, dass die Fragen der inneren Ver-fasstheit der Bundeswehr und der inneren Führung dar-über nicht zu kurz kommen.Frau Marienfeld, Ihr Bericht ist wieder von sehr ge-nauer Beobachtungsgabe geprägt und ist deshalb sehrhilfreich sowie unverzichtbar für die Beurteilung der in-neren Lage der Bundeswehr. Dafür hat Ihnen auch dieFraktion der Bündnisgrünen sehr eindringlich und herz-lich zu danken.
Angesichts der durch diesen Bericht ermöglichten Bli-cke hinter die Kulissen und in den Alltag der Bundes-wehr denke ich, dass solche Berichte auch über andereInstitutionen sehr interessant und wünschenswert seinkönnten.Nun zu einzelnen Punkten des Berichts. Im BereichVorgesetztenverhalten und Verhalten in Hierarchienzeigt sich Ihre genaue Beobachtung. Unter der Über-schrift „Zivilcourage“ heißt es, dass Sie vermehrt hörten,„dass das Nichterreichen eines Ziels als Versagen ange-sehen“ werde, was häufig zu einer gewissen Sprachlo-sigkeit führe. Beim Führungsverhalten von Vorgesetztengebe es vielfach eine Mentalität der Absicherung, derAnpassung und Routine. Zitat: „Nicht selten stufen Sol-daten ... Vorgesetzte als ‚karriereambitioniert‘ ein“ – mitentsprechenden Folgen im Hinblick auf die Ehrlichkeitder Meldung von Klarstand, Einsatzbereitschaft usw.Die Wehrbeauftragte konstatiert ein „zu häufiges Job-denken“, „das auf fehlende Vorbilder bei den Vorge-setzten, Fehler in der Auswahl, aber auch auf eine vor-dergründige Werbung für die Streitkräfte hinweist“.All das sind Sachverhalte, wie sie auch in der Zivil-gesellschaft in Unternehmen und Behörden anzutreffensind. Es ist positiv, dass sich die Wehrbeauftragte damiteben nicht zufrieden gibt, sondern gerade und immerwieder die Vorbildfunktion der Vorgesetzten einklagt. –Der Abschied des früheren Ministers und seines der Zi-vilcourage nicht förderlichen Führungsstils hat offen-kundig einige Erleichterung verschafft.
Zum Punkt Rechtsextremismus und fremdenfeind-liche Vorfälle sowie Untersuchungsausschuss: Wir er-innern uns noch deutlich an die künstliche Aufregungbei den damaligen Koalitionsfraktionen über die Kons-tituierung des Verteidigungsausschusses als Untersu-chungsausschuss. Rückblickend ist dem Urteil derWehrbeauftragten zuzustimmen, dass der Untersu-chungsausschuss zur Versachlichung der Debatte beige-tragen hat, dass es eine gestiegene Sensibilität bei Vor-gesetzten und eine Fülle schneller Gegenmaßnahmengegeben hat. Insofern hatte der Untersuchungsausschusseinen zweifachen Nutzen.Richtig ist, dass Rechtsextremismus bzw. fremden-feindliche Einstellungen ihre Wurzeln in der Gesell-schaft haben. Offen ist aber weiterhin die damals vonuns aufgeworfene Frage, ob solche Einstellungen über-proportional über junge Wehrpflichtige in die Bundes-wehr hineinwirken und wie der Ausbildungsbetrieb, diepolitische Bildung und der militärische Alltag, wie Aus-landseinsätze und Multinationalität, auf solche Einstel-lungen zurückwirken. Offen ist, ob vor entsprechendemVerhalten nur „abgeschreckt“ wird oder ob es tatsäch-lich Einstellungsänderungen gibt. Hierüber wären wei-terhin empirische Untersuchungen des Sozialwissen-schaftlichen Instituts der Bundeswehr sehr sinnvoll.Zur politischen Bildung und Soldatenbeteiligung:Das sind offensichtlich Dauerprobleme im Bundeswehr-alltag. Die sehr schwierigen gesellschaftlichen Rahmen-bedingungen von politischer Bildung sind uns bekannt.Der gegenwärtige CDU-Spendenskandal steigert dieVorbehalte gegenüber der Politik insgesamt noch einmalenorm. Diese Vorbehalte können durch eine noch sogute politische Bildung nicht aufgefangen werden.Trotzdem bleiben auch selbstverursachte Defizite inder Truppe, die weiterhin bearbeitet werden müssen.Unverständlich und nicht entschuldbar ist, dass die imSoldatengesetz vorgeschriebene Ausbildung von Ver-trauenspersonen bald nach ihrer Wahl nur in Ausnahme-fällen stattfindet, wie die Wehrbeauftragte feststellt.Zuletzt zur Stellung der Bundeswehr in der Gesell-schaft und ihrer Integration: Im Vergleich zu vielen an-deren Armeen in demokratischen Staaten ist die Bun-deswehr gut in die Gesellschaft integriert. Der gerade imVerteidigungsausschuss besprochene Bericht der Ju-gendoffiziere macht aber deutlich, dass diese Integrationin Wirklichkeit nur eine Teilintegration in die Gesell-schaft ist, denn der Austausch mit den gesellschaftlichenBereichen, die – das sage ich jetzt an unsere Adresse –eher den Koalitionsparteien oder auch dem grünen Be-reich nahe stehen, ist deutlich unterentwickelt. Hier ha-ben wir und haben unsere Jugendorganisationen, dieGewerkschaften und die Friedensorganisationen einendeutlichen Nachholbedarf.Mit dem Kosovo-Einsatz verdreifachte sich ungefährdie Zahl der Soldaten im Auslandseinsatz. In Anbetrachtder wahrscheinlich bevorstehenden weiteren Reduzie-rung der Bundeswehr und der wahrscheinlichenSchrumpfung der Wehrpflicht wird die künftige Inte-gration der Bundeswehr in die Gesellschaft ein Thema,mit dem wir uns in Zukunft intensiver und auch fanta-sievoller werden beschäftigen müssen.Ich danke Ihnen, Frau Marienfeld, noch einmal fürIhre ausgezeichnete Arbeit in den letzten vier Jahren.
Winfried Nachtwei
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7602 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Herr Prä-sident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! LiebeFrau Marienfeld! Die heutige Debatte sollte ja eigentlichdie parlamentarischen Beratungen des letzten Jahres unddamit des letzten Jahrhunderts beschließen. Sie ist auchjetzt an der Nahtstelle des letzten Jahrhunderts zu die-sem neuen Jahrhundert angesiedelt, und deswegen er-laube ich mir heute nicht nur über den Bericht derWehrbeauftragten zu sprechen, sondern auch einigeAusführungen zur Institution der Wehrbeauftragtenzu machen. Wir haben nämlich allen Anlass, den Ahn-herren und Ahndamen, die im Jahre 1957 diese Epochemachende Institution in unsere Verfassung gebracht ha-ben, unseren Dank und unsere Anerkennung auszuspre-chen. Wohl kein anderes Land hat eine vergleichbareEinrichtung zur Wahrung der Rechte des einzelnen Sol-daten, zugleich auch zur parlamentarischen Kontrolledes Militärs, wie Deutschland. Natürlich hat ja auch keinanderes Land, zumindest kaum eines, ähnlich fatale Er-fahrungen mit Militarismus und Totalitarismus, mit ei-ner Entrechtung der Menschen durch das Militär, aberauch im Militär selbst.Die Einrichtung des Wehrbeauftragten ist fürwahr einGlanzlicht demokratischer Kultur in unserem Lande.
Es kommt nicht von ungefähr, dass sich diese Einrich-tung zu einem Exportartikel der BundesrepublikDeutschland entwickelt hat. Ich erinnere nur an unsereGespräche mit ukrainischen Generälen vor etwa zweiMonaten, die an vielen Dingen in der Bundeswehr Inter-esse hatten, die aber mit größtem Interesse zur Kenntnisgenommen haben, welche Einrichtung wir hier für dieSoldaten und für das Militär insgesamt im Auftrag desParlamentes haben. Sie sagten, das würden sie sehr ger-ne auch in der Ukraine einführen. – Dies ist nur ein Bei-spiel unter vielen.Wenn der Deutsche Bundestag und der Bundesrat denWehrbeauftragten sogar in der Verfassung verankert unddamit der Beliebigkeit der jeweiligen Mehrheit entzogenhaben, so hat dies nicht nur mit dem Versuch eines Bei-trages zur Bewältigung einer höchst problematischenVergangenheit im eigenen Land zu tun. Zugleich wurdeein großer Schritt für die Zukunft von Staatsbürgern inUniform gewagt, die im Bewusstsein ihrer eigenen in-dividuellen Menschenwürde Verantwortung für unserenStaat, für unsere Bürger und für die westliche Wertege-meinschaft übernehmen.
Der Wehrbeauftragte ist nur dem Parlament verant-wortlich. Er hat eine herausragende Stellung sowohl ge-genüber der Truppe in ihrer Vielfalt als auch gegenüberallen sonstigen Einrichtungen des Staates, die für dasWohl des Soldaten, insbesondere des einzelnen Solda-ten, von Bedeutung sind.Dank und Anerkennung gebührt den verschiedenenInhabern dieses Amtes, die mit großem Engagement undgroßer Sachkenntnis sowie mit Einfühlungsvermögen indie verschiedenartigen Situationen von Untergebenenund Vorgesetzten in der Bundeswehr gehandelt haben.Sie haben positive Entwicklungen ermutigt und begüns-tigt, negative Erscheinungen in der Bundeswehr ge-brandmarkt und damit Änderungen angestoßen.Kein einziger dieser früheren Wehrbeauftragten er-wies sich im Nachhinein als ungeeignet, und auch Sie,liebe Frau Marienfeld, haben sich in die Reihe dieserhervorragenden Wehrbeauftragten nahtlos und erfolg-reich eingereiht.
Sie erleben nicht nur bei den Politikern aller Parteien,von denen Sie beauftragt wurden, Anerkennung, son-dern insbesondere auch bei den Menschen in den Streit-kräften, die Ihnen vertrauen. Deshalb will ich Ihnen so-wie Ihren hoch qualifizierten und motivierten Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern ebenfalls unseren nachdrück-lichen Dank und unsere Anerkennung aussprechen.
Eine unabhängige Institution, die bewusst von einerZivilperson geführt wird, die Zugang zu allen Unterla-gen der Bundeswehr hat und im Verteidigungsausschussregelmäßig anwesend ist, ist der Schlüssel zum Abbauder Angst von Soldaten, zur Verhinderung von Übergrif-fen und zu modernen Streitkräften in einer modernenGesellschaft.Der vorliegende Bericht könnte in seinem Aufbau, inseiner Verständlichkeit und Klarheit, aber auch in sei-nem sensiblen Umgang mit verschiedensten Problem-stellungen insgesamt als Vorbild für das Berichtswesenim öffentlichen Bereich gelten.Der Jahresbericht als Entscheidungshilfe für denBundestag, als Frühwarnsystem bei sich abzeichnendenNegativentwicklungen, als Situationsbericht für alleBeteiligten, natürlich auch die Presse, ist fürwahr einwichtiges Dokument.Die Bundeswehr ist nicht besser als die Gesamtge-sellschaft. Es ist nicht hilfreich, unerfüllbare Erwartun-gen an die Bundeswehr zu stellen. Wir sollten festhalten:Die „Schule der Nation“ ist die Schule, nicht die Bun-deswehr.
Was im Elternhaus versäumt wird, was im Kindergartenund in der Schule nicht gelernt wird, was an Fehlhaltun-gen nicht zuletzt durch Tausende von Fernseh-sendungen, in denen der Gewalttätige Erfolg hat, in derSeele der jungen Menschen entstanden ist, kann nicht indem kurzen Zeitraum der Wehrpflicht korrigiert wer-den. Sie kennen den in der Politik oft zitierten Satz:Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Sachver-stand. Dieser Satz ist genauso falsch wie seine leicht
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7603
mögliche Abwandlung: Wem der Staat eine Uniformverpasst, dem gibt er auch Reife und einen guten Cha-rakter.Zweifellos kann das Leben in der Bundeswehr wäh-rend des Grundwehrdienstes zu vielen Erkenntnissenführen, die für die persönliche Entwicklung eines jungenMenschen hilfreich sind, weil er erlebt, dass jeder in derGruppe auf den anderen angewiesen ist, weil er oft inVorgesetzten Vorbilder findet, weil bis zum Beginn desWehrdienstes erlebte soziale Barrieren im Wehrdienstüberwunden werden, weil mancher erstmals im LebenVerantwortung für andere übernimmt und weil er nichtnur Rechte, sondern auch Pflichten kennen lernt. DasLeben in der Bundeswehr kann für den jungen Men-schen hilfreich sein, weil er gefordert und gefördertwird, weil er in vielfältiger Weise die Chance hat, sichzu bewähren und zu zeigen, dass er ein Kerl ist, auf denVerlass ist.All diese Punkte sind wichtig und auch bei der immerwieder aufflackernden Diskussion über eine eventuelleAbschaffung der Wehrpflicht von Bedeutung. Ich betonenoch einmal: Die Bundeswehr findet junge Männer vor,sie kann sie nicht formen. Ob die Bundeswehr allerdingsihre Chance, in positiver Weise auf die Entwicklungjunger Männer einzuwirken, in vollem Umfang nützt,muss auch nach diesem Bericht bezweifelt werden. Hierist wohl noch viel zu tun. Ein dauernder Optimierungs-prozess, speziell in Fragen der Pädagogik oder – militä-risch gesprochen – der Menschenführung ist sicherlichveranlasst. Ich denke speziell an die Staatsbürgerkunde,die nach wie vor alles andere als optimal ist.Die Bundeswehr hat sich in den letzten zwei Jahrengravierend verändert. Sie wissen, frühere Generationenvon deutschen Soldaten nach dem Zweiten Weltkriegkonnten sich kaum vorstellen, dass deutsche Soldaten je-mals wieder in kriegerische Auseinandersetzungen ver-wickelt würden. Dies hat sich spätestens nach dem Ko-sovo-Einsatz grundlegend geändert. Jeder Soldat weißmittlerweile, dass er im Zweifel auch für andere Men-schen, für deren Lebensrecht und für deren Menschen-würde unter Kriegsbedingungen einstehen muss.Ziel unserer Bemühungen muss sein, jungen Men-schen nahe zu bringen, dass sie stolz auf die Bundes-wehr und auf ihre persönliche Leistung in der Bundes-wehr sein können. Die Leistungen der Bundeswehr imehemaligen Jugoslawien, aber auch bei der Bewältigungdes Oder-Hochwassers haben zu einer nie gekanntenAnerkennung und Wertschätzung der Soldaten in derGesellschaft geführt. Das ist eine großartige Entwick-lung, die sich auch im Bericht der Wehrbeauftragten wi-derspiegelt.Ich möchte aber auf zwei Punkte gesondert zu spre-chen kommen, die mir wichtig sind. Der Anstieg derVorkommnisse mit Drogen zwingt uns alle zu aller-größter Vorsicht. Es geht um den Schutz unserer Solda-ten vor negativen, äußerst gefährlichen Einflüssen, de-nen sie allein oft nicht gewachsen sind. Wer das Dro-genproblem verniedlicht und den Gebrauch von Drogenals Ausdruck von Freiheit versteht, hat immer noch nichtverstanden, worum es bei dem Kampf gegen Drogenund ihren Missbrauch geht. Menschenwürde kann nichtnur durch Handlungen ungeeigneter Vorgesetzter ver-letzt werden. Menschenwürde wird ganz besondersdurch diejenigen verletzt, die es dulden oder nicht genü-gend dagegen unternehmen, dass junge Menschen mitdiesem Teufelszeug Drogen ruiniert werden.
Ich danke der Führung der Bundeswehr, aber auchden Vorgesetzten auf der untersten Ebene, die rassisti-schen und nationalistischen Ausschreitungen konsequentund mit Härte entgegentreten. Auch durch derartigesEinschreiten lernen junge Menschen, was gut ist undwas böse ist, was recht ist und was unrecht ist.Ich möchte allerdings auch ein klares Wort zu einemMissstand sagen, der nicht den einzelnen Vorgesetztenin der Bundeswehr angelastet werden muss, sondern derpolitischen Führung der Bundeswehr selbst. Nach wievor werden in der Bundeswehr homosexuelle Soldatendiskriminiert – und das mit dem Segen des Verteidi-gungsministers.
Herr Scharping, das ist ein unerträglicher Zustand, des-sen Verteidigung Ihnen nicht neue Stimmen in der sogenannten Neuen Mitte bringen wird, sondern in den ul-trarechten Kreisen der Gesellschaft, mit denen Sie sonstnichts zu tun haben wollen.
Wer Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierungdie Befähigung zum Vorgesetzten abspricht, so geradeerst wieder in der Antwort auf eine parlamentarischenAnfrage, die nicht deshalb falsch ist, weil sie von derPDS kommt, der weckt seinerseits nachhaltige Zweifeldaran, dass er in vollem Umfang verstanden hätte, wasDemokratie und Menschenwürde bedeuten.
Erst vorgestern haben Sie, Herr Scharping, erklärt,dass Sie nach dem Urteil des Europäischen Gerichtsho-fes nahezu alle Bereiche der Bundeswehr für Frauenöffnen wollen. Es wird daher nicht mehr die Ausnahme,sondern die Regel sein, dass Männer Vorgesetzte vonFrauen und Frauen Vorgesetze von Männern auch in derBundeswehr sein werden. Es kann doch wohl nicht sein,dass wir bei heterosexuellen Vorgesetzten annehmen, siewürden ihre vorgesetzte Stellung nicht missbrauchen,um sexuelle Vorteile bei Untergebenen zu erhaschen,
während bei homosexuellen Vorgesetzten Derartigesunterstellt wird. Für eine solche Unterstellung gibt eskeine faktischen Hintergründe. Sie sind nicht zu recht-fertigen.
Hildebrecht Braun
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7604 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Ich kann nur darum bitten, liebe Kolleginnen undKollegen in der Koalition, dass Sie dazu beitragen, dassdiese Fehlhaltung der Führung des Verteidigungsminis-teriums ein für alle Mal beendet wird.
Es kann nicht sein, dass dieses Land mit seiner politi-schen Führung nach wie vor Diskriminierung von Men-schen wegen ihrer sexuellen Orientierung unterstützt.
Ich muss zum Schluss kommen und möchte nochmalsmit Nachdruck den Personen, die mit Ihnen, Frau Mari-enfeld, diesen Bericht erarbeiten, die aber auch die tag-tägliche Arbeit für unsere Soldaten und für den Bun-destag leisten, ganz herzlich danken.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte FrauWehrbeauftragte Marienfeld! Um mich mit der Materievertraut zu machen, habe ich nicht nur den Bericht derWehrbeauftragten aufmerksam studiert. Ich las auch dieDebatte, die es zum selben Thema am 24. Juni 1998 gab,nach. Damals sagte der Abgeordnetenkollege GerhardZwerenz:Die PDS kann sich ein Deutschland ohne Armeedurchaus vorstellen.Das Protokoll vermerkt hier den Zwischenruf der Kolle-gin Brigitte Baumeister von der CDU/CSU:Und wir uns eines ohne PDS!Nun blieb die PDS nicht nur in Deutschland, sondernauch gestärkt im Parlament bestehen. Es gibt heuteernsthafte in- und ausländische Kommentatoren, die sichein Deutschland ohne CDU vorstellen können. Die ehe-malige Schatzmeisterin der CDU, Frau Baumeister,dürfte sogar besser wissen, wo all das noch enden kann.Zum Bericht der Wehrbeauftragten. Trotz der ge-nannten Vorbehalte und möglichen Vorurteile finde ichIhren Bericht, Frau Claire Marienfeld, bemerkenswertaufschlussreich. Sie bemühen sich auf eine eminente Artund Weise nicht nur um die Wehrpflichtigen, sondernauch darum, in der Bundeswehr Vorfälle und Strukturenzurückzudrängen, die die Menschenwürde verletzen.Ich möchte Ihnen, wie dies vor zwei Jahren auch meinKollege Zwerenz tat, dafür meine Anerkennung aus-sprechen. Nach dem Lob von allen anderen Parteien istdies, glaube ich, kein Todeskuss, wenn es von der PDSkommt.
Ich zolle Ihnen Anerkennung dafür, dass Sie beispiel-haft die vielen Fälle von Machtmissbrauch, Verletzun-gen der Menschenwürde und Schinderei aufzeigen, undRespekt davor, wie Sie betonen, dassinsbesondere bei jungen Soldaten … die Unkennt-nis über politische und geschichtliche Zusammen-hänge oft erschreckend großist. Ich stimme Ihrer Feststellung im Abschnitt „Rechts-extremistische und fremdenfeindliche Vorfälle in derBundeswehr“ zu, es könne bei diesem Thema „keineEntwarnung“ geben.Der Bericht zeichnet aus meiner Sicht – hier werdenSie, Frau Marienfeld, mir natürlich nicht zustimmenkönnen – in seiner Detailfülle ein Bild, wie ich mir dieBundeswehr durchaus vorstellte, nämlich das Bild einerklassischen Armee, die Menschen systematisch ver-formt, verbiegt und verkrüppelt, eben weil es eine Ar-mee ist.
Wir alle wissen um die Bundeswehrvideos, die auchFolterszenen als „Übung“ enthielten. Wenn man dies alsExzessen abtut, dann antworte ich: Ich finde eine Reiheder im Wehrbeauftragtenbericht wiedergegebenen Bei-spiele aus dem Alltag wichtiger, weil sie symptomatischzu sein scheinen. Ich möchte dem Kollegen Siemann –der dies nicht schön finden wird – darin zustimmen, dassdiese Beispiele nur die Spitze des Eisbergs sind.Nehmen wir nur ein Beispiel. Der Bericht hält fol-genden Vorfall fest:Ein Oberfeldwebel befahl als Militärkraftfahrlehrereinem Fahrschüler aus Erziehungsgründen, einübersehenes Verkehrszeichen mit einem Stück Pa-pier zu putzen. Der Obergefreite kletterte dabei andem wackelnden Schilderpfahl hoch und begannunter den Augen von Passanten mit dieser symboli-schen Reinigung.Vertreter der Bundeswehr und manche hier im Plenar-saal dürften Derartiges als normal betrachten, obwohldieser Vorgang nach Intervention zum Schluss geahndetwurde. Es zeichnet diesen Bericht aus, dass dies unterder Überschrift „Verletzung der Menschenwürde“ fest-gehalten wurde.Der Bericht endet am 31. Dezember 1998. Im Berichtist bereits von den „neuen Aufgaben der Bundeswehr“die Rede. Dort heißt es:Die sittliche und geistige Grundorientierung desDienstes als Soldat muss unverändert bleiben.Im Abschnitt „Politische Bildung“ wird darauf verwie-sen, dass nach § 33 Soldaten staatsbürgerlichen und völ-kerrechtlichen Unterricht erhalten. Die Wehrbeauftragteklagt dabei ein:Der Soldat der Bundeswehr als Staatsbürger in Uni-form soll sich jedoch von dem Befehlsempfängerunterscheiden, der gedankenlos und ohne Bewer-tung allem folgt, was ihm vorgegeben wird.Hildebrecht Braun
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7605
Nun diskutierten wir, wie die meisten schon gesagthaben, diesen Bericht nach einer entscheidenden Zäsur,die im Bericht noch nicht vermerkt werden konnte.Erstmals seit 1945 war eine deutsche Armee wieder aneinem Krieg beteiligt. Die Beteiligung der Bundeswehran einem Krieg erfolgte wie 1914 und 1939 unter Bruchdes Völkerrechts und unter Bruch der Aussagen in denProgrammen von SPD und Grünen und ihrer Wahlver-sprechen. Ich betone trotz aller massiven Unterschiede,die es zwischen diesen Kriegen gibt: Auch der NATO-Krieg gegen Jugoslawien war ein Krieg unter offenemBruch des Völkerrechts.
Zu fragen ist: Inwieweit unterschied sich diese Bundes-wehr vom – Zitat – „Befehlsempfänger, der gedankenlosund ohne Bewertung allem folgt, was ihm vorgegebenwird“? In Tschetschenien werden wir nächste Wochevor der russischen Botschaft gegen diesen Krieg demon-strieren.
Zumindest bis dahin galt die UN-Charta als Teil vonRecht und Ordnung, die zu verteidigen die Bundeswehrmit aufgerufen war.Uns liegt jetzt der Fall eines Bürgers vor, der in die-ser Situation zu Zivilcourage und zu Befehlsverweige-rung, also zur Einhaltung des grundgesetzlichen Gebots„kein Angriffskrieg“ und zur Respektierung des Völker-rechts bzw. der UN-Charta, aufrief und dafür vor Ge-richt stand. Tobias Pflüger von der InformationsstelleMilitarisierung in Tübingen wurde in erster Instanz ver-urteilt. Auch das scheint dem Tenor zu folgen: Ge-wünscht ist der Befehlsempfänger. Andere Richter – sohier in Berlin – entschieden in vergleichbaren Fällennicht so. Es handelt sich unter anderem um eine Person,die von dem Kollegen Ströbele verteidigt wurde.Die Grünen sollten sich im Übrigen in dieser Debatteerneut bewusst machen, wie sie sich im vergangenenJahr bis zur Unkenntlichkeit veränderten. In der bereitszitierten Rede von Gerhard Zwerenz vor zwei Jahrensagte dieser:Der militärische Sieg über Hitler wurde nur deshalbnotwendig, weil es in Deutschland am Anfang zuwenig pazifistischen Widerstand gegeben hat ... Esmuss Pazifisten geben. Ein Land, das keine Pazifi-sten hat, ist ein armseliges Land.
Hier vermerkt das Protokoll:Beifall bei der PDS sowie des Abg. WinfriedNachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]Werte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michzum Schluss auf ein Thema verweisen, das im Berichtder Wehrbeauftragten im Kapitel „Traditionspflege“auftaucht. Am 27. Januar vor einem Jahr, als der Befrei-ung von Auschwitz gedacht wurde, wurde der neueStaatsminister für Kultur Naumann von einer Fernseh-station zu seiner Meinung nach denjenigen Kasernengefragt, die weiterhin die Namen von Nazigenerälen tra-gen. Naumann antwortete:Das ändern wir jetzt. Das schwöre ich Ihnen: Inzwei Jahren finden Sie keine mehr.
In wenigen Tagen, am 27. Januar 2000, gedenken wirerneut der Befreiung von Auschwitz. In diesem Plenar-saal wird Elie Wiesel reden. Das gereicht unserem Hauszur Ehre. Doch gerade an einem solchen Tag müssenwir uns vergegenwärtigen: Diese deutsche Armee bildetihre Soldaten in Kasernen aus, die bis zum heutigen Ta-ge in mindestens einem Dutzend von Fällen nach Nazi-generälen, nach Naziluftkriegs-„Helden“, nach erklärtenAntisemiten und nach einem Kolonialkriegsgeneral undKapp-Putschisten benannt wurden.Wir mögen mit unserer Forderung nach Abschaffungder Wehrpflicht, nach massiver Reduktion der Armeeund letztlich nach Abschaffung der Bundeswehr viel-leicht allein stehen, obwohl dies ein Zurück zum ur-sprünglichen Grundgesetz ist. Doch das Nein zu dieserArt krimineller Traditionspflege sollte alle Demokratenin diesem Haus einen.Danke schön.
Ich erteile der Kolle-
gin Ilse Schumann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr ver-ehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auch wenn es sich jährlich wiederholt: DieDebatte über den Bericht der Wehrbeauftragten ist mehrals parlamentarische Routine oder sogar eine Pflicht-übung; denn unsere Bundeswehr ist ein Parlamentsheer.Wir, die Parlamentarier, entscheiden über die bewaff-nete staatliche Macht und wir müssen sie kontrollieren.Unser Hilfsorgan ist die Institution der Wehrbeauftrag-ten – eine Einrichtung, deren hohes Ansehen weit überdie Grenzen Deutschlands hinausreicht.
Es ist nicht nur das Amt, dem ich meinen Respektzollen möchte; vielmehr möchte ich ganz ausdrücklichder Frau Wehrbeauftragten Marienfeld und ihren Mitar-beitern für ihre engagierte, glücklicherweise manchmalauch unkonventionelle Arbeit im Interesse unserer Sol-daten danken.
Als erste Frau in diesem hohen Amt haben Sie, liebeFrau Marienfeld, Beispielhaftes geleistet. Ich habe mitRespekt, aber auch mit Bedauern gehört, dass Sie nichtnoch einmal für das Amt der Wehrbeauftragten kandi-dieren. So wie Sie es geführt haben, kann man das Be-dauern verstehen. Sie waren überparteilich und immerobjektiv – im Interesse unserer Soldaten.Dr. Winfried Wolf
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7606 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Der vorliegende Jahresbericht 1998 vermittelt einumfassendes Bild über den inneren Zustand der Bun-deswehr. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Parlamentsebenso auf die Sorgen und Anliegen des einzelnen Sol-daten wie auf den inneren, den technischen, aber auchden politischen Zustand des Gesamtsystems Bundes-wehr.Ich kann in diesem kurzen Beitrag nicht alle Punktedes umfassenden Jahresberichtes würdigen. Deshalb ha-be ich mir einige Schwerpunkte herausgegriffen. Da isteinmal die Stellung der Streitkräfte im politischen Koor-dinatensystem des Landes: Die Bundeswehr gehört we-der einer Partei noch der Regierung. Ich sagte es bereits:Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Soldaten sindBürger in Uniform. Die Grundrechte der Soldaten – ihreWürde – werden geachtet. Die Grundsätze der innerenFührung, ein von Sozialdemokraten eingeführtes Prin-zip, werden eingehalten. Die Frau Wehrbeauftragte, alsKontrollorgan, aber auch als Petitionsinstanz, schenktder Einhaltung dieser Prinzipien große Beachtung. Undman kann sagen, dass sich Stimmung und Klima in derBundeswehr seit der Amtsübernahme des Bundesminis-ters der Verteidigung Rudolf Scharping bedeutend ver-bessert haben.
Die Verantwortung, die die Vorgesetzten mit derAusbildung insbesondere der jungen Wehrpflichtigenübernehmen, ist groß. Aber es ist auch eine schöne Auf-gabe, der sie sich – auch das weist der Bericht aus – gernund erfolgreich stellen. Ich kann an dieser Stelle ja ruhigeinmal einflechten, dass meine beiden Söhne, die ihreWehrpflicht in der NVA absolviert haben, da ganz an-dere Erfahrungen machen mussten. Mit Blick auf HerrnWolf von der PDS weise ich für die Bundeswehr denBegriff „verkrüppelt“ entschieden zurück. Nach den mirbekannten Erfahrungen trifft er eher auf die NVA zu.
Damit bin ich bei der Armee der Einheit. Es istwirklich eine Erfolgsstory, wie aus zwei deutschen Ar-meen, die sich jahrzehntelang feindlich gegenüberstan-den, beginnend mit dem Datum des Oktober 1990 einegemeinsame deutsche Streitkraft wurde, deren Auftragnun mittlerweile – über Landes- und Bündnisverteidi-gung hinaus – auch humanitäre und Katastrophenhilfe,Überwachung von Rüstungskontrollabkommen, Auf-bauhilfe für demokratische Streitkräfte in anderen Län-dern und die Teilnahme an UNO-Missionen beinhaltet.Die Bundeswehr hat mit der Integration der Soldaten derehemaligen NVA wirklich Beeindruckendes geleistet.Ich wiederhole mich gern: Hier ist ein Stück deutscherEinheit wirklich gelungen.
Ich muss Ihren Beifall ein bisschen relativieren undein paar Wermutstropfen in den Freudenbecher gießen.Es kann nämlich niemand von den ostdeutschen Solda-ten – ich übrigens auch nicht – begreifen, dass wir, dieParlamentarier, es dulden, dass es im zehnten Jahr derArmee der Einheit immer noch zwei Besoldungsklassengibt –
100 Prozent im Westen, 86,5 Prozent im Osten –, einUmstand, der nach dem Bericht der Wehrbeauftragten inder Bundeswehr sowohl bei den Betroffenen wie auchbei deren „100-Prozent-Kameraden“ auf Unverständnisstößt.
Der jetzige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ge-neral von Kirchbach, schilderte beim Neujahrsempfang1996 der Landesregierung von Sachsen-Anhalt dasSchicksal zweier junger Männer, die gemeinsam aufge-wachsen sind, gemeinsam ihre Ausbildung gemacht ha-ben, an verschiedenen Standorten zum Soldaten auf Zeitberufen worden sind und nun bei gleichem Dienst ingleichen Einheiten mit unterschiedlicher Besoldungnach Hause gehen. Das kann man, glaube ich, nieman-dem mehr plausibel erklären.
– Wir werden, Herr Kollege Braun, an diesem Problemgemeinsam arbeiten. Ich hoffe eigentlich sehr, dass sichetwas bewegen wird.Gerade dieser Tage – das wollte ich noch sagen – hatmich ein Brief des Vorsitzenden des LandesverbandesOst des Bundeswehr-Verbandes erreicht, in dem auchdiese schreiende Ungerechtigkeit beklagt wird. Er weistdarin zu Recht auf den skurrilen, gar nicht so seltenenUmstand hin, dass Vorgesetzte Ost manchmal wenigerverdienen als von ihnen geführte Soldaten West. So fra-ge ich mich ernsthaft – und gebe diese Frage an Sie, lie-be Kollegen, weiter –, welcher Bürger der alten Bun-desländer das beinahe zehn Jahre lang klaglos ertragenhätte.Natürlich weiß ich, dass insbesondere unter Beach-tung desolater Staatsfinanzen, die wir Sozialdemokratennicht zu verantworten haben, der ganz große Sprung sobald nicht möglich sein wird. Aber lassen Sie uns allegemeinsam darangehen, in kleinen Schritten – mit einemfesten Zeitplan – diese für ostdeutsche Soldaten demüti-genden Einkommensunterschiede abzubauen.
Das Hauptargument gegen ein solches Vorgehen istschon seit Jahren ein angeblich zu erwartendes Veto fi-nanzschwacher ostdeutscher Länder. Ich sehe hier Hoff-nung grünen. Die Ministerpräsidenten Stolpe, Branden-burg, und Höppner, Sachsen-Anhalt, haben sich imSPD-Forum „Ostdeutschland“ für den Gedanken einerschrittweisen Erhöhung der Gehälter über mehrere Jahrehinweg stark gemacht.Ilse Schumann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7607
Soldaten haben eine Folgepflicht und wir als Parla-ment haben ihnen gegenüber eine ganz besondere Für-sorgepflicht. Denn wir schicken sie notfalls ins Kosovooder nach Osttimor. Wir dürfen diese Armee nicht inzwei Klassen spalten.
Das Parlament muss hier handeln, aus eigener Autorität,und wir sollten nicht warten, bis uns möglicherweise einUrteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Herstellungdes verfassungsgemäßen Gleichheitsgrundsatzes zwingt.An dieser meiner Überzeugung ändert auch das gestrigeUrteil des Bundesverwaltungsgerichtes nichts.Ich sehe, dass meine Redezeit bald abläuft.
Richtig beobachtet.
Ich wollte zum Schluss noch
kurz zu einem Teilaspekt kommen,
der die Fachpolitiker und die Bundeswehr, aber auch die
interessierte Öffentlichkeit beschäftigt: Das ist das Urteil
des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg, nach
dem sich die Bundeswehr nun auch für Frauen unter
Waffen öffnen muss. Es wird dazu sicher ausführliche
Debatten hier im Hohen Haus geben.
Ich möchte nur anmerken, dass nach dem Bericht der
Wehrbeauftragten die Erfahrungen mit Frauen in unse-
ren Sanitätseinheiten und in den Musikkorps gut sind.
Ich denke, Frauen werden auch auf anderen Dienstpos-
ten ihren Mann stehen.
Ich wünsche mir eine parteiübergreifende, offene, fai-
re und erfolgsorientierte Diskussion, wie ich sie
manchmal leider hier im Hohen Hause schmerzlich
vermisse.
Liebe Kollegin, Sie
müssen jetzt aber wirklich zum Schluss kommen.
Ja, das ist wirklich der letzte
Satz. – Der sachliche, objektive Bericht der Frau Wehr-
beauftragten, der frei von parteipolitischer Polemik ist,
könnte uns dabei Vorbild sein.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Verehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Das Wesentliche am Bericht derWehrbeauftragten ist der Einblick in die Bedingungen,unter denen die Soldaten ihren wichtigen und wertvollenDienst für unsere Demokratie und damit für unsere ge-samte Gesellschaft leisten. Ich möchte dabei die Ver-dienste unserer Soldaten der UN-Kontingente nichtunterschlagen, im Gegenteil: Sie leisten unter schwieri-gen Bedingungen hervorragende Arbeit, wofür ich andieser Stelle ausdrücklich danken möchte.
Es geht mir heute vielmehr um alle Soldaten derBundeswehr, von denen die UN-Kontingente lediglicheinen kleinen Teil ausmachen. Leider ist der alltäglicheDienst hier in den Kasernen den Medien selten eineMeldung wert. Dabei darf aber nicht übersehen werden,dass auch unsere Soldaten im Inland durch die Aus-landseinsätze erhebliche Mehrbelastungen zu bewältigenhaben, Mehrbelastungen, für die oftmals nur die imAusland eingesetzten Soldaten den Dank bekommen,Mehrbelastungen, die aber, wenn sie zur Normalitätwerden, die Motivation und damit auch die Einsatzfä-higkeit der Truppe beeinträchtigen.Doch nicht nur andauernde Überbelastungen, auchdie Rahmenbedingungen, unter denen die Soldaten ihrenDienst leisten müssen, sind schlechte Voraussetzungenfür motivierte Soldaten. Dabei sind es nicht nur die klei-nen Mängel, die zu größerem Ärger führen. Viel gravie-render sind die offenen Fragen um die Zukunft der Bun-deswehr. Sie verunsichern viele Soldaten. Hier sind kla-re Entscheidungen nötig, zu denen diese Koalition je-doch nicht imstande ist.
– Wir warten ab.Dieser Bericht ist nun schon fast ein Jahr alt. Ich sagenur: ein verlorenes Jahr für die Bundeswehr. Planungs-sicherheit zu gewährleisten, Herr Verteidigungsminister,ist auch Teil der Fürsorgepflicht, der Sie – das muss ichhier schon sagen – bisher geschickt ausgewichen sind.Denn weder der jetzige Verteidigungshaushalt noch dieweiteren geplanten signalisieren unseren Soldaten gesi-cherte Zukunftsperspektiven. Wenn die stiefmütterlicheArt und Weise, mit der die Koalition die Bundeswehrund damit unsere Soldaten behandelt, schon von unserenBündnispartnern gerügt wird, dann scheinen wir mit un-seren Forderungen nach einer Aufstockung des Vertei-digungshaushaltes so falsch ja gar nicht zu liegen.Konkrete Argumente für einen erhöhten Etat sindnicht nur dem Bericht zu entnehmen. Hier geht es nichtallein um überalterte Reifen oder fehlende Kleinteile,sondern um klare Technologie- und Ausrüstungsdefi-zite, die im Übrigen auch während des Einsatzes im Ko-sovo ganz deutlich zutage getreten sind.Erst kürzlich sind mir bei einem Besuch von Fern-meldeeinheiten die drastischen Rückstände aufgezeigtIlse Schumann
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worden, die wir schon heute gegenüber den Streitkräftenanderer Bündnispartner haben – und das in einem Be-reich, der nicht nur für Koordination und Kooperationmit unseren Partnern grundlegend ist. Vor allem bei derKrisenfrüherkennung kann dies fatale Folgen haben.Wenn sich das Parlament vorbehält, über Einsätze derBundeswehr zu entscheiden, dann muss die Parla-mentsmehrheit auch die Bereitschaft aufbringen, dienotwendigen Mittel für die entsprechende Ausrüstungzur Verfügung zu stellen.
Bleibt die Koalition bei ihrer halbherzigen Anpassungunserer Armee an die veränderten Anforderungen,dann – da bin ich mir sicher – werden die zukünftigenBerichte der oder des Wehrbeauftragten ein desolatesBild der Bundeswehr aufzeigen.Um die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr zu si-chern, müssen aber auch die vorhandenen Mittel effizi-enter eingesetzt werden.
In diesem Zusammenhang muss sicherlich manchesneu überdacht werden. Nur einer von vielen solchenPunkten ist das Kasinowesen in den Kasernen. Wennschon bei den militärischen Notwendigkeiten gespartwird, dann ist es nicht mehr einzusehen, warum die Ka-sinos jährlich mit einem mehrstelligen Millionenbetragsubventioniert werden. Die Privatisierung der Heimbe-triebe seit 1995 kann hier als gutes Vorbild dienen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Be-richt belegt auch, dass es begründeten Anlass gibt, übergrundsätzliche Fragestellungen bezüglich des Dienstesvon Frauen in der Bundeswehr zu sprechen. Zur Fragedes Dienstes von Frauen an der Waffe hat Frau Marien-feld hervorgehoben, dass weder die weiblichen Soldatennoch ihre männlichen Kollegen mit der jetzigen Situati-on einverstanden sind. Vor allem die Einteilung zumWachdienst ist immer wieder Anlass für Unmut. Dasssich in dieser Frage bisher noch nichts bewegt hat, istleider bezeichnend für den Stellenwert, den die Koaliti-on den Problemen unserer Bundeswehr beimisst. Ichschließe mich daher ausdrücklich der Forderung derWehrbeauftragten an, dass die auch jetzt noch gültigePraxis, Frauen vom Wachdienst auszuschließen, nun ei-ner zufrieden stellenden Lösung zugeführt werden muss.Aber das darf nur ein erster Schritt sein. Einsatzbereit-schaft und Effizienz der weiblichen Soldaten im dienst-lichen Alltag sind durchaus mit den Leistungen ihrermännlichen Kameraden vergleichbar.
Ich bin sicher nicht die Einzige, die sich vorstellenkann, dass das auch in anderen Einheiten als dem Sani-tätsdienst möglich sein wird.
Ein vermehrter Einsatz von Frauen in der Bundes-wehr kann dabei aber nicht gleich bedeutend mit einerAbschaffung der Wehrpflicht sein, auch wenn die Grü-nen das gerne hätten.
Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben sichsehr bewusst, gerade auch aus den vielfältigen und leid-vollen Erfahrungen der deutschen Geschichte heraus, fürdie Wehrpflicht entschieden. Sie ist sichtbarer Aus-druck der Bürgerverantwortung in unserer Demokratie.Damit ist sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil zurVermittlung der Wertvorstellungen unserer freiheitli-chen humanen Gesellschaft geworden.Die Wehrpflicht ist aber auch eine unverzichtbareGrundlage für eine wirksame Sicherheitsvorsorge. Auchunsere Bündnisverpflichtungen, die von der gesamtenKoalition unter Führung des grünen Außenministers Fi-scher eingegangen wurden, setzen eine angemesseneAufwuchsfähigkeit der Bundeswehr voraus.An diesen Grundlagen unseres Staatswesens und un-serer Gesellschaft können auch wirtschaftliche und be-rufliche Begehrlichkeiten nichts ändern, selbst wenn sievom Europäischen Gerichtshof abgesegnet werden.Der Europäische Gerichtshof hat zwar mit seiner Ent-scheidung in einen innerstaatlichen Kompetenzbereicheingegriffen, er hat zugleich aber auch Anlass undGrund gegeben, den Wehrdienst durch eine flexibleAusgestaltung auch weiterhin attraktiv zu gestalten. FürGespräche hierüber sind wir jederzeit bereit. Doch vorden Karren der Abschaffung staatsbürgerlicher Pflichtenlässt sich die CDU/CSU nicht spannen.Die besondere Bedeutung der Wehrpflicht vor allemfür das innere Gefüge der Bundeswehr wird dabei seitJahren durch die Berichte der Wehrbeauftragten belegt.Auch das sollte in der Koalition, vor allem beim Junior-partner, etwas mehr Berücksichtigung finden.Sehr verehrte Frau Wehrbeauftragte Marienfeld, ichdanke Ihnen sehr für Ihre offene und ehrliche Berichter-stattung. Gerade Ihr Engagement als Anwältin der Sol-daten ist für uns alle ein wertvoller Beitrag zur Zu-kunftssicherung unserer Bundeswehr. Schade, dass Sienicht mehr zur Verfügung stehen!Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kol-
legen Georg Pfannenstein, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehrgeehrte Frau Wehrbeauftragte! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! In dieser Debatte hat die Oppositionnatürlich einiges pflichtgemäß beanstandet. Alles, wasmit der materiellen Lage zusammenhängt, wurde kri-tisch angemerkt. Wir sehen uns allerdings nicht in derLage, die schlechte Kassenlage so schnell zu verbessern.Sie haben uns ja die leeren Kassen hinterlassen; das istein schlimmes Erbe.
Anita Schäfer
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Nun beklagen Sie bitterlich die Auswirkungen. Eigent-lich hätten wir von Ihnen etwas anderes erwartet; dennes ist ja bekannt, dass Sie ein Händchen für den Umgangmit Geld haben. Aber hier scheint das nicht der Fall zusein.Ich möchte zu den eher immateriellen, zu den ideellenFragen kommen, die für die Bundeswehr erheblich sind.Ein zentraler Begriff ist für mich dabei die Zivilcoura-ge. Während der Amtszeit von Herrn Rühe hat sich imBMVg und in der Bundeswehr eine besondere Form derAngst entwickelt. Soldaten haben aus Furcht vor dienst-lichen Nachteilen oder Repression durch Vorgesetztegeschwiegen. So manche Vorgesetzte haben aus Furchtvor einem Karriereknick einen nicht vorhandenen Klar-stand gemeldet oder notwendige Maßnahmen unterlas-sen.
Angst ist immer der ärgste Feind von konstruktiverKritik und von Eigeninitiative. Diese sind aber auch ineiner Struktur nötig, die eigentlich auf Befehl und Ge-horsam basiert; ohne Kritik und Eigeninitiative kann einApparat von der Größe einer Armee nicht gut funktio-nieren.
Ohne Kritik und Eigeninitiative – da wären wir wiederbei der materiellen Seite – kann ein Apparat auch seinRationalisierungspotenzial nicht ausschöpfen.
Angst ist auch der Feind der Demokratie. Die Solda-ten der Bundeswehr sind Staatsbürger in Uniform; siesind ein Teil unserer Gesellschaft. Fehlt Zivilcourage indieser Gesellschaft, kann sie keine couragierten Soldatenhervorbringen. Geht den Soldaten die Zivilcourage garwährend ihrer Bundeswehrzeit verloren, tragen sie dieseHaltung auch ins bürgerliche Leben zurück. Die Kritik-fähigkeit des Gemeinwesens leidet; das sollten wir ge-meinsam verhindern.
Die Wehrbeauftragte hat in ihrem Bericht eine deutli-che „Forderung nach mehr Mut“ ausgesprochen. Solda-ten werden dann kritischer und mutiger sein, wenn siedurch ihre Vorgesetzten dazu ermuntert werden. Einkritischer Geist muss also durch alle Hierarchien bis andie Spitze erlaubt sein. Das war unter der alten Regie-rung nicht der Fall. Mit der Stabübergabe im Oktobervorletzten Jahres hat sich das Klima im BMVg und inder Truppe spürbar verbessert.
– Doch. – Die Angststarre hat sich gelöst, eine größereOffenheit hat sich etabliert.
Kritisches und damit innovatives Denken ist nunmehrerwünscht, verehrter Herr Kollege.Der Bericht der Wehrbeauftragten umfasst nur denZeitraum bis Anfang 1999. Insofern konnte sich dieneue Offenheit in dem Bericht noch nicht niederschla-gen. Ich bin mir sicher, dass im nächsten Bericht dieseneue Offenheit deutlich werden wird.
– Nicht „Offenbarung“; tut mir Leid, Herr Kollege.Bis in die 80er-Jahre war für die Bundeswehr, wiedas geflügelte Wort damals hieß, der Frieden der Ernst-fall. Heute sind Auslandseinsätze gleichsam zu einemgefährlichen Alltag geworden, bei dem militärischeAuseinandersetzungen und menschliches Leiden zu ei-ner unmittelbaren persönlichen Erfahrung werden kön-nen. Das stellt neue Anforderungen an die innere Füh-rung, an die Vermittlung von Werten. Die Erweiterungdes Aufgabenspektrums verändert damit auch dasSelbstverständnis des Soldaten, der sich – zunehmendim internationalen Kontext – immer mehr als Schützerund Helfer versteht und verstehen muss. Internationalitätund Toleranz müssen daher zum Markenzeichen desSoldaten werden.Auch andere Entwicklungen machen dies nötig: Miteinem neuen Staatsbürgerschaftsrecht werden zuneh-mend junge Menschen in die Bundeswehr eintreten, dieeiner anderen Kultur entstammen und vielleicht auch ei-ne andere Religion als ihre Kameraden haben, derenFamilien bereits seit Generationen Deutsche sind. Ohnejede Frage wird sich das soldatische Image grundlegendändern, wenn Frauen nun stärker – und zu Recht – in dieBundeswehr drängen.Gerade die zunehmende Einbindung in bi- und multi-nationale Verbände, die beginnende Europäisierung derSicherheits- und Verteidigungspolitik haben Rückwir-kungen auf das soldatische Selbstverständnis und auf dieWerte, die durch die Vorgesetzten vermittelt werdenmüssen. Sicher: Die Landesverteidigung bleibt ein we-sentlicher Zweck der Bundeswehr. Die Identifizierungmit dem Mutterland ist von daher richtig und wichtig.Aber sie reicht nicht mehr. Deutschland ist in EU, WEUund NATO Partner der europäischen Staaten und derUSA. Auf dem Helsinki-Gipfel der EU wurde sogarüber den Kern einer europäischen Armee gesprochen.Für die Sozialdemokraten ist diese partnerschaftli-che Idee entscheidend und nicht eine Idee von Führung,die nur in nationalen Kategorien denkt. Es ist Aufgabemilitärischer Vorgesetzter, diese europäische Veranke-rung zu transportieren. Insofern möchte ich das weiter-führen, was der Inspekteur des Heeres in seiner Lea-dership-Weisung im Sommer letzten Jahres formulierthat. Es heißt da im Zusammenhang mit der Bindung dessoldatischen Gehorsams an ethische Maßstäbe:Dieser Maßstab muss durch die emotionale Bin-dung an unser Land, das heißt an die Nation alsSchicksalsgemeinschaft, ergänzt werden, und indiesem Sinne versteht sich der Soldat als Patriot.Eine solche Formulierung kann leicht missverstandenwerden und kann falsche Assoziationen wecken.Georg Pfannenstein
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Wenn es für Sozialdemokraten eine „Schicksalsge-meinschaft“ gibt, dann ist das eine Gemeinschaft derDemokraten; dann bildet Europa diese Gemeinschaft.Dieses Europa darf nicht im Sinne einer militärisch be-wehrten „Festung Europa“ verstanden werden.Für den einzelnen Soldaten heißt das, dass wir keineRambos und keine Haudegen und schon gar keine Na-tionalchauvinisten brauchen.
Wir brauchen besonnenes, gut geschultes und inter-national teamfähiges Bundeswehr-Personal, das hochmotiviert ist. Genau darin liegt auch die eigentlicheStärke der Bundeswehr.In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz aufeinen anderen Punkt eingehen. Die Wehrbeauftragte hatin ihrem Bericht auch auf die Motivationslücken undFrustrationen hingewiesen, die in der Truppe dadurchentstehen, dass die Beförderungsmöglichkeiten be-grenzt sind. Wir alle wissen, dass dies noch eine Erblastdes Vereinigungsprozesses von NVA und Bundeswehrist. Außerdem stand die Verkleinerung der Bundeswehran. Teilweise ist es aber auch das Ergebnis der Perso-nalpolitik der früheren Bundesregierung.Trotz des engen finanziellen Spielraums haben wir imHaushalt 2000 begonnen, die Personalstruktur durch dieSchaffung zusätzlicher Beförderungsmöglichkeiten zuverbessern. Sie betreffen 900 Stellen im Bereich A 9und A 9 + Z sowie weitere Stellen im Bereich desTruppendienstes bis A 15.
Herr Kollege, Sie
müssen leider die Aufzählung beenden. Ihre Redezeit ist
deutlich überschritten.
Selbstverständlich,
Herr Präsident. – Wir haben auf jeden Fall den erfolg-
reichen Versuch unternommen, den Beförderungsstau in
der Bundeswehr aufzulösen. Wir konnten ihn angesichts
der kurzen Zeit natürlich noch nicht beseitigen. Ich den-
ke aber, wir haben dazu beigetragen, dass wir auf einem
guten Weg sind.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege
Kurt Rossmanith von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!Verehrte Frau Wehrbeauftragte, liebe Claire Marienfeld!Selbstverständlich möchte auch ich mich dem Dank an-schließen, den alle Fraktionen dieses Hohen Hauses Ih-nen – ich unterstreiche: zu Recht – gezollt haben. Ichdenke dabei besonders, Frau Wehrbeauftragte, an Ihresehr beruhigende und versachlichende Arbeit im Zu-sammenhang mit dem Thema Rechtsradikalismus inder Bundeswehr.Sicherlich, Herr Kollege Göllner, haben wir – ich alsVorsitzender dieses Untersuchungsausschusses, der am14. Januar 1998 eingesetzt wurde, und meine Fraktion –damals hinsichtlich der Art und Weise Sorge gehabt, wieüber die festgestellten Einzelfälle in der Öffentlichkeitdiskutiert wurde. Die Sorge war, dass dies zu einer un-erträglichen Belastung für das innere Gefüge der Truppewerden würde.
Ich war aber im Nachhinein froh über diesen Aus-schuss und auch dankbar – das haben wir damals schonzum Ausdruck gebracht –; denn es hat sich gezeigt, dassdie Bundeswehr, was diese Frage betrifft – Herr Göllner,Sie sind in besonderer Weise darauf eingegangen –, jetztsogar besser dasteht als der Durchschnitt der Bevölke-rung. Dies darf aber für uns, die wir als Parlament eineVerpflichtung gegenüber der Bundeswehr haben, keinRuhekissen sein. Es muss weiter unser Bestreben sein,der Truppe in diesem Bereich Hilfe angedeihen zu las-sen.Die gleiche versachlichende Arbeit hat die FrauWehrbeauftragte beim Thema Tradition gezeigt, einemThema, bei dem viele gerne – wir haben es heute wiedererlebt – ein ideologisches Spiel betreiben. Ich glaube,dass man Tradition nicht ideologisch verordnen kann;sie wächst eben. Der ehemalige Bundespräsident RomanHerzog sagte an einem Holocaust-Gedenktag:Wenn ein Volk versucht, in und mit seiner Ge-schichte zu leben, dann ist es gut beraten, in undmit seiner ganzen Geschichte zu leben und nichtnur mit ihren guten und erfreulichen Teilen.Der Wille zur Auseinandersetzung mit der eigenenGeschichte ist Voraussetzung dafür, Tradition wachsenzu lassen und zu pflegen. Für die deutsche Militärge-schichte heißt das, dass sich eine unkritische Rechtferti-gung und Heroisierung verbietet, genauso aber eineKollektivverurteilung ohne jede Differenzierung. Jedeideologisch betriebene Auseinandersetzung mit der Ge-schichte ist zum Scheitern verurteilt, wie das kläglicheSchicksal der Wehrmachtsausstellung zeigt.Umso mehr begrüße ich es, dass die Bundeswehrnoch zu unserer Regierungszeit in unaufgeregter Art undWeise Maßnahmen ergriffen hat, um die Ver-unsicherung im Traditionsbereich zu beenden. Ich be-grüße ausdrücklich die vom Bundesministerium derVerteidigung erlassenen Richtlinien zur Unterstützungder politisch-historischen Bildung durch militärischeExponate. Ich sehe darin eine wichtige Orientierungshil-fe für die verantwortlichen Vorgesetzten, wie sie bei derdurchaus wünschenswerten Darstellung von Militärge-schichte vorgehen können. Dazu gehört auch, dass dieBundeswehr den Kontakt zu Vereinen und Gemein-schaften, die sich mit der Bundeswehr und ihrer Ge-schichte befassen, nicht abreißen lässt, sondern weiter-hin konstruktiv pflegt.Georg Pfannenstein
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Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen,nämlich auf den Bereich, den die Frau Wehrbeauftragtein ihrem Jahresbericht 1998, über den wir heute disku-tieren, herausgestellt hat und den einige Kolleginnenund Kollegen schon angesprochen haben! Es geht umdie Belastungen, die für unsere Soldaten und derenFamilien aus den vielen Änderungen erwachsen sindoder erwachsen, die wir der Bundeswehr in ihrer Struk-tur und in ihrem Auftrag im letzten Jahrzehnt haben zu-muten müssen.Bei aller Flexibilität, die man dem Soldatenberuf zuRecht abverlangen muss, steht dem die berechtige For-derung nach Sozialverträglichkeit gegenüber. Es gibt fürmich eine Grenze für die Verunsicherung, die den Fa-milien unserer Soldaten vernünftigerweise zugemutetwerden kann. Der Rückhalt unserer Soldaten, den sie inihren Familien und in den Gemeinden, in denen die Fa-milien beheimatet sind, erfahren, ist ein nicht zu ver-nachlässigender Faktor für die Einsatzfähigkeit unsererSoldaten.
Ich will sicherlich nicht einer Weinerlichkeit dasWort reden. Unsere Soldaten sind belastbar; das habensie bewiesen. Aber wir müssen die Grenzen im Augebehalten. Insofern ist das schon seit über zwölf Monatenandauernde Reformgespräch von Rot-Grün, ohne dasszwischenzeitlich irgendwelche konkreten Entscheidun-gen getroffen wurden, eine Belastung für die Soldaten,insbesondere für ihre Familien.Der Bundesminister der Verteidigung versucht – daserkenne ich auch an –, diese Aufregung in Grenzen zuhalten. Doch die jetzige Regierung hat mit ihrem offen-kundigen Widerspruch zwischen ihren Versprechungengegenüber der NATO und der Westeuropäischen Unionund den finanzpolitischen Fakten, die sie geschaffen hat,nicht nur das Vertrauen in die deutsche Sicherheitspoli-tik nach außen beschädigt, sondern auch die innereSkepsis genährt.Die Regierung wird noch beweisen müssen, ob sichhinter ihren großen Reformankündigungen für die Bun-deswehr eine radikale Schlankheitskur auf dem Rückenunserer Soldatenfamilien und zulasten des GewichtsDeutschlands verbirgt oder ob die Regierung wirklichbereit ist, die notwendigen Investitionen bereitzustellen,um unsere Streitkräfte für all die Aufgaben zu rüsten, zudenen sie sich international verpflichtet hat.
Strukturveränderungen in den Streitkräften waren inder Vergangenheit notwendig und werden natürlich auchweiterhin notwendig sein. Aber dennoch verweise ichmit großem Ernst auf die Sorge der Frau Wehrbeauf-tragten. Die Ungewissheit für die Angehörigen derStreitkräfte und der Familien muss so schnell wie mög-lich beendet werden. Die Soldaten und ihre Familien hö-ren immer von neuen Aufgaben. Sie spüren natürlichauch ganz konkret die Folgen davon. Die Verlängerungder Auslandseinsätze der Bundeswehrsoldaten auf sechsMonate geht, wie ich meine, an die Grenze der Belas-tung heran.
Wir können, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, gemeinsam mit unseren Soldaten stolz feststellen,dass die Bundeswehr mit ihren Kriseneinsätzen sehr er-folgreich ist. Doch der Einsatz von Streitkräften im Kri-senmanagement ist letztendlich nur verantwortbar, wenner auch in eine funktionierende Außenpolitik eingebettetist, die die Dauer der Einsätze begrenzbar hält.Militärische Kriseneinsätze schaffen Zeit für politischeLösungen. Sie sind aber sicherlich kein Ersatz dafür.Wir können es uns nicht leisten, durch teure Dauersta-tionierung im Ausland Konfliktsituationen regelrechteinzufrieren, ohne mit Nachdruck außenpolitische Lö-sungen voranzutreiben.
Welche Struktur wir unseren Streitkräften auch im-mer geben werden, wir werden sie überfordern, wennwir die Dauer von Kriseneinsätzen nicht überschaubarund den Einsatzradius nicht begrenzt halten. Um es ein-mal so zu sagen: Je weiter eine Krisenregion von unsentfernt ist – das Beispiel Osttimor springt hierbei insAuge –, umso präziser müssen die deutschen und euro-päischen Interessen in diesem Zusammenhang definiertwerden. Streitkräfteeinsatz ohne funktionierende Au-ßenpolitik hält keine Bundeswehrstruktur aus und mussauf Dauer unsere Soldaten demotivieren.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die amMittwoch vorgestellte Neufassung der politischenGrundsätze der Bundesregierung für den Export vonKriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern einge-hen.
Die Frau Wehrbeauftragte hat auch angesprochen, dassdie Wehrtechnik und Ausrüstung unserer Soldaten na-türlich eine wichtige Voraussetzung sind, auch für einemoderne Armee. Deshalb heute in aller Kürze nur soviel zu diesem Thema: Die zukünftigen Herausforde-rungen an die Bundeswehr sind meines Erachtens nurmit modernen technischen Fähigkeiten zu erfüllen. Diesist nur mit einer effizienten wehrtechnischen Industrie inDeutschland und in Europa zu realisieren.Nach den massiven Strukturanpassungen der deutschenWehrindustrie im letzten Jahrzehnt – wir wissen alle,dass wir, wenn ich es am Arbeitskräftepotenzial festma-che, von rund 280 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern in diesem Industriebereich jetzt bei etwa 80 000Mitarbeitern angelangt sind – müssen wir alle mit dafürSorge tragen, dass wir nicht wichtige technologischeKurt J. Rossmanith
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Kapazitäten verlieren und weiteren Arbeitsplatzabbauauch in diesem Industriebereich unterstützen.Ich glaube, dass damit auch unsere Kooperationsfä-higkeit im europäischen Rahmen gefährdet wäre. Dieskönnen und dürfen wir so nicht fortschreiten lassen. Da-gegen müssen wir alle gemeinsam etwas tun. Deshalbhoffe ich auch, dass die Richtlinien entsprechend aus-gelegt werden und dass sie insgesamt im europäischenRahmen angeglichen werden.Frau Wehrbeauftragte, Sie haben gesagt, dass Sienicht wieder für dieses Amt kandidieren werden. Des-halb nochmals zum Abschluss meinen Dank und Ihnenpersönlich weiterhin alles Gute. Sie haben in diesemAmt sicherlich viel Ärger, aber auch viel Freude erlebt.Diese Freude wünsche ich Ihnen auch weiterhin. VielGlück, Gesundheit und vor allem Gottes Segen!
Ich erteile der Kolle-
gin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrte Frau Marienfeld, Sie haben in Ihrem Bericht, aberauch in der Praxis mit dem Untersuchungsausschuss„Bundeswehr und Rechtsextremismus“ viel mit Traditi-on zu tun gehabt. Ich möchte hier jetzt eine ganz andereTradition ansprechen. Ich glaube, Sie haben im positivenSinn die Tradition der Wehrbeauftragten – ich möchtehier auch Willi Berkhan erwähnen – fortgesetzt und indie Praxis umgesetzt. Auch ich möchte Ihnen persönlich,aber auch für meine Fraktion für Ihr Engagement undfür die gute Zusammenarbeit mit dem Parlament dan-ken,
auch wenn ich mit Bedauern feststellen muss, dass manan dieser Stelle immer den Kopf verrenken muss, um dieWehrbeauftragte persönlich ansprechen zu können.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir hatten imBerichtszeitraum den Untersuchungsausschuss „Rechts-extremismus in der Bundeswehr“. Ich glaube, auch derBericht der Wehrbeauftragten macht deutlich, dass esrichtig war, dass wir ihn eingesetzt haben. Es ist das Er-gebnis, das letztlich von fast allen getragen wurde, bisauf wenige Ausnahmen auch von der Opposition undder damaligen Regierung, dass es keinen Generalver-dacht bezüglich des Rechtsextremismus in der Bun-deswehr gibt,
dass es Defizite in der inneren Führung, in der Traditi-onspflege gibt
und dass vor allen Dinge durch die Diskussionen, auchdie öffentlichen und parlamentarischen Diskussionenüber dieses Problem eine Sensibilität in der Truppe ent-standen ist, die zu einer deutlichen Verbesserung und ei-nem demokratischen Verständnis beigetragen hat. Ichglaube, dass es richtig ist, dies noch einmal zu unter-streichen.
Frau Marienfeld, Sie hören zu einer Zeit auf, die, wieich glaube, ganz besonders spannend wird, sicherlichauch für die nächste Wehrbeauftragte oder den nächstenWehrbeauftragten. Wir stehen in diesem Jahr vor einerZäsur. Wir stehen vor der Umstrukturierung der Bun-deswehr. Ganz sicherlich werden sowohl die Kommis-sion „Zukunft der Bundeswehr“ als auch der Verteidi-gungsminister versuchen, das, was Sie an Mängeln auf-zeigen – auch in dem nächsten Bericht über das vergan-gene Jahr, den wir noch von Ihnen bekommen werden –,an Defiziten feststellen, zu berücksichtigen, um zu ver-hindern, dass strukturelle oder auch Führungsmängel in-nerhalb der Bundeswehr durch eine Veränderung derBundeswehrstruktur verstärkt werden. Das wird eineAufgabe sein, die wir als Parlament auch sehr engagiertbegleiten werden.
Sie haben das Stichwort „oberflächliche Werbung fürWehrpflichtige“ erwähnt. Ich bin überzeugt, da hat sicheiniges geändert. Aber auch das ist ein ganz wichtigerPunkt, wenn wir in die Zukunft schauen. Da möchte ichnicht nur die Anforderungen an die Bundeswehr, an einepräventive Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmender aktuellen Auslandseinsätze, aber auch der möglichenzukünftigen Einsätze zur Friedenswahrung und Frie-densstabilisierung nennen, sondern natürlich wird auchdie Frage der Frauen in der Bundeswehr – ich erwähnedas EuGH-Urteil – zu einer massiven Veränderung füh-ren. Die Führung der Bundeswehr, die Soldaten, aberauch die Frauen stehen vor einer Herausforderung, dieheute nur in ihrem Rahmen zu sehen ist. Umso wichtigerwird es sein, dann auch die innere Führung zu stärken,die Menschenführung und die Gleichberechtigung zustärken sowie das, was unter Volker Rühe manifestiertworden ist, nämlich das Diskussionsverbot, die Angst,Mängel zu benennen, zu beseitigen. Wir werden in Zu-kunft noch viel mehr darauf angewiesen sein, dass dieTruppe diesen Prozess aktiv begleitet, damit wir die Zu-kunft der Bundeswehr gestalten können.Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Ich glau-be, dass das EuGH-Urteil nicht nur eine Zäsur für dieBundeswehr bedeutet, sondern auch für die Rolle derFrauen in der Gesellschaft insgesamt.
Wir wollen die öffentliche, die gesellschaftliche De-batte. Sie wissen, dass wir für die Abschaffung derKurt J. Rossmanith
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7613
Wehrpflicht und die Stärkung der Freiwilligkeit in dieserGesellschaft eintreten. – Ich weiß, dass Ihnen das nochimmer nicht gefällt, Herr Nolting, aber dann hätten Siesich als Redner melden sollen, statt jetzt dazwi-schenzurufen.Wir werden versuchen, alle Diskriminierungen in derBundeswehr – da gebe ich Ihnen Recht, Herr Braun – zubeseitigen. Das betrifft natürlich auch die Frage derGleichstellung der Rechte von Homosexuellen in derBundeswehr.Diese Aufgabe liegt noch vor uns, aber ich bin gutenMutes, dass wir sie in Kürze positiv bewältigen.Herr Rossmanith, was Sie zu den Rüstungsex-portrichtlinien gesagt haben, zeigt Ihr Unverständnis. Ih-re Aussage war, wir hätten keine aktive Außenpolitik.
Diese Bundesregierung hat unter Außenminister Fischerdie Außenpolitik in einem neuen Rahmen der präventi-ven Außen- und Sicherheitspolitik formuliert. Die Rü-stungsexportrichtlinien sind ein Gewinn für die Si-cherheitspolitik,
weil sie zum ersten Mal die Frage der Menschenrechteim Empfängerland und die Frage des Endverbleibes re-geln. Das heißt, wir tragen zur Sicherheit in der eigenenRegion, aber auch zur Sicherheit in Spannungsregionenbei. Das hat Ihre Regierung 16 Jahre nicht geschafft.Das ist ein Garant dafür, dass wir die Gefahr reduzieren,dass die Soldaten bei Auseinandersetzungen durch ille-gal weiterexportierte Waffen gefährdet werden. Auchdas ist Sicherheits- und Außenpolitik, die Sie innerhalbder nächsten drei Jahre vielleicht noch besser verstehenlernen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wortdem Bundesminister der Verteidigung, RudolfScharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu-nächst möchte ich Ihnen, Frau Marienfeld, sehr herzlichfür die geleistete Arbeit als Wehrbeauftragte danken.Den Stimmen aus dem Deutschen Bundestag schließeich mich voller Überzeugung an. Ich schließe in diesenDank auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein.Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben Ih-nen vertraut. Das wird auch in den verbleibenden Mona-ten Ihrer Amtszeit so sein. Ich hoffe sehr, dass wir, un-beschadet Ihrer Entscheidung, so wie in der Vergangen-heit gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten werden.Die Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestageshandeln, wie der Name sagt, im Auftrag des Parlaments.Sie haben eine sehr klar beschriebene Aufgabe, nämlichsich um die sozialen und die dienstlichen Belange derSoldaten, die Wahrung ihrer Rechte, die Einhaltung dergesetzlichen Vorschriften usw. zu kümmern. Dass in be-stimmten Situationen eine gewisse Versuchung besteht,das Thema gewissermaßen ad infinitum, in globale Di-mensionen auszuweiten, kann ich nachvollziehen. Auchich werde ihr nicht vollständig widerstehen.Aber zunächst einmal möchte ich etwas zum Amt derbzw. des Wehrbeauftragten und zu dem Bericht sagen,der sich ja auf das Jahr 1998 bezieht. Es ist ganz interes-sant, zu sehen, wie einige Mitglieder des Parlamentesdas dringende Bedürfnis haben, bloß nicht über das Jahr1998,
sondern lieber im Stile des Verdachtes und der Vermu-tung über die Zukunft zu reden. Auf diese Weise erzeu-gen sie genau das, was sie hinterher beklagen.
Die Wehrbeauftragten handeln, wie gesagt, im Auf-trag des Parlamentes. Naturgemäß muss ein solcher Jah-resbericht wie ein Mängelbericht angelegt sein. Er mussMissstände ansprechen, aber auch gute Leistungen wür-digen. Er soll ausdrücklich Fehlentwicklungen aufzei-gen, aber auch Impulse für Verbesserungen geben. Die-sem Anspruch wird, soweit ich mir dieses Urteil erlau-ben darf, der Jahresbericht 1998 der Wehrbeauftragtenin besonderer Weise gerecht. Er ist ausgewogen, er istkonstruktiv und er ist hilfreich für die weitere Arbeit.
Deshalb wäre es ganz gut, wenn dieser sehr fundierteBericht nicht zum Anlass genommen würde, die eineoder andere Sache, die mit den Realitäten gar nichts zutun hat, mit der Notorik des Ignoranten in die Welt zusetzen.
Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen deutlichmachen: Einige von Ihnen haben davon gesprochen, dieQuote der Kriegsdienstverweigerer steige dramatisch.Seit Jahren – dies trifft auch für die Jahre 1998 und 1999zu; ich habe die entsprechenden Zahlen vorliegen –verweigern allerdings konstant zwischen 34 und35 Prozent der tauglich gemusterten jungen Männer denWehrdienst. Wenn sich Jahrgangsstärken verändern,dann führt dieser Prozentsatz zu anderen absolutenZahlen. Das ist völlig klar. Das betrifft die Grund-rechenarten. Deshalb ist es wichtig zu wissen: Die Quoteist konstant.Anstatt bundeswehrkritische, zweifelnde Fragen zustellen, sollten wir in einem Punkt stolz auf die jungenMänner in Deutschland sein: 65 Prozent der jungenMänner entscheiden sich freiwillig für die Bundeswehr.Angelika Beer
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Das ist ein gutes Zeugnis für die Bundeswehr und fürden Dienst, der dort für unser Land geleistet wird.
– Herr Breuer, ich habe mich auf Herrn Siemann bezo-gen. Sie hätten Ihrem Kollegen aufmerksam zuhörensollen.
Auch auf den Nachwuchs wurde verwiesen. In die-sem Zusammenhang möchte ich Ihnen die entsprechen-den Zahlen für 1998 und 1999 nennen, damit Sie diesebeiden Jahre einmal vergleichen können: Bezogen aufdie Nachwuchsgewinnung sind 1998 83 Prozent der an-gebotenen Stellen besetzt worden. 1999 waren es82 Prozent. Ein dramatischer Rückgang! Im Bereich derStatuswechsler, also bei denen, die innerhalb der Bun-deswehr in einen neuen Status wechseln, den Einsatz beider Bundeswehr zu ihrem Beruf machen, wurden 199880,7 Prozent der angebotenen Stellen besetzt. 1999 sindes 90 Prozent gewesen.Wie können Sie angesichts dessen davon sprechen,dass die Nachwuchsgewinnung gefährdet sei! Eine ge-wisse Orientierung an den Realitäten und keine völligeIgnoranz gegenüber dem, was Sie bei der Bundeswehrgetan haben, das wäre auch für zukünftige Debatten hilf-reich.
Ich weiß, diese Orientierung an den Realitäten wird eherim privaten Gespräch erreichbar sein als in öffentlichenDiskussionen. So ist das Leben. Trotzdem, sonderlichviel hilft es nicht.Ein demokratischer Staat braucht Streitkräfte, in de-nen der Soldat als Staatsbürger in Uniform betrachtetwird und die Werte unserer Verfassung im täglichenDienst erlebt. Auch darüber wacht das Amt des Wehrbe-auftragten. Das hat Frau Marienfeld mit Blick auf diesozialen und familiären Belange in einer, wie ich finde,sehr ausgeprägten und guten Weise getan. Diese Erfah-rung entscheidet darüber, ob das Wort vom Staatsbürgerin Uniform nur ein schönes Etikett oder auch eine erfah-rene Realität ist, die nicht am Kasernentor endet, genau-so wenig wie dort Demokratie und Grundrechte zu en-den haben. Dahinter steckt die Überzeugung: Nur werdiese Erfahrung im Alltag macht, wird seine Aufgabenfür Frieden und Freiheit überzeugt wahrnehmen.Deshalb muss – das sage ich an das gesamte Parla-ment gerichtet – mit Blick auf die Zukunft der Dienst inden Streitkräften attraktiv bleiben. Das hat etwas mitPerspektiven zu tun. Das hat etwas mit sozialen Belas-tungen zu tun. Das hat auch etwas mit Bezahlung usw.zu tun. Gerade eine Demokratie kann nicht daran inter-essiert sein, dass in den Sicherheitsberufen – sei es beimGrenzschutz, bei der Polizei oder in der Bundeswehr –wegen mangelnder Attraktivität so etwas wie eine nega-tive Auslese stattfindet. Denn damit kreieren wir Pro-bleme, die wir unbedingt vermeiden sollten.
Auch in diesem Sinne sind die WehrbeauftragtenAnwälte der Soldaten.Sie haben sich immer um die Lösung sozialer Problemeund die Verbesserung des Arbeitsplatzes Bundeswehrbemüht, dadurch Vertrauen und Ansehen bei den Solda-tinnen und Soldaten erworben, auf Unzulänglichkeitenaufmerksam gemacht, sich schützend vor die Bundes-wehr gestellt, wenn Sie dies für erforderlich hielten. Dasgilt auch für den Bericht 1998.Er schenkt auch den Soldatinnen und Soldaten imEinsatz großes Augenmerk. Die Erfahrungen, die wirinsbesondere in Bosnien und im Kosovo machen, sind invielerlei Hinsicht wertvoll und sie zeigen, welch kostba-ren Schatz auch die Konzeption der inneren Führung fürdie Streitkräfte darstellt und für das demokratische Ein-gebettet-Sein der Streitkräfte in eine freiheitliche Demo-kratie.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Aber gern.
Herr Mini-ster Scharping, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,dass die Berufe im Bereich der Sicherheit, und zwar alle,durch eine ausreichende, attraktive Bezahlung in ihremBestand gesichert werden müssen. Stimmen Sie mir zu,dass die finanziellen Möglichkeiten, insbesondere dieAufstiegsmöglichkeiten im Bereich der Bundeswehr beiUnterführern deutlich schlechter sind als bei der Polizei?Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Ja, das ist erstens richtig. Zweitens hat der Kolle-ge Pfannenstein, wenn ich es recht erinnere, darauf auf-merksam gemacht, dass wir erste Maßnahmen dagegengetroffen haben. Drittens will ich Ihnen ankündigen,dass wir weitere Maßnahmen treffen werden im Zu-sammenhang mit der Neukonzeption der Bundeswehr.Und viertens will ich Ihnen sagen, dass es ja kein Wun-der ist, wenn ich mir betrachte, wie sich die Haushalts-zahlen in den 90er-Jahren entwickelt haben. Sie habenRecht mit der Feststellung, wir müssten diese Attrakti-vität erhalten und in bestimmten Bereichen auch erhö-hen. Das Einzige, was mich etwas verblüfft, ist: Sie sa-gen das als Mitglied einer früheren Koalition, die zumBeispiel durch die Veränderung von Erschwerniszulagenund anderem genau diese Attraktivität, wenn man sieeinmal finanziell, einkommensmäßig betrachtet, in ei-nem erheblichen Umfang in Gefahr gebracht hat. Das isteinfach eine Tatsache.Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7615
Wenn ich auf den Gedanken der internationalenEinsätze zurückkommen darf: Diese zeigen uns, dassbei dem Konzept der inneren Führung, übrigens auchmit Blick auf die Ausbildung, ein Stillstand nicht ein-treten darf. Ein Offizier oder ein Unteroffizier muss inder Lage sein, die konkreten politischen Bedingungendes Einsatzlandes zu beurteilen. Er braucht politischeBildung, Urteilsvermögen, diplomatisches Fingerspit-zengefühl und Charakterstärke. Das sind die Vorausset-zungen, um zwischen Parteien zu vermitteln, die sichzuvor noch erbittert bekämpft haben.Diese Empathie, die Wolf Graf Baudissin als Elementkooperativer Sicherheitspolitik verstanden hat – sehrinteressant, denn es liegt ja schon mehrere Jahrzehntezurück –, darf auf keinen Fall mit Sympathie verwech-selt werden. Soweit es um militärische Beiträge zurFriedenssicherung oder zur Vermittlung geht, brauchtman einen eigenen festen Standpunkt in den Werten un-serer Verfassung, einen Standpunkt, der Menschen poli-tisch überzeugt. Wenn ich mit Kollegen, Außenminis-tern wie Verteidigungsministern, anderer Länder hieroder in deren Heimat spreche, dann bestätigen sie alleuneingeschränkt, was auch mein Eindruck von vielenBesuchen in Bosnien wie im Kosovo ist: Die Angehöri-gen der Streitkräfte werden den Anforderungen imAuslandseinsatz in einer herausragenden Weise gerecht.Sie verdienen jede Anerkennung und jede Unterstützungdafür.
Das gilt übrigens auch für die Situation bei uns zuHause, wohl wissend um die schwierigen Bedingungen,die manchmal entstehen, um die Notwendigkeit derUnterstützung der Familien. Deshalb sind ja im Jahr1999 erste Entscheidungen getroffen worden. Ich nenneals Beispiel die Aufstockung der KRK-Verbände, denAbbau des Beförderungsstaus, der etwas mit der sozia-len Lage und der planerischen Sicherheit zu tun hat, undvieles andere, was ich jetzt aus Gründen mangelnderZeit nicht aufzählen kann.Das Hauptproblem und die Wurzel der Schwierig-keiten ist, dass die Bundeswehr seit Jahren von derSubstanz zehrt. Das hat negative Auswirkungen auf dieStreitkräfte und es hat negative Auswirkungen auf dieMotivation des einzelnen Soldaten. Darüber hinwegzu-reden würde eine Verfälschung der Realität bedeuten.Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass in den Jah-ren 1999 und 2000 gegenüber 1997 und 1998 –, nur umeinmal zwei Jahre miteinander zu vergleichen –, dieseKoalition für die Streitkräfte einschließlich der interna-tionalen Einsätze 1,9 Milliarden DM mehr aufwendet alsim vergleichbaren Zeitraum vorher, selbst wenn man be-rücksichtigt, dass in den Jahren 1999 und 2000 dieseKoalition für die Beseitigung von Ausrüstungsmängeln2,5 Milliarden DM mehr aufwendet als im gleichen Zeit-raum die vorherige Koalition, ändert das an den tatsäch-lichen Schwierigkeiten und an der notwendigen An-strengung für die Zukunft nichts.
Dafür braucht man, bevor man über Einzelheiten redet,klare Leitlinien, planerische und soziale Sicherheit,Wirtschaftlichkeit und Effizienz innerhalb der Bun-deswehr und muss im Übrigen Beiträge für ein zukunfts-fähiges Deutschland leisten.Um die „Beiträge für ein zukunfstfähiges Deutsch-land“ kurz zu erläutern: Wir haben die Zahl der zivilbe-ruflichen Ausbildungsmöglichkeiten in der Bundes-wehr verbessert. Die Zahl der Ausbildungsplätze in ganztraditionellen zivilen Ausbildungsberufen ist in derBundeswehr um 15 Prozent erhöht worden. Ich bin ent-schlossen, dies, wenn irgend möglich aufrecht zu erhal-ten. Ebenso sinnvoll und gut ist es, dass wir aus denMitteln des Verteidigungshaushalts für die zivilberufli-che – ich betone ausdrücklich: zivilberufliche Ausbil-dung – über 2 Milliarden DM aufwenden und damit dergrößte Investor im Bereich der Ausbildung junger Leutein der Bundesrepublik Deutschland sind.
Dies gereicht unserem Land zur Ehre und ist für die At-traktivität der Bundeswehr von entscheidender Bedeu-tung.Wirtschaftlichkeit und Effizienz erhöhen:Ich weiß,dass einige sich gedacht haben, der Verteidigungsmini-ster macht dazu einmal einen attraktiven Spruch. Aberwas steckt dahinter? Wir haben im Juli mit 14 großenIndustrieunternehmen einen Vertrag über Ausbildung,Fortbildung und Weiterbildung abgeschlossen. Einigehaben sich gefragt: Was wird dabei wohl herauskom-men? Andere haben gefragt: Wieso ist der Mittelstandnicht beteiligt? Ich will heute dem Deutschen Bundestagsagen, dass sich mittlerweile über 300 Firmen inDeutschland, vom Handwerksmeister bis zum weltweittätigen Industrieunternehmen, an diesen Anstrengungender Bundeswehr zur Lösung von Ausbildungsproblemenund zur Verbesserung der zivilberuflichen Perspektivender Soldatinnen und Soldaten beteiligen. Dies ist einenormer Fortschritt.
Wir haben mit den Gewerkschaften und Verbändendes öffentlichen Dienstes im Dezember eine Rahmen-vereinbarung über die Modernisierung der Verwal-tung abgeschlossen sowie mit einer Handwerkskammerein Pilotprojekt über Ausbildungsmöglichkeiten für Sol-daten mit Gesellenbrief initiiert. Diese Maßnahmen tref-fen auf eine enorm große Resonanz. Dem zuständigenStaatssekretär liegen mittlerweile Schreiben von zirka30 weiteren Unternehmen vor, die sich an diesem Rah-menvertrag beteiligen wollen, um Wirtschaftlichkeit undEffizienz zu erhöhen.Warum sage ich Ihnen das? Wenn Sie hier schon überEntscheidungen für die Zukunft reden, muss ich Sie fra-gen: Was haben denn meine Vorgänger, was hat denndie Koalition vor uns jemals getan, um auf diese Weisezu einer Kooperation mit der Wirtschaft in Fragen derBundesminister Rudolf Scharping
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7616 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Ausbildung, der Fortbildung und der Weiterbildung, derBeschaffungsvorgänge, der Betriebsabläufe, der Logi-stik usw. zu kommen? Was haben Sie denn getan?
Wenn aus Ihren Reihen beklagt wird, wir hätten zumBeispiel im Bereich der Fernmeldemittel einige Schwie-rigkeiten, so stimmt das. Es macht auch einem Verteidi-gungsminister wahrlich kein Vergnügen, in einer Einheitder Bundeswehr festzustellen, dass für die Abwicklungdes Lufttransports eigentlich 75 PCs erforderlich sind.Da die Bundeswehr hier nur über 25 PCs verfügt, er-laubt die Bundeswehr die dienstliche Nutzung privaterPCs, sodass die Soldaten die fehlenden Geräte selbstmitbringen. Ich könnte viele solche Beispiele aufzählen.Ich wundere mich nur, dass dies aus den Reihen derheutigen Opposition beklagt wird. Sie müssen mich janicht dafür loben, dass ich begonnen habe, diese Miss-stände abzubauen.
Das wäre von der Opposition zu viel verlangt. Siemüssten jedoch der Korrektheit halber wenigstens sa-gen: Wir haben in den letzten Jahren auf der Seite derAusrüstung der Bundeswehr leider schwere Fehler ge-macht.
Die von mir genannten Vereinbarungen stehen. Hinzukommt, was ich für die Conditio sine qua non halte,nämlich die planerische und soziale Sicherheit.Das größte Kapital der Bundeswehr – das habe ichbis im Parlament mehrmals gesagt – sind ihre Angehöri-gen, ihr Leistungswille, ihre Fähigkeiten und ihre Be-reitschaft zur Verantwortung. Der größte Mangel liegtauf der Seite der Ausrüstung. Das muss berücksichtigen,wer an die Neuausrichtung der Bundeswehr geht.Die Bundeswehr der Zukunft muss sich durch aus-geprägte schnelle und hohe Fähigkeit zu reagieren aus-zeichnen. Sie muss – auch in Einsätzen – flexibel sein.Sie muss modern ausgerüstet sein. Sie bedarf einer straf-fen Führungsorganisation. Sie muss ganz unterschiedli-chen Ausbildungserfordernissen genauso gerecht wer-den, wie sie Aufwuchsfähigkeit unter dieses tragfähigeDach bringen muss. Die Bundeswehr der Zukunft wirdfür Männer und Frauen ein attraktiver Arbeitsplatz sein,und zwar in allen Laufbahnen. Wer die EU-Richtlinieund das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ernstnimmt, der wird sehen, dass es einen jedenfalls aus demGeschlecht abgeleiteten Grund nicht gibt, jemanden voneiner bestimmten Laufbahn, von einer bestimmten Ver-wendung auszuschließen. Das halte ich auch für richtig.
In all diesen Bereichen muss – damit komme ich, ge-wissermaßen den großen Bogen schlagend, auf die Ar-beit der Frau Wehrbeauftragten und ihr geschätztes En-gagement zurück – unser Ziel sein: frühzeitig einbezie-hen, Menschen mitnehmen, ihre Kreativität nutzen, ihreFantasie anregen, zur Diskussion, zum Denken und zuMitverantwortung ermutigen. Das ist in meinen Augenzeitgemäßes Führungsverständnis.Deshalb gab es im Jahr 1999 weit über zehn Tagun-gen. An eine Tagung mit Soldaten, deren Eltern aus demAusland kommen, erinnere ich mich sehr gut: Ich saßmit 70 Wehrpflichtigen – ich betone: Wehrpflichtigen –zusammen, deren Eltern aus weit über 20 Nationen, ausJapan über Vietnam bis Costa Rica, aus den USA überPolen bis nach Usbekistan und aus vielen Ländern mehr.Die Bundeswehr vollbringt diese Integrationsleistungmit aller Ruhe, sehr konsequent und manchmal viel bes-ser als solche, die immer davon reden und über sie inanderen Bereichen klagen.
Diese Tagungen haben mir gezeigt, dass man sehrviel mobilisieren kann. Ich müsste Sie eigentlich fragen:Wann hat es so etwas zum letzten Mal gegeben? Derletzte Verteidigungsminister, der sich auf diese Weiseum die Bundeswehr bemüht hat – ich will jetzt nichtmeine 70 Truppenbesuche in einem Jahr ansprechen –,war Helmut Schmidt. Es weiß doch jeder, dass es mei-nem Vorgänger eher lästig war, wenn Soldaten gedachthaben. Wenn ihm Ergebnisse nicht gepasst haben, dannhaben es die Soldaten auch zu spüren bekommen. Dazukönnte ich Beispiele nenne, aber das würde den zeitli-chen Rahmen sprengen.Herr Präsident
– Entschuldigung –, Frau Präsidentin, ich komme zumSchluss. Ich will Ihnen ausdrücklich ankündigen: Ichwerde auch in diesem Jahr, im Zeitraum vom 1. Februarbis Ende April, mit allen Vorgesetzten, vom Kompanie-feldwebel bis zum Divisionskommandeur, reden. Dafürwerde ich mir in diesen zweieinhalb Monaten zehn TageZeit nehmen.
Ich werde in ganz Deutschland mit allen Präsidien, mitallen Hauptgeschäftsführern der Industrie- und Handels-kammern und der Handwerkskammern über die Mög-lichkeiten der Zusammenarbeit von der Ausbildung bishin zum wirtschaftlichen Betrieb der Bundeswehr reden.Ich lege großen Wert darauf, dass sich die gesamteBundeswehr, und alle die Soldatinnen und Soldaten wieder zivile Teil der Bundeswehr, an der Stabilität, an derSicherheit und an der Gewährleistung der Freiheit unse-res Landes Interessierten und dafür Engagierten an die-sem breiten Dialog über die Bundeswehr der Zukunftbeteiligt. In diesem Dialog muss für die Soldatinnen undSoldaten sowie für die zivilen Mitarbeiter der Bundes-wehr eines sichtbar werden: Planerische und soziale Si-cherheit, Wirtschaftlichkeit und Effizienz zum Zweckeeiner modernen Ausbildung und gute Beiträge für dieZukunft eines modernen Deutschlands gehören zusam-men – übrigens nicht nur in der Bundeswehr.Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7617
Ich freue mich, mei-
ne Damen und Herren, dass der Wechsel auf dem Präsi-
dentenstuhl so geräuschlos vor sich geht, dass sich der
Redner nicht gestört fühlt. Da Herr Scharping ein Frau-
enfreund ist, habe ich das richtig eingeschätzt.
Ich schließe die Aussprache.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung des Ver-
teidungsausschusses zum Jahresbericht 1998 der Wehr-
beauftragten – Drucksache 14/500 – auf Drucksache
14/1807 ab. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b so-
wie Zusatzpunkt 10 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr Wolfgang Gerhardt, Jörg van Essen, Rainer
Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Regelung des Rechts der Untersuchungs-
– Drucksache 14/2363 –
Überweisungsvorschlag:
A. f. Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
und der Fraktion der F.D.P.
Änderung der Anlagen 1 und 3 der Geschäfts-
ordnung des Deutschen Bundestages
– Drucksache 14/2365 –
Überweisungsvorschlag:
A. f. Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts
der Untersuchungsausschüsse des Deutschen
Bundestages
– Drucksache 14/2518 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Es könnte einem fastschwindelig werden, wenn man an die Geschwindigkeitdenkt, mit welcher tagtäglich immer wieder neue bri-sante und nahezu unglaubliche Vorgänge bekannt wer-den, mit denen sich der Parteispenden-Untersuchungs-ausschuss befassen muss. Deshalb sollte sich der Aus-schuss wenigstens im Verfahrensrecht auf sicherem Bo-den bewegen.
Juristen, zumal deutsche, streben bekanntlich nachPerfektion. Es ist sehr erstaunlich, dass das Parlamentausgerechnet für die Tätigkeit eines eigenen Gremiums,eben der Untersuchungsausschüsse, bisher keine eigen-ständige gesetzliche Regelung zustande gebracht hat.Diese Lücke will die F.D.P. mit ihrem Entwurf vom 15.Dezember 1999 schließen, gerade auch im Hinblick aufeine erfolgreiche Arbeit des Parteispenden-Unter-suchungsausschusses.
Bisher gab es so genannte IPA-Regeln, die aber zuRechtsunsicherheit geführt haben. Häufig wurde deshalbdas Bundesverfassungsgericht als Schiedsrichter angeru-fen. Das ist kein sehr günstiger Zustand. Es stärkt dieFähigkeit der Untersuchungsausschüsse zur Aufklärung,wenn wir klare gesetzliche Vorgaben schaffen. Alle frü-heren Versuche sind leider gescheitert. Am nächstenkam man dem Ziel am Ende der 11. Legislaturperiode,als es im Geschäftsordnungsausschuss einen fraktions-übergreifenden Beschluss über ein einheitliches Verfah-rensrecht gab. Auch dieser Entwurf hat jedoch wegendes Endes der Legislaturperiode das rettende Ufer,sprich: das Bundesgesetzblatt nicht mehr erreicht. Aberauf die damalige Initiative kann man jetzt zurückgreifen.Dies tut die F.D.P. – wir wollen uns hier nicht mit frem-den Federn schmücken – mit der Vorlage eines überar-beiteten Entwurfs.Uns ist bewusst, dass es bei scheinbaren Formalien inWahrheit oft um politisch bedeutsame Regelungen geht.Ich nenne nur eine in Untersuchungsausschüssen immerwieder umstrittene Verfahrensmodalität: Die Rei-henfolge von Zeugenvernehmungen hat natürlich hoch-politische Hintergründe.Verfahrensrecht ist immer konkretisiertes Verfas-sungsrecht. Im Verfahrensrecht werden wesentlicheElemente des Rechtsstaatsprinzips verwirklicht. Es mussklar und eindeutig sein und muss die Arbeit eines Aus-schusses berechenbar machen. Das Verfahrensrechtsollte keinen Platz für Willkür lassen, sondern Streitig-keiten über prozessuale Fragen vorbeugen. „Legitimati-on durch Verfahren“ hat das bekanntlich Niklas Luh-mann in einem seiner Hauptwerke genannt.Vor allem aber muss in einem solchen Verfahrensge-setz, gerade weil es um ein parlamentarisches Gremiumgeht, das demokratische Grundprinzip der Mehrheitsent-scheidung in sinnvoller Weise mit einem weiterenGrundgedanken der Verfassung harmonisiert werden,nämlich dem Minderheitenschutz. Die Verfahrensord-nung darf kein Hebel für die Mehrheit sein, einer Min-derheit die Chance zur Aufklärung des Untersuchungs-gegenstands zu nehmen oder auch nur zu erschweren.
Bundesminister Rudolf Scharping
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7618 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Wir meinen, dass der F.D.P.-Entwurf diesen hohen An-forderungen schon sehr nahe kommt. Aber selbstver-ständlich sind wir im Laufe des Gesetzgebungsverfah-rens offen für weitere Verbesserungen.In den letzten Tagen, Herr Bachmaier, ist öffentlichdarüber diskutiert worden, ob es künftig gestattet wer-den soll, über Sitzungen des Untersuchungsausschusseslive im Fernsehen zu berichten. Das ist bisher weder inunserem noch im Entwurf von Bündnis 90/Die Grünenvorgesehen. Wir haben uns an das alte Dichterwort erin-nert, dass dann die Szene leicht zum Tribunal werdenkann. Auf der anderen Seite geht es eben nicht um einGerichtsverfahren – schon gar nicht um ein normales –;vielmehr ist ein Untersuchungsausschuss natürlich einepolitische Veranstaltung mit einem hohen Informati-onsinteresse der Bürgerinnen und Bürger. Ich könntemir daher vorstellen, dass wir uns im Ausschuss auf eineÖffnungsklausel, zumindest was die Fernsehbericht-erstattung angeht, einigen werden.In den Ausschussberatungen sollten wir auch prüfen,ob der Minderheitenschutz bezüglich des Untersu-chungsgegenstandes noch einer weiteren Klarstellungbedarf. Wir sind der Meinung, dass, wenn 25 Prozentder Abgeordneten des Parlaments einen Untersuchungs-ausschuss beantragen können, folglich 25 Prozent auchdas Quorum dafür sein sollten, einen Untersuchungsge-genstand nachträglich zu erweitern.
Dies ist aber gerade von den Regierungsfraktionen imParteispenden-Untersuchungsausschuss in Zweifel ge-zogen worden, weil sie nicht wollten, dass der Aus-schuss auch die Möglichkeit hat, das Verhalten der da-maligen Oppositionsparteien zu untersuchen. Wenn die-ser Zweifel aufrechterhalten wird, dann sollten wir imSinne des Minderheitenschutzes eine Klarstellung insGesetz aufnehmen.
Schließlich führen für mich die Erfahrungen aus dergestrigen Sitzung des Parteispenden-Untersuchungs-ausschusses noch zu einer weiteren Frage. Im Parlamentwerden oft seltsame Rituale gepflegt, die der Nichtpoli-tiker schwer nachvollziehen kann. Zum Beispiel habenwir gestern erlebt, dass allgemeines Einverständnis dar-über besteht, den früheren Bundeskanzler Helmut Kohlim Untersuchungsausschuss als Zeugen zu vernehmen.Gleichwohl haben SPD und Grüne dem entsprechendenBeweisantrag der CDU/CSU nicht zugestimmt.
Umgekehrt besteht allgemeine Einigkeit, dass selbstver-ständlich Dr. Wolfgang Schäuble im Untersuchungsaus-schuss als Zeuge zu vernehmen ist. Einem entsprechen-den Antrag von SPD und Grünen hat aber seltsamerwei-se die Unionsfraktion nicht zugestimmt.
Ich erwähne dies deshalb, weil solche eigentümlichenRituale den Verdacht nahe legen, dass prinzipiell Anträ-gen anderer Fraktionen nicht zugestimmt wird, obwohles von der Sache her notwendig wäre. Das kann dasBeweisantragsrecht gerade von kleinen Fraktionen tan-gieren, sodass ich im Ausschuss zur Debatte stellenwerde, ob man den Minderheitenschutz beim Beweisan-tragsrecht gegenüber unserem eigenen Entwurf nochmehr verbessern muss.
SPD und Grüne haben mit einem eigenen Gesetzent-wurf vom 18. Januar 2000 nachgezogen.
– Herr Bachmaier, ich weiß, dass Sie jahrelang darangearbeitet haben. Das ist verdienstvoll. –
Die Lektüre zeigt allerdings, dass man Unterschiedezwischen diesem und unserem Entwurf mit der Lupe su-chen muss, weil beide Entwürfe auf den Vorarbeiten ausder 11. Legislaturperiode beruhen. Es gibt genau fünfDetailpunkte, in denen Unterschiede vorliegen. Darüberkönnen wir im Ausschuss gerne reden.
Aber Ihre Redezeit
lässt das nicht mehr zu, Herr Kollege.
Ich mache am Schluss nur
darauf aufmerksam, dass in der Eile Fehler unterlaufen
sind, etwa die Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch von
1987, obwohl es eine Neufassung von 1998 gibt. Ein
anderer Fehler ist ein Änderungsantrag zu einer Vor-
schrift aus dem StGB, die mittlerweile längst geändert
worden ist. Solche peinlichen Verfahrensfehler, solche
inhaltlichen Versehen müssen wir im Ausschuss korri-
gieren.
Noch besser wäre es, wenn Sie unseren Entwurf als
Grundlage für die Beratungen nehmen. Am besten wäre
es, wenn wir diese unendliche Geschichte am Ende mit
einem einmütigen Beschluss zu einem Erfolg führen.
Jetzt hat der Kollege
Hermann Bachmaier, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Im vergangenen Jahr habenwir das 50-jährige Jubiläum des Deutschen Bundestagesbegangen. Bei diesem Ereignis wurden die unbestritte-nen Verdienste des Bundestages um die Festigung derDemokratie in der Bundesrepublik als dem zentralenOrgan der deutschen Demokratie deutlich und mit Rechtunterstrichen. Dennoch gibt es auch Anlass zu einemetwas kritischeren Rückblick.So ist es eine zentrale Aufgabe des Parlaments, füreine wirksame Kontrolle der Regierung bzw. der zen-tralen Machtapparate unseres Landes zu sorgen undTransparenz in der Republik herzustellen.
Dr. Max Stadler
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7619
Auf diesem Gebiet sind Verbesserungen wünschens-wert.Neben vielfältigen Kontrollbefugnissen wie Anfra-gen, aktuellen Debatten und Auskunftspflichten der Re-gierung gegenüber dem Parlament sind insbesondereUntersuchungsausschüsse das zentrale Kontrollinstru-ment des Bundestages, um Missstände aufzuklären undVerbesserungen auf den Weg zu bringen. Schon einViertel der Mitglieder des Bundestages hat nach Art. 44des Grundgesetzes Anspruch auf Einsetzung eines Un-tersuchungsausschusses. Auf die Beweiserhebungen fin-den nach dem Grundgesetz die Vorschriften über denStrafprozess sinngemäße Anwendung.Das sind gute Grundsätze. Was dies aber im Einzel-nen bedeutet, darüber kann man sich trefflich streiten:Inwieweit muss die Regierung Akten herausgeben?Welche Akten müssen Private herausgeben? WelcheFragen darf man bei Vernehmungen stellen? WelcheGerichte sind für Zwangsmaßnahmen zuständig? Ichkönnte die Liste fortsetzen. Das ist nur ein Auszug auseiner Fülle von Fragen, die sich in der Praxis stellen undimmer wieder zu Behinderungen bei der Untersu-chungsausschussarbeit geführt haben.Der Bundestag und die Untersuchungsausschüsse ha-ben sich über alle diese Fragen heftig gestritten – sehroft, sehr lange, häufig vor den Gerichten. Bis heute ist esdem Bundestag aber nicht gelungen, diesem seinemschärfsten Kontrollinstrument auch eine angemesseneRechtsgrundlage zu geben und sich auf ein Untersu-chungsausschussgesetz zu verständigen. Die Notwendig-keit hierfür ist weitgehend unbestritten. Viele Versucheund Initiativen einzelner Fraktionen und auch interfrak-tionelle Bemühungen in den zurückliegenden Le-gislaturperioden sind an den jeweils herrschendenMehrheiten gescheitert. Die Folge ist, dass sich Abfolgeund Durchführung wichtiger Beweiserhebungen und vorallem auch Zeugenvernehmungen in Untersuchungsaus-schüssen in einer schwer durchschaubaren rechtlichenGrauzone bewegen und deshalb zügige Sachaufklärunghäufig auf der Strecke bleibt.Denjenigen, die kein ausgeprägtes Interesse an einerschnellen und gründlichen Aufklärung haben, konnte esdeshalb immer wieder gelingen, Beweisaufnahmen zuverschleppen und bisweilen sogar ganz zu verhindern.Herr Stadler, an diesen Aktionen war Ihre Fraktion häu-fig sehr lebhaft beteiligt.
So konnte – um jetzt ein Beispiel zu nennen, an demSie kräftig mitgewirkt haben – im so genannten Plutoni-um-Untersuchungsausschuss die damalige Mehrheit ausCDU, CSU und F.D.P. über eineinhalb Jahre hinwegverhindern, dass der zentrale Zeuge Schmidbauer vonder Opposition vernommen werden konnte. Der in die-sem Untersuchungsausschuss auch nicht gerade un-wichtige Zeuge Dr. Kohl konnte gar erst nach einemRechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht – fastzwei Jahre nach Einsetzung des Untersuchungs-ausschusses – erstmals als Zeuge gehört werden. Auchdaran waren Sie nicht unbeteiligt.
Die Aufklärung des Parlamentes wird durch einenderartig manipulativen Umgang mit der so genanntenVerfahrensmehrheit häufig zu einer reinen Farce. Ge-litten hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Funkti-onstüchtigkeit parlamentarischer Kontrolle. Um dieKontrollkompetenz des Parlaments zu stärken, muss dasRecht der Untersuchungsausschüsse auf der Basis derverfassungsrechtlichen Vorgaben so ausgestaltet wer-den, dass die Ermittlungsinstrumentarien, wie Aktenbei-ziehung, Auskunftsrechte und Zeugenvernehmungen,zügig eingesetzt werden können,
sodass auch die parlamentarischen Untersuchungsver-fahren nicht endlos in die Länge gezogen werden kön-nen.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unddie Grünen haben uns während der Oppositionszeit nachvielen leidvollen Erfahrungen mit Untersuchungs-ausschüssen fest vorgenommen, dann, wenn wir dazudie Mehrheit haben, endlich ein solches Untersuchungs-ausschussgesetz einzubringen und auch zu beschließen.Auf der Grundlage der ausgereiften Entwürfe aus denJahren 1990/91, die federführend von den damaligenAbgeordneten Konrad Porzner, Horst Eylmann undDetlef Kleinert, um nur einige frühere Kollegen zu nen-nen, erarbeitet wurden, haben wir den heute in erster Le-sung zu beratenden Koalitionsentwurf entwickelt. DieserGesetzentwurf führt auch das schwierige Verhältnis vonMehrheit und Minderheit in einem Untersuchungsaus-schuss einer gerechten Lösung zu, sodass die oft uner-träglichen Kleinkriege und Scharmützel, die die ohnehinschwierige Aufklärungsarbeit in Untersuchungsaus-schüssen bisher erschwert haben, endlich der Vergan-genheit angehören werden.Dabei haben wir als Mehrheitsfraktion mit einer soli-den Regierungsmehrheit nicht vergessen, was wir beieiner funktionierenden parlamentarischen Demokratieder Opposition schuldig sind. Wir wissen natürlichauch, dass die Regierungsmehrheiten in der Vergangen-heit mit dem bestehenden diffusen Rechtszustand undeiner weit gehend der Mehrheit überlassenen Gestaltungdes Untersuchungsausschussverfahrens recht gut gelebthaben. Gelitten hat aber die verfassungsrechtlich fest-gelegte Kontrollkompetenz des Bundestages. Die Koali-tionsfraktionen sind deshalb souverän genug, ein Unter-suchungsausschussgesetz auf den Weg zu bringen, dassich nicht einseitig und ausschließlich an den Belangender Mehrheit, sondern auch an den Notwendigkeiten ei-ner funktionierenden parlamentarischen Kontrolle ori-entiert. Kalkulierbare Rahmenbedingungen für Untersu-chungsausschüsse, bei denen die berechtigten Belangeder Opposition hinreichend berücksichtigt sind, stärkenaber nicht nur die Kontrollkompetenz des Parlaments,sondern führen auch zu überschaubaren Abläufen, wor-an letztlich auch Regierungen und Mehrheitsfraktionenein elementares Interesse haben, zumindest haben soll-ten.
Hermann Bachmaier
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7620 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Gerade auch die Ereignisse dieser Tage führen unsdeutlich vor Augen: Wo Macht ist, muss kontrolliertwerden,
muss wirksam und zügig kontrolliert werden. Kontrolleist eine notwendige, bisweilen zeitaufwendige und nichtimmer angenehme Aufgabe. Damit sie funktioniert, be-darf es einerseits unerschrockener Parlamentarierinnenund Parlamentarier, die nicht davor zurückschrecken,auch lästig zu werden. Damit Kontrolle funktionierenkann, bedarf es aber auch Rahmenbedingungen, die einewirksame Kontrolle ermöglichen. Daran fehlt es bis zumheutigen Tag.Wir finden es ja recht erfreulich, dass auch die F.D.P.in der Opposition ihre Liebe zu einem Untersuchungs-ausschussgesetz wieder entdeckt hat. Leider haben Sie,meine Damen und Herren von der F.D.P., sich in denvergangenen zehn Jahren, als Sie doch einen erheb-lichen Einfluss auf die Parlamentsmehrheit hatten, umdas Untersuchungsausschussrecht überhaupt nicht ge-kümmert, sondern fleißig mit den Wölfen der Mehrheitgeheult.
Es ist kein Geheimnis, dass die beiden vorliegenden Ent-würfe von den gleichen Eltern stammen – Herr Heinrich,sparen Sie sich Ihre wegelagernden Bemerkungen! –,
nämlich von den leider damals knapp gescheitertenEntwürfen aus den Jahren 1990/91.Schade ist allerdings, dass sich die CDU/CSU-Fraktion bis zum heutigen Tage gegenüber diesem An-liegen völlig gleichgültig verhält und keine Gelegenheitauslässt, lieber Kollege Schmidt, ihr absolutes Desinter-esse an dieser parlamentsrechtlichen Notwendigkeit zubekunden.Die beiden Gesetzentwürfe unterscheiden sich auchin nicht ganz unwichtigen Detailfragen, wie der Rege-lung für die Änderung des Untersuchungsauftrages –Herr Stadler hat mit Recht darauf hingewiesen –, dienach unserer Auffassung nicht ohne Zustimmung derAntragsteller erfolgen sollte, den Rechten einzelner Ab-geordneter im Untersuchungsausschuss – darüber wer-den wir gründlich reden müssen –, den notwendigenZwangsmitteln bei rechtswidrigem Verhalten von Zeu-gen, oder bei Vorenthaltung von Beweismitteln. Es gibtda noch andere nicht ganz zu vernachlässigende Fragenwie die Beschleunigung der Beweisaufnahme, an deruns sehr liegt.Ich empfehle auch Behutsamkeit bei der Erörterungder Frage, inwieweit Zeugenvernehmungen vom Fern-sehen aufgezeichnet werden können. Da berühren wireinen heiklen und neuralgischen Punkt im Konflikt zwi-schen gründlicher Beweisaufnahme, Persönlichkeits-schutz und öffentlicher Berichterstattung. Ich glaube,wir werden eine vernünftige Lösung bekommen, diesich an den drei Erfordernissen orientiert. Sie habendankenswerterweise darauf auch schon hingewiesen.Da die vorliegenden Gesetzentwürfe auf gründlichenVorarbeiten engagierter Parlamentarierinnen und Parla-mentarier aus früheren Legislaturperioden und einschlä-gigen Erfahrungen in Untersuchungsausschüssen unterBerücksichtigung der vielfältigen verfassungsgerichtli-chen Rechtsprechung beruhen, sollten wir die Beratun-gen zügig aufnehmen, um möglichst bald die Arbeit inUntersuchungsausschüssen auf eine solide rechtlicheGrundlage zu stellen.Wir gehen davon aus, dass das jetzt zu beratende undmöglichst bald zu verabschiedende Untersuchungsaus-schussgesetz auch noch auf die laufende Arbeit des erstkürzlich eingesetzten Untersuchungsausschusses An-wendung finden sollte, auch wenn dieser Untersu-chungsausschuss von seiner Konstellation her nicht dertypischen Ausgangslage von Untersuchungsausschüssenin der Vergangenheit entspricht. Denn hier ist man inder komfortablen Lage, dass die Mehrheit von heute dieMissstände der Mehrheit von gestern wirksam aufklärenkann.
Davon werden wir zügig Gebrauch machen und auchdazu sind Sie herzlich eingeladen. Uns liegt also daran,dass wir schnell zu Potte kommen.Wir laden ausdrücklich auch die CDU/CSU-Fraktionzur Mitarbeit ein, Herr Schmidt. Schließlich soll das seitBestehen des Bundestages, also seit 50 Jahren überfälli-ge Untersuchungsausschussgesetz zur Rechts- und Ar-beitsgrundlage für alle Fraktionen des Bundestages inUntersuchungsausschüssen werden. Deshalb gilt dieEinladung selbstverständlich für alle Fraktionen. Ichhielte es aber für dringend notwendig, dass die größteOppositionsfraktion ihre bisherige Enthaltsamkeit beidiesem Thema aufgibt und dem schärfsten Kon-trollinstrument des Parlaments das gibt, was es dringendbenötigt, um bisweilen unerträgliche Scharmützel undSchauspiele vor der Öffentlichkeit zu vermeiden. Dieseleisten dem Ansehen des Parlaments keinen gutenDienst.
Meine Damen und Herren, wir sind fest entschlossen,den vielfältigen Vorberatungen und mehrfachen Versu-chen zur Schaffung einer soliden Rechtsgrundlage fürUntersuchungsausschüsse jetzt endlich Taten folgen zulassen.Gestatten Sie mir noch eine kleine Bemerkung zurZeitabfolge der Einbringung Ihres Gesetzentwurfs, HerrStadler. Ich habe mir das einmal genau angeschaut undsage das jetzt doch, nachdem Sie eine diesbezüglicheBemerkung gemacht haben. Eigentlich wollte ich dasnicht, es steht auch nicht in meinem Manuskript. AnfangDezember wurde in der „Zeit“, in der „FrankfurterRundschau“ und in anderen Zeitungen darüber berichtet,dass die Koalitionsfraktionen fest entschlossen sind, aufHermann Bachmaier
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7621
der Basis der früheren Entwürfe ein Untersuchungs-ausschussgesetz einzubringen. Sie hatten nichts Wichti-geres zu tun – die Eile merkt man diesem Gesetzentwurfan vielen Stellen an –,
in den Schrank zu greifen, den Staub abzustreifen unddas, was in der Zeit bis 1990 unter sicherlich kompe-tenter Mitwirkung zum Beispiel Ihres Kollegen DetlefKleinert geschaffen worden ist, schleunigst wiederzu-beleben. Das fällt Ihnen aber erst in der Opposition ein.Das ist das Verräterische. Wir bringen es als Mehrheits-fraktion ein, weil wir wissen, was wir dem Parlamentschuldig sind.
Sie machen es aus einem gewissen Oppositionsopportu-nismus heraus.
Dennoch freue ich mich auf kompetente Mitarbeit.Sie können damit einiges wieder gutmachen, was Siezum Beispiel im Plutonium-Untersuchungsausschuss anAufklärung versäumt haben.
Herzlichen Dank.
Das war zeitlich eine
Punktlandung, Herr Kollege. Ich erwähne das als gutes
Beispiel besonders.
Das Wort hat nun der Kollege Andreas Schmidt,
CDU/CSU-Fraktion.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Herr Kollege Bachmaier, Sie haben ja gerade noch ein-mal auf den Plutonium-Untersuchungsausschuss re-kurriert. Wir beide haben daran ja noch gute Erinnerun-gen, auch wenn wir viel gestritten haben. Insbesonderehaben wir sehr über die Reihenfolge der Zeugenverneh-mungen gestritten; dazu hat es auch ein Verfahren gege-ben.
Sie haben aber vergessen, dass Sie mit Ihrem Eilantragin Karlsruhe sang- und klanglos gescheitert sind.
Auch dieses gehört zur Wahrheit und sollte hier nocheinmal erwähnt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heutevon der F.D.P., aber auch von den Regierungsfraktionenvorgelegten Entwürfe eines Untersuchungsausschussge-setzes entsprechen – dies ist gerade schon angemerktworden – ganz wesentlich der Beschlussempfehlung unddem Bericht des 1. Ausschusses vom 20. September1990. Auf den jetzt vorgelegten Text – auch darauf willich hinweisen – hatten sich die Abgeordneten derCDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen Ende der 11. Legis-laturperiode geeinigt. Die damalige Koalition vonCDU/CSU und F.D.P. hatte den Gesetzentwurf bereitsgebilligt. Allerdings hatte sich die SPD dann gegen die-sen Entwurf ausgesprochen, Herr Kollege Bachmaier.CDU/CSU und F.D.P. waren der Meinung, man sollteein Untersuchungsausschussgesetz nicht gegen denWillen der stärksten Oppositionsfraktion beschließen.Selbstverständlich sind wir auch heute der Auffassung,dass ein Untersuchungsausschussgesetz nur mit Zu-stimmung der größten Oppositionsfraktion verabschie-det werden sollte.
Das parlamentarische Untersuchungsrecht nach Art. 44ist nicht rechtlich-theoretisch, sondern politisch-praktisch ein wesentliches Instrument der Opposition.Über viele Legislaturperioden hinweg ist immer wiederder Versuch unternommen worden, ein Untersuchungs-ausschussgesetz zu erarbeiten. Der Geschäftsordnungs-ausschuss, aber auch Untersuchungsausschüsse habenimmer wieder einmal auf das Fehlen eines solchen Ge-setzes hingewiesen. Gleichzeitig hat aber auch eine regeUntersuchungsausschusstätigkeit ohne Untersuchungs-ausschussgesetz stattgefunden. Ich weise darauf hin,dass derzeit der neu eingesetzte 33. Untersuchungsaus-schuss des Deutschen Bundestages seine Arbeit aufge-nommen hat.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie wir denBerichten der Untersuchungsausschüsse entnehmenkönnen, haben diese ihre Aufgabe mit dem vorhandenenInstrumentarium eigentlich immer erfüllen können.
In aller Regel bestand eine weitgehende Einigkeit zwi-schen allen Fraktionen hinsichtlich der Sachverhaltsauf-klärung. Die in den Medien so gerne herausgestelltenDifferenzen bezogen sich meistens auf die Bewertungdes festgestellten Sachverhaltes. Wenn Untersuchungs-ausschüsse nach Meinung der jeweiligen Oppositionnicht das erreicht haben, was sie vielleicht hätten errei-chen sollen, dann lag es nach meiner Einschätzung eheram Zeitablauf als am Fehlen eines Untersuchungsaus-schussgesetzes. Wir müssen also ganz ernsthaft undganz offen – dazu sind wir bereit– die Frage stellen, obein Untersuchungsausschussgesetz wirklich erforderlichist.In der Vergangenheit war das Hauptklagelied derOpposition, dass die Termingestaltung im Ausschussnicht ganz ihren Wünschen entsprochen habe – KollegeBachmaier, ich komme auf Ihr Thema zurück –, wobeiHermann Bachmaier
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7622 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
der Prozentsatz der Uneinigkeit, bezogen auf alle er-folgten Terminierungen, eigentlich immer äußerst geringwar. Aber Streit dieser Art gibt es natürlich in allen par-lamentarischen Gremien. Nach meiner Auffassung istdies immer ein Streit im so genannten Innenverhältnis,nicht im Außenverhältnis.Also stellen wir uns doch die Frage, ob es auf Grundder jetzigen Regelung bei UntersuchungsausschüssenProbleme im Außenverhältnis gegeben hat. Nach meinerAuffassung hat es auch hier keine wesentlichen Proble-me gegeben. Gerichtliche Auseinandersetzungen etwamit Zeugen oder im Hinblick auf Beweismaterialien sindnicht einfach; aber es wird sie – unabhängig von derExistenz eines Untersuchungsausschussgesetzes – im-mer geben.
Dass es im Einzelfall Streit darüber gibt – den gibt esauch jetzt bereits wieder –, was noch zum Untersu-chungsauftrag gehört und was nicht, würde nach meinerEinschätzung auch durch ein Untersuchungsausschuss-gesetz nicht vermieden werden.Fragen wir einmal danach, wo es in den vergangenenJahren handfesten Streit zwischen Opposition und Re-gierungskoalition gegeben hat, meine Damen und Her-ren: Zu Zeiten des Flick-Ausschusses ging es um dieFrage, ob durch das gesetzlich geregelte Steuergeheim-nis geschützte Akten der Exekutive einem Untersu-chungsausschuss auf dessen Verlangen vorzulegen sind.Darüber entbrannte damals ein großer Streit. Die Frageist vom Bundesverfassungsgericht positiv entschiedenworden mit der Maßgabe, im Bereich des Untersu-chungsausschusses für den Schutz des Steuergeheim-nisses zu sorgen. Auch dieser Rechtsstreit ist durchRechtsprechung geklärt worden.
Auf Betreiben der SPD sind beim Bundesverfas-sungsgericht aus Anlass von zwei Untersuchungsaus-schüssen der beiden vergangenen LegislaturperiodenVerfahren anhängig. Zum einen handelt es sich um ei-nen Streit mit der damaligen Bundesregierung über dieHerausgabe von Protokollen des Verwaltungsrates derTreuhandanstalt. Zum anderen ging es um die Frage –Kollege Bachmaier hat es vorhin angesprochen –, ob dieMehrheit im Untersuchungsausschuss durchsetzendurfte, dass bei einem bestimmten Stand des Verfahrensein Zwischenbericht erstellt wird, um Klarheit zu ge-winnen, was noch geklärt werden muss. Diese beidenbeim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrenwären ganz sicher auch bei Existenz eines Untersu-chungsausschussgesetzes nicht vermieden worden.Nach meinem Kenntnisstand, meine Damen und Her-ren, ist beim Bundesverfassungsgericht auch immernoch ein Verfahren aus Schleswig-Holstein anhängig,das sich mit dem Status Betroffener und Zeugen vor ei-nem parlamentarischen Untersuchungsausschuss be-schäftigt.Bereits aufgrund dieser Verfahren drängt sich auf zusagen, dass dies vielleicht nicht die Zeit für eine Gesetz-gebung im parlamentarischen Untersuchungsausschuss-recht ist.Es gibt nach meiner Auffassung aber noch einen an-deren Punkt, der mich skeptisch sein lässt, jetzt ein Un-tersuchungsausschussgesetz zu beschließen: Derzeit hatder möglicherweise bedeutendste Untersuchungsaus-schuss der letzten Jahre seine Arbeit begonnen. Ich habeZweifel – diese sind sicherlich nicht ganz unberech-tigt –, ob es gut wäre, während dieser Arbeit sozusagendie Spielregeln für diesen Ausschuss zu ändern.
– Ich habe ja gesagt, dass man sich diese Frage stellenund zumindest einmal abwägen muss, ob es sinnvoll ist,während eines laufenden Untersuchungsausschusses dieSpielregeln auch für diesen Ausschuss zu verändern.
Die Frage muss man sich stellen, und sie sollte zumin-dest in den Beratungen ein Punkt der Abwägung sein.Lassen Sie mich zum Abschluss etwas zur Entste-hung des parlamentarischen Untersuchungsrechtes inDeutschland sagen. Die am 18. Mai 1848 zusammenge-tretene verfassungsgebende Nationalversammlung in derFrankfurter Paulskirche hat am 29. Mai 1848 in ihrerGeschäftsordnung das parlamentarische Untersuchungs-recht in nur einem einzigen Paragraphen verankert.
Auf dieser Grundlage wurde bereits am 6. Oktober 1848ein Untersuchungsausschuss eingesetzt. Man kann alsoauch gerade angesichts der Tatsache, dass man vomschlanken Staat spricht – Herr Kollege Stadler, dieF.D.P. spricht immer von dem schlanken Staat –, viel-leicht mit weniger Gesetzen ganz gut zurechtkommen.Ich will aber ausdrücklich für meine Fraktion erklä-ren, dass wir uns dem Beratungsverfahren überhauptnicht in den Weg stellen wollen.
Wir sind ausdrücklich dafür, dass diese beiden Gesetz-entwürfe überwiesen werden. Sie können ganz sichersein, dass wir als CDU/CSU-Fraktion uns an den Bera-tungen sehr konstruktiv beteiligen werden. Wir werdendann sehen, ob wir zu einer gemeinsamen Auffassung indiesem Bereich kommen. Wir sind jedenfalls – das giltfür die CDU/CSU immer – zu konstruktiven Gesprächenund zur konstruktiven Mitarbeit bereit.Herzlichen Dank.Andreas Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7623
Jetzt hat das WortHans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat des KollegenBachmaier anfangen. Er sprach davon, dass es Aufgabedieses Ausschusses, für den wir jetzt die gesetzlicheGrundlage schaffen, ist, „lästig“ zu werden. Ich denke,es ist eine der wesentlichen Aufgaben von Unter-suchungsausschüssen, für die jeweiligen Regierungenlästig zu werden; denn viele Regierungen – das ist zwarnicht richtig; es ist aber der Fall – finden eine eingehen-de Kontrolle durch das Parlament durchaus lästig.Das heißt, wir müssen Regeln schaffen, die es unsund natürlich der Opposition ermöglichen – Untersu-chungsausschüsse sind ja in der Vergangenheit im We-sentlichen auch Instrumente der Opposition gewesenund werden es auch bleiben –, der jeweiligen Regierunglästig zu werden.Herr Kollege Schmidt, ich verstehe nun gar nicht,dass Sie als ein Vertreter der Opposition irgendetwasdagegen haben können, dass wir Ihnen jetzt auch für dieArbeit dieses Untersuchungsausschusses, über den alleWelt redet, zusätzliche Rechte geben. Sie können ja da-rüber streiten, ob es genug Rechte sind. Über diesenPunkt können wir uns in den Ausschüssen unterhalten.Aber dass Sie etwas dagegen haben, dass wir jetzt einegesetzliche Grundlage schaffen, mit der wir Ihnen zu-sätzliche Rechte zu den schon bestehenden Rechten auf-grund der IPA-Regeln geben, ist für mich nur schwernachvollziehbar.Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in denletzten Wochen und Monaten Diskussionen über Befug-nisse von Untersuchungsausschüssen in einer Intensitätgehabt, wie das seit Jahrzehnten nicht der Fall gewesenist. Darf ein Untersuchungsausschuss beispielsweise ei-nen Zeugen zwingen? Wenn ja, wie? Wer hat das zu be-stimmen und wie weit kann das gehen? Wer in welcherReihenfolge darf sein Fragerecht ausüben? Eine ganzwesentliche Frage, Herr Kollege Schmidt, über die wiruns im nächsten Obleutegespräch und in den nächstenSitzungen des Untersuchungsausschusses verständigenund abstimmen müssen, ist die Frage: In welcher Rei-henfolge werden Zeugen gehört? In den IPA-Regelnfindet sich dazu nichts. Müssen Sie als Oppositionfrak-tion nicht ein wesentliches Interesse daran haben – ichhätte an Ihrer Stelle ein Interesse daran –, den einen oderanderen Zeugen vor Ablauf von einem oder zwei Jahrenzu hören?Auf all diese Fragen soll das Gesetz, das wir jetztvorlegen, Auskunft geben. Es ist richtig, dass wir diesemUntersuchungsausschuss, über den wir alle reden, derfür dieses Land eine große Bedeutung hat und auf densich viele Hoffnungen richten, nun vernünftige gesetzli-che Grundregeln geben.Dabei ist eine zentrale Frage, welche Art von Be-weisaufnahme ein Untersuchungsausschuss durchfüh-ren kann. Wichtigstes Mittel der Beweisaufnahme ist inallen Verfahren – in Gerichtsverfahren wie in Verfahrenvor Untersuchungsausschüssen – das Recht, Zeugen zuhören. Es war schon immer klar, dass Zeugen vor demUntersuchungsausschuss erscheinen müssen. Sie müssenaber auch wahrheitsgemäß und vollständig aussagen.Um dieses auf die gegenwärtige Situation zu übertra-gen: Der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist verpflichtet –natürlich auch heute schon –, vor einem solchen Unter-suchungsausschuss vollständig und umfassend auszu-sagen. Wenn er das nicht tut, stellt sich die Frage: Wasmachen wir in diesem Fall? Dafür soll es eine Regel ge-ben, die wir festlegen wollen und die besagt, dass wireinen solchen Zeugen – und zwar jeden Zeugen; - alleZeugen sind gleich – auch mit den im Strafprozess übli-chen Mitteln zu Aussagen veranlassen können, es seidenn, es gibt ein Aussage- oder ein Zeugnisverweige-rungsrecht.Es gibt natürlich die Mittel des Zwangsgeldes und derBeugehaft. Die Frage aber ist: Wer verhängt dies? Ent-scheidet darüber der Ausschuss? Wir wollen eine ver-nünftige gesetzliche Neuregelung, die mit der von Ihnenvorgeschlagenen Regelung ähnlich oder identisch ist.Demnach soll dies – nicht mehr vom Richter am Amts-gericht Bonn bzw. vom Richter am Amtsgericht Berlin-Moabit – das ist hier gleich um die Ecke – entschiedenwerden, sondern vom Ermittlungsrichter am Bundesge-richtshof. Sollte dieser Richter möglicherweise eine pro-blematische Entscheidung fällen, wird es ein Rechts-mittel dagegen geben. Der Bundesgerichtshof, in dieserFrage das höchste deutsche Gericht, hätte also über ei-nen die gesamte Öffentlichkeit interessierenden Sach-verhalt zu entscheiden.Eine weitere Frage, die uns unmittelbar beschäftigt,ist: In welcher Reihenfolge sollen die Zeugen gehörtwerden? Wird der Zeuge Kohl, wie von der CDU in derÖffentlichkeit verlangt, im Januar, Februar oder März2000 oder aber erst im Jahr 2001 oder 2002 gehört? Dieszu entscheiden, ist ganz wesentlich – nicht nur für dieÖffentlichkeit, sondern für alle, die an der Wahrheits-findung interessiert sind.Wir haben eine Regelung vorgeschlagen, die Ihnensehr entgegenkäme. Danach sollen, wenn sich der Aus-schuss nicht einigt, die Regeln der Geschäftsordnungdes Deutschen Bundestages gelten. Das heißt – daskönnen Sie in der Kommentierung nachlesen –: AuchSie als Oppositionsfraktionen haben die Möglichkeit,darauf zu bestehen, dass die von Ihnen benannten Zeu-gen gemäß der Geschäftsordnung in angemessener Rei-henfolge gehört werden. Das ist ein Recht, das wir in derVergangenheit als Oppositionsmitglieder in den Unter-suchungsausschüssen sehr gerne gehabt hätten.Sie sollten uns auf die Schulter klopfen und sagen:Prima, dass sowohl die SPD als auch Bündnis 90/DieGrünen nicht vergessen haben, welche Probleme sie inder Vergangenheit hatten, und sich nicht auf ihren Ko-alitionssesseln ausruhen, sondern eine Regelungschaffen wollen, die gerecht und für Oppositionsfraktio-Andreas Schmidt
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nen akzeptabel ist und die notwendigen Grundlagenschafft.
– Wir denken an die Zukunft der F.D.P., solange es sienoch gibt. Wir denken auch an die Interessen der CDU,die immer vor sich herträgt, eine rückhaltlose, umfas-sende Aufklärung auch dieser Affäre zu erreichen.Wenn wir dann den Zeugen vor dem Untersuchungs-ausschuss haben, muss entschieden werden, ob er einAuskunfts- oder Zeugnisverweigerungsrecht hat.Ganz Deutschland redet darüber. Was kann man alsodagegen haben, wenn wir eine gesetzliche Regelungschaffen wollen, wie, in welcher Form und von wem dasentschieden wird? Ich denke daher, die CDU wäre gutberaten, sich unseren Anträgen anzuschließen, den Ge-setzentwurf wohlwollend mit uns zu beraten und ihm so,wie wir ihn vorgelegt haben, zuzustimmen.Herr Kollege Schmidt, Sie können doch nicht immersagen, darüber habe die Rechtsprechung in der Zwi-schenzeit entschieden. Zu Recht macht das Bundesver-fassungsgericht dem Deutschen Bundestag immer wie-der den Vorwurf, dass er nicht in der Lage sei, seine Ar-beit zu leisten, sich nämlich über die gesetzlichenGrundlagen politisch auseinander zu setzen und dann zueiner Regelung zu kommen, und die eigentliche politi-sche Tätigkeit, nämlich die Entscheidungen, dem Bun-desverfassungsgericht aufdrückt.So ist es in der Vergangenheit auch gewesen, als esdarum ging, welche Akten wer zur Verfügung zu stellenhat. Wir wollen regeln, dass es grundsätzlich die Ver-pflichtung der Bundesbehörden, Staatsanwaltschaftenund Gerichte ist – das steht sogar im Grundgesetz –,Akten zur Verfügung zu stellen. Wir wollen auch regeln,wie es ist, wenn die Bundesregierung oder ein einzelnesMinisterium die Akten nicht zur Verfügung stellt. Dasist kein theoretischer Fall, sondern war in der Vergan-genheit mehrfach ein großes Problem, über das sich derDeutsche Bundestag und die Öffentlichkeit intensiv aus-einander gesetzt und mit dem sich auch die Gerichte be-fasst haben.Jetzt soll eine Regelung getroffen werden, nach dergrundsätzlich eine Verpflichtung besteht, es sei denn,der jeweilige Kernbereich des aktuellen politischenHandelns der Bundesregierung ist betroffen. Diese For-mel ist einer Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts entnommen. Auch dies ist ein trauriges Anzeichendafür, dass wieder das Gericht entscheiden musste undnicht der Deutsche Bundestag in seiner Souveränität ent-schieden hat.Für den Fall, dass wir uns darüber im Ausschuss nichteinig werden, was sicher auch in Zukunft in wichtigenzentralen Fragen der Fall sein wird, oder dass sich dieRegierung weigert, haben wir ein Gremium geschaffen,das darüber entscheidet. Wir haben eine klare Regelung,dass das Bundesverfassungsgericht in einem solchenStreit das einzig richtige Verfassungsorgan ist, eine sowichtige Frage zu entscheiden, wenn die Legislative indie Rechte der Exekutive, möglicherweise in den Ge-schäftsbereich der Exekutive, eingreift. Das ist einedurchaus richtige und vernünftige Regelung, die unsvielleicht lange Auseinandersetzungen erspart, weil wirnach diesem Gesetz eine schnelle Entscheidung desBundesverfassungsgerichtes herbeiführen können.Lassen Sie mich den letzten Punkt nennen. Wir habeneine grundsätzliche Herausgabepflicht aller Stellen undder Untersuchungsausschuss hat die Möglichkeit zu be-schlagnahmen– zum Beispiel bei Thyssen, um bei einemaktuellen Fall zu bleiben –, Akten aus anderen Archivenherbeizuziehen oder sogar diese durch Beschlagnahme-anordnungen dem Untersuchungsausschuss vorlegenzu lassen. Der Untersuchungsausschuss soll das ent-scheiden, aber ausführen und letztlich entscheiden solldas wieder ein Richter, nämlich der Ermittlungsrichterbeim Bundesgerichtshof. Das ist eine durchaus faireEntscheidung. Gerade die PDS, die gestern noch Pro-bleme in dieser Hinsicht hatte, wird ein großes Interessedaran haben müssen, dass hier Rechte geschaffen wer-den, um auch bei Privaten, nicht nur bei Behörden, anAkten herankommen zu können, um sich die notwendi-gen Beweismittel beschaffen zu können, so wie es heutebei Staatsanwaltschaften und Gerichten der Fall ist. EinUntersuchungsausschuss soll in seinen rechtlichenMöglichkeiten nicht schlechter gestellt werden als zumBeispiel ein Amtsgericht in Moabit oder anderswo.Ich denke, das ist ein umfassendes, ein richtiges, eingutes Gesetz, das von der Opposition mitgetragen wer-den sollte, weil wir das eingelöst haben, was wir früherals Opposition zugesagt, versprochen und auf den Weggebracht haben. Wir lassen wieder einmal unsere frühe-ren Versprechungen als Opposition nicht rechts oderlinks liegen, nur weil wir jetzt eine Regierungskoalitionbilden.Lassen Sie uns das Gesetz für die nächsten Legisla-turperioden des Deutschen Bundestages erlassen und dasGesetz praktizieren. Dann kann man hin und wiederüberprüfen, ob sich die eine oder andere Regelung be-währt hat oder ob nachgebessert werden muss.Ich glaube, mit der Überweisung in die Ausschüssesind wir auf dem richtigen Wege. Ich hoffe, dass wir inwenigen Wochen dieses Gesetz in zweiter und dritterLesung verabschieden, damit der 1. Untersuchungsaus-schuss des 14. Deutschen Bundestages sehr bald nachdiesen Regeln vorgehen kann.Danke.
Ich erteile jetzt der
Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Spendenskandal derCDU wird nicht die letzte Affäre sein, die die Einset-zung eines solchen Arbeitsgremiums wie des Untersu-chungsausschusses notwendig macht. Eine fundierteHans-Christian Ströbele
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7625
Rechtsgrundlage für die Tätigkeit solcher Ausschüsseauf Bundesebene ist deshalb längst überfällig.Es ist einfach schlimm, dass es der Bundestag nach sovielen Jahren immer noch nicht fertig gebracht hat, einAusführungsgesetz zu Art. 44 GG zu beschließen. Derwievielte Anlauf ist das eigentlich? Wenn ich mich nichtverzählt habe, ist es bereits der siebte. Deshalb blieb unsauch für diesen Untersuchungsausschuss nichts weiterübrig, als auf die so genannten IPA-Regeln aus demJahre 1969 zurückzugreifen. Aus diesem Grunde bin ichsehr für die Verabschiedung eines solchen Gesetzes.Zweifel überfallen mich jedoch angesichts des Zeit-punktes. Genau in dem Augenblick, in dem der Partei-spendenausschuss nach 30 Jahre alten Verfahrensregelnohne Gesetzeskraft seine Arbeit aufnimmt, liegen Ent-würfe der Koalitionsparteien und der F.D.P. auf demTisch.
– Gute Vorsicht ist manchmal angebracht. – Wäre esnicht besser, nach Beendigung der Arbeit des derzeiti-gen Spendenausschusses gewissermaßen in Anwendungder gemachten Erfahrungen ein solches Gesetz zu for-mulieren? Denn eines scheint mir schon jetzt klar zusein. So wie sich die Spendenaffäre der CDU von Tagzu Tag, ja von Stunde zu Stunde zuspitzt und immer er-schreckendere, ja tragische Ausmaße annimmt, wird derAusschuss einer Reihe neuer verfahrensrechtlicher Er-kenntnisse bringen.Wichtig ist, dass Untersuchungsausschüsse kleine ar-beitsfähige Gremien bleiben, in denen der Minder-heitenschutz einen besonderen Stellenwert hat.Das Minderheitenquorum von einem Viertel wurdebekanntlich eingeführt, um den Oppositionsparteienauch gegen die parlamentarische Mehrheit die Einset-zung eines Ausschusses und dann die Erhebung vonBeweisen zu ermöglichen. Auch die beiden vorliegen-den Entwürfe enthalten wiederum diese Minderheitenre-gel. Beweise sind danach dann zu erheben, wenn sie voneinem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsaus-schusses beantragt sind, es sei denn, sie sind unzulässigoder unerreichbar.Ich halte diese Regelung jedoch für problematisch.Sie bedeutet, dass kleinere Parteien, das heißt: neben derPDS auch die F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,mit weniger als einem Viertel der Ausschussmitgliedergrundsätzlich auf das Wohlwollen größerer Parteien an-gewiesen sind, die ihren Anträgen beitreten müssen.Hierdurch entstehen parteipolitische Abhängigkeiten.Daran ändert auch nichts, dass solche Anträge danachim Ausschuss zur Abstimmung gestellt werden. Auchhier ist dann nicht zu erwarten, dass sich noch die not-wendige Stimmenmehrheit findet.Meine ersten Erfahrungen in der gestrigen Arbeitssit-zung sind leider ein schlagender Beweis dafür. Alle Be-weisanträge meiner Fraktion wurden durch die Bank ab-gelehnt, nachdem sich, für mich leider erwartungsge-mäß, keine andere Partei bereit gefunden hat, zumindesteinigen unserer Anträge beizutreten. Darunter warenauch Anträge, die mit den gleich danach angenommenenAnträgen der Koalitionsfraktionen inhaltlich überein-stimmen.
Das ist mit Sachargumenten nicht mehr zu erklären undbedeutet im Ergebnis, dass ich zwar für meine FraktionAnträge stellen kann, diese jedoch von vornherein keineRealisierungschance haben, einfach weil sie das Etikett„PDS“ tragen. Eine Sachprüfung findet gar nicht erststatt.Damit wird meine Fraktion insoweit von einem ei-genständigen Beitrag zum Untersuchungsauftrag ausge-schlossen. Davor schützt uns auch das Minderheitenquo-rum nicht. Nebenbei gesagt, das kann auch jederzeit an-dere kleine Parteien treffen. Niemand sollte sich hier zusicher sein. Hiergegen kann auch nicht das Argumentdes parlamentarischen Parteienproporzes ins Feld ge-führt werden. Gerade wegen der besonderen Funktionvon Untersuchungsausschüssen wurde dieser Proporz-grundsatz bewusst auf diesen Fall nicht angewandt unddie Minderheitenregelung eingeführt.Um eine parteipolitische Instrumentalisierung zu ver-hindern und eine nur an sachlichen Gesichtspunktenausgerichtete Aufklärungsarbeit zu ermöglichen, sollteder Schritt meines Erachtens konsequent bis zum Endegetan werden. Parteiendiskriminierung hilft nicht, dieAusschussarbeit voranzubringen. Ich plädiere deshalbbei der Beschlussfassung über die Beweiserhebung fürden Wegfall der Ein-Viertel-Regelung. Stattdessen soll-ten Beweise dann erhoben werden, wenn sie von einerFraktion beantragt werden und nicht unzulässig oder un-erreichbar sind. Ich werde mich für eine entsprechendeparlamentarische Initiative in meiner Fraktion einsetzen.Danke schön.
Jetzt hat der Kollege
Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung überzwei Gesetzentwürfe, die ein gemeinsames Ziel haben,und zwar eine Regelung des Rechts der Untersuchungs-ausschüsse des Deutschen Bundestages. Parlamentari-sche Untersuchungsausschüsse haben in den letzten Jah-ren leider Konjunktur. Untersuchungsausschüsse wiezum Beispiel derjenige zur Flick-Spendenaffäre habendie politische Landschaft dabei nachhaltig geprägt. Tat-sächlich verändert haben sie diese, wie die jüngste Ver-gangenheit und der aktuelle Untersuchungsausschusszeigen, offenbar aber nicht immer.Der aktuelle Untersuchungsausschuss zeigt aber auch,wie wichtig Untersuchungsausschüsse gerade als wir-kungsvollste Möglichkeit der demokratischen Kontrolledes Parlaments für dessen zentrale Aufgabe sind. Unab-Dr. Evelyn Kenzler
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7626 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
hängig von Regierung, Behörden und Gerichten kanndas Parlament hierdurch selbstständig mit hoheitlichenMitteln eine Angelegenheit prüfen, die es in Erfüllungseines demokratischen Auftrags für aufklärungsbedürf-tig hält. Aufklärung mit Augenmaß, Seriosität und auchein wenig Respekt sind dabei gefragt, denn, wie kürzlicheine Berliner Zeitung zutreffend schrieb:Nur ein demokratisches System hat die Kraft, seineSchwächen und Verfehlungen aufzuklären und diezur Verantwortung zu ziehen, die gegen die demo-kratischen Grundsätze verstoßen haben.Dieses Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirdderzeit allein auf der Grundlage von Art. 44 GG in Ver-bindung mit der Strafprozessordnung sowie der Ge-schäftsordnung des Deutschen Bundestages und dessenbesonderen Geschäftsordnungsvorschriften wahrge-nommen. Einige meinen nun, dass deshalb kein Unter-suchungsausschussgesetz notwendig sei. Ich – ich glau-be, ich spreche damit für die Mehrheit hier im Haus –sehe das jedoch völlig anders.So eindeutig nämlich die bestehenden Regelungsin-halte und Zwecke auf den ersten Blick erscheinen, sozahlreich sind auch die Probleme, die hierdurch in derPraxis entstehen. Der Grund liegt einfach darin, dassArt. 44 GG das parlamentarische Untersuchungsrechtnur in groben Zügen regelt und sich gegenüber den Ein-zelheiten der Einsetzung und des Verfahrens der Unter-suchungsausschüsse sehr zurückhält.Hinzu kommt, dass Art. 44 Abs. 2 des Grundgesetzesoffen lässt, welche Strafprozessregelungen mit welchemInhalt im Untersuchungsverfahren sinngemäß geltensollen.Problematisch ist auch, dass sich parlamentarischeund strafprozessuale Untersuchungen so grundlegendunterscheiden, dass nicht deutlich ist, was unter einersinngemäßen Anwendung, wie es in Art. 44 Abs. 2 desGrundgesetzes zur Strafprozessordnung heißt, genau zuverstehen ist.
Zudem haben zum Beispiel die besonderen Geschäfts-ordnungsvorschriften keine verbindliche Wirkung, son-dern müssen für jedes Untersuchungsverfahren erst ge-sondert beschlossen werden.Das zeigt, dass in diesem Zusammenhang eine großeRechtsunsicherheit herrscht, die es abzubauen gilt. DieAnzahl der offenen Probleme hat sich in den vergange-nen Jahren dabei eher vergrößert als verkleinert. Durchdie Fülle juristischer Fragestellungen und den zuneh-menden Rückgriff auf die Rechtsprechung zu Untersu-chungsverfahren wird nicht nur die Arbeitskraft jedesAusschusses in erheblichem Umfang gebunden. Insbe-sondere die Ausweitung der Untersuchungen auf nicht-staatliche Bereiche und die zunehmende Einbindungprivater Unternehmer oder Bürger führt immer wiederzu neuen Problemstellungen und wirft immer wieder dieFrage auf, wo eigentlich die Grenzen der parla-mentarischen Untersuchungsausschüsse liegen. Geradewenn es um die Rechte und Pflichten von parla-mentsexternen Dritten geht, geht es eigentlich wenigerum politische, sondern mehr um rechtliche Fragen. Die-se haben aber im Streitfall die Gerichte zu entscheiden,was Untersuchungsverfahren durchaus blockieren kann.Mehrfach ist deshalb in der Vergangenheit versuchtworden, das Recht der Untersuchungsausschüssedurch ein eigenes Gesetz zu regeln. – Die Kollegen ha-ben das im Grunde genommen alle schon angesprochen.– Entsprechende Ansätze in den vergangenen Legisla-turperioden blieben leider erfolglos.Die Schwierigkeiten sind vor allem darin zu sehen,dass ein Untersuchungsverfahren zu viele Interessen be-rührt, die einander oft diametral entgegenstehen. Hinzukommt der Interessenstreit über die Kompetenzen derUntersuchungsausschüsse und die Ausgestaltung desVerfahrens. Da gerade in Untersuchungsausschüssen dasSpannungsverhältnis zwischen der die Regierung tra-genden Parlamentsmehrheit und der Opposition, die alsMinderheit einen Untersuchungsausschuss beantragenkann, besonders deutlich zum Ausdruck kommt, sindStreitigkeiten über die Rechte und Pflichten des Unter-suchungsausschusses, seiner Mitglieder und Organe un-ausweichlich.Auch wenn die Minderheitenrechte in der Vergan-genheit durch die Rechtsprechung gesichert gewesensind, kann es einfach nicht sein, dass die Ausgestaltungeines verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts desParlaments hiervon in der jetzigen Form abhängig ist.Nicht unbedenklich ist zudem die Rechtsunsicherheit,die in vielen Bereichen bei unterschiedlichen Auffas-sungen von Rechtsprechung und Literatur entstehenkann.Dem kann eigentlich nur durch eine gesetzliche Re-gelung abgeholfen werden. Insoweit begrüße ich die In-tention beider Gesetzentwürfe, Herr Stadler. Mit demGesetzentwurf der Regierungskoalition wollen wir dieUntersuchungsausschussverfahren des Deutschen Bun-destages auf eine rechtsstaatlich sichere Basis stellenund – das ist wichtig – die Effizienz des parla-mentarischen Untersuchungsrechts stärken. Gleiches be-absichtigt der Entwurf der F.D.P. Die Grundlage hierfürsollen jeweils die von der Rechtsprechung entwickeltenGrundsätze sowie die sich bereits bewährten praktizier-ten Regelungen der besonderen Geschäftsordnungsvor-schriften, die sich bereits bewährt haben, bilden. Das istnur sachgerecht und folgerichtig.Ziel ist es, die allgemein anerkannten Begrenzungendes Untersuchungsrechts des Bundestages in einem Ge-setzentwurf festzuschreiben. Ferner sollen die Grundre-geln der Zusammensetzung, des Vorsitzes, der Ein-berufung und der Beschlussfähigkeit des Untersu-chungsausschusses bestimmt werden. Die Rechte derMinderheiten beabsichtigen wir nach Maßgabe desBundesverfassungsgerichts zu schützen. Auskunfts-pflichtigen Personen werden wir den rechtsstaatlich ge-botenen Schutz sichern. Geheimschutz und Amts-verschwiegenheit werden ebenso geregelt wie die Zu-ständigkeit der Gerichte für die Verhängung etwaigerZwangsmittel. Der Kollege Ströbele hat das zutreffendangesprochen.Dirk Manzewski
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7627
Beide Gesetzentwürfe haben sich im Wesentlichenhieran orientiert. Inwieweit dem einen oder anderen Ge-setzentwurf nun hinsichtlich Einzelheiten der Vorzug zugeben ist, werden die fachlichen Diskussionen in dernächsten Zeit zeigen. Ich freue mich jedenfalls, dass of-fenbar ein längst überfälliger Schritt in die richtigeRichtung getan worden ist und in Kürze ein Gesetz dieArbeit von Untersuchungsausschüssen wesentlich er-leichtern wird.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2363 und 14/2365 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,
wobei die Vorlage auf Drucksache 14/2363 zusätzlich
an den Innenausschuss überwiesen werden soll. Die
Vorlage auf Drucksache 14/2518 soll an dieselben Aus-
schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/2363 über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähig-
keit Deutschlands 1998 und
Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksachen 14/438, 14/829 Nr. 1, 14/1349 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bodo Seidenthal
Dr. Gerhard Friedrich
Hans-Josef Fell
Cornelia Pieper
Angela Marquardt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Da die als erste vorgesehene Rednerin noch nicht hier
ist, erteile ich das Wort dem Kollegen Erich Maaß,
CDU/CSU-Fraktion.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Ich stehe der Frau Ministerin gerne zur Seite und begin-ne mit der Aussprache über den vorliegenden Bericht. –Wir haben heute über die technologische Leistungsfä-higkeit der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998zu sprechen. Zwischenzeitlich liegt uns ebenfalls derBericht für 1999 vor. Ich glaube, es besteht Einverneh-men darüber, dass ich hier keinen Statusbericht abgebe,sondern versuche, anhand dieser beiden Berichte aufzu-zeigen, wie eine künftige technologische und for-schungspolitische Entwicklung auszusehen hat.Wir sind uns in der Bewertung der Fakten, so glaubeich, interfraktionell einig. Die positiven Seiten des vor-liegenden Berichtes zeigen uns, dass es in der Bevölke-rung einen sehr hohen Bildungsstand gibt und dass wirim Innovationsprozess hoch qualifizierte Arbeitskräftemit Schlüsselqualifikationen haben. Wir haben eine ex-zellente Grundlagenforschung, zunehmend beachteteErgebnisse der Wissenschaft sowie eine hoch differen-zierte Forschungslandschaft und eine forschungsintensi-ve Wirtschaft. – Das sind die positiven Seiten.Es gibt jedoch auch negative Seiten. Diese sollten unszum Handeln Anlass geben. So haben wir beispielswei-se, um den Wandel und den Sprung in die Wissensge-sellschaft erfolgreich zu gestalten, einen erheblichen Re-formbedarf. Diesen müssen wir einfordern und wirmüssen die entsprechenden Weichenstellungen vorneh-men. International gesehen zeigt sich deutlich, dass esim wissensintensiven Dienstleistungsbereich bei uns in-novative Schwächen gibt. Wir müssen weiter feststellen,dass sich gerade im naturwissenschaftlichen Bereich einerster Nachwuchsmangel abzeichnet.Meiner Meinung nach wird in dem vorliegenden Be-richt etwas zu defensiv argumentiert, wenn formuliertwird, dass wir zu langsam auf die technologischen He-rausforderungen reagieren. Lieber wäre mir, wenn wiroffensiv argumentieren würden, wenn wir formulierenwürden, dass wir agieren wollen – die Bereitschaft, agie-ren zu wollen, müsste mehr zum Ausdruck kommen –und dass wir den notwendigen Strukturwandel mit hoherFlexibilität in Angriff nehmen wollen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus die-sem Bericht ein kurzes Zitat anführen:Zur Stärkung des FuE-Potenzials bei Wirtschaftund Staat muss das Verhältnis zwischen Grundla-genforschung, angewandter Forschung undMarktanwendung durchlässiger gestaltet werden.Dies ist ein Dauerprozess, der uns schon seit mehrerenJahren beschäftigt. Wir mahnen – egal, wer gerade re-giert – schon seit langem die Reform des öffentlichenDienstrechtes an. – Das sind die positiven und die nega-tiven Seiten.Jetzt müssten wir eigentlich dazu übergehen, die Fra-ge, wie wir in den nächsten Jahren strategisch weiterar-beiten wollen, zu beantworten. Ich freue mich natürlich,dass in der letzten Legislaturperiode unter der Regierungvon CDU/CSU und F.D.P. auf diesem Gebiet gute Vo-raussetzungen geschaffen worden sind. Wenn ich zumBeispiel an das Thema Biotechnologie denke, stelle ichmit Genugtuung fest, dass Frau Bulmahn auf diesen er-folgreichen Ergebnissen weiter aufbauen kann. Ebensowurden in anderen Bereichen positive Weichenstellun-gen übernommen.Wir stellen darüber hinaus fest, dass neue Akzentegesetzt worden sind. Auf diese möchte ich kurz einge-hen; denn sie vermitteln nicht das, was ich mir unter ei-ner zukunftsorientierten Forschungs- und Technologie-Dirk Manzewski
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politik vorstelle. Ich halte es für einen misslichen Um-stand – ich begrüße die Frau Ministerin und hoffe, dasssie damit einverstanden ist, dass ich vor ihr reden darf –,dass es zu einer Ressorttrennung gekommen ist, dassalso mittlerweile wesentliche Elemente der Forschungs-und Technologiepolitik im Wirtschaftsministerium unddie übrigen Bereiche bei der Forschungsministerin ange-siedelt worden sind.
Ich hätte nichts dagegen, wenn dafür eine koordinieren-de Hand vorhanden wäre. Aber das ist leider nicht derFall. Im Verlauf des letzten Jahres war zu erkennen, dasshier zwei Ressorts nebeneinanderher arbeiten. Sie redenzwar mit einer Sprache, aber mit zwei Zungen. Ich stellefest: Am 11. Januar dieses Jahres ging der Bundesmini-ster für Wirtschaft an die Öffentlichkeit und präsentierteseinen Bericht. Am 17. Januar ging Frau Bulmahn an dieÖffentlichkeit und präsentierte ihren Bericht. Wenn ichmir beide Berichte anschaue, so stelle ich fest: Hierfehlen die Klammer, das Zusammenführen und das ein-heitliche Argumentieren nach außen. Meine Damen undHerren, wer vor diesem Hintergrund von einer R- undD-Politik aus einem Guss spricht, dem muss ich leidersagen: Das ist nicht der Fall.Was hat das für Konsequenzen? Durch diese Teilungkönnen in diesen beiden Bereichen natürlich Res-sortegoismen fröhliche Urständ feiern. Das halte ich füreine missliche Situation. Hier mahne ich nur einmal et-was an, was in den vergangenen Jahren immer Konsenswar. Wir haben ja auch unter der alten Regierung dasProblem gehabt, dass sich Ressortegoismen ausgeprägthatten. Deshalb haben wir gesagt, es muss gebündeltund zusammengefasst werden. Deshalb wurde, auch mitIhrer Unterstützung, der Technologierat beim Bundes-kanzler eingerichtet. Im Technologierat beim Bundes-kanzler haben wir Wissenschaft, Wirtschaft, Forschungund Gewerkschaften zusammengeführt. Wir haben ge-sagt: Liebe Leute, lasst uns eine Bestandsaufnahme ma-chen. Lasst uns bitte überlegen, wo wir hinmarschierenwollen, wo die Zukunftsfelder sind, auf die wir uns ver-stärkt ausrichten müssen, die uns dann auch die Mög-lichkeit geben, künftig mit einem entsprechenden Wirt-schaftswachstum das zurückzuholen, was wir vorweg inWissenschaft und Forschung investiert haben.Das war eine gute Sache. Um diese leidigen Ressort-egoismen auszuschalten, mahne ich hier an, dass wir aufein derartiges Instrument hinarbeiten.Ein weiterer Punkt, meine sehr verehrten Damen undHerren: Wenn ich mir den Bericht von Frau Bulmahnangucke, so stelle ich fest: Wir haben uns immer umGeld gestritten. Jetzt wollen wir uns nicht weiter strei-ten, ob es ein bisschen mehr oder ein bisschen wenigersein darf. Aber wenn ich sehe, dass Geld allein derSchlüssel zum Erfolg sein soll, dann beschleicht michschon ein bisschen Unwohlsein. Ich gewinne hier denEindruck, dass nun so verfahren werden soll: Jetzt habenwir Geld und machen Programme und diese helfen unsaus dem Tal heraus. – Das ist leider nicht der Fall. Wirhaben schon in der letzten Legislaturperiode versuchenmüssen, das ökonomische Prinzip mit weniger Geld zumTragen zu bringen. Wir mussten uns fragen: Wie könnenwir tatsächlich ein Optimum an Erfolg erzielen? Bio-Regio, das nur als Beispiel, ist hervorragend gelaufen.Im Übrigen: Wenn ich mir den Haushalt – Druck-sache 14/1400 Seite 56 – und hier die Ausgaben desBundes für Bildung, Wissenschaft und Forschung an-gucke und die Jahre 1999 und 2000 vergleiche, so stelleich fest, dass wir dort keine steigenden, sondern ehersinkende Raten haben. Das muss man bitte einmal zurKenntnis nehmen.Meine Damen und Herren, Programme sind einewunderschöne Sache. Ich stelle fest: Wir haben 800Programme des Staates, Bund und Länder zusammengenommen, für den Bereich der Wirtschaft. Allein wasdie Projektverwaltung angeht, haben wir2 500 Mitarbeiter in der zivilen Forschungsförderungdes Bundes. Das ist eine Sache, die wir immer frakti-onsübergreifend kritisiert haben. Meine Damen und Her-ren, im Jahre 1999 gab es acht neue Programme. Wirbekommen wunderschöne Hochglanzbroschüren prä-sentiert, alles prima und hervorragend. Leider ist derBundeswirtschaftsminister nicht da, dennoch: Wenn erin dieser Legislaturperiode so weiter macht, wird er indie Geschichte der 14. Legislaturperiode als der Bro-schürenminister eingehen.Meine Damen und Herren, so etwas sollten wir unskünftig nicht erlauben, wenn wir Folgendes wissen: dassdiese überbordende Bürokratie bei Gebern und Nehmernzirka 20 Prozent der Mittel für Förderverwaltung bindet.Wir haben zu wenig Geld, als dass wir hier weiter Ne-benkriegsschauplätze finanzieren könnten.Meine Damen und Herren, ich darf daran erinnern,dass wir der Biotechnologie mit knappem Geld zumDurchbruch verholfen haben. Das können die Sozialde-mokraten auch! Ich bin nun schon lange genug im Ge-schäft und rufe ins Gedächnis, dass 1981 die damaligeSPD-Regierung im Einvernehmen mit der CDU dasProgramm „Anwendung der Mikroelektronik“, aufgelegthat, mit dem wir mit wenig Geld eine wahnsinnigeBreitenwirkung erzielt haben. Meine Damen und Her-ren, besinnen Sie sich auf diese Vorzüge, die Sie schonvor fast 20 Jahren entwickelt haben.Leider ist davon heute kaum noch etwas festzustel-len.Wir haben die Liberalisierung des Telekommuni-kationsmarktes durchgeführt; wir haben die Liberalisie-rung des Energiemarktes durchgeführt.Und wo, meineDamen und Herren, sind die Ansätze der jetzigen rot-grünen Regierung auf diesem Sektor? Übrigens: DieseLiberalisierungen haben Wettbewerb und ein Zurück-drängen des Staates gebracht. Sie haben dazu geführt,dass der Bürger seinen Profit daraus zieht. Und was istim letzten Jahr passiert? Die Rahmenbedingungen habensich weiterhin verschlechtert. Scheinselbstständigkeit,630-DM-Gesetz und ein kompliziertes Steuersystem,sprich Ökosteuer, haben zur Verschlechterung der Rah-menbedingungen beigetragen.Am Rande möchte ich noch kurz erwähnen: ImHaushaltssanierungsgesetz, das Rot-Grün letztes Jahrbeschlossen hat, sind die Patentgebühren um 15 Prozentangehoben worden. All dies sind nur Kleinigkeiten; aberErich Maaß
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damit werden doch immer mehr Bürokratie, immer mehrStaat und immer mehr Reglementierung geschaffen, stattden gegenteiligen Weg einzuschlagen und mehr Freiheitzu schaffen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf folgendenPunkt eingehen. Wir haben nichts gegen Strukturver-änderungen. Wir wollen diese unterstützen und sind be-reit, auch unbequeme Wege zu gehen. Nur darf man sol-che Strukturveränderungen nicht durchführen wie derElefant im Porzellanladen. Ich gehe hier auf die ThemenGMD und Fraunhofer-Gesellschaft ein. Sie wissen ganzgenau, dass wir die Wissenschaftsklientel schon seit Jah-ren auffordern, sich einer Evaluierung zu stellen. Wirsagen ihnen: Ihr müsst bereit sein, euch permanent inFrage zu stellen. Mittlerweile sind sie dazu bereit undmachen es.Sie wissen, welches Problem es war, im Bereich derGrundlagenforschung die Bereitschaft zu erzeugen,marktwirtschaftliche Akzente zu übernehmen. Mittler-weile hat der Wissenschaftsrat evaluiert und die Gut-achten liegen vor. Um diese Tatsache schert sich jedochniemand von der Bundesregierung. Es wird einfach einSystem zerschlagen und gesagt, man wolle eine neueStruktur bilden. Die Konsequenz – und damit das Pro-blem – wird sichtbar: In der „Computer Zeitung“ vom23. Dezember kann man lesen: „Forschungsfusion wirdim neuen Jahr zur Kanzlersache“. Sie machen eine An-gelegenheit zur Kanzlersache, nachdem das Porzellankaputt ist. Hier zeigt sich klar, dass sich zwei Frontengegenüberstehen: Frau Bulmahn und der Wirtschafts-staatssekretär Tacke. Notwendig wären ein Zusammen-führen und Zusammen-Agieren und nicht ein Gegenein-ander-Arbeiten.Meine Redezeit geht langsam zu Ende.
– Warten wir ab, mein lieber Bodo Seidenthal.Wir sind nicht schlechter geworden, ich glaube, wirsind relativ gut geblieben. Doch die anderen Länder sindbesser geworden. Wenn wir die Voraussetzungen schaf-fen wollen, um im Bereich Forschungs- und Wirt-schaftspolitik Leistungsfähigkeit in das nächste Jahrtau-send zu bringen, müssen wir wirklich beherzigen: weni-ger Staat, weniger Dirigismus und mehr Freiräume imprivaten Bereich. Erdrückt nicht die Mittelständler, son-dern verschafft ihnen die Möglichkeit, sich zu entwi-ckeln! Wenn wir das beherzigen, bin ich nicht traurigund habe ich keine Sorge, dass wir einen guten Weg ge-hen werden.Herzlichen Dank.
Meine Damen undHerren, ich erläutere Ihnen jetzt einmal den gegenwärti-gen Stand der Rednerfolge, weil das für die künftigenRedner wichtig ist. Frau Ministerin Bulmahn ist bereit,jetzt das Wort zu nehmen. Trifft dies zu, Frau Ministe-rin? – Wunderbar.Dann erhält das Wort die Kollegin Ulrike Flach. An-schließend kommt der Kollege Hans-Josef Fell, den ichherzlich begrüße. Als Nächstes folgen die KollegenKutzmutz, Seidenthal und Schmidt. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist so abgesprochen.Dann hat jetzt die Frau Ministerin Bulmahn das Wort.Bitte sehr.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag ge-nau vor einem Jahr habe ich den Bericht zur technologi-schen Leistungsfähigkeit für das Jahr 1998 vorgestellt.Dieser Bericht – ich finde, das ist wichtig – hat sehrviele interessante und engagierte Diskussionen ausge-löst, die in ihrem Umfang weit über das hinaus gingen,was an Diskussion bei uns im Hause stattgefunden hat.Inzwischen liegt der neue Bericht vor, den ich vor eini-gen Tagen der Öffentlichkeit vorgestellt habe.Die zentrale Botschaft des Berichts von 1998 war:Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Die zentraleBotschaft des Berichts von 1999 lautet: Investitionen inBildung und Forschung sind die entscheidenden Trieb-kräfte für wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeits-plätze. Dieser Bericht zeigt sehr deutlich, dass Länder,die vermehrt in Forschung und Entwicklung investie-ren, damit den Grundstein für ein höheres Wachstumund neue Arbeitsplätze legen. Andere Länder, die weni-ger in Forschung und Entwicklung investiert haben undzögerlicher sind, befinden sich dagegen am unteren En-de der Wachstumshierarchie.Dieser Zusammenhang ist immens wichtig und mussgerade von uns immer wieder herausgestellt werden.Finnland zum Beispiel hat diesen Zusammenhang sehrfrühzeitig deutlich erkannt und liegt inzwischen in Eu-ropa bei der Forschungs- und Entwicklungsintensität ander Spitze. Dasselbe gilt für den Bereich des Wirt-schaftswachstums.Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,haben diesen Zusammenhang jahrelang ignoriert odernicht zur Kenntnis nehmen wollen. Herr Maaß, ichstimme Ihnen zu, dass Geld nicht alles ist. Das ist auchmeine persönliche Überzeugung, wie Sie seit langemwissen. Geld und Strukturreformen gehören zusam-men; man braucht beides, wenn man tatsächlich Erfolgeerzielen will. Man darf nicht – wie Sie das leider getanhaben – die Mittel für Forschung und Entwicklung im-mer weiter herunterfahren; denn das hat zur Folge, dassInvestitionen in die wichtigen Bereiche Forschung undEntwicklung nicht stattfinden. Das ist in den 90er-Jahrenleider geschehen. Wir haben in den 90er-Jahren er-heblich an Forschungs- und Entwicklungsintensität so-wie an Wirtschaftswachtstum verloren. Das kann maneinfach nicht leugnen.Deshalb war es an der Zeit, dass diese Politik korri-giert wurde. Die Bundesregierung hat mit dem Haus-haltsjahr 1999 die Mittel für Forschung und Ent-wicklung erheblich aufgestockt und die notwendigenStrukturreformen in Angriff genommen. Wir haben imletzten Jahr also beides gemacht und werden das auchfortsetzen.Erich Maaß
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Wenn wir im beginnenden Jahrzehnt beim Wachstumder Wirtschaft und bei der Anzahl der Arbeitsplätzewieder einen der vorderen Plätze unter den OSZE-Län-dern belegen wollen, dann muss uns die Trendwende inForschung und Entwicklung durch die Erhöhung vonInvestitionen und durch die notwendigen Strukturrefor-men gelingen. Wir tragen vonseiten der Bundesregie-rung mit erheblichen öffentlichen Mitteln unseren Teildazu bei.Die Wirtschaft muss diesen Ball jetzt auffangen. DieZeichen dafür stehen gut. Das zeigt der Bericht deutlich,der einerseits ermutigt, anderererseits aber deutlichmahnt. Wir stellen für die Jahre 1998 und 1999 fest –das zeigen die Zahlen –, dass die Wirtschaft wieder ei-nen größeren Teil ihres Umsatzes und ihrer Gewinne inForschung und Entwicklung investiert. Das muss fortge-setzt werden. Es wäre verheerend, wenn die Wirtschaftihre Anstrengungen jetzt verringerte oder plafondierteund nicht weiter verstärken würde.Wir haben kurz vor Weihnachten unser Konzept fürdie Unternehmensteuerreform 2000 vorgelegt. Mitdiesem Konzept vergrößern wir den finanziellen Spiel-raum der Unternehmen erheblich. Der Bericht lobt die-ses Konzept ausdrücklich, er macht aber auch klar unddeutlich, dass es jetzt Sache der Wirtschft ist, diesengrößeren finanziellen Spielraum für verstärkte An-strengungen in Forschung und Entwicklung zu nutzenund in diesen Bereich mehr Mittel zu investieren. Des-halb appelliere ich ganz eindringlich an die Wirtschaft,diesen Spielraum für mehr Investitionen in Forschungund Entwicklung zu nutzen.
Der Bericht sagt klar: Deutschland ist Technologie-führer in Europa – bei Patenten, bei Innovationen undbei Weltmarktanteilen forschungsintensiver Güter. Allewichtigen Indikatoren machen deutlich, dass wir in Eu-ropa ganz vorne dabei sind. Doch die Wissenschaftlerweisen zu Recht darauf hin, dass wir an einem Scheide-weg stehen; denn die gleichen Indikatoren, dieDeutschland heute eine Spitzenposition bescheinigen,zeigen, dass sich in den 90er-Jahren die internationalenGewichte insgesamt verschoben haben: in Richtungkleinere europäische Länder, in Richtung USA und inRichtung Asien.Es war deshalb höchste Zeit, dass neuer Wind in dieBildungs- und Forschungspolitik kommt, nicht nurdurch zusätzliche Mittel, sondern vor allen Dingendurch dringend notwendige strukturelle Reformen. Die-se strukturellen Reformen müssen das deutsche Innova-tionssystem insgesamt leistungsfähiger machen. Wir ha-ben – davon bin ich überzeugt, ich hoffe, Sie stimmenmir zu – eine hervorragende Forschungs- und Wissen-schaftsinfrastruktur, nutzen aber das Leistungspotenzial,das dort vorhanden ist, nicht optimal. Deshalb gehen un-sere Reformvorhaben, die wir gestartet haben, in dieRichtung, dieses Potenzial stärker zum Ertrag zu bringenund stärker zu nutzen. Die strukturellen Reformen müs-sen deshalb zu mehr Effizienz und zu mehr Flexibilitätan unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungenführen, sie müssen mit Instrumenten wie einer stärkerenProgrammsteuerung und Budgetierung zu einer klarenPrioritätensetzung und Profilbildung führen. Deshalbsetzen wir, setzt diese Bundesregierung auf eine Politik,die Wachstumsspielräume nutzt und neue technologi-sche Entwicklungen engagiert aufgreift.Unsere Politik zur Verbesserung der technologi-schen Leistungsfähigkeit beruht auf drei Säulen. DerBericht bescheinigt der Bundesregierung ausdrücklich,dass wir mit unseren Schritten zur Modernisierung undWeiterentwicklung der beruflichen Bildung und denStrukturreformen in der Hochschulpolitik, die wir be-gonnen haben, auf dem richtigen Weg sind: zum Bei-spiel mit einer veränderten Nachwuchswissen-schaftlerförderung, zum Beispiel mit der Modernisie-rung des Dienstrechtes, zum Beispiel mit der Moderni-sierung und Reform des BAföG, um auch das Potenzialan leistungsfähigen Menschen zu nutzen, zum Beispielmit der Setzung des Schwerpunkts in der Forschungspo-litik auf Biotechnologie sowie auf Informations- undKommunikationstechnologien.Mit dem Aufwuchs der Mittel für Bildung und For-schung stärken wir nachhaltig die Wissensbasis und da-mit auch die Leistungsfähigkeit des StandortesDeutschland. Man kann es auch kurz so sagen: Bildungund Forschung sind der Standortfaktor Nummer eins inDeutschland.
Mit unserer Steuerpolitik erhöhen wir die privatwirt-schaftlichen Spielräume für zusätzliches Engagement inForschung, Entwicklung und Innovation. Die Wirtschaftist aufgerufen, diese Spielräume engagiert für mehr For-schung und Entwicklung zu nutzen. Mit den niedrigenSteuersätzen machen wir zudem Deutschland als Stand-ort für Investitionen in Forschung und Entwicklungweltweit erheblich interessanter.
Herr Maaß, für diese Bundesregierung ist eines klar–wir halten uns auch daran –: Innovationspolitik kannman nicht erfolgreich betreiben, wenn man sie allein alsRessortaufgabe versteht. Gerade deshalb haben wir For-schungs-, Bildungs-, Steuer- und Wirtschaftspolitik auf-einander abgestimmt und mit unseren Vorschlägen zurSteuerreform genauso wie mit unseren Vorschlägen zurBildungs- und Forschungspolitik eine kohärente Inno-vationsstrategie entwickelt und auch vorgelegt. Wirwerden mit den strukturellen Reformen in Bildung undForschung die Flexibilität weiter stärken, Leistungsan-reize setzen und damit die gesamte Leistungskraft desdeutschen Innovationssystems verbessern.Im Rahmen der Bündnisarbeitsgruppe „Aus- undWeiterbildung“ entwickeln wir die duale Berufsausbil-dung und die berufliche Weiterbildung fort, damit Be-rufsbilder und individuelle Kompetenz der Arbeitneh-mer den sich ständig wandelnden Anforderungen derBundesministerin Edelgard Bulmahn
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Wissensgesellschaft genügen werden; denn gerade der„Bericht zur technologischen LeistungsfähigkeitDeutschlands 1998“ besagt eindeutig: Unsere Zukunfthängt von qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern ab, und zwar sowohl von denjenigen, dieeine berufliche Ausbildung erhalten haben, als auch vondenjenigen, die eine wissenschaftliche Ausbildung er-halten haben.Die Biotechnologie hat eine immer größere Bedeu-tung für die chemische und pharmazeutische Industrie.Die wissenschaftlichen Grundlagen Deutschlands be-züglich der Biotechnologie sind gut. Aber die wirt-schaftliche Nutzung von Forschungsergebnissen mussdeutlich an Breite und auch an Geschwindigkeit gewin-nen. Die Bundesregierung hat dieses Problem in Angriffgenommen. Mit dem neuen Bio-Regio-Wettbewerb„Bioprofile“ und dem Wettbewerb für Nachwuchswis-senschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler „Bio-future“ nutzen wir das Potenzial der Biotechnologie fürwirtschaftliches Wachstum und für mehr Arbeitsplätze.Dazu gehört auch, dass wir in diesem Jahr neben denStrukturprogrammen, mit denen die wirtschaftliche An-wendung von Forschungsergebnissen gefördert werdensoll, auch die finanziellen Anstrengungen für diesenForschungsbereich, der zurzeit auf eine solche Unter-stützung angewiesen ist, verstärkt haben. Wir haben dieMittel für diesen Förderbereich um 10,8 Prozent erhöht.Mit dem Aktionsprogramm der Bundesregierung „In-novation und Arbeitsplätze in der Informationsgesell-schaft des 21. Jahrhunderts“ sind die Weichen richtiggestellt worden. Wir haben gestern im Deutschen Bun-destag ausführlich über die Programme und Rahmenge-setze diskutiert. Es ist doch völlig klar, dass besondersdie Informations- und Kommunikationstechnologieeine Schlüsselrolle spielt. Gerade im Aktionsprogrammhaben wir über alle Ressortzuständigkeiten hinweg fest-gestellt, dass sich die Anwendung von IuK-Technologien in den kommenden Jahren beschleunigenwird. Dabei, Herr Maaß, spielt die Zusammenführungder GMD und der Fraunhofer-Gesellschaft eine wichtigeRolle. Die „Computer-Zeitung“ muss falsch informiertgewesen sein, als sie im Dezember letzten Jahres denvorhin zitierten Artikel veröffentlicht hat. Die Zusam-menführung läuft. Es gibt immer Probleme, wenn manseit Jahren tradierte Organisationszusammenhänge ver-ändert. Das wissen Sie genauso gut wie ich.Ich finde, dass dieses Beispiel auch etwas Positiveszeigt: Die jahrzehntelang aufgestellte Behauptung – ichhabe das seit zehn oder zwölf Jahren mitverfolgt –, un-ser Forschungssystem sei so starr, dass man gar nichtsmehr verändern könne, ist einfach falsch. Vielmehr sindVeränderungen möglich; allerdings muss man die Cou-rage haben, die Probleme anzupacken. Jeder weiß, dassdas nicht ganz einfach ist.Ich sage ganz klar: Ich habe die Courage gehabt. Mirjedenfalls war von Anfang an klar, dass dieser Prozessnicht ohne Probleme vonstatten geht. Aber die Fusionklappt und sie wird es auch weiterhin. Die Beteiligten –sowohl die GMD wie auch die Fraunhofer-Gesell-schaft – sind festen Willens, diese Zusammenführungzum Erfolg zu bringen. Dies ist nötig und richtig. Daswird schon daran erkennbar, dass die Evaluierung, aufdie Sie, Herr Maaß, sich bezogen haben, sehr deutlichzum Ausdruck bringt, dass wir bisher nicht das kritischePotenzial an Größe für eine wirklich offensive Nutzungder Forschungskapazitäten in diesem Bereich hatten.Gerade das besagt der Evaluierungsbericht und daraushabe ich die Konsequenzen gezogen. Mit der Zusam-menführung von GMD und FhG habe ich genau die-ses kritische Potenzial an Größe geschaffen. Es wird ei-nen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir inForschung und Entwicklung wirklich deutlich besserwerden. Es wird aber auch dazu beitragen, dass wir diewirtschaftliche Anwendung der Forschungsergebnisseerheblich verbreitern können.Wir haben in diesem Aktionsprogramm noch eineweitere, meiner Meinung nach ganz wichtige Entschei-dung getroffen. Wir haben mit den Sozialpartnern verab-redet, dass wir das Ausbildungsangebot in den IuK-Berufen deutlich verbessern werden. Die Situation istabsurd. Es gibt in der informations- und kommunikati-onstechnischen Industrie einen Fachkräftemangel. Aufder anderen Seite herrscht in den Ausbildungsberufenein Mangel an Ausbildungsplätzen. Wir haben mitein-ander verabredet, dass wir die Anzahl der Ausbildungs-berufe in drei Jahren verdreifachen werden. Das Jahr1999 hat gezeigt, dass wir dieses Ziel schon im erstenSchritt übertroffen haben.
Wir haben deutliche Erfolge zu verzeichnen. Es ist einpositives, hervorragendes Ergebnis.Über Instrumente wie Budgetierung, leistungsorien-tierte Bezahlung, eine stärkere Programmsteuerung,Stärkung des Wettbewerbs an den Helmholtz-Zentrenund eine regelmäßige Evaluation wollen wir mehr Effi-zienz und Zielgerichtetheit im deutschen Wissenschafts-system verwirklichen. Mit der Modernisierung desDienstrechtes wollen wir die Leistungsanreize in Lehreund Forschung stärken und den Transfer von Köpfen indie Wirtschaft erleichtern.Der Bericht bestätigt, dass ohne den Anschub durcheine öffentliche Forschungsförderung die Entwicklungeines boomenden Beteiligungskapitalmarktes und die er-freuliche Gründungsdynamik im Bereich der Spitzen-technologie so nicht möglich gewesen wären. MeinKollege Bundesminister Müller sorgt im Rahmen seinerZuständigkeit für Kontinuität und Fokussierung der er-folgreichen Bundesprogramme. Mit dem Programm„Existenzgründer aus Hochschulen“ schaffen wir dieVoraussetzung für eine Verbesserung der Gründungs-infrastruktur an unseren Hochschulen und für eine Qua-lifizierung zur unternehmerischen Selbstständigkeit. Dasheißt, wir arbeiten koordiniert zusammen. Dies werdenwir auch in Zukunft tun.Ich will noch kurz einen Punkt nennen. Mir ist eswichtig – auch das zeigt dieser Bericht –, dass wir dieZusammenarbeit gerade zwischen kleinen bzw. mittle-ren Unternehmen und Hochschulen verstärken. Der Be-richt macht deutlich, dass dies einer der Schlüssel ist.Deshalb habe ich der Verbundforschung ein größeresBundesministerin Edelgard Bulmahn
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Gewicht gegeben. Ich werde mit der Veränderung desDienstrechtes auch die zurzeit für die Mobilität zwi-schen Hochschule und Wirtschaft bestehenden Hemm-nisse aus dem Weg räumen.Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeithält uns den Spiegel vor. Die Analysen und Bewertun-gen des Berichts tragen zu einem besseren Verständnisdes Innovationsgeschehens in Deutschland bei. Er weistauf die Schwächen hin, zeigt aber zugleich auch Wegefür eine erfolgreiche Innovationspolitik auf und er be-stärkt uns in den vielen von mir genannten Punkten. DerBericht bestätigt uns, dass wir auf dem richtigen Wegsind. Die rot-grüne Bundesregierung, meine Herren undDamen, wird diese Wege auch zukünftig zielgerichtetweitergehen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
die Kollegin Ulrike Flach, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Es gibt immer wieder Berichte hier imPlenum, bei denen man sich deutlich die Sinnfrage stellt.Der Bericht zur technologischen LeistungsfähigkeitDeutschlands gehört ganz definitiv nicht dazu. Er ist einausgezeichnetes, detailliertes, analytisch sehr gutes Pa-pier mit einer Fülle von Hinweisen für uns politischeHandelnde.
Ich möchte mich ausdrücklich bei den Autoren bedan-ken. Mit diesem Bericht können wir als Parlamentariereine Menge anfangen.Der Bericht behandelt einen Zeitraum, in dem nochdie CDU/CSU-F.D.P.–Regierung im Bund regierte.Aber da Forschung und Bildung zu einem erheblichenAnteil Ländersache sind, fließen auch die Politiken derverschiedenen Länderkoalitionen in das Ergebnis ein. Esmacht deshalb keinen Sinn, die Ergebnisse nur einer po-litischen Couleur anzulasten. Wir alle tragen Verant-wortung für eine Bildungs-, Forschungs- und Technolo-giepolitik, die Zukunftschancen eröffnet, Arbeitsplätzeschafft und sichert und unseren Lebensstandard erhöht
sowie – das sage ich als Umweltpolitikerin – zu einemnachhaltigen Umweltschutz beiträgt.Insgesamt stellen wir fest, dass Deutschland in vielenBereichen der Forschung und Technologie Spitzenposi-tionen einnimmt – allerdings nicht in allen: In einigensind wir „fast follower“; aber auch das kann eine erfolg-reiche Strategie sein. Ich will mich auf einige Bereichekonzentrieren, die wir Liberale für besonders wichtighalten und bei denen wir Korrekturen der Bundesregie-rung einfordern.Die Forschungsausgaben sind gestiegen. Aber die-ser Anstieg reicht nicht aus, Frau Bulmahn, um auf Dau-er eine Spitzenstellung zu behaupten. Vor allem kleineVolkswirtschaften – da stimme ich Ihnen zu – wieSchweden oder die Niederlande holen sehr stark auf.Hier ist die deutsche Wirtschaft gefordert. Besondershinzuweisen ist auf die unterschiedliche Struktur derdeutschen Forschungsausgaben – vielleicht sollten sichdas auch die Grünen zu Herzen nehmen –: Fast25 Prozent kommen nach wie vor aus der Automobilin-dustrie, wohingegen die chemische Industrie und diePharmaforschung deutlich an Boden verloren haben.Die Wirtschaftszweige der Spitzentechnik liegen anvorderster Front der Wachstumshierarchie. Auf europäi-scher Ebene sind wir in vielen Bereichen führend undauf dem Weltmarkt haben wir immerhin einen Welthan-delsanteil von 11,5 Prozent bei der Spitzentechnik. Al-lerdings – ich zitiere –:Die leichte Positionsverbesserung in der Spitzen-technologie ist vor allem dem Aufschwung der Te-lekommunikationsbranche im Rahmen der Deregu-lierung in diesem Bereich zu verdanken.Frau Bulmahn, Sie werden Verständnis haben, dass wirLiberalen so etwas mit großer Genugtuung sehen. Dennschließlich waren wir diejenigen, die dafür viele, vielePrügel in diesem Hause eingesteckt haben.Bildung ist die beste Versicherung gegen Arbeitslo-sigkeit. Der Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräftensteigt. Sie haben zu Recht gesagt: Im Bereich der Infor-mations- und Kommunikationstechnik und bei den In-genieurberufen gibt es deutliche Engpässe. Ich füge hin-zu: Die deutsche Industrie hat hier in der Vergangenheitfalsch reagiert und hat falsche Signale gesetzt. Dagegenwerden die Chancen Geringerqualifizierter am Arbeits-markt immer schlechter.13 Prozent der Erwerbstätigen sind in Deutschland inforschungsintensiven Industrien tätig. Das ist mehr alsdoppelt so viel wie in den USA und doppelt so viel wiein Frankreich. Hier haben wir eine Spitzenreiterfunktion,die wir halten sollten. Nichtsdestoweniger: Trotz kurz-fristiger Erfolge schätzt der Bericht mittelfristig dasFuE-Niveau der deutschen Industrie nach wie vor als zuniedrig sein. Sie haben unsere Unterstützung, wenn esdarum geht, dort mehr einzufordern.An den Schulen und den Universitäten wird über diekünftige internationale Wettbewerbsfähigkeit der deut-schen Wirtschaft und der Arbeitsplätze entschieden. DerBericht lässt die Alarmlampen in diesem Punkt auf-leuchten. Zitat:Zwar ist die Leistungsfähigkeit von Hochschulenund Forschungsinstituten als hoch einzustufen.Doch zum einem zeigt sich hier ein entschiedenerReformstau, zum anderen beruht die aktuelle Leis-tungsfähigkeit auf in der Vergangenheit getätigtenInvestitionen.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Aktuell wird zu wenig in Bildung investiert. Nicht dieHaushälter – das sagen wir auch der jetzigen Regierungsehr deutlich –, sondern die Bildungspolitiker bestim-men über die Zukunft unserer Kinder.Ähnliches gilt für das immer wieder aktuelle Themader Hochbegabtenförderung. Auch hier möchte ich Ih-nen ein Zitat nicht vorenthalten:Deutschland ist bekannt für seine solide Breiten-ausbildung auf hohem Niveau. Sie ist ein wesentli-ches Element des deutschen Innovationssystemsund muss unbedingt beibehalten werden. Demge-genüber hat die Förderung von Leistungseliten inder öffentlichen Meinung oft noch einen negativenBeigeschmack. Dieser muss abgebaut werden.
Ich will die Sozialdemokraten sehr deutlich daranerinnern, wie heftig sie in der vergangenen Legislaturpe-riode auf die F.D.P. eingeschlagen haben, wenn dasWort „Elitenförderung“ fiel. Ich hoffe, dass der vorlie-gende Bericht zu einem Bewusstseinswandel beiträgt.
Er macht aber auch deutlich, dass das Gründungspo-tenzial von Hochschulabsolventen in vielen Feldernnoch weitgehend brachliegt. Hier geht es nicht so sehrum finanzielle Unterstützung, sondern um eine Entrüm-pelung der Genehmigungsverfahren. Eine Studie derDeutschen Ausgleichsbank besagt deutlich, dass knapp40 Prozent der Existenzgründer derzeit zwischen dreiund fünf behördliche Genehmigungen brauchen. Bei je-dem sechsten Unternehmen wird der Betriebsstart durchbehördliche Verfahren verzögert. Hier sind wir alle ge-meinsam gefordert. Das gilt selbstverständlich auch,wenn es um glaubwürdige Bekenntnisse der Politik zurTechnikakzeptanz geht.
In diesem Zusammenhang möchte ich sehr deutlich aufdie pharmazeutische Industrie und die Gentechnik hin-weisen.Ein glaubwürdiges Bekenntnis zu innovativen Tech-nologien haben wir eben wieder von Ihnen, FrauBulmahn, gehört. Aber wir finden das leider nur bei sehrwenigen Mitgliedern Ihrer Fraktion und schon gar nichtbeim Koalitionspartner. Ich begrüße es ausdrücklich,dass die Fördermittel für die Biotechnologie in IhremHause um 10,7 Prozent angehoben worden sind. Aberbitte sorgen Sie auch dafür, dass diese Zukunftstechno-logien die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedin-gungen erhalten und nicht immer wieder grünenHeckenschützen zum Opfer fallen.
Ich erinnere dabei nur an die elende Freisetzungsrichtli-nie oder an den gestrigen Antrag zur Biodiversität.Ähnliches gilt für die Nukleartechnologie undselbstverständlich auch für die Luft- und Raumfahrt.Dort waren wir bislang Systemführer. Ich stelle fest,dass Sie aus großen Teilen dieser Bereiche nur allzugerne wieder aussteigen wollen. Vielleicht erinnern Siesich dabei auch an die Delphi-Studie, die gerade für denBereich der Nukleartechnologie sehr deutlich und klarfeststellt, dass die Zukunft in dezentralen nuklearenWärme- und Elektrizitätserzeugungsanlagen liegt. Es istein großer Fehler, aus der Forschung in diesem Bereichso ohne weiteres und mit Schwung auszusteigen.Auch bei der Luft- und Raumfahrt stehen immer we-niger Mittel zur Verfügung. Gerade als Umweltpolitike-rin lege ich Wert darauf, dass dort wesentlich mehr ge-tan wird.Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.Der Bericht ist gut, aber er könnte noch besser werden.Es wäre hilfreich, wenn in den Folgeberichten ein stär-kerer Akzent auf die Entwicklung der technologischenLeistungsfähigkeit der neuen Länder gelegt würde. Ichglaube, so mancher Westdeutsche würde über die beein-druckende Entwicklung der Spitzentechnologie in denneuen Ländern mit den Ohren wackeln.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat der Kollege
Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die von Frau Bulmahn genannte Kernaussage desBerichtes zur technologischen Leistungsfähigkeit teiltdie Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen voll. Investi-tionen in Bildung und Forschung sind zentrale Elementestaatlichen Handelns. Die rot-grüne Bundesregierung hatsich im Gegensatz zur vorherigen diese Aussage zu Ei-gen gemacht.Im Januar 1996 versuchte der damalige Forschungs-mittelkürzungsminister Rüttgers die Öffentlichkeit mitder Hiobsbotschaft zu schockieren, die technologischeInnovationsfähigkeit am Standort Deutschland sei amEnde. Mit dieser Interpretation des damaligen Berichteserwies Rüttgers dem Forschungsstandort Deutschlandeinen Bärendienst. Es ist inzwischen allseits anerkannt:Wissen hat in einem Hochlohnland wie Deutschland ei-ne maßgebliche Bedeutung für die Zukunft. Doch durchdie wiederholten Kürzungen im Etat des ehemaligenForschungsministers Rüttgers geriet die bundesdeutscheForschungslandschaft im internationalen Wettbewerbimmer mehr ins Hintertreffen und rangierte bezüglichder Forschungsausgaben nur noch auf Platz neun derentsprechenden OECD-Liste.Doch dem damaligen Forschungsminister fehltennicht nur die Mittel, sondern auch die geeigneten Ziele.Statt Visionen für die Zukunft zu entwickeln, be-schränkte sich Rüttgers auf die technokratische Ver-waltung des Mangels. Die Fraktion von Bündnis 90/DieGrünen hat sich deshalb vor der letzten Bundestagswahlfür eine Aufstockung des Etats für Forschung und Bil-dung in einer Größenordnung von 2 Milliarden DM aus-gesprochen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir diesesWahlversprechen bald umgesetzt haben werden.Ulrike Flach
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7634 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
Trotz der erreichten und geplanten Korrekturen ma-che ich mir große Sorgen um die viel zu niedrige Zahlvon Ingenieurstudenten. Die Zeit eilt, um die bildungs-politischen Verwerfungen des einstigen Zukunfts-ministers auszugleichen. Geld alleine wird aber nichtgenügen. Gleichzeitig muss kreativ gehandelt werden,um die Studenten über verschiedenste Anreize wiederfür das Ingenieurstudium zu interessieren.Es wird Sie nicht überraschen, dass Forschungsvorha-ben in der Solarenergie mehr junge Leute begeistern alsin der Kernenergie. Die Mehrzahl der jungen Leute willverantwortlich Probleme lösen, statt nur einem techno-kratischen Spieltrieb à la Transrapid nachzugehen.
– Es ist immer die Frage, welcher Technologie gegen-über man freundlich ist. Ich führe das noch aus.
Solange die Frage im Raum steht, welchen Sinn esmacht, eine Technologie weiterzuentwickeln und imZweifel sogar noch Schuld an womöglich schlimmenTechnikfolgen zu haben,
werden viele verantwortungsbewusste junge Menscheneinen anderen Weg einschlagen. Wir müssen uns ernst-haft fragen, ob die Studenten in den letzten Jahren mitder Geringschätzung des Ingenieurstudiums gegen eineindifferent technokratische Forschungs- und Wirt-schaftspolitik gestimmt haben. Mit den richtigen Zielenund Mitteln wird es uns gelingen, sie zurückzuholen.Ich zweifle daran, dass der vorliegende Bericht zurtechnologischen Leistungsfähigkeit, der noch von Rütt-gers in Auftrag gegeben wurde, hier hilfreich sein wird.Beim Lesen der Überschrift fällt mir schon ein grund-sätzliches Defizit auf. Es wird nach dem schwammigenBegriff der Leistungsfähigkeit gefragt. Viel wichtigerwäre es doch, meine Damen und Herren, nach der Prob-lemlösungsfähigkeit zu fragen. Was nützt die beste Leis-tung, wenn sie nicht gebraucht wird und überflüssig istwie Tamagotchis?
Zudem fällt auf, dass hier rein technokratisch gedachtwird, so, als ob es keine Innovationen außerhalb derTechnologie gäbe. Nicht allein technische, sondern vorallem auch soziale Innovationen helfen, das Beschäfti-gungsproblem zu lösen. Im Bericht wird somit folge-richtig beklagt, dass sich Wirtschaftswachstum und Ar-beitsmarkt weitgehend entkoppelt haben. Wenn es nichtgelingt – auch durch soziale Innovationen –, neue Ar-beitsplätze zu schaffen, wird die Arbeitslosigkeit unterglobalen Gesichtspunkten noch steigen.Bündnis 90/Die Grünen bejahen eindeutig technolo-gische Entwicklungen und Innovationen. Technik istaber nicht per se gut oder schlecht für eine Gesellschaft.
Wir nehmen daher eine ablehnende Haltung gegenüberRisikotechnologien wie der Atomkraft ein, die unbe-herrschbare Probleme schaffen. Stattdessen sollte in ei-nem gesellschaftlichen Konsensprozess ein Lang-fristprogramm für zukunftsfähige Technologieentwick-lung aufgelegt werden. Technische Entwicklungen müs-sen im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualitätund des Nutzens für Mensch und Gesellschaft fortlau-fend überprüft werden. Wir wollen eine differenzierteBeurteilung von Technologien und bewusste Entschei-dungen für zukunftsfähige Techniklinien wie zum Bei-spiel schadstoffarme, sanfte Chemie oder moderneSchienenverkehrstechnik oder Zukunftstechnologien wieerneuerbare Energien.Folglich ist für Bündnis 90/Die Grünen Innovationallein nicht der Inbegriff technischer Neuerungen, son-dern ein umfassender Prozess, der erstens davon aus-geht, dass sich soziale, ökonomische, institutionelle undökologische Innovationen wechselseitig bedingen, undzweitens Umweltverträglichkeit und soziale Gerech-tigkeit als zentrale Maßstäbe hat und zukunftsfähigeEntwicklungen in allen Politikbereichen in Gang setzt.Wir setzen daher auf eine moderne Technologiepolitik,die klar vorausschauend auf das Ziel der Nachhaltigkeitausgerichtet ist. Heute zeigen sich in der BundesrepublikDeutschland teilweise die typischen Probleme eines al-ten Industrielandes. Die Situation der Umwelt ver-schlechtert sich in wichtigen Teilbereichen. Die Um-weltbelastungen haben zum Beispiel bei den Klimaga-sen im Laufe der Jahrzehnte ein derartiges Ausmaß an-genommen, dass die Gefahr besteht, kritische Grenzenzu überschreiten.Die von der Vorgängerregierung betriebene Umwelt-politik des „end of pipe“ ist sichtbar an ihre Grenzen ge-stoßen. Mehr noch: Die Umweltpolitik unter CDU/CSUund F.D.P. wurde immer mutloser. Dies geschah, ob-wohl die OECD zu Recht festgestellt hat, dass die Fä-higkeit eines Staates zu moderner Umweltpolitik einwichtiger Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit einesLandes ist. Nur wer die Herausforderung der Nachhal-tigkeit aktiv aufgreift und nach innovativen Lösungensucht, wird die Zukunft bewältigen können.Umweltschutz wirkt als Modernisierungsmotor.Lassen Sie mich aus dem Bericht zitieren, der derheutigen Debatte zu Grunde liegt:Auf dem Markt für Umweltschutzgüter und -dienstleistungen zeigen sich deutlich die Spuren derschwachen „Umweltkonjunktur“. Der Staat nimmtüber die Gestaltung der Rahmenbedingungen maß-geblich Einfluss auf die Qualität der Nachfragenach Technologien. Mit nachlassenden Innovati-onsanreizen gewinnen Imitatoren die Oberhand.Deutschland sollte doch gerade in Bereichen, in de-nen es seine spezifischen Stärken – Kombinationneuester wissenschaftlicher und technologischerEntwicklungen mit traditionellen Stärken – ausspie-len kann, keinen Platz im Mittelfeld, sondern an derSpitze und Technologieführerschaft anstreben. AufHans-Josef Fell
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scheinbar „sicheren“ Märkten würde sonst Terrainabgegeben. Dies bedeutet jedoch, dass Anreize füreinen Umweltschutz über den „Stand der Technik“hinaus zu setzen sind. Die Unternehmen müssen dieChance haben, ihre Leistungsfähigkeit unter Be-weis zu stellen und Märkte erschließen zu können.Was sollte ich dem noch hinzufügen? Nur, dass derRegierungswechsel höchste Eisenbahn war und dass diezehnjährige Denkpause, die sich Herr Rühe für denUmweltschutz genehmigen will, Deutschland von derWeltspitze in der Umwelttechnik weit nach hinten be-fördern würde.
Diese Wahlkampfdrohung des Wahlkämpfers Rühewürde laut dem vorliegenden Bericht, der ja auch aufRüttgers zurückgeht, herbe Rückschläge für die techno-logische Entwicklung in Deutschland zur Folge haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen in der Union, Sie müs-sen sich in Ihren Politikzielen schon einig werden.Apropos Rüttgers:
Da fällt mir wiederum ein, dass unter diesem vergange-nen Zukunftsminister in den letzten Jahren eine Modeaufgekommen ist, die unserem Land mittel- bis langfri-stig schaden könnte. Diese Mode heißt industrienaheForschung. Je industrienäher die Forschung ist, destoschneller wird die Umsetzung in Produkte und dieSchaffung von Arbeitsplätzen erwartet. Das ist an sich inOrdnung. Aber ob das der richtige staatliche Schwer-punkt ist, wage ich zu bezweifeln; denn der Staat solltesich vor allem da engagieren, wo der Markt wichtigeFunktionen nicht erfüllen kann. Das ist nun einmal dieVorlaufforschung und nicht die anwendungsnahe For-schung. Im anwendungsnahen Bereich hat die Industrieein Interesse, das oft groß genug ist, um selbst aktiv zuwerden. Die Vorlaufforschung ist häufig noch zu weitvom Markt entfernt, als dass es sich für Unternehmenlohnte, hier selbst aktiv zu werden.Wenn sich aber die Förderpolitik vermehrt in Rich-tung Marktnähe verschiebt, heißt dies, dass wir vor al-lem die Ideen der Vergangenheit umsetzen. Damit lau-fen wir Gefahr, dass unseren anbindungsorientiertenForschern in einigen Jahren die Ideen ausgehen werden.Zum Abschluss komme ich zu einem weiteren wich-tigen Bereich, in dem der sich selbst überlassene Markthäufig versagt. Dies geschieht dort, wo zum Beispielökologisch sinnvolle Innovationen nicht in den Marktgelangen, weil sie in zu geringer Stückzahl nachgefragtwerden. Hohe Kosten führen zu einer niedrigen Nach-frage. Dem Staat steht eine ganze Reihe von Instrumen-ten zur Verfügung, um die richtigen Rahmenbedingun-gen zu setzen. Davon haben wir einige in der Pipelineund andere bereits angewandt. Ein wichtiges Beispieldafür ist die laufende Novellierung des Stromeinspei-sungsgesetzes. Sie wird exakt die Lücke in der KetteGrundlagenforschung, Anwendungsforschung, Markt-einführung und Marktdurchdringung für alle erneuerba-ren Energien schließen.Das Credo liberalkonservativer Politik wie der Wirt-schaftsverbände, das A und O der Innovationspolitik seidie Deregulierung, ist nicht nur falsch, sondern auch ge-fährlich: Erst die richtigen Rahmensetzungen führen zuden zukunftsfähigen Innovationen. Die rot-grüne Bun-desregierung hat hierfür die ersten Weichen richtig ge-stellt. Sie legt damit die Grundlagen für eine nachhaltigeEntwicklung auch in der Technologie.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorab zu sa-gen: Im vorliegenden Bericht werden viele vermeintli-che und tatsächliche Defizite ausführlich analysiert. Esgibt eine Reihe von Anregungen für die politische Ar-beit. Ich stimme Frau Kollegin Flach zu, dass mit die-sem Bericht natürlich auch vielfältige politische Aufar-beitungen erfolgen können und müssen, um Deutschlandin der Technologieentwicklung weiter voranzubringen.Ich glaube, diese Aufgabe eint uns.Dass die neuen Bundesländer nur auf drei Seiten ex-plizit vorkommen, ist für mich allerdings kein Beweisdafür, dass sich die technologische Landschaft schon sodem Westen angeglichen hätte, dass es eines besonderenAusweises nicht bedürfte.
Ob sich das mit dem zum Jahresbeginn vorgelegtentechnologiepolitischen Programm ändert, bleibt abzu-warten. Darin sind aus meiner Sicht zwar die Förder-schwerpunkte der letzten Haushalte zusammengefasst;aber die kritische Auseinandersetzung mit der bisherigenAusrichtung der Politik ist nicht geleistet worden. In Be-zug auf Reformen bei der Technologieförderung siehtdie PDS-Fraktion vier Schwerpunkte. Ich will kurz dar-auf eingehen:Erstens geht es um eine strategische Neuausrichtungder Forschungs- und Technologiepolitik des Bundeszum Abbau und zur künftigen Vermeidung ökologischerund gesundheitlicher Belastungen sowie zum Abbau re-gionaler und globaler Disparitäten. Dem wird das Pro-gramm nur in Ansätzen gerecht. Während beispielsweiseForschungsmittel für regenerative Energien und ihreMarkteinführung nur zögerlich aufgestockt wurden,stiegen entgegen einstiger Absichten der Bundesfor-schungsministerin Frau Bulmahn die Mittel für dieWeltraumforschung sogar auf mehr als 1 Milliarde DM.Zweitens verlangt die PDS eine Umverteilung derForschungsmittel zwischen Bund, Ländern und Regio-nen sowie die Ausrichtung der Förderkriterien zugun-sten einer umweltschonenden Nutzung der natürlichenRessourcen in Produktion und Konsumtion. Zwar orien-tieren die drei Technologielinien Innovation, For-schungskooperation und technologische Beratung alsKern des technologiepolitischen Programms auf denMittelstand. Die Kritik aber, dass ein zu großer Teil derHans-Josef Fell
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Forschungs- und Entwicklungsmittel an Großkonzernegeht, bleibt dennoch bestehen. Laut Subventionsbericht1999 lag der Anteil der Technologie- und Innovations-förderung des Bundes für 2000 bei 1,7 Prozent, wobeiden kleinen und mittelständischen Unternehmen immernoch der geringere Teil zufließt. Von einer Reformie-rung der Umverteilung von Forschungsmitteln kann da-her kaum die Rede sein. Auch eine Neuausrichtung vonFörderkriterien, wie sie zum Beispiel der Bericht desBüros für Technikfolgenabschätzung empfiehlt, scheintsich mehr in den Überschriften von Programmen als inder Anlage wirksamer Kriterien widerzuspiegeln.Drittens vermisse ich im technologiepolitischen Pro-gramm einen Umbau der Forschungsförderung und eineNeustrukturierung der Forschungseinrichtungen. Zwarwurden den Großforschungseinrichtungen verändertestrukturelle Entwicklungen angetragen. Aber sieerhielten im Vergleich mit kleineren Forschungsein-richtungen weiterhin den Löwenanteil der Mittel, sogarnoch mit hohen Steigerungsraten. Die Bildung von For-schungsvereinigungen in Ostdeutschland bleibt schwie-rig; denn eine institutionelle Grundförderung lässt weiterauf sich warten.Viertens. In der letzten Wahlperiode hat die sozial-demokratische Fraktion hoch und heilig versprochen,dass sie die Forschungs-, Innovations- und Technologie-politik arbeits- und sozialpolitisch neu ausrichten wird.
Ihre Aktivitäten beim BAföG, also bei der langfristigenSicherung der Lebensverhältnisse der Auszubildendenund Studierenden, lassen aber auch nach der gestrigenAktuellen Stunde daran zweifeln.
Frau Ministerin Bulmahn hat die anstehende Moder-nisierung des Bildungswesens angekündigt. Aber einesubstanzielle Neuausrichtung der Bildungspolitik istnicht in Sicht. Stattdessen fordert der Bundeswirtschafts-minister immer schärfer, dass Hochschulen ihre Mittelnoch stärker auf die spezifischen Bedürfnisse der Unter-nehmen ausrichten sollen. Wenn die Schlussfolgerungdaraus aber wäre, dass die Forschungsmittel für Ge-meinwohlzwecke und Wissenschaften, die Orientie-rungswissen für die gesamte Gesellschaft, für Alltag undLebensqualität hervorbringen, noch weiter „einge-dampft“ werden, dann wäre diese Schlussfolgerung fa-tal.Im Übrigen lässt die Orientierung der Bundesregie-rung auf den Ausbau des Niedriglohnbereichs im„Bündnis für Arbeit“ eher daran zweifeln, dass es umeine seriöse Durchsetzung von Innovationen für Ar-beitsplätze, um mehr kulturelle Lebensqualität oder dieBeseitigung der geschlechtsspezifischen Benachteili-gungen in der Arbeitswelt geht. Die im Bericht zur tech-nologischen Leistungsfähigkeit benannten Defizite inBezug auf Beschleunigung von Innovationen in der Bil-dungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungspolitik und die„größten Probleme wegen zu geringer Investitionen“werden durch die Bundesregierung – bisher jedenfalls –nicht glaubwürdig aufgehoben.
Ein abschließender Satz, liebe Kolleginnen und Kol-legen. Frau Ministerin Bulmahn hat bei der Vorstellungdes vorliegenden Berichtes gesagt: Wir werden auch inden kommenden Jahren – im Gegensatz zur Vorgänger-regierung – die Mittel für Bildung und Forschung kräftigerhöhen. – Das ist zu begrüßen; das ist keine Frage. Al-lerdings muss man auch sagen, dass diese Mittel immerunter dem Damoklesschwert von Minderausgaben undvon Haushaltssperren im Forschungs- und Bildungs-sowie im Wirtschaftsbereich stehen. Wir sollten ein ge-meinsames Interesse daran haben, dass dieses Damok-lesschwert nicht zum Fallen kommt.Danke schön.
Jetzt hat der Kollege
Bodo Seidenthal, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion sieht sichebenso wie die Bundesministerin Edelgard Bulmahndurch die Ergebnisse der Untersuchung darin bestätigt,die eingeschlagene Bildungs-, Forschungs- und Innova-tionspolitik weiter zu verfolgen.
Wir teilen die grundsätzlich positive Einschätzung derInnovationsfähigkeit Deutschlands, sehen aber auch denhohen Bedarf an Reformen, die für eine erfolgreiche Ge-staltung des Wandels zur Wissensgesellschaft erforder-lich sind. Dabei ist Grundlage unseres Re-gierungsmandats eine abgestimmte Politik zur Schaf-fung von Arbeit, zur Sicherung der wirtschaftlichen Lei-stungsfähigkeit im internationalen Wettbewerb, zurnachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-schaft und zur Erneuerung sozialer Gerechtigkeit.Neues Denken und neue Konzepte sind notwendig;denn der Übergang von der Industriegesellschaft des20. Jahrhunderts zur Informations- und Wis-sensgesellschaft des 21. Jahrhunderts bedeutet einenweit reichenden technologischen und gesellschaftlichenWandel. Er führt zu teilweise dramatischen Veränderun-gen in nahezu allen Bereichen unseres Lebens.
Wir alle wissen: Wissen erneuert und vermehrt sichimmer schneller und ist dank neuer Informations- undKommunikationstechnologien global verfügbar. Das altePrinzip lebenslanger Ausübung eines einmal gelerntenBerufes ist überholt. Neue Technologien, neue Arbeits-organisationen und ein wachsender Dienstleistungssek-tor verlangen höhere und neue Qualifikationen, Flexibi-lität und Mobilität. Zunehmende Migration und Mobili-tät, europäische Einigung und Internationalisierungsetzen das Verständnis für andere Kulturen und dasRolf Kutzmutz
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Sprechen anderer Sprachen voraus. Die fortgeschritteneGefährdung unserer Grundlagen erfordert einen konse-quenten Wechsel zu nachhaltiger Entwicklung, die wirt-schaftliche, ökologische und soziale Verantwortung ver-bindet.Eine Gesellschaft, die vor den globalen Herausforde-rungen nicht kapitulieren will, die sich den Zwängenvon außen nicht nur passiv anpassen will, sondern auchkünftig in Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit lebenund die Zukunft mit gestalten will, braucht Innovatio-nen. Die Ministerin hat darauf hingewiesen, als sie dieVersäumnisse der alten Bundesregierung dargestellt hat– und ich unterstreiche es wie der Kollege Fell –: Des-halb war der Regierungswechsel notwendig.
Leider ist Erich Maaß nicht mehr da. Aber wo Sie,Frau Kollegin Flach, Ihre Weisheiten zur Luft- undRaumfahrt hernehmen, ist mir unverständlich. Ichmöchte Sie bitten, dies so schnell wie möglich nachzu-arbeiten. Es war nämlich die alte Bundesregierung, diegerade auf diesem Sektor massiv gekürzt hat. Man kanndieser Ministerin nicht vorwerfen, dass sie im BereichLuft- und Raumfahrt nichts gemacht habe. Ich erinnereSie nur an die ESA-Konferenz im letzten Frühjahr. Dorthat die Frau Ministerin Ergebnisse erzielt, die nicht vor-aussehbar waren. Dafür möchte ich ihr heute von dieserStelle aus noch einmal danken.
Ihre Ausführungen zur Biotechnologie kann ichebenfalls nicht verstehen. Es war der jetzige Staatsse-kretär Wolf-Michael Catenhusen als Vorsitzender derEnquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gen-technologie“, durch den wir erst dafür sensibel gewor-den sind. Sie sind noch immer hörig und wollen nurChancen nutzen. Wir dagegen haben den Diskurs in derGesellschaft vernünftig vorangebracht. Wir stehen fürChancen und Risiken.
– Frau Kollegin Flach, Sie sagen, das sei das Letzte. Ichmöchte Sie bitten, sich einmal die Statistik anzusehen,die ich in der Hand habe. Danach stand die Bundesrepu-blik Deutschland in den 90er-Jahren unter den OECD-Staaten an drittletzter Stelle. Ich kann nicht verstehen,woher Sie Ihre Erfolgsbilanz nehmen.Sie können sich auch noch eine zweite Statistik an-gucken.
– Ich habe keinen anderen Bericht. – Sehen Sie sicheinmal die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigBeschäftigten nach der Wissenschaftsintensität an! Auchdiese Statistik sagt etwas anderes aus.Da Sie meinen, ich hätte einen anderen Bericht: Eshandelt sich um eine Statistik über sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigte des Statistischen Bundesamtes.Ich möchte im Folgenden auf einige wenige Kernaus-sagen des Berichtes näher eingehen. Dort heißt es ers-tens:Bildung und Ausbildung lohnen sich doppelt. MehrBildung bedeutet mehr Einkommen und mehr Be-schäftigungssicherheit.Es kann kein Zufall sein, meine sehr geehrten Damenund Herren, dass die Länder, die in technologischer undwirtschaftlicher Hinsicht die größten Fortschritte ge-macht haben, gleichzeitig auch mehr in Bildung inves-tiert haben. Die SPD hat am Montag der Öffentlichkeitdas Memorandum „Bildung entscheidet über unsere Zu-kunft. Für eine neue Bildungsinitiative“ vorgestellt, mitder wir die Herausforderungen an die Bildungsinstitu-tionen und Bildungsinhalte bewältigen werden.Bildungspolitik steht vor einer doppelten Aufgabe: Esgeht darum, das Wissen und die Kompetenzen zu ver-mitteln, die morgen über den gesellschaftlichen undwirtschaftlichen Fortschritt entscheiden. Gleichzeitigmuss eine soziale Ausgrenzung angesichts steigenderund neuer Qualifikationsanforderungen verhindert wer-den.Zweitens. Der Strukturwandel zum forschungsinten-siven Sektor hin schreitet voran. Neue Arbeitsplätzewerden vor allem im Bereich der wissensintensivenDienstleistungen geschaffen.Seit der Rezession 1993 haben die Industriezweigeder höherwertigen Technik und der Spitzentechnik ei-nen besonders dynamischen Zuwachs erlebt. Diese Pro-duktionsausweitung dürfte sich in diesem Jahr wieder-holen, wenngleich der Bericht aussagt, dass das aufniedrigerem Niveau der Fall ist. Wachstumsträger ist –meine Vorredner haben es gesagt – die Kfz-Industrie,die gleichzeitig Zulieferer aus anderen Industriezweigeneinbindet.Laut Studie beschleunigt das Innovationsgeschehenauch den sektoralen Strukturwandel. Unternehmen ausden forschungsintensiven Branchen realisieren deutlichmehr Innovationen und haben es damit leichter, amMarkt zu bestehen. Dies gilt vor allen Dingen für Fir-men aus den modernen wachsenden Dienstleistungs-branchen, die eine vergleichsweise hohe Innovationsak-tivität aufweisen.Nachdenklich stimmt mich jedoch, dass trotz der ver-gleichsweise hohen Produktionszuwächse im for-schungsintensiven Sektor die Beschäftigung dort langeZeit rückläufig war. Seit gut einem Jahr werden hier persaldo neue Arbeitsplätze geschaffen. Dies ist jedochnicht als Trendwende zu interpretieren.Erfreulich dagegen, liebe Kolleginnen und Kollegen,war die Beschäftigungsentwicklung bei den unterneh-mensnahen Dienstleistungen, während die wissensinten-siven Dienstleistungen, so wie es im Bericht steht,insgesamt durch den Beschäftigungsabbau bei Postund Bahn zwischen 1996 und 1998 nur leicht zulegenBodo Seidenthal
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konnten. Deutschland hat die Chance, mit neuen Tech-nologien neue Beschäftigungspotenziale zu erschließen.Diese Chance gilt es nun beherzt wahrzunehmen.Diese Entwicklungen, sehr geehrte Frau Ministerin,sollten aus Ihrem Hause zukünftig verstärkt begleitetwerden. Ich möchte Sie deshalb bitten, ein tragfähigesKonzept zu initiieren, das auf zirka fünf Jahre angelegtist und von den gesellschaftlichen Gruppen getragenwird. Als Vorbild könnten die Aktivitäten im Rahmenvon „Arbeitsgestaltung“ und „Produktion 2000“ dienen.Wir brauchen eine an Innovation und Beschäftigung ori-entierte Dienstleistungsinitiative, die die Forderungender Wirtschaft, des Deutschen Gewerkschaftsbundesund der Wissenschaft aufgreift.
Dritter Punkt. Deutsche Unternehmen besitzen in Eu-ropa zwar die Technologieführerschaft; trotzdem habensie in den letzten Jahren verloren, und andere Länderhaben aufgeholt. Fest steht, dass bei den Patentintensi-täten Deutschland inzwischen von Schweden überrundetworden ist. Auch das ist ein Ergebnis dieser Studie. HatDeutschland zu Beginn der 80er-Jahre innerhalb derOECD noch die relativ größten Ressourcen in For-schung und Entwicklung investiert, liegen inzwischengleich sechs Länder in ihrer FuE-Intensität vor uns. Dasich der Bericht mit dem Jahre 1998 beschäftigt, wissenSie auch, wer dafür zuständig ist.
Dabei sind es gerade solche Länder, die sich in den ver-gangenen Jahren verstärkt den modernen Informations-und Kommunikationstechniken zugewandt haben. Sieinvestieren deutlich mehr in Forschung und Entwicklungund realisieren dadurch auch deutlich höhere Wachs-tumsraten. Darum bin ich froh, liebe Kolleginnen undKollegen, dass wir nun einen Kanzler haben, der beiDatenautobahnen nicht gleich an Fernstraßen denkt.
Traurige Realität ist aber, dass Deutschland auchbeim Anteil am Welthandel mit forschungsintensivenGütern innerhalb der letzten zehn Jahre rund drei Pro-zentpunkte eingebüßt hat. Es gilt, meine sehr verehrtenDamen und Herren, das Umfeld für Tüftler und Erfinderweiter zu verbessern. Denn einen guten Einfall patentie-ren zu lassen, ist eine Sache, daran zu verdienen, die an-dere. Beides ist gar nicht so einfach.Sehr geehrte Frau Ministerin, auch hier möchte ichSie bitten, dass wir gemeinsam, wie wir es in der Ver-gangenheit auch schon getan haben, über die Formalitä-ten hinsichtlich der Patentanmeldung, der Patentertei-lung und der Schutzgebühren nachdenken und eine bes-sere Lösung anstreben.
Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dassmehr Geld für Bildung und Forschung notwendig war,um die technologische Leistungsfähigkeit zu sichern.Dies hat die neue Bundesregierung mit dem Haushalt1999 getan und sie wird es auch in den Folgejahren fort-setzen. Doch, wie die Ministerin gesagt hat, Geld istnicht alles. Wir brauchen auch die von ihr vorgestelltenstrukturellen Reformen und einen effizienteren Mittel-einsatz. Wir müssen zugleich aber auch dafür sorgen,dass die Marktpotenziale aussichtsreicher neuer techno-logischer Entwicklungen schneller und besser erschlos-sen werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, mehr Flexi-bilität, mehr Wettbewerb, stärkere Leistungsorientie-rung, Chancengleichheit und Nachhaltigkeit –
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Zeit.
– ich komme gleich zum
Schluss – das werden die zentralen Grundsätze der Poli-
tik der Bundesregierung unter Gerhard Schröder in den
nächsten Jahren sein. Dies gilt insbesondere für die
Handlungsfelder der Bildungs- und Forschungspolitik.
Damit sind wir auf einem richtigen Weg.
Wir haben die Trendwende eingeleitet und werden
auch in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass der
Innovationsstandort seine Chance nutzen kann. Denn
wie heißt es so schön: Wer aufgehört hat, besser zu wer-
den, hat aufgehört, gut zu sein.
Das Wort hatjetzt der Herr Abgeordnete Joachim Schmidt.Dr.-Ing. Joachim Schmidt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! For-schung und Entwicklung bestimmen die Zukunft unseresLandes in entscheidender Weise. Forschungspolitik hatdie Aufgabe, angemessene Rahmenbedingungen fürForschung und Entwicklung zu setzen und in der Für-sorge für die Zukunft des Landes Leitlinien vorzugebenund Schwerpunkte zu benennen und zu fördern, die vorallem mittel- und langfristig Weg und Richtung auf die-sen Gebieten weisen.In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf welcheForschungsfelder wir uns in Deutschland unbedingtkonzentrieren müssen, wenn wir mit den wirtschaftli-chen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Weltmithalten und unseren hohen Lebensstandard auch fürdie Zukunft sichern wollen. Ich möchte Sie über diesbe-zügliche Ergebnisse informieren, die unter Anwendungeines so genannten Zielbewertungsverfahrens entstandensind.Zielbewertungsverfahren beruhen auf der Schät-zung der relativen Werte von Zielen und Eigenschaften.Ihnen liegt die subjektive Beurteilung nach bestimmtenKriterien zugrunde. Auf diese Weise können quantitati-ve Beziehungen festgestellt und Rangfolgen ermitteltBodo Seidenthal
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werden. Im vorliegenden Falle wurden sowohl wirt-schaftliche Zielkriterien als auch Kriterien zur Erhaltungder Lebensgrundlagen zur Bewertung herangezogen. ImEinzelnen betraf dies zum Beispiel: Schaffung und Si-cherung von Arbeitsplätzen, Wirtschaftswachstum undProduktivitätssteigerung, Erhaltung und Stärkung derWettbewerbsfähigkeit – das sind die wirtschaftlichenKriterien – sowie Gesundheit, Umweltschutz und Ener-giesicherung als Kriterien für die Lebensgrundlagen.Diesen Kriterien wurden so genannte relative Wich-tigkeiten zugeordnet, nach denen die einzelnen For-schungsrichtungen mit einer Werteskala von 0 bis 1 be-wertet werden. Über einen einfachen mathematischenAlgorithmus erhält man dann so genannte Erwartungs-werte, aus denen sich eine Rangfolge ergibt, die hierAuskunft geben soll über die Bedeutung der entspre-chenden Forschungsfelder für die wissenschaftliche undwirtschaftliche Zukunft Deutschlands. Der Vorteil dieserVorgehensweise liegt vor allen Dingen darin, dass Er-kenntnisse gewonnen werden, die auf einem objekti-vierten, wissenschaftlich unumstrittenen Verfahren ausdem Operations Research beruhen.Auf der Grundlage der beschriebenen Kriterien ergibtsich folgende Rangfolge, auf die sich die deutsche For-schungspolitik besonders konzentrieren sollte. Erstens:Informations- und Kommunikationstechnik. Hier sindwir nicht auseinander. Zweitens: Biotechnologie undLebenswissenschaften. Hier gab es von Ihrer Seite, FrauBulmahn, in der Vergangenheit mitunter durchaus zu-rückhaltendere Bewertungen und Kommentare. Drittens:Verkehrs- und Mobilitätsforschung. Viertens: Ökologieund Umwelttechnik. Fünftens: Energieforschung. Sech-stens: Materialforschung, hier vor allen Dingen die Ent-wicklung neuer Werkstoffe. Siebtens: Forschungen zurRohstoffsicherung. Das betrifft Primär- und Sekundär-rohstoffe.Die Positionen eins und zwei repräsentieren vor allemGebiete der Spitzentechnik, auf denen Deutschland un-zweifelhaft Nachholbedarf hat.In dieser Rangfolge tritt die Raumfahrt bewusstnicht auf, weil ich aus forschungssystematischen Grün-den die Raumfahrt in diesem Zusammenhang in ersterLinie als eine wissenschaftliche Methode auffasse undnicht als eine eigene Querschnittswissenschaft. In allden von mir aufgeführten Forschungsfeldern kann undmuss die Raumfahrt aber als Methode eine wichtigeRolle spielen.Besonders interessant sind aus meiner Sicht die Er-gebnisse im Hinblick auf die Energieforschung. Denndabei ist herausgekommen, dass die erneuerbaren Ener-gien, die Kernenergie und die fossilen Energieträger fürDeutschland im Großen und Ganzen gleich wichtig sind.Das heißt nicht, dass sie auch die gleiche staatliche För-derung erfahren müssen. Im Gegenteil: Forschungen zurKernenergie, insbesondere Sicherheitsforschung undForschungen zur Bewältigung der Entsorgungsproble-matik, sowie Forschungen zur optimalen Anwendungfossiler Energieträger müssen eindeutig von den betref-fenden Unternehmen betrieben werden. Die erneuerba-ren Energien bedürfen weitaus stärkerer staatlicher För-derung. Aber eines ist deutlich geworden: Der von derKoalition vor allem aus ideologischen Gründen betrie-bene Ausstieg aus der Kernenergie ist weder wirtschaft-lich noch ökologisch, noch, wie sich gezeigt hat, for-schungspolitisch begründbar und sinnvoll. Er ist einfachfalsch.
Die vorgestellten Forschungsschwerpunkte sind imGroßen und Ganzen unstrittig. Ob ein anderer bei An-wendung des von mir vorgestellten Verfahrens zu genauderselben Rangfolge kommen muss, ist nicht so wichtig.Entscheidend ist, welchen Forschungsfeldern aus Ver-antwortung für die Zukunft unseres Landes unsere un-geteilte forschungspolitische Aufmerksamkeit geltenmuss. Zu dieser Diskussion sollte angeregt werden.Die Ergebnisse sind prinzipieller Natur. Sie solltensowohl für den öffentlich geförderten wie für den pri-vatwirtschaftlich betriebenen Forschungssektor gelten.Wenn wir auf diesen Gebieten Spitzenstellungen behal-ten oder erwerben wollen, dann ist es aber unbedingtnotwendig, dass Wissenschaft und Wirtschaft stärkermiteinander kooperieren, als es bisher der Fall ist. In derVerbesserung dieser Kooperation liegen unsere eigentli-chen Reserven, wobei aufseiten der Wirtschaft vor allemdie kleinen und mittelständischen Unternehmen unbe-dingt eine weitaus größere Berücksichtigung findenmüssen.Es ist unsere forschungspolitische Aufgabe, dieseKooperation ständig anzumahnen, anzuregen und auchmateriell zu fördern. Aber damit allein ist es nicht getan.Die Politik kann, wie im Jahresbericht 1998 ausgeführt,Zeichen setzen, die in der Wirtschaft und Wissen-schaft angenommen werden und das öffentlicheMeinungsbild prägen.Forschung und Bildung müssen einen erheblich größe-ren gesellschaftspolitischen Stellenwert erhalten. InDeutschland muss ein Klima entstehen, in dem Neue-rungen auch und vor allem nach ihren Chancen undnicht nur nach ihren Risiken beurteilt werden.
Damit rede ich nicht einer unkritischen Technik-gläubigkeit das Wort. Aber es gilt ohne alle Abstriche:Unsere internationale Stellung und Autorität auf allenForschungsgebieten hängt vor allem davon ab, welcheRolle Forschung und Entwicklung im eigenen Land imgesamtgesellschaftlichen Leben spielen. Wir braucheneine offene und bejahende Atmosphäre für Forschungund Entwicklung. Eine häufig beobachtete defensiveund ständig einseitig Gefahren heraufbeschwörendeStimmung hilft uns nicht. Ich glaube, dass die neuenBundesländer in dieser Hinsicht den alten voraus sind,und ich habe dies nicht zu beklagen.Deshalb lassen Sie mich zum Schluss noch einigeBemerkungen im Rahmen unseres heutigen Themas zurSituation im Osten machen.Zuerst stelle ich fest, dass die neuen Bundesländerim Bericht zur technologischen LeistungsfähigkeitDr.-Ing. Joachim Schmidt
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Deutschlands 1998 bedauerlicherweise unter der Rubrik„Sonderbetrachtungen“ am Ende relativ oberflächlichabgehandelt werden. Dass die neuen Bundesländer inder Stellungnahme der neuen Bundesregierung zum ge-nannten Bericht nicht mit einem Wort erwähnt werden,ist allerdings schlechthin schlimm.
Sieht so die Chefsache Ost aus? Der Osten braucht nichtpopulistische Ankündigungen, sondern eine ernst zunehmende, an der Realität orientierte glaubwürdige Be-schäftigung mit seinen Problemen und mit seiner Zu-kunft.
Da die Regierung dies im vorliegenden Fall versäumthat oder nicht für nötig hielt, will ich es jetzt abschlie-ßend kurz nachholen.
Die grundsätzlichen Ausführungen zu den For-schungsschwerpunkten gelten selbstverständlich für Ostund West in Deutschland in gleicher Weise.
Die neuen Bundesländer haben aber einige wichtigespezifische Probleme. Da ist zuerst die erhebliche Ver-stärkung der Kooperation zwischen der kleinen undmittelständischen Wirtschaft und der übrigen For-schungslandschaft zu nennen, um zum einen den eige-nen Wertschöpfungsbeitrag dieser Forschungslandschaftzu erhöhen und zum anderen die Wettbewerbschancender kleinen und mittelständischen Betriebe auf nationa-len und internationalen Märkten zu verbessern. Von derBereitschaft zu dieser Kooperation sollte auch die ent-sprechende staatliche Förderung abhängen. Dazu gehörtauch eine weitere intensive Förderung von technologie-orientierten Existenzgründungen unter besonderer Be-rücksichtigung des Dienstleistungssektors.
Wir brauchen schließlich weiterhin die gezielte Un-terstützung der externen Industrieforschung, deswichtigsten Zweiges der wirtschaftsnahen Forschung inden neuen Bundesländern. Der Anteil der Industriefor-schung an der Forschungsförderung, insbesondere an derneu bereitgestellten Forschungsmilliarde, muss erhöhtwerden, wobei eine stärkere Koppelung der öffentlichenFuE-Fördermittel an die produktiven Bereiche der In-dustrie notwendig ist.Generell gilt, dass in den neuen Bundesländern Kon-tinuität in der Forschungsförderung besonders dringenderforderlich ist, um den Forschungseinrichtungen undder Wirtschaft Planungssicherheit zu geben. Es bestehtfür uns kein Zweifel, dass es auch nach Auslaufen desderzeitigen Solidarpaktes nach dem Jahre 2004 eineweitere Unterstützung und Förderung der ostdeutschenForschungslandschaft geben muss.
Dabei ist zu beachten, dass die neuen Strukturen derostdeutschen Industrieforschung keine Sondererschei-nung, sondern ein neues, zukunftsträchtiges Modell derForschungslandschaft in Deutschland darstellen. Siemüssen als gleichberechtigter Teil der Industriefor-schung für ganz Deutschland anerkannt und akzeptiertwerden.Über die Modalitäten ab 2004 muss in dieser Legis-laturperiode entschieden werden. Auf jeden Fall solltennach diesem Zeitpunkt die Fördermaßnahmen für dieostdeutsche Industrieforschung gebündelt werden. Wirwerden diese Thematik in Abstimmung mit unserenLändern noch in diesem Jahr auf die Tagesordnung set-zen. Denn für uns gilt nach wie vor, dass die Erhaltungund die Entwicklung der Forschungslandschaft in denneuen Bundesländern auch für die Zukunft eine zentraleAufgabe deutscher Forschungspolitik bleiben muss.
Vielen Dank.
Ich schließedamit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Berichtder Bundesregierung zur technologischen Leistungsfä-higkeit Deutschlands 1998. Der Ausschuss empfiehlt,den Bericht auf Drucksache 14/438 zur Kenntnis zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses einhel-lig angenommen worden.Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Christine Ostrowski, Dr. Christa Luft,Gerhard Jüttemann, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Aufhebung des Altschuldenhil-fe-Gesetzes
– Drucksache 14/568 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/2317 –Berichterstattung:Abgeordneter: Norbert Otto
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7641
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Wider-spruch? – Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Abgeordnete Christine Ostrowski.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! In der Wohnungspolitik zeigensich die Folgen politischer Weichenstellungen erst Jahrespäter. Sind die einmal vorgenommenen Weichenstel-lungen falsch und kommt es zu negativen Folgen, dannsind diese nur schwer oder kaum rückgängig zu machen.Das Altschuldenhilfe-Gesetz ist ein Musterbeispielfalscher politischer Weichenstellungen.
Voraus ging die politische Entscheidung, Schulden derPlanwirtschaft zu Schulden der Marktwirtschaft zu ma-chen. Aus virtuellen wurde reelle Schulden. Das Gesetzwurde in totaler Verkennung der realen Lage beschlos-sen, zum Beispiel unter der Illusion, dass alle Mieter ih-re Wohnung kaufen würden und kaufen könnten, untereiner Falscheinschätzung der Bevölkerungsbewegungen,obwohl schon damals klar war, dass die Industriezentrenund Arbeitsplätze nicht zu halten sind, dass die Bevölke-rung der Arbeit hinterherwandern wird und dass eindauerhafter Wohnungsleerstand entstehen wird, sowieunter der Falscheinschätzung der Entwicklung der Re-stitutionen und anderer Dinge.Ich muss feststellen: Die Einzigen, die die Lage aufden Punkt real betrachtet haben, waren wir in unsererFraktion.
– Herr Dr. Kansy, hätten Sie damals auf uns gehört undwären Sie unseren Argumenten gefolgt, stünden Sieheute nicht vor diesem Scherbenhaufen.
Es ist ja so: Weil ein undurchdachtes Gesetz be-schlossen worden ist, stehen wir heute vor einem Scher-benhaufen. Ihr Ziel, 100 Prozent aller zwangszuprivati-sierenden Wohnungen an Mieter zu veräußern, ist ebennicht erreicht worden. Nur ein Drittel der Wohnungenwurde von Mietern gekauft. Zwei Drittel gingen an Zwi-schenerwerber, die diese Wohnungen zu Dumping-preisen erworben haben, die sich durch Steuergeschenkeeine goldene Nase verdienen konnten – ich denke an diedaraus folgenden Mindereinnahmen des Bundes: zwei-stellige Milliardenbeträge jedes Jahr – und die im Übri-gen bis heute die 40 Prozent des Bestandes, den sie er-worben haben, nicht an Mieter weiterveräußert haben.Darüber schweigen alle.Teure Steuergeschenke wurden auch an solche Zwi-schenerwerber gemacht, die unseriös sind, allen voranAubis, die von zwei CDU-Politikern gegründet wurdeund zu Katastrophen in Cottbus, Görlitz, Leipzig, Zittauusw. führte. Zu den Scherbenhaufen zählt auch die akutefinanzielle Notlage von Wohnungsunternehmen, insbe-sondere kleineren in strukturschwachen Regionen, eben-falls wegen des Altschuldenhilfe-Gesetzes mit seinen fi-nanziellen Belastungen.Fazit ist: Nichts, aber auch gar nichts vom eigentli-chen Ziel ist am Ende erreicht worden. Da hilft es auchnicht, das Loblied von der Entwicklung der Investitions-fähigkeit durch dieses Gesetz zu singen. Meine Damenund Herren, hätte die Politik uns damals die Schuldengestrichen, wären ostdeutsche Wohnungsunternehmenohne Schulden in die deutsche Einheit gegangen. Dashätte ihre Investitionsfähigkeit gestärkt!
Die Forderungen nach einem Schlussstrich sind un-überhörbar geworden – zu Recht. Die Frage ist, was manunter einem Schlussstrich versteht. Manche verstehendarunter, den Termin einfach vorzuziehen, aber alleSanktionen bleiben erhalten. Wir nicht! Wir sagen beieinem Schlussstrich: wenn schon, denn schon. Dannwollen wir das Gesetz aufheben. Aufheben heißt nunwiederum, dass man dann schon der Logik des Gesetzesfolgen muss. Die Logik hieß: Anerkenntnisse der Schul-den, Kreditverträge schließen, und erst dann erfolgen dieTeilentlastung und die Zwangsprivatisierung.Also beantragen wir Aufhebung der Schuldaner-kenntnisse und der Kreditverträge. Sie werden unwirk-sam, weitere Verpflichtungen zur Kredittilgung undZinszahlung entfallen, und die abgeführten Erlöse wer-den in die Unternehmen zurückgeführt.Ich kenne Ihre Argument schon, Herr Danckert; ichdenke, Sie werden mir nachher sagen, wenn wir dasdurchführen würden, würden natürlich dem Bund Milli-arden an Schulden erwachsen. Das ist völlig klar. Abermeine Damen und Herren von der CDU/CSU, das isteben die Konsequenz aus einem undurchdachten Gesetz.Wer ein Gesetz macht und nicht gleichzeitig auch dieVariante seines Scheiterns mitbedenkt, wer sich nichtbemüht, grundsätzlich möglichst nur solche Gesetze zumachen, die nach menschlichem Ermessen im Lebennicht scheitern, der handelt als Politiker unverantwort-lich,
und der muss sich auch mit den Folgen auseinander set-zen und kann sie auf gar keinen Fall jenen anlasten, diesie klar benennen, wie wir zum Beispiel. Er darf sie aufgar keinen Fall jenen, wie den Wohnungsunternehmen,die darunter zu leiden haben, anlasten.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einWort zu der Verteilung der Rollen sagen. Die CDU/CSUhat sich fünf Jahre lang mit Händen und Füßen gegeneine wirkliche und grundsätzliche Novelle zum Alt-schuldenhilfe-Gesetz gewehrt. Sie haben das Gesetz sohochgelobt, bis zuletzt, und erst jetzt, wo Sie in der Op-position sind, kommen Sie plötzlich mit einem Antragzu einer Novelle. Die SPD hat fünf Jahre lang das Ge-setz kritisiert, dass es nur so raucht. Sie würden heuteVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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7642 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000
noch rote Ohren kriegen, wenn ich Ihnen Ihre Origi-nalsätze vorlesen würde, aber Sie haben es bis heutenicht fertig gebracht, eine Novelle auf den Tisch zu le-gen. Dazu muss ich zum Abschluss wiederum sagen: Estut mir wirklich Leid, aber die einzigen, die konsequentbei ihrer Position geblieben sind und die unermüdlich,seit das Altschuldenhilfe-Gesetz existiert, an diesem Ge-setz gearbeitet haben und Vorschläge gemacht haben,das sind wir.Da wir schon wissen, dass Sie diesen Antrag ableh-nen werden – wir wissen das ja, denn wir sind ja bei al-len Visionen auch Realisten –, haben wir schon einenZweiten, der das Altschuldenhilfe-Gesetz in weiterenTeilpunkten ändern wird.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Danckert.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Frau Ostrowski, Sie haben völligRecht: In meiner Erwiderung muss ich deutlich machen,dass der Scherbenhaufen, über den Sie hier geredet ha-ben, auch sehr viel mit dem zu tun hat, was in der Ver-gangenheit, vor allem der Vorvergangenheit der DDR-Geschichte, durch Sie mitverantwortet worden ist. Dasist gar keine Frage.
Bei dieser Ausgangslage kann man sich natürlich Ge-danken darüber machen, wie man alles handhabt, wieman mit einem Federstrich alle Schulden streicht unddann von vorne anfängt. Aber die Situation ist leider ei-ne andere.Hier, in diesem Hohen Hause, das heißt in Bonn, istdarüber beraten worden, wie man das Problem insge-samt löst. Ich muss sagen, ich bin schon sehr verwun-dert, wenn Sie an dieser Stelle ignorieren, dass noch am22. Dezember 1999 das Bundesverfassungsgericht seineRechtsauffassung zu diesen Verträgen mitgeteilt hat, in-dem es in einem Nichtannahmebeschluss eine Verfas-sungsbeschwerde einer Berliner Wohnungsbaugenos-senschaft zurückgewiesen hat. Man kann dazu unter-schiedlicher Meinung sein, und ich will gar nicht ver-hehlen, dass ich das auch nicht als das Gelbe vom Ei an-sehe, aber wir stehen ja nun einmal auf dem Boden einesRechtsstaates und müssen zur Kenntnis nehmen, wasdieses Parlament beschließt und was das Bundesverfas-sungsgericht in mehreren Entscheidungen zu dieser Pro-blematik gesagt hat.Das ist die Ausgangslage.Nun sagen Sie: Wir haben das immer gesagt; wirwollten immer, dass es zu einer sozusagen generell an-deren Regelung kommt. Sie schlagen heute eine solchevor. Das ist, vorsichtig formuliert, ein „Geniestreich“,den Sie hier versuchen.
– Es ist aber kein Geniestreich in der Weise, wie Sie esmeinen. Ich sehe es ganz anders.Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf davon sprechen,dass die Schuldanerkenntnisse und die Kreditverträgeaufgehoben werden sollen, gewissermaßen auf Null ge-führt werden sollen, beinhaltet das eine verfassungs-rechtliche Problematik, die Sie offensichtlich überhauptnicht bedacht haben. Wenn Sie weiter fordern, dass einVerzicht auf Kredittilgung und Zinszahlung erfolgensolle, dann bedeutet das nicht nur den Eingriff in Tau-sende von bestehenden Verträgen, mit all den sich da-raus ergebenden Konsequenzen, sondern auch – das ha-ben Sie selber angedeutet – ein Volumen zwischen 25und 27 Milliarden DM, was von der öffentlichen Hand,sozusagen über unseren Haushalt, geregelt werdenmüsste. Es sind ganz naive Wunschvorstellungen, dieSie umsetzen wollen. Damit kann man höchstens einnicht informiertes Publikum erfreuen und behaupten:Wir haben etwas für euch getan. Die Realität sieht dochganz anders aus. Mit Ihrem Entwurf können Sie über-haut nichts anfangen.
Nun sage ich Ihnen: Wir sehen natürlich auch dieNotwendigkeit, dass hier etwas getan werden muss. Ichbin sehr dankbar, dass der zuständige Bundesministerheute in einer Pressemeldung mitgeteilt hat, dass dieNovelle auf den Weg gebracht worden ist. Es kommtnun zu einer Abstimmung mit den Ländern und denVerbänden sowie zu einer Diskussion in diesem Hause.Ich denke, dass dies im März der Fall sein wird, sodasswir dann eine Basis haben werden, auf der wir wirklichsachgerecht argumentieren können.Ich sage an dieser Stelle auch meine persönlicheMeinung: Ich denke, dass es notwendig wird, in einersolchen Novelle einen vorgezogenen Schlussbescheidzum 31. Dezember zu erreichen. Ich sehe aber schonjetzt die Probleme, die auftauchen werden: Die Fragedes Vertreten-Müssens oder Nicht-vertreten-Müssenswird eine endlose Debatte auslösen. Ich behalte mireinmal vor, dass wir in unseren Gremien auch darübernoch reden werden; denn es kann meines Erachtensnicht sinnvoll sein, dass wir den Schlussbescheid vor-ziehen und dann eine Debatte darüber anfangen, was so-zusagen an Privatisierungsmöglichkeiten gegeben war.Darüber werden wir uns verständigen müssen. Ich den-ke, hier muss Klarheit geschaffen werden.Ich meine auch, dass sich die anstehenden negativenRestitutionsverfahren nicht noch weiter auf die Priva-tisierungspflicht auswirken dürfen. Auch hier muss einSchlussstrich gezogen werden. Ob das ohne weiteresgelingt, da verschiedene Interessen mitwirken, werdenwir sehen. Ich persönlich will mich dafür einsetzen, weilich wie Sie die Lage vor Ort kenne und weiß, wie deso-lat die Situation ist. Wir haben in einigen Städten einenBevölkerungsrückgang von bis zu 20 Prozent. Wir ha-ben eine hohe Arbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent.Wir haben – ein Beispiel – in einer Wohnungsbaugenos-senschaft in Luckenwalde, der Kreisstadt in meinemWahlkreis, einen Leerstand von 36 Prozent.Christine Ostrowski
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7643
Dass dies fatale und katastrophale Situationen sind,die Auswirkungen auf die Betriebs- und sonstigen Fi-nanzierungskosten haben, ist keine Frage. Hier muss et-was getan werden. Wir müssen sehen, dass wir die Si-tuation in den Griff bekommen; denn sie hat unmittelba-re Auswirkungen nicht nur auf den Wohnungsmarkt,sondern auch auf den Arbeitsmarkt. Diese Regierung hatsich das Ziel gesteckt, auch an dieser Stelle deutlicheZeichen zu setzen. Es ist in meinen Augen ein Tei-laspekt des Aufbaus Ost – Herr Staatssekretär, ich sagedas ganz offen –, dieses Problem mit zu lösen. Es darfaber nicht so gelöst werden, dass wir sozusagen ganzvon vorne anfangen, sondern wir müssen sachgerechtund behutsam an den Stellen arbeiten, an denen es die-ses Altschuldenhilfe-Gesetz im Rahmen einer Novellie-rung möglich macht.Ich denke, ich habe meine Redezeit eingehalten. FrauChristine Lucyga wird das ergänzen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dafür sind wir
gerade am Freitagmittag besonders dankbar.
Jetzt hat der Kollege Kansy das Wort.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! FrauKollegin Ostrowski, Ihre Schlussbemerkung war sehrschön. In Wirklichkeit aber haben Sie seitens der PDSIhren Gesetzentwurf nicht ernst genommen, sonst hättenSie nicht drei Monate später einen Änderungsantrag ein-gebracht, der statt dieser Luftnummer wenigstens im Be-reich des Diskutierbaren gewesen ist. Stattdessen disku-tieren wir heute diesen lächerlichen Entwurf.Dieser Entwurf schlägt vor – das wurde gerade ge-sagt –, die Existenz von Altschulden ex tunc abzuschaf-fen, damit das Altschuldenhilfe-Gesetz quasi aufzu-heben und von Unternehmen bereits getätigte Zahlungenzurückzuerstatten. Die Kosten, die die PDS fälschli-cherweise mit 1,2 Milliarden DM beziffert, sind aucheine solche Luftnummer. Was verschwiegen wird – vonIhnen sowieso –, ist, dass rund 30 Milliarden DM anSchulden bereits vorab gestrichen wurden, dass die Kre-ditwirtschaft aber noch immer auf rund 25 MilliardenDM Schulden sitzen bliebe, die von der Wohnungswirt-schaft bereits anerkannt wurden, und auf den darauf zuzahlenden Zinsen.Dennoch bin ich sehr dankbar, dass wir – wenn aucham Freitagmittag – über das Thema „Altschulden“sprechen; denn dieses Thema hat tatsächlich allerhöch-ste Priorität. Warum? Der Deutsche Bundestag hat 1996das Altschuldenhilfe-Gesetz geändert und hat – daranwerden Sie sich alle erinnern – die so genannte Abfla-chung der Erlösabführungsstaffel vorgenommen, wasdie Fortsetzung der Mieterprivatisierung ermöglicht hat.Diese ist zugegebenermaßen in einem wesentlich gerin-geren Umfang bei dem tatsächlichen Mieter angekom-men als bei dem Zwischenerwerber. Die Wohnungswirt-schaft wurde aber um die Hälfte ihrer Altschulden entla-stet, die Eigentumsquote wurde sichtbar gesteigert, vonden 340 000 Wohnungen, die privatisiert werden sollten,waren bereits 1998 mehr als zwei Drittel veräußert.In den letzten Jahren hat sich dramatisch etwas ge-ändert; die positive Bilanz darf uns – bei allen Schwä-chen – den Blick dafür nicht verstellen: Die zögerlicheWirtschaftsentwicklung, erhebliche Neubautätigkeit undein spürbarer Bevölkerungsrückgang haben dazu ge-führt, dass manche Wohnungsunternehmen, und zwarinsbesondere in strukturschwachen Regionen, einen er-heblichen Wohnungsleerstand zu verzeichnen haben;er ist eben zu Recht angesprochen worden. Ich möchtedie Zahlen nicht wiederholen; sie sind zwar unter-schiedlich, liegen aber in derselben Dimension. In der-selben Dimension liegen ebenfalls die Mietverluste, dieden Unternehmen durch diese Situation entstehen. Vieleder Unternehmen haben deswegen, völlig anders als vorsechs Jahren absehbar, große Schwierigkeiten, auf dereinen Seite ihre Altschulden zu bedienen ohne auf deranderen Seite auf dringend notwendige Investitions- undModernisierungsmaßnahmen zu verzichten.Die Hauptstoßrichtung muss sein, nicht die altenGrundsatzdebatten zu führen, sondern den Unternehmenmit einem hohen strukturellen Leerstand sowie mit be-sonderen Belastungen, zum Beispiel aus negativen Re-stitutionsfällen, dadurch zu helfen – da brauchen wir unsnichts vorzumachen –, dass ihnen eine weitere Teilentla-stung von den Altschulden gewährt wird. Sonst funktio-niert das nicht.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Übrigenim letzten Jahr einen Antrag im Deutschen Bundestageingebracht, der eine schnelle Novellierung des Alt-schuldenhilfe-Gesetzes fordert. Ich darf kurz einmaldaran erinnern, was die Eckpunkte sind: Vorziehen desSchlusstermins für die Erfüllung der Privatisierungsauf-lage auf den 31. Dezember 2000, Einführung einer Frei-kaufsregelung für Unternehmen, die ihre Privatisie-rungsverpflichtung in von ihnen zu vertretender Art undWeise zum Stichtag am 31. Dezember 2000 nicht erfüllthaben, und – jetzt komme ich wieder darauf zurück –weitere Teilentlastung für Wohnungsunternehmen mitgroßen, strukturell bedingten Problemen.Wie viele unserer Kollegen, die sich insbesondere derWohnungspolitik nicht nur in Ost-, sondern auch inWestdeutschland verpflichtet fühlen, habe ich in denletzten Monaten in vielen Wohnungsbaugesellschaftenund -genossenschaften in den neuen Ländern mit denBetroffenen vor Ort gesprochen. Das ist – bei allem Re-spekt vor den Verbänden – manchmal eindrucksvoller,als „nur“ mit den Verbänden zu sprechen. Man erkenntdie Situation vor Ort, spürt den massiven Druck und er-kennt die Notwendigkeit, eineinviertel Jahre nach derAnkündigung durch die Koalitionsfraktionen schnell et-was zu machen.Nehmen wir zum Beispiel die Dessauer Wohnungs-gesellschaft. Sie besitzt rund 16 000 Wohnungen. Da-von sind 2 500 restitutionsbehaftet. Noch vor wenigenJahren ist man davon ausgegangen, dass mehr als90 Prozent der Restitutionsfälle positiv, also zugunstenDr. Peter Danckert
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des früheren Eigentümers, entschieden werden und dieWohnung im Normalfall auch zurückgenommen wird.Dies hat sich innerhalb weniger Jahre völlig verändert.Zwar werden „Sahnestücke“ nach wie vor privat zu-rückgenommen, aber ein ganz großer Teil der Wohnun-gen verbleibt plötzlich bei den Wohnungsgesellschaften.Wenn wie in Dessau nur noch 3 Prozent der Restituti-onsfälle positiv entschieden werden, dann kommen da-durch automatisch neue Millionenforderungen auf dieGesellschaft zu, obwohl sie in den vergangenen Jahrenbereits Millionen gesetzestreu abgeführt hat.
Die Ungewissheit – deswegen gibt es die Diskussionum das Vorziehen des Gesetzes – erfordert noch zusätz-liche Rückstellungen. Wenn die Unternehmen diesenicht vornehmen, dann fordert spätestens der Wirt-schaftsprüfer solche Rückstellungen von ihnen ein. Die-se Situation führt im Fall Dessau dazu, dass das beab-sichtigte Investitionsvolumen von rund 40 MillionenDM für dieses Jahr auf 20 Millionen DM sinkt. Der Restder Mittel wird für die Rückstellungen oder für Nega-tivrestitutionen benötigt.Ich möchte darauf hinweisen, dass wir schon in derletzten Legislaturperiode Hilfsstrategien diskutiert undüber den Lenkungsausschuss bzw. die Kreditanstalt fürWiederaufbau teilweise realisiert haben, allerdings – wiejeder weiß – unterhalb der gesetzlichen Ebene. In derletzten Legislaturperiode gab es eine weitestgehendeinmütige Empfehlung des Fachausschusses, des dama-ligen Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen undStädtebau.Es ist zu begrüßen, Herr Staatssekretär Großmann,dass auch die neue Bundesregierung eine flexible Vor-gehensweise unterstützt hat und im März 1999 Be-schlüsse über weitere Erleichterungen für Wohnungs-unternehmen im Lenkungsausschuss herbeigeführt hat.Dennoch erscheint nunmehr eine schnelle Weiterent-wicklung des Altschuldenhilfe-Gesetzes unumgänglich.Seit mehr als einem Jahr wird diskutiert, versprochenund werden Lösungen zwischen Bund und Ländern ge-sucht. Es gibt Koalitionsankündigungen und Regie-rungserklärungen zu diesem Thema. Ich bin dankbar,dass die Bundesregierung offensichtlich jetzt bereit ist –auch wenn es fast eineinhalb Jahre gedauert hat – zuhandeln. Es ist auch allerhöchste Zeit.Eine wesentliche Verbesserung der Planungs- undRechtssicherheit für die Unternehmen – auf den erstenPunkt unseres Antrags hatte ich schon verwiesen – kanndurch ein Vorziehen des derzeit durch das AHG auf den31. Dezember 2003 festgelegten Schlusstermins er-reicht werden. Die Wohnungsunternehmen – auch hierstimme ich Ihnen, Herr Kollege Danckert, zu – benöti-gen schnellstmöglich entweder die Bestätigung der Er-füllung ihrer Privatisierungspflicht oder die Anerken-nung des Nicht-Vertreten-Müssens. Dies wird zugege-benermaßen noch manche Detaildiskussion erfordern.Als jemand, der viele Jahre wohnungsbaupolitischerSprecher einer Regierungsfraktion war, weiß ich, dassdas Herzblut der Wohnungs- und Baupolitiker und desBauministers nicht in jedem Fall ausreicht, um das desFinanzministers und der Haushaltspolitiker in diesemHause in Wallung zu versetzen.
– Ich würde mich freuen, wenn es so wäre, Frau Kolle-gin.
– Ich möchte Ihren Zwischenruf als Zwischenfragewerten, Frau Präsidentin. Wir können darüber gerne dis-kutieren. Wenn Sie das Wohngeld meinen, muss ich Siedarauf hinweisen, dass Sie nicht ohne die Zustimmungdes Bundesrats und des Vermittlungsausschusses ge-schafft hätten. Sonst hätten Sie zwar 1,4 Milliarden DMmehr Wohngeld kassiert. Aber zwischendurch hätten Siebei den Gemeinden 2,5 Milliarden DM abkassiert.Die Wohnungsunternehmen benötigen also schnellst-möglich entweder die Bestätigung oder die Anerken-nung des Nicht-Vertreten-Müssens. Wir sind der Auf-fassung, dass auch Unternehmen, die ihre Privatisie-rungspflicht nicht erfüllt haben, der Hilfe bedürfen.Ihnen sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, sichdurch eine Zahlung an den Erblastentilgungsfonds in derHöhe der gesetzlich geregelten Erlösabführung bei Er-füllung der Privatisierungsauflage von der Privatisie-rungsverpflichtung freizukaufen, um der Rückzahlungdes gewährten Teilentlastungsbetrages zu entgehen.Ich wiederhole: Es muss insbesondere Unternehmenin Gebieten mit hohem strukturellem Leerstand sowiebesonderen Belastungen durch negative Restitutionsfälleschnell und wirksam dadurch geholfen werden, dass ih-nen eine weitere Teilentlastung für die Altschulden ge-währt wird. Dies ist die im Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion formulierte Position. Sie ist seriösund machbar – im Gegensatz zu der finanzpolitischnicht zu verantwortenden Forderung der PDS nach Zie-hung eines Schlussstrichs unter das Altschuldenhilfe-Gesetz.Vielen Dank.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Kollegen! Liebe Kollegin Ostrowski, ich halte es fürverwirrend, dass Sie am 17. März 1999 einen Gesetz-entwurf eingebracht haben, um dann am 9. Juni 1999,also noch nicht einmal ein Vierteljahr später, einen Än-derungsantrag zum Altschuldenhilfe-Gesetz vorzulegen.Dr.-Ing. Dietmar Kansy
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7645
Ich erwarte von Ihnen schon, dass Sie Ihre eigenen An-träge so ernst nehmen, dass sich letztlich nicht heraus-stellt, dass es Schaufensteranträge sind, die nur für dieöffentliche Meinung und für Ihre Wähler gedacht sind.Anträge sollten hier ernsthaft erörtert werden.Alle meine Vorredner haben schon mehr oder weni-ger deutlich dargestellt und wir haben es bereits im Aus-schuss diskutiert: Der Gesetzentwurf ist in dieser Formeinfach nicht diskutabel und nicht verhandelbar, zum ei-nen weil er eine im Jahre 2000 wirklich nicht mehrmachbare Rückabwicklung erfordert und zum anderenweil wir das ganze Kreditvolumen, das dahinter steckt,nicht aufbringen können. Von daher tut es mir Leid.Dies zu sagen ist mir deswegen besonders wichtig,weil ich die Politik, die Sie so gerne pflegen, nämlichTeilen der Bevölkerung im Osten immer wieder das Ge-fühl zu geben, man könnte sie vor den Realitäten, diesich in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, ab-schirmen, für politisch äußerst fragwürdig halte. Ichwerbe bei Ihnen ernsthaft dafür, das nicht weiter zumpolitischen Prinzip zu erheben. Sie und Ihre Wählersollten sich mit den Realitäten auseinander setzen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?
zu Ende bringen. Danach würde ich sie gerne beantwor-
ten.
Wir selbst haben uns Anfang und Mitte der 90er-
Jahre sehr wohl mit Vehemenz gegen das Altschulden-
hilfe-Gesetz engagiert. Dazu stehe ich. Aber bereits in
der letzten Legislaturperiode waren wir in einer Situa-
tion, in der eine Rückabwicklung nicht mehr möglich
war. Das gilt heute umso mehr.
Bitte schön.
Frau KolleginEichstädt-Bohlig, Sie haben uns fehlenden Realismusvorgeworfen. Können Sie sich vielleicht erinnern, dasses hier bei Einbringung unseres Gesetzentwurfes eineDebatte gab, in der alle Fraktionen – Sie, Herr Dr. Kan-sy und andere; Sie können es im Protokoll nachlesen –einheitlich gesagt haben, sie würden den Gesetzentwurfgar nicht weiterverfolgen und sie würden ihn ablehnen?
Das heißt, wir wussten schon bei der Einbringung, wieSie sich verhalten werden. Können Sie sich daran erin-nern?
Die Frage ist nur, welche Konsequenzen Sie darausnicht gezogen haben. Insofern bleibte ich bei der Bitte,die ich schon eben ausgesprochen habe: Stoßen Sie mitAnträgen und Gesetzentwürfen in einen realistischenpolitischen Raum! Dass das für Ihren Gesetzentwurfvom 17. März 1999 nicht galt, haben Sie gewusst. Wirhaben auch in der letzten Legislaturperiode mit IhremVorgänger – nicht mit Ihnen persönlich – intensiv darumgerungen. Von daher bleibt es bei meiner Aussage.Ich möchte gerne etwas zu dem sagen, was in derPraxis stattfindet. Ich möchte ein bisschen in Richtungder Argumentationen des Kollegen Kansy und IhresAntrags gehen. Zum einen muss ich ganz deutlich sagen:Herr Kansy, dass die Erkenntnis, wir hätten beim Alt-schuldenhilfe-Gesetz Änderungsbedarf, 1999 bei Ihnengewachsen ist, finde ich sehr gut. Wenn ich daran denke,welch intensive Diskussionen wir zwischen 1994 und1998 hatten, dann wünsche ich mir, Sie hätten darauseher Lehren gezogen.
Alle anderen Fraktionen haben intensiv um das Ganzegerungen. Ich erinnere mich noch an die denkwürdigeAusschusssitzung in Görlitz, wo Ihnen alle Experten ge-sagt haben, wie dringend in diesem Punkt der Hand-lungsbedarf ist.
– Seien Sie einmal ein bisschen cool.Als Erstes hat die neue Regierung das gemacht, wasschon vorher längst nötig war: Sie hat sich sofort unter-gesetzlich um die Befreiung für diejenigen Gesellschaf-ten bemüht – –
– Ja, das hat aber erst diese Regierung in Angriff ge-nommen. Es war überhaupt das Einzige, zu dem Sie be-reit waren. Wir haben es – im Wege der berühmten 40-Prozent-Formel – sofort umgesetzt: Wenn Leerstand,Bevölkerungsrückgang und Arbeitslosigkeit zusammen-kommen, können Wohnungsunternehmen von der Pri-vatisierungspflicht befreit werden. Auf dieser Grundlagesind inzwischen die Hälfte der Unternehmen befreitworden. 1 000 Wohnungsunternehmen haben davon Ge-brauch gemacht. Das ist ein ganz wichtiger Befreiungs-schlag gewesen, der jetzt den Druck genommen hat.Denn wir alle wissen, dass in Sachen Privatisierungmomentan nichts Wesentliches läuft.Ein weiterer Punkt betrifft das, was jetzt im Referen-tenentwurf in der Abstimmung mit den Ländern ist. Da-zu wird es im März einen Kabinettsbeschluss geben,über den wir im April beraten können – auch mit einerAnhörung, die Sie sich so gerne für einen separatenCDU-Antrag wünschen. Ich glaube aber, wir können dasin der Anhörung gemeinsam erörtern, zusammen mitden wichtigen Zielen, auf die sich jetzt die Länder unddie Bundesregierung verständigt haben und die wir alsKoalitionsfraktion – und, nach Ihrem Antrag zu urteilen,Franziska Eichstädt-Bohlig
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teilweise auch Sie – engagiert mittragen: nämlich dasseine Teilentlastung bereits zum 31. Dezember 2000möglich wird statt erst Ende 2003 und dass schon zudiesem Zeitpunkt die Möglichkeit einer Ablöse für alldie Gesellschaften besteht, die ihre Privatisierungs-pflicht noch nicht erfüllt haben und sich nicht nach die-ser untergesetzlichen Regelung befreien lassen können.Als Letztes sollten wir einen Schlussstrich unter dieSchuldenprobleme im Zusammenhang mit den negati-ven Restitutionen ziehen.Das sind drei sehr wichtige Punkte, die wir um Osternherum beraten und dann sehr schnell zum Abschlussbringen werden. Von daher sind wir einen Schritt weiter.Aber lassen Sie mich noch eines zu Ihrer Erwartungsagen – der Sie in Ihrem Antrag Ausdruck geben –, dieLeerstandsprobleme im Osten mit der Altschuldenhilfeso verknüpfen zu können, dass wir uns daran erwürgen.
– Doch, so ist Ihr Antrag formuliert. Das halte ich fürgefährlich. So kommen wir bei diesem Problem, das wiralle lösen wollen, nicht einen Schritt voran, sondernsatteln neue Probleme auf.Ich bitte darum, dass wir die Leerstandsproblematikseparat diskutieren. Ihre Fraktion sollte zur Kenntnisnehmen, dass Sie historisch Verantwortung für diesenLeerstand tragen, insbesondere durch die hohen Sonder-abschreibungen und die Forcierung des Neubaus, derfaktisch in Konkurrenz zu den Wohnungsbeständen tritt,
sowohl in den Innenstädten als auch in den Großsied-lungen.Das wird Gegenstand der nächsten Diskussionsrundesein. Unser Engagement wird da sehr groß sein.
Jetzt hat der
Herr Kollege Guttmacher das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Alt-schuldenhilfe-Gesetz sieht in seinem § 5 vor, dass dieKommunen bzw. Wohnungsunternehmen, die einenAntrag auf Teilentlastung der Altschulden stellen, sichgleichzeitig verpflichten, 15 Prozent ihrer Wohnungen –mit 15 Prozent der Gesamtwohnfläche – mieternah zuprivatisieren. Von den Verkaufserlösen dieser Privatisie-rung muss ein gewisser Prozentsatz an den Erblastentil-gungsfonds abgeführt werden. Über den Erfolg der Pri-vatisierung entscheidet die Kreditanstalt für Wiederauf-bau durch einen Schlussbescheid am Ende der Privati-sierungspflicht. Derzeit ist der Termin auf das Jahr2003 festgelegt.Noch im Februar – und nicht erst 1999, FrauEichstädt-Bohlig – hat der Bundestag in einer Entschlie-ßung auch den so genannten schwierigen Fällen Rech-nung getragen und die Bundesregierung aufgefordert, imLenkungsausschuss darauf hinzuwirken, dass vor allemkleinere Wohnungsunternehmen und -genossenschaftenauf Antrag eine vorgezogene Bestätigung erhalten kön-nen, wonach sie die absehbare Nichterfüllung der Priva-tisierungsauflage nicht vertreten müssen. Eine Anerken-nung des Nicht-vertreten-Müssens der Privatisierungs-auflage sollte dabei nach Auffassung der F.D.P. unterweitaus moderateren Gesichtspunkten erfolgen und nichtnur bei einer Bewertung durch Kumulierung von Ar-beitslosigkeit, Leerstand und Bevölkerungsrückgang,wie vom Lenkungsausschuss vorgeschlagen, geschehen.
Es ist zu berücksichtigen, dass es bereits heute beiKommunen und Genossenschaften zu Härtefällenkommt, da nicht selten 15 Prozent des Wohnungs-bestandes privatisiert sind, jedoch die damit einherge-henden 15 Prozent der Gesamtwohnfläche bei weitemnoch nicht erreicht wurden. Ebenso müssen die Reduzie-rung von strukturellem Leerstand im Rahmen von Ord-nungsmaßnahmen zur Beseitigung städtebaulicher Miss-stände wie Rückbau von altschuldenbelasteten Block-und Plattenbauten sowie Maßnahmen zur Wohnumfeld-verbesserung Berücksichtigung finden.
Der Rückbau sollte sowohl mit Städtebaufördermit-teln als auch durch Befreiung von den Altschulden fürdie Wohnfläche des abgerissenen Objektes unterstütztwerden. Sofern es sich herausstellt, dass eine Nichter-füllung der Privatisierung im Einzelfall doch zu vertre-ten ist, sollte nach Auffassung der F.D.P. den Betroffe-nen der ursprüngliche Entlastungsbescheid erhaltenbleiben, aber als Gegenleistung sollte von den Begüns-tigten eine gesetzlich festzulegende Abführung an denErblastentilgungsfonds getätigt werden.Andererseits sollten diejenigen Kommunen undWohnungsgesellschaften, die die Privatisierungsauflagebereits vollständig erfüllt haben, für Übererlösquotenbelohnt werden. In den vorgezogenen Schlussbeschei-den der KfW muss zweifelsfrei festgestellt werden, dassalle erbrachten Auflagen nach dem AHG erfüllt sind undweitere Änderungen, zum Beispiel Restitutionsobjekte,nicht mehr berücksichtigt werden.Meine Fraktion ist für den Schlusstermin 31. Dezem-ber 2000 für die Abführung von Erlösen aus § 5 desAHG.Meine Damen und Herren der PDS, die Tatsache,dass die PDS bereits einen moderateren Antrag zur No-vellierung des AHG vorgelegt hat, zeigt den ganzenErnst Ihres heute vorgelegten Gesetzesentwurfs. Wirwerden Ihren Antrag ablehnen.
Franziska Eichstädt-Bohlig
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Januar 2000 7647
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Das Problem, über das wir
heute reden, ist ernst genug – umso bedauerlicher, dass
das zu dieser späten Stunde vor fast leerem Plenum auf
der Grundlage eines Antrags geschieht, der nicht einmal
von den Antragstellern selbst ernst genommen wird. Das
ist mehr als bedauerlich. Dass Sie einen Änderungs-
antrag nachgeschoben haben, bevor das Thema über-
haupt abschließend behandelt worden ist, wurde ja aus-
geführt. Ich denke aber, dieser Antrag würde kaum eine
taugliche Lösung darstellen. Man kann nach zehn Jahren
eine Rückabwicklung, so wie Sie es wollen, nicht ein-
fach auf den Weg bringen. Das schafft neue Disparitäten
und Ungerechtigkeiten; das kann nicht unser Ziel sein.
Wenn wir auf die Chronologie der Altschuldenhilfe-
gesetzgebung zurückschauen, dann stellen wir ja fest,
dass es am Anfang ein langes Liegen-lassen und da-
durch eine Verschärfung des Problems und danach eine
fehler- und lückenhafte Initialgesetzgebung gegeben hat,
durch die die Wohnungsunternehmen geradezu erpresst
worden sind. Die 30 Milliarden DM, von denen Sie,
Herr Kansy, gesprochen haben, dienen zu einem großen
Teil der Tilgung jener Schulden, die durch Ihr Liegen
lassen überhaupt erst entstanden sind, und sind Aufwen-
dungen für die Zinsen und Zinseszinsen. Verdient haben
daran die Banken; genützt hat es nicht dem Aufbau Ost.
Die Probleme, die wir heute noch haben, hat im
Grunde genommen die bis 1998 regierende Koalition zu
verantworten. Was Sie in dieser Richtung hier abgelie-
fert haben, Herr Kansy, war ein Meisterstück an Ver-
drängung. Eine späte Einsicht ist besser als gar keine.
Sie haben aber lange Zeit gehabt, sich mit unseren War-
nungen und unseren Überlegungen vertraut zu machen.
Denn wir sind es ja, die jetzt die Suppe auslöffeln müs-
sen, die Sie uns eingebrockt haben. Ich finde, das ist
schon ein starkes Stück, das Sie hier geliefert haben.
Was wir jetzt machen müssen, ist, einen weit voran-
geschrittenen und so leider nicht mehr total umkehrba-
ren Prozess letztendlich noch in die richtige Richtung zu
lenken und dabei Ungerechtigkeiten und Härten, so gut
es geht, zu korrigieren. Es ist unsere erklärte Absicht,
diese Fehler zu beseitigen.
Wenn wir heute den Antrag der PDS, der ja auch in
den Ausschüssen unisono abgelehnt worden ist, ableh-
nen, bedeutet das nicht, dass das Thema damit beendet
wäre, im Gegenteil: Wir haben uns ja der Problematik
unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverant-
wortung angenommen und untergesetzlich mit dem Be-
schluss des Lenkungsausschusses vom März 1998 zir-
ka 1 000 Wohnungsunternehmen sofort entlastet, die
nachweisen konnten, dass ihnen eine Privatisierung
nicht zumutbar war. Wir haben dabei nicht aus den Au-
gen verloren, dass mit einer abschließenden Gesetzge-
bung für die Wohnungswirtschaft endlich Klarheit und
verlässliche Bedingungen geschaffen werden müssen.
Sicherlich steht außer Zweifel – da gebe ich auch Ih-
nen, Frau Eichstädt-Bohlig, Recht –: Die aktuellen
Schwierigkeiten der Wohnungswirtschaft in Ost-
deutschland sind als Gesamtkomplex zu sehen. Es hat
eine Reihe von falsch angelegten Maßnahmen gegeben.
So muss die weitere Entlastung der Wohnungs-
unternehmen durch ein Maßnahmenbündel gesichert
werden. Dazu gehören weitere Wohnumfeldverbesse-
rungen sowie weitere Sanierungs-, Modernisierungs-
und Instandsetzungsmaßnahmen in gemeinsamer Ver-
antwortung von Bund, Ländern und Gemeinden.
Ein einschlägiger Entwurf des Altschuldenhilfe-
Änderungsgesetzes befindet sich in der Ressortabstim-
mung – Sie haben es gehört – und steht unmittelbar vor
der Kabinettsreife. Bereits in der nächsten Sitzungswo-
che wird dazu nochmals der Lenkungsausschuss tagen;
diese Tagung wird mit einer Expertenanhörung verbun-
den sein. Ich verstehe also Ihre Aufregung nicht. Sie
wissen, was auf dem Tisch des Hauses liegt. Auch inso-
fern haben Sie den Zeitpunkt für die Erörterung dieses
Themas im Plenum eher unglücklich gewählt. Eine ab-
schließende Debatte steht ins Haus; die Fortsetzung
werden wir in der nächsten Woche erleben.
Da wir davon ausgehen können, dass die PDS ohne-
hin nicht an die Annahme ihres Gesetzentwurfs geglaubt
hat, wollen wir ihr in diesem Punkt Recht geben: Wir
lehnen den Entwurf ab und werden stattdessen eine
praktikable Lösung vorlegen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf zur Aufhebung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
auf Drucksache 14/568. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksa-
che 14/2317, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse
über den Gesetzentwurf der PDS abstimmen und bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Gegenstimmen! – Enthaltungen?
– Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den
Stimmen des übrigen Hauses gegen die Stimmen der
PDS abgelehnt worden.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Wir sind am Schluss unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 26. Januar 2000, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.