Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich Ihnen folgende Mitteilungen machen.
Erstens. Die Fraktion der CDU/CSU benennt als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates an Stelle des Abgeordneten Dr. Hornhues den Abgeordneten Berger. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete Berger als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt.
Zweitens. Die Amtsdauer des Mitgliedes des Verwaltungsrates der Lastenausgleichsbank, des früheren Abgeordneten Schmidt , läuft Mitte des Jahres aus. Die Fraktion der FDP, auf deren Vorschlag Herr Schmidt gewählt wurde, hat ihn zur Wiederwahl vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist Herr Schmidt gemäß § 7 Abs. 4 des Gesetzes über die Lastenausgleichsbank erneut als Mitglied des Verwaltungsrates der Lastenausgleichsbank gewählt.
Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen noch das endgültige Ergebnis der namentlichen Abstimmung aus der 148. Sitzung des Deutschen Bundestages am gestrigen Tag zum Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zu Tagesordnungspunkt 13 auf der Drucksache 10/3572 bekanntgeben. Es sind insgesamt 337 Stimmen abgegeben worden. Mit Ja haben gestimmt 20, mit Nein 220; Enthaltungen 89; ungültig 8. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Zusatzpunkte Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Sitzung des Europäischen Rates am 28./29. Juni 1985 in Mailand — Drucksache 10/3564 — und Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Europapolitik — Drucksache 10/3569 — erweitert werden. Diese Zusatzpunkte sollen zusammen mit den Punkten 17 a bis f aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP, der SPD und die Fraktion DIE GRÜNEN haben beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Anträge betreffend Wahl der Mitglieder der Rundfunkräte der Anstalten des öffentlichen Rechts „Deutsche Welle" und „Deutschlandfunk" auf den Drucksachen 10/3545, 10/3554, 10/3555 und 10/3558 zu erweitern. Die Anträge auf Erweiterung der Tagesordnung sind fristgerecht gestellt worden.
Wird das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Das Wort hat der Abgeordnete Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion beantrage ich, die heutige Tagesordnung um den Antrag der Koalition betreffend Wahl der Mitglieder der Rundfunkräte der Deutschen Welle und des Deutschlandfunks zu erweitern und diesen Antrag zu Beginn der heutigen Sitzung zu beraten. Wir müssen die acht vom Deutschen Bundestag in die Rundfunkräte des Deutschlandfunks und der Deutschen Welle zu entsendenden Mitglieder heute wählen, da die Amtszeit des bisherigen Rundfunkrates beim Deutschlandfunk am 1. Juli, also in vier Tagen, abläuft. Es gibt Streit unter den Fraktionen über das Wahlverfahren und die Aufteilung der Mandate. Darüber wird später zu reden sein.Meine Damen und Herren von der Opposition, völlig überflüssig dagegen ist der Streit, daß dieser Punkt überhaupt auf die Tagesordnung kommt. Geschäftsordnungsmäßig ist dies auch völlig unlogisch, denn die Fraktionen der SPD und der GRÜNEN haben selbst Anträge zur Tagesordnung und auf Erweiterung der Tagesordnung gestellt. Mit anderen Worten: Sie wollen zunächst unseren Antrag ablehnen und erwarten, daß wir dann Ihren Anträgen auf Aufsetzung auf die Tagesordnung zustimmen. Das ist abwegig. Die Konfusion des gestrigen Abends setzt sich heute morgen fort.
Ich empfehle, Herr Kollege Vogel, übrigens einmal einen Blick in die Abstimmungsliste des gestrigen Abends, um das auch selber festzustellen.Das Wichtigste, was wir heute morgen zu tun haben, ist, daß wir die Voraussetzungen dafür schaf-
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11080 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Seitersfen, daß der Rundfunkrat des Deutschlandfunks auch nach dem 1. Juli 1985 handlungsfähig ist und das die Vertreter des Deutschen Bundestages in diesem Gremium ihre Arbeit leisten können.Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung zuzustimmen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Timm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Seiters, Sie haben ganz recht. Der Streit ist überflüssig; wir könnten wählen, wir könnten sofort wählen, wir brauchten überhaupt keinen Antrag, denn wir haben ein Verfahren für die Wahlen der Vertreter für die Rundfunkräte im Deutschlandfunk und in der Deutschen Welle.
Wir haben dieses Verfahren — nur darum geht es; in Ihrem Antrag wollen Sie ja das Verfahren ändern, und zwar nach unserer Meinung sehr willkürlich. Der Bundestag hat zu Beginn dieser Legislaturperiode, wie immer zu Beginn einer Legislaturperiode, in der Sitzung vom 30. März 1983 auf der Drucksache 10/5 die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen für Ausschußbesetzungen, Wahlen usw. nach dem Verhältnis der mathematischen Proportion beschlossen. Auf dieser Grundlage haben wir bei der Besetzung von Ausschüssen und Gremien bisher gehandelt. Offenbar soll das Verfahren auch weiter gelten, mit der einzigen Ausnahme:
bei den Wahlen der Mitglieder des Bundestages für die Rundfunkräte.
Nach dem gültigen Verfahren entfallen auf die sechs Mitglieder des Bundestages für den Rundfunkrat des Deutschlandfunks — nur darum geht es natürlich, um den Rundfunkrat Deutschlandfunk und die sechs Mitglieder — drei Mitglieder der CDU/CSU und drei Mitglieder der SPD. Die Koalitionsfraktionen beantragen hierfür — ich betone noch einmal: nur hierfür — von dem geltenden Verfahren abzuweichen
und das Verfahren Hare/Niemeyer anzuwenden, damit ein Verhältnis von 3 :2 :1, d. h. drei Mitglieder der CDU/CSU, zwei Mitglieder der SPD und eines der FDP, herauskommt.
: Wo bleiben die
GRÜNEN?)
Wir nennen dies eine Manipulation,
eine willkürliche Mißachtung eines vom Bundestag gefaßten Beschlusses, ja einen politisch bedenklichen Mißbrauch der parlamentarischen Mehrheit.
Sie begründen Ihren Antrag damit, daß sich nur auf diese Weise die parlamentarische Mehrheit in den Rundfunkräten widerspiegelt. Wir halten dies für ein fragwürdiges und fadenscheiniges Argument,
denn bei allen anderen Einheiten haben Sie dieses Berechnungsverfahren anerkannt. Vor allem: Was heißt denn schon Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag bei einem Gremium von 22 Mitgliedern wie dem Rundfunkrat des Deutschlandfunks? Die Bundesregierung entsendet fünf Mitglieder, der Bundesrat entsendet sechs Mitglieder, davon vier von den unionsregierten Ländern. Jetzt wollen Sie weitere drei bzw. insgesamt vier von den Koalitionsfraktionen hineinsenden. Das sind schon 12 von 22. Wir sollen im ganzen 4 haben. Das sind Ihre Vorstellungen von Mehrheitsverhältnissen und deren Widerspiegelung in den Gremien!
Die Sendungen — um Ihnen ein Zitat aus dem Gesetz über die Rundfunkanstalten zu geben — sollen ein umfassendes Bild Deutschlands vermitteln.
Ich kann die Mitglieder des Bundestages, also Sie alle einzeln, nur eindringlich bitten, der Aufsetzung dieses Antrags auf die Tagesordnung nicht zuzustimmen.
Was sich die Koalitionsfraktionen heute mit diesem Antrag leisten, erschüttert das Vertrauen in geltende Beschlüsse und belastet das politische Klima hier innerhalb des Bundestages in unerträglicher Weise.
Meine Damen und Herren, solch eine Manipulation — bedenken Sie es doch bitte — hat Präjudizwirkung. Sollen wir uns denn in Zukunft immer wieder fragen: Wie lange gelten die Beschlüsse, die wir hier fassen? Wie lange? Gerade solange es der Mehrheit paßt? Unsere Geschäftsordnung und unsere Beschlüsse zu Verfahrensregeln haben so lange Wert und Bestand, als sie auf Consensus beruhen.
Ich bitte Sie sehr herzlich: Wählen wir nach dem beschlossenen Verfahren von 1983.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, darf ich darauf hinweisen — Frau Kollegin Timm, ich habe Sie nicht unterbrochen —, daß jetzt der Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung zur Beratung steht, nicht aber das Anliegen selbst, das Sie angespro-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11081
Präsident Dr. Jenningerchen haben. Das wird im Anschluß daran erst aufgerufen. Ich bitte die kommenden Redner, sich an die Geschäftsordnung zu halten und zum Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung zu sprechen.Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Suhr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind der Meinung, daß über die Besetzung des Rundfunkrats im Deutschlandfunk hier geredet werden muß. Denn was heute hier passieren soll, ist eine weitere Lex GRÜNE, ein Behandeln der GRÜNEN als Parlamentarier zweiter Klasse.
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Aber ich bitte darum, zu dem Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung zu sprechen, nicht zum Anliegen selbst.
Entschuldigen Sie, Herr Präsident, das habe ich versucht.
Wir sind der Auffassung, daß über diesen Antrag hier debattiert werden muß, weil sich im Rundfunkrat des Deutschlandfunks Mehrheiten abzeichnen, die alles andere als demokratisch sind.
Wir sind der Auffassung, daß hier darüber geredet werden muß. Wie Sie wissen, steht der Deutschlandfunk von Anfang an auf äußerst tönernen Füßen, was die Rechtmäßigkeit und die Verfassungsmäßigkeit der Zusammensetzung des Rundfunkrats angeht. Ich denke, daß wir hier heute darüber reden müssen, wie dieser Rundfunkrat zusammengesetzt ist und daß es nicht angeht, daß wir hier dermaßen überrollt werden. Gerade der Deutschlandfunk steht nämlich seit Beginn der geistig-moralischen Wende im Sperrfeuer christlich-demokratischer Nächstenliebe.
Wir halten es für erforderlich, heute hier über Ihren Vorschlag zu reden bzw. darüber zu reden, daß der Rundfunkrat des Deutschlandfunks anders, nämlich nach demokratischen Spielregeln, zusammengesetzt sein muß.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Wir kommen zur Abstimmung über die Anträge auf Erweiterung der Tagesordnung. Wer der Aufsetzung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer der Aufsetzung dieser Anträge der Fraktionen der CDU/CSU, der FDP, der SPD und der GRÜNEN auf die Tagesordnung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Meine Damen und Herren, es ist eben von dem Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD der Antrag gestellt worden, nur über den Antrag der CDU/CSU und der FDP auf Erweiterung der Tagesordnung abstimmen zu lassen.Wir kommen deswegen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Erweiterung der Tagesordnung. Wer diesem Antrag auf Aufsetzung des Punktes zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.
Damit ist dieser Punkt auf die Tagesordnung gesetzt.
— Meine Damen und Herren, es wird der Antrag gestellt, auch über die Anträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN abzustimmen.
Wer dem Antrag der SPD-Fraktion, die Anträge auf den Drucksachen 10/3554 und 10/3555 auf die Tagesordnung zu setzen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe!— Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist der Antrag angenommen.Wer dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich — —
— Der Antrag lautet auf Aufsetzung des Antrags auf Drucksache 10/3558 auf die Tagesordnung. — Wer dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — 1 Gegenstimme. Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist der Antrag angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe sodann die vorgenannten Anträge betreffend den Wahlmodus zur Beratung auf:Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDPWahl der Mitglieder der Rundfunkräte der Anstalten des öffentlichen Rechts „Deutsche Welle" und „Deutschlandfunk"— Drucksache 10/3545 — Antrag der Fraktion der SPDWahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Rundfunkrates der gemeinnützigen Anstalt des öffentlichen Rechts „Deutsche Welle"— Drucksache 10/3554 — Antrag der Fraktion der SPDWahl der Mitglieder des Rundfunkrates der gemeinnützigen Anstalt des öffentlichen Rechts „Deutschlandfunk"— Drucksache 10/3555 — Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
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11082 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Präsident Dr. JenningerWahl der Mitglieder des Rundfunkrates der gemeinnützigen Anstalt des öffentlichen Rechts „Deutschlandfunk"— Drucksache 10/3558 —Es ist interfraktionell vereinbart, eine Kurzdebatte mit Beiträgen bis zu zehn Minuten durchzuführen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht gibt es jetzt auch unter den Kollegen der Opposition solche, die mir nach dieser Konfusion in den Reihen der SPD zustimmen, wenn ich sage: Die bisherige Debatte über 20 Minuten war völlig überflüssig, sinnlos und abwegig!
Nun möchte ich mich dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, den wir eingebracht haben, zuwenden, wonach der Stellenanteil der Fraktionen für die nach dem Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts zu wählenden Mitglieder der Rundfunkräte der Deutschen Welle und des Deutschlandfunks nach dem Verfahren Hare/Niemeyer berechnet wird.
Dieser Antrag ist notwendig geworden, weil leider keine Verständigung mit der Opposition darüber möglich war,
daß die Fraktionen des Deutschen Bundestages wie bisher in den Rundfunkrat der Deutschen Welle jeweils ein Mitglied der CDU/CSU und der SPD und wie bisher in den Rundfunkrat des Deutschlandfunks drei Vertreter der CDU/CSU, zwei Vertreter der SPD und einen Vertreter der FDP entsenden.
Die SPD macht geltend, der Deutsche Bundestag habe zu Beginn der 10. Legislaturperiode beschlossen, daß die Zahl der auf die Fraktionen entfallenden Sitze im Ältestenrat und in den Ausschüssen des Parlaments nach dem Verfahren der mathematischen Proportion St. Lague/Schepers berechnet werde und daß dieses Verfahren auch für Wahlen, die der Bundestag vorzunehmen habe, gelte.
Es ist richtig, daß der Deutsche Bundestag einen solchen Beschluß gefaßt hat, der im übrigen dazu geführt hat, daß sich in allen Ausschußbesetzungen die Mehrheitsverhältnisse dieses Parlaments widerspiegeln. Richtig ist auch, daß bei Zugrundelegung dieses Verfahrens und bei einer Zusammenrechnung der in die Rundfunkräte von Deutschlandfunk und Deutscher Welle zu entsendenden Mitglieder, also bei acht zu entsendenden Mitgliedern, das bisherige und auch künftig weiterhin gewünschte Verhältnis zustande käme. Deswegen hat die Koalition urspünglich überlegt, bei Beibehaltung des bisherigen Beschlusses des Deutschen Bundestages entsprechend zu verfahren und bei der Berechnung die Zahl acht zugrunde zu legen. Auch dieses Verfahren wäre sowohl rechtlich als auch politisch zulässig und in Ordnung. Nun hat die SPD in den Vorgesprächen die Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens bestritten. Wir haben uns deshalb entschlossen, um jeden Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit und der Rechtmäßigkeit der jetzt vorzunehmenden Wahlen auszuräumen, einen Beschluß vorweg zu fassen, daß die Wahlen nach dem Verfahren Hare/Niemeyer vorgenommen werden. Auch dagegen hat sich die Kollegin Timm für die SPD-Bundestagsfraktion soeben gewandt.
Ich möchte eindeutig festellen, meine Damen und Herren: Es war niemals Sinn des früheren Bundestagsbeschlusses, bei der Besetzung von Ausschüssen und bei Wahlen zu Gremien die Mehrheitsverhältnisse, die hier im deutschen Parlament herrschen, zu verfälschen.
Ich kann auch mit Blick auf künftige Entwicklungen — darüber sollten Sie einmal nachdenken — und Situationen überhaupt nicht verstehen, daß die SPD heute nicht zu einem gemeinsamen Vorschlag bereit ist, der — wie in den vergangenen sechs Legislaturperioden — der stärksten Fraktion drei Mandate, der zweitstärksten Fraktion zwei Mandate und der drittstärksten Fraktion ein Mandat zubilligt. Ich kann auch überhaupt nicht erkennen, woher die SPD die Berechtigung ableitet — nachdem sie 1983 geschwächt in den Deutschen Bundestag zurückgekehrt ist, nämlich mit 202 statt 228 Abgeordneten, die CDU/CSU dagegen gestärkt, nämlich mit 255 statt bisher 237 Abgeordneten —, jetzt die Delegiertenzahlen zu ihren Gunsten und unseren Lasten verändern zu wollen.
Herr Abgeordneter Seiters, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Nein.
Herr Kollege Vogel und Herr Kollege Jahn, wäre die SPD in unserer Lage, sie würde nicht im Traum daran denken, einer solchen Veränderung zu den eigenen Lasten zuzustimmen.
Deswegen ist die Haltung der SPD in einem hohen Maße scheinheilig und kann uns nicht beeindrukken.
Meine Damen und Herren, im übrigen will ich am Rande darauf hinweisen, daß wir nach dem Gesetz sogar die Möglichkeit hätten, mehr Mitglieder von uns als bisher in dieses Gremium zu entsenden. Nach den §§ 3 und 7 des Gesetzes über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts wählt der Deutsche Bundestag. Nirgendwo ist von einer Einschränkung dieses Rechts die Rede.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11083
SeitersDie „Frankfurter Rundschau" hat daher am 11. Juni in richtiger Erkenntnis der Sachlage geschrieben:Nach dem Stand der Dinge werden die Unionspolitiker am Schlüssel vermutlich festhalten wollen, obwohl sie mit ihrer Mehrheit auch jedes andere Modell — zum Beispiel vier Vertreter der CDU/CSU, je einer der SPD und FDP — durchsetzen könnten.Dies wollen wir nicht. Wir wollen der SPD nichts nehmen. Wir sind großzügig.
Wir wollen an dem bewährten Verfahren und an der bewährten Zusammensetzung 3 : 2 : 1 festhalten.
Sie staunen: Wir wollten schon vorige Woche einvernehmlich die Wahlen auf die Tagesordnung setzen. Dann hieß es plötzlich: Nein, so nicht.Was war geschehen? Die Koalitionsfraktionen standen vor einem internen Dilemma:
denn bei den letzten anstehenden Wahlen für die Rundfunkräte 1981 hatten wir uns zu Beginn der Legislaturperiode 1980 verständigt, nach dem mathematischen Verfahren vorzugehen. Wir hatten uns seinerzeit aber auch darauf verständigt, daß jede Fraktion in jedem Gremium vertreten sein soll.
— Das war 1980.
Für die CDU/CSU waren drei Mitglieder gewählt: die Herren Czaja, Graf Huyn und Reddemann. Die FDP war mit einem Mitglied vertreten, nämlich mit Herrn Mischnick. Die SPD war mit zwei Mitgliedern vertreten, nämlich Herrn Dübber — später Herr Nöbel — und Herrn Mattick.Bei dem nun geltenden Verfahren — CDU und SPD jeweils drei Mitglieder — steht die Koalition vor einem internen Dilemma; denn entweder gibt es keinen Vertreter der FDP zu wählen, oder die CDU/CSU müßte an die FDP, ihren Koalitionspartner, ein Mandat abtreten, so daß einer von den Herren der CDU/CSU nicht mehr entsandt werden könnte.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, man kann getrost diesen Koalitionsantrag mit dem folgenschweren Abweichen vom geltenden Verfahren eine „Lex Czaja" nennen. Das ist es nämlich, was dahintersteht.
Sie können das alles in der „Welt" und in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" aus der vorigen Woche nachlesen. Dort wird betont, wie unentbehrlich doch der Herr Czaja für dieses Gremium, den Rundfunkrat des Deutschlandfunks, sei.
Also kurz: Die Koalitionsfraktionen konnten dieses interne Dilemma nicht lösen. Nach den letzten Äußerungen des Herrn Fraktionsvorsitzenden Dregger zur nunmehr fälligen Wende auch in der Außenpolitik wollten sie es vielleicht gar nicht mehr lösen,
sondern auf Kosten und zu Lasten des Bundestages ihre Mehrheit leichtfertig voll ausspielen. Sie schaffen damit einen unseligen Präzedenzfall; ich sagte es schon. Sie vergiften das Klima im Bundestag, und sie schaden dem Ansehen des Parlaments.
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11084 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Frau Dr. TimmSie machen mit einem Schlag, Herr Dregger, mehr kaputt, als wir mit unseren ganzen Anstrengungen zur Parlamentsreform je aufholen können.
Ich bitte Sie alle einzeln, liebe Kolleginnen und Kollegen: Überlegen Sie es noch einmal ganz genau, und lassen Sie diesen Anschlag auf die in diesem Hause bisher geübte Achtung vor beschlossenen Verfahrensregeln nicht geschehen.
Wir haben Verfahrensregeln, und weil wir Verfahrensregeln haben, lehnt sie SPD-Fraktion sowohl den Antrag der CDU/CSU- und FDP-Fraktion als auch den Antrag der GRÜNEN ab.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Schade, daß es die Schule für Sophistik in Athen nicht mehr gibt. Sie hätte nämlich Ihre Position vorhin, meine Kollegen von der SPD, in ihr Lehrbuch aufgenommen. Das war wirklich eine eindrucksvolle Sache, wie Sie dem Antrag auf Aufsetzung auf die Tagesordnung entgegengestimmt haben.
Frau Kollegin Timm, Sie haben hier mit bewegten Worten von Manipulation, von Erschütterung des Vertrauens gesprochen. Darf ich einmal feststellen, daß, seit vom Bundestag Mitglieder in den Rundfunkrat gewählt werden, immer das Prinzip gegolten hat, daß sich die Mehrheit auch in den entsandten Mitgliedern wiederfinden muß. Es gibt keine einzige Ausnahme davon. Sogar in der Legislaturperiode 1972 bis 1976, als die Wahl 1973 fällig war, hat die Union, die damals nur sieben Stimmen weniger hatte als Sie, selbstverständlich auf ihren Sitz verzichtet und hat sich mit zweien begnügt. Sie hat das Prinzip, die Mehrheit müsse sich auch in den Entsandten wiederfinden, als selbstverständlich akzeptiert.
Minderheitenschutz gilt in diesem Hause; aber es muß sich auch die Mehrheit darstellen können,
und die Mehrheit wird nun einmal, ob Ihnen das gefällt oder nicht, von der Koalition repräsentiert.
Das Berechnungsverfahren an sich hat instrumentale Bedeutung; es ist kein Wert an sich. Wenn sich zeigt, daß das Berechnungsverfahren, nach dem wir bisher verfahren sind, eben hier diese Darstellung der Mehrheit nicht garantiert,
dann ist es mehr als berechtigt, dann ist es geboten, hier eine Veränderung vorzunehmen. Übrigens, das Verfahren Hare/Niemeyer werden Sie ja selbst wohl nicht kritisieren können;
wir haben es ja inzwischen zum Berechnungsverfahren für das Bundeswahlgesetz genommen, und das ist ja wohl Bedeutung und Wert an sich.
Sie haben von dem Problem gesprochen, das — ich wiederhole es — Vertrauen werde erschüttert! Ich benutze einmal den technischen Begriff des Vertrauensschutzes und darf aus der Unterlage zitieren, die uns die Verwaltung hier an die Hand geben konnte:
Erforderlich ist vielmehr, daß das beschlossene Berechnungsverfahren im Einzelfall nicht seinen Zweck der zutreffenden Abbildung der Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse erfüllt.
Dann nämlich gehen wir von diesem Vertrauensschutz mit Recht ab und sagen, die Mehrheit muß sich auch wiederfinden. Das tun wir auch hier in diesem Fall.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jahn ?
Aber gern! Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Wolfgramm, bedeutet die Interpretation, die Sie und die Koalition einem gemeinsam für diese Wahlperiode gefaßten Beschluß jetzt geben wollen, daß wir uns im Umgang miteinander darauf einzurichten haben, daß in Zukunft der Grundsatz gilt: Es gilt das gebrochene Wort?
Wenn Sie mir zugehört hätten, Herr Kollege, dann wäre Ihnen gerade eben deutlich geworden, daß ich mich sehr sorgfältig mit den Begriffen Vertrauensschutz und Mehrheitsrecht auseinandergesetzt habe. Mit Ihrer Unterstellung fordern Sie heraus, daß ich Fontane zitiere, der gesagt hat: „Der Besitz macht uns nicht halb so glücklich, wie uns der Verlust unglücklich macht." Das ist Ihr Problem.
Herr Abgeordneter Wolfgramm, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mann?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11085
Nein, Herr Präsident, ich möchte jetzt fortfahren; wir haben ja eine Kurzdebatte.
Ich möchte Ihnen jetzt noch einmal sagen: Die Positionen, die Sie hier aufgebaut haben, entsprechen nicht der Rechtslage; sie entsprechen nicht der Mehrheit in diesem Hause; der Minderheitsschutz ist gewährleistet.
Sie handeln nach der Vorstellung Frau Kollegin Timm: Das Moralische versteht sich immer von selbst.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Suhr.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten!
Herr Wolfgramm, wenn Sie hier behaupten, es gebe in diesem Hause Minderheitenschutz, so gilt er offensichtlich nur für kleine Minderheiten, die es schaffen, sich in jeder Regierung zu bewegen oder sich immer in eine Regierung hineinzuhangeln. Für uns gilt es leider nicht.
Wir hatten in diesem Hause in der letzten Woche eine Debatte über einen Staatssekretär, Herrn Spranger, der glaubte, die Verdrängung der Gegenwartsprobleme zur journalistischen Leitlinie der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten machen zu können, einen Staatssekretär, der unter dem Vorwand, Ausgewogenheit herstellen zu wollen, im Stile der Mc Carthy-Ära schwarze Listen in seinem Haus auf Kosten des Steuerzahlers darüber anfertigen läßt, welche Journalisten im In- und Ausland immer noch die Zivilcourage haben, diese Bundesregierung zu kritisieren.
Aber Herr Spranger war offensichtlich nicht ein Einzelfall eines übermotivierten Staatsdieners, der bei seinem Brötchengeber, bei Herrn Zimmermann, Punkte als Scharfmacher sammeln wollte.
Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zur Sache.
Vielmehr handelt es sich auch hier bei der Besetzung des Rundfunkrats des Deutschlandfunks um einen systematischen Versuch, den Spielraum für Meinungsfreiheit einzugrenzen. Was seit Jahr und Tag im Deutschlandfunk passiert, ist der Versuch, über den Rundfunkrat Journalisten einzuschüchtern, anzuschwärzen und zu diffamieren.
Sie haben in dem Rundfunkrat des Deutschlandfunks, wenn diese Wahl heute so durchgeht, eine satte Zweidrittelmehrheit von Sympathisanten der Kohlschen geistig-moralischen Wende. Wir bleiben als einzige Opposition in vielen Fragen vor der Tür, und das nennen Sie demokratisch gewährleisteten Minderheitenschutz.
Die Verfassung sieht für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eigentlich die Staatsferne vor. Die satte Zweidrittelmehrheit von Angehörigen und Sympathisanten dieser Regierung im Rundfunkrat des Deutschlandfunks läßt diese Staatsferne zur Farce werden.
Die Hauptaufgabe des Rundfunkrats, nämlich die Interessen der Allgemeinheit wahrzunehmen, wird damit ad absurdum geführt.
Die Interessen der Allgemeinheit werden dadurch nämlich zu identischen Interessen der Regierung herabgewürdigt. Man muß nur einmal gucken, wer in diesem Rundfunkrat sitzt. Die GRÜNEN werden — deswegen haben wir den Antrag gestellt, bei dieser Wahl berücksichtigt zu werden —, hierbei erneut als Parlamentsfraktion zweiter Klasse behandelt.
Sie haben versucht, uns bei der Besetzung des Bundestagspräsidiums auszuschalten, Sie haben uns bei der G-10-Kontrollkommission außen vorgelassen, und Sie haben es beim Kuratorium des Deutschen Entwicklungsdienstes versucht. Sie versuchen systematisch, eine demokratisch gewählte Fraktion hier im Deutschen Bundestag unterzubügeln, auszuschalten, wo immer es geht. Das halten wir für einen undemokratischen Vorgang.
Sie haben zu Anfang dieser Legislaturperiode einen Beschluß aus der letzten Legislaturperiode gekippt, nach dem jede Fraktion in jedem Ausschuß, in jedem Gremium vertreten sein soll. Sie waren sich zu Anfang der Legislaturperiode sehr schnell einig, daß Sie die GRÜNEN ausschalten müssen. Sie haben eine Lex GRÜNE beschlossen, die versuchen soll, uns hier systematisch auszugrenzen — mit den Stimmen der SPD, FDP und CDU/CSU —, aber gleichzeitig schreien Sie landauf, landab, wir
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11086 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
SuhrGRÜNE sollten endlich politische Verantwortung übernehmen.
Wir hatten am letzten Wochenende unsere Bundesversammlung in Hagen, und sie hat mit sehr großer Mehrheit beschlossen, daß wir bereit sind, alle parlamentarischen Möglichkeiten, bis hin zur Regierung, wahrzunehmen. Das heißt, diese Regierung kann jederzeit abtreten; wir sind bereit, die Regierung zu übernehmen.
Aber wir sind auch bereit, unseren Teil der politischen Verantwortung im Rundfunkrat des Deutschlandfunks zu tragen; denn es gibt eine Menge Menschen in diesem Land, die sich von dieser Regierung nicht vertreten, sondern höchstens verarscht fühlen.
Herr Abgeordneter, ich weise diesen Ausdruck als unparlamentarisch zurück.
Ich nehme es zur Kenntnis.
Wenn dieses Haus heute dem Vorschlag der Regierungsparteien folgt, wird von der jahrzehntelangen Praxis abgewichen, jede Fraktion des Deutschen Bundestages am Rundfunkrat des Deutschlandfunks zu beteiligen. Das ist ein weiterer Fall, der vielen Jugendlichen, aber auch vielen Älteren klarmacht, daß in diesem Land Abgeordnete zwar bestochen werden dürfen, daß man aber versucht, solche Abgeordnete, die sich nicht ständig als Industrielobbyisten bewegen, in unverschämter Manier auszuschalten.
Das dieses Vorgehen, wenn Sie es systematisch versuchen, hier die GRÜNEN niederzubügeln, außen vor zu halten, Staatsverdrossenheit, Parteienverdrossenheit erzeugt, und zwar zu Recht erzeugt, können Sie wohl annehmen.
Gerade der Deutschlandfunk steht seit Beginn der christlich-demokratischen Wende in einem Sperrfeuer christlich-demokratischer Nächstenliebe, daß es einem kalt den Rücken herunterläuft. Erinnern Sie sich: Die Hatz auf Hans Peter Riese, einen Journalisten des Deutschlandfunks, der sich erdreistet hat, die Wende 1982 als nach den moralischen Maßstäben einer Bananenrepublik verlaufend zu kritisieren, ist ein schlagender Beleg dafür, wie versucht wurde, den einzigen bundesrechtlich organisierten Sender auf Regierungslinie zu trimmen. Wer will, kann dies alles in dem sehr eindrucksvollen Buch von Hans Peter Riese „Der Griff nach der vierten Gewalt" lesen, einer empfehlenswerten Lektüre für jeden, der sich ein Bild von der Liberalität des Rundfunkrats des Deutschlandfunks machen will.
Gegen die Weltbilder, die in diesem Rundfunkrat vertreten werden, kommt einem der „Rheinische Merkur" wie ein Pornoheft vor.
Dieser Rundfunkrat wird in einer in dieser Republik einzigartigen Weise von Parteimitgliedern dominiert.
Die Kollegin Timm hat es vorhin schon geschildert: 17 Räte werden von Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung gestellt. Nur fünf sogenannte gesellschaftlich relevante Gruppen sind im Deutschlandfunk vertreten: die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Evangelische Kirche, die Katholische Kirche und der Zentralrat der Juden.
Mit großer Mehrheit haben in diesem Gremium politische Beamte und Funktionäre das Sagen, die wie der Landvogt Spranger den Willen ihres politischen Dienstherrn vollziehen. Wiederholt kam es in diesem erlauchten Gremium zu Fällen, daß kritisierte Politiker, beispielsweise der Herr Mischnick nach der Wende, ihre eigenen Kritiker in diesen Gremien als Richter bewerten konnten, die sich selber in diesen Gremien zu Fällen mangelnder Ausgewogenheit machten. Und ich denke, ich könnte hier noch einiges sagen und bis in die Sommerpause reden, wenn ich alle Fälle aufzählen sollte, in denen hier mit üblen Tricks versucht worden ist, Journalisten auf Linie zu trimmen.
Wir sind als kleinste Fraktion leider nicht in der Lage, der vollen Rundfunkfreiheit im Deutschlandfunk zu ihrem Recht zu verhelfen.
Stockhausen [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)
Aber wir möchten hier den Anspruch erheben, wenigstens ein Minimum an demokratischer Offenheit zu gewährleisten. Deshalb bitte ich jeden, der unseren Antrag gelesen hat und der es als sinnvoll erachtet, daß jede Fraktion in diesem Gremium vertreten ist, aus einem Anspruch auf demokratische Kultur unserem Antrag zuzustimmen.
Ich danke Ihnen.
Zu einer kurzen Erwiderung erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstens. Die Aufgaben des Rundfunkrats des Deutschlandfunks sind im Gesetz festgelegt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11087
MischnickZweitens. Der Rundfunkrat nimmt diese Aufgaben wahr. Daß es dabei unterschiedliche Meinungen gibt, ist nur selbstverständlich.Drittens. Ich weise die Behauptung, daß im Rundfunkrat Einschüchterungsversuche vorgenommen werden, auf das entschiedenste zurück
Viertens. Die aufgestellte Behauptung, ich hätte die vom Kollegen Suhr genannte Sendung kritisiert, ist falsch. Andere Rundfunkratsmitglieder haben diese Sendung zur Diskussion gestellt und kritisiert.Ich danke Ihnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Meine Damen und Herren, bevor wir zur Abstimmung kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren. Die vorliegenden Anträge enthalten jeweils unter Nr. 1 Vorschläge für das Berechnungsverfahren der Stellenanteile der Fraktionen. Unter Nr. 2 der Anträge werden Wahlvorschläge gemacht. Ich lasse heute morgen zunächst über das Berechnungsverfahren, in den Anträgen jeweils unter Nr. 1, abstimmen. Die Wahlen selbst werden als gesonderter Zusatzpunkt nach der Beratung des Punktes 17 der Tagesordnung voraussichtlich gegen 12.30 Uhr durchgeführt.Wir kommen nun zur Abstimmung. Ich rufe die Nr. 1 des Antrages der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/3545 auf. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.Meine Damen und Herren, kann ich nach diesem Ergebnis davon ausgehen, daß sich Abstimmungen über die Nr. 1 der Anträge der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN erübrigen? —
— Ich habe die Zustimmung der Fraktion der SPD. Ich habe nicht die Zustimmung der Fraktion DIE GRÜNEN.Deswegen stelle ich den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zur Abstimmung. Wer diesem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf der Drucksache 10/3558 unter Nr. 1 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Meine Damen und Herren, für die Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates des Deutschlandfunks sind technische Vorbereitungen, Druck der Wahlausweise und Stimmzettel, erforderlich. Ich möchte die Fraktionen bitten, soweit andere als die bereits vorliegenden Wahlvorschläge gemacht werden sollten, mir diese bis 10.30 Uhr mitzuteilen. Sind Sie mit diesem Verfahren einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe nunmehr die Punkte 17 a bis f sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 der Tagesordnung auf:17. a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Europapolitik— Drucksache 10/3152 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschußb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Steger, Roth, Catenhusen, Fischer (Homburg), Grunenberg, Nagel, Stahl (Kempen), Stockleben, Vahlberg, Vosen und der Fraktion der SPDUnterstützung des französischen EG-Memorandums „Eine neue Stufe Europas: ein gemeinsamer Raum für Industrie und Forschung" durch die Bundesregierung— Drucksachen 10/1305, 10/2364 —Berichterstatter:Abgeordnete Lenzer VosenDr.-Ing. Laermann Frau Dr. Bardc) Beratung des Sechsten Berichts und der Empfehlung der Europa-Kommission zur Frage der Einsetzung einer Regierungskonferenz zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union durch den Europäischen Rat in Mailand am 29./30. Juni 1985— Drucksache 10/3420 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschußd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates zur Anwendung des Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Portugiesischen Republik über die Durchführung einer spezifischen Finanzhilfe zur Verbesserung der Agrarstruktur- und der Fischereistrukturen in Portugal— Drucksachen 10/3116 Nr. 8, 10/3424 —Berichterstatter:Abgeordneter Werner
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11088 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Präsident Dr. Jenningere) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Paßgesetzes
— Drucksache 10/3303 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für VerkehrAusschuß für Innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOf) Beratung des fünften Berichts und der Empfehlung der Europa-Kommission zur Frage der rechtzeitigen Einführung des Europa-Passes— Drucksache 10/2400 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Auswärtiger AusschußZusatzpunkt 4:Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Sitzung des Europäischen Rates am 28./29. Juni 1985 in Mailand— Drucksache 10/3564 — Zusatzpunkt 5:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Europapolitik— Drucksache 10/3569 —Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Punkte 17 a bis f und der Zusatzpunkte 4 und 5 der Tagesordnung sowie eine Aussprache von drei Stunden Dauer vorgesehen. — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?— Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das 'Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.
— Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Platz zu nehmen. — Herr Abgeordneter Vogel, ich bitte um Geduld. Ich bin erst bereit, Ihnen das Wort zu erteilen, wenn die Kolleginnen und Kollegen entweder Platz genommen oder den Saal verlassen haben. — Das gilt auch für Abgeordnete der FDP-Fraktion. — Ich bitte, die Unterhaltungen einzustellen. — Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wäre nicht schlecht gewesen, wenn der Herr Bundeskanzler diese Europa-Debatte mit einer Regierungserklärung eingeleitet hätte. Wir hätten nach all dem europapolitischen Hin und Her der letzten Tage und Wochen gerne gehört, mit welchen Absichten Sie, Herr Bundeskanzler, nun eigentlich nach Mailand gehen. Wir wissen, daß es mit Ihrer Richtlinienkompetenz gegenüber Ihren Ministern nicht weit her ist. Aber wir hätten doch gerne erfahren, ob Sie wenigstens für sich selbst eine eigene Richtlinie für diese Verhandlungen haben.
Herr Bundeskanzler, gilt eigentlich all das noch, was Sie früher in bezug auf Mailand gesagt haben? Das waren starke Worte. Sie würden, so sagten Sie z. B. auf Ihrem Parteitag in Essen im März 1985, „in Mailand die Weichen stellen" für den „tatkräftigen Beginn des Baus der Vereinigten Staaten von Europa." Wörtlich fügten Sie hinzu:
Ich
— Helmut Kohl —
bin fest entschlossen ..., einen wesentlichen und entscheidenden Schritt zur politischen Einigung Europas voranzugehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gilt das eigentlich noch? Ich denke dabei vor allem an die Art und Weise Ihrer Europapolitik, an die Strategie, mit der Sie Ihre Ziele erreichen wollen.Was wir Sozialdemokraten wollen, zeigt der von uns vorgelegte Entschließungsantrag. Wir wollen, daß die Europäische Gemeinschaft wieder eine politische Perspektive bekommt und endlich den Blick in die Zukunft richtet.
Wir wollen, daß der Europäische Rat in Mailand das Verfassungsprojekt des Europäischen Parlaments voranbringt und damit beginnt, die Vorschläge des Dooge-Komitees zu verwirklichen. Wir sind für die Herstellung eines umfassenden Binnenmarktes. Wir sind für Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen Währung. Wir wollen eine gemeinsame Agrarpolitik, die eine umweltverträgliche Landbewirtschaftung ermöglicht
und auch den Bauern, vor allem den Familienbetrieben, soziale Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Wir wollen gemeinsame Anstrengungen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit. 13 Millionen Arbeitslose in der Europäischen Gemeinschaft — das ist nicht nur eine nationale Herausforderung, das ist auch eine europäische Herausforderung.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11089
Dr. VogelZu diesem Zweck müssen wir in Europa auf neuen Feldern zusammenarbeiten, etwa auf dem Felde der Technologie.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Europa eine Zukunft haben soll, dann muß es endlich auch zum Europa der Arbeitnehmer und der sozialen Gerechtigkeit werden.
Wir sind ebenso für die Beschränkung des Vetos auf die in den Römischen Verträgen vorgesehenen Fälle. Wir wollen mehr Rechte für das Europäische Parlament. Die nationalen Zuständigkeiten, die wir als Parlament abgeben, dürfen nicht länger allein dem Ministerrat und der Kommission überantwortet bleiben. Sie dürfen nicht in einen parlamentsfreien Raum abwandern. Ein demokratisches Europa kann nicht auf die Dauer mit einem Parlament leben, dessen Befugnisse weit hinter denen der Volksvertretungen des 19. Jahrhunderts zurückbleiben.
Das ist eine anachronistische Entwicklung.Wir wollen auch, daß die Gemeinschaft in Fragen der Außenpolitik und Sicherheitspolitik künftig viel stärker als bisher mit einer Stimme spricht.
Sie sagen, Herr Bundeskanzler — —
— Aber entschuldigen Sie, ich bewundere den Kanzler bei seiner Regierungstätigkeit; das muß mir doch erlaubt sein. —
Sie, Herr Bundeskanzler, sagen bei anderen Gelegenheiten, daß Sie das alles auch wollen. Nun gut. Wenn das so ist, wenn Sie das alles auch wollen, dann besitzen wir in der Bundesrepublik Deutschland in Sachen Europa etwas, wovon andere Staaten und Völker der Gemeinschaft mehr oder weniger weit entfernt sind. Wir besitzen dann nämlich in Sachen Europa einen nationalen Konsens. Dieser nationale Konsens in Sachen Europa könnte der Bundesrepublik auf dem Weg zur Einigung Europas ein besonderes Gewicht geben.Ein nationaler Konsens in Sachen Europa, Herr Bundeskanzler, das ist ein Pfund, mit dem Sie wuchern könnten. Ja, wenn Sie es könnten! Aber Sie können es leider nicht. Im Gegenteil: Selten ist eine so große Chance schon im Vorwege so mutwillig gefährdet worden. Keiner Ihrer Vorgänger hat in so kurzer Zeit so viel europäisches Porzellan so gründlich zerschlagen wie Sie, und das nicht wegen sachlicher Gegensätze, sondern vor allem wegen einer Häufung strategischer und taktischer Fehler
oder, klarer ausgedrückt, aus schlichtem Unvermögen.
Das begann schon mit der Tragikomödie um die Abgaswerte. Herr Zimmermann, Ihr Innenminister, ist dabei mit unseren europäischen Partnern so umgegangen, wie er das mit Ihnen tut oder wie die CSU das in Bayern gewohnt ist: mit großspurigen Ankündigungen, mit Drohungen und halbwahren Behauptungen, auch mit dem Versuch, andere vor vollendete Tatsachen zu stellen. So kann — wie wir beobachtet haben — Ihr Innenminister zwar mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, ungestraft umspringen. Sie sind dann allenfalls erstaunt, wenn Ihnen Ihr eigener Minister öffentlich Führungsschwäche vorwirft. Mit der deutschen Automobilindustrie tut sich Herr Zimmermann da schon etwas schwerer. Die antwortet Herrn Zimmermann so, wie er es verdient. Mit unseren europäischen Partnern ist der Umgang, den Herr Zimmermann pflegt, vollends unmöglich. Die halten nämlich Herrn Strauß und die CSU nicht für den Nabel von Europa.
Diese Partner wissen zu reagieren, wenn Herr Zimmermann ihnen Ultimaten stellt oder wenn er in rüdem Ton Konzessionen verlangt, selber aber eigensinnig jede Konzession in Sachen Tempobeschränkung ablehnt.Da braucht sich niemand zu wundern, daß Sie und Herr Zimmermann mit Ihren Plänen Schiffbruch erleiden, und zwar auch in den Punkten, in denen Sie in der Sache durchaus über gute, ja überzeugende Argumente verfügen.
Dieses Verhalten, Herr Bundeskanzler, hat sich in Ihrem unklaren Hin und Her in der Frage Eureka und/oder SDI fortgesetzt. Warum, Herr Bundeskanzler, unterstützen Sie eigentlich in dieser Frage nicht Ihren eigenen Außenminister? Herr Genscher hat doch seinem französischen Kollegen Dumas am 13. April 1985 in Saarbrücken bei der Eröffnung der Internationalen Saarmesse das Stichwort für einen überaus konstruktiven Vorschlag gegeben. Herr Genscher bemüht sich doch seitdem um eine breite europäische Zustimmung zu Eureka. Er macht doch auch seine vernünftige und berechtigte Distanz gegenüber SDI fast täglich deutlich. Warum lassen Sie ihn allein, statt ihm beizustehen, und so Europa einen großen und wichtigen Schritt nach vorne zu bringen? Sie tun das Gegenteil. Sie lassen Herrn Kollegen Dregger in Washington sagen, die Bundesrepublik müsse eine Vorreiterrolle für SDI spielen und sich notfalls allein an SDI beteiligen.Außerdem: Warum lassen Sie eigentlich zu, Herr Bundeskanzler, daß Ihr Außenminister in den letz-
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11090 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Dr. Vogelten Tagen und Wochen zum Gegenstand immer schärferer und immer härterer Angriffe aus Ihren eigenen Reihen, aus den Reihen der Union wird? Es ist doch ein Alarmzeichen, wenn Herr Kollege Rühe öffentlich seine eigenen Freunde ermahnen muß, nicht über Überschriften zu diskutieren, sondern in der außenpolitischen Kontinuität zu bleiben. Warum, Herr Bundeskanzler, stoßen Sie den französischen Präsidenten durch wolkige und widersprüchliche Äußerungen vor den Kopf und beschädigen so Europa ein weiteres Mal? Selbst Wohlmeinende können bei diesem Durcheinander keine außenpolitische Linie der deutschen Bundesregierung und ihres Kanzlers mehr erkennen.
Die Frage geht allerdings auch an Herrn Kollegen Genscher. Herr Kollege Genscher, wie lange wollen Sie sich eigentlich noch gefallen lassen, daß Sie immer mehr zum Gegenstand auch persönlicher Angriffe werden, und daß Sie an den Rand geschoben werden? Herr Dregger stellt Sie inzwischen j a schon öffentlich zur Rede. Bei der Anberaumung des sogenannten Koalitionsgipfels über die Außenpolitik wird auf Ihre Termine, Herr Kollege Genscher, überhaupt keine Rücksicht mehr genommen. Sie sind offenbar für außenpolitische Gipfelgespräche der Koalition inzwischen entbehrlich oder störend. Darf ich fragen: Haben Sie das alles bei der Wende eigentlich vorausgesehen, oder sind Sie jetzt, Herr Genscher, in dem Netz verfangen, das Sie selbst ausgeworfen haben?
Nicht nur die Opposition, sondern inzwischen auch weite Teile der Öffentlichkeit, j a, Ihre eigenen Anhänger fragen: Wer bestimmt eigentlich die deutsche Außenpolitik? Mit wem, meine Damen und Herren, müssen andere Führungen reden, um herauszufinden, welches die Absichten der deutschen Außenpolitik sind,
mit Ihnen, Herr Genscher, mit Herrn Teltschik, mit Herrn Strauß, mit Herrn Dregger oder vielleicht neuerdings vorsorglich auch mit den Herren Czaja, Huyn und Hupka, um auf diese Weise herauszufinden, was Sie eigentlich wollen?
— Meine Damen und Herren, ich freue mich ja, daß Sie sich wenigstens darüber noch freuen können, denn sonst haben Sie im Moment gar nicht so viel zu lachen.
— Sind Sie fertig, meine Damen und Herren? — Ich möchte Ihnen — wie immer — Gelegenheit zur vollen Entfaltung lassen.
Das ist immer so eindrucksvoll.
— Dieses Durcheinandergeschrei ist auch symptomatisch für Ihre Außenpolitik; die spielt sich genauso ab.
Der vorläufige Höhepunkt des europapolitischen Trauerspiels ist jedoch leider mit dem Getreidepreisveto erreicht worden. Es war schon schlimm genug, daß Sie, Herr Bundeskanzler, seit Monaten Ihren Finanzminister für Einsparungen und europäische Haushaltsdisziplin und Ihren Landwirtschaftsminister gleichzeitig für höhere Agrarausgaben kämpfen ließen.
Aber es ist schlechterdings unverständlich, daß Sie erstmals seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft selber ein deutsches Veto gegen eine Entscheidung des Ministerrats einlegen, während Sie gleichzeitig überall die Rückkehr zum Mehrheitsentscheid fordern. Damit ziehen Sie sich doch selbst den Teppich unter den Füßen weg.
Das sind doch die Fakten: Am 7. Juni sagen Sie bei einem freundlicherweise gegebenen Mittagessen vor dem neuen Monnet-Komitee mit ernster Miene in Anwesenheit hervorragender europäischer Politiker und in Anwesenheit des Herrn Delors, des Präsidenten der EG-Kommission, wörtlich:Wir wollen institutionelle Reformen, insbesondere die Rückkehr zu den Mehrheitsregeln der Römischen Verträge.Fünf Tage später, am 12. Juni, legt Herr Kiechle in Ihrem Auftrag das erste deutsche Veto in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft ein.Und morgen wollen Sie diejenigen, gegen die Sie das Veto angewandt haben, dafür gewinnen, das Veto abzuschaffen. Das alles veranstalten Sie in dem Zeitraum, in dem die Süderweiterung wirksam wird, in dem Europa am Scheideweg steht, in dem das neue Monnet-Komitee ins Leben getreten ist und mit vielen verantwortungsbewußten Kräften in allen Ländern der Gemeinschaft darauf drängt, daß endlich konkrete Schritte von der Gemeinschaft zur Union getan werden. Herr Bundeskanzler, ich muß Ihnen vorhalten: Einen schlimmeren Schlag gegen die europäische Einigung als das, was da geschehen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11091
Dr. Vogelist, hätte sich der entschiedenste Antieuropäer nicht ausdenken können.
Warum tun Sie das eigentlich? Sie sagen, die Senkung der Getreidepreise um 0,9 % hätte gegen die vitalen Interessen der deutschen Nation und unseres Volkes verstoßen, 0,9 % gegen die vitalen Interessen unserer Nation!
Herr Bundeskanzler, das ist doch ein Märchen! 0,9 % der Getreideeinnahmen — also etwa 50 Millionen DM — sind doch selbst für die deutsche Landwirtschaft eher eine Marginalie.
Diese Summe hätte für die Familienbetriebe, die dadurch wirklich in Schwierigkeit geraten, im äußersten Fall auch national aufgebracht werden können.
Bei den 20 Milliarden DM, die für die Landwirtschaft für die Jahre bis 1991 zusätzlich bewilligt worden sind, wäre es doch darauf auch nicht mehr angekommen, wenn man damit das Veto hätte vermeiden können.
— Regen Sie sich doch nicht so auf! Dieses dauernde Geschrei ist doch ganz unbekömmlich. Ich bitte Sie.
Außerdem, Ihr Veto, Herr Bundeskanzler, bewegt doch gar nichts. — Die Kommission hat doch inzwischen genau die Preisregelungen wirksam werden lassen, die Sie mit Ihrem Veto verhindern wollten. Schlimmer noch — das muß man den deutschen Bauern sagen —: Ohne Ihr Veto wäre nur eine Senkung um 0,9 % möglich gewesen.
Jetzt beträgt die Senkung 1,8 %.
Die angebotene Verkürzung der Zahlungszeit von 120 auf 60 Tage unterbleibt ebenso wie die Verlängerung der Übergangsvergütung und die Festlegung der Anfangsintervention. Herr Bundeskanzler, Sie haben nicht nur die Europapolitik, sondern zu allem Überfluß auch noch die Bauern geschädigt. Was soll den eigentlich das Ganze? Hat in Ihrem Kanzleramt eigentlich überhaupt noch jemand Überblick über die Zusammenhänge und Wirkungen?
Sie reden — Sie werden das heute neuerlich begründen, nehme ich an — vom vitalen Interesse der Nation, des deutschen Volkes, also von Lebensinteressen des deutschen Volkes an diesem Veto. Herr Bundeskanzler, in Wahrheit geht es doch gar nicht um die Interessen des deutschen Volkes. Es geht einzig und allein um Ihre höchstpersönlichen Interessen, nämlich um Ihr Interesse am politischen Überleben. Deswegen wurde das Veto eingelegt.
Es geht darum, daß Sie die Drohungen des Herrn Strauß fürchten, daß Sie Angst haben, bei den Bauern Wählerstimmen zu verlieren. Das sind die wahren Motive, die Sie mühsam zu bemänteln versuchen.Wenn Sie uns nicht glauben wollen, dann hören Sie doch wenigstens auf Ihre FDP-Minister, die sogleich geflissentlich unter die Leute gebracht haben, sie hätten Sie vor dem Veto gewarnt. Ich hoffe, die Herren stehen auch hier bei der Debatte zu dieser Warnung. Oder hören Sie auf den von Ihnen sehr geschätzten Grafen Lambsdorff, der zwar nicht vor dem Untersuchungsausschuß in Mainz, aber in einem Interview gesagt hat,
das Veto sei eine traurige Veranstaltung, das die europäischen Sitten verderbe. Setzen Sie sich doch bitte mit diesen Herren auseinander!
Herr Bundeskanzler, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, die vitalen Interessen der Nation gebieten genau das Gegenteil von dem, was Sie getan haben. Unsere Interessen erfordern, die Bundesrepublik nicht in die europäische Isolation zu treiben. Unsere Interessen erfordern, daß Sie auch als Bundeskanzler die Kraft aufbringen, parteitaktische Überlegungen hintanzustellen, und daß Sie an der großen europäischen Linie festhalten.
Mit dem Veto haben Sie den europäischen, haben Sie den deutschen Interessen nicht gedient. Mit dem Veto haben Sie elementar gegen die deutschen und die europäischen Interessen verstoßen. Es muß Ihnen doch zu denken geben, daß Sie sich gerade durch diesen Schritt zur Zielscheibe einer für die ganze Bundesrepublik alarmierenden internationalen, insbesondere europäischen Kritik gemacht haben. Werden Ihnen denn keine ausländischen Zeitungen vorgelegt? Da schreibt z. B. die „Libération" am 13. Juni: Kohl, als Bundeskanzler weithin diskreditiert, fürchtet jetzt jede unpopuläre Entscheidung. Der „Figaro", auf den Sie sich auch öfters berufen, redet am gleichen Tag im Zusammenhang mit der von Ihnen geführten Bundesregierung von Balkanisierung der Politik. „Le Monde", schließlich ein ernstzunehmendes internationales Blatt, be-
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11092 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Dr. Vogelscheinigt Ihnen zum Agrarveto die Fadenscheinigkeit des angegebenen Grundes.
Übrigens dieselbe „Le Monde", die nach Ihrem Treffen mit dem Staatspräsident Mitterrand am Bodensee am 28. Mai dieses Jahres von Amateurismus sprach, der sich in Bonn breitmache, und vielsagend die Frage stellte, ob Sie, Herr Bundeskanzler, drauf und dran seien, Ihren Ruf als Provinzpolitiker zu bestätigen; so „Le Monde", ich zitiere.Wollten wir, Herr Bundeskanzler, die Dinge genauso parteitaktisch sehen wie Sie, dann könnten wir uns als Opposition die Hände reiben und darüber freuen,
daß der Regierungschef nicht nur im Inland, sondern jetzt auch im Ausland rapide an Resonanz verliert. Wir könnten uns auch darüber die Hände reiben, daß Herr Strauß Sie gestern international desavouiert, indem er Ihnen brieflich die drohende Warnung zugehen läßt, Sie möchten endlich Ihre eigenen Minister bei den internationalen europäischen Verhandlungen unterstützen; ein Vorgang, der tatsächlich seinesgleichen sucht,
aber Sie offenbar nur zum Erstaunen bringt.Aber, meine Damen und Herren, wir freuen uns gar nicht. Denn es ist nicht nur Ihr eigenes Ansehen, um das es geht. Es ist das Ansehen der Bundesrepublik, das Sie durch diese Machart von Politik verspielen. Es ist das deutsche Vertrauenskapital, das Ihre Vorgänger in Jahrzehnten in Europa angesammelt haben,
ein Vertrauenskapital, das Sie immer rascher verwirtschaften.Noch haben Sie eine Chance, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Noch können Sie die größten Fehler korrigieren. Wenn Mailand scheitert und wenn es an dieser Art Ihrer Politik in der Vorbereitungsphase scheitert, dann wird die Reparatur kaum mehr möglich sein. Deshalb schlagen wir vor:Erstens. Bringen Sie bitte das Verhältnis zu Frankreich in Ordnung!
Der sorgenvolle Brief, den Ihr Amtsvorgänger deshalb an Sie gerichtet hat, ist ein Alarmzeichen ersten Ranges. Dieser Brief, dieses Alarmzeichen verdient größte Aufmerksamkeit. Warum setzen Sie sich eigentlich nicht mit Helmut Schmidt zusammen und nutzen seine Erfahrung auf dem Gebietder deutsch-französischen Beziehungen? Hier geht es wirklich um nationale Interessen.
Für uns Sozialdemokraten ist die deutsch-französische Zusammenarbeit — ich meine, nicht nur für uns, sondern für uns alle — ein Kernstück unserer Europapolitik, nein, unserer Außenpolitik überhaupt,
und zwar ganz ohne Rücksicht auf die parteipolitische Zugehörigkeit der jeweiligen Führungspersonen. Eine Beschädigung des deutsch-französischen Verhältnisses wäre eine der schwersten Rückschläge für die Außenpolitik der Bundesrepublik seit 1949.
Zweitens. Wir raten und wir bitten Sie: Nehmen Sie in Mailand das Veto vom Tisch! Akzeptieren Sie den 0,9-%-Vorschlag der italienischen Präsidentschaft, vorausgesetzt, die anderen sind überhaupt noch bereit, auf den 0,9-%-Vorschlag zurückzukommen! Unterstützen Sie die Gemeinschaft bei der Reform der Agrarpolitik! Die Kommission tut doch auf diesem Gebiet nur das, was Sie selber in Stuttgart gefordert haben und damals als großen Erfolg bezeichnet haben.
Stellen Sie sich doch nicht gegen eine Kommission, die endlich europäisch zu handeln beginnt! Wir versichern diese Kommission und insbesondere den Präsidenten Delors unserer vollen Unterstützung.
Drittens. Kündigen Sie die Einführung einer Tempobeschränkung an, um auf diese Weise doch noch ein Einlenken — —
— Meine Damen und Herren, werden Sie sich erst einmal selber einig, was Sie wollen! Herr Kiechle spricht ja schon von der Notwendigkeit einer Tempobeschränkung. — Kündigen Sie bitte möglichst rasch, am besten heute noch, die Einführung einer Tempobeschränkung an, um auf diese Weise doch noch ein Einlenken der Partner in Richtung auf die amerikanischen Abgaswerte zumindest für Kraftfahrzeuge mit Hubräumen zwischen 1,41 und 2,01 zu erreichen. Herr Bundeskanzler, das ist schon deswegen notwendig, weil Sie am 1. Juli, nächste Woche, ein Steuergesetz in Kraft treten lassen wollen, das Milliarden an Kraftfahrzeughalter vergütet, ohne daß damit eine nennenswerte Senkung der Abgaswerte verbunden ist.
Dr. VogelSie steuern doch hier die Länder in ein finanzielles Abenteuer hinein.
Viertens. Werden Sie in der Frage der europäischen Währung konkret!
Die Abhängigkeit Europas vom Dollar ist nicht naturgegeben. Die Abhängigkeit vom Dollar ist selbstverschuldet; sie kann schrittweise gelockert werden. Folgen Sie den Empfehlungen, die Ihnen wiederum das neue Monnet-Komitee ganz konkret und einstimmig gegeben hat!
Fünftens. Drängen Sie auf institutionelle Fortschritte auf der Grundlage des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments und des DoogeBerichts! Drängen Sie auf ein klares Mandat für diejenigen, die die konkreten Einzelheiten aushandeln sollen! Wenn Sie Ihr eigenes Veto vom Tisch nehmen, können Sie einem solchen Mandat auch dann zustimmen, wenn sich zwei oder drei Mitglieder der Gemeinschaft dazu jetzt noch nicht imstande sehen.Ich bin mir der Tragweite dieser Aussage durchaus bewußt. In Kenntnis der Tragweite füge ich hinzu: Ich sichere Ihnen für eine solche Entscheidung ausdrücklich die Unterstützung der Opposition zu.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, das Europa der Gemeinschaft umfaßt nach dem Beitritt Spaniens und Portugals 320 Millionen Menschen. Sein Wirtschaftspotential ist größer als das der USA oder der Sowjetunion. Europa hat unverändert eine weltumspannende Aufgabe. Europa kann, gestützt auf die Erfahrungen seiner 2000jährigen Geschichte, ausgleichend und mäßigend auf die weltpolitische Entwicklung einwirken. Europa kann helfen, Hunger und Elend zu überwinden. Europa kann Konfrontationen mildern und Zusammenarbeit voranbringen. Ein Europa, das mit diesen Zielen Ernst macht, das endlich den befreienden Schritt von der Gemeinschaft zur Union tut, ein solches Europa würde der ganzen Welt ein Stück Hoffnung und ein Stück Mut geben.
Ein solches Europa würde auch — ich erinnere an die späten 40er und an die frühen 50er Jahre — unsere eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger aufs neue faszinieren und mit Selbstvertrauen erfüllen. Es zu verwirklichen ist deshalb auch eine Aufgabe der geistigen Führung, von der Sie allerdings in letzter Zeit aus guten Gründen kaum mehr reden.Herr Bundeskanzler, Sie sind noch einmal gefordert. Vielleicht ist Mailand eine Ihrer letzten Chancen, auf dem Gebiet der Europapolitik den Anforderungen Ihres Amtes und den Interessen unserer Republik gerecht zu werden.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, ich denke, Sie verstehen, daß ich Ihnen sage, daß der Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union, wenn Sie in Ihrer Schlußbemerkung von den späten 40er und den beginnenden 50er Jahren in der Europapolitik sprechen, ganz gewiß keines Nachhilfeunterrichts von einem Sozialdemokraten bedarf.
Sie haben j a in jenen entscheidenden Jahren des Durchbruchs der Europa-Idee, in den Jahren, als von Winston Churchill, von Alcide de Gasperi, von Robert Schuman, von Paul Henri Spaak und von Konrad Adenauer
die Grundfesten dieses Europa gelegt wurden, in diesem Hause nahezu gegen alles gestimmt.
Es ist doch absurd, daß Sie uns heute belehren wollen, wie man Europapolitik macht.
Es lohnt sich eigentlich nicht, weiter auf diese Ausführungen einzugehen, aber ein Zweites ist schon beachtlich: wie Sie unser Gedächtnis glauben strapazieren zu können. Sie reden von der deutschfranzösischen Freundschaft, Sie reden davon, ich solle mein Verhältnis zum französischen Präsidenten in Ordnung bringen. Verehrter Herr Kollege Vogel, zu keiner Zeit hat es ein französischer Präsident früher für nötig befunden, in den Deutschen Bundestag zu kommen und das deutsche Parlament zu ermahnen, geschlossen die Sicherheit der Gemeinschaft, die Sicherheit der NATO, die Sicherheit des Westens gegen sowjetische Hegemonie zu verteidigen. Das hat doch Herr Mitterrand hier von dieser Stelle aus wegen des totalen Umfalls der deutschen Sozialdemokraten in der Sicherheitspolitik getan.
Ich sehe doch noch heute die erstarrten Gesichter der Kollegen Brandt und Vogel vor mir, als Präsident Mitterrand hier mit klarer Stimme und mit deutlichen Formulierungen ihnen ins Stammbuch geschrieben hat,
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11094 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Bundeskanzler Dr. Kohldaß sie in der entscheidenden Frage von Frieden und Sicherheit versagt haben. Das ist doch die Lage.
Herr Abgeordneter Vogel, was haben Sie denn in den 13 Jahren Ihrer Regierungszeit getan, um die Dinge in Europa voranzubringen?
— Sie haben nichts getan. Alles das, was heute unsere Probleme ausmacht, haben Sie uns doch in einem Scherbenberg Ihrer Politik hinterlassen. Das ist doch die Erfahrung, die wir gemacht haben.
Welchen Beitrag haben Sie denn dazu geleistet,
um eines der wichtigsten Probleme zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, nämlich den Grenzausgleich, zu beseitigen? — Sie haben nichts getan.
Außer allgemeinen Reden war Ihre Politik wirklich ein totaler Ausfall.
Meine Damen und Herren, weil Sie meinen Herrn Amtsvorgänger hier angesprochen haben: Alles das, was er jetzt in seinem Brief geschrieben hat, was er auch sonst an Ratschlägen zu Ökonomie und zur Weltpolitik gibt,
hätte er doch in den Jahren von 1974 bis 1982 als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland selbst tun können.
Er hat es doch gar nicht getan.Meine Damen und Herren, es lohnt sich nicht, weiter darauf einzugehen.
Nur ein Letztes! Seien Sie versichert: Diese Koalition wird die Europapolitik, die sie für richtig hält,fortsetzen. Sie steht dabei in einer großen Tradition;denn es war eine Koalition von FDP, CSU und CDU,
die in den entscheidenden 50er Jahren und in den 60er Jahren diese Politik in Deutschland durchgesetzt hat.
Meine Damen und Herren, ich kann dazu nur sagen: Es gibt weder zwischen dem Kollegen Bangemann noch dem Kollegen Strauß, noch dem Kollegen Genscher, noch natürlich auch meiner eigenen Überzeugung irgendeine Differenz in diesen Fragen.
Konstruieren Sie doch nicht Dinge, die abwegig sind.
Zusammengefaßt und sehr knapp in dieser Erwiderung zu dem, was sie sagten: Das, was ich in meiner ersten Regierungserklärung nach der Wahl zum Kanzler im Oktober 1982 zur Europapolitik gesagt habe, was ich nach der Wiederwahl nach der Bundestagswahl am 6. März 1983 wiederholt habe, gilt ganz selbstverständlich. Und, Herr Abgeordneter Vogel, es gilt selbstverständlich auch das, was ich in meiner Parteitagsrede gesagt habe.
Das ist ja, Herr Abgeordneter Ehmke, der Unterschied zwischen uns. Wenn wir in der CDU einen Parteitagsbeschluß fassen, dann fallen wir nicht um, um mit den GRÜNEN Geschäfte zu machen, wie das bei Ihnen selbstverständlich Tagespolitik geworden ist.
Meine Damen und Herren, morgen und übermorgen werden wir in Mailand zusammentreffen, um die Chance wahrzunehmen, Weichen für die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft zu stellen. Bei aller Bedeutsamkeit der Detailfragen, die in Mailand anstehen, sind wir uns alle — so glaube ich — darüber im klaren, daß es in Mailand um mehr geht als um den üblichen EG-Gipfel. Es geht um die Herausforderung einer Weichenstellung, die sehr weit in die Zukunft weist.
Wir haben in diesem Jahr zurückgeblickt. Wir haben in diesem Jahr eine Reihe von belasteten und schwierigen Erinnerungsdaten aus der deutschen Geschichte.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11095
Bundeskanzler Dr. KohlAuf die Zeit vor 40 Jahren — — Herr Kollege Ehmke, ich weiß, daß es Sie schwer angeht, einem anderen zuzuhören. Aber das Wesen des Parlaments besteht eben darin.
Wir werden uns gerade auch aus der Erfahrung dieses Jahres — im Blick zurück auf das Jahr 1945 — in Mailand alle bewußt sein, daß die europäische Initiative, die die Gründerväter des neuen Europa nach dem Inferno des Zweiten Weltkrieges ergriffen haben,
von uns, der nachfolgenden Generation, fortgesetzt werden muß.Wir sind uns dabei alle darüber im klaren — ich will das auch hier noch einmal wiederholen —, daß das, was jetzt in der Europäischen Gemeinschaft möglich ist, leider nur für einen Teil Europas möglich ist, daß nur der freie Teil Europas die Chance hat, sich zusammenzuschließen mit der Vision des Baus der Vereinigten Staaten von Europa.Wir sind uns aber auch darüber im klaren, daß wir bei all dem, was wir tun, mitdenken und mithandeln müssen für jene, die aus einer sehr unterschiedlichen Lage heraus jetzt nicht zur EG kommen können, etwa bei uns in Westeuropa unsere Nachbarländer Schweiz und Österreich. Das sind natürlich europäische Kernlandschaften. Das gilt für alle europäischen Länder jenseits des Eisernen Vorhangs. Das gilt für Warschau wie für Prag, das gilt für Bukarest wie für Budapest, und das gilt natürlich in einer ganz besonderen Weise für unsere Landsleute in der DDR.Aber wir wissen auch, daß wir, gerade weil wir die Chance haben, als Freie in Europa entscheiden zu können, jetzt diese Chance wahrnehmen müssen. Es gibt für mich überhaupt keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die Länder der Gemeinschaft — dies gilt insbesondere auch für die erweiterte Gemeinschaft nach dem 1. Januar 1986, wenn Spanien und Portugal hinzutreten, diese Kraft in sich tragen.Aber um dieses Ziel erreichen zu können, müssen wir jetzt auch den Mut, auch die Bereitschaft zum offenen Gespräch und zur Wahrheitsfindung aufbringen, um die notwendigen Schritte einzuleiten.
Ich lasse mich dabei von dem Gedanken leiten, daß es der Beitrag der deutschen Politik sein muß, ohne große taktische Rücksichtnahmen in diesem Moment vor allem deutlich zu machen, wohin wir gehen, wohin wir zu gehen beabsichtigen.
Wir werden in einer Reihe von Punkten Dinge vorschlagen, die — das ist meine persönliche Überzeugung — nicht von allen Teilnehmern akzeptiert werden können, zumindest zur jetzigen Stunde nicht. Aber mir scheint, es ist wichtig, daß jetzt die Diskussion wirklich in den Kernpunkten aufbricht und daß wir die Zeit in den vor uns liegenden Monaten nutzen, auch in der Amtszeit des jetzigen Europäischen Parlaments,
Fehlentwicklungen abzustellen und neue Möglichkeiten zu schaffen.Das heißt, um es gleich vorweg zu sagen — Sie alle kennen den Dooge-Bericht —, daß wir bereit sind, einer Regierungskommission unsere Zustimmung zu geben, unter der Voraussetzung, daß das sozusagen für Mailand der letzte Beschlußpunkt ist und das Mandat, d. h. der Inhalt dessen, was die Regierungskommission behandeln, verhandeln und vorlegen soll, klar umrissen ist und auch eine Zeittafel mit beschlossen wird. Diese Regierungskommission darf nicht dazu führen, daß Probleme vertagt werden, sondern es müssen konkrete Aufträge mit einer klaren Zeitmaßgabe an diese Kommission gegeben werden.
— Herr Abgeordneter Vogel, was soll das denn? Ich bin jetzt gerade dabei, die Gedanken zu entwickeln, und Sie sitzen wirklich nach Art eines Pennälers da und rufen dauernd „Welche?". Wenn das Ihr Beitrag zur europäischen Integrationspolitik ist, dann sieht man doch, wie wenig Sie beizusteuern haben. Das ist doch eine absurde Vorstellung.
Die nächste Frage, um die es uns gehen muß, betrifft die Entwicklung der Institutionen. Einer dieser Punkte beinhaltet die Frage nach der Rückkehr zu den Verträgen. Das ist für uns ganz eindeutig und klar. Ich möchte aber ein Stück weitergehen und sagen: Wir sind auch bereit — ich will das gleich im einzelnen darlegen —, über den jetzt bestehenden Vertrag hinaus Vertragsänderungen vorzunehmen.
Dazu gehört natürlich auch die Rückkehr zu den Mehrheitsregeln der Verträge und die Reform der Entscheidungsverfahren.Ich finde es schon sehr eigenartig, daß Sie aus der internationalen Presse ausgerechnet jene zitiert haben, die den Luxemburger Kompromiß in die europäische Landschaft eingeführt haben.
Es ist schon eine eigenartige Sache, daß diejenigen, die eine solche Rechtsposition ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, andere kritisieren, die dann auch einmal in einer konkreten Notsituation das gleiche Recht für sich in Anspruch genommen haben.
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11096 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Bundeskanzler Dr. KohlMeine Damen und Herren, ohne alle Umschweife stehe ich selbstverständlich zu dem, was ich in einer Richtlinienentscheidung, Herr Kollege Vogel, am 11. Juni dem Kollegen Kiechle in der Frage der Getreidepreisverhandlungen mit auf den Weg gegeben habe. Die Art und Weise, wie Sie die Dinge dargestellt haben, zeigt, daß Sie wirklich auch nicht die Spur einer Ahnung von der Situation der deutschen Bauern haben.
Es ist doch schlicht und einfach eine Heuchelei, wenn man dem Landwirtschaftsminister und mir den Vorwurf macht,
wir seien nicht bereit,
die nötige Güterabwägung vorzunehmen. Meine Damen und Herren, ich kenne keine Gruppe in der deutschen Gesellschaft, der in den letzten zwei Jahren derartige Einkommenseinbußen zugemutet wurden wie den deutschen Bauern.
Ich füge ein weiteres hinzu. Hier geht es doch nicht nur um die sozialpolitische Seite, um die Einkommensseite, was nun ganz gewiß sehr bedeutsam ist, hier geht es doch auch darum, ob sich ein Bürger in der Bundesrepublik Deutschland — in diesem Fall ganz konkret ein Bauer in seinem Familienbetrieb — auf das Wort seines Staates verlassen kann. Wir dürfen doch nicht die deutschen Bauern dafür verantwortlich machen, daß sie zwei Jahrzehnte lang im Agrarbereich in eine Überproduktion getrieben wurden
aus einem Fehlverständnis europäischer Agrarpolitik. Wir wollen das ändern, wir haben das in Stuttgart auf meinen Vorschlag hin beschlossen. Wir werden die notwendigen Vorschläge im nationalen Bereich in den nächsten zwölf Monaten dem Deutschen Bundestag vorlegen. Aber kann es doch nicht so sein, daß die deutschen Bauern innerhalb eines Vierteljahres von der einen Richtung in die andere gejagt werden und allein die Lastesel bei der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft sind; darum geht es doch in Wahrheit.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie haben sich offenkundig nie mit dem Thema beschäftigt.
Ich habe auf dem Gipfel in Fontainebleau in einem wichtigen anderen agrarischen Bereich, am Beispiel des Weinbaus in der Bundesrepublik, die Probleme dargelegt. Wir haben uns damals zu einer Übergangslösung — etwa bei Tafelwein — bereit erklärt, und wir haben sie auch bis zum Jahre 1990 bekommen, damit sich unsere Winzerbetriebe in dieser Zeit umstellen können. Das ist doch unter strukturpolitischen Gesichtspunkten eine völlignormale, eine politisch ganz ausgewogene Entscheidung.
Genau das wollen wir natürlich auch im Blick auf die jetzige Getreidepreissituation. Im übrigen mutet mich Ihr Einwand auch deswegen seltsam an, weil ich doch im Blick auf das umweltfreundliche Auto aus Ihrem Lager dauernd gehört habe, wir müßten hier mit äußerster Härte gegen die Kommission vorgehen. Das ist doch schlicht und einfach in sich widersprüchlich. Wir müßten übrigens — auch das ist ein weites Feld — über diese Frage heute gar nicht mehr diskutieren, hätten Sie 1972 und 1974 die Entwicklungen in Japan und den USA nicht schlicht verschlafen. Wären Sie nicht zu feige gewesen, den deutschen Wählern und Autofahrern das zuzumuten, was wir ihnen heute zumuten müssen, dann wären wir in dieser Frage doch sehr viel weitergekommen.
Meine Damen und Herren, für uns ist folgendes klar, und ich unterstreiche das, was in dem Entschließungsantrag der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion niedergeschrieben ist. Wir sind erstens zur Rückkehr zum Vertrag bereit. Das ist für uns kein allgemeines Bekenntnis, sondern, Herr Abgeordneter Ehmke, wir sind auch bereit, die geltenden Vertragsregeln, was Mehrheitsabstimmung und Einstimmigkeit betrifft, zu ändern. Wir werden in Mailand entsprechende Vorschläge vorlegen. Ich hoffe nur, daß diese Vorschläge von anderen hinreichend unterstützt und auch bei der Abstimmung akzeptiert werden.
Zweitens, meine Damen und Herren, sind wir bereit, darüber hinaus im Sinne dessen, was unsere Europapolitik von Stuttgart über Fontainebleau ausgemacht hat, die notwendigen Entscheidungen auch in allen anderen Bereichen zu treffen.Wir haben, meine Damen und Herren, in Stuttgart ein Paket geschnürt, das eine wesentliche Vorwärtsentwicklung der Gemeinschaft ermöglicht hat. Wir konnten dann das, was in Stuttgart begonnen wurde, in Fontainebleau unter dem Vorsitz von Staatspräsident Mitterand erfolgreich abschließen.
Wir haben damals beschlossen, in der gemeinsamen Agrarpolitik Ernst zu machen und das Prinzip unbegrenzter Preis- und Abnahmegarantien einzuschränken. Dieser Schritt zur Kostendämpfung war doch unerläßlich, weil jeder von uns weiß, daß eine Fortsetzung der bisherigen Agrarpolitik nicht mehr finanzierbar war. Wir haben in diesem Zusammenhang auch auf die Interessen unserer Bauern zu achten, genau wie François Mitterand auf die Interessen französischer Bauern achtet. Das ist kein Gegensatz zur europäischen Idee.Der zweite wichtige Schritt, den wir in Stuttgart begonnen haben und in Fontainebleau weiter vor-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11097
Bundeskanzler Dr. Kohlantrieben, war die Konsolidierung der Finanzverfassung der Gemeinschaft. Mit den Leitlinien zur Haushaltsdisziplin hat der Rat jetzt die Möglichkeit, mit den vorhandenen Mitteln wesentlich besser auszukommen. Herr Abgeordneter Vogel, wir waren es, die Deutschen und nicht zuletzt ich, die einen ganz wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, einen Zankapfel vom Tisch zu bringen, der die Gemeinschaft jahrelang belastet hat, nämlich die Frage der Haushaltsentlastung für Großbritannien.Wir haben ein weiteres getan. Es war die Bundesrepublik Deutschland, und es war diese Bundesregierung, die durch ihr entschiedenes Eintreten den Beitritt von Spanien und Portugal vorangetrieben und durch Verknüpfung mit der Erhöhung des Mehrwertsteueranteils ab 1. Januar 1986 von 1 auf 1,4 % die Beitrittsmöglichkeiten wesentlich verbessert hat.
Wer die Brüsseler Diskussion aufmerksam verfolgt hat, der weiß, daß ohne unser entschiedenes und manchmal auch nur schwer durchsetzbares Einstehen für das Zusammenkoppeln von Erhöhung des Mehrwertsteueranteils und Beitritt — das behaupte ich hier vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit — der Beitritt von Spanien und Portugal zum 1. Januar 1986 nicht möglich gewesen wäre.
Meine Damen und Herren, ich habe immer die Meinung vertreten, daß das Wort, das Demokraten — übrigens auch alle demokratischen deutschen Parteien — Spanien und Portugal gegeben haben, nämlich daß Sie nach der Abkehr von Diktatur und autoritärem Regime der Gemeinschaft beitreten können, ein wichtiges Versprechen war. Ich bin dankbar dafür, daß es nach vielerlei schwierigen Debatten möglich war, dieses Versprechen einzulösen.Auf dem Stuttgarter Gipfel 1983, Herr Abgeordneter Vogel, haben wir die feierliche Deklaration zur Europäischen Union verabschiedet, Das war eine deutsch-italienische Initiative, verknüpft mit den Namen von Hans-Dietrich Genscher und seinem damaligen italienischen Kollegen Colombo. Das war der erste wesentliche Schritt nach vorn. Er zeigte, daß sich die Deutschen, die italienischen Kollegen und auch viele andere, vor allem aus den Gründerstaaten der EG, mit dem jetzigen Zustand nicht abfinden — einem Zustand, in dem einige, um es deutlich auszusprechen, die EG als eine Art gehobene Freihandelszone betrachten. Wir wollen aber weitergehen, wir wollen zur politischen Einigung in Europa kommen. Wir bleiben bei dieser Vision der politischen Einigung Europas. In der Folge dessen, was wir in Suttgart beschlossen haben, war es dann auf Grund einer gemeinsamen Initiative von Präsident Mitterand und mir möglich, 1984 in Fontainebleau einen Ad-hoc-Ausschuß für institutionelle Fragen mit persönlichen Vertretern der Staats- und Regierungschefs einzusetzen. Diese sogenannte Dooge-Kommission hat dann im März ihren Bericht mit sehr weitreichenden Beschlußvorschlägen vorgelegt.Herr Abgeordneter Vogel, es war mein Antrag, daß Mailand diesen Kommissionsbericht zum Hauptpunkt der Tagesordnung macht, und wir werden dort sehr intensiv darüber zu beraten haben.Und ich füge hinzu: Es ist wichtig, daß wir über das bisher Gesagte hinaus auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik Schritte unternehmen, um weiterzukommen, um eine politische Einigung Europas auf den Weg zu bringen.Wir haben in diesem Sinn in intensiven bilateralen Gesprächen mit den Benelux-Ländern, mit Großbritannien, vor allem mit dem Ratsvorsitzenden Italien und mit unseren französischen Freunden an einem Vertrag gearbeitet. Dieser Vertrag über eine Europäische Union wird in Mailand vorgelegt: nach dem Sachstand dieser Stunde entweder vom Ratsvorsitz oder — das wird sich im Lauf des heutigen Tages entscheiden — als ein deutschfranzösischer Vorschlag, woraus Sie wiederum erkennen können, Herr Abgeordneter Vogel, wie abwegig Ihre Vorstellungen über den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen sind. Ich kann übrigens nachtragen: Wenn Sie wenigstens die Tageszeitung gelesen hätten, hätten Sie erkannt, daß gestern die Außenminister Frankreichs und der Bundesrepublik und die beiden Verteidigungsminister sich zu einer Reihe von sicherheitspolitischen und anderen Fragen geäußert haben, wobei wiederum eine völlige Übereinstimmung deutlich wurde.
Dieser vorzulegende Vertrag über eine Europäische Union ist - das weiß ich — ein ehrgeiziger Ansatz. Ich kann zur Stunde wirklich nicht sagen, ob diejenigen, die bereit sind, mitzugehen, bereits die Mehrheit sind. Ich muß hier einfach aus Gründen der Fairneß mitteilen, daß diese Diskussion sehr schwierig wird. Ich füge hinzu: Wenn ein solcher Vertrag dann etwa an die Regierungskommission überwiesen wird und sich am Ende herausstellt, daß es keine Möglichkeit gibt, in diesem Punkt ein wesentliches Stück voranzukommen — und zwar in einer sehr absehbaren Zeit, von mir aus vor Ablauf der nächsten zwölf Monate —, stellt sich für uns in der Tat die Frage, ob wir mit Blick auf die politische Integration innerhalb der Gemeinschaft mit jenen noch direktere Gespräche aufnehmen müssen, die bereit sind, einen Schritt weiter zu gehen, als es jetzt in der EG insgesamt möglich erscheint. Ich habe das, wie Sie bemerkt haben, sehr vorsichtig umschrieben. Ich will damit aber eines deutlich machen: Wir können beim jetzigen Ansatz nicht stehen bleiben.
Ein weiteres wichtiges Ziel der Bundesregierung ist in Mailand das, was ich die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Bereich der EPZ genannt habe. Es ist für uns ganz einfach eine Kernfrage — ich unterstreiche das noch einmal —, inwieweit Europa und damit die Bundesrepublik Deutschland als ein Kernbereich Europas in der Lage ist, mit einer einzigen Stimme zu den wichtigen Fragen unserer Zeit zu sprechen. Ich bin voller
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11098 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Bundeskanzler Dr. KohlZweifel, ob wir dies jetzt schon erreichen können. Aber ich füge hinzu: Es ist überfällig,
daß der Versuch unternommen wird. Ich bin der Auffassung, daß es sehr nützlich sein wird, dann, wenn die Mailänder Diskussion vorbei ist, bei nächster Gelegenheit nach der Sommerpause über diese Frage noch einmal eine breite Diskussion hier im Hohen Hause zu führen.Wir haben die Absicht, in Mailand ganz entschieden für eine Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments einzutreten. Ich glaube, es gibt zu diesem Punkt hier kaum Kontroversen. Ich halte es für ganz undenkbar, daß wir beim nächsten Wahlgang zum Europäischen Parlament, bei dem wir die Bürger Europas auffordern, in freier, geheimer und direkter Wahl zur Wahlurne zu gehen, das Parlament, was seine Kompetenzen betrifft, in dem gleichen Zustand sehen, wie wir ihn heute feststellen müssen.
Ich halte das für gänzlich ausgeschlossen.Ich muß auch hier aus Gründen der Ehrlichkeit sagen, daß die Möglichkeiten, in Mailand einen wesentlichen Schritt voranzukommen, eher skeptisch beurteilt werden müssen. Wir — die Bundesregierung für die Bundesrepublik Deutschland — sind bereit, hier ganz wesentliche Schritte zu tun, zumal da wir bei näherem Betrachten j a alle entdecken, daß es heute im Feld der EG-Politik eine ganze Reihe von Entwicklungen gibt, die inzwischen außerhalb jeglicher parlametarischer Kontrolle stattfinden. Wir haben hier die an sich unerträgliche Situation, daß etwa bei bestimmten Assoziierungsverträgen, die tief in die nationalen Kompetenzen und die nationale Situation eingreifen, die nationalen Parlamente nicht mehr zuständig sind und das Europäische Parlament noch nicht zuständig ist. Das ist beispielsweise ein klassisches Feld, wo wir eine Kompetenzerweiterung vornehmen können.Wir sind darüber hinaus der Auffassung, daß es möglich sein muß — übrigens auch aus den Erfahrungen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Kräftespiel um Gleichgewicht zwischen Bundestag und Bundesrat und dem Institut eines Vermittlungsausschusses —, Wege zwischen Parlament und Rat zu beschreiten, die auf alle Fälle dem Parlament die Möglichkeit zu wesentlich mehr Befugnissen geben. Ich bin mir darüber im klaren, daß wir nicht dogmatisch vorgehen können, sondern daß wir, wenn Sie so wollen, auf dem Wege des Pragmatischen Schritt für Schritt Raum für ein aktives Mitwirken des Europäischen Parlaments gewinnen müssen. Ich hoffe sehr, daß unsere Ansichten eine breite Mehrheit finden werden.Es ließe sich — um abschließend noch einen Satz dazu zu sagen — bei gutem Willen auf allen Seiten sehr wohl eine Möglichkeit finden, ein Mitbestimmungsrecht für das Parlament in entscheidenden Fragen so zu finden, daß am Ende eine Balance entsteht, indem Rat und Parlament gemeinsam entscheiden können — wobei ich mir darüber im klaren bin, daß auf absehbare Zeit sozusagen der Stichentscheid, der letzte Entscheid, beim Rat liegen muß.Ein weiteres wichtiges Ziel ist der Ausbau und die Vollendung des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes. Wirtschaftliches Wachstum in der Europäischen Gemeinschaft — und damit auch die Sicherung von Arbeitsplätzen und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit — bleibt ohne freien Handel innerhalb der Gemeinschaft begrenzt. Bei einem Anteil von nahezu 50 %, den der Handel zwischen den Mitgliedstaaten an deren gesamtem Außenhandel ausmacht, bleibt der Ausbau des EG-Binnenmarktes ein vorrangiges Ziel.
Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht zuletzt deshalb den gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum, um mit den großen Wirtschaftsmächten, den Vereinigten Staaten und Japan, auf Dauer konkurrieren zu können. Nur dann werden wir Entwicklungschancen für die europäische Industrie, auch und vor allem bei Spitzentechnologien, voll nutzen können.
Die EG-Kommission, meine Damen und Herren, hat uns ein Weißbuch vorgelegt. Es ist ein sehr umfangreiches Werk, das erst vor 14 Tagen vorgelegt wurde. Es ist zur Stunde noch nicht möglich, zu allen Details dieses Weißbuches abschließend Position zu beziehen. Aus meiner heutigen Sicht möchte ich sagen, daß es zum ersten richtig ist, daß wir jetzt das Tor zum Binnenmarkt weit aufstoßen. Zum zweiten ist es wichtig, daß wir — wenn es zu einem solchen Regierungsmandat an die Kommission kommt; vielleicht bis Ende dieses Jahres, wie ich es eingangs beschrieben habe —, auch eine Zeittafel aufstellen, wann einzelne Vorschläge für den Binnenmarkt tatsächlich realisiert werden. Ich denke, daß es sich bei einer ersten Prüfung als richtig erweisen wird, daß das Enddatum 1992, wie es die Kommission vorgeschlagen hat, bei gutem Willen auf allen Seiten realisierbar ist.
Mit einem Wort: Wir stimmen dem Ansatz und den Zielvorstellungen in weiten Bereichen zu. Aber ich füge hinzu: Es geht um ungewöhnlich komplizierte Sachverhalte. Und über die Einzelheiten des Maßnahmenpakets muß gesprochen werden, erst recht in der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem föderalen Staatsaufbau. Die hier beispielsweise vorgeschlagenen Ausbildungsmaßnahmen liegen nicht in der Kompetenz des Bundes. Wir werden über eine Menge Dinge zu reden haben. Ich will auch deutlich darauf hinweisen, daß nach meiner ersten Übersicht der eine oder andere Punkt ohne eine Verfassungsänderung gar nicht zu verwirklichen sein wird.Wir sind — ich sage es noch einmal — bereit, das Notwendige zu tun. Ich nenne als Beispiel die Vorschläge zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Sehen Sie, Herr Abgeordneter Vogel, auch hier ha-
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Bundeskanzler Dr. Kohlben wir keinen Nachholbedarf. Im Europäischen Währungssystem sind wir eines der wenigen Länder, das ohne Wenn und Aber die Regelungen akzeptiert. Die Frage des freien Kapitalverkehrs ist eine entscheidende Voraussetzung europäischer Zukunft. Eine ganze Reihe unserer Nachbarn — nach einzelnen Ländern gerechnet sogar die Mehrheit der EG-Staaten — beanspruchen für sich in irgendeiner Form Sonderrechte. Es ist doch — ich sage das auch im Blick auf den vorhin erwähnten Brief meines Amtsvorgängers — kein Mangel an europäischer Gesinnung, wenn ich sage: Bevor wir weiter vorangehen, müssen wir alle uns jetzt erst einmal auf der gleichen Startlinie aufstellen und bereit sein, zunächst einmal das zu realisieren, was seit langem ausgemacht ist.Wir wollen die Märkte öffnen. Ich nenne als Beispiel — das ist zwar überall sehr schwer realisierbar, aber es ist zwingend — die öffentlichen Beschaffungsmärkte. Wir müssen die große Zahl der Beschränkungen im Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr spürbar verringern. Damit verbessern wir, so glaube ich, die Rahmenbedingungen entscheidend. Das ist ein weiterer, ganz zentraler Punkt.Bei all dem, was wir im Bereich der europäischen Wirtschafts-, Sozial-, Gesellschafts- und nicht zuletzt Währungspolitik tun können: Wir werden keinen Schritt vorankommen, wenn wir nicht zu einer echten Konvergenz der Wirtschafts-, der Haushalts- und der Währungspolitiken kommen. Nur dann kann es uns gelingen, wirklich voranzukommen.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie haben den Bereich der Hochtechnologie angesprochen. Ich kann mir Ihre Vorwürfe nur dadurch erklären, daß Sie sich mit diesem Thema nie beschäftigt haben.
Denn das, was Sie hier gesagt haben, war äußerst abwegig. Ein einfaches Gespräch mit dem Kollegen Riesenhuber hätte Ihnen unschwer die Einsicht vermitteln können, daß Sie hinter der tatsächlichen Entwicklung um Jahre zurück sind.
Die Wahrheit, meine Damen und Herren, ist doch — die gestrige Erklärung der beiden Außen- und Verteidigungsminister hat es einmal mehr deutlich gemacht —, daß wir auf gutem Wege sind, in Europa im Blick auf Spitzentechnologie wesentliche Fortschritte zu machen. Aber, meine Damen und Herren, das ist keine Frage der Emotion, sondern das ist eine Frage dessen, was sich nüchtern rechnet.Wir gehen dabei von der Überzeugung aus, daß wir im Bereich nationaler Forschung das fortsetzen, was wir in nationaler Forschung am besten tun können, und daß wir in europäischer Kooperation — ich bin hier in völliger Übereinstimmung mit Präsident Mitterrand — das tun, was wir am besten in europäischer Kooperation verwirklichen können.Hier besteht ein unübersehbarer Dissens zur Kommission. Wir sind der Auffassung, daß für einen erheblichen Teil dieser Forschungsprojekte in der EG die Hinzuziehung anderer europäischer Staaten ermöglicht werden soll, soweit Sie dies wünschen und sich beteiligen können. Ich denke an die Schweiz, ich denke an Österreich, um nur einige Beispiele zu nennen. Mit einem Wort: Wir haben guten Grund — Sie haben hier das Stichwort Eureka gebracht —, davon auszugehen, daß wir in Mailand ein Startsignal in die richtige Richtung geben können.Herr Abgeordneter Vogel, Ihr Hinweis auf SDI ist noch abwegiger. Denn gerade der französische Präsident hat doch gesagt, daß Eureka und SDI kompatibel sind, daß sie sich also nicht ausschließen. Sie wollen sich — aus ganz anderen politischen Motiven — von SDI ausschließen.
Bitte, beanspruchen Sie nicht das Staatsoberhaupt unseres befreundeten Nachbarlandes für Ihre Ansichten! Denn Präsident Mitterrand teilt Ihre Ansichten bekanntlich nicht.Ein weiterer Punkt, den ich hier abschließend noch ansprechen möchte, ist das Thema: Europa der Bürger. Ich glaube, das ist in der langfristigen Entwicklung eines der wichtigsten Themen, weil wir aus allen Umfragen und Untersuchungen der Gallup-Institute in Europa wissen, daß das Interesse an der europäischen Integration spürbar nachgelassen hat. Das, was Europa ausmacht, darf sich für den Bürger nicht auf das Stichwort „Butterberg" und auf andere Stichworte verkürzen. Vielmehr müssen wir uns alle bemühen, Europa dem Bürger in der Praxis, im Alltag näherzubringen, auch im emotionalen Bereich.Wir haben hier ganz wesentliche Fortschritte gemacht. Herr Abgeordneter Vogel, Sie alle hätten das in Ihrer Amtszeit längst tun können. So hätten Sie beispielsweise das Abkommen über die Öffnung der Grenze mit Frankreich schließen können.
Wenn man — dessen rühmte man sich uns gegenüber damals ja — tatsächlich jede Woche in engem Kontakt mit dem Präsidenten der französischen Republik stand, dann hätte es ja möglich sein müssen, die Grenzöffnung bei diesen vielen Gesprächen weiter voranzutreiben. Es ist uns in den letzten Wochen, wie Sie wissen, gelungen, eine gleiche Regelung mit den Benelux-Ländern zu finden. Wir haben mit Österreich ein solches Abkommen geschlossen, und ich bin eigentlich ganz hoffnungsvoll, daß es im Laufe des Jahres gelingt, auch mit unserem Nachbarn Schweiz ein wesentliches Stück weiterzukommen. Wenn dies so sein sollte, Herr Abgeordneter Vogel, dann können wir am Ende des Jahres 1985 sagen, daß wir binnen 16 Monaten — nachdem 13 Jahre lang nichts geschehen ist — an der Westgrenze der Bundesrepublik genau jene Öffnung der Grenzen erreicht haben, die unsere Bürger immer verlangt haben.
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11100 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Bundeskanzler Dr. KohlMeine Damen und Herren! Es gibt im Blick auf das Europa der Bürger noch viele wichtige Detailfragen, die für den einzelnen ärgerlich sind. Ich will nur ein Beispiel unter den vielen herausgreifen: der ganz unsinnige bürokratische Aufwand, der beispielsweise in Europa noch bei der Anerkennung der Führerscheine aus dem jeweils anderen Nachbarland herrscht.
Wenn man vom Europa der Bürger spricht, wenn wir eine so starke Durchlässigkeit der Grenzen haben, wie das heute glücklicherweise der Fall ist, wenn Millionen von Menschen — nicht zuletzt viele hunderttausende junger Leute — die Grenzen passieren, dann ist es doch wirklich das Selbstverständlichste der Welt, daß wir gegenseitig unsere Führerscheine anerkennen und daß wir hier unter den europäischen Ländern wenigstens bereit sind, Maßstäbe anzulegen, wie sie bei der Anerkennung des USA-Führerscheins in den meisten europäischen Ländern längst angelegt werden.Ich könnte diese Liste beliebig erweitern. Die Frage eines europäischen Jugendwerks und vieles andere gehört in diesen Bereich.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Wir haben uns auf diesen Mailänder Gipfel sehr sorgfältig vorbereitet. Wir haben in vielen bilateralen Gesprächen mit unseren Partnern und Freunden ausgelotet, welche Chancen bestehen. Ich selbst habe die Weisung gegeben — und das ist auch mein eigener Maßstab für Mailand —, daß wir neben einer realistischen Betrachtung dessen, was jetzt möglich ist, in Mailand darüber hinaus auch deutlich machen, wohin wir gehen wollen, auch dort, wo es sich jetzt noch um ein Stück Vision handelt, das innerhalb der Gemeinschaft noch nicht mehrheitsfähig ist.Wir stehen in der Tradition — ich sage das einmal als Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union — der Europa-Politik Konrad Adenauers. Es war die große Vision der Staatsmänner, die Europa nach dem Kriege begründet haben, aus der Geschichte zu lernen, daß Krieg und Gewalt nie wieder ein Mittel europäischer Politik sein dürfen und daß aus Erbfeinden Freunde werden. Wir haben in diesen Jahrzehnten — auch das muß man fairerweise sagen — gewaltige Fortschritte gemacht. Aber wir haben uns vielleicht zu sehr angewöhnt, die Rückschläge in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen und das, was wirklich geschehen ist, zuwenig zu würdigen. Ich bin mit Ihnen, Herr Abgeordneter Vogel, der Meinung — das ist einer der wenigen Punkte, in denen wir völlig übereinstimmen —, das Mailand noch einmal eine große Chance ist. Wir alle wollen sie nutzen.
Meine Damen und Herren! Bevor ich das Wort weitergebe, darf ich Sie, Herr Bundeskanzler, darauf hinweisen, daß ich den Ausdruck „Heuchelei" als unparlamentarisch zurückweisen muß.
Das Wort hat der Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben, um von den schlimmen Fehlern Ihrer Europapolitik in den letzten Wochen und Monaten abzulenken, zu Beginn Ihrer Rede wieder einmal die europäische und die deutsche Geschichte falsch dargestellt. Sozialdemokraten sind schon für die Vereinigten Staaten von Europa eingetreten, als Ihre politischen Vorfahren sie deswegen noch vaterlandslose Gesellen geschimpft haben.
Sie werden verstehen, daß wir Sozialdemokraten auf die Geschichte unserer Partei stolz sind.Und nun zu den 50er Jahren, Herr Bundeskanzler. Zuerst einmal: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat den Römischen Verträgen zur Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom zugestimmt.
Nicht zugestimmt hat sie der Schaffung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Montan-Union. Warum hat sie hier nicht zugestimmt? Die Sozialdemokraten sagten damals: Eine Integration der Bundesrepublik in westliche Allianzen wird die Wiedervereinigung erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen.
Sie, Ihre politischen Vorfahren, auf die Sie sich soeben bezogen haben, haben dagegen darauf gesetzt, daß die Westintegration, die Politik der Stärke dazu führen werde, daß die Wiedervereinigung kommt.
Herr Bundeskanzler, meine Kolleginnen und Kollegen, niemand ist heute in der Lage, zu beweisen, daß die Wiedervereinigung gekommen wäre, wenn die Bundesrepublik den Weg gegangen wäre, den die Sozialdemokraten damals gehen wollten. Aber ich bin leider in der Lage, zu beweisen, daß der Weg der CDU/CSU nicht zur Wiedervereinigung geführt hat. Dies ist eine Tatsache. Darauf haben wir uns heute in unserer Politik einzustellen. Es führt gar nicht weiter, über die Vergangenheit zu streiten. Ich will Ihnen Ihre Politik nicht vorwerfen, aber bitte betrachten Sie die Geschichte so, wie sie war.Herr Bundeskanzler, ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Debatte Ihre Rede, die Sie am 8. Februar vor dem deutschen Bundesrat gehalten haben, noch einmal angesehen. Ich habe sie mir deshalb angesehen, Herr Bundeskanzler, weil ich sie damals recht gut fand. Nur: Heute wissen wir leider, daß es — obwohl an einem Freitag gehalten — eine der üblichen Sonntagsreden zu Europa war. So müssen sie auch jetzt unsere europäischen Partner angesichts des Handelns dieser Bundesregierung seither empfinden. Ich fand bei Ihrer Rede
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11101
Brückschlimm, daß Sie immer noch nicht eingesehen haben, was Sie mit Ihrem Veto zur Getreidepreissenkung in Europa angestellt haben. Sie haben nicht eingesehen, was Sie da zerstört haben. Jahrelang haben wir, die Deutschen, darauf gedrängt, daß Schluß sein müsse mit dieser Preisexplosion, mit der Ausgabenexplosion in der Gemeinschaft. Jetzt macht die Kommission Vorschläge zu Einsparungen. Alle anderen — wozu diese vorher nie bereit waren — stimmen zu. Und was sagen wir, die Deutschen? Jetzt sagen wir nein. Das soll in Europa kapieren, wer will. Auch wir, der Deutsche Bundestag, sollten die Bundesregierung an dem messen, was sie tut.Wir haben unseren Entschließungsentwurf vorgelegt, damit der Deutsche Bundestag deutlich machen kann, was er von der Bundesregierung beim Treffen in Mailand erwartet.Nun sind die Prognosen für dieses Treffen — das weiß ich — nicht sehr optimistisch. So hat in der vergangenen Woche der Nachrichtendienst VWD geschrieben — ich zitiere —:Es wird keine groß angelegte europäische Union, keine europäische Verfassung und kein Europa der Mehrheitsabstimmung geben.VWD hat das so begründet — Herr Bundeskanzler, jetzt hören Sie gut zu —:Die Nachfolger der Adenauer, de Gasperi und Spaak sind von kleinerem Zuschnitt. Sie nehmen den Mund zwar voll, weichen jedoch vor dem ersten Hindernis auf weniger dornige Pfade aus.
Sie, Herr Bundeskanzler, der Sie j a für sich beanspruchen, in der Nachfolge Konrad Adenauers zu stehen — Sie haben das ja soeben wieder einmal getan —, haben in dieser Rede und auch sonstwo in europäischen Fragen den Mund sehr voll genommen. Sie weichen den „dornigen Pfaden" nicht nur aus, Sie legen sich selbst noch Hindernisse in den Weg.Wenn ich von Pfaden und Wegen spreche, wenn vom Gipfel die Rede ist, dann ist der Vergleich angebracht, den ich kürzlich in einer Diskussion um die europäische Einigung hörte. Da sagte jemand, man müsse es wie beim Bergwandern machen: langsam Schritt vor Schritt setzen. Das ist richtig.
Aber als Bergwanderer weiß ich auch, daß dabei eine Stelle kommen kann, an der man mit kleinen Schritten nicht mehr vorwärts kommt. Manchmal muß man einen Sprung machen. Ich glaube, Europa ist an einer solchen Stelle angelangt. Wenn wir keinen Sprung wagen, dann werden wir kaum noch vorwärts kommen.
Der Sprung in der europäischen Politik besteht in einer einschneidenden Verbesserung der Entscheidungsmechanismen der Gemeinschaft, in institutionellen Verbesserungen. Ich glaube, darin sind wir uns j a sogar einig. Die Frage ist nur, wie wir dahin kommen.Die Europäische Gemeinschaft hat uns viele Vorteile gebracht. Ich glaube, wir sollten dies so feststellen. Aber eines wissen wir auch: Die Zusammenarbeit wird nun noch schwieriger werden, weil die Probleme größer werden, je enger wir zusammenrücken, und auch, weil die Gemeinschaft größer geworden ist. Es ist die natürlichste Sache der Welt, daß es da Konflikte und unterschiedliche Auffassungen gibt. Aber diese unterschiedlichen Auffassungen und Interessen kann man, glaube ich, nur so lösen, wie sie in demokratischen Gemeinwesen gelöst werden, nämlich mit Mehrheitsentscheidungen darüber, was denn nun zu geschehen habe.Die Europäische Gemeinschaft ist, so denke ich, jetzt in einer Situation, in der die Bundesrepublik wäre, wenn sie allein vom Bundesrat mit Vetorecht jedes einzelnen Bundeslandes regiert werden würde. Niemand kann sich das für die Bundesrepublik vorstellen, aber die Europäische Gemeinschaft muß das schon lange so handhaben.Der Deutsche Bundestag sollte auch ein Wort des Dankes an das Europäische Parlament sagen, denn das Europäische Parlament hat mit seinem Vertragsentwurf zur Schaffung der europäischen Union den Anstoß für die jetzt in der Gemeinschaft begonnene Diskussion gegeben. Daß die DoogeKommission, der Ad-hoc-Ausschuß für institutionelle Fragen, eingesetzt worden ist, Herr Bundeskanzler, ist zuerst das Verdienst des Europäischen Parlamentes. Hätte es seinen Vertragsentwurf nicht vorgelegt, dann hätten Sie das wahrscheinlich — —
— Frau Hellwig sagt: Und der Europa-Kommission. Ich nehme das gerne zur Kenntnis, denn da arbeiten wir auch sehr einstimmig zusammen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Finanzminister erklärt dies, der Außenminister das, der Wirtschaftsminister ganz etwas anderes und der Agrarminister erst recht ganz etwas anderes. Was wir aber erwarten können, ist eine Stellungnahme der Bundesregierung. Ich weiß, das ist für Sie nicht einfach. Aber, Herr Bundeskanzler, da sind Sie gefordert. Da müssen Sie entscheiden, auch wenn Ihnen das, wie meistens, hier sehr schwer fällt.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
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11102 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rumpf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder einmal stehen wir kurz vor einem EG-Gipfel, der mit sehr vielfältigen Hoffnungen und Erwartungen verknüpft ist, dessen Ausgang aber auch skeptisch beurteilt wird. Wieder einmal soll es Fortschritte in einem Europa geben, das für viele Bürger kein Begriff ist, der eine positive Bedeutung, auf eine Zukunft gerichtete Bedeutung hat. Viele, leider zu viele verbinden mit Europa die Vorstellung einer großen Bürokratie: vielsprachig, ineffizient und bestrebt, deutsche Steuergelder zu verschwenden. Für andere ist Europa der Grund, daß unsere Bauern Einkommensverluste hinnehmen müssen und daß keine adäquaten Maßnahmen gegen das Waldsterben und bei den Entscheidungen über das abgasarme Auto und über die Eindämmung der Industrieemissionen getroffen werden.In der Tat, ein überzeugter Europäer zu sein oder gar zu werden fällt schwer. Die Bilanz der letzten Zeit ist nicht nur positiv: Uneinigkeit, nationale Egoismen, Entscheidungsschwächen, gar Untätigkeit —, wie vom Europäischen Gerichtshof dem Verkehrsministerrat vorgeworfen wurde, vielfältige Vorbehalte, in großangelegten Berichten und in Fußnoten versteckt und völlig unterschiedliche Vorstellungen, wie es eigentlich weitergehen soll und muß. In der Tat ist in der Europäischen Gemeinschaft zur Zeit nur wenig Gemeinschaftsgeist zu erkennen gewesen.Aber eine solche Bestandsaufnahme wäre sicher zu einseitig und auch ungerecht. Sie übersieht, daß die Europäische Gemeinschaft in vielen Bereichen einiges erreicht hat, oft mehr, als angenommen wird. Der Bundeskanzler hat eben vom Europa der Bürger gesprochen. Da möchte ich doch einmal als einer, der in der Grenzgegend aufgewachsen ist, zurückblenden, wie es vor dreißig Jahren ausgesehen hat.Vor dreißig Jahren konnte man die deutsch-französische Grenze mit einem eigenen Wagen nur passieren, wenn man ein Triptik, ein Carnet, ein Visum und natürlich den Paß hatte. Heute, meine Damen und Herren, kann man die deutsch-französische und viele andere Grenzen einfach so passieren. Manchmal wird sogar der Personalausweis überhaupt nicht mehr gefordert. Heute legen wir in einem Entwurf den Europapaß vor.Vielen ist aber andererseits in jüngster Zeit schmerzhaft bewußt geworden — bei der Diskussion um das Waldsterben und um die Schadstoffverringerung beim Auto —, daß es die Römischen Verträge gibt, daß wir ein Mitgliedstaat der EG mit den daraus resultierenden Rechten und Pflichten sind und daß es einen Gemeinsamen Markt gibt. Zeitweise hatte man den Eindruck, daß diese Kenntnis auch in deutschen Ministerien nicht mehr allzu sehr verbreitet war.Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Zur Bekämpfung des Waldsterbens sind noch viel entscheidendere Maßnahmen als gegenwärtig geplant oder mühsam diskutiert notwendig. Das steht für mich außer Frage. Das gilt insbesondere für die Schwefeldioxidemissionen aus Industrieanlagen. Gleichwohl sollte man nicht der Neigung nachgeben, die Schuld für die Auseinandersetzung der letzten Monate allein der Europäischen Gemeinschaft zuzuschieben. Wir wissen, daß wir sie brauchen. Wir brauchen sie wirtschaftlich und politisch. Was die Auseinandersetzung um das schadstofffreie Auto betrifft, so stelle ich mir die Frage, wo gerade die deutsche Automobilindustrie wäre, wenn es den Gemeinsamen Markt nicht gäbe, und wie unsere Arbeitslosenstatistik dann aussähe.
Ich meine, meine Damen und Herren, Europa muß gerade auf dem Gebiet des Umweltschutzes besonders ehrgeizige Ziele anstreben.
Bei den Schäden am Wald und an den Kulturdenkmälern geht es nicht um eine deutsche Romantik, sondern um ein vitales Interesse an der Natur- und Kulturerhaltung.
Das gilt ebenso für unsere Nachbarländer. Wer das nicht glaubt, der soll sich einmal in den Vogesen oder in der Schweiz umsehen.Wir Freien Demokraten wünschen deshalb unserem Innenminister bei der heutigen Konferenz der Innenminister in Luxemburg einen Erfolg. Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Opposition diesem Innenminister keinen Erfolg wünscht.
Das ist völlig unverständlich. Ich meine, es geht doch auch hier um die technische und um die wirtschaftliche Entwicklung auf einem bestimmten Gebiet, nämlich auf dem Gebiet schadstofffreier Autos. Die Europäer sollten sich bemühen, diese Ziele gemeinsam hoch zu stecken. Sonst hinken sie auch auf diesem Gebiet den Amerikanern und Japanern weiter hinterher.Auf die europäische Technologiegemeinschaft und Eureka, die wir fordern, wird nachher mein Kollege Kohn eingehen. Nur soviel sei hier gesagt: Was SDI betrifft, so hat der Wettlauf der Europäer — zumindest soweit es die private Wirtschaft angeht — um den Anschluß bereits begonnen. Französische, auch halbstaatliche, und deutsche Firmen, bekannte deutsche Firmen, haben schon in Washington angeklopft. Hier zeigt sich eine überraschende Übereinstimmung mit der Opposition, insbesondere mit der SPD im Hause. Ein Mitglied einer bedeutenden Delegation in Washington, einer bedeutenden Firma aus Norddeutschland, war auch ein bedeutendes Mitglied der SPD aus Norddeutschland. Ich sehe hier so etwas wie eine innere Kohäsion der Interessen der Opposition und der Regierung. Ich verstehe deshalb nicht, warum wir nicht in der Lage waren, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten, warum — genauer gesagt — die
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Dr. RumpfSPD den Antrag der Regierungskoalition nicht unterstützen kann,
da doch alle diese Punkte eigentlich auch Ihre Interessen berühren.Was den Mailänder Gipfel anbetrifft, so müssen dort klare Entscheidungen getroffen werden, ohne die Erwartungen zu hoch stecken zu wollen. Die Situation ist zugegebenermaßen nicht einfach. Die Europapolitik der Bundesregierung wird gerade in den Mitgliedstaaten mit einem Stirnrunzeln und einem Fragezeichen betrachtet. Das Veto des Bundesernährungsministers bei den Getreidepreisverhandlungen klingt etwas nach, nicht nur, weil sich die Bundesrepublik im Dooge-Ausschuß geradezu als Vorkämpfer gegen das Vetorecht ausgezeichnet hatte.
Ich frage mich auch, ob angesichts der jüngsten Entscheidungen der EG-Kommission den deutschen Landwirten hier wirklich ein Gefallen getan wurde.
Das Veto hat nämlich wirklich zwei Seiten. Man kann Europa nicht immer zu Lasten eines Berufsstandes, nämlich der Landwirte, aufbauen. Hier trägt meines Erachtens die Kommission die Hauptschuld. Man muß schließlich auch bedenken, daß weiterhin Entscheidungen im Landwirtschaftsministerrat erforderlich werden, und diese sind dann für die deutschen landwirtschaftlichen Produzenten möglicherweise wichtiger und von größerer Bedeutung als gerade der Getreidepreis.
Jedenfalls sollte sich eine solche Situation im Ministerrat, die niemandem nützt, nicht wiederholen. Das gilt für alle Partner der EG, die früher oft hoch gepokert haben und heute so tun, als stünde die Bundesregierung in der Ecke.Die FDP-Bundestagsfraktion bekräftigt ihre bisherige Haltung: Wir müssen zur Mehrheitsentscheidung zurückkehren, und wir müssen das auch und gerade im Hinblick auf die Erweiterung der EG um Spanien und Portugal tun. Meine Damen und Herren, es ist doch nachgerade traurig, daß die historische Stunde Europas, nämlich die Unterzeichnung der Beitritte der beiden bedeutenden europäischen Nationen auf der Iberischen Halbinsel,
völlig im Agrarstreit untergegangen ist.
Dieser Beitritt hat eine ungeheuer große politische Dimension. Wenn Spanien und Portugal am 1. Januar 1986 Vollmitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden, wird die Stimme Europas auf dem ganzen süd- und mittelamerikanischen Kontinent ein größeres Gewicht haben,
und dies kann für die Erhaltung des Friedens sehr wichtig werden. Da klingen doch die Worte des mexikanischen Präsidenten de la Madrid bei seinem Besuch in der Bundesrepublik wirklich nach.Meine Damen und Herren, noch einige Sätze zur Handlungsfähigkeit der EG: Europa muß — das wurde mehrfach betont — ein großer Binnenmarkt werden, ein Markt ohne Zollschranken und ohne unterschiedliche Steuer- und Währungssysteme — genau wie die USA.
Nur dann werden wir auch konkurrenzfähig sein.
Es ist nicht uninteressant, daß in jüngster Zeit die Europäische Gemeinschaft auch auf der östlichen Seite, für das östliche Gegenstück, nämlich für den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, attraktiver geworden ist.
Es ist sogar die Aufnahme von Gesprächen zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken vorgeschlagen worden. Jahrelang hat die Sowjetunion die Europäische Gemeinschaft insgesamt kritisiert und hat — weil das bei der ihr eigenen Ideologie und bei ihrer Politik in ihrem Einflußbereich natürlich schwierig ist — nicht verstanden, daß die Europäische Gemeinschaft eine Außenhandelskompetenz hat. Wenn die neuerlichen Kontakte anders als zu Beginn der 80er Jahre zu einem guten Ende kämen, wäre das nur zu begrüßen. Damit würde die Sowjetunion nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Realitäten in der Gemeinschaft anerkennen,
bis hin zur Einbeziehung West-Berlins in die Europäische Gemeinschaft. Daher ist die in unserem gemeinsamen Antrag angesprochene Europäische Politische Zusammenarbeit, die schließlich unwiderruflich in eine Europäische Union einmünden muß, so wichtig.Die FDP unterstützt auch die anderen Forderungen im Entschließungsantrag, die auf die GenscherColombo-Initiative und auf die Vorlagen der Europakommission des Deutschen Bundestages zurückgehen. Insbesondere wollen wir, daß das Europäische Parlament mehr zu sagen hat.
Das muß sowohl gegenüber der Kommission wie auch im Verhältnis zum Ministerrat gelten. Meine Damen und Herren, Abgeordnete, die nichts zu sagen haben oder aber viel sagen, jedoch nichts zu bestimmen haben, werden vom Bürger mit Recht nicht ernstgenommen; und in vier Jahren sind j a schon wieder Europawahlen.Ich komme zum Schluß. Für die FDP-Fraktion darf ich feststellen: Die Bundesrepublik muß ein zu-
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Dr. Rumpfverlässiger und kalkulierbarer Partner in der EG sein und bleiben.
Sie muß eine Vorreiterrolle im europäischen Integrationsprozeß spielen.
Dies muß auf dem EG-Gipfel in Mailand deutlich werden. Die FDP wünscht dem Bundeskanzler auch hier den Erfolg, den sicher auch die Opposition ihm wünschen müßte. Wir würden es bedauern, wenn es nicht gelänge, den Partnern klarzumachen, daß unser Veto ein Betriebsunfall war. Es wäre schlimm, wenn andere daraus schlössen, daß die Bundesrepublik nicht verläßlich wäre.Wir wollen die Erwartungen für Mailand nicht zu hoch hängen, aber wir erwarten zumindest kleine und solide Schritte nach vorne. Erinnern wir uns: Hallstein hat einmal gesagt, daß Europa einem Fahrradfahrer gleicht; wenn er stehenbleibt, fällt er um. Stellen Sie sich das jetzt einmal bei einem Fahrradfahrer vor, der einen steilen Berg hinauffährt; der muß wirklich in die Pedale treten.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Kelly.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs wollen am 29. Juni auf ihrem Gipfeltreffen in Mailand über die Zukunft der EG und den Aufbau einer Europäischen Union oder eines Bundesstaates Europa entscheiden. Die Landesverbände der Europaunion rufen 1 Million Europäer auf, auf die Straßen zu gehen und für eine Europäische Union zu demonstrieren. Wir, DIE GRÜNEN, werden nicht dabeisein, aber wir können uns gut vorstellen, daß die neue große Koalition für die Selbstbehauptung Europas — CDU/CSU, FDP, SPD — anwesend sein wird. — Wenigstens im Geiste.Schon sind auch Herr Vogel, Herr Dregger, Herr Strauß und Herr Waigel mit Herrn Schmidt und Herr Heath vereint im Aktionskomitee für Europa.Dr. Heiner Geißler stellte klar, daß die Europäische Gemeinschaft neben den Vereinigten Staaten die zweite Säule der NATO darstelle, und forderte, daß die EG auch gemeinsame Richtlinien für die Verteidigungspolitik erarbeiten solle. Franz Josef Strauß und die CSU forderten im Oktober 1977 die Schaffung einer Atommacht Westeuropa unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesrepublik. Vor einem Jahr forderte Strauß eine gemeinsame Armee für Europa. Dies müßte viel mehr sein — sagte er — als die einfache Addition der nationalen Armeen.Jürgen Todenhöfer, den ich hier sehr gern zitiere — abrüstungspolitischer Sprecher der CDU/CSU —, setzt sich für eine europäische Atomstreitmacht mit amerikanischem Kern ein; das heißt für eine Zusammenlegung der amerikanischen, der französischen und der britischen Atomstreitkräfte in Europa sowie eine stufenweise Einbeziehung der Bundesrepublik entsprechend den Stufen des europäischen Einigungsprozesses. Siehe Europäische Union.Hans-Dietrich Genscher, FDP, sieht einen verstärkten Zusammenhang und eine Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und spricht von der neuen, wichtigen Dimension eines starken Europas. Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Hans-Jochen Vogel, bestätigte heute wie auch gestern in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, daß die SPD mit den Zielen der Europapolitik der Bundesregierung übereinstimmt.Volker Hauff, SPD, forderte in der „Europäischen Zeitung" im März 1984, daß der Europäische Rat für sicherheitspolitische Impulse genutzt werden soll, und setzt sich für eine europäische Rüstungsagentur ein, Elemente einer europäischen Identität — wie er schreibt — in der Sicherheits- und Entspannungspolitik.Aber wir glauben, daß europäische Identität nicht etwas mit europäischen Rüstungsagenturen zu tun hat.
Willy Brandt hat sich unter Berufung auf die französische Position für eine europäische Initiative für ein friedliches Forschungsprogramm im Weltraum eingesetzt — ich hoffe, auch wissend, wie sehr zivile Weltraumprogramme mit militärischen Strategien verknüpft sind. Es gibt nicht zivile Weltraumprogramme allein ohne militärische Verknüpfung.
Karsten Voigt setzt sich für ein mögliches bundesdeutsches Vetorecht ein. Doch gestern erklärte mir Egon Bahr, für dieses Vetorecht trete die SPD nicht ein. Aber Karsten Voigt, Obmann im Auswärtigen Ausschuß, tritt dafür ein und applaudiert Strauß für dessen ähnliche Vorstellungen.Bei sehr vielen europapolitischen Forderungen ist die Entfernung zwischen den Koalitionsparteien und der SPD nur gering oder gar nicht vorhanden. CDU/CSU, FDP und SPD sind dabei, die Autonomie und die Unabhängigkeit, die Eigenständigkeit Europas über Konventionalisierung und die Europäisierung der Sicherheitspolitik zu errüsten. Dies soll uns angeblich unabhängiger von der Weltmacht Amerika machen.Daß das nicht der Fall ist, erklärte Dr. Pöttering, Vorsitzender des Unterausschusses für Sicherheit und Abrüstung im Europaparlament. Er sagte vor kurzem:Wir wollen den europäischen Pfeiler des westlichen Bündnisses stärken und so die europäischen Sicherheitsinteressen wahrnehmen. Ein Prozeß einer so verstandenen europäischen Emanzipation wird neutralistischen Tendenzen entgegenwirken— damit meint er wohl DIE GRÜNEN —
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Frau Kellyund der Position derjenigen entgegnen, die die Konsumenten von Sicherheit zu einem möglichst niedrigen Preis sein wollen. Aber— so sagt Pöttering —selbst mit einer stärkeren EG als starke Pfeiler der NATO werden wir auch in Zukunft ein glaubwürdiges amerikanisches Commitment nötig haben, und das Hauptargument bleibt— so sagt er —die Präsenz von US-Truppen und Nuklearwaffen der Amerikaner in Westeuropa.Wir, die DIE GRÜNEN, machen bei dieser Großen Koalition für ein starkes militarisiertes Europa der Großkonzerne, der Spitzentechnologien, der Agrarskandale nicht mit.Ich möchte Herrn Vogel korrigieren. In einem Interview von gestern haben Sie gesagt, der Bundeskanzler habe j a eine proeuropäische Opposition. Damit ist in diesem Sinne nur die SPD gemeint, Herr Vogel, nicht die Fraktion der GRÜNEN. Wir gehören nicht zu dieser im alten Sinne proeuropäischen Opposition.
Wir treten ein für eine zivile und ökologische und demokratisierte Gemeinschaft; j a, wir treten ein für ein West- und Osteuropa, in dem die Menschen untereinander loyal sind, und nicht den Militär- und Wirtschaftsblöcken gegenüber.
All das, was Europa für den Bürger und die Bürgerinnen bedeutet, von Grenzkontrollen und Vetorecht, von undemokratischem Parlament bis zur skandalösen Obstvernichtung, von europäischer Bürokratie bis zur Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners — siehe bleifreies Benzin, siehe Umweltschutz —, versperrt die Sicht auf die ursprüngliche Zielsetzung der EG, nämlich das friedenspolitische Motiv. Die EG sollte Grundstein werden für einen Frieden, einen echten Frieden, und für die soziale Gerechtigkeit. Doch es gibt in diesem Europa 35 Millionen arme Menschen, d. h. jeder achte Einwohner in der EG. 15 Millionen Arbeitslose sind das Indiz dafür, wie wenig dieser Europäische Verein, Herr Genscher, die Bezeichnung „Gemeinschaft" verdient. Es ist keine Gemeinschaft.Der Anteil der jugendlichen Arbeitslosen beträgt sogar 40 %. In den Jahren seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge sind die ärmer geworden, die arm waren, und die reicher geworden, die reich waren. Zwischen 1970 und 1977 verschlechterte sich das wirtschaftliche Verhältnis zwischen den zehn ärmsten bzw. reichsten Regionen Europas von 3,3 :1 im Jahre 1970 zu 4,3:1. Ganze 50 Millionen DM, mickrige 50 Millionen DM, haben die EG-Staaten aufbringen wollen, um ein Programm gegen die Armut in der Gemeinschaft zu finanzieren.
Natürlich werden mich die meisten Herren dieses Hauses für unrealistisch halten, wenn ich mir vorstelle, daß das ganze Geld, das für ergebnislose Ministertreffen ausgegeben wurde, wahrscheinlich mehr für die armen Regionen Europas gebracht hätte, hätten wir es sinnvoll und ökologisch umgeleitet für selbstbestimmte Regionalprojekte z. B. im Bereich der alternativen Energiequellen.
Doch ein solcher Gedanke wäre so unrealistisch wie unsere Erwartungen, Europas Regierungen wie auch vielleicht Herr Kohl und andere könnten etwas wie Scham empfinden für ihre Europapolitik.
Wenn die EG-Regierungen ihren gemeinsamen EG-Haushalt beraten, sparen sie sowieso da, wo sie es nicht nötig haben. Sie sparen immer bei denen, die es am nötigsten haben. Die ohnehin bescheidenen Mittel für den Regional- und den Sozialfonds trimmen sie zur völligen Bedeutungslosigkeit. Sinnvolle ökologische Strategien für Arbeitsplatzbeschaffung, für sanfte ökologische Technologien fallen ihnen überhaupt erst nicht ein. Die EG, wie sie heute aussieht — das Kapital arbeitet im Dunkeln, ohne demokratische Kontrolle —, ist nicht zuletzt ein Versuch der europäischen Länder geworden, den Verlust ihrer Kolonien durch neokolonionale Beziehungen auszugleichen.
Das geschieht durch Ausbeutung der Rohstoffe und der billigen Arbeitskräfte, Benutzung einheimischer Eliten als Brückenkopf für kapitalistische Vorstellungen von Entwicklung,
und durch eine Spaltung der Entwicklungsländer untereinander, um organisierte Selbsthilfereaktionen — das ist kein dummes Geschwätz — nicht aufkommen zu lassen.Die Wirtschaftsverbände des Ostens machen es genauso mit ihrer staatskapitalistischen Tradition. Wir gleichen uns da sehr.Die EG leistet ihre Entwicklungshilfe in einer Weise, daß bei weitem der größte Teil des gewährten Geldes in die EG-Konzerne zurückfließt. Sie brauchen nur die EG-Dokumente nachzulesen. Die Tochtergesellschaften und die Konzerne werden dadurch gefestigt und vergrößert.Während wir über Europapässe diskutieren, wird das Verhältnis der EG zu den Staaten der Dritten Welt immer militanter, wird die Unfähigkeit der EG, im Innern die Probleme zu lösen, immer größer. Auf der einen Seite wird ein Europa ohne Binnengrenzen angestrebt, auf der anderen Seite wird die Überwachung immer größer via maschinenlesbare Ausweise, Zusammenarbeit der Innenminister, verstärkte Kontrolle der EG-Außengrenzen.
Laut EG-Vertrag streben die Mitgliedstaaten die stetige Verbesserung der Lebensbedingungen an.
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Frau KellyAber in 1980 betrug zu diesem Zweck der Sozialfonds nur 6,4 % des EG-Haushalts, 6 % für die Umschulungsmaßnahmen, für die Rehabilitation von Behinderten und für die Arbeitsplatzbeschaffung für Frauen und Jugendliche. Welch lächerlicher Betrag: 6,4 %!Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Studie des Europäischen Gewerkschaftsinstituts in Brüssel, das die Umstellung der Rüstungsindustrien auf Friedensproduktion fordert.
Das ist ein ökologischer Weg, den die EG heute einschlagen kann, und sie hätte dann, Herr Genscher, die Unterstützung von den vielen Bürgern und Bürgerinnen, von denen Sie immer sprechen.Geblieben ist ein Agrarmarkt, für dessen Absurdität die deutschen Steuerzahler Jahr für Jahr Milliardenbeträge aufbringen müssen. Mehr als 20 Millionen t Futtermittel importiert die EG aus Ländern der Dritten Welt. Das heißt, jedes zehnte Kotelett, jeder zehnte Liter Milch hat seinen Ursprung in Ländern, in denen akute Krisen in der Nahrungsmittelversorgung herrschen. Keine Futtermittelimporte aus Ländern der Dritten Welt, insbesondere aus Hungergebieten, müßte die Forderung auf dem Mailänder Gipfel sein.
Zu Futterzwecken importiert die Europäische Gemeinschaft Hirse aus Ländern wie Sudan, Kenia und El Salvador. Doch gleichzeitig sind diese Länder wie Kenia, Sudan, El Salvador Empfängerländer des EG-Nahrungsmittelhilfeprogramms. Welcher Zynismus von EG-Politik: für die eigenen Länder die Futtermittel zu importieren und Anbauflächen wegzunehmen und über das Nahrungsmittelhilfeprogramm Nahrungsmittel in diese Länder zu entsenden. Wir fordern radikale Veränderungen in der Agrarstruktur und bei der Agrarpolitik, die Erhaltung der klein- und mittelbäuerlichen Landwirtschaft.Die europäische Politik von oben, von den Regierungschefs, ist eine Politik der Unwahrhaftigkeit geworden, die wir nicht unterstützen können. In einer Resolution im Europa-Parlament forderten die EG-Parlamentarier den Aufbau einer gemeinsamen EG-Waffenindustrie. Der Abgeordnete Fergusson hatte einen Bericht vorgelegt, der sich mit der Rüstungsbeschaffung als wichtigem Ziel der EG befaßt. Schon 1978 ist ein früherer Bericht, der Klepsch-Bericht, zu der Schlußfolgerung gekommen, daß eine engere Zusammenarbeit der EG in der Waffenproduktion unbedingt nötig sei. Ich möchte heute in dieser Europadebatte etwas darüber hören, warum die EG auf diesem angeblichen Spitzengebiet Nachholbedarf hat. Die EG-Waffenproduktion ist als europäische Antwort auf die amerikanisch-japanische Herausforderung konzipiert worden. Herr Genscher, Waffen sind keine Antwort für ein geeintes, vereinigtes Europa.
Regional konzentrieren sich die EG-Waffenexportein die Dritte Welt auf den Nahen Osten zu 48 %, aufden Fernen Osten zu 17 %, auf Nordafrika zu 9,2 % und auf das südliche Afrika zu 9 %. Herr Genscher, sagen Sie — und Sie, Herr Kohl, ebenfalls — etwas in dieser Debatte dazu, daß sich die EG-Waffenexporte in die dritte Welt in den letzten Jahren mehr als verdoppelt haben.Außenminister Genscher betont ständig, wie wichtig ihm das Thema Menschenrechte für Europa geworden ist. Ich habe auch gedacht, daß Sie glaubwürdig in dieser Frage sind, Herr Genscher. Doch dieser hohe moralische Anspruch, sich in Europa für Menschenrechte einzusetzen, kollidiert mit den eigenen wirtschaftlichen Interessen, Herr Genscher. Siehe Südafrika! Er kollidiert auch mit den eigenen militärischen Interessen. Frankreich z. B., größter Waffenexporteur der EG, liefert mit Vorliebe an Militärdiktaturen in Afrika. Das Apartheidregime in Südafrika erfreut sich bester ökonomischer und kultureller Beziehungen zu Westeuropa und der Bundesrepublik. Herr Genscher, das ist nicht Menschenrechtspolitik in der EG, wenn Sie nicht in der Lage sind, wirksame Sanktionen gegen das Apartheidregime in Südafrika zu verhängen.
Das hat nichts mehr mit Menschenrechtspolitik zu tun. In diesem Fall wieder eine Portion europäischer Doppelmoral: Südafrika bleibt wichtiger Lieferant strategischer Rohstoffe, und so werden solche Sanktionen bisher nicht angewandt. Ich meine, daß die EG die Blockpolitik, die wir überwinden wollen, stabilisiert und zementiert. Schon 1981 gab es Entschließungen im Europa-Parlament zur Überwachung und zum Schutz der Seeverbindungen. Es wird deutlich ausgesprochen, daß Europa nicht zulassen kann, daß Entwicklungen, die europäische Interessen berühren, von den beiden Supermächten geregelt werden. Wir sind auch dieser Meinung. Aber ist die Antwort darauf, selber so zu werden, wie es die Supermächte sind, selber eine dritte Supermacht zu werden, um die Blöcke auseinanderzurücken? Ein neuer chauvinistischer Nationalstaat namens Europa mit Europahymne und, wenn es nach Professor Karl Kaiser geht, mit EG-Friedenstruppen zur Einhaltung von Waffenstillständen, zur Sicherung von Grenzen oder Untermauerung von Garantieverpflichtungen der EG und über Art. 68 des Spinelli-Vertrages zur Europäischen Union, mit Eingreifverbänden in Krisengebieten, bei denen es um gemeinsame Interessen der Europäer geht, z. B. im Nahen Osten?Die Wiederbelebung der WEU mit ihrer weitgehenden Beistandsverpflichtung gehört zu dieser Europadebatte. Der starke Druck auf das neutrale EG-Mitglied Irland, bei den gemeinsamen europäischen Anstrengungen zur Sicherheit doch einen Beitrag zu leisten, lassen uns vermuten, was es heißt, europäische NATO-Säule zu werden. Deutsche Schiffe laufen nun in irischen Häfen ein und machen Besuche, und das neutrale EG-Mitglied Irland sieht seine Neutralität durch diese Europäische Union bedroht.
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Frau KellyUns allen muß klar werden, was die angebliche Europäisierung der Sicherheitspolitik bedeutet. Sie beinhaltet die von den USA gewünschte Einschaltung einer zukünftigen westeuropäischen Militärmacht in außereuropäischen Regionen. Herr Vogel, ich glaube, die SPD kann es nicht mitmachen, daß die Westeuropäer in außereuropäischen Regionen militärisch eingreifen, oder? Doch schon heute hilft die Bundesregierung mit Stimmen der SPD der südlichen NATO-Flanke Türkei, und WEU-Empfehlungen wie die vom 29. November 1983 schaffen Voraussetzungen für ein Intervenieren der NATO-Streitkräfte in Gebieten außerhalb des NATO-Vertragsbereiches bei Bedrohung lebenswichtiger Interessen. Man nennt es Lastenteilung im Bündnis. Ich will eine Aussage von der SPD, ob sie diese Europapolitik so mitträgt.Die Europäisierungsdebatte ist keineswegs nur von westeuropäischen, sondern explizit von amerikanischen Interessen bestimmt. An einer europäischen Militär- und Spitzentechnologiepolitik wird gebastelt, um von echten Krisen und Problemen abzulenken.Wir warnen aber auch vor der Nutzung der zivilmilitärischen Doppelfunktion der europäischen strategischen Potentiale im Weltraum. Wir warnen vor einem Krieg der Sterne für Westeuropa. Wer den WEU-Bericht von Herrn Wilkinson gelesen hat, wird wissen, daß man schon Antisatelliten- und Raketenabwehrwaffen für Europa fordert. Wir werden das nicht mittragen; denn, wie gesagt, zivile Programme haben militärische Anwendung.
Uns hilft nicht weiter, wenn der Unterschied zwischen der EG und der NATO verwischt wird, wenn z. B. immer mehr ignoriert wird, daß es auch Mitgliedstaaten gibt, die keinem Militärbündnis angehören.Ich komme zum Schluß. Es hilft uns nicht weiter, wenn EG-Süderweiterung und NATO-Mitgliedschaft miteinander verknüpft werden, wenn Spaniens Verbleiben in der NATO als heimliche Voraussetzung für die EG gilt, denn — das ist wirklich einer der wichtigsten Sätze; ich möchte das hier noch betonen — durch solchen Druck können Länder wie Irland und Spanien ihre Blockfreiheit und Neutralität nicht bewahren. Genausowenig hilft es, wenn das französische Nuklearpotential, dessen Anrechnung bei den Genfer INF-Verhandlungen mit der Begründung verweigert wurde, es diene lediglich der französischen Selbstverteidigung, heute plötzlich als ein die ganze EG überspannender Schutzschirm verstanden wird. Gegen diese europäische Atomstreitmacht werden wir gewaltfrei in den Parlamenten und auf der Straße kämpfen. Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stercken.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von morgen ab ringen 12 europäische Regierungschefs, unterstützt von ihren Außenministern, um mehr Einheit, um mehr Einigung in Europa. Ohne Verständnis und Kompromiß wird es dabei nicht abgehen. Ich hoffe daher, daß die Verhandlungen in einer Atmosphäre und in einem Ton vor sich gehen können, der nicht den Beiträgen entspricht, die wir heute von der Opposition zu dieser Thematik hier haben hören müssen.
— Wenn es notwendig wäre, wenn es wirklich die Not in Europa beenden könnte, meine Damen und Herren von der Opposition, dann kann ich nur den Bundeskanzler zitieren, der Ihnen schon gesagt hat: Sie haben sehr lange dazu Zeit gehabt.
Wir hätten es heute vorgezogen, wenn Sie uns eine Bilanz Ihrer Leistungen und Konzepte zu dieser Frage hätten vorführen können.
An den Anfang meines Beitrags möchte ich ein Gleichnis stellen. Viele, die von Deutschland nach Italien reisen, befahren in Tirol die Europabrücke. Wenn es auf dem Brenner nicht vorwärtsgeht, staut sich auch hier der Verkehr.
Ein Zurück gibt es auf einer Autobahn nicht. Wer seitwärts aussteigen will, stürzt in den Abgrund. Er tut gut daran, Geduld zu üben, bis sich der Stau löst.Wir hoffen jedenfalls darauf, daß sich in Mailand der Stau löst, und wir wollen mit unserer Debatte dazu beitragen
und der Bundesregierung ein Votum des Parlaments mitgeben, Herr Ehmke, auf das sie sich berufen kann. Ich würde jedenfalls einen Vorteil darin erkennen, die Verhandlungsmöglichkeiten des Bundeskanzlers durch konstruktive Beiträge zu stärken. Denn innerhalb der Gemeinschaft sind die Meinungen zu den aktuellen Fragen schon unterschiedlich genug: zur Reform der Gemeinschaft, zur Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, zur Stärkung des Europäischen Parlaments, zum Ausbau des Binnenmarkts, zur Technologiegemeinschaft und schließlich zu dem Vertrag über eine Europäische Union. Eine gewichtige Mehrheit dieses Hauses wird mir darin zustimmen, daß wir in den vorgenannten Zielsetzungen übereinstimmen. Sie dienen ja alle dem obersten Ziel, die Friedensgemeinschaft der EG zu einem handlungsfähigen Instrument gemeinsamer europäischer Politik zu machen, zu einem Partner der Vereinigten Staaten und Kanadas, zum Kernstück einer realistischen gesamteuropäischen Entspannung. Da wir uns jedoch in dieser Friedensgemeinschaft zu sehr mit uns selbst beschäftigen, können wir anderen nicht bei der Sicherung von Frieden und Freiheit helfen, obwohl sie darauf angewiesen sind. Das Beispiel Zypern zeigt, daß Europäer den Beistand der Ver-
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Dr. Sterckeneinten Nationen in Anspruch zu nehmen gezwungen sind, weil ihnen die Gemeinschaft keinen Beistand zu leisten vermag. Mit Reden und Kommuniqués ist es ja nicht getan.Eine gewichtige politische Union könnte sich auch in stärkerem Maß dem Problem zuwenden, das die Völker der Gemeinschaft am meisten bedrängt, nämlich dem Problem der Teilung Europas. Zur Überwindung der Teilung unseres Vaterlandes setzen wir eine europäische Friedensordnung voraus, die allen Völkern dienen soll, die im anderen Teil Europas immer noch an den Folgen des Krieges tragen. Wir danken der Gemeinschaft, daß auch der innerdeutsche Handel als ein Beitrag zu solcher Verbundenheit gewertet wird.Diese Gemeinschaft, früher bekämpft und diffamiert, ist inzwischen eine Realität geworden, mit der man sich abgefunden hat und der vielfach sogar Erwartungen entgegengebracht werden: in Warschau und Prag, in Budapest, Bukarest und Sofia und nicht zuletzt in Ost-Berlin. Die Rede von Generalsekretär Gorbatschow ist uns allen in Erinnerung. Trotz der Lage der Sowjetunion in zwei Kontinenten hat er der europäischen Zuordnung die größere Bedeutung zugewiesen.Diese gesamteuropäische Aufgabenstellung in die sich die deutsche Frage einbettet, wird um so mehr Bedeutung gewinnen, je solider die Wirkungsmöglichkeiten der Europäischen Union sind. Solange sie sich jedoch vornehmlich mit sich selbst beschäftigt, wird sie in diesem Sinn wenig bewegen. Nur Einigkeit verleiht die Stärke, mit der wir zu Sicherheit und Frieden in anderen Teilen der Welt und auch bei uns aktiv beitragen können. Die Zusammenarbeit beispielsweise mit den ASEAN-Staaten oder mit der Contadora-Gruppe eröffnet der Gemeinschaft die Chance, an friedenstiftenden Prozessen mitzuwirken. Wir sollten die Europäische Politische Zusammenarbeit ausdrücklich ermuntern, auch in anderen Teilen der Welt, insbesondere in Afrika, Prozesse zu fördern, die zur Zusammenarbeit in der jeweiligen Region stärker als bisher anhalten.
In Afrika — etwa bei der Bekämpfung des Hungers — ist die Europäische Gemeinschaft längst der bedeutendste Partner geworden. Sogar nationale Hilfeleistungen werden in der Statistik, etwa der der Äthiopier, den Gemeinschaftsleistungen zugezählt. Man sieht uns schon integrierter, als wir es leider wirklich sind.Die technologische Zusammenarbeit kann zwischen den Europäern erheblich gesteigert und ausgeweitet werden. Doch dies soll ohne neue Bürokratie geschehen. Die Technologiegemeinschaft wird uns befähigen, auch mit anderen Staaten, insbesondere den Vereinigten Staaten, zusammenzuarbeiten; so formulierten jedenfalls französische und deutsche Parlamentarier der beiden Freundschaftsgruppen nach kürzlichen Beratungen in Würzburg. Die Zusammenarbeit darf nicht exklusiv sein. Sie soll neue Technologien und damit neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Wer einen Gegensatz zwischen europäischer und atlantischer Zusammenarbeit konstruiert, wiederbelebt eine nutzlose Alternative und muß sich die Vermutung gefallen lassen, daß er anderes im Sinne führe, als die Interessen der Alten und der Neuen Welt miteinander zu vereinigen.Technologische und politische Zusammenarbeit mit den Staaten des Europarates könnte auch bei diesen Nachbarn die Mitwirkungsmöglichkeiten an einer gesamteuropäischen Friedensordnung bei Wahrung ihrer besonderen Voraussetzungen erweitern. Solchen Zielsetzungen wird man allerdings nur mit einer großen Dosis Pragmatismus näherkommen. Das Weißbuch der EG-Kommission mit seinen 300 Vorschlägen setzt da die richtigen Akzente. Dazu gehört auch ein Evergreen in diesem Hause: die gegenseitige Anerkennung der Bildungsabschlüsse.
Was die deutsch-französische Rektorenkonferenz vor 30 Jahren gefordert hatte, ist bei uns an dem Beharrungsvermögen vieler Kultusverwaltungen gescheitert. Die Ständige Konferenz der Kultusminister hat verzweifelt zu helfen versucht. Einige Kompromisse sind zustande gekommen. Doch bis auf den heutigen Tag wird ein Examen an der Sorbonne, in Leuven, in Leiden, in Cambridge oder in Oxford bei uns nicht automatisch anerkannt. Es bedarf umständlicher Verfahren. Welche Motivation, meine Damen und Herren, zum Erlernen anderer Sprachen soll unsere Jugend haben, wenn das Studium an europäischen Universitäten derart erschwert wird?
Die EG-Kommission sollte künftig manchen Sonntagsrednern begreiflich machen, daß die im EWG-Vertrag vereinbarte Freizügigkeit nicht erfüllt wird, wenn man einem deutschen Studenten sagt, daß allenfalls zwei Semester seines Studiums in Frankreich angerechnet werden können. Wir brauchen eine motivierte europäische Jugend, sprachkundig und weltoffen. Direktoren deutscher und französischer Universitäten waren vor 30 Jahren der Meinung, daß solche Freizügigkeit zu verantworten sein würde. Die Bürokratie hat ihren Sachverstand und ihren Wagemut nicht ernstgenommen. Dabei brauchen wir solchen Geist, wenn wir in Europa, im übertragenen Sinne, wieder Kathedralen bauen wollen, von denen de Gaulle einmal gesprochen hat.Unternehmerisches Denken soll sich nicht allein für deutsche Interessen beleben. Der Elan entsteht doch weniger beim Puzzlespiel der Arbeitsteilung als vielmehr in der Synthese der Ideen. Wir brauchen für die nachfolgenden Generationen mehr Hoffnung, Willen und Selbstvertrauen.Wer die Welt kennt, weiß um den europäischen Reichtum an Überlieferung, Vielfalt und Chancen. Kulturpessimismus ist nicht am Platz. Wir müssen uns mehr zutrauen.
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Dr. SterckenIn Mailand werden zum erstenmal Spanien und Portugal bei einem Gipfel vertreten sein, zwei Länder, deren Mitwirkung wir von Anbeginn als eine Stärkung ihrer demokratischen Verfassungen verstanden haben. Dies war jedenfalls in einer langen Debatte der Kern des Dialogs. Das muß nun wiederum für uns eine Verpflichtung sein, uns selbst in Erinnerung zu rufen, daß der politische Wille entscheidend ist. Jedweder Kompromiß ergibt sich aus der Erkenntnis, daß langfristig der Primat der politischen Zielsetzung den Interessen der Europäer, und zwar aller Europäer, dient.
Die beträchtlichen wirtschaftlichen Erfolge, die wir heute registrieren können und die sich offenbar auch noch ausbauen lassen, sind Konsequenz eines politischen Willens. Die Väter der Gemeinschaft hatten in der Hoffnung gelebt, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit die Entschlossenheit stärken würde, die politische Integration zu wagen. Wir sollten heute nicht den europäischen Politikern nachstehen, die am Tage nach einem furchtbaren Krieg Mut und Vertrauen in einen neuen Anfang setzten und dabei in ihren Ländern keineswegs von der Woge der öffentlichen Meinung getragen wurden.
Gaston Thorn hat vor wenigen Tagen in Zürich daran erinnert, daß von den Ende der 60er Jahre entwickelten Zielsetzungen Vollendung, Vertiefung und Erweiterung letztlich nur die Erweiterung verwirklicht worden sei; Europas Prosperitäts- und Einflußverluste gegenüber der Neuen Welt und dem neuen pazifischen Weltzentrum seien an den Arbeitslosenzahlen erkennbar. — Ich muß, wie ich sehe, zum Ende kommen.
— Ich verstehe, daß Sie das freut. Denn das, was Sie hier hören, ist ja nicht nur angenehm für Sie. Es gibt sicherlich noch viele andere kluge Gedanken, die Sie am Tresen freundlicherweise mit mir teilen, die Sie aber bekämpfen, wenn Sie sie von einem Unionspolitiker von dieser Rostra hören müssen. — Ich kann dem Bundeskanzler und dem Herrn Außenminister — jedenfalls für die CDU/CSU-Fraktion — nur viel Erfolg, viel Geduld und Beharrlichkeit wünschen,
damit wir bei den soeben vorgetragenen politischen Zielsetzungen ein gutes Stück vorankommen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die europäischen Höhenflüge der Koalition sind schon sehr interessant, vor allem dann, wenn man sie an den Realitäten mißt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gemeinsame Agrarpolitik, das grüne Europa, ist heute nicht mehr Motor der Integration, so wie es von den Gründungsvätern der EG einmal gedacht war. Im Gegenteil: Die Agrarpolitik erweist sich zunehmend als Bremsklotz für das übrige Europa. Das grüne Europa produziert nicht mehr verkraftbare Überschüsse und Finanzlasten, an denen alles andere zu ersticken droht.
Diese Entwicklung war seit Jahren abzusehen. Während der sozial-liberalen Koalition haben wir Sozialdemokraten oft genug darauf hingewiesen,
Reformen gefordert
und auch Vorschläge gemacht.
Aber alle unsere Vorschläge sind bereits im Ansatz gescheitert,
nicht zuletzt deshalb, weil weder die Berufsvertretung noch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition — nein, ich muß sagen: von der CDU/ CSU —, angesichts der damals vollen EG-Kassen bereit waren, uns zu unterstützen. Von den langfristigen Gefahren permanenter Überproduktion wollten Sie überhaupt nichts wissen. Überschüsse nahmen Sie gar nicht zur Kenntnis. Ihre europäische Agrarpolitik erschöpfte sich in der Forderung nach höheren Preisen.
Mit dieser Politik ist es nun endgültig vorbei. Wir sind im grünen Europa an einem Wendepunkt angekommen. Aber die Bundesregierung verfügt offensichtlich nicht über ein Konzept, das deutlich macht, wie diese Wende ausgeführt werden soll. Sie hat zumindest nichts, was man als Konzept erkennen könnte.
Dort, wo sie Änderungen durchgesetzt hat, führten sie in eine Sackgasse und wurden — zumindest für die deutschen Landwirte — statt zu einer Wende vorwärts zu einem lebensgefährlichen Salto rückwärts.
So wurde der deutsche Grenzausgleich im März letzten Jahres auf Betreiben der Bundesregierung in einem Radikalschnitt abgebaut.
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Müller
Hier will ich gleich einer Legendenbildung vorbeugen, weil der Bundeskanzler gesagt hat, wir hätten das schon tun müssen. Schade, daß der Herr Kollege Ertl nicht da ist; er könnte Sie erinnern, wie Sie sich damals verhalten haben, als es um den Abbau von ein paar Prozenten ging. Sie haben das immer strikt abgelehnt und dagegen Einspruch erhoben. Und seien wir doch ehrlich: Dieser Abbau des Grenzausgleichs wurde doch nur in Kauf genommen, um die Quoten durchzusetzen.Ebenfalls auf Initiative der Bundesregierung, die ständig die freie Marktwirtschaft propagiert, wurde dann die durch und durch planwirtschaftliche Milchkontingentierung eingeführt. Mit dieser Zwangsmaßnahme ist es zwar gelungen, die Mengenproduktion zu beschränken, aber es ist nicht gelungen, die Probleme des Milchmarktes auch nur annähernd in den Griff zu bekommen. Immer noch liegt die EG-Produktion 8 Millionen Tonnen über dem Verbrauch. Wieder lagern eine Million Tonnen Butter in den Lagerhallen. Hinzu kommen die vielen Probleme, durch die Quotenregelung für die Landwirte heraufbeschworen, schwerwiegendere als die alten. Nicht umsonst ist die Stimmung in der deutschen Landwirtschaft so mies wie nie zuvor.Die Bundesregierung hat in der Agrarpolitik schwere Fehler gemacht. Sie hat kurzsichtig und ohne Augenmaß gehandelt
und dabei nachhaltig unserem Ansehen in Europa geschadet.
Gravierender noch als der Abbau des Grenzausgleichs und die Milchkontingentierung sind die Anhebung der Steuerpauschale um 5 % im Juni letzten Jahres und das Getreidepreisveto vom 12. Mai dieses Jahres. Mit diesem Veto hat der Bundeskanzler sich in eine Sackgasse manövriert. Hält er weiter daran fest, daß es sich um lebenswichtige Interessen für die Bundesrepublik handelt, dann muß das Getreidepreisthema in Mailand auf den Tisch. Das ist dann doch wohl selbstverständlich; da haben Franz Josef Strauß und der Bauernverband völlig recht. Ich fürchte nur, daß dann — frei nach Strauß — dem Mirakel von Stuttgart, dem Spektakel von Athen und dem Debakel von Dublin das Fiasko von Mailand folgen könnte.
Aber geht es wirklich um vitale Interessen unseres Landes? Wer — wie diese Bundesregierung — bereit war, einer Getreidepreissenkung um 0,9 % zuzustimmen, wird bei einem Minus von 1,8% mit einer solchen Behauptung völlig unglaubwürdig.
Mit dem Vorgehen der EG-Kommission, die Getreidepreise in eigener Zuständigkeit um 1,8% zu senken, sieht es für die deutschen Bauern viel schlechter aus als vor dem Veto.
Handel und Genossenschaften haben schon vor dem Zusammenbruch der deutschen Getreidepreise gewarnt.Ihr Veto — der Herr Bundeskanzler ist gar nicht mehr da —, das Veto des Bundeskanzlers hat den Bauern nicht geholfen, aber bei unseren europäischen Partnern wertvollen Kredit verspielt.
Die Bundesregierung hat wichtige deutsche Interessen nicht verteidigt, sie hat sie aufs Spiel gesetzt. Was wird die Bundesregierung angesichts dieser niederschmetternden Fakten tun, um den europäischen Schaden zu begrenzen und ein Desaster für die deutsche Landwirtschaft abzuwenden?Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie nicht auch der Meinung sind, daß ein europäisches Gipfeltreffen andere, wichtigere und für die europäische Einigung zukunftsweisendere Fragen und Probleme gerade jetzt erörtern müßte, statt über Zehntelprozente zu streiten.
Bei dem letzten Gipfeltreffen ging es einmal um die Milchquote, dann um den Steuerausgleich, dann um die Zuckerung des Weines. Sind das Themen für einen EG-Gipfel?
Das grüne Europa braucht neue Anstöße. Vor mehr als 25 Jahren wurden in Stresa die Grundlagen für die EG-Agrarpolitik gelegt. Wir brauchen ein neues Stresa, um die Grundlagen fortzuschreiben, damit das europäische Einigungswerk nicht an der Agrarpolitik scheitert. Die Bundesrepublik Deutschland muß einen konstruktiven Beitrag dazu leisten. Sie darf weder Störenfried noch Zuschauer sein.
Sie muß vielmehr gestaltend an einem Europa mit Zukunft mitwirken, sonst, meine Damen und Herren, besteht die Gefahr, daß unsere Bürger, vor allem unsere Jugend, den Glauben an ein einiges Europa verlieren und sich enttäuscht abwenden. Tun Sie endlich etwas!
Das Wort hat Frau Dr. Hellwig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Müller, nur ein Satz zu Ihrer Rede. Frau Hoffmann wird noch im einzelnen auf Ihre Rede eingehen.
Ich weise nur auf einen Widerspruch hin: Einerseits beklagen Sie, daß bisher alle Gipfel von der Agrarpolitik beherrscht wurden, andererseits halten Sie dies beim nächsten Gipfel für unausweichlich. Das ist ein Widerspruch. Ich sehe das nicht als erforderlich an.Gerade Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wissen, daß ich einem Streit in der Regel nicht ausweiche, sondern sogar Gefallen daran
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Frau Dr. Hellwigfinden kann, aber meines Erachtens ist heute nicht ein Tag des Streits, sondern heute ist der Tag der Einigkeit: Wir alle streben auf dem Mailänder Gipfel das gleiche Ziel an. Die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion sind sich für Mailand in vielen Punkten einig:Erstens. Wir wollen gemeinsam die Europäische Gemeinschaft zur politischen Union ausbauen. Zweitens. Wir wollen gemeinsam die Befugnisse des Europäischen Parlaments stärken. Drittens. Wir wollen gemeinsam weg vom Einstimmigkeitsprinzip bei den Entscheidungen des Ministerrats. Bis auf begrenzte, genau definierte Ausnahmen sollen Mehrheitsentscheidungen gelten. Viertens. Wir wollen gemeinsam die Intensivierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Fünftens. Wir wollen gemeinsam die europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Forschung und Technologie und im Bereich des Umweltschutzes. Wir drängen — sechstens — gemeinsam auf den europäischen Binnenmarkt, und wir sehen gemeinsam im Abbau der Arbeitslosigkeit ein europäisches Problem.Ich will die Gemeinsamkeiten zwischen uns nicht übertreiben. Sicher bricht sofort Streit zwischen uns aus, wenn wir erörtern, wie wir auf europäischer Ebene die Lösung der Probleme angehen wollen. Aber das ist heute nicht das Thema. Heute geht es nicht um das Wie, sondern es geht um das Ob, darum, ob wir europäische Lösungen brauchen oder ob wir uns mit nationalen begnügen können.Wir sind uns einig: In den genannten Punkten brauchen wir europäische Lösungen. Es ist wichtig, diese Einigkeit als Signal in Richtung Mailand hier ausdrücklich festzustellen. Die genannten Punkte, das ist das europäische Idealhaus, so wie wir Deutschen uns die Europäische Union vorstellen. Auch die anderen — die Italiener, die Franzosen, Engländer — werden mit ihren Idealhäusern von Europa nach Mailand kommen, und der Wettbewerb, in welches Haus dann alle Bürger gemeinsam einziehen wollen, wird gar groß sein.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, schlagen Sie in Ihrem und unserem Interesse nicht die Scheiben unseres Hauses ein! Werben Sie lieber mit dafür.
In der Europa-Kommission des Bundestages konnten sich bisher alle Fraktionen in so wichtigen Grundsatzfragen immer auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen. So liegt Ihnen auch heute ein einstimmig beschlossener Bericht zum Mailänder Gipfel vor, in dem wir, die Europa-Kommission des Bundestages, das Flottmachen der Europäischen Gemeinschaft in den folgenden beiden Schwerpunkten für unabdingbar halten, nämlich mehr Macht dem Europäischen Parlament und Mehrheitsabstimmungen im Ministerrat.
Warum? In vielen Bereichen haben die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit bereits an die Europäische Gemeinschaft abgegeben, z. B. in der Agrar- und Wettbewerbspolitik. Wir Deutschen erleben das gerade schmerzlich beim Getreidepreis und beim abgasarmen Auto. Die Regierungen haben diese Fragen damit der Kontrolle ihrer eigenen Parlamente entzogen, aber Sie haben sich noch nicht darauf einigen können, diese Fragen der Kontrolle des Europäischen Parlaments zu unterstellen.Die Europäische Gemeinschaft leidet an einem Demokratiedefizit. Das heißt, sie ist undemokratisch organisiert. Wir sind hier an einer Grundsatzfrage: Was für ein Europa wollen wir? Wollen wir ein Europa nach Art der Kabinettspolitik des 18. und 19. Jahrhunderts? Ein Europa nach Art des Wiener Kongresses, in der die damaligen Regierungschefs und gekrönten Häupter zwar auch europäische Entscheidungen trafen, indem sie ganz Europa neu unter sich aufteilten, aber die Völker selbst außen vor standen und nur Opfer dieser Entscheidungen waren?
Ist der Wiener Kongreß in Form des Brüsseler, des Athener, des Mailänder Gipfels wieder auferstanden?
Muß uns Parlamentariern nicht unser demokratisches Gewissen schlagen?Wir begrüßen es daher, daß Bundeskanzler Kohl es sich zur Schwerpunktaufgabe gemacht hat, in Mailand die anderen Regierungschefs davon zu überzeugen, daß das Europäische Parlament an der europäischen Gesetzgebung beteiligt werden muß. Hier allerdings Einigkeit zu erreichen wird sehr schwierig sein. Bisher haben sich nur Italien, die Benelux-Länder und Irland eindeutig für die Stärkung des Europäischen Parlaments ausgesprochen. Leider ist noch nicht gewiß, ob Staatspräsident Mitterrand, der sich gerne als engagierter Europäer ausweist, an diesem Punkte die notwendigen Zugeständnisse machen wird. Frau Thatcher spricht nur mit Geringschätzung vom Europäischen Parlament. Wir erinnern hier vom Bundestag aus die Franzosen und die Engländer an ihre alten demokratischen Traditionen und appellieren an ihr demokratisches Gewissen: Stärken Sie das Europäische Parlament!
Für uns Deutsche gibt es einen ganz aktuellen Anlaß, zufrieden auf das Parlament zu blicken. In der Frage der Grenzwerte bei den Autoabgasen hat das Europäische Parlament mit Mehrheit die deutsche Auffassung vertreten und sie damit zu einer europäischen gemacht.Ich komme zu einem weiteren Schwerpunktziel des Gipfels. Die Entscheidungen im Ministerrat kommen nicht voran. Das seit 1966 vereinbarte Einstimmigkeitsprinzip hat bisher lähmend gewirkt. Jeder kann durch ein angedrohtes oder ausgesprochenes Veto nicht in allen, aber in den mei-
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Frau Dr. Hellwigsten Fragen die große Bremse ziehen. Rund 700 Vorschläge zu europäischen Gesetzen haben sich seit 1966 angestaut. Dies ist ein riesiger Papierberg. Der Ministerrat sagt dazu weder ja noch nein, er vertagt ständig. Dieser Zustand ist unhaltbar. Er wird, wenn Spanien und Portugal hinzukommen, noch unhaltbarer. Wenn hier in Mailand kein Durchbruch erreicht wird, bleibt es bei der sich dahinschleppenden Entscheidungsunfähigkeit des Ministerrates.Bis heute sind in diesem Punkt alle Staaten gleichermaßen Sünder. Auch die frühere SPD/FDPRegierung konnte ebenso wie die Regierungen aller anderen Mitgliedstaaten der Versuchung nicht widerstehen, schon im Vorfeld von Entscheidungen des Ministerrates unter Androhung eines möglichen Vetos Bremswirkungen zu erzielen.Wie läuft dieses verhängnisvolle Verfahren? Wenn die Kommission zu einer bestimmten Frage einen kurzgefaßten europäischen Entwurf macht, treffen sich die Vertreter der Regierungen aus den zehn Mitgliedstaaten und verlangen unter Berufung auf das Einstimmigkeitsprinzip, daß ihre nationalen Vorstellungen voll in die EG-Richtlinien übernommen werden. Zehn verschiedene nationale Vorstellungen summieren sich dann zu europäischem Recht. Wen wundert es da, daß entweder nur entsetzliche Bandwürmer an europäischen Gesetzen zustande kommen oder jahrzehntelang überhaupt kein Gesetz zustande kommt? Mancher wird denken: je weniger Gesetze, desto besser. Wenn aber dies z. B. zur Folge hat, daß durch geschickte nationale Gesetze neue, verdeckte Handelshemmnisse entstehen, ohne daß es gelingt, diese durch europäische Regelungen wegzuputzen, dann geht es eben beim europäischen Binnenmarkt leider nicht vorwärts, sondern rückwärts.Nun kurz zu den Anklagepunkten der Opposition. Vielleicht war es ganz hilfreich, daß endlich auch einmal der Musterknabe Bundesrepublik Deutschland die Vetozähne gezeigt hat und bewiesen hat, daß auch er national zubeißen kann und in Zukunft nicht gewillt ist, nur die nationalen Bisse der anderen wehklagend und einlenkend hinzunehmen. Vielleicht schärft dies sogar das Bewußtsein bei allen Beteiligten, daß jeder ein Stück Nationalbewußtsein zurückstecken muß, wenn Europa vorankommen will.Nun zum freien Reiseverkehr. Im Laufe des letzten Jahres glückten auf Initiative des Bundeskanzlers bahnbrechende Vereinbarungen zwischen Deutschland, Frankreich und Benelux. Wenn jetzt an den Grenzen die Zöllner teilweise noch mauern, dann nur, weil sie nicht so schnell sind wie ihre Regierungschefs. Aber das sind nur Übergangsprobleme. Wir sind hier sehr anspruchsvoll. Erfolge halten wir hier schon für selbstverständlich. Im vierzigsten Jahr nach dem Kriegsende genügt ein Blick auf die Grenzen zur DDR. Welche Schikanen müssen wir hier im Vergleich zu Europa in Kauf nehmen, um von Deutschland nach Deutschland zu reisen!
Beim Umweltschutz bewegt uns alle zur Zeit am meisten das abgasarme Auto. Wir Deutschen sind sehr ungeduldig mit unseren europäischen Nachbarn, weil sie nicht genauso schnell den Katalysator wollen wie wir. Sie wissen doch, meine Damen und Herren von der SPD-Opposition, wie müßig es ist, darüber zu streiten, ob Herr Zimmermann zu hart oder zu wenig hart verhandelt hat. Wenn die anderen genauso denken würden wie wir, dann hätten sie — Härte hin, Härte her — zu unseren Vorschlägen sofort ja gesagt. Hier hilft keine innerdeutsche Schuldzuweisung. Übrigens ist die eindringliche Aufforderung von Ministerpräsident Strauß an Bundeskanzler Kohl hier ebensowenig hilfreich. Sie schmeckt zu sehr nach dieser innerdeutschen Schuldzuweisung.
Hier hilft am besten ein umweltbewußtes Europäisches Parlament mit echten Gesetzgebungsbefugnissen. Wäre die Katalysatorfrage dort zu entscheiden, hätten wir längst eine befriedigende europäische Lösung.Den Ärger um den Europapaß, meine Kollegen von der Europa-Kommission, wollen wir heute auch nicht übertreiben. Nachdem wir engagierten Europäer in Deutschland seit über zehn Jahren darauf drängen, werden wir jetzt das eine Jahr Verspätung auch noch verkraften.
Viel ernster ist das Problem der Arbeitslosigkeit, übrigens in allen Ländern außer in Luxemburg weit höher als bei uns. Die europäische junge technische Intelligenz wandert wieder einmal wie magnetisch angezogen in die Vereinigten Staaten von Amerika. Mit ihr ziehen die Arbeitsplätze weg, die sie hier in Europa schaffen würden, wenn es uns gelänge, sie hier zu halten. Deswegen ist die gemeinsame europäische Forschungs- und Technologiepolitik so wichtig.Meine Damen und Herren, sorgen wir dafür, daß der Umgang der jungen Europäer miteinander noch selbstverständlicher wird. Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Selbstbewußtsein. Nur eine Europäische Union hat genügend Gewicht, um in der westlichen Allianz als gleichberechtigter Partner ernstgenommen zu werden. Unsere Hoffnungen begleiten den Bundeskanzler nach Mailand, uns einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Europäischen Union voranzubringen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Antretter.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihr europapolitisches Engagement, verehrte Frau Kollegin Hellwig, ist bei uns außerhalb jeden Verdachts.
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AntretterWir haben nur die Hoffnung, daß sich die Damen und Herren auf der Regierungsbank, die uns im Moment nicht so zahlreich die Ehre geben, ein bißchen von Ihrem Feuer für Europa anstecken lassen. Was wir heute gehört haben, hat allerdings nicht so sehr danach ausgesehen.
Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung — das bleibt die Wahrheit, auch wenn Sie heute noch so viele Beschönigungs- und Kaschierungsversuche unternehmen — ist mit großartigen Verheißungen angetreten. Das Jahr 1985 sollte zum Jahr Europas, es sollte zum Jahr der europäischen Entscheidung, es sollte zum Jahr des Durchbruchs der politischen Union werden. Heute, unmittelbar vor dem Mailänder Gipfel, müssen wir feststellen, daß der europapolitische Scherbenhaufen, der angerichtet wurde, kaum größer sein könnte. Mit dem Faustschlag des Agrarministers sind alle schönen Erklärungen, man wolle in Mailand den Mehrheitsentscheid im Ministerrat durchsetzen, vom Tisch gefegt worden. Ich bin dafür dankbar, daß Sie, Frau Hellwig, das angesprochen haben, denn das, was der bayerische Ministerpräsident heute an „Ermunterung" sagt, wenn er fordert, hart zu bleiben, steht doch im Widerspruch zu dem, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, den Sie uns heute vorlegen und in dem Sie sagen, daß Sie die Mehrheitsentscheidung wollen.
Meine Damen und Herren, die europäischen Bürger sind enttäuscht darüber, daß die Versprechungen der Regierungschefs, wenigstens die Personenkontrollen an den deutsch-franösischen Grenzübergängen abzuschaffen, nicht gehalten wurden. Auch der Bundeskanzler hatte hier vollmundig hohe Erwartungen geweckt. Sein politischer Wille — soweit er erkennbar war — wich jedoch vor dem Verfolgungswahn der Sicherheitsbürokraten zurück, die ständig neue Begründungen für neue Verhinderungen europäischer Freizügigkeit liefern.Nach den EG-Verträgen dürfte es ja längst keine Kontrollen mehr geben, aber nach wie vor stehen Hunderttausende an den Grenzen im Stau. Trotz der Verheißung des Bundeskanzlers müssen sie sich filzen lassen, während die Möglichkeit, daß Dioxin-Fässer unbemerkt über die Grenzen geschoben werden, keineswegs ausgeschlossen ist.Meine Damen und Herren, daß es hier nicht vorwärts geht, ist natürlich auch der Verzögerungstaktik der Bundesregierung bei der überfälligen Einführung des Europapasses zu verdanken. Ehe ich in meinen kritischen Anmerkungen fortfahre, wollte ich aber hier einen Dank an alle Mitglieder der Europa-Kommission aussprechen, auch an die der Union, die einstimmig beschlossen haben, zum 1. Januar 1985 den Europapaß einzuführen; aber auch hier haben wir keinen Widerhall auf der Seite der Regierung gefunden.
Die Bürger unseres Landes sollen auf den Paß bis zur Neufassung des Paßgesetzes im Jahre 1987 warten müssen. Nun stellen Dänemark, Irland und Luxemburg den Europapaß aus, Frankreich ist mit dem Druck fertig, Griechenland, Belgien und die Niederlande wollen das Dokument noch in diesem Jahr ausgeben, während Italien wartet, bis seine Bestände nationaler Pässe aufgebraucht sind. Nur die Briten und die Kontrollfanatiker in der Bundesrepublik Deutschland müssen unbedingt maschinell lesbare Ausweise haben. Meine Damen und Herren, was ist da eigentlich die Tatsache wert, daß die Staatschefs der Europäischen Gemeinschaft seit dem 23. Juni 1981 nicht weniger als viermal — zuletzt dramatisch im Juni 1984 in Fontainebleau — ihre Entschlossenheit bekräftigt hatten, den Europapaß in allen Ländern schon am 1. Januar 1985 einzuführen?Für die Bundesregierung hätte die Einhaltung dieses Datums den Verzicht auf die maschinelle Lesbarkeit bedeutet. Das wäre ein Sieg des Datenschutzes und ein Sieg bürgerlicher Freiheitsrechte gewesen
und damit ein Fortschritt für Europa!
Heute sehen wir jene triumphieren, denen nicht genug kontrolliert, denen nicht genug gesichtet und denen in diesem Lande nicht genug gespeichert werden kann. Dies geht inzwischen sogar so weit, daß Reisende mit ihrem gültigen Europapaß an den Grenzen abgewiesen werden, weil offenbar die nationalen Verwaltungen noch nicht einmal über die Existenz des neuen Dokuments informiert haben.
Meine Damen und Herren, die Untätigkeit und das völlige Versagen der Regierungen in der europäischen Verkehrspolitik ist ja ohnehin gerichtsnotorisch. Mit Ihrer katastrophalen Katalysatorpolitik haben Sie dies alles zu einem unrühmlichen Höhepunkt gebracht. Es bleibt in dieser Stunde festzuhalten, daß der Innenminister zunächst unsere Forderung nach Abgasentgiftung für unrealistisch erklärte, die europaweite Einführung von bleifreiem Benzin als Illusion bezeichnete, dann aber plötzlich das Umweltauto zum 1. Januar 1986 mit amerikanischen Normen für möglich und notwendig hielt und letztlich sogar mit einem nationalen Alleingang bramarbasierte.Meine Damen und Herren, zu dem, was dabei wirklich herausgekommen ist, schreibt die „Stuttgarter Zeitung" in ihrer gestrigen Ausgabe:Was Innenminister Zimmermann am 22. März als Jahrhundertentscheidung feierte, nämlich die Einigung auf einen Stufenplan, bei dem nur noch eine Feinabstimmung der genauen Abgasgrenzen festgelegt werden müßte, hat sich längst als Witz des Jahrhunderts entpuppt.Meine Damen und Herren, wer so Europapolitikmacht, verhindert selbst, was er durchzusetzen für
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Antretterrichtig und wichtig hält. In Tateinheit damit schadet er Europa.
Der europa- und umweltpolitische Zickzackkurs der Regierung, das instinktlose Hin und Her zwischen den unterschiedlichen Interessen der Automobilindustrie haben wertvolle Zeit gekostet
und beim Autofahrer, beim Steuerzahler, aber auch bei der Industrie Vertrauen zerstört.
Meine Damen und Herren, ich möchte der Europa-Kommission auch an dieser Stelle dankeschön sagen. Die, die jetzt so wild durcheinander schreien, waren nicht dabei. Aber dieses Dankeschön geht an die Kollegen der Union, die am vergangenen Freitag mit uns einstimmig eine Aufforderung an die Regierung beschlossen haben, endlich diese technische Maßnahme einzuführen, die als einzige eine 90%ige Abgasentgiftung gewährleistet. Vielen Dank für diesen Beschluß am vergangenen Freitag!
Meine Damen und Herren, statt Tempo 100 jetzt zu praktizieren, warten Sie auf das Ergebnis eines Großversuchs, der überflüssig ist, weil wir in Anhörungen im Deutschen Bundestag eindeutig bestätigt bekommen haben, daß es kein unmittelbar wirksameres Mittel zur sofortigen Reduktion der Stickoxide als ein Tempolimit gibt.Die Europapolitik der Bundesregierung ist unberechenbar. Deshalb ist sie unfähig, wirkliche Gemeinschaftsinitiativen zu entwickeln.
Am bittersten rächt sich das Fehlen politischer Führung am Beispiel der Beschäftigungspolitik.
Ein Europa der Massenarbeitslosigkeit kann für niemand attraktiv sein. Das Versagen der Bundesregierung auf diesem Feld wiegt ebenso schwer wie das Versagen auf dem Feld der Umweltpolitik.
Gerade im Lichte des Beitritts von Spanien und Portugal zur Gemeinschaft besteht hier akuter Handlungsbedarf. Heute leben in den EG-Ländern über 13 Millionen Menschen ohne Beschäftigung. Nach wie vor beträgt der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen um 40 %.
Wir fordern Sie deshalb auf, gegen die Ideologieund den Aberglauben von den Selbstheilungskräften des Marktes konkrete beschäftigungspolitische Alternativen zu formulieren.Unser sozialdemokratisches Konzept für ein qualitatives Wirtschaftswachstum ist umsetzbar, wenn die Regierungen endlich Handlungskompetenz beweisen. Europa, meine Damen und Herren, braucht eine Industriepolitik, die gezielt für eine neue Generation umweltschonende Güter und für humane Dienstleistungen investiert.
An einer gemischten Strategie der differenzierten Arbeitszeitverkürzung führt kein Weg vorbei. Das hat ja sogar der Verband Gesamtmetall mittlerweile in seinem Geschäftsbericht zugegeben. Dazu ist außerdem, meine Damen und Herren, eine europäische Forschungs- und Technologiepolitik nötig, die auch die Humanisierung der Arbeitswelt zum Inhalt hat. Deshalb ist es auch unverzichtbar, daß die industrielle Erneuerung sozial beherrscht wird und durch die Weiterentwicklung der Mitbestimmung für Arbeitnehmer — insbesondere durch mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz — politische Wirklichkeit wird.Meine Damen und Herren, „Technik ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen. Erstrebenswert ist nicht ein Europa der Technologie, sondern die Anwendung von Techniken, die es gestatten, daß der Mensch in Frieden mit der Natur lebt
und daß deshalb mit Rohstoffen, Energie und Umwelt sorgsam umgegangen wird."
Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion für diese klare Äußerung bedanken. Sie stammt vom Bundesforschungsminister Riesenhuber. Nur, meine Damen und Herren, wenn Sie ihn nicht allein lassen wollen, wenn Sie das, was er gesagt hat, teilen, dann stimmen Sie doch heute mit unserem Antrag.
Sie finden ihn auf Ihren Tischen in der Drucksache 10/1305. Und stimmen Sie außerdem mit unserem Antrag zur Europapolitik. Wir fordern darin Schaffung eines europäischen Forschungs- und Industrieraumes, bessere Zusammenarbeit zwischen europäischen Firmen und gemeinsame Infrastrukturprojekte, Einbeziehung des Umweltschutzes und sozial verträgliche Steuerung der neuen Technologien durch begleitende Arbeitszeitverkürzung, Humanisierung der Arbeit und Ausbau der Mitbestimmung.Meine Damen und Herren, ein Europa der Bürger ist für uns vor allem ein Europa der Arbeitnehmer. Nur ein solidarisches Europa, das den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit entschlossen aufnimmt, wird die Zustimmung und die Sympathie der Menschen gewinnen. Wir Sozialdemokraten kämpfen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11115
Antretterdeshalb für unsere Vision von Europa, für eine europäische Gesellschaft, die das Grundrecht auf humane Arbeit für alle verwirklicht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohn.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundesaußenminister Genscher und die liberale Partei haben sich seit langem engagiert dafür eingesetzt, Forschung und Technologie als ein wesentliches Instrument der europäischen Politik zu begreifen. Wir tun dies nicht etwa, wie dies in den Ausführungen von Herrn Antretter durchzuklingen schien, weil wir Technik-Freaks seien oder Technik als Selbstzweck verstünden, sondern wir sind für die Teilnahme Europas am internationalen Wettbewerb und für Forschung und Technologie, weil wir wissen, daß nur diese Teilnahme die Chance eröffnet, daß wir ein hohes Maß an Wohlstand in Europa erhalten, daß wir die Arbeitsmarktsituation verbessern und daß wir zugleich die politische Stabilität der Demokratien in Europa erhalten. Dies setzt voraus, daß wir Europäer am internationalen Wettbewerb teilnehmen. Deshalb sind wir dafür.Wir haben, meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser Euopäischen Gemeinschaft nicht Anlaß, in Sack und Asche zu gehen. Es gibt gute Forscher in Europa, es gibt gute Techniker in Europa, es gibt ausgezeichnete Ingenieure in Europa. Aber wir haben das Problem, daß wir nicht schnell genug und nicht effektiv genug das, was wir an wissenschaftlichen Grundlagenerkenntnissen haben, umsetzen in marktfähige Produkte. Dies hat der Direktor des Industrieseminars der Universität Mannheim, Professor von Kortzfleisch, unlängst so formuliert:Während die deutschen Unternehmen und privaten Erfinder im internationalen Inventionswettbewerb nach wie vor relativ gut abschneiden, haben die deutschen Unternehmen im internationalen Innovationswettbewerb gegenüber den Japanern und Amerikanern maßgeblich an Boden verloren.Dies ist das Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Das Angebot der Vereinigten Staaten zur Teilnahme an dem SDI-Projekt hat von allen anderen Bewertungen abgesehen — sicher ein Gutes gehabt: Es hat Europa dazu veranlaßt, endlich aufzuwachen und die strategische Bedeutung zu erkennen, die für unsere Staaten in Forschung und Entwicklung liegt.Wir haben mit dem Projekt „Eureka", das ein gemeinsames deutsch-französisches Projekt ist, einen ersten sinnvollen Vorschlag entwickelt, um Europa in diesem Bereich voranzubringen. Gestern haben j a bei einem Treffen der deutschen und französischen Außen- und Forschungsminister in Bonn einige wesentliche Grundsätze festgeklopft werden können, wie z. B. die Felder der Kooperation. Ich erwähne die industriellen marktorientierten Projekte wie beispielsweise im Bereich der Informationstechniken. Ich denke an die Lösung gemeinsamer Probleme — Beispiel: Umweltschutz —, ich denke aber auch an andere, hoheitliche Aufgaben wie Infrastrukturmaßnahmen im Verkehrsbereich, um nur einige Beispiele zu nennen. Entscheidend wird sein, daß wir den politischen Willen artikulieren, in diesen Feldern voranzukommen, damit „Eureka" in Gang gesetzt wird. Auf diesem Weg kann Mailand ein wesentliches Signal setzen, wie dies vorhin an dieser Stelle der Herr Bundeskanzler ausgeführt hat.Meine Damen und Herren, wir haben in der Europäischen Gemeinschaft selbst bereits Initiativen für eine europäische Forschungs- und Technologiegemeinschaft ergriffen. Ich will hier nur darauf hinweisen, daß wir uns auf längere Sicht nicht damit zufriedengeben können, daß sich die Aktivitäten der Europäischen Gemeinschaft auf das Feld der Energieforschung konzentrieren. Es gibt viele andere Linien technologischer Entwicklung, die im Rahmen einer solchen Konzeption angesprochen werden müssen. Ich denke beispielsweise an den Bereich der Mikroelektronik, ich denke an die Biotechnologie, ich denke an die Probleme der Materialforschung und Lasertechnologie, an die Informations- und Kommunikationstechnologien.Eine solche Forschungspolitik, meine Damen und Herren, wird wesentlich dazu beitragen, daß wir in Europa eine bessere Stellung im internationalen Wettbewerb erreichen. Dies wird aber nur dann möglich sein, wenn wir uns darüber im klaren sind, daß wir der Europäischen Gemeinschaft für diese Aufgaben auch die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen müssen. Für solche Projekte sollten wir weiterhin das Prinzip, wie ich es nenne, der flexiblen Integration anwenden, d. h. denjenigen Staaten, die bereit sind, an solchen Projekten teilzunehmen, die Möglichkeit einräumen, ohne daß wir in die Gefahr geraten, daß jeweils das langsamste Schiff das Tempo des Geleitzuges bestimmt.Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu dem machen, was in der Dooge-Kommission vorgeschlagen worden ist, nämlich zu dem Aufbau eines europäischen Binnenmarktes für technologische Entwicklungen und Produkte. Ich denke, daß es vor allem wichtig sein wird, Normen und Standards festzusetzen, die einen solchen Markt in Europa tatsächlich schaffen. Ich denke auch daran, daß wir die Beschaffungspolitik der öffentlichen Hände in Europa daran messen müssen, ob sie einem solchen Ziel — Herstellung einer europäischen Forschungs- und Technologiepolitik — tatsächlich entspricht. Deswegen stimmen wir im Grundsatz dem zu, was die Dooge-Kommission vorgetragen hat, und hoffen, daß auch in Mailand hier eine entsprechende Zustimmung erfolgen wird.Lassen Sie mich dazu noch folgendes sagen. Wir brauchen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft — und das wird ganz wesentlich sein — endlich auch die Anerkennung der Bildungsabschlüsse, und wir brauchen ein höheres Maß an Mobilität der Forscher innerhalb dieser Europäischen Gemeinschaft, vor allem auch der Studenten, wo es nicht so sein darf, daß diejenigen, die bereit sind, beispiels-
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KOhnweise ins europäische Ausland zu gehen, um dort ihr Studium fortzusetzen oder abzuschließen, benachteiligt werden, wenn sie in die Bundesrepublik Deutschland zurückkommen.Meine Damen und Herren, es gibt ja sehr viel Skepsis gegenüber der europäischen Politik. Ich will deshalb den Versuch machen, abschließend sieben Grundsätze zu formulieren, wie aus der Sicht der Liberalen Forschungs- und Technologiepolitik für Europa zu gestalten ist.Erster Punkt. In Europa muß sich Forschungs- und Technologiepolitik auf zivile Projekte konzentrieren. Das muß der Kern sein, um den herum sich eine solche Forschungs- und Technologiegemeinschaft bildet.Zweiter Punkt. Wir wollen nicht, daß in diesem Europa eine zusätzliche Forschungsförderungsbürokratie entsteht, daß hier ein Wasserkopf, ein Apparat entsteht, der gar nicht in der Lage wäre, das zu leisten, was beispielsweise mit der Eureka-Initiative gemeint ist, sondern hier geht es um Koordination, um Abstimmung und darum, die Schwerpunkte in der Weise zu setzen, daß die jeweiligen Stärken der einzelnen Länder als Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft positiv zum Nutzen des Ganzen eingesetzt werden.
Dritter Punkt. Wir brauchen, meine Damen und Herren, eine Konzentration der Kräfte und Fähigkeiten innerhalb dieser Europäischen Gemeinschaft, was bedeutet, daß wir bestimmte Formen von Doppelforschung nicht länger finanzieren können. Wir müssen dabei auch sehen, daß wir ein gewisses, kritisches Potential an Personen, aber auch an finanziellen Ressourcen brauchen, wenn wir an diesem internationalen Wettbewerb, den ich vorhin beschrieben habe, erfolgreich teilnehmen wollen.Vierter Grundsatz. Wir sind ganz im Gegensatz etwa zu dem, was eben der Herr Antretter gesagt hat, nicht der Auffassung, daß wir so etwas wie „industrial targeting" betreiben dürften, daß also bürokratische Behörden festsetzen, wo die Schwerpunkte für Forschung und Entwicklung in Europa zu liegen haben, sondern wir wollen den Rahmen dafür schaffen, daß sich die Universitäten, die Forschungseinrichtungen, die Industrie, die privaten Unternehmen, selber die Ziele setzen, die anzustreben sind, um am Markt auf lange Sicht erfolgreich zu sein.
Fünfter Punkt. Meine Damen und Herren, wir sind der Überzeugung, daß es ganz wesentlich darauf ankommen wird, das Interesse der Wirtschaft und der Industrie an solchen langfristigen Projekten zu stimulieren, sie finanziell zu beteiligen, um zu verhindern, daß Fehlentwicklungen durch bürokratische Steuerung eintreten.Sechster Punkt. Wir meinen es sehr ernst damit, daß man, wenn man über die Einführung neuer Technologien spricht, diese Technologien auch bewerten muß, daß man die Folgen von technologischen Entwicklungen abschätzen muß. Es gibt innerhalb der Europäischen Gemeinschaft bereits ein entsprechendes Programm, nämlich das Fast-Programm, das ausgebaut werden muß, weil wir in der Tat der Meinung sind, daß solche Technologien sozial verträglich in die Gesellschaft eingeführt werden müssen.Siebter und letzter Punkt. Wir sollten bei der Bildung einer europäischen Forschungs- und Technologiegemeinschaft nicht ausschließlich von Naturwissenschaften sprechen, sondern wir sollten begreifen, daß europäische Forschungspolitik auch bedeutet, die Geistes- und Sozialwissenschaften zu unterstützen und anzuregen.
Meine Damen und Herren, es besteht, wie ich sagte, sehr viel Skepsis gegenüber Europa bei den Bürgern. Wir wissen, es gibt viele Verwerfungen, die diese skeptische Einschätzung der Bürger bestätigen. Aber Europa — das ist das Grundgesetz, unter dem wir nach dem Zweiten Weltkrieg angetreten sind — wird entweder zusammenfinden und somit Subjekt der Geschichte bleiben, oder aber es wird zum Spielball der Interessen anderer werden. Wir haben keine Wahl.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schwörer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu den wirtschaftlichen Fragen der EG in Kürze einige Bemerkungen:Erstens. An vorderster Stelle steht hier immer unsere Forderung nach der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes. Seit dem Stuttgarter Gipfel gab es Erfolge, aber der Abbau der nichttarifären Handelshemmnisse geht uns viel zu langsam. Das fortschrittliche Blumenmarktprogramm von Kommissar Narjes soll nun durch ein Programm von Präsident Delors ersetzt werden. Der Endtermin für die Vollendung des Gemeinsamen Marktes ist danach 1992. Mir scheint dieser Termin sehr weit hinausgezögert zu sein, aber wenn es gelingt, klare Zwischentermine zu setzen und diese dann auch einzuhalten, dann können wir diesem Endtermin zustimmen.Zweitens. Staatliche Beihilfen verfälschen den Wettbewerb. Hier wird der Stahl in den nächsten Monaten zu einem Testfall, ob es gelingt, in Europa eine freie und faire Konkurrenz zustande zu bringen.Drittens. Die Beschaffungsmärkte der öffentlichen Hände müssen allen Europäern offenstehen.Viertens. Bei Forschung und Entwicklung ist europäische Zusammenarbeit nötig. Nicht nötig sind kostspielige öffentliche Forschungsprogramme, nicht nötig sind neue Forschungseinrichtungen bei der Kommission. Nötig ist die Ermöglichung der Zusammenarbeit der Firmen, gemeinsame Pro-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11117
Dr. Schwörergramme und Produktionen; als Beispiel mag der Airbus gelten. Wir wollen aber keinen europäischen „closed shop", sondern wir wollen, daß die europäische Forschung weltweit offengemacht wird.Fünftens. Der Ausbau des Binnenmarktes darf zu keinem Vorwand für eine protektionistische EG-Handelspolitik gegenüber Drittländern werden. Die notwendige Strukturanpassung braucht offene Märkte, braucht Konkurrenz, und nur mit weltoffener Handelspolitik wird die EG ihrer Rolle gerecht, die größte Handelsmacht der Welt zu sein.
Die Exportabhängigkeit der EG läßt es auch als Gebot der Klugheit erscheinen, keinen Handelskrieg zu führen, am wenigsten mit den USA. Deshalb ein entschiedenes Ja zu einer neuen GATT-Runde. Diese neue GATT-Runde soll aber auch das Mißverhältnis im Austausch mit den japanischen Märkten beseitigen.Sechstens. Zu den technischen Normen und ihrer Harmonisierung ist noch ein Wort zu sagen. Hier hat — Herr Kollege Antretter, das wissen Sie auch — die Bundesregierung einen großen Erfolg errungen. Der Binnenmarktrat hat am 7. Mai 1985 die neue europäische Konzeption beschlossen. Daran war die Bundesrepublik entscheidend beteiligt, und dafür verdient sie Lob. Damit kann auf eine Vielfalt von technischen Vorschriften verzichtet werden. Die Einhaltung nationaler Normen gewährleistet den freien Verkehr für diese Produkte in der ganzen Gemeinschaft. Wir hoffen nur, daß dieser Beschluß bald in die Wirklichkeit umgesetzt wird.Siebentens. Die Koordinierung der Wirtschafts-, der Währungs- und auch der Haushaltspolitik auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft ist eine der Voraussetzungen dafür, daß Europa Dynamik, solides Wachstum, Preisstabilität und darauf aufbauend Vollbeschäftigung erreichen kann.Wir wünschen dem Bundeskanzler, daß durch seine Mitwirkung auf der Mailänder Konferenz Europa auf seinem schwierigen Weg ein gutes Stück vorankommen wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wulff.Dr. Wulff [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion is dem Bundeskanzler für die Feststellung dankbar, daß für die europäische Einigung und insbesondere für die Beratungen in Mailand die Verschmelzung der europäischen Wirtschaften der Zehn, demnächst der Zwölf, angestrebt und verwirklicht werden muß. Diesem Ziel stehen meines Erachtens drei Schranken entgegen: physische, technische und steuerliche.Was die physischen Schranken anbelangt, glaube ich, daß sie deutlich durch den Zoll und die Grenzposten hervorgehoben werden. Diese Regierung hat, wie ich meine, eine gute, für den Bürger verständliche Politik betrieben, als sie die Grenzkontrollen zwischen Frankreich und Deutschland weitestgehend beseitigt hat. Wir freuen uns, daß das gleiche mit den Niederlanden, Belgien und Luxemburg geschieht. Wir hoffen, daß diese Politik weiter fortgeführt werden kann.
Was die technischen Schwierigkeiten und Hemmnisse anbelangt, ist es, glaube ich, richtig, in Mailand darüber zu diskutieren, daß eine Normenvereinheitlichung eingeführt wird, daß das öffentliche Beschaffungswesen neu überdacht wird, daß Beschränkungen beim Kapitaltransfer aufgehoben werden und daß Richtlinien für eine überall gültige Berufsausübung endlich gefunden werden.
Zu den steuerlichen Hindernissen glaube ich, daß die erheblichen Unterschiede im Niveau der indirekten Steuern beseitigt werden müssen. Das bedeutet, daß, wenn wir so etwas durchsetzen, für den Bürger eine Identifizierung mit Europa einsetzen wird, daß er spüren wird, daß Europa etwas für ihn bedeutet, und daß er Europa als seine Errungenschaft bewertet und erfährt.
Vielleicht einen Hinweis, Herr Kollege Antretter. Sie haben liebenswürdigerweise die Notwendigkeit eines europäischen Passes erwähnt. Bitte gehen Sie davon aus, daß es gerade diese Bundesregierung gewesen ist, die sich vehement für die Einführung des europäischen Passes eingesetzt hat und, wie ich meine, dies auch auf einen guten Weg gebracht hat.
— Nein, lieber Herr Kollege Oostergetelo. Sie sollten da mal ein wenig exakter nachprüfen. Dann werden Sie feststellen, daß meine Aussagen richtig sind.
Mir scheint abschließend eines noch erwähnt werden zu müssen. Die Europäer müssen begreifen, nationale Interessen zugunsten europäischer Interessen zurückzustellen.
Ich glaube auch, daß es sinnvoll ist, mehr als bisher darüber nachzudenken, daß in Europa endgültig Mehrheitsentscheidungen Platz greifen müssen.
Zum Schluß vielleicht noch ein Wort zum Binnenmarkt. Die Vollendung des europäischen Binnenmarkts ist die größte Herausforderung, vor die sich die Gemeinschaft seit Jahrzehnten gestellt sieht. Sie bietet aber auch die größten Chancen. Als eine Ansammlung von zehn oder zwölf getrennten
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11118 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Dr. WulffVolkswirtschaften hat Europa gegenüber Amerika und gegenüber Japan keine Chance. Wir müssen zusammenfinden, wenn wir die Kraft bleiben wollen, die wir gerne sein möchten.Namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich erklären, daß wir die Europapolitik im Hinblick auf Mailand bei der Bundesregierung in guten Händen wissen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich bitte um vier Minuten Geduld für die Frau Abgeordnete Hoffmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir einige kurze Bemerkungen zu dem bedeutenden Thema der Landwirtschaft.
Wir haben zum erstenmal „sehr wichtige Interessen" angemeldet. Dieses letzte Mittel ist natürlich nicht ungewöhnlich; denn andere Partner haben diesen Weg schon oft beschritten, um ihre Interessen zu wahren. Ich glaube nicht, daß es Europa und dem deutschen Ansehen hilft, wenn wir dort, wo es um elementare nationale Interessen geht, Konflikte übertünchen und Formelkompromisse zimmern, die einseitig und ungerechtfertigt zu unseren Lasten gehen, zu Lasten der deutschen Landwirtschaft.
Meine Damen und Herren, wir haben den Landwirtschaftsminister mit voller Rückendeckung dieser Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen in seine Verhandlungen geschickt. Ich finde es erstaunlich, was Sie, Herr Rumpf, heute hier und Graf Lambsdorff an anderer Stelle geäußert haben. Ich finde, wir sollten alles tun, um dem Landwirtschaftsminister, um dieser Bundesregierung hier volle Rückendeckung zu geben.
Kurz zur Sache: Die vorgeschlagene Getreidepreissenkung steht dem in Art. 39 des EWG-Vertrages niedergelegten Ziel einer angemessenen Einkommensentwicklung entgegen. Ein Verdrängungswettbewerb gegen die Klein- und Mittelbetriebe verstößt klar gegen das Leitbild des EWG-Vertrages vom bäuerlichen Familienbetrieb.
Die Kommission muß sich vor den Bürgern Europas auch rechtfertigen, weshalb sie zum jetzigen Zeitpunkt mit einem wichtigen Partnerland eine politische Kraftprobe gesucht hat. Sie hat sehr wohl gewußt, daß in der Sache durch die, wie ich meine, ganz unnütze Zuspitzung niemandem ein Dienst geleistet wurde.
Meine Damen und Herren, wir haben im vergangenen Jahr schweren Herzens dem Abbau des Währungsausgleichs zugestimmt. Um die dadurch entstehenden weiteren Belastungen für unsere Landwirte zu mildern, mußten wir mit Milliarden-Aufwand national für diese wichtige Bevölkerungsgruppe in die Bresche springen. Meine Damen und Herren, Sie alle wissen, daß unsere deutschen Landwirte leider ohnehin das Schlußlicht bei einem Vergleich der Entwicklung der bäuerlichen Einkommen in der EG bilden. Hier sind von uns aus europapolitischer Verantwortung schwere Opfer, bedeutende Vorleistungen gebracht worden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
Europa ist ein großartiger Gedanke — in vielerlei Hinsicht. Nicht zuletzt wirtschaftlich profitieren alle Seiten in Europa von der EG. Deshalb sollten alle Fraktionen Bundeskanzler Kohl und der Bundesregierung für die schwierigen Verhandlungen in Mailand den Rücken stärken. Das sollte das Ergebnis unserer heutigen Debatte sein.
Die gleiche nachdrückliche parlamentarische Unterstützung würde — und dies ist meine abschließende Bitte — auch helfen, bei den Agrarpreisverhandlungen in Kürze und in weiterer Zukunft für unsere Bauern dringend Notwendiges zu erreichen.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich muß es einmal sagen: Es läßt sich einfach keine Ruhe herstellen. Ich muß die Redner um Entschuldigung bitten. Aber Ermahnungen haben keinen Sinn.Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu den einzelnen Abstimmungen.Ich rufe zuerst den Antrag der SPD auf Drucksache 10/3152 unter Punkt 17 a der Tagesordnung auf. Hierzu wird von den Antragstellern Abstimmung erbeten. Wer dem Antrag der SPD zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Ich komme jetzt zu den Tagesordnungspunkten 17 c, 17 e und 17 f. Hier schlägt der Ältestenrat Überweisung der Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Meine Damen und Herren, gibt es dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 17 b, und zwar über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Steger, Roth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des SPD auf Drucksache 10/1305. Die Ausschußempfehlung lautet: Ablehnung des Antrags. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 10/2364 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um eine Handzeichen. — Die Gegenprobe!
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11119
Vizepräsident Frau Renger— Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 17 d. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/3424 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Zusatz-Tagesordnungspunkte 4 und 5.Wer dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/3564 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/3569 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.Damit sind die Abstimmungen zu den vorliegenden Anträgen erledigt.Wir kommen nun zurWahl der Mitglieder des Rundfunkrates derDeutschen Welle und des Deutschlandfunks— Drucksachen 10/3545, 10/3554, 10/3555 und 10/3558 —Meine Damen und Herren, ich muß einige Bemerkungen dazu machen.Wir wählen zunächst die Mitglieder des Rundfunkrates der Deutschen Welle. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP schlagen auf Drucksache 10/3545 den Abgeordneten Dr. Hupka vor. Die Fraktion der SPD benennt auf Drucksache 10/3554 den Abgeordneten Herterich. Weitere Vorschläge liegen mir nicht vor.Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Abgeordneten Dr. Hupka zu wählen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Abgeordnete Hupka ist mit Mehrheit gewählt.Wer den Abgeordneten Herterich zu wählen wünscht, den bitte ich jetzt um Zustimmung. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen und Enthaltungen ist der Abgeordnete Herterich mit Mehrheit gewählt.Meine Damen und Herren, jetzt wird es komplizierter. Wir kommen nunmehr zur Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates des Deutschlandfunks.Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP schlagen auf Drucksache 10/3545 die Abgeordneten Dr. Czaja, Graf Huyn, Reddemann und Mischnick vor. Die Fraktion der SPD hat die Abgeordneten Dr. Nöbel und Dr. Vogel benannt. Von der Fraktion DIE GRÜNEN wird auf Drucksache 10/3558 der Abgeordnete Suhr vorgeschlagen. Weitere Vorschläge liegen nicht vor.Ich bitte, noch auf einige Hinweise zum Wahlverfahren zu achten.Ich gehe davon aus, meine Damen und Herren, daß Sie mit der Wahl mittels Stimmzettel einverstanden sind. — Kein Widerspruch. Das ist der Fall.Auf Ihren Pulten befindet sich ein Wahlausweis und ein Stimmzettel mit den Namen der vorgeschlagenen Abgeordneten. Es handelt sich um sieben Vorschläge.In den Rundfunkrat des Deutschlandfunks können nur sechs Abgeordnete gewählt werden. Sie können daher auf dem Stimmzettel höchstens sechs Namensvorschläge ankreuzen. Gewählt sind die sechs Abgeordneten mit den meisten Stimmen. Ungültig sind Stimmzettel, die mehr als sechs Kreuze, andere Namen oder Zusätze enthalten.Wer sich der Stimme enthalten will, macht bitte keine Eintragung auf dem Stimmzettel.Meine Damen und Herren, da eine geheime Wahl nicht vorgeschrieben ist, können Sie die Stimmzettel an Ihren Pulten ankreuzen.Bevor Sie die Stimmzettel in eine der aufgestellten Wahlurnen geben, müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne den Wahlausweis übergeben. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß allein die Abgabe des Wahlausweises als Nachweis der Teilnahme an der Wahl gilt.Ich bitte Sie nun, die Wahl durchzuführen.Die 19 Schriftführer bitte ich, im Saal zu bleiben und an der Auszählung teilzunehmen.Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Mittagspause möchte ich Ihnen noch folgendes mitteilen. Für die heutige Fragestunde stehen nur noch 21 Fragen zur Beantwortung an. Die Fragestunde wird voraussichtlich vor Ablauf der dafür vorgesehenen Zeit beendet sein. Im Einvernehmen mit den Fraktionen schlage ich Ihnen deshalb vor, daß wir unmittelbar nach dem Ende der Fragestunde in die Aktuelle Stunde eintreten. — Ist das Haus damit einverstanden? — Danke sehr.Letzter Aufruf. Sind alle Stimmkarten abgegeben? — Ich schließe die Abstimmung und bitte um Auszählung.Es dauert einige Zeit, bis die Auszählung beendet ist. Wir unterbrechen die Sitzung und treten in die Mittagspause ein. Die Fragestunde beginnt um 14 Uhr.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die unterbrochene Sitzung und gebe Ihnen als erstes das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats des Deutschlandfunks bekannt. Abgegebene Stimmen: 470. Alle waren gültig. Es hat keine Enthaltung gegeben. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Mischnick 281, den Abgeordneten Reddemann 273, den Abgeordneten Graf Huyn 248, den Abgeordneten Dr. Czaja 246, den Abgeordneten Dr. Nöbel 214, den Abgeordneten Dr. Vogel 200 und den Abgeordneten Suhr 38.
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11120 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Vizepräsident WestphalDemnach sind die Abgeordneten Mischnick, Reddemann, Graf Huyn, Dr. Czaja, Dr. Nöbel und Dr. Vogel als Mitglieder des Rundfunkrats des Deutschlandfunks gewählt.Wir kommen nun zurFragestunde— Drucksache 10/3539 —Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Vogel zur Verfügung.
Hat der bisherige Regierungssprecher Peter Boenisch zum Zeitpunkt seiner Berufung im Mai 1983 gegenüber seinem Dienstherrn, d. h. gegenüber der Bundesregierung, insbesondere gegenüber dem Bundeskanzler, offenbart, daß er in den Jahren 1972 bis 1982 Einkünfte aus einem Beratervertrag nicht ordnungsgemäß versteuert hatte?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Klein, auf Ihre Frage antworte ich: Nein. Steuerliche Fragen waren nicht Gegenstand von Gesprächen mit Herrn Peter Boenisch vor dessen Berufung ins Beamtenverhältnis.
Zusatzfrage, Herr Klein.
Bei der Einstellung im Mai 1983 hat Herr Peter Boenisch vermutlich auch den Personalbogen ausfüllen müssen, den jeder Bewerber für eine entsprechende Position ausfüllen muß. Wie hat er auf die Frage 11 im Personalbogen, nämlich die Situation wirtschaftlicher Verhältnisse und Schulden, geantwortet?
Vogel, Staatsminister: Ich kann Ihnen diese Frage im Augenblick nicht beantworten, Herr Kollege Klein. Aber ich sehe den unmittelbaren sachlichen Zusammenhang nicht.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Klein.
Herr Staatsminister, wäre Herr Peter Boenisch, hätte er sich im Mai 1983, als er als Staatssekretär berufen worden ist, offenbart, daß er Steuern nicht gezahlt hat, unter diesen Umständen dennoch als Staatssekretär berufen worden?
Vogel, Staatsminister: Das war eine hypothetische Frage. Darauf könnte ich nur hypothetische Antworten geben. Das tue ich grundsätzlich nicht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, wie hat denn Herr Ost auf die Frage 11 im Personalbogen geantwortet, und hat die Bundesregierung ihn über die steuerliche Problematik in seinen bisherigen Einkommensverhältnissen befragt?
Vogel, Staatsminister: Herr Kollege Sperling, Sie sind ja erfahren in Fragestunden und wissen, daß die Frage, die Sie jetzt stellen, in keinem sachlichen Zusammenhang mit der Frage steht, die der Kollege Klein eingebracht hat.
Ich habe sie zugelassen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Peter .
Herr Staatsminister, Sie haben dem Kollegen Klein geantwortet, Sie könnten im Moment keine Auskunft geben, ob zum Zeitpunkt der Berufung des Herrn Staatssekretärs Boenisch Angaben über die finanzielle Situation abverlangt worden sind. Heißt das, daß Sie bereit sind, solche Antworten nachzureichen?
Vogel, Staatsminister: Ich muß die Antwort in zwei Abteilungen geben.
Punkt 1: Ich gehe davon aus — das ist eine Unterstellung, ich kann das nicht bestätigen —, daß der Fragebogen ausgefüllt worden ist. Dann ist er eben ausgefüllt worden. Dann ist auch jede Frage, gleich wie, in diesem Fragebogen beantwortet worden.
Punkt 2: Wenn es etwas Klärungsbedürftiges gibt, was hier übrigbleibt, bin ich gerne bereit, das dem Kollegen Klein schriftlich mitzuteilen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reuter.
Herr Staatsminister, war das steuerliche Ermittlungsverfahren gegen Herrn Boenisch bereits im Mai 1983 eingeleitet?
Vogel, Staatsminister: Nein.
Keine weiteren Zusatzfragen zu dieser Frage.
Ich rufe Frage 2 des Abgeordneten Klein auf:
Falls er bei seiner Einstellung keine entsprechende Erklärung abgab, hätte Herr Boenisch nach Auffassung der Bundesregierung nicht als politischer Beamter eine Offenbarungspflicht gegenüber seinem neuen Dienstherrn zum Zeitpunkt seiner Berufung im Mai 1983 gehabt?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Vogel, Staatsminister: Herr Kollege Klein, angesichts der Tatsache, daß Herr Boenisch auf seinen Antrag aus dem Beamtenverhältnis ausgeschieden ist, sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, zu der Frage Stellung zu nehmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Klein.
Herr Staatsminister, ich stelle wieder eine hypothetische Frage: Kann ich, wenn sich Herr Boenisch im Mai 1983 nicht erklärt hat, davon ausgehen, daß er sich letztlich das Amt
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Klein
des Sprechers der Bundesregierung erschlichen hat, weil er bestimmte Fakten, die Vergehen im Sinne des Gesetzes bedeuten, weggelassen hat?Vogel, Staatsminister: Sie haben selbst gesagt, daß das eine hypothetische Frage ist. Ich muß allerdings auch sagen, daß die Frage so gestellt worden ist, daß ich das, was an Unterstellungen darin liegt, zurückweisen möchte.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Klein.
Zu welchem Zeitpunkt hat Herr Boenisch gegenüber der Regierung offenbart, daß gegen ihn ein steuerrechtliches Ermittlungsverfahren läuft? Wann — zu welchem Datum — war das genau?
Vogel, Staatsminister: Im April dieses Jahres ist ihm selbst das Ermittlungsverfahren bekanntgeworden, und er hat sofort von sich aus die Bundesregierung darüber informiert.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reuter.
Herr Staatsminister, wäre Herr Boenisch bei den strengen Prüfungen, die die Deutsche Bundespost bei Beamten der mittleren und der unteren Laufbahn durchführt,
mit den Unterlagen, die er dann hätte vorlegen müssen, Briefträger geworden?
Vogel, Staatsminister: Ich glaube, daß Sie selbst nicht erwarten, daß ich auf diese Frage, die auf einen ganz bestimmten Vorgang zielt, der mit dem hier zu behandelnden Fall überhaupt nichts zu tun hat, eine Antwort gebe.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatsminister, ich hoffe, daß Sie meine Frage nicht als hypothetisch werten: Hat die Bundesregierung aus dem Fall Peter Boenisch gelernt, und wendet sie ihre Lernerkenntnisse auf die Nachfolger an?
Vogel, Staatsminister: Herr Kollege Sperling, die Bundesregierung ist nicht so vermessen, anzunehmen, daß sie nicht noch dazulernen kann.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter .
Herr Staatsminister, sind Sie auf Grund der Erfahrungen, die bei der Berufung des Herrn Staatssekretärs Boenisch gemacht worden sind, bereit, mir gegenüber die Rechtsauffassung der Bundesregierung zur Offenbarungspflicht von politischen Beamten darzustellen?
Vogel, Staatsminister: Ich glaube nicht, daß es Aufgabe der Bundesregierung ist, Rechtsauskünfte zu erteilen, weil Sie unschwer in der Lage sind, an Hand der einschlägigen rechtlichen Vorschriften und der Rechtsprechung diese Rechtsauffassung selbst zu ergründen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatsminister, da Herr Boenisch die Courage gehabt hat, selbst die Konsequenzen zu ziehen — was ihn wohltuend von anderen Kabinettsmitgliedern abhebt —, muß ich an Sie die Frage richten, ob die Bundesregierung es nicht für erforderlich gehalten hat, ihm vom April 1985 bis zum Juni 1985 das Ausscheiden aus dem Amt nahezulegen oder selbst die entsprechenden beamtenrechtlichen Konsequenzen zu ziehen?
Vogel, Staatsminister: Ich habe Ihnen ja mitgeteilt, daß erstens Herr Boenisch selbst — insofern hat er völlig korrekt gehandelt — der Bundesregierung mitgeteilt hat, daß das Ermittlungsverfahren gegen ihn in Gang gekommen war, und daß er zweitens von sich aus, aus eigener Initiative, um Entlassung aus dem Amt gebeten hat. Ich glaube, mehr kann man von ihm nicht verlangen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schwenk.
Herr Staatsminister, bekommt der ehemalige Regierungssprecher Boenisch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt noch irgendwelche Leistungen von der Bundesrepublik und in welcher Höhe?
Vogel, Staatsminister: Ich habe Ihnen mitgeteilt, daß er auf eigenen Antrag aus seinem Amt entlassen worden ist. Das hat für ihn die Konsequenz, daß er erstens nicht mehr Beamter ist und daß er zweitens auch nicht Ruhestandsbeamter ist, und dies mit den Folgen, die daran geknüpft sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Weisskirchen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, warum hat dann, wenn, wie Sie eben bestätigt haben, dieser Vorfall der Bundesregierung schon im April dadurch bekanntgeworden ist, daß Herr Boenisch das deutlich gemacht hat, die Bundesregierung nicht den § 12 des Beamtengesetzes zur Grundlage eigenen Handelns gemacht, in dem es deutlich heißt, daß bei Vergehen die Ernennung zurückzunehmen ist?Vogel, Staatsminister: Vorhin ist hier vielleicht ein Mißverständnis eingetreten. Das Ermittlungsverfahren ist im April eingeleitet worden. Daraus können Sie nicht entnehmen, daß er selbst bereits im April von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens Kenntnis hatte. Ich habe vorhin aber gesagt,
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11122 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Staatsminister Vogeldaß er sofort nach Kenntnis Mitteilung gemacht hat.
— Ich kann Ihnen das genaue Datum nicht sagen.
Sind Sie mit Ihrer Antwort zu Ende?
Vogel, Staatsminister: Auf Zwischenrufe antworte ich nicht.
Das brauchen Sie auch nicht. Ich möchte nur wissen, ob Sie mit der Antwort fertig sind.
Vogel, Staatsminister: Ich hatte meine Antwort beendet, Herr Präsident.
Dann ist der Abgeordnete Immer mit einer Zusatzfrage an der Reihe.
Herr Staatsminister, ich möchte die Frage stellen: Geht die Bundesregierung davon aus, daß Herr Boenisch auch subjektiv von der von ihm verübten Steuerhinterziehung nichts gewußt haben soll?
Vogel, Staatsminister: Herr Immer, ich habe vorhin auf die insofern ja mit Ihrer Frage identische Frage des Kollegen Klein geantwortet. Ich wiederhole das gern. Angesichts der Tatsache, daß Herr Boenisch auf seinen Antrag hin aus dem Beamtenverhältnis ausgeschieden ist, sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, zu der Frage Stellung zu nehmen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Duve.
Herr Staatsminister, im Zusammenhang mit dem Rücktritt von Herrn Boenisch ist bekanntgeworden, daß er als Chefredakteur der „Bild"-Zeitung zugleich Public-Relations-Agent einer Automobilfirma gewesen ist. — Ein — wie ich finde — ungeheurer Betrug an den Lesern. Plant die Bundesregierung in diesem Zusammenhang irgendwelche Schritte, um diese sicherlich nicht erlaubte Vermengung von publizistischer Freiheit und Public-Relations-Tätigkeit künftig zu verhindern?
Vogel, Staatsminister: Herr Kollege Duve, ich muß es Ihrem eigenen Geschmack überlassen, ob Sie auf Grund von Meldungen, von denen ich annehme, daß Sie selbst deren Wahrheitsgehalt im einzelnen nicht überprüft haben, hier im Plenum des Deutschen Bundestages Wertungen gegenüber jemandem vornehmen, der sich hier im Deutschen Bundestag nicht dagegen zur Wehr setzen kann. Ich möchte dies an dieser Stelle auch im Interesse von Herrn Boenisch sagen.
Ich kann Ihnen nur auf der Grundlage der Fakten antworten, die der Bundesregierung bekanntgeworden sind und an denen die Bundesregierung interessiert ist. Die Bundesregierung ist sicherlich nicht an allen Fakten interessiert, die jetzt in der Öffentlichkeit als Mutmaßungen — vielleicht sogar als Tatsachen; das weiß ich nicht — erörtert werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hettling.
Herr Staatsminister, sind Sie in der Lage zu sagen — wenn nicht, können Sie es vielleicht nachreichen —, wann datumsmäßig präzise der Bundesregierung und Herrn Boenisch bekanntgeworden ist, daß das steuerrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Herrn Boenisch eingeleitet wurde?
Vogel, Staatsminister: Ich bin gern bereit, Ihnen diese Frage zu beantworten, wenn es für Sie so wichtig ist, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Staatsminister Möllemann zur Verfügung.
Ich rufe zuerst die Frage 41 des Abgeordneten Dr. Diederich auf:
Seit wann ist der Bundesregierung bekannt, daß das auf Anweisung des Staatspräsidenten Eyadema von Togo im Rahmen der Ausrüstungshilfe unter Anleitung deutscher Pionieroffiziere bei Kazaboua realisierte Straßenbauprojekt, insbesondere der Bau einer behelfsmäßigen Pionierbrücke, den togoischen Behörden den Bau eines vom Staatspräsidenten geplanten Arbeitslagers, in dem angebliche Straftäter ohne rechtskräftige Verurteilung zur Arbeitserziehung konzentriert werden sollen, in einem vorher verkehrsmäßig unerschlossenen Gebiet ermöglicht hat, und was hat sie daraufhin unternommen?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Dr. Diederich, es trifft zu, daß unter technischer Anleitung der Beratergruppe der Bundeswehr in Togo im Juni 1984 eine Behelfsbrücke über den Fluß Kaza verlegt wurde. Diese Brücke ist Teil eines wichtigen West-Ost-Verkehrsweges. Er verbindet die Nationalstraße 1 über die Orte Tchebebe, Bodjonde, Kazaboua, Kaza und Tchilabalo — die sind uns allen natürlich sehr gut bekannt — mit dem Fluß Mono. Die Piste erschließt ein landwirtschaftlich wertvolles Gebiet und ermöglicht den Zugang zu den Kies- und Sandvorkommen im Bereich des Mono, des von mir erwähnten Flusses. Ohne die Brücke wäre die Piste in der Regenzeit für jeden Fahrzeug- und Fußgängerverkehr unterbrochen. Durch den Brückenbau ist nun auch die ostwärts des Flusses Kaza wohnende Bevölkerung in der Re-
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Staatsminister Möllemanngenzeit nicht mehr von den Märkten in Kazaboua und Tchebebe abgeschnitten.Es trifft weiterhin zu, daß ostwärts der Brücke in einer Entfernung von drei bis vier Kilometern im Abstand von ca. 500 Metern zwei kleinere Pisten in nördlicher Richtung von der Hauptpiste abbiegen. Eine davon endet nach ca. 400 m an einer Baustelle, die offenbar unter der Leitung des togoischen Innenministeriums steht. Nach Auskunft der Baukolonne soll dort eine Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche, die zu landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen werden, entstehen. Eine offizielle Stellungnahme der togoischen Regierung über die Zweckbestimmung des Gebäudes, mit dessen Fertigstellung im Jahre 1986 gerechnet wird, liegt nicht vor. Die Bundeswehr-Beratergruppe ist aber weder an diesem Projekt noch am Straßenbau selbst beteiligt.Die Bundesregierung ist nicht der Meinung, daß man den im Ausland eingesetzten deutschen technischen Beratern eine globale Verantwortung dafür zuweisen kann, was durch die mit ihrer Hilfe geschaffenen Verkehrswege zugänglich gemacht und was über diese transportiert wird.
Zusatzfrage, Herr Dr. Diederich.
Recht schönen Dank, Herr Staatsminister, für Ihre auch geographisch sehr präzise Auskunft. Ich kann alles bestätigen, was Sie zum Geographischen gesagt haben, weil ich gemeinsam mit der Kollegin Fuchs diese Stelle in Augenschein genommen habe.
Herr Kollege, Sie müssen fragen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte daher folgendes fragen. Da der Bau der Anstalt erst durch den Brückenbau und die straßenmäßige Erschließung möglich wurde, wie ich mich durch Augenschein überzeugt habe, und der Bau mindestens gleichzeitig, wenn nicht früher angeordnet wurde: Ist damit nicht für jedermann offenkundig, daß beim Auftraggeber, nämlich dem togoischen Staatspräsidenten, der Straßen- und Brückenbau in unmittelbarem und ursächlichem Zusammenhang mit dem Anstaltsbau gesehen wurde? War aus den Informationen, die das Auswärtige Amt von der Botschaft in Lomé erhalten hat, dieser augenscheinliche Zusammenhang zwischen Straßen- und Anstaltsbau nicht von Anfang an klar zu erkennen?
Möllemann, Staatsminister: Wie ich Ihnen soeben darlegte, ist eine der Hauptfunktionen dieser Brücke die Verbindung der Nationalstraße 1 über die von mir genannten Orte, die ich jetzt nicht noch einmal vorlesen will, mit dem Fluß Mono. Es ist ganz wichtig — und daran haben wir ein hohes Interesse —, daß durch diesen Brückenbau nun auch die ostwärts des Flusses Kaza wohnende Bevölkerung in der Regenzeit zu den Märkten in Kazaboua und Tchebebe kommen kann. Ich finde es ganz wichtig, daß die Leute zu den Märkten gehen und sich etwas zu essen kaufen können. Das war unser Hauptanliegen.
Es ist beim Bau von Brücken nicht auszuschließen, daß hinterher auch andere Leute über diese Brücke fahren. Selbst wenn dort in diese Anstalt schwer erziehbare Jugendliche kommen, ist es immer noch besser, sie kommen über eine Brücke dorthin, als wenn sie durch den Fluß schwimmen müßten.
Zusatzfrage, Herr Dr. Diederich.
Herr Staatsminister, wie Sie wissen, hat der Verteidigungsminister auf eine schriftliche Anfrage des Abgeordneten Schwenninger sehr kurz geantwortet und diesen Zusammenhang, den Sie jetzt hier darstellen, nicht berücksichtigt. Hat der Verteidigungsminister, so frage ich Sie, die Informationen des Auswärtigen Amtes gehabt, als er seine Antwort auf die Frage des Abgeordneten Schwenninger gab? Hat er Ihre Informationen hinreichend gewürdigt? Warum hat der Verteidigungsminister in seiner Antwort auf die Frage dieses Abgeordneten diesen Zusammenhang überhaupt nicht erwähnt?
Ich möchte Sie zusätzlich fragen: Hat innerhalb der Bundesregierung eine Bewertung der Informationen, die in dieser Richtung vorlagen, stattgefunden, oder sind Sie erst durch unsere Fragen darauf gekommen?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Bewertung der Bundesregierung habe ich soeben vorgetragen. Ich kann Ihnen nicht sagen, auf Grund welcher Tatsache die Details, die ich Ihnen vorgetragen habe, in einer schriftlichen Antwort noch nicht aufgeführt worden sind. Das ist mir nicht bekannt.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Borgmann.
Herr Möllemann, wenn in Togo noch weitere Projekte im Rahmen der Ausrüstungshilfe geplant sind: Welche Kriterien legt die Bundesregierung zur Gewährung einer solchen Unterstützung zugrunde?
Möllemann, Staatsminister: Die Projekte sollen vor allen Dingen unmittelbar der Bevölkerung zugute kommen. Wie ich soeben darlegte, bewertet die Bundesregierung das z. B. im Blick auf die Einwohnerschaft der jenseits des Flusses Kaza liegenden Orte, damit die dortigen Bewohner auch in der Regenzeit auf den Märkten in Kazaboua und Tchebebe ihre Lebensmittel kaufen können.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
Herr Staatsminister, Sie haben eben gesagt, das Hauptargument sei die Möglichkeit gewesen, den Fluß zu überqueren. Ich nehme also an, daß es daneben weitere Argumente gibt. Würden Sie mir diese benennen?
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Möllemann, Staatsminister: Wie ich bereits sagte: Das zweite Argument war, die Verbindungslinie zur Nationalstraße 1 herzustellen. Sie wissen ja, vor wie große Probleme Länder der Dritten Welt häufig gestellt sind, wenn beispielsweise Katastrophensituationen auftreten und die Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt werden soll, wenn praktisch die Verkehrsinfrastruktur dann nicht da ist. Insofern kann das Erstellen einer Verkehrsinfrastruktur für sich immer nur im Interesse eines Landes sein.
Ich rufe die Frage 42 des Herrn Abgeordneten Dr. Diederich auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland jeglichen Anschein vermeiden muß, sie billige die direkte oder indirekte Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Ausrüstungshilfe beim Bau solcher Straflager, und ist sie bereit, dem togoischen Staatspräsidenten eindringlich klarzumachen, daß dieser Vorgang in der deutschen Öffentlichkeit mißbilligt wird?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung gewährt im Rahmen der Ausrüstungshilfe keine Unterstützung für den Bau von Straflagern oder ähnlichen Einrichtungen. Bei der Prüfung des von den Empfängerländern vorgebrachten Bedarfs achtet sie sorgfältig darauf, daß solche sensitiven Bereiche ausgeschlossen bleiben. Wir erfüllen auch keine Wünsche nach der Lieferung von Material zum unmitttelbaren zwangsweisen Einsatz gegen Personen. Die Bundesregierung läßt sich vor allem in der Zusammenarbeit im Polizeibereich vielmehr von dem Ziel leiten, die Ausbildung rechtsstaatlicher Strukturen, insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der exakten Verbrechensaufklärung nach modernen Methoden, zu fördern. Wenn die Bundesregierung die Gewißheit erhält, daß ein Land die Ausrüstungshilfe für Zwecke verwendet, die sie nicht mittragen kann, leitet sie geeignete Schritte ein und stellt auch die Ausrüstungshilfe ein.
Zusatzfrage, Herr Dr. Diederich.
Herr Staatsminister, darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß mir bei meinem Besuch mit meinem einfachen, gesunden Menschenverstand der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Straßenbau und diesem Straflagerbau so klar geworden ist, daß mich das zu dieser Frage veranlaßt hat. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang in Präzisierung meiner Frage noch einmal um Auskunft bitten, ob der Herr Staatspräsident Eyadema in absehbarer Zeit einen Besuch in der Bundesrepublik plant, und ist die Bundesregierung bereit, die Gelegenheit dieses Besuches zu benutzen, um ihm die Angelegenheit vorzutragen und ihm das Unbehagen, das in der Öffentlichkeit in Deutschland geäußert worden ist, mitzuteilen?
Möllemann, Staatsminister: Zu Ihren drei Fragen nehme ich wie folgt Stellung. Ich weiß nicht, inwiefern Ihnen der von Ihnen apostrophierte gesunde Menschenverstand die Klarheit vermittelt hat, daß es sich dabei um ein Straflager handelt. Ich bin nicht selbst da gewesen und kann mich nur auf den Bericht unserer Botschaft stützen, die sagt, nach ihren Erkenntnissen soll dort eine Einrichtung für schwererziehbare Jugendliche geschaffen werden. Das gibt es bei uns auch. Ich kann nicht von hier aus dem Staat Togo vorgeben, ob er solche Einrichtungen zu schaffen oder nicht zu schaffen hat. Ich hüte mich auch davor, das irgendwie zu bewerten, weil ich nicht weiß, welchen Charakter diese Einrichtung haben wird.
Zweitens. Mir ist im Moment ein geplanter Besuch des togoischen Präsidenten nicht bekannt.
Wir würden — drittens — auf der Grundlage von Mutmaßungen einen solchen Punkt auch nicht ansprechen.
Sollte uns unsere Botschaft berichten, daß in Togo Einrichtungen oder Vorkommnisse zu beobachten sind, die mit unserem Menschenrechtsverständnis nicht zu vereinbaren sind — aber das ist ein hoher Anspruch —, dann würde das Gegenstand von Unterredungen sein können. Ich möchte aber wirklich eine solche Bewertung nicht vornehmen bei einer Baustelle, von deren künftiger Zwecksetzung wir ziemlich wenig wissen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Immer.
Herr Staatsminister, sind Sie auf Grund der Anfragen bereit, über die Botschaft einmal prüfen zu lassen, was denn unter dem Begriff „schwer erziehbar" in dem Lande, wo ein solches Lager entwickelt werden soll, verstanden wird, damit nicht der Eindruck entsteht, daß das, was etwa caritative Unternehmungen in der Bundesrepublik — das Diakonische Werk oder die Caritas — machen, mit dem Begriff „schwer erziehbar" in einem solchen Lande in einen Topf geworfen wird?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, ich weiß nicht, was Sie mit „in einem solchen Lande" meinen.
In einem anderen Lande.Möllemann, Staatsminister: In einem anderen Lande, ja, also gut. Wir haben dort eine Botschaft, und die berichtet uns über die Situation. Ich erwähnte bereits: sollte uns die Botschaft berichten, daß es in Togo Einrichtungen oder Abläufe gibt, die mit unserem Menschenrechtsverständnis nicht in Einklang stehen, werden wir das in gebührender Weise in unsere politischen Beziehungen zu diesem Land einbeziehen. Ich möchte aber diejenigen von Ihnen, die z. B. den afrikanischen Kontinent kennen, bitten, mindestens gelegentlich in Betracht zu ziehen, daß nicht nur das gleiche Souveränitätsgefühl in den Staaten besteht wie bei uns, sondern darüber hinaus auch zu bestimmten Vorstellungen wie Erziehung, Moral, andere Auffassungen bestehen als bei uns. Ich weiß nicht, ob es ganz weit führt, wenn wir uns jetzt mit der togoischen Regie-
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Staatsminister Möllemannrung über die Frage unterhalten, in welchen Einrichtungen sie schwer erziehbare Jugendliche unterbringt und wie sie den Begriff „schwer erziehbar" definiert. Das kann vielleicht auf einer Fachkonferenz im Rahmen der Interparlamentarischen Union einmal geschehen.
Ich möchte uns davor bewahren, solche Diskussionen mit dem erhobenen Zeigefinger zu führen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hettling.
Herr Staatsminister, wenn es sich um ein solches Straflager handeln sollte, was Sie nachprüfen wollen, wie Sie hier dargestellt haben, wird sich die Bundesregierung dann davon distanzieren und die deutschen Steuergelder zurückfordern?
Möllemann, Staatsminister: Lieber Herr Kollege, ich habe hier das Bild von dieser Brücke. Vielleicht wollen Sie sich das gelegentlich anschauen. Es handelt sich um eine überschaubare Holzbrücke über einen Fluß, deren Zweckbestimmung ich vorhin ausführlich beschrieben habe. Ich sehe nicht, weshalb wir der Bevölkerung der von mir genannten Orte künftig den Zugang zu den Märkten, der für sie lebenswichtig ist, in der Regenzeit nicht ermöglichen sollten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stockhausen.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß diese Straflager auch gebaut worden wären, ohne daß wir die Brücke gebaut hätten?
Möllemann, Staatsminister: Das weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, ob es dort ein Straflager gibt. Deswegen ist es eine hypothetische Frage, zu der ich nicht Stellung nehmen kann.
Zusatzfrage, Frau Blunck.
Herr Staatsminister, ich möchte nochmal die Frage wiederholen, die mein Kollege vorhin an Sie gestellt hat. Ich möchte Sie fragen, ob Sie diese Fragestunde dazu veranlaßt, von sich aus nachzuforschen, was in diesem Land in bezug auf diesen Brückenbau und auf das Straflager los ist, und ob Sie so sensibel sind, daß Sie dort nachfragen.
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, ich habe pflichtgemäß, um die Fragen des Kollegen Diederich ordnungsgemäß beantworten zu können, vorher versucht, mich sachkundig zu machen, und ich denke, daß ich über den Zweck dieser Brücke ordnungsgemäß Auskunft erteilt habe. Ob es in der Region darüber hinaus noch andere Einrichtungen gibt oder geben wird, konnten wir, jedenfalls was den Zweck dieser Einrichtungen angeht, noch nicht definitiv beantworten. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß uns von den Baustellenarbeitern gesagt wurde, dort werde im Auftrag des Innenministeriums ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche errichtet.
— Ich kann nur sagen, was wir erfahren haben. Das Innenministerium hat uns gegenüber noch keine offizielle Erklärung abgegeben, aber ich werde unsere Botschaft darüber informieren, daß im Parlament der Wunsch besteht, über diesen Punkt noch weitergehende Informationen zu erhalten.
Die Fragen 43 und 44 des Abgeordneten Sielaff sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nun haben wir eine ganze Reihe von Fragen, die auf Grund Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien nicht aufgerufen werden können und deshalb schriftlich beantwortet werden, weil sie nachher in der Aktuellen Stunde eine Rolle spielen. Es gibt ganz wenige Fragen, die davon eine Ausnahme bilden und trotzdem einen Zusammenhang mit Afghanistan haben. Es ist hier versucht worden, das sehr ordentlich zu prüfen.
Die Frage 45 des Abgeordneten Neumann wird also schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Neumann auf:
Kennt die Bundesregierung Einzelheiten und Motive über eine Aktion, wonach im Herbst 1984 mehrere tausend Kinder aus Afghanistan in die Sowjetunion verbracht worden sind und in Zukunft jährlich weitere Kinder für jeweils zehn Jahre in die Sowjetunion verbracht werden sollen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Neumann, im November 1984 ist eine Gruppe sieben- bis zehnjähriger afghanischer Kinder für eine bis zu 10jährige Ausbildung in die Sowjetunion geschickt worden. Jedes Jahr sollen von nun ab rund 3 000 Kinder folgen. Diese Ausbildungsmaßnahme ist Teil eines Plans, mit dem sich die Sowjetunion im Hinbick auf den Generationswechsel regime-treue Funktionäre heranbilden will. Einzelheiten über die Auswahl der Kinder sind der Bundesregierung nicht bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die überwiegende Mehrzahl der Eltern ihre Kinder nicht freiwillig ziehenlassen will.
Zusatzfrage, Herr Neumann.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß bei diesen
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Neumann
Kindern mindestens 10 % Waisenkinder sein sollen?Möllemann, Staatsminister: Ja, das ist die Schätzung, die auch der Bundesregierung bekannt ist, daß 10 bis eventuell 15 % der Kinder Waisenkinder sind.
Weitere Zusatzfrage, Herr Neumann.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, wie die Auswahl getroffen wird?
Möllemann, Staatsminister: Nein, das ist nicht bekannt und ist auch schwer zu ergründen.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Schlaga auf:
Hat die Bundesregierung Informationen darüber, welche Aufgaben ca. 10 000 afghanische Kinder, die für längere Zeit zu Ausbildungszwecken in die Sowjetunion verbracht worden sind, nach ihrer Rückkehr in Afghanistan übernehmen sollen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Schlaga, der Bundesregierung liegen keine amtlichen Angaben darüber vor, welche Aufgaben die Kinder später übernehmen sollen, die für längere Zeit, also zehn Jahre, zu Ausbildungszwecken dorthin gebracht worden sind. Ziel der sowjetischen Stellen ist es jedoch sicherlich, Kader heranzubilden, die in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zuverlässig sowjetische Interessen vertreten.
Zusatzfrage, Herr Schlaga.
Ist der Bundesregierung bekannt, ob in der Sowjetunion zusätzlich zu den vielleicht schon bekannten Schulen Kaderschulen für politischen oder militärischen Nachwuchs gegründet worden sind?
Möllemann, Staatsminister: Nein, das ist mir nicht bekannt. Wenn es der Bundesregierung möglicherweise bekannt ist, müßte ich noch mal der Sache nachgehen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Schlaga? — Nein. Aber eine Zusatzfrage von Herrn Neumann.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, ob diese Kinder nur in die Sowjetunion oder auch in andere kommunistische Länder verbracht werden?
Möllemann, Staatsminister: Nur in die Sowjetunion, nach unseren bisherigen Erkenntnissen.
Ebenso wie die Frage 45 des Abgeordneten Neumann ist die Frage 48 des Abgeordneten Schlaga auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien schriftlich zu beantworten.
Die Frage 49 des Abgeordneten Todenhöfer soll auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 50 des Abgeordneten Todenhöfer fällt unter Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien.
Die Frage 51 des Abgeordneten Werner soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 52 bis 60 fallen unter Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien, da sie nachher Gegenstand der Aktuellen Stunde sind.
Es handelt sich im einzelnen um die Frage 52 des Abgeordneten Werner, die Fragen 53 und 54 des Abgeordneten Klein , die Fragen 55 und 56 der Frau Abgeordneten Geiger, die Fragen 57 und 58 des Abgeordneten Lamers und die Fragen 59 und 60 des Abgeordneten Dr. Stercken.
Wir kommen zu den Fragen 61 und 62 des Abgeordneten Dr. Hupka. — Er ist nicht im Saal. Die Fragen werden entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.*)
Wir kommen zur Frage 63 der Abgeordneten Frau Eid:
Stellt sich die Bundesregierung hinter die Aussage des Präsidenten der UNO-Vollversammlung, Paul Lusaka, der die Einsetzung einer Interimsregierung in Namibia durch Südafrika unter Ausschaltung der vom größten Teil der namibischen Bevölkerung getragenen Südwestafrikanischen Unabhängigkeitsbewegung als illegalen Akt bezeichnet hat, und welche konkreten Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus diesem illegalen Akt?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, die Bundesregierung hat gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten in der Kontaktgruppe und in der Europäischen Gemeinschaft zur Einsetzung einer namibischen Interimsregierung durch Südafrika eindeutig Stellung genommen. Ebenso wie ihre westlichen Partner betrachtet sie die Einsetzung dieser Interimsregierung als null und nichtig.
Zusatzfrage, Frau Eid? Frau Eid : Nein.
Keine Zusatzfrage.Auch die Frage 64 ist von Ihnen, Frau Eid:Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß es falsch sei, an einer Politik festzuhalten, die nur dazu führe, daß etwa in Namibia allein die Befreiungsbewegung SWAPO regiere, und wenn ja, hieße dies, daß die Bundesregierung eine durch international kontrollierte Wahlen als Sieger hervorgegangene SWAPO-Regierung nicht anerkennen würde?Bitte schön, Herr Staatsminister.Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, die Auffassung der Bundesregierung zur Lösung der Namibia-Frage ist bekannt. Für uns und für unsere westlichen Partner bleibt der westliche Lösungsplan gemäß der Sicherheitsratsresolution 435 die alleinige Grundlage für eine international aner-*) Beantwortung der Fragen Seite 11127C, 11129A
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Staatsminister Möllemannkannte Unabhängigkeit Namibias, die so bald wie möglich angestrebt wird. Der westliche Lösungsplan sieht international kontrollierte Wahlen vor. Ihr Ergebnis wird von der Bundesregierung selbstverständlich anerkannt werden.
Zusatzfrage, bitte schön.
Wie will die Bundesregierung dem Eindruck entgegentreten, daß die Anwesenheit wichtiger Politiker der Regierungsfraktionen CDU/ CSU und FDP bei der Einsetzung der internen Interimsregierung in Windhuk die Anerkennung dieser Marionettenregierung signalisiert?
Möllemann, Staatsminister: Die Tatsache, Frau Kollegin, daß einige Abgeordnete der Unionsfraktion und ein Abgeordneter der FDP-Fraktion sowie der hohe Richter Dr. Zeidler,
der ehemalige hohe Richter Dr. Zeidler, der der SPD angehört und diese Parteizugehörigkeit bei der Feierlichkeit auch sehr deutlich hervorgehoben hat, teilgenommen haben, haben wir zur Kenntis genommen. Abgeordnete sind frei, ihre Entscheidungen selber zu treffen, und ihre Entscheidungen sind von der Bundesregierung nicht zu kommentieren. Unsere Auffassung in der Sache, denke ich, habe ich gerade unmißverständlich deutlich gemacht.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Frau Eid.
Wie reagiert die Bundesregierung auf die Äußerung des bayerischen Ministerpräsidenten Strauß beim entwicklungspolitischen Kongreß der CSU in Hof, daß die Regierung in der Namibiapolitik aufwachen sollte?
Möllemann, Staatsminister: Sehr aufgeweckt reagiert die Bundesregierung darauf,
indem sie in ihrer Politik und in ihren Äußerungen ihren Standpunkt deutlich erkennen läßt, so wie ich es soeben getan habe.
Zusatzfrage des Abgeordneten Duve.
Herr Staatsminister, hat die Bundesregierung versucht, vor der Reise oder nach der Reise die von Ihnen soeben noch einmal genannten Mitglieder dieses Hauses und des Gerichtshofs über ihre eigene Auffassung so zu informieren, daß da vielleicht eine Meinungsänderung stattgefunden hat?
Möllemann, Staatsminister: Wir haben mit den Betroffenen, von denen wir wußten, daß sie die Reise antreten würden, gesprochen und ihnen unsere Auffassung dargelegt.
Da ich gestern so gehandelt habe, muß ich es auch heute tun. Es ist ein Abgeordneter Sekunden später in den Saal gekommen, nachdem seine Fragen schon aufgerufen waren. Ich bitte Sie, die Frage 61 des Abgeordneten Dr. Hupka herauszusuchen und ihm die Antwort zu geben:
Kann die Bundesregierung dazu Stellung nehmen, daß der Satz des Koordinators für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, Staatssekretär a. D. von Staden, in deh „Baltischen Blättern" nicht zutreffend ist: „Wir handelten gegen unsere eigenen Interessen, wenn wir den Friedensvertragsvorbehalt politisch aktivierten", nachdem der Bundeskanzler auf dem Deutschlandtreffen der Schlesier am 16. Juni 1985 in Hannover ausdrücklich den Friedensvertragsvorbehalt mehrmals bestätigt hat?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, zu Ihrer Frage habe ich in einer schriftlichen Antwort bereits eingehend Stellung genommen, wie Sie aus dem Protokoll der 144. Sitzung vom 14. Juni 1985 entnommen haben werden. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, ich habe aber die Frage im Zusammenhang gebracht mit der Rede des Bundeskanzlers und dem in seiner Rede ausdrücklich mehrfach betonten Friedensvertragsvorbehalt. Da scheint mir doch ein Widerspruch zwischen der Einlassung des Amerikabeauftragten des Auswärtigen Amtes und der Rede des Bundeskanzlers zu sein, der bekanntlich die Richtlinien der Politik bestimmt.
Mit Mühe habe ich ein Fragezeichen erkannt.
Möllemann, Staatsminister: Die letztgenannte Feststellung trifft zu. Aber es trifft ebenso zu, daß zwischen den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers und denen des früheren Staatssekretärs von Staden kein Gegensatz besteht.
Weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Hupka.
Können Sie mir dann die Frage beantworten; warum, folgt man der Auffassung von Herrn von Staden, der Friedensvertragsvorbehalt politisch nicht aktiviert werden soll?Möllemann, Staatsminister: Das geht aus der Antwort hervor, die ich soeben zitiert habe. Wenn Sie nämlich die Aussage des Herrn Bundeskanzlers lesen, werden Sie doch nicht nur den einen Satz aus ihr herauslesen wollen, sondern Sie werden, denke ich, auch folgende Sätze, die der Bundeskanzler gesagt hat, in Betracht ziehen müssen. Ich zitiere sie noch einmal. Der Bundeskanzler sagte:Wir bekräftigen jetzt und für die Zukunft denWarschauer Vertrag und die darin zwischender Bundesrepublik Deutschland und der
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11128 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Staatsminister MöllemannVolksrepublik Polen verankerte Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen als eine grundlegende Bedingung für den Frieden. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, und die Volksrepublik Polen haben gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche und werden solche auch in Zukunft nicht erheben. Meine Damen und Herren, in den Gebieten jenseits der polnischen Westgrenze leben heute polnische Familien, denen diese Landschaften in zwei Generationen zur Heimat geworden sind. Wir werden dies achten und nicht in Frage stellen.Ich meine, daß zu dieser im Kontext zu sehenden Äußerung des Bundeskanzlers die Auffassung von Herrn von Staden in keinerlei Widerspruch steht.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Duve.
Herr Staatsminister, verstehe ich die Rolle des Koordinators der deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit richtig, daß er insofern nicht weisungsgebunden ist, daß wir Parlamentarier, die Regierung vollständig auf den klugen und weisen Rat eines sehr verdienstvollen Beamten künftig verzichten müssen?
Möllemann, Staatsminister: Also, das habe ich jetzt nicht begriffen, offen gestanden.
Ist Herr von Staden in dieser Eigenschaft — das insinuiert j a Herr Dr. Hupka — als Berater und Koordinator dieser deutsch-amerikanischen Beziehungen künftig zum Schweigen verpflichtet, wenn er eine kluge und richtige Meinung kundtun möchte?
Möllemann, Staatsminister: Nein, das ist er zweifellos nicht. Aber genauso, meine ich, würde sich das Parlament unnötig Fesseln anlegen, wenn es sich etwa vornähme die Meinungen des Koordinators, unabhängig davon, was er sagt, künftig auch nicht zu diskutieren. Also, ich finde die Frage vollständig legitim — so, wie ich unsere Antwort für richtig halte.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, setzt sich der Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit nicht in einen unzulässigen Widerspruch zu den alle Amtspersonen und Personen mit Amtsfunktionen verpflichtenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 7. 1975, wenn er zur Unterstützung des behandelten Zitats behauptet, der Warschauer Vertrag gehe über einen reinen Gewaltverzicht hinaus, während das Bundesverfassungsgericht auf Grund der Aussage der damaligen Bundesregierung und der Vertragstexte dagegen feststellte,
daß es sich bei dem Vertrag nur um eine Konkretisierung des Gewaltverzichts handele und daher nur das Unterlassen von Maßnahmen geschuldet werde die auf eine gewaltsame Veränderung der in den Verträgen bezeichneten Lage gerichtet seien,
darüber hinaus aber kein übereinstimmender Wille der Vertragspartner des hochpolitischen Vertrages vorgelegen habe?
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß sowohl die Antworten der Regierung als auch die Zusatzfragen der Abgeordneten kurz sein sollen.
— Herr Dr. Czaja, wir haben offensichtlich eine unterschiedliche Vorstellung von Menge. — Sie sind dran, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Nein.
Sehen Sie, das war eine kurze Antwort.
Ich habe noch eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Staatsminister, können Sie sich vorstellen, daß der Koordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, der ehemalige Staatssekretär von Staden, diese Außerungen deshalb getan hat, weil die ständige Diskussion um das Motto des Schlesier-Treffens und Veröffentlichungen in offiziellen Blättern der Schlesier auch im Westen — und hier vor allem in den Vereinigten Staaten — zu einer großen Beunruhigung geführt haben?
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, zunächst möchte ich ausdrücklich sagen, daß einige der von uns hier einvernehmlich für unerträglich gehaltenen Publikationen — das krasseste Urteil darüber hat j a der Kollege Hupka selbst vorgenommen — im „Schlesier" in der Tat zu sehr heftigen Reaktionen in befreundeten und weniger befreundeten Ländern geführt haben und daß wir einiges damit zu tun hatten, Mißverständnisse, die sich daraus ergaben, auszuräumen.Ich denke, daß der Herr Kollege von Staden aus seiner großen Erfahrung und Verantwortung heraus bemüht gewesen ist, ein kompliziertes Thema politisch verantwortungsbewußt darzustellen. Ich finde, er hat uns damit einen guten Dienst erwiesen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11129
Wir kommen zur Frage 62 des Abgeordneten Dr. Hupka:
Welche Erklärungen und Zusicherungen hat die polnische Regierung der Bundesregierung nach der Rede des Partei-und Regierungschefs Jaruzelski vom 7. Mai 1985 in Breslau abgegeben, nachdem die Bundesregierung gemäß ihrer Auskunft wegen der in der Rede gemachten Aussage über das Ende der Ausreise und der Nichtexistenz einer deutschen Volksgruppe hat vorstellig werden wollen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Möllemann, Staatsminister: Herr Dr. Hupka, wie ich bereits in der Fragestunde vom 15. Mai dieses Jahres ausgeführt habe, teilt die Bundesregierung die Auffassung der polnischen Regierung nicht, daß, wie es Ministerpräsident General Jaruzelski am 7. Mai in Breslau ausgedrückt hat — ich zitiere —, „das Problem einer deutschen nationalen Minderheit in Polen endgültig aufgehört habe, zu existieren". Die Bundesregierung setzt sich vielmehr in ihrer Politik kontinuierlich und mit Nachdruck dafür ein, für die Anliegen deutscher Volkszugehöriger in Polen wirksam und hilfreich zu sein. Dies gilt sowohl für diejenigen, die in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen möchten — der Bundesregierung sind nach wie vor ca. 136 000 Ausreisewünsche deutscher Volkszugehöriger in die Bundesrepublik Deutschland namentlich bekannt —, als auch für jene, die in ihrer Heimat zu bleiben und ihre eigene kulturelle Identität zu entfalten wünschen.
Die Bundesregierung stützt sich dabei auf alle geeigneten Rechtsgrundlagen, insbesondere auf die nach wie vor gültige Information der Regierung der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970 sowie auf das Protokoll, einschließlich der sogenannten Offenhalteklausel, aus dem Jahre 1975. Dies geschieht bei jeder geeigneten Gelegenheit.
Zusatzfrage, Herr Dr. Hupka.
Ich bedanke mich zwar für diese Antwort, Herr Staatsminister, möchte aber fragen: Welche Erklärungen und Zusicherungen hat die Bundesregierung erhalten, da sie auf diplomatischem Wege zu dieser Rede Stellung nehmen wollte?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, Sie haben in Ihrer Ausgangsfrage — das muß ich jetzt bei der Beantwortung Ihrer Zusatzfrage vorwegschicken — angenommen, daß ich in der angesprochenen Fragestunde mitgeteilt hätte, wir wollten unmittelbar danach zu einem konkreten Termin vorstellig werden. Ich hatte aber gesagt, daß wir bei allen sich bietenden Möglichkeiten auf diese nicht neue, aber unverändert gültige Rechtsauffassung hinweisen werden und daß wir uns vor allen Dingen bei allen sich bietenden Möglichkeiten für die uns bekannten ca. 136 000 Ausreisewilligen sowie für diejenigen Deutschen, die dort bleiben wollen, einsetzen werden. Das geschieht durch die tägliche Arbeit unseres Botschafters und seiner Mitarbeiter, das geschieht aber auch bei zahlreichen politischen Gesprächen. Wir hatten vor nicht allzu langer Zeit auch parlamentarische Gäste aus Polen hier. Ich weiß, daß Kollegen aus allen Fraktionen mit ihnen Gespräche geführt haben. Auch bei dieser Gelegenheit haben wir darüber gesprochen. Eine amtliche Erklärung des Ministerpräsidenten, General Jaruzelski, mit der er seine Aussage vom 7. Mai aufgehoben hätte, liegt bisher nicht vor.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Hupka
Nachdem Sie, Herr Staatsminister, soeben auch die Tätigkeit unserer Botschaft in Warschau angesprochen haben, habe ich die Frage, ob nicht auch dem Auswärtigen Amt bekannt ist, daß sich die polnische Seite ständig weigert, in bestimmten Fällen Interventionsnotizen unserer Botschaft entgegenzunehmen, so daß also die Möglichkeiten des Agierens unserer Botschaft sehr beschränkt sind.
Möllemann, Staatsminister: Sie weisen zu Recht darauf hin, daß die Wahrnehmung der Interessen der von mir angesprochenen Ausreisewilligen respektive derer, die bleiben wollen, ziemlich schwierig ist. Sie dürfen aber davon ausgehen, daß wir sowohl bei den bilateralen Gesprächen als auch im übrigen bei multilateralen Gelegenheiten und Konferenzen — eine davon wird j a gleich im Anschluß an die Aktuelle Stunde Thema der Bundestagsdebatte sein — bemüht sind, auf eine Praxis hinzuwirken, die dem Geist der Abkommen entspricht. Darum bemühen wir uns tatsächlich, und wir hoffen, daß zeitweilige Schwierigkeiten — etwa die von Ihnen angesprochenen — überwunden werden können.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Möllemann, stimmen Sie mit mir darin überein, daß, hätte der Bundeskanzler sich auf dem Schlesier-Treffen deutlicher und präziser ausgedrückt, die Kollegen Czaja und Hupka — und der schon bereitstehende Nachwuchs — keinen Anlaß gehabt hätten, hier im Plenum des Bundestages diese Fragen an die Bundesregierung zu richten?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich habe soeben vorgetragen, was der Bundeskanzler in seiner Rede gesagt hat. Ich fand, daß diese Aussagen, die hier vorhin ja im übrigen viel Zustimmung gefunden haben, klar waren. Wenn sich das ganze Haus hinter diese Aussagen stellen würde, wäre es sicherlich leichter, auch die hier in Rede stehenden Fragen im praktischen humanitären Bereich zu lösen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger .Jäger (Wangen): Herr Staatsminister, nachdem j a nun zwei Auffassungen einander gegenüberstehen, die in der Frage des Kollegen Hupka skizzierte Auffassung der polnischen Regierung und die von Ihnen dargestellte gegensätzliche
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11130 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Jäger
Auffassung der Bundesregierung: ist es da nach Auffassung der Bundesregierung nicht außerordentlich dringlich, sich so rasch wie möglich mit der polnischen Regierung zusammenzusetzen und diese Fragen einer Klärung zuzuführen? Denn diese gegensätzlichen Auffassungen können und dürfen doch nicht auf dem Rücken der davon betroffenen deutschen Auswanderungswilligen oder auch Nicht-Auswanderungswilligen ausgetragen werden, denen ihre Minderheitsrechte vorenthalten werden.Möllemann, Staatsminister: Letzteres sehen wir auch so. Das sollte möglichst vermieden werden.Aber, Herr Kollege Jäger, es entspricht, glaube ich, nicht den Tatsachen, wenn der Eindruck erweckt wird, man würde hier plötzlich mit einem Problem konfrontiert oder man könne mit einer einmaligen großen Konferenz oder in einem Vieraugengespräch — zwischen wem auch immer — solche Probleme lösen. Wir bemühen uns darum, in einer sehr systematischen, kontinuierlichen Arbeit das zu tun, was den Interessen der 136 000 Ausreisewilligen, die wir kennen, und der anderen, die dort bleiben wollen, am meisten gerecht wird. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es zweckmäßig ist, daß ich jeden einzelnen Schritt hier im Detail öffentlich erörtere.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schlaga.
Herr Staatsminister, ich möchte eigentlich nur wissen, wie viele Ausreisen es über die 125 000 hinaus durch die Offenhaltungsklauseln gegeben hat.
Möllemann, Staatsminister: Das sollte ich jetzt eigentlich wissen, aber ich weiß es, offen gestanden, nicht. Ich muß Ihnen die Zahl nachreichen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, stellt die Aussage des polnischen Militärdiktators in seiner Rede vom 7. Mai über das Ende der Ausreise und die Tatsache, daß angesichts der 136 000 von Ihnen angegebenen Ausreiseanträgen in 1984 nur 3 000 genehmigt wurden, nicht einen eklatanten Bruch der humanitären Geschäftsgrundlagen des Warschauer Vertrages mit Folgen für den Gesamtvertrag dar, und was gedenkt das für die auswärtigen Beziehungen zuständige Auswärtige Amt in dieser Frage zu unternehmen?
Möllemann, Staatsminister: Das Auswärtige Amt, besser gesagt: die Bundesregierung bemüht sich in ständigem Kontakt, mit der polnischen Regierung, auch mit dem Ministerpräsidenten ein Einvernehmen herzustellen. Das ist angesichts der kraß auseinandergehenden Ausgangslagen auf beiden Seiten nicht einfach. Mein Eindruck ist allerdings — ich wiederhole dies —, daß man ein Ergebnis, das den Menschen, die dort leben und die weiter dort leben wollen, und den Menschen, die von dort ausreisen wollen, am meisten dient, nur erreichen kann, wenn man versucht, ein Klima zu schaffen, das beide Seiten bereit macht, aufeinander zuzugehen. Ich glaube, daß eine andere Vorgehensweise denen, die sich hier um dieses Thema kümmern, vielleicht das Gefühl gibt, sie hätten klare und deutliche Worte gesprochen, daß sie aber nicht notwendigerweise den betroffenen Menschen hilft.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Becker .
Herr Staatsminister, sind wir uns einig in der Beurteilung, daß es sich bei dem angesprochenen Personenkreis um Polen deutscher Abstammung handelt?
Möllemann, Staatsminister: Es handelt sich um deutsche Volkszugehörige.
Zusatzfrage, Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Staatsminister, glauben Sie, daß die Art, wie die Fragesteller dieses Thema hier abhandeln, unserem gemeinsamen Anliegen nämlich weitere Ausreisemöglichkeiten zu schaffen, förderlich ist oder nicht?
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin Hamm-Brücher, ich teile mit Ihnen die Grundsatzauffassung, daß die Bundesregierung nicht dazu da ist, Meinungen der Abgeordneten zu kommentieren, und dabei bleibt es auch. Ich weiß aus Ihrem großen Engagement und Ihrer Tätigkeit als meine Vorgängerin, daß Sie sich stets für Rahmenbedingungen eingesetzt haben und noch einsetzen, die es möglich machen, den Menschen im praktischen Vorgehen tatsächlich zu helfen.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich nutze die Gelegenheit, Ihnen, Herrn Dr. Czaja, zu sagen, daß Sie selbstverständlich frei sind in der Art und Weise, wie Sie irgendeine andere Person bezeichnen. Nur: Wir haben uns hier in diesem Haus vorgenommen, ausländische Staatsoberhäupter mit ihrer amtlichen Bezeichnung und nicht anders zu bezeichnen.
Ich rufe Frage 65 des Abgeordneten Jäger auf:Hatte die Bundesregierung Gelegenheit, von der Verabredung eines gemeinsamen Entwurfs der SPD und der totalitären SED für ein Abkommen über eine C-Waffen-freie Zone in Mitteleuropa zu dem Entwurf oder der beabsichtigten Verabredung Stellung zu nehmen, und wie beurteilt sie ein derarti-
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Vizepräsident Westphalges Projekt, das auf die Bundesrepublik Deutschland und die Benelux-Staaten im Westen und auf die DDR, die Tschechoslowakei und Polen auf östlicher Seite beschränkt sein soll?Bitte schön, Herr Staatsminister.Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Jäger , wie bekannt haben Mitglieder der Verhandlungsdelegationen von SPD und SED auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Bonn am 19. Juni 1985 einen „Rahmen für ein Abkommen zur Bildung einer von chemischen Waffen freien Zone in Europa" vorgestellt. Die Bundesregierung hatte keine Gelegenheit, vorher zu diesem Vorschlag Stellung zu nehmen. Auf der Bundespressekonferenz am 19. Juni 1985 — also im nachhinein — hat sich der Sprecher der Bundesregierung zu diesem Vorschlag geäußert. Ich möchte den Kern der Bewertung hier zusammenfassend darstellen.Wir meinen, daß es im Falle der Verwirklichung des Vorschlages möglich wäre, die aus der dort beschriebenen Zone abzuziehenden C-Waffen in Staaten zu verlagern, die — ich zitiere — „an die Zone angrenzen und über chemische Waffen verfügen". Dies bedeutet, daß der Warschauer Pakt jedenfalls in den westlichen Gebieten der Sowjetunion chemische Waffen stationieren könnte. Infolge der Mobilität von C-Waffen bliebe die Bedrohung Westeuropas damit unverändert.Ich möchte weiter darauf hinweisen, daß in dem Entwurf keine Vernichtung von chemischen Waffen und ihrer Produktionsstätten vorgesehen ist. Der Vorschlag bleibt insoweit hinter dem zurück, was bei den Genfer Verhandlungen über ein weltweites Verbot chemischer Waffen schon erreicht wurde. Hier wurde nämlich über die Lösung dieser Fragen bereits ein weitgehendes Einvernehmen erzielt.Es gibt außerdem noch weitere Gründe gegen den Vorschlag. Die darin vorgesehene Lösung der zentralen Frage der Überprüfung eines Verdachtsfalles enthält zwar den Grundsatz, das Verdachtskontrollen durch eine internationale Kommission erfolgen sollen, „wenn die Anlässe des Verdachts in einer festzulegenden Frist nicht behoben werden"; sie behält aber die Festlegung der Einzelheiten dieser Verdachtskontrollen Verhandlungen zwischen den beteiligten Staaten vor. Gerade in diesen schwierigen Einzelfragen aber liegen, wie wir aus den bisherigen Verhandlungen in Genf wissen, die Hauptprobleme. Sie sind auch in den Genfer Verhandlungen eben noch nicht gelöst.Ferner kommt der Frist, innerhalb derer Inspektionen vor Ort erfolgen können, entscheidende Bedeutung zu. Ein Staat kann einen Tatbestand, der zum Verdacht eines Verstoßes gegen ein Chemische-Waffen-Verbotsabkommen Anlaß gibt, beseitigen, wenn eine Inspektion vor Ort nicht unverzüglich durchgeführt werden kann.Schließlich würde der Vorschlag von SPD und SED nicht zur Lösung der aktuellen Probleme des Einsatzes von chemischen Waffen außerhalb von Europa beitragen.Daher gibt es nach Auffassung der Bundesregierung zu den Bemühungen um ein weltweites und umfassendes Chemische-Waffen-Verbotsabkommen keine sachgerechte Alternative. Wir fürchten eher, daß der hier unterbreitete Vorschlag von diesem notwendigen größeren Ziel ablenkt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung von der zurückkehrenden Delegation des Sozialdemokratischen Partei über den Inhalt dieser Abmachungen informiert worden, ehe diese der Presse und der Öffentlichkeit übergeben wurden?
Möllemann, Staatsminister: Wir sind im nachhinein informiert worden. Ich habe jetzt das Datum nicht präsent. Ich halte es auch für ziemlich unerheblich, wenn das Abkommen geschlossen ist, ob es dann vor der Pressemitteilung oder danach mitgeteilt wird.
Zweckdienlich wäre möglicherweise gewesen — aus unserer Sicht ganz sicher, aber jede Partei ist frei, das zu handhaben, wie sie es will —,
vor dem Abschluß dieses Abkommens zu informieren.
Herr Conradi, ich habe Ihren Zuruf als Zwischenfrage aufgefaßt und möchte darauf hinweisen, daß die Bundesregierung vor Abschluß dieses Abkommens nicht informiert worden ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß es bei einer derartig schwierigen Materie, wenn man einen echten Abrüstungserfolg erzielen wollte, wichtig gewesen wäre, sich zuvor in der Tat mit der Bundesregierung ins Benehmen zu setzen und über die Bundesregierung auch die Stellungnahme der anderen von einem solchen Entwurf und Vorschlag betroffenen westlichen Staaten einzuholen, die offenbar auch nicht gefragt worden sind?
Möllemann, Staatsminister: Beim letzten kann ich nicht beurteilen, ob das der Fall ist oder nicht. Sie werden verstehen, daß die Bundesregierung es für richtiger hält, wenn die für die internationalen Verhandlungen zuständigen Regierungsstellen auch weiterhin die Verhandlungen führen und sich dafür in diesem Parlament rechtfertigen. Es könnte sonst der Eindruck entstehen, man könne vom eigentlichen Platz der Verhandlungen ausweichen und sich an andere Plätze begeben. Das kann niemandem dienlich sein.
Zusatzfrage von Frau Borgmann.
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11132 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Herr Möllemann, wenn die Bundesregierung dem Vorschlag der SPD nicht zustimmen kann: Was tut sie denn ihrerseits, um die Giftgaslager hier in der Bundesrepublik abzubauen und dafür zu sorgen, daß nicht noch weitere chemische Waffen, so wie die Vereinigten Staaten das offensichtlich doch vorhaben, demnächst hier auf unserem Gebiet gelagert werden?
Möllemann, Staatsminister: Die Bundesregierung setzt sich mit allem Nachdruck für eine Abschaffung der chemischen Waffen weltweit ein, für eine unter Kontrolle durchzuführende Zerstörung dieser chemischen Waffen und ihrer Produktionsstätten. Das wirkliche Kernproblem, das es in diesem Bereich im Augenblick gibt, liegt in der Weigerung der östlichen Seite, die Kontrollen vor Ort zuzulassen. Ich habe im anderen Zusammenhang in der Aktuellen Stunde gestern bereits deutlich gemacht: Wenn wir wollen, daß internationale Vereinbarungen ernstgenommen werden — auch von unserer Bevölkerung —, dann müssen wir darauf bestehen, daß ihre Einhaltung überprüfbar ist. Derjenige, der ein Abkommen schließt und es ernst meint, kann doch einer Überprüfung nichts entgegensetzen. Deshalb appellieren wir an die Sowjetunion, die Überprüfung der Zerstörung der vorhandenen chemischen Waffen und ihrer Produktionsstätten zuzulassen.
Zusatzfrage, Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, indem ich Ihrer Beurteilung folge, daß die Verabredung zwischen SPD und SED ein Schritt zurück gewesen ist, die Frage: Welches waren nun die Gründe, um zu dieser Verabredung zwischen SPD und SED zu gelangen?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Frage gelegentlich mit den Kollegen der SPD erörtern würden. — Diese Gründe sind uns nicht bekannt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schlaga.
Herr Möllemann, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie in Ihrer kritischen Antwort darauf verwiesen, daß im Falle einer Verwirklichung dieses Vorschlags, der hier angesprochen wird, die C-Waffen unmittelbar an die Westgrenzen der Sowjetunion verlagert werden könnten. Nun handelt es sich hierbei um die MBFRLänder. Sind Sie mit mir der Auffassung, daß im Falle einer Implementierung von MBFR nicht auch dann ein ähnlicher Effekt mit anderen Waffen eintreten würde? Sie zählen ja zu den Vertretern von MBFR.
Möllemann, Staatsminister: Ich zähle zu denjenigen, die sich für eine Lösung bei den MBFR-Verhandlungen einsetzen, und zwar im Sinne eines ungefähren Kräftegleichstandes im Bereich der bei den MBFR-Verhandlungen verhandelten Truppenstärken. In der Tat haben Sie recht, daß eine der besonderen Schwierigkeiten bei den MBFR-Verhandlungen, also bei den Verhandlungen über eine wechselseitige und ausgewogene Reduzierung der
Truppen in Mitteleuropa in Wien, darin besteht, daß der Reduzierungsraum unmittelbar an das Territorium der großen östlichen Macht angrenzt respektive nur einen Teil einschließen würde; das kommt dann noch auf die Definition an.
Ich denke, daß dies ein Grund mehr ist, bei den chemischen Waffen, deren Zahl das ermöglichen sollte, deren Gefahr es dringend erforderlich macht, dafür einzutreten, daß deren Produktionsstätten zerstört werden und daß die Bestände zerstört werden. Warum sollen wir ein schwieriges Problem mit einem weiteren versehen, nur um Scheinerfolge zu haben? In diesem genannten Bereich der chemischen Waffen wäre es aus meiner Sicht ein Scheinerfolg, würde man die westlichen chemischen Waffen, d. h. die der Amerikaner, in den USA aufbewahren, würde man die der östlichen Seite außerhalb des MBFR-Raumes aufbewahren. Ich kann nicht erkennen, was einem totalen Abbau dieser Waffen entgegenstehen soll.
Zusatzfrage des Abgeordneten Duve.
Herr Staatsminister, Sie haben eben gemeinsam mit Herrn Dr. Hupka dieses Übereinkommen als einen Rückschritt bezeichnet, haben aber dann in der Beantwortung einer Frage gesagt, das Schwierige sei, daß sich beide Seiten immer weigern würden, Kontrollen vornehmen zu lassen. Ist es nicht gerade ein Vorzug und ein Fortschritt dieses Abkommens, daß hier mögliche Kontrollen vereinbart worden sind?
Möllemann, Staatsminister: Die Kontrollen, die hier ins Gespräch gebracht worden sind — ich habe sie vorhin bereits charakterisiert —, haben einige Schwächen vom Verfahren her, beispielsweise jene, daß Kontrollen nur erfolgen sollen, wenn Verdachtsanzeichen nicht innerhalb einer bestimmten Zeit beseitigt werden. Ich habe bereits darauf hingewiesen, wo da die Schwäche liegt.
Ich möchte Ihnen in einem Punkt zustimmen. Ich sehe einen Vorzug, der aus meiner Sicht allerdings nicht stärker wiegt als die Nachteile — die Nachteile überwiegen —, in diesem Abkommen darin, daß auch die DDR — wenn ich hier einmal eine Gleichsetzung vornehmen darf —, jedenfalls die SED, dokumentiert, daß sie mindestens für ihr Gebiet chemische Waffen beseitigt wissen will.
Ich finde, dieses Privileg sollte sie auch ihrem Partner, der Sowjetunion, zubilligen. Deswegen sollten wir uns unverändert wie bisher für eine weltweite Zerstörung aller chemischen Waffen unter Kontrolle einsetzen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Mann.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11133
Herr Staatsminister, hat sich die Bundesregierung schon in irgendeiner Weise gegenüber den Vereinigten Staaten geäußert, und in welcher Weise beabsichtigt die Regierung, dieses Parlament in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen?
Möllemann, Staatsminister: Herr Präsident, ich kann nicht genau erkennen, inwiefern wir uns gegenüber den Vereinigten Staaten zu einem Abkommen der SED und der SPD äußern sollen.
Aber das hat keinen Sachzusammenhang mit der hier aufgeworfenen Frage, Herr Mann. Insofern hat der Herr Staatsminister recht, daß er keinen Zusammenhang erkennen kann.
Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Herr Staatsminister, Sie haben hier eben erklärt, die Bundesregierung sei erst nach Veröffentlichung des Verhandlungsergebnisses informiert worden. Wollen Sie bestreiten, daß die Bundesregierung während der Verhandlungen mehrfach über die Tatsache der Verhandlungen und über deren Fortgang informiert worden ist?
Möllemann, Staatsminister: Die Tatsache der Verhandlungen konnte ja jeder politisch aufgeschlossene Bürger — und dazu zählen alle Mitglieder der Bundesregierung — in regelmäßigen Abständen aus der Presse entnehmen.
— Wir waren über die Verhandlungen, als sie liefen, informiert, aber über das Ergebnis der Verhandlungen sind wir -- und dies habe ich hier mitgeteilt — nach Abschluß der Vereinbarungen informiert worden.
— O nein, Herr Kollege Wolfram, man hätte sehr wohl erwarten können, daß dann, als das Ergebnis aus der Sicht der SPD feststand, also vor Festlegung und wechselseitiger Unterzeichnung, eine Rücksprache mit jenen Experten und Verantwortlichen in der Bundesregierung erfolgt wäre, die ja ansonsten in parlamentarischen Gremien sehr wohl einen engen Meinungsaustausch auch mit den Kollegen der SPD pflegen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Werner.
Herr Staatsminister, sieht die Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen dem Umstand, daß Herr Gorbatschow, der sowjetische Parteisekretär, Herrn Brandt während dessen letzten Moskau-Besuchs ausdrücklich ermuntert hat, und der Tatsache, daß die SPD mit der
SED eine derartige Vereinbarung trifft, während Gorbatschow nicht bereit gewesen sein soll, den von Ihnen, also seitens der Bundesregierung, gewünschten globalen Verzicht auszusprechen?
Möllemann, Staatsminister: Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Sozialdemokratische Partei einer Ermunterung von seiten des ZK-Generalsekretärs bedarf. Möglicherweise ist diese Aussage allerdings für das Vorgehen der SED von Bedeutung gewesen.
Im übrigen bleibe ich dabei: Der jetzige Stand der Genfer Verhandlungen müßte bei gutem Willen der beteiligten Seiten ein Abkommen über die weltweite Zerstörung der chemischen Waffen und ihrer Produktionsstätten ermöglichen. Wir sollten in diesem Fall nicht auf Nebenkriegsschauplätze — besser gesagt, auf Nebenabrüstungsschauplätze — ausweichen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Bahr.
Herr Staatsminister, nachdem die Bundesregierung erfreulicherweise während der gesamten Zeit der Gespräche zwischen SPD und SED informiert war und uns zu keinem Zeitpunkt abgeraten hat, diese Gespräche zu führen, und nachdem die Bundesregierung über den Wortlaut, sobald er vereinbart worden war, informiert worden ist — in der Tat nicht früher, aber das ist ja auch schwer möglich —, frage ich Sie: Sind Sie nicht auch der Auffassung, daß die Formulierung zur Kontrollfrage weit über alles hinaus, was bisher in Genf vereinbart worden ist,
die notwendige nicht rückweisbare, zwangsweise und automatische Kontrolle an Ort und Stelle fest vereinbart, sind Sie nicht auch der Auffassung, daß dies bisher von seiten der westlichen Vertreter zum Haupthindernis erklärt worden ist, und ist die Bundesregierung bereit, diese Festlegung einer immerhin staatstragenden Partei eines Warschauer-Vertrag-Staates zum Vorteil des Westens zu benutzen?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Bahr, Ihre Frage enthält eine Bewertung, die ich nicht akzeptiere. Es ist zutreffend, daß es bei den Genfer Verhandlungen das von uns gewünschte Ergebnis, das ich beschrieben habe, nicht gibt. Dementsprechend ist es natürlich relativ leicht, in einem Vertragsentwurf, über den zwischen zwei Parteien verhandelt wird, zu sagen: Das, was hier als Absicht beschrieben ist — mehr ist es ja nicht —, ist mehr als das, was bisher vertraglich in Genf festgelegt worden ist. Das können Sie bei jedem theoretischen Konzept, das zwischen Parteien vereinbart wird, so machen.Klar ist, daß nach unserer Auffassung in Genf der Ansatz unverzichtbar und richtig bleibt, daß wir da-
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11134 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Staatsminister Möllemannfür einzutreten haben, daß die chemischen Waffen weltweit abgeschafft und ihre Produktionsstätten zerstört werden, weil wir der Auffassung sind, daß eine einfache Verlagerung um einige hundert Kilometer nicht sehr viel bringt. Es handelt sich bei diesen Waffen zum Beispiel um Granaten und Tanks, die beispielsweise dazu eingesetzt werden sollen, von Flugzeugen abgeworfen zu werden, um Besatzungen von Flughäfen mit chemischen Waffen kampfunfähig zu machen. Es liegt nun wirklich in der Natur der Sache, daß es überhaupt kein Problem ist, diese Tanks mit eben jenen Flugzeugen, die sie einsetzen sollen, sehr schnell ins Einsatzgebiet zu fliegen.
Unsere Besorgnis ist, Herr Kollege Bahr, daß das, was Sie über das Kontrollverfahren gesagt haben — dies wäre positiv, könnte man es weltweit praktizieren; es wäre jedenfalls besser als alles, was wir bisher vertraglich haben —, von diesem Grundgedanken abhängt und uns insofern nicht weiterhilft.Was wir nutzen wollen ist das, was ich vorhin angedeutet habe: daß die DDR über die Verhandlungen der SED signalisiert hat, daß sie offenkundig im Grundanliegen auch daran interessiert ist, daß die chemischen Waffen beseitigt werden. Aber dann eben nicht nur in einer regional begrenzten Zone, sondern weltweit.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Behandlung des Geschäftsbereichs des Auswärtigen Amtes. Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Geldern zur Verfügung.
Die Frage 84 des Abgeordneten Kißlinger soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Jetzt ist die Frage 85 des Abgeordneten Carstensen aufgerufen:
Trifft es zu, daß Fangfabrikschiffe der Hochseefischerei derzeit in der Nordsee Seelachs fischen, und wie wertet die Bundesregierung die Tatsache, daß durch solches Vorgehen die küstennahen Bereiche sehr schnell so von Seelachs ausgefischt sind, daß der auf diesen Fisch und auf die Fanggründe im küstennahen Bereich angewiesenen Kutter- und Küstenfischerei die Existenzgrundlage entzogen wird?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Carstensen, die Hochseefischerei hat für 1985 Fangerlaubnisse für 6 000 Tonnen Seelachs erhalten, die Kutterfischerei für 12 000 Tonnen Seelachs. Die Fangerlaubnisse für die Hochseefischerei berechtigen auch zum Einsatz von Fang- und Verarbeitungsschiffen. Anfang Juni hat die Hochseefischerei versuchsweise mit einigen Fahrzeugen, darunter auch Fang- und Verarbeitungsschiffen, den Seelachsfang in der Nordsee vor der norwegischen Küste aufgenommen. Die Ergebnisse waren jedoch so unzureichend, daß nach Angaben der Hochseefischerei dort derzeit keine Schiffe mehr eingesetzt sind. Eine Beeinträchtigung der Kutterfischerei ist deshalb nicht zu befürchten.
Die Bundesregierung wird dafür Sorge tragen, daß beide Betriebszweige der Fischerei die ihnen zugewiesenen Quoten einhalten.
Zusatzfrage, Herr Carstensen.
Herr Staatssekretär, welche sonstigen Bemühungen unternimmt die Bundesregierung, um der Kutter- und Küstenfischerei ihre doch schon eingeschränkten Fangmöglichkeiten zu erhalten?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Carstensen, Probleme bei der Seelachsquote sind im vergangenen Jahr 1984 zum erstenmal aufgetreten. Bis dahin hatte die Bundesregierung sogar darauf verzichten können, hier eine Aufteilung vorzunehmen, weil die Quote gar nicht ausgefischt worden ist. Die Erfahrungen des Jahres 1984 haben uns in 1985 zu dieser Aufteilung gebracht. Zusätzlich haben wir für die Reedereien der Hochseefischerei betreffend die Seelachsquote eine tägliche Meldepflicht über die Fangergebnisse eingeführt, so daß wir glauben, auf diese Weise gewährleisten zu können, daß die Einhaltung dieser Quoten in vernünftiger Abgrenzung zwischen Kutter- und Hochseefischerei auch den tatsächlichen Fangergebnissen entspricht.
Weitere Zusatzfrage, Herr Carstensen.
Herr Staatssekretär, gehört nach Ihrer Meinung — neben der Problematik mit den Quoten — zum Schutz der Fangmöglichkeiten für unsere Kutterfischerei auch der Schutz vor dem Eindringen von ausländischen Fischern in die Fanggebiete der Bundesrepublik?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Ja.
Wir kommen zur Frage 86 des Abgeordneten Hettling:Hat die Bundesregierung in der Frage einer Fangunion der deutschen Hochseefischerei bereits Gespräche mit der EG-Kommission geführt, und sieht sie Risiken einer EG-Genehmigung?Bitte sehr, Herr Staatssekretär.Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hettling, mit Vertretern der EG-Kommission sind Vorgespräche über die angestrebte Strukturbereinigungsmaßnahme „Fangunion" der großen Hochseefischerei geführt worden. Dabei wurde auch die Frage der beihilferechtlichen Genehmigung für eine öffentliche Hilfe angeschnitten. Die EG-Kommission bekundete grundsätzlich Verständnis für öffentliche Hilfen zur Aufrechterhal-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11135
Parl. Staatssekretär Dr. von Gelderntung der deutschen Hochseefischerei durch einen Zusammenschluß der Reedereien. Es besteht deshalb die Erwartung, daß sich die EG-Kommission bei dem späteren Genehmigungsverfahren den Argumenten der Bundesregierung nicht verschließen wird.
Zusatzfrage, Herr Hettling.
Herr Staatssekretär, was hat die Bundesregierung mit der EG-Kommission eigentlich besprochen, denn es hat doch bisher zwischen den einzelnen Ressorts der Bundesregierung völlig unterschiedliche Meinungen gegeben?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hettling, ein Genehmigungsverfahren für eine öffentliche Beihilfe kann die EG-Kommission erst durchführen, wenn diese Beihilfe national beschlossen ist. Die bloße Absichtserklärung ist nicht genehmigungsfähig.
Dennoch hat das zuständige Ressort der Bundesregierung, nämlich das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Vorgespräche mit der Kommision geführt und dabei herauszufinden versucht, wie die grundsätzliche Auffassung der Kommission gegenüber einer möglichen Beihilfe ist. Das hat zu dem eben in der Beantwortung Ihrer Frage mitgeteilten bisherigen und vorläufigen Ergebnis geführt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Hettling.
Herr Staatssekretär, da gerade die Struktur zwischen den Bundesministerien noch nicht ausdiskutiert ist: Welche Form der Bundesbeteiligung an einer Fangunion hat die beste Chance auf Zustimmung in Brüssel?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hettling, bei den Gesprächen, die in Brüssel geführt worden sind, hat die Bundesregierung ein Konzept, das eine Beteiligung an der zu bildenden Fangunion seitens des Bundes vorsieht, nicht erörtert, weil eine solche Beteiligung aus der Sicht der Bundesregierung nicht in Frage kommt.
Ich rufe die Frage 87 des Abgeordneten Hettling auf:
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen ihres Strukturkonzepts finanzielle Mittel für Neubauten und eine Modernisierung der Fischereiflotte einzusetzen, damit die der Bundesrepublik Deutschland verfügbaren Fischressourcen ausgeschöpft werden können?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Es wird erwartet, daß, wenn die Fangunion zustande kommt, diese in der Lage sein wird, mittelfristig Neubauten zu erstellen und notwendige Modernisierungsmaßnahmen vorzunehmen. Dies hängt selbstverständlich von dem wirtschaftlichen Ergebnis der Fangunion in den nächsten Jahren ab.
Unabhängig von der Frage der Fangunion bietet der Haushalt des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten schon seit Jahren die Möglichkeit, Mittel für Neubauten und Modernisierungsmaßnahmen zu gewähren.
Zusatzfrage, Herr Hettling.
Herr Staatssekretär, da Sie und die Bundesregierung genauso wie ich wissen, daß von den 16 Schiffen vier über 20 Jahre alt sind, muß es j a ein Modernisierungsprogramm geben, das uns in die Lage versetzt, unsere Quoten auszuschöpfen. Die Frage ist: Wieviel Schiffe moderner, hochwertiger Art sind notwendig, um die der Bundesrepublik zugeteilten Fangquoten auszuschöpfen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hettling, ich gehe davon aus, daß die beabsichtigte Bildung einer Fangunion alle Schiffe der jetzigen vier Reedereien der deutschen Hochseefischerei umfaßt. Das sind neun Fangfabrikschiffe und sieben Frischfischfänger. Daß diese Schiffe unterschiedlich alt sind und für einige in wenigen Jahren die sogenannte Klasse fällig wird — daß sie also, um es populär auszudrücken, zum TÜV müssen —, ist den Reedereien wie auch der Bundesregierung bekannt. Entscheidungen über Investitionen und Neubauten muß künftig die Fangunion selbst fällen. Solche Entscheidungen könnten weder von der Bundesregierung noch von den jetzigen Reedereien, wenn es zur Bildung der neuen Gesellschaft kommt, vorweggenommen werden.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Hettling.
Meine jetzige Frage ist im Zusammenhang mit der vorigen Frage zu sehen: Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung bei der EG im Rahmen der Vorstellung ihres Strukturprogramms die Möglichkeit sondiert, inwieweit eine finanzielle Förderung der EG auf welche Neubauten und in welcher Höhe zu bekommen sind?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hettling, dies ist nicht im Zusammenhang mit der zu bildenden Fangunion in Brüssel erörtert worden, weil dies ein Thema ist — wie ich das eben auch in der Beantwortung Ihrer Frage gesagt habe —, das unabhängig von der Fangunion schon seit längerer Zeit besteht und das auch in Zukunft unter nach meiner Auffassung gar nicht veränderten Voraussetzungen — bestehen wird. Es geht um das Thema, in welcher Weise die Gemeinschaft und einzelne Mitgliedsländer behilflich sein können, Investitionen im Fischereibereich, Neubauten also, zu fördern.
Ich gehe davon aus, daß dies in der Zukunft wie in der Vergangenheit und unabhängig von der Konstruktion der deutschen Hochseefischerei möglich sein wird.
Zusatzfrage, Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie als zukünftige Pla-
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11136 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Frau Bluncknung gerade die Fangunion genannt haben? Darf ich Sie dann bitten, Ihre Stellungnahme dazu abzugeben, daß der Herr Wirtschaftsminister gestern sehr eindeutig erklärt hat, daß er überhaupt nicht daran denke, auch nur eine müde Mark in ein solches Konzept zu stecken.Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Blunck, Sie zitieren hier eine Äußerung, die mir nicht bekannt ist und auch nicht vorliegt. Es gibt Gespräche zwischen den Ressorts der Bundesregierung über das Thema Fangunion. Im Rahmen dieser Gespräche sind Äußerungen, wie Sie sie gerade zitiert haben, nicht vorgetragen worden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Grunenberg.
Herr Staatssekretär, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß die SPD-Fraktion alle Maßnahmen der Bundesregierung unterstützen wird, die zum Erhalt der Hochseefischerei und damit verbundenen Arbeitsplätze führen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Grunenberg, ich nehme das gern zur Kenntnis.
Ich komme zur Frage 88 des Herrn Abgeordneten Ewen:
Worin unterscheidet sich das vom Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten entwickelte neue Strukturkonzept für die deutsche Hochseefischerei von dem Konzept des Verbandes der Hochseefischerei, und besteht inzwischen innerhalb der Bundesregierung Einvernehmen über das neue Konzept?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ewen, die Überlegungen in meinem Hause gehen im Unterschied zu den Vorstellungen des Verbandes der Hochseefischerei von einem wesentlich stärkeren Engagement der Reedereien aus. Die Haltung der Bundesregierung wird endgültig im Rahmen des Haushalts 1986 festgelegt.
Zusatzfrage, Herr Ewen.
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann die Haltung des Herrn Bundesfinanzministers erläutern, die er in dieser Frage eingenommen hat, und welches waren denn wohl seine Bedenken gegen Ihre Planung, die eine höhere Verantwortung der Reeder beinhaltet?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ewen,' die Ressorts der Bundesregierung bemühen sich, bis zu der angesprochenen Kabinettsitzung, in der über den Haushalt 1986 entschieden wird, zu einer gemeinsamen Überlegung hinsichtlich der Ausgestaltung des Konzepts für die künftige Struktur der deutschen Hochseefischerei zu kommen. Ich kann über die Einzelheiten dieses jetzt laufenden Abstimmungsprozesses vor der Kabinettsitzung hier nicht berichten.
Weitere Zusatzfrage, Herr Ewen.
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich vorstellen, daß möglicherweise Bedenken im Bundesfinanzministerium — ich will es jetzt gar nicht personalisieren — hätten ausgeräumt werden können, wenn das von Ihnen vorgelegte Konzept etwas eher entwickelt worden wäre? Das Konzept der Reeder liegt j a seit Ende vorigen Jahres vor.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ewen, die vier Reedereien der deutschen Hochseefischerei haben sich im September 1984 zusammengefunden und das Konzept für eine Fangunion entwickelt. Seitdem finden ständig Gespräche zwischen den Reedereien, den interessierten Bundesländern und den Ressorts der Bundesregierung über diese Fragen statt. Als ein Ergebnis dieser Gespräche ist Anfang Juni 1985 ein neues Konzept, das im Mai entwickelt worden ist, als Grundlage der Gespräche bis zu der Kabinettsitzung vorgelegt worden. Es gibt hier eigentlich keine zeitlichen Friktionen, die wir zu beklagen hätten, sondern es hat für alle Beteiligten die Möglichkeit gegeben, sich dazu zu äußern und eine Meinung zu bilden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Metz.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß eine Entscheidung der Bundesregierung in Sachen Fangunion in diesen Tagen fallen muß und daß ein eventuelles Verschieben der Entscheidung einem faktischen „Aus" für die Fangunion gleichkommen würde?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Metz, ich teile Ihre Auffassung, daß eine Verschiebung der jetzt anstehenden Entscheidung einem Nein zu den Plänen der Hochseefischerei gleichkommen würde und daß die Reedereien der Hochseefischerei daraus möglicherweise die Konsequenz eines weiteren Verkaufs ihrer Schiffe, über den es schon Vorverhandlungen und Vorverträge gibt, ziehen würden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kühbacher.
Herr Staatssekretär, sind der Bundesregierung die Haushaltsreste 1985 in den verschiedenen Ressorts bekannt und auch die dadurch möglichen Finanzfreiräume im Rahmen der Finanzplanung? Und beabsichtigt die Bundesregierung, diese nicht ausgegebenen Mittel 1985 als erste Rate für eine Fangunion einzusetzen?Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kühbacher, Ihre Frage geht weit über den Rahmen des hier mit den eingereichten Fragen angesprochenen Themas hinaus. Ich kann nur sagen, daß die Überlegungen zur Bildung einer Fangunion für die deutsche Hochseefischerei so aussehen, daß erstmalig 1986, also in einem Haushalt, über den zunächst das Kabinett und dann der Deutsche Bundestag noch zu entscheiden haben, Leistungen aus dem Bundeshaushalt an die Fangunion zu erbringen sein sollen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11137
Eine Zusatzfrage, Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin davon gesprochen, daß ständig Gespräche zwischen den Reedern der Hochseefischerei und dem Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten stattfinden würden. Darf ich davon ausgehen, daß auch zwischen dem Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und dem Ministerium der Finanzen und dem Ministerium der Wirtschaft ständig Gespräche stattfinden, und darf ich, wenn Sie diese Frage bejahen, weiterhin davon ausgehen, daß offensichtlich bei den beiden Ministerien Finanzen und Wirtschaft kein Interesse an einem Weiterbestehen der Hochseefischerei besteht?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Blunck, von dem ersten, daß solche Gespräche geführt werden, dürfen Sie ausgehen. Von dem letzten dürfen Sie nicht ausgehen; hier haben wir abzuwarten, welche Entscheidung das Bundeskabinett in wenigen Tagen trifft.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hettling.
Herr Staatssekretär, in den letzten Tagen sind die Vertreter der Reedereien der Hochseefischerei bei Ihnen gewesen. Ist das Strukturkonzept, das jetzt die Vorlage für die Kabinettsentscheidung sein wird, praktisch ein abgestimmtes Konzept zwischen den Hochseefischereien, Ihrem Hause und dem Finanzminister, oder gibt es dort unterschiedliche Auffassungen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hettling, ich bedanke mich für diese Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt zu sagen, daß das Konzept, das im Bundesernährungsministerlum erarbeitet worden ist, inzwischen von allen vier interessierten Reedereien der deutschen Hochseefischerei so, wie es vorgelegt worden ist, akzeptiert worden ist. Die weitere Abstimmung bis zur Kabinettsitzung ist noch nicht abgeschlossen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schwenk.
Herr Staatssekretär, entwickelt die Bundesregierung eine Alternative für den Fall, daß die deutsche Hochseefischereiflotte untergeht und damit Tausende von Arbeitsplätzen an der Unterweser verlorengehen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schwenk, es ist das Ziel der Bundesregierung, den von Ihnen angesprochenen Fall zu vermeiden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Grunenberg.
Herr Staatssekretär, stimmen Informationen, daß die Hanseatische Hochseefischereireederei, Hauptanteilseigner Oetker, vor dem Verkauf der Schiffe steht, wenn bis zum 10. Juli 1985 keine verbindliche Zusage einer Mittelbereitstellung seitens des Bundes vorliegt, und kann die Regierung haushaltsrechtlich überhaupt eine verbindliche Zusage machen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Grunenberg, ich möchte das noch einmal als Antwort auf Ihre Frage unterstreichen, was ich gerade Herrn Kollegen Metz geantwortet habe. Ich befürchte, daß bei einer Verschiebung der Entscheidung über eine Starthilfe aus dem Bundeshaushalt für die Bildung der Fangunion weitere Teile der Flotte der deutschen Hochseefischerei verkauft werden und daß dies dann die Wirkung für künftige Überlegungen hätte, daß diese in wesentlichen Teilen überflüssig würden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir einer Meinung, daß die Bundesregierung mit dem Bemühen um ein solches Konzept alles tut, um den Erhalt der Hochseefischerei auf Dauer sicherzustellen, und daß sie damit zumindest bemüht ist, viele Versäumnisse einer früheren Regierung wieder auszugleichen?
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, ich stimme Ihnen zu, daß wir den Erhalt einer in den vergangenen Jahren sehr stark geschrumpften Restflotte der deutschen Hochseefischerei anstreben, die jetzt nur noch aus 16 Schiffen besteht und vor weniger als 10 Jahren noch aus 76 Schiffen bestanden hat.
Wir bemühen uns also darum, einem aus politischen Gründen in Bedrängnis geratenen Wirtschaftszweig gleichwohl eine Zukunft zu erhalten.
Ich gebe das Wort noch zur Beantwortung der Frage 89 des Abgeordneten Ewen:
Trifft es zu, daß der Bundesminister für Wirtschaft ordnungspolitische Bedenken gegen das Konzept hat, und wenn ja, welcher Art sind diese Bedenken?
Aber ich kann danach keine Zusatzfrage — außer denen des Fragestellers — zulassen, weil wir am Ende unserer Fragestunde sein werden.
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ewen, die ordnungspolitischen Bedenken der Bundesregierung richten sich u. a. gegen eine direkte Kapitalbeteiligung an der Fangunion. Außerdem erstrecken sich die Bedenken auf die geforderte Höhe der Subvention.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß von 1974 bis 1984 rund 180 Millionen DM zur Förderung der Hochseefischerei ausgegeben worden sind, so daß also auch die alte Bundesregierung ihre Verantwortung gegenüber der Fischerei schon erkannt hat?
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11138 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ewen, die Sofortmaßnahmen aus dem Bundeshaushalt für Hochseefischerei und Kutterfischerei, deren Umfang Sie nicht ganz exakt bezeichnet haben — aber wir brauchen das, weil wir in der Größenordnung einig sind, nicht zu vertiefen —, waren notwendig und auch vom ganzen Haus getragen. Aber sie hatten eindeutig defensiven Charakter, um den Schrumpfungsprozeß erträglicher zu machen. Was jetzt beabsichtigt ist, ist auf Grund der veränderten politischen Rahmenbedingungen und einer für die Zukunft gegebenen neuen Quotensicherheit nach den jüngsten Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft etwas Vorwärtsgerichtetes: nämlich eine Perspektive für die Zukunft der deutschen Hochseefischerei zu eröffnen.
Wir sind am Ende der Fragestunde. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen. Die restlichen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt*).
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Verstärkter militärischer Einsatz der Sowjetunion in Afghanistan
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Verstärkter militärischer Einsatz der Sowjetunion in Afghanistan" verlangt.
Ich eröffne dazu die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wurde heute morgen von einigen Kollegen der Opposition gefragt, was denn eine Aktuelle Stunde über Afghanistan zwei Tage vor Beginn der Sommerpause solle. Das Schlimme ist, daß diese Frage bei Nicaragua oder seinerzeit bei Vietnam nie gestellt worden wäre. Wir machen nicht zu viele Aktuelle Stunden über Afghanistan, sondern zu wenige.
Der Krieg in Afghanistan ist auch ein Krieg gegen Kinder. Ich möchte Ihnen darum das Gedicht eines deutschen Liedermachers vortragen. Es heißt „Der kleine Prinz":
Ich hab' die Geschichte vom kleinen Prinzen in einer Zeitschrift gelesen;
wär' doch die Geschichte vom kleinen Prinzen nur ein böses Märchen gewesen!
Der kleine Prinz ist kein richtiger Prinz, doch man nennt ihn im Krankenhaus so, ein kleiner Junge aus Afghanistan,
sein Leben wird niemals mehr froh.
Auch er war einmal ein glückliches Kind und liebte, mit Spielzeug zu spielen,
sein Schicksal begann mit dem Tag, an dem bunte Schmetterlinge vom Himmel fielen.
*) Siehe Plenarprotokoll 10/150.
So ein bunter Schmetterling, zum Spielen gemacht,
mit Flügeln, die sich bewegen,
welches Kinderherz hätte da nicht gelacht,
hat am Straßenrande gelegen.
Der Junge lief zu dem Schmetterling hin, nahm ihn vorsichtig in die Hand,
und die Augen des Jungen
strahlten vor Glück,
daß grad er diesen Schmetterling fand.
Er streichelte seinen Schmetterling sanft, hätt' der Junge das nur nicht gemacht; ein Schlag und ein grauenhafter Schmerz; um den Jungen herum wurd' es Nacht.
Eine Mine als Schmetterling getarnt, hat die Hände ihm abgerissen,
er liegt nun verstört im Krankenhaus, ein kleiner Prinz, wie wir wissen.
Die Schmetterlinge für Kinder erdacht, kommen aus der Sowjetunion,
aus dem Land des Friedens, der Freundschaft jeder menschlichen Regung zum Hohn.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen hier nochmals eine solche Schmetterlingsbombe und das Bild eines kleinen afghanischen Jungen zeigen, dem eine solche Schmetterlingsbombe ein Bein abgerissen hat. — Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weltöffentlichkeit darf zu diesem Krieg gegen Kinder einfach nicht länger schweigen.
Ich bitte daher darum, daß der Deutsche Bundestag ein Afghanistan-Hearing durchführt. Mit diesem Afghanistan-Hearing verfolgen wir das Ziel, das Weltgewissen wachzurütteln, um endlich diesen Krieg in Afghanistan, um endlich diesen Krieg gegen Kinder zu beenden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neumann .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will hier gar keinen Zweifel aufkommen lassen: Wir begrüßen die Aktuelle Stunde. Natürlich gibt es immer wieder Kollegen auf allen Seiten des Hauses, die fragen, was denn an diesem Krieg in Afghanistan aktuell sei. Aber für die meisten in diesem Haus ist jeder Krieg aktuell, ob er im Libanon stattfindet, im Irak, in Kambodscha oder in Afghanistan. Wir werden jede Möglichkeit nutzen, gerade was Afghanistan anlangt, das Unrecht der Sowjetunion mit dem Überfall auf das afghanische Volk immer wieder an jedem Ort zu rügen, an dem uns das möglich ist.
Jeden Tag sterben in Afghanistan Freiheitskämpfer und Patrioten, genauso wie Männer, Frauen und Kinder aus der Zivilbevölkerung, aber auch junge sowjetische Soldaten, die gar nicht wissen, wofür sie in Afghanistan kämpfen. Wir sind überzeugt da-
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Neumann
von, daß es der Sowjetunion nicht gelingen wird, diesen Krieg in Afghanistan zu gewinnen, und daß die Marionettenregierung Karmal unrecht hat, wenn sie erklärt, daß der Krieg in diesem Jahr militärisch beendet werde.Für Afghanistan gibt es nur eine Lösung, nämlich die Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechts für das afghanische Volk und den Abzug der ausländischen Truppen.
Wir wollen in dieser Aktuellen Stunde mit dem Hinweis auf die Völkerrechtsverletzungen und die Menschenrechtsverletzungen, wie sie in dem Bericht des Österreichers Ermacora in der UN-Menschenrechtskommission beschrieben worden sind, deutlich machen, daß dies alles für uns nicht Routine ist. Wir sehen sehr wohl die Gefahr, daß mit bloßen Routineerklärungen auf verschiedenen Konferenzen, auch bei den Vereinten Nationen, dieses Problem von der Tagesordnung der Weltpolitik genommen werden soll. Hier im Deutschen Bundestag sollten wir es nicht so machen. Wir sollten es nicht zur Routine werden lassen. Wir sollten bei unserer Entschließung bleiben, die wir gemeinsam, alle Fraktionen dieses Hauses, was selten genug vorkommt, am 6. Juni 1984 beschlossen haben.
Eine besondere Aufmerksamkeit findet, was der Herr Staatsminister Möllemann auf meine Frage hier vorhin dargelegt hat, nämlich die Ideologisierung der afghanischen Kinder, die zu Tausenden auf bis zu zehn Jahre in die Sowjetunion verbracht werden sollen. Hier ist eine neue Strategie der Invasoren erkennbar: Die einen, in Vietnam, wollen Kambodscha vietnamisieren, indem sie Hunderttausende von Vietnamesen ansiedeln. Israel legt auf der Westbank Siedlungen an, um eine Lage zu verfestigen. In OstTimor wird dies an Javanisierungstendenzen sichtbar. In Afghanistan zeigt sich das etwas subtiler an der Umerziehung von Kindern. Was besonders perfide ist, ist, daß es viele Waisenkinder sind, die in die Sowjetunion verbracht werden, bei denen kein Vormund da ist, der das stoppen könnte. In einem Einzelfall wurde, wie ich gerade von einem Zeugen erfahren habe, ein elfjähriges Kind in der Schule gefragt: Willst du nicht zum Studium in die Sowjetunion? — Hier haben die Eltern noch in der Nacht ihre Sachen zusammengepackt und sind nach Pakistan geflohen, weil sie Angst hatten, daß sie sonst das Kind verlieren würden, daß es ihnen weggenommen und ohne ihre Zustimmung in die Sowjetunion gebracht würde.Wir, aber auch die Vereinten Nationen mit den Stimmen der großen Anzahl der Völker dieser Welt, sollten mit klaren, unmißverständlichen Worten diese Anklage erheben und den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan verlangen.Die afghanischen Freiheitskämpfer finden unsere Sympathie, unsere humanitäre Hilfe. Wir wollen politisch alles tun, um sie sinnvoll zu unterstützen. Der Vorschlag eines Hearings zur Lage in Afghanistan trifft bei uns auf offene Ohren, da es eine sinnvolle Möglichkeit ist, das Problem auch in der deutschen Öffentlichkeit bekannter zu machen und bei den Journalisten Interesse an den Menschenrechtsverletzungen, an der menschenverachtenden Politik in Afghanistan zu wecken bzw. wachzuhalten.Das Ende dieses Konflikts, dieses Krieges kann nur sein — ich wiederhole es —: Abzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan und Selbstbestimmungsrecht für das afghanische Volk.
Das Wort hat Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Was die Frage der Aktuellen Stunden angeht, so sollten wir uns alle einig sein, daß jede Fraktion souverän genug ist, darüber zu entscheiden, was sie als aktuelles Thema empfindet oder nicht. Wir sollten uns nicht gegenseitig vorwerfen, daß wir dazu eben nicht in der Lage seien.
— Ja, ganz richtig.Wir haben hier im vorigen Jahr über die schreckliche Lage in Afghanistan zweimal sehr ausführlich debattiert. Heute nun wollen wir erneut die Gelegenheit nutzen, auf die unverändert unerträgliche Lage hinzuweisen. Ich möchte das auch tun und dabei an das anknüpfen, was ich in der letzten Debatte gesagt habe. Darüber hinaus möchte ich diese Debatte nutzen, um auf eine andere Aktualität hinzuweisen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die mir persönlich sehr am Herzen liegt, deretwegen wir aber in dieser Woche keine Aktuelle Stunde mehr durchführen konnten. Gestern sind die Vereinten Nationen 40 Jahre alt geworden. Darin — die Tätigkeit der Vereinten Nationen hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan einmal genauer zu würdigen und zu beleuchten — liegt auch eine bestimmte Aktualität.
Das möchte ich jetzt gerne einmal tun, weil in der Öffentlichkeit völlig falsche Vorstellungen über Sinn und Nutzen der Vereinten Nationen bestehen. Gerade an diesem Beispiel, Frau Kollegin Timm — Sie sind j a die Vorsitzende unserer deutschen Organisation —, sollte man einmal deutlich machen, wie unermüdlich sich die Vereinten Nationen mit Menschenrechtsproblemen auseinandersetzen, wenngleich ihre einschlägigen Entschließungen oft nicht die gewünschte Wirkung haben. Aber auch die Menschenrechtskommission des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen hat sich seit Beginn der unrechtmäßigen Besetzung Afghanistans mit diesem Thema immer wieder intensiv und engagiert beschäftigt. Der bereits erwähnte Bericht über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, der im Februar dieses Jahres von dem Sonderberichterstatter Felix Ermacora aus Wien vorgelegt worden ist, spricht ja Bände. Wenn es zu der Anhörung über die Lage in Afghanistan kommt, dann
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Frau Dr. Hamm-Brüchersollte man — das ist mein Vorschlag — Professor Ermacora zu dieser Anhörung einladen. Denn er ist mittlerweile wohl derjenige, der hinsichtlich des Ausmaßes und der Scheußlichkeiten der verschiedensten Arten der Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan am sachverständigsten ist. Wenn wir alle Anstrengungen machen, Herr Kollege Todenhöfer und Herr Kollege Neumann, das Weltgewissen wachzuhalten, so versuchen das die Vereinten Nationen, wie ich glaube, auch. Ich meine, daß wir die Bemühungen hier gemeinsam verstärken sollten.Die Schrecklichkeiten — dafür gibt es substantiierte und konkrete Beweise —, die von den Invasoren an der Zivilbevölkerung begangen werden, die schrecklichen Folterungen, die die Geheimpolizei in den Gefängnissen vornimmt, und der Flüchtlingsstrom — ein Drittel der Bevölkerung ist betroffen, liebe Kolleginnen und Kollegen — sind eklatante Verstöße gegen Minimalforderungen im Bereich der Menschenrechte.Der Bericht ist ein erschütterndes Dokument, das uns vorliegt, das unter Mühen und sehr erschwerten Bedingungen zustande gekommen ist. Dem Berichterstatter wurde — trotz verschiedener Bemühungen — die Einreise nach Afghanistan nicht ermöglicht. Seine Briefe an die afghanische Regierung wurden nicht einmal beantwortet.Solchen Berichten und solchen Diskussionen, wie wir sie hier immer wieder führen wollen, ist es zu verdanken, daß hinsichtlich der afghanischen Tragödie der Vorhang vor der Weltöffentlichkeit nicht fällt. Daß dies auch das Verdienst der Vereinten Nationen ist, sollten wir all denen gegenüber betonen, die die Tätigkeit der Vereinten Nationen geringschätzen oder unsere Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen erst gar nicht angestrebt haben. Ich glaube also, wir haben in dieser Stunde allen Anlaß — auch anläßlich dieser Debatte —, dieser gänzlich neuen Form humanitärer Anstrengungen in dem Weltforum große Anerkennung und Dankbarkeit zu zollen, und ich glaube, es ist dies auch die Gelegenheit, für das besondere Engagement unserer VN-Botschaft und der Mitarbeiter in der Menschenrechtskommission ausdrücklich einmal unseren Dank zu sagen.
Abgesehen von der direkten humanitären Hilfe, abgesehen von dem großen Engagement vieler deutscher Bürger in den Afghanistan-Komitees ist diese Menschenrechtskommission doch das einzige erfolgversprechende Instrument, das wir haben, und deshalb sollten wir hier alles tun und sollten die Vereinten Nationen in ihren Bemühungen, nicht lockerzulassen, unterstützen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horacek.
Fünfeinhalb Jahre nach dem Einmarsch der Roten Armee ist eine schreckliche Bilanz zu verzeichnen: nahezu 5 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan und im Iran, über 1 Million Kriegsopfer seit 1979, Millionen im eigenen Land unterwegs, leergebomte Provinzen — dagegen Kabul, dessen Bevölkerung sich binnen fünf Jahren auf zweieinhalb Millionen vervielfacht hat —; humanitäre Hilfe für die Opfer absolut unzureichend, wie ich mich mit meinem Kollegen Uli Fischer bei einer Reise in die Nordwestprovinz um Peshawar, aber auch bis 50 km vor Kabul im vorigen Jahr überzeugen konnte; eine „Revolution", die binnen weniger Monate Zigtausende eigene Kinder gefressen hat; die sowjetische Besatzungsmacht, die mit hochgerüstetem Expeditionskorps von ungefähr 150 000 Mann dort ist; auf der anderen Seite nicht einmal 100 000 Mudschahedin, ohne Ausrüstung, schlecht ausgebildet, im Widerstand gegen einen hoffnungslos überlegenen Besatzer. Die sowjetische Politik der verbrannten Erde fordert täglich neue Opfer unter der Zivilbevölkerung und macht täglich aufs neue Menschen heimatlos. Die Menschenrechte sind außer Kraft gesetzt.
Das sind Kriegsverbrechen einer Weltmacht an einem kleinen Nachbarvolk.
Ich werde am nächsten Samstag an einer Konferenz der Gesellschaft für bedrohte Völker über Völkermord und Kriegsverbrechen in verschiedenen Teilen der Welt — Ost-Timor, Äthiopien, Guatemala, Afghanistan — teilnehmen. Wir unterstützen auch ein Hearing oder Forum, in dem wir nicht nur über die humanitären Hilfen, sondern auch über politische Lösungen sprechen müssen. Denn ohne politische Lösungen können wir aus diesem Konflikt, in dem einerseits die Sowjetunion direkt interveniert, wie ich beschrieben habe, andererseits der Westen humanitär hilft, aber auch materielle militärische Unterstützung gibt, nicht herauskommen, denn das ist ein Konflikt, der inzwischen in den Ost-WestKonflikt hineingezogen wurde. Afghanistan aber blutet langsam aus, und das ist das Schreckliche.
Es werden jetzt politische Lösungen zur Neutralisierung dieses Konflikts vorgeschlagen, um unter Aufsicht gemäßigter Friedenstruppen der islamischen Staaten einen Abzug der Sowjetarmee zu ermöglichen. Da wir bedingungslos für das Selbstbestimmungsrecht des afghanischen Volkes eintreten und solidarisch sind mit den Opfern, fordern wir natürlich den Abzug der sowjetischen Truppen und unterstützen jede politische Maßnahme, die von seiten der UNO oder auch von anderer Seite kommt, um diesen Konflikt endlich zu beenden.
Danke schön.
Das Wort hat Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Über fünf Jahre ist es jetzt her, daß die sowjetische Armee in Afghanistan einmarschiert ist und seither mit Hilfe einer kommunistischen Marionettenregierung einen grausamen Krieg gegen die Bevölkerung des Landes führt. Das bedeutet ein nun schon über fünf
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Frau GeigerJahre dauerndes Martyrium für das afghanische Volk. Trotzdem hat es den Anschein, als erinnere sich die Weltöffentlichkeit nur ungern daran.Das Drama spielt sich hinter dem Eisernen Vorhang ab. Es ist ein Krieg mit den Waffen des 18. Jahrhunderts gegen die Waffen des 20. Jahrhunderts. Kaum jemand nimmt mehr daran Anstoß, daß der Krieg der Weltmacht UdSSR gegen das afghanische Volk nun schon länger dauert als der Zweite Weltkrieg und daß die Leiden dieses kleinen Volkes ins Unermeßliche wachsen.Das Unrecht, das im für uns so fernen Afghanistan geschieht, treibt die Masse der sonst so eifrigen Demonstrierer nicht auf die Straße. Dem afghanischen Volk wäre es zu gönnen, daß sich die westlichen Protestierer regelmäßig ebenso intensiv mit ihm beschäftigten wie etwa mit Nicaragua.
Ober fünf Jahre haben die Sowjets mit wechselnden Mitteln, aber fast mit gleichbleibendem Mißerfolg versucht, den afghanischen Widerstand zu brechen. Wesentliche militärische Fortschritte konnten sie in all den Jahren nicht erreichen. Sie verwüsteten, aber sie siegten nicht. Die sowjetische Führung hat sich offensichtlich verschätzt und nicht mit der großen Tapferkeit der afghanischen Widerstandskämpfer gerechnet.So hat man die Taktik geändert und ist zu einem Vernichtungsfeldzug ohnegleichen gegen die Zivilbevölkerung übergegangen. Dörfer werden zerstört und Ernten vernichtet; ganze Landstriche werden dem Erdboden gleichgemacht. Auf diese Weise soll der Widerstand in diesem Land gebrochen werden.Die Leidtragenden sind — wie bei allen Kriegen — die Schwachen und die Unschuldigen, die Kinder, die Frauen und die Alten. Nach Schilderungen von Menschenrechtsorganisationen terrorisieren die sowjetischen Besatzer auch Zivilisten, darunter Frauen und Kinder. Flüchtlinge berichten, es seien Menschen von sowjetischen Soldaten bei lebendigem Leibe verbrannt, mit Sprengstoff zerfetzt und geköpft worden. Man habe Männer gefesselt, sie auf die Straße gelegt und von Panzerketten zermalmen lassen. Handgranaten seien in Zimmer geworfen worden, in die die Soldaten zuvor Frauen und Kinder zusammengepfercht hätten. Mütter wurden gezwungen, die Folterung ihrer Kinder mit anzusehen.Dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz wird seit Jahren die Einreise nach Afghanistan verwehrt. Um so mehr ist den selbstlosen Ärzten und Hilfsorganisationen zu danken, die sich für die not-leidende und kranke Bevölkerung im Lande einsetzen und die oft mit bescheidensten Mitteln und unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu helfen versuchen.
Ich halte diese Menschen, die unter solch schwierigen Bedingungen arbeiten und helfen, für die eigentlichen Helden unserer Zeit.In meinen Augen ist jedoch nicht nur die Bevölkerung Afghanistans Opfer eines menschenverachtenden Regimes. Auch die jungen sowjetischen Soldaten, die in Afghanistan eingesetzt werden, müssen uns leid tun. Sie gehen in dieses Land, vollgestopft mit Propaganda, und meinen, sie würden dort nur Heldentaten vollbringen. Man sagt ihnen, sie würden gegen chinesische, pakistanische und amerikanische Söldner kämpfen, die Afghanistan angeblich überfallen hätten. Im Lande selbst müssen sie dann feststellen, daß sie oft genug gegen Greise, Frauen und Kinder eingesetzt werden. Sie werden von der afghanischen Bevölkerung nicht als Befreier begrüßt, sondern als Besatzer gehaßt und verachtet.
Hier bewahrheitet sich ein Satz, den Alexander Solschenizyn in seiner Nobelpreisrede gesagt hat: Jeder, der Gewalt zu seiner Methode macht, muß zwangsläufig die Lüge zu seinem Prinzip erwählen. — Wir werden zu dieser Lüge auch in Zukunft nicht schweigen. Wir dürfen nicht hinnehmen, was in Afghanistan geschieht. Wir müssen das Unrecht so lange anprangern, bis die Sowjetunion bereit ist, sich aus Afghanistan zurückzuziehen, bis die Afghanen ihr Schicksal selbst bestimmen können und bis sie endlich in Frieden leben können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schlaga.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für jedermann ist erkannbar, daß die Sowjetunion in Afghanistan fortwährend allerschwerste Menschenrechtsverletzungen begeht und sich offensichtlich nicht um den heftigsten Protest der Welt kümmert.Während der jüngsten Kämpfe im Kunartal hat die Sowjetarmee täglich — täglich! bis zu 500 Einsätze von Kampfflugzeugen geflogen. Das ist Krieg!Um der brutalen Mißhandlung eines ganzes Volkes vor den Augen der Welt ein Ende zu machen, gibt es eben nur den sofortigen Abzug ohne Bedingungen. Der Krieg in Afghanistan kann sonst auch ein Schrecken ohne Ende werden, wenn die Sowjetarmee über Jahre hinweg das Volk ausbluten läßt.
In diesem Jahr währt die Agression in Afghanistan sechs Jahre, solange, wie der Zweite Weltkrieg gedauert hat. Die Sowjetunion rechnet mit Gewöhnung und Vergeßlichkeit der Welt. Wir müssen dafür sorgen, daß sie in der Kritik der Welt und in der ständigen Aufforderung, Afghanistan zu verlassen, verbleibt. Wir wollen gar nicht, daß Afghanistan das Vietnam der Sowjetunion wird; vielleicht wollen es andere.Zur Verkürzung des Krieges können aber auch Journalisten, wie in Vietnam schon, entscheidend beitragen. Sie müssen nur mehr als bisher in das geschundene Land gehen und die Welt tagtäglich unterrichten. In Vietnam taten sie es in großer Zahl. Viele zahlten ihr Berufsethos mit dem Leben. Man-
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Schlagache allerdings genossen auch die Annehmlichkeiten der Etappe in Saigon. Im Peshawar gibt es keine Etappe!
Mutige Journalisten haben ihren Kopf schon in Spanien riskiert, in Korea, im Libanon und auch anderen lebensgefährlichen Feldern der Welt.Und die politische Lösung? Die Sowjetunion will angeblich gesichert wissen, daß nach einem Abzug ihrer Truppen Afghanistan tatsächlich neutral wird. Der indische Ministerpräsident Rajiv Gandhi hat bei seinem kürzlichen Besuch in Moskau ebenfalls — und endlich deutlich — den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan gefordert und nach dem Abzug die Neutralisierung des Landes von Blockfreien garantiert wissen wollen. Diesem Begehren können wir voll zustimmen.
Ich freue mich im übrigen besonders über diese Initiative Indiens.Willy Brandt hat kürzlich lange und mit großem Nachdruck mit dem sowjetischen Parteichef Gorbatschow gesprochen und den Abzug der Sowjettruppen und für danach eine vernünftige politische Lösung für Afghanistan gefordert und dies auch öffentlich kundgetan.Die Staatsmänner dieser Welt müssen sich — wie auch Journalisten und Hilfsorgansationen — schneller bewegen, damit Frieden in Afghanistan einzieht. Endlich haben sie auch die USA und die Sowjetunion zu ersten Gesprächen getroffen, die noch anhalten. Die beiden sondieren noch einander. Wir wünschen diesen Gesprächen Erfolg.
Die sogenannten indirekten Verhandlungen in Genf zwischen Pakistan und Afghanistan, die vom stellvertretenden UNO-Präsidenten Cordovez gehandhabt werden, sind zur Zeit leider ohne Erfolg abgeschlossen. Sie sollen Ende August mit den Zielen Abzug der Sowjetunion, Nichteinmischung, internationale Unabhängigkeitsgarantie usw. fortgesetzt werden.Kürzlich hat ein Abgeordneter der Regierungskoalition im Auswärtigen Ausschuß von dem jährlichen „UNO-Ritual" der Abstimmungen über die Resolution gesprochen, die dazu auffordert, daß die fremden Truppen unverzüglich Afghanistan verlassen. Das ist kein Ritual! Das ist die einzige Möglichkeit der vielen kleinen Völker dieser Erde, sich vor Vergewaltigungen zu schützen und gegen sie zu protestieren.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Möllemann.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen haben Afghanistan erneut und verstärkt ins Bewußtsein gerückt. Die sowjetische Offensive im Kunartal, die Tausende von Opfern vor allem unter der Zivilbevölkerung gefordert hat, zeigt erneut die hemmungslose Brutalität, mit der eine Supermacht, die Sowjetunion, seit fünfeinhalb Jahren ein kleines, ungebundenes Land unterdrückt. Dabei wurde und wird nicht nur gegen die Grundprinzipien des Zusammenlebens der Völker, wie Achtung der Souveränität und Unabhängigkeit, verstoßen, sondern auch die Blockfreiheit eines Landes der Dritten Welt rücksichtslos verletzt und eine riesige Flüchtlingsbewegung ausgelöst.Die Bundesregierung fordert hiermit erneut den sofortigen und bedingungslosen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan.
Wir dürfen zu den Vorgängen in Afghanistan nicht schweigen. Sie sind nicht entschuldbar oder vertuschbar.
Das Vorgehen der Sowjetunion stellt den markantesten Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Sie führt dort einen Angriffskrieg gegen ein kleines, kräftemäßig unterlegenes Nachbarvolk.Mit welcher Grausamkeit die Besatzungsmacht vorgeht, zeigt der unlängst veröffentlichte, von mehreren Kollegen bereits angesprochene Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen und ihrer Menschenrechtskommission, Professor Ermacora, über die Menschenrechtslage in Afghanistan mit erschreckender Deutlichkeit. Man kann diesen Bericht nur mit Entsetzen lesen. Ersparen Sie mir weitere Einzelheiten. Beliebig herausgegriffene Zitate wie „Bombardierung und Massaker von Zivilpersonen", „Einsatz von Spielzeugbomben gegen Kinder", „Gebrauch von chemischen Waffen" machen die Grausamkeit deutlich, mit der sich dort Tag für Tag die Sowjetunion an unschuldigen Menschen vergeht.Sie begnügt sich jedoch nicht allein mit der militärischen und physischen Unterwerfung des Landes. Sie zielt auch auf die Herzen und Hirne der Kinder und der jungen Generation, um die Gleichschaltung des Landes durchzusetzen. Zielstrebig und langfristig bildet sie afghanische Jugendliche an sowjetischen Schulen und Institutionen aus, wo diese nicht nur unterwiesen, sondern vor allem als künftige Werkzeuge der Sowjetunion indoktriniert werden.Was können, was sollen wir in einer solchen Situation tun? Sicher in erster Linie die Not derer zu lindern suchen, die unmittelbar unter dem Krieg leiden. Millionen Afghanen leben als Flüchtlinge außerhalb ihrer Heimat, drei Millionen allein in Pakistan, das ihnen, obwohl selber durch die Sowjetunion an seinen Grenzen provoziert und bedroht, in anerkennenswerter Weise Bleibe und Schutz gewährt. Die Bundesregierung gibt jährlich über 50 Millionen DM für medizinische Versorgung, Unterbringung, Nahrungsmittel und Ausbildungsmaßnahmen aus, um diesen Menschen die notwendig-
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Staatsminister Möllemannsten Bedürfnisse zu erfüllen. Darüber hinaus leistet sie humanitäre Hilfe für die durch Kampfmaßnahmen betroffenen Afghanen.Ich verhehle jedoch nicht, daß so manche Hilfsmaßnahmen wirkungsvoller wären, wenn der afghanische Widerstand geeinter aufträte und handelte. Die Bundesregierung hofft deshalb, daß die neuerlichen Einigungsbemühungen zu einem bleibenden Erfolg führen. Die Bundesregierung hat wiederholt ihre Unterstützung für die Vermittlungsbemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zum Ausdruck gebracht. In Genf ist soeben die vierte Runde der indirekten pakistanischafghanischen Gespräche ohne greifbare Ergebnisse zu Ende gegangen. Gerade dort hätte die Sowjetunion, die j a auch physisch dort präsent ist, ihren verbal häufig bekundeten Friedenswillen durch konkrete Zusagen unter Beweis stellen können. Ein Lösungsrahmen wäre dort immerhin vorhanden. Er bedarf der Ausfüllung. Die Zeit drängt. Der Vorschlag von Rajiv Gandhi kann ein Weg sein, aber, liebe Kollegen, vergessen wir nicht: Wenn wir für das Selbstbestimmungsrecht des afghanischen Volkes eintreten, hat niemand diesem Volk die künftige Zielrichtung seiner Politik vorzugeben; auch gute Ratschläge können dann eben nur gute Ratschläge sein.Meine Damen und Herren, wir stehen mit unseren Forderungen nicht allein. Unsere Partner, die überwiegende Mehrheit der Blockfreien und die Staaten der Islamischen Konferenz sind sich mit uns in der Forderung nach dem unverzüglichen Rückzug der sowjetischen Truppen, der Wiederherstellung von Unabhängigkeit und Blockfreiheit Afghanistans und der ehrenvollen Rückkehr der Flüchtlinge in ihr Vaterland einig.In diesem Haus ist man sich in manchen Fragen uneinig, aber ich bin sicher, daß wir alle in der Unterstützung des afghanischen Volkes und seiner gerechten Sache einig gehen. In Afghanistan geht es nicht nur um die Eigenständigkeit eines Landes; es geht auch um die fundamentalen Prinzipien des internationalen Zusammenlebens, und da sind wir alle, da sind unsere ureigensten Interessen betroffen.
Lassen Sie mich einen Satz von Bundesaußenminister Genscher zitieren, der an dieser Stelle am 11. März 1982 die Erklärung der Bundesregierung zu Afghanistan mit den Worten schloß:Wir müssen immer in dem Bewußtsein handeln: Der Frieden des afghanischen Volkes ist auch unser Frieden.In diesem Zusammenhang ist das wichtig, was der Kollege Schlaga und auch andere Kollegen gerade gesagt haben: Wir dürfen uns an diesen fortdauernden Krieg nicht gewöhnen. Tun wir es, ist das die Aufforderung, Nachfolgetatbestände zu schaffen.
Ein Weiteres: Es ist bedrückend, wenn man heute auf die Pressetribüne schaut, dort bei diesem Thema zwei oder drei Journalisten zu finden.
Ich halte es nicht für die Aufgabe der Bundesregierung, irgendwelche Zensuren an Journalisten zu verteilen; dies tun wir auch nicht. Aber ich möchte an die Journalisten, die Staatsbürger sind wie wir auch, appellieren, ihrer Verpflichtung, sich für den Frieden und die Freiheit in diesem Land einzusetzen, gerecht zu werden. Es steht nicht mehr in einer vernünftigen Relation zueinander, wenn andere Krisenregionen große Aufmerksamkeit finden, dieser andauernde Krieg aber so gut wie keinerlei Beachtung findet.
Es hätte diese Debatte nicht deshalb größere Aufmerksamkeit verdient, weil etwa jede der Reden, die hier gehalten worden sind oder noch gehalten werden, notwendigerweise besser ist als alle anderen Reden in allen anderen Debatten, aber das Thema, um das es hier geht, ist doch, gemessen an anderen Gegenständen der Berichterstattung, so bedeutungsvoll, daß man hätte erwarten dürfen, daß auf seiten der Journalisten größeres Interesse besteht.Ich appelliere an die Journalisten, diesen Standpunkt einmal zu überprüfen und künftig mit ihrem Einsatz und mit ihrer Berichterstattung ihren Beitrag dazu zu leisten, daß dieser Krieg zu Ende geht.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Werner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem günstigen Augenblick, als sich die USA mit dem Iran im Konflikt befanden und ihre Ohnmacht eingestehen mußten, handelten die Sowjets zielstrebig im Rahmen ihres Langzeitkonzepts, jede Schwäche der westlichen Demokratie geschickt auszunutzen, um ihrem Langzeitziel, der Weltherrschaft, näherzukommen.Afghanistan bildet eine strategische Riegelstellung bzw. eine Drehscheibe im Mittleren Osten. Es geht eben den Sowjets nicht um Rohstoffe — die es in Afghanistan kaum gibt — oder um die Absicherung ihrer islamischen Sowjetrepubliken, die gar nicht bedroht waren. Mit Afghanistan und seien Flugplätzen verfügen die Sowjets über ein Sprungbrett, von dem aus sie den gesamten Mittleren Osten kontrollieren und unter Ausnutzung des ständigen Unruheherdes Belutschistan nicht nur Pakistan unter Druck halten können, sondern gegebenenfalls auch das Ufer des Indischen Ozeans erreichen können. Nicht zuletzt deshalb stellen die
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11144 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
WernerVereinigten Staaten die Schnelle Eingreiftruppe auf.Die sowjetische Invasion lief nach bewährtem Muster ab: Die sowjetischen Truppen kamen — wie natürlich immer — völlig uneigennützig, angeblich um die Selbständigkeit und Freiheit der Afghanen zu sichern. Der zähe Widerstand der Mudschahedin bindet ständig wachsende sowjetische Truppen. 200 000 Mann befinden sich mit neuestem Gerät in diesem Lande. Sie erproben neue Taktiken und Waffen, wenden Terror gegen die Zivilbevölkerung an, setzen Giftgas ein, bombardieren pakistanische Grenzstädte — wider alles Völkerrecht.Tausende von Afghanen und Hunderte von sowjetischen Soldaten fallen jedes Jahr. Nach innen und nach außen versuchen die Sowjets, die Lage zu verschleiern. Sie können dies um so leichter, als sie die Weltöffentlichkeit aus Afghanistan so weit wie möglich ausschließen. Das Kampf- und Besatzungsgebiet ist für Journalisten fast völlig gesperrt. Die Medien — auch unsere Medien — werden allzu leicht Opfer gezielter Desinformation des KGB und der Propagandaabteilung des ZK. Die Bewußtseinsvedrängung und die Ablenkungsstrategie, die von der Wirklichkeit des Kommunismus ablenken soll, verstehen es, auch auf verschlungenen Wegen in unserem Land Falschmeldungen und Umwertungen einzuschleusen. Da werden dann Freiheitskämpfer plötzlich Widerstandskämpfer, Guerillas, Aufständische und Rebellen genannt und bekommen den Makel des Ungesetzlichen und Unrechtmäßigen. Die sowjetischen Invasoren und ihre Handlanger werden flugs ganz unverfänglich als „Streitkräfte" bezeichnet. Geschickt lenken die Sowjets — das wurde schon angesprochen — von Afghanistan ab, indem sie über Lateinamerika sprechen.Leider hat Willy Brandt bei seinem jüngsten Moskau-Besuch in diese Kampagne indirekt eingestimmt,
als er sich in seiner Abschlußerklärung zwar zu Nicaragua, aber mit keinem Wort zu Afghanistan — Herr Duve! — geäußert hat.
Ich möchte Sie fragen: Wie hoch schlug denn die Empörung bei der zeitweiligen amerikanischen Besetzung von Grenada, und wie still ist das Heer der Ankläger und selbsternannten Moralisten im Falle Afghanistan?
Wir, die Europäer, beruhigen unser Gewissen,meine Damen und Herren, indem wir Zelte liefern.Wer spricht denn eigentlich davon, daß die Sowjetunion mit dem Überfall auf Afghanistan der Entspannung den ersten großen Schlag versetzt hat?
Wo bleiben die Sanktionen? Auch in der westlichen Diplomatie wird bereits ganz offen die Entspannung als teilbar und als rein europäische Angelegenheit betrachtet. Wer spricht noch von der Totalverurteilung des sowjetischen Unternehmens in der UNO? Wer spricht davon, daß die Sowjetunion nichts anderes unternimmt, als im Rahmen eines zielstrebigen imperialistischen Vorgehens eine Knechtung scheinbar Befreiter vorzunehmen.
Wir müssen dafür sorgen, daß die Weltöffentlichkeit von Afghanistan wieder Kenntnis nimmt. Afghanistan bleibt ein wichtiger Prüfstein für den Entspannungswillen der Sowjetunion. Wir fordern deswegen, daß die Sowjetunion ihre Truppen zurückzieht
und die afghanische Bevölkerung frei über ihre Zukunft entscheiden läßt.
Auch das afghanische Volk, meine Damen und Herren, will Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Freiheit.
Das Wort hat der Abgeordnete Bindig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider konnte mein Vorredner nicht der Versuchung widerstehen, in dieses so ernste Thema parteipolitische Polemik hineinzutragen. Ich möchte mich nicht auf dieses Niveau begeben, sondern die humanitären Aspekte dieses Krieges in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen. Die afghanische Bevölkerung ist es, die unsägliche Leiden in diesem Krieg zu ertragen hat. Neben den Widerstands- und Freiheitskämpfern — ich nenne die Mudschahedin bewußt Widerstands- und Freiheitskämpfer, denn wer für Freiheit, gegen Verletzungen des Völkerrechts und gegen die Vernichtung des eigenen Volkes eintritt, ist kein Rebell, wie es die sowjetische Propaganda behauptet —
leidet vor allem die im Land verbliebene Zivilbevölkerung unter den Verbrechen der Kriegsführung des massiv von sowjetischen Truppen unterstützten kommunistischen Karmal-Regimes. Mit der Länge des Krieges nimmt die Brutalität der Unterdrükkung des um Unabhängigkeit kämpfenden Volkes ständig zu. Es kommt auf breitester Front zu jeder nur denkbaren Menschenrechtsverletzung.Ein wesentliches Kriegsziel des von sowjetischen Truppen unterstützten kommunistischen Regimes ist es, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten. Mit dieser Terrortaktik versuchen die Sowjettruppen, die Zivilbevölkerung von der Hilfe für die Widerstandskämpfer abzuhalten. So sind einige Dörfer in den nordöstlichen Provinzen bei Vergeltungsschlägen für die Beherbergung von Widerstandskämpfern total zerstört worden. In einem Vernichtungsfeldzug gegen die Bevölkerung sind
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11145
Bindig505 Zivilpersonen dieser Dörfer umgebracht worden. Um den Freiheitskämpfern das Umfeld zu nehmen, gilt in den entvölkerten Regionen jede Menschengruppe oder jede Karawane als feindlich und wird meist aus der Luft von Kampfhubschraubern angegriffen.Es gibt Hinweise, daß im Krieg giftige Chemikalien verwendet werden. Spezielle Kleinminen sollen fürchterliche Verletzungen erzeugen, womit die menschenverachtende Absicht verfolgt wird, daß ein Schwerverletzter Pflege und Transport braucht und damit die Widerstandskräfte noch mehr schwächt als ein getöteter Freiheitskämpfer.Die Methoden dieser Kriegsführung stehen im krassen Widerspruch zu den Grundsätzen, zu denen sich auch die Sowjetunion gemäß internationalen Konventionen bekannt hat. Sie stellen eine eklatante Verletzung der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten, der UN-Menschenrechtskonvention und des Kriegsvölkerrechts dar.Bereits aus rein humanitären Gründen möchte ich deshalb hier noch einmal die Minimalforderungen erheben, die schweren und massiven Verletzungen der Menschenrechte und besonders die militärische Unterdrückung der afghanischen Zivilbevölkerung zu beenden, und die Sowjetunion sowie das afghanische Regime auffordern, den humanitären Organisationen wie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes die Möglichkeit zu geben, ihre humanitäre Hilfsaufgabe überhaupt erst wahrzunehmen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Köhler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich vor dem Hintergrund der namenlosen Schrecken, von denen wir hier zu sprechen haben, noch einige Ausführungen zur Flüchtlingssituation und zur Flüchtlingshilfe machen. Dieser Krieg bedeutet ja nun auch schon fünf Jahre lang Ströme von Flüchtlingen. Mit jeder Verstärkung des militärischen Einsatzes der Sowjetunion schwillt dieser Strom erneut an. Dies bedeutet, abgesehen — wenn man das könnte — von den Leiden der Menschen, schwere Belastungen und schwerwiegende Anstrengungen für die Nachbarstaaten.Es ist schon gesagt worden, daß nahezu 3 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan Zuflucht gesucht haben. Das ist die mit Abstand größte Flüchtlingsansammlung auf dieser an Flüchtlingen weiß Gott nicht armen Welt.Damit sind enorme wirtschaftliche, ökologische und soziale Belastungen verbunden, die das Land aus eigener Kraft überhaupt nicht bewältigen kann. Ein Ende dieser Problematik ist nicht in Sicht.Aus diesem Grund haben wir die Hilfe für afghanische Flüchtlinge seit 1981 zu einem Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit mit Pakistan — in allen Formen der Zusammenarbeit — gemacht. Seit 1981 haben wir 108 Millionen DM im Rahmen der finanziellen Zusammenarbeit und rund 15 Millionen DM im Rahmen der technischen Zusammenarbeit als Zuschüsse für Maßnahmen ausgegeben, die im Interesse der Flüchtlinge liegen.Dabei sind die Projekte aus guten Gründen so ausgerichtet, daß sie neben den Flüchtlingen auch der betroffenen einheimischen pakistanischen Bevölkerung zugute kommen; denn wir müssen ja in Rechnung stellen, daß es gerade die am wenigsten entwickelten Provinzen Pakistans sind, die zusätzlich diese Last zu tragen haben, und zwar bei einer Infrastruktur, die dafür in gar keiner Weise ausreicht.Wir kümmern uns in enger Verbindung mit dem UNHCR um die Trinkwasserversorgung, die Versorgung der Flüchtlingslager mit sauberem Wasser. Wir kümmern uns um die Verbesserung der Gesundheitsversorgung durch die Lieferung von Krankenhausausrüstungen und die Einrichtung eines Kinderkrankenhauses. Wir kümmern uns um die Lösung der Transportprobleme im Interesse der Hilfsgütersendungen, der Nahrungsmittel und Medikamentensendungen, die vor Ort dringend benötigt werden und für die im Land keine ausreichenden Kapazitäten vorhanden sind. Wir versuchen auch, durch Unterstützung eines Beschäftigungsprogramms den Menschen, die als Flüchtlinge dort leben müssen, zu Einkommen zu verhelfen, um sie unabhängiger von Hilfeleistungen zu machen. Wir fördern landwirtschaftliche Projekte, um den Nahrungsmittelbedarf vor Ort besser sicherzustellen. Wir haben die übrigen Programme der Zusammenarbeit mit Pakistan darauf abgestellt, so daß auch im Rahmen der normalen Zusammenarbeit mit Pakistan durchgeführte Vorhaben — z. B. der gewerblichen Berufsausbildung in Peshawar und Quetta — auf diese Bedürfnisse ausgerichtet sind. Darüber hinaus sind seit 1980 im Rahmen des Flüchtlingssonderprogramms bilateral Nahrungsmittelhilfeleistungen in einer Größenordnung von rund 85 Millionen DM aufgewendet worden.Wenn man das einmal summiert, dann heißt das, daß wir für drei Millionen Menschen — also die Zahl dieser Flüchtlinge — 40 Millionen DM jährlich aufwenden. Entwicklungspolitiker in diesem Kreise wissen, daß das in etwa ein Mittelvolumen ist, wie wir es für ein Land Asiens der mittleren Größenordnung normalerweise einsetzen. Das zeigt doch aber die Größe dieses ganzen Programms und die Größe der Not, mit der wir zu tun haben.Wir versuchen, in redlicher Bemühung zu tun, was uns möglich ist, um zu helfen, daß die unglücklichen Opfer dieses Krieges wenigstens ein annähernd menschenwürdiges Leben auf fremder Erde führen können, solange sie dazu gezwungen sind. Wir sind — das darf ich hier in aller Klarheit sagen — willens und bereit, das Flüchtlingssonderprogramm in Pakistan fortzusetzen.Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Ursachen all dieses Elends sind damit nicht zu
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Parl. Staatssekretär Dr. Köhlerbeseitigen. Dies kann nur gelingen, wenn dieser entsetzliche und unselige Krieg beendet wird. Dies ist die Verantwortung der Sowjetunion und der von ihr dem Lande Afghanistan aufoktroyierten Regierung.
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan war keine Defensivmaßnahme. Die Sicherheit der großen Sowjetunion war durch das kleine Afghanistan so wenig gefährdet wie heute die der großen Vereinigten Staaten von Amerika durch das kleine Nicaragua. Allerdings gibt es im Umgang der Supermächte mit den von ihnen völkerrechtswidrig beanspruchten Vordergärten erhebliche Unterschiede. Während die Vereinigten Staaten den Selbstbehauptungswillen eines kleinen Volkes mit Drohungen einzuschüchtern versuchen, versucht die Sowjetunion, ihn mit der direkten Waffengewalt ihrer Expeditionsarmee zu zerstören. Ich will keine falsche Gleichsetzung und gegenseitige Aufrechnung betreiben. Ich bin dafür, daß jede Supermacht ihre Rechnung präsentiert bekommt. Das ist eine moralisch und politisch wirksame Haltung.Supermächte sind dadurch definiert, daß niemand sie durch militärischen oder wirtschaftlichen Druck zur Veränderung ihres Verhaltens zwingen kann; aber sie reagieren auf die öffentliche Meinung und auf die Meinung der Weltöffentlichkeit. Die Weltöffentlichkeit ist zur Zeit das entscheidende Medium, durch das der Sowjetunion klargemacht werden kann, daß sie einen zu hohen Preis für das Afghanistan-Abenteuer zahlt.
Dieser Bundestag ist ein Teil solcher Öffentlichkeit; aber noch wichtiger sind die Teile der öffentlichen Meinung bei uns und in Westeuropa, auf die sich die Sowjetunion zu berufen pflegt, wenn es um die Mittelamerikapolitik der USA oder um die Rüstungspolitik der NATO geht.Nach über fünf Jahren Krieg, Flucht, Vertreibung und Tod kann niemand ernsthaft behaupten, die sowjetische Armee würde mit Zustimmung des afghanischen Volkes Frieden, Fortschritt und Freiheit gegen fanatische Muslims, chinesisch gelenkte Konterrevolutionäre oder bezahlte CIA-Agenten herstellen.
Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß der Widerstand gegen die sowjetische Armee aus dem Lande und aus der Bevölkerung kommt, auch wenn er sich der Basen auf iranischem oder pakistanischem Territorium bedient. Es ist bekannt, daß er auch von den Vereinigten Staaten finanziert wird. Es kann vermutet werden, daß zumindest Teile der US-Administration ihn auch gegen die Sowjetunion instrumentalisieren. Manchem mag der Dorn im Fleische der Sowjetunion zupaß kommen, aber die Sowjetunion hat sich selbst auf diesen Dorn gesetzt. Ich will nicht von Völkermord reden, aber das kleine afghanische Volk droht durch die Last der sowjetischen Gewalt erdrückt zu werden.
Es gibt Einäugigkeit auf der rechten Seite, Herr Werner, und es gibt sie auf der linken Seite des politischen Spektrums. Ich richte meine Worte heute nach links, nicht an meine Partei und Fraktion — wir haben da keinen Nachholbedarf, wie die Debatten dieses Haues beweisen —, sondern in den gesellschaftlichen Bereich, in die Friedensbewegung, in die Hochschulen und Jugendverbände, auch an den kritischen Journalismus. Es gibt ein Defizit an Information und Solidarität mit den Leiden des afghanischen Volkes.
Es gibt nur wenige Beispiele wie jene Juso-Hochschulgruppe in Kiel, die nicht nur Bausteine für Nicaragua, sondern auch Bekleidung und Medikamente für afghanische Flüchtlinge sammelt. In dem Mangel an praktischer und öffentlicher Solidarität liegt unser Teil der Verantwortung für das, was in Afghanistan geschieht.Läßt sich das etwa mit Reagans Nicaragua-Politik entschuldigen? Haben wir nicht den Abzug der Amerikaner aus Vietnam gefordert, obwohl Breschnew seine Truppen in die CSSR einmarschieren ließ? Eine Antwort finde ich in den Schwierigkeiten, sich mit dem Widerstand einer feudalen Gesellschaft und islamischen Religion zu identifizieren. Manche meinen, auf Seiten der Sowjets seien die Landreform, die Alphabetisierung, die Gleichberechtigung der Frau, die Abschaffung religiöser Bevormundung, mit anderen Worten: Fortschritt. Man kann Fortschritt so verstehen. Nur, wenn er mit Gewalt erzwungen wird, erzeugt er Reaktion und ist er Reaktion. Der Einsatz sowjetischer Truppen gegen den Widerstand des Volkes ist reaktionäre Gewalt. Der Fortschritt ist nie mit den Panzern, mit den Napalmbomben und mit den Exekutionskommandos.
Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan würde nicht automatisch Frieden und Freiheit für das afghanische Volk bedeuten. Das war auch nicht das Ergebnis des Abzuges der Amerikaner aus Vietnam. Aber er würde ein Weniger an Gewalt, ein Weniger an menschlichem Leid und Chancen für einen Prozeß nationaler und kultureller Selbstbestimmung ermöglichen. Der Fortschritt ist selten mit den Fundamentalisten, aber er ist nie mit den Aggressoren. Auf den Fundamentalismus wird die Aufklärung folgen. Sie ist genau das Gegenteil von Gewalt. Das gilt für die islamische wie
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Ganselfür die kommunistische Welt, und auch die westliche Welt befindet sich noch immer auf dem Wege.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höffkes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Afghanistan, das bedeutet Hunderttausende von Opfern einer unschuldigen und wehrlosen Zivilbevölkerung, Tote, Schwerverletzte, Verkrüppelte, Verbrannte und Entstellte in einem beinahe vergessenen Krieg, der nun seit Dezember 1979 fünfeinhalb Jahre dauert. Afghanistan bedeutet auch 4 Millionen Flüchtlinge, wovon allein das Nachbarland Pakistan 3 Millionen und der Iran und andere Länder rund 1 Million aufgenommen haben. Diese Staaten bieten Schutz und Zuflucht vor Bombardierungen, Beschießungen und Verfolgungen. Säuberungsaktionen der sowjetischen Besatzungsmacht, gestützt auf 130 000 Sowjetsoldaten und die von Moskau eingesetzte Kabuler Regierung, sind an der Tagesordnung. Die Folge ist, daß Hunderttausende, die Haus und Hof, Vieh und Ernten verloren haben, ohne Dach über dem Kopf und auf der Suche nach Sicherheit und Nahrung und ohne medizinische Versorgung heimatlos und entwurzelt im eigenen Land umherirren.
Ich meine, wir müssen erneut feststellen: Die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan ist völkerrechtswidrig. Die Maßnahmen der Sowjetunion haben das internationale Klima verschlechtert, der Blockfreiheit wurde in Afghanistan ein schwerer Schlag versetzt, und das zeigt, daß Blockungebundenheit kein Schutz ist. Die Region um Afghanistan wurde politisch destabilisiert. Die Entscheidungen der Vereinten Nationen wurden nicht anerkannt und ihre Forderungen nicht respektiert.
In der Menschenrechtskommission in Genf gab es im Februar dieses Jahres heftige sowjetische Angriffe gegen den Afghanistan-Bericht des österreichischen Sonderbeauftragten Ermacora. Der sowjetische Vertreter Sofinski bezeichnete den Sonderberichterstatter als aktiven Ideologen des Revanchismus und neonazistischer Propaganda. Kommunistisch regierte Staaten behaupteten, daß schon die Abfassung des Berichts über die Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan eine völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans sei.
Ober sowjetische Menschenrechtsverletzungen darf es aber keine Berichte geben. Gibt es sie doch, dann werden sie als solche von Neonazisten oder Revanchisten diffamiert. Dies ist die sowjetische Taktik, wenn festgestellt wird, daß die Sowjetunion völkerrechtswidrig handelt und weder dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz noch dem UN-Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission den Zutritt zum afghanischen Staatsgebiet gestattet. Der Sonderbericht fordert ein Ende der Folter, Amnestie für politische Gefangene, eine Garantie für die Sicherheit der Flüchtlinge bei ihrer Rückkehr sowie einen Status Afghanistans, der auf permanente Neutralität abzielt.
Das Verhalten der Sowjetunion war ein schwerer Schlag gegen jede Art von Entspannungspolitik und hat alle sowjetischen Versprechungen als unglaubwürdig dokumentiert.
Der völkerrechtwidrige Krieg der Sowjets in Afghanistan hat den friedliebenden Völkern der Welt gezeigt, daß Friedensliebe ohne Verteidigungsbereitschaft auf annähernd gleicher Basis Frieden und Freiheit gefährdet.
Wir fordern zusammen mit den 116 Stimmen der Völker in der UN den Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan, Achtung des Selbstbestimmungsrechts des afghanischen Volkes und sofortige Erlaubnis für die Tätigkeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Afghanistan.
Dank sagen möchte ich allen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, die den Afghanen innerhalb und außerhalb ihres Heimatlandes humanitäre Hilfe leisten. Dank gilt auch den Staaten, die Afghanen trotz großer eigener Sorgen in ihrem Land Zuflucht bieten, an der Spitze Pakistan, das die größte Last trägt.
Uns in der Bundesrepublik rufe ich zur weiteren Hilfe für dieses geschundene Land und seine Menschen auf.
Nachdem alle politischen Gespräche mit den führenden Politikern der UdSSR keinen Erfolg gezeitigt haben, bitte ich die Bundesregierung, in ihrem Bemühen um Frieden auch in Afghanistan nicht nachzulassen und jede Gesprächsmöglichkeit auszunutzen.
Zum Schluß lassen Sie mich noch eine Bitte äußern. Die Mitglieder der SPD-Kommission haben an Pfingsten dieses Jahres die Führer der Sowjetunion besucht und über acht Stunden mit den Herren Gorbatschow, Gromyko, Ponomarjow, Agentow, Sagladin sprechen können. Auch die Frage des Abzugs sowjetischer Truppen aus Afghanistan ist dort sicher besprochen worden. Herr Brandt oder Herr Bahr werden unserer Bitte um einen Bericht darüber, was hier erreicht werden konnte, sicher gern nachkommen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, diese Aktuelle Stunde war ein sehr gutes Beispiel dafür, daß wir uns nicht in jedem Fall zwingen müssen, in die oft sehr schwierige Ost-West-Polka uns einzustimmen und dann nicht in der Lage zu sein, Gemeinsamkeiten erkennen zu lassen. Ich habe das als sehr wohltuend empfunden — mit der einen Ausnahme, Herr Werner: Willy Brandt hat in Moskau im Rahmen des
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Duvedort Möglichen und auch mit der ganzen Autorität, die er einbringen konnte, außerordentlich intensiv über Afghanistan gesprochen. Er hat — das ist mein Eindruck — zeit seines außenpolitischen Wirkens immer versucht, etwas zu tun, was auch diese Aktuelle Stunde heute geschafft hat und was zu tun wir uns alle bemühen sollten: es bei einem solchen Thema weder zu einem innenpolitischen noch zu einem außenpolitischen Mißbrauch kommen zu lassen. Das ist sehr wichtig bei einer solchen Frage. Dies muß man Willy Brandt hoch anrechnen. Ich glaube, daß das wenige, was möglich ist — und darüber sind wir uns ja einig, daß wir relativ wenig machtpolitische Mittel haben —, dort in Moskau auch wirklich zur Sprache gekommen ist.Ich will hier meine fünf Minuten nicht voll ausschöpfen. — Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, wenn wir auch in anderen Debatten, wie etwa bei der Guatemala-Frage, die wir hier einmal diskutiert haben, nicht in diesen Ost-West-Tanz um Menschenrechte hineingeraten,
sondern aus der Lage des einzelnen Landes, dem konkreten Leid der Betroffenen heraus diskutieren und argumentieren, es vortragen und nicht sagen: Das ist der Freund des einen, und damit ist er der Gegner des anderen. — Wenn wir als Deutscher Bundestag dazu fähig sind, haben wir, glaube ich, viel geschafft für die, die in Ost und West leiden.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Schwarz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Herrn Kollegen Duve dankbar für seine letzten Bemerkungen. Ich bin zwar ein Freund von Auseinandersetzungen, aber ich glaube, das ist wirklich ein Thema, das nicht dazu geeignet ist, daß wir uns auseinanderdividieren. Wir sollten vielmehr, wie diese Aktuelle Stunde auch zeigt, gemeinsam versuchen, für die bedrohten und unterdrückten Menschen in Afghanistan die Gemeinsamkeiten zu suchen und nicht das Trennende herauszustellen.Ich möchte mich in diesem Zusammenhang etwas konkreter zu den Gedanken äußern, die Herr Staatsminister Möllemann und Herr Kollege Gansel vorgetragen haben. Was nützt es uns, wenn wir hier im Parlament diese Einigkeit zeigen, aber diese Einigkeit, weil das keine „news" sind, nicht nach draußen transportiert wird? Das ist nicht neu in dieser Debatte.Am 7. Juni 1984 hatten wir die große Debatte über Afghanistan. Damals hat der Kollege Neumann gesagt, dieses Thema hätte mehr Aufmerksamkeit und auch eine Diskussion zu einer Zeit verdient, zu der die Medien noch anwesend wären. Die Frau Kollegin Hamm-Brücher hat gesagt: Solche Debatten sollte man nicht nachts um 10 Uhr führen, sondern zu einer Zeit, wo man anständigerweise noch von Journalisten erwarten kann, daß sie dabei sind. — In die gleiche Richtung gingen die Äußerungen des Herrn Kollegen Mertes.Ich glaube, es ist schon ein Thema, zu sehen, wie die deutsche Presse diese Problematik Afghanistan behandelt. Die Aktuelle Stunde über den Journalisten Abouchar war dem deutschen Fernsehen null Sendezeit wert, dem französischen Fernsehen drei Minuten in den Mittagsnachrichten. Dies zeigt, daß es hier eine große Lücke gibt. Ich glaube schon, daß es richtig ist, daß wir dies deutlich machen.Ich möchte nicht in eine globale Verurteilung eintreten; denn die wäre nicht richtig, weil es Zeitungen gibt, die sich sehr intensiv bemühen. Da gibt es einen Journalisten bei der „Neuen Rhein-Zeitung", Heinz Kurtzbach, dem ich gerne zustimme. Er sagt:Jürgen Todenhöfer ist ein mutiger Mann. Den Job, den er jetzt dreimal ausgeführt hat, sollte er dennoch anderen überlassen — mutigen Reportern.Nun habe ich mich mal der Mühe unterzogen, im Archiv des Deutschen Bundestages Zeugnisse der mutigen deutschen Reporter zu suchen. Ich habe sie nicht gefunden. Es gibt keine Berichte.Es gab immer vor Weihnachten — weil es dann ansteht — Analysen. So gab es beim Westdeutschen Rundfunk vor dem Jahrestag 1984 eine Sendung, bei der der Bonner Korrespondent der TASS, Herr Sosnowski, und der afghanische Journalist Ahmad Schah Quadiry, ein engagierter Kommunist, zu Wort kamen. — Das französische Fernsehen brachte zur Erinnerung einen Bericht aus Herat, einen Bericht, in dem französische Journalisten und Fotografen die Informationen aufgearbeitet hatten, um den französischen Bürgern zu zeigen, wie die Lage in Afghanistan wirklich ist.Manche Kommentare in deutschen Zeitungen haben den Tenor: Afghanistan ist ein vergessener Krieg. — Ich glaube, heute ist deutlich geworden, daß wir alle im Deutschen Bundestag Wert darauf legen, daß er nicht vergessen wird.Wenn ich sehe, daß die „Weltwoche" meint, daß die Afghanen ihren Mut zum Sieg aufgegeben hätten, finde ich, daß das nicht hilfreich ist.Der Kollege Schlaga hat am 20. Mai eine Erklärung zu dem Massaker in Afghanistan abgegeben. Ich habe keine deutsche Zeitung gefunden, die diese Meldung übernommen hätte. Man sollte also nicht sagen: Man hat uns nicht informiert. — Ich gehe immer von dem aus, was im Archiv des Deutschen Bundestages dazu zu finden ist.Ich meine, es ist wichtig, daß wir das, was hier von allen Parteien deutlich geworden ist, pflegen und an die Journalisten die dringende Bitte richten, so, wie sie bei ihrem Kollegen Abouchar die Weltöffentlichkeit wachgerüttelt haben, auch bei Kindern, die in Afghanistan verschleppt werden — es sind nach neuesten Informationen rund 20 000 Kinder im Alter zwischen vier und 14 Jahren, die in die UdSSR, die DDR, nach Bulgarien und Kuba ge-
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Schwarzschickt worden sind —, ihrer Informationspflicht nachzukommen. Ich glaube, wir sollten immer wieder deutlich machen, daß das jeweils Menschen sind, um die wir uns zu kümmern haben.Wir sollten das aufgreifen, was hier gesagt worden ist. Wir sollten im Deutschen Bundestag ein Hearing durchführen, als einen wichtigen Beitrag dazu, die Öffentlichkeit aufzurütteln, auf die Probleme, auf den Krieg aufmerksam zu machen, der in Afghanistan ist: des Friedens wegen, der menschlichen Gerechtigkeit wegen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte Sie von einer Vereinbarung unterrichten. Im Ältestenrat ist beschlossen worden, den Punkt 23 der Tagesordnung betreffend die Förderung von Frauen im öffentlichen Dienst abzusetzen. Ich erbitte zu dieser Vereinbarung die Zustimmung des Hauses. — Widerspruch erhebt sich nicht.
Dann kann ich den Tagesordnungspunkt 18 aufrufen:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Expertentreffen für Menschenrechte der KSZE in Ottawa
Meine Damen und Herren, hierzu ist im Ältestenrat eine Beratungszeit von drei Stunden vereinbart worden. — Widerspruch gegen diesen Vorschlag erhebt sich nicht. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sowjetische Intervention in Afghanistan, von der hier soeben gesprochen worden ist, die Leiden des afghanischen Volkes — das ist eine Frage des Friedens, des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte.Um die Menschenrechte geht es auch bei diesem Tagesordnungspunkt. Er betrifft die Verantwortung der Außenpolitik für den Menschen. Wir in unserem Lande können diese Frage nicht losgelöst von dem Hintergrund der Geschichte sehen. Die Entwicklung der letzten Monate hat erneut deutlich gemacht: Andere Völker, auch wenn sie mit uns heute befreundet sind, verbinden ihre Beurteilung über das, was bei uns geschieht, mit der Erinnerung an die dunkelste Epoche unserer Geschichte, als die Rechte von Millionen Menschen mit Füßen getreten wurden. Gerade deshalb darf unsere Außenpolitik nicht wertfrei sein.Für uns bedeutet das: Die Bundesrepublik Deutschland muß stets Anwalt der Menschenrechte sein — überall in der Welt. Menschenrechtspolitik muß zu Hause anfangen. Im Innern müssen wir durch den Standard, der bei uns gilt, der bei uns praktiziert wird, ein überzeugendes Beispiel für andere geben. Je freiheitlicher, je toleranter, je gerechter und je sozialer unsere Ordnung ist, um so glaubwürdiger ist unser Eintreten für die Menschenrechte nach draußen.
Der Aufbau eines freiheitlich-demokratischen Staatswesens in der Bundesrepublik Deutschland, in dem die Respektierung und der Schutz der Menschenwürde und der unveräußerlichen Menschenrechte zur obersten Richtschnur allen staatlichen Handelns gemacht worden sind, berechtigt zu der Feststellung: Wir haben die freiheitlichste Staatsordnung geschaffen, die Deutschland je hatte.Wir müssen die Achtung der Menschenrechte bei allen Fragen praktischer Politik in unserem Denken und Handeln mit Vorrang sehen und dürfen darin niemandem nachstehen. Das muß sich auch in der Haltung gegenüber ausländischen Mitbürgern in unserem Lande erweisen.
Unsere Haltung zu der Frage der Menschenrechte in anderen Staaten ist moralisch nur dann glaubwürdig, wenn wir die Menschenrechte aller Menschen und überall in der Welt mit dem gleichen Maßstab messen. Menschenrechtspolitik darf nicht ideologisch einäugig sein. Sie muß für alle gelten. Sie muß allen gelten, unabhängig vom Geschlecht, der Religion, der Nationalität und der Hautfarbe. Eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik muß sich allen Aspekten der Menschenrechte zuwenden. Sie darf sich nicht auf einzelne wie etwa die Freizügigkeit beschränken, so wichtig auch gerade das Recht auf Freizügigkeit im geteilten Deutschland ist.Wir werden auch darauf zu achten haben, daß die individuellen Freiheitsrechte nicht zurückgedrängt werden hinter die wirtschaftlichen und sozialen Rechte.
Umgekehrt dürfen wir nicht den Eindruck aufkommen lassen, wir nähmen die wirtschaftlichen und sozialen Rechte nicht ernst. Wir haben beide Menschenrechtspakte unterzeichnet. Wir setzen uns für die Respektierung aller Menschenrechte ein.Wir brauchen keinen Vergleich zu scheuen mit dem Standard in den Staaten, die sich auf wirtschaftliche und soziale Rechte besonders berufen. Wir dürfen in der Dritten Welt, wo elementare Not, wo die Sorge um das nackte Überleben oft unmittelbarer empfunden wird als Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, in unserem Engagement für materielle Ausübung wirtschaftlicher und sozialer Rechte nicht nachlassen.Menschenrechtspolitik, die die Kraft des moralischen Anspruchs bewahren will, muß auf jedes selektive Konzept und auch auf jede instrumentale Absicht verzichten, sie darf nicht zu einer ideologischen Waffe verkümmern.Menschenrechtspolitik muß global angelegt sein. Sie muß erkennbar darauf gerichtet sein, durch tatsächliche Verbesserung der Verhältnisse die praktische Lage der Menschen zu erleichtern. Deshalb
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Bundesminister Genschergestaltet die Bundesregierung die Bemühungen der Vereinten Nationen um Verbesserung der Menschenrechtslage in aller Welt aktiv mit. Unsere Vorschläge zur Verhütung von Flüchtlingsströmen, zur Abschaffung der Todesstrafe, zur Unterstützung des Kampfes gegen die Folter haben Diskussionen in Gang gesetzt, von denen wir weitere Fortschritte in diesen so wichtigen Fragen für die Menschenwürde und für das Zusammenleben der Völker erwarten. Unsere Initiative gegen Geiselnahme wurde als ein Beitrag zu den Arbeiten der Vereinten Nationen zur Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts aufgenommen.Angesichts neuer Terrorakte gegen den internationalen Flugverkehr, angesichts neuer Geiselnahmen muß sich das Menschenrechtsverständnis aller zivilisierten Staaten auch in der Solidarität und der gemeinsamen entschlossenen Abwehr solcher Gewaltakte bewähren. Es darf hier keine Systemgrenzen der Solidarität und der Abwehr dieser terroristischen Aktionen geben.
Wir halten fest an unserer Forderung nach Schaffung eines Menschenrechtsgerichtshofes der Vereinten Nationen. Ich habe deshalb bei der Eröffnung des KSZE-Folgetreffens in Madrid am 13. November 1980 nach einem Briefwechsel mit dem damaligen Oppositionsabgeordneten Dr. Alois Mertes alle bisher abseits stehenden Teilnehmerstaaten der KSZE aufgefordert, die Maßstäbe der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu akzeptieren.Meine Damen und Herren, wenn wir durch eigenes Beispiel und durch universale Maßstäbe eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik verfolgen, so können wir besonders wirkungsvoll für die Menschenrechte in Mittel- und Osteuropa und für das Schicksal der Deutschen in diesen Staaten eintreten. Alle diese Fragen sind eng verbunden mit der Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses. Das Schicksal der Menschen in den kommunistischen Staaten Europas liegt uns am Herzen, aber es liegt nicht in unserer Hand.Wir wollen die Verbesserung der Lage unserer deutschen und unserer europäischen Mitbürger, aber wir wissen: Ihr Schicksal hängt von der Politik der Regierungen ab, die in diesen Staaten die staatliche Gewalt ausüben. Eine Verbesserung der Lage der Menschen werden wir nur mit, nicht gegen diese Regierungen erreichen können.Wir haben kein Durchgriffsrecht und keine Durchgriffsmöglichkeiten auf die Gestaltung von Einzelschicksalen. Wir können und müssen uns jedoch bemühen, unseren Einfluß auf eine Entwicklung des Umfeldes zu richten, die sich günstig auf eine humane, die Menschenrechte achtende Entwicklung auswirkt.Eine solche Politik darf nicht kurzatmig sein. Eine solche Politik darf schon gar nicht auf Effekthascherei aus innenpolitischen Gründen gerichtet sein.
Sie darf nicht zur eigenen Selbstdarstellung betrieben werden, sondern sie muß zum Wohle der Betroffenen betrieben werden, die unsere Hilfe brauchen.
Eine solche Politik darf nicht nur den bekannten Namen dienen, sondern sie muß sich auch um die vielen Namenlosen bemühen, die es in diesen Ländern gibt.
Praktische Menschenrechtspolitik bedeutet Bemühen um eine Architektur der West-Ost-Beziehungen, in der die humanitäre Dimension eine tragende Säule bildet. In dieser Architektur muß auch das Interesse der Staaten, um deren Mitwirkung es geht, so stark angeregt werden, daß sie die humanitäre Säule mit bauen und bewahren, weil sie nicht die Tragfähigkeit des ganzen Gebäudes aufs Spiel setzen wollen.Die Grundsätze einer solchen Architektur sind im KSZE-Prozeß angelegt. Die Schlußakte von Helsinki, deren 10. Jahrestag wir am 1. August 1985 auf politischer Ebene begehen, den wir für neue Impulse benutzen wollen, verlangt von uns keine Änderung der Grundsätze unserer Politik.Im Gegenteil, diese Schlußakte beschreibt die Politik, der wir uns auf Grund unserer Ideale und unseres Bildes vom Menschen als eines freien Individuums verpflichtet fühlen. Der Westen hat 1975 der Schlußakte zugestimmt, weil es ihm gelungen war, die menschliche Dimension darin klar und überzeugend zu verankern. Aber der Westen hätte die Bestimmungen über die menschliche Dimension nicht erreichen können, wenn nicht eine ausgewogene Balance der Interessen in der Schlußakte hergestellt worden wäre, zu der auch der zweite Korb mit allen Bereichen der Zusammenarbeit zwischen West und Ost gehört.Die Schlußakte von Helsinki hat keine abrupte Änderung der Verhältnisse in den Ländern versprochen, wo eine Anpassung der Praxis an die Bestimmungen der Schlußakte erforderlich ist. Sie sollte vielmehr einen Prozeß in Gang setzen, der dynamische Kräfte entfaltet und der auf friedlichen Wandel gerichtet ist.Ebenso wie die Schlußakte ein kooperatives Dokument ist, das die Interessen der Teilnehmerstaaten verbindet, muß sich der Prozeß der Verwirklichung als kooperative Entwicklung entfalten und zu einem Ausgleich der legitimen Interessen der Teilnehmerstaaten führen. Der Weg dahin wird ein langer, mühsamer Prozeß sein, der auch in Zukunft nicht ohne Belastungen und Rückschläge verlaufen wird.Aber, meine Damen und Herren, was uns Zuversicht gibt, ist das Wissen, daß es auch neue vorwärtsdrängende Kräfte gibt. Die Zwänge der technologischen Revolution werden die Staaten, die
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Bundesminister Genscherüber wenig flexible Strukturen verfügen, vor größere Herausforderungen stellen als uns. Die Informationstechnik wird einen großen Druck zum Wandel und zur Modernisierung ausüben. Unser Interesse muß es sein, daß die Kräfte des Wandels stärker motiviert werden als die Kräfte der Repression.Für den KSZE-Prozeß ist auf westlicher Seite der Boden durch die Harmel-Konzeption des Bündnisses vorbereitet worden. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre nationalen Interessen fest in das westliche Konzept eingebettet, das sich im Zustandekommen des KSZE-Prozesses erfolgreich bewährt hat. Das westliche Konzept wird gestärkt durch die gegenseitige breite Übereinstimmung mit den neutralen und den nicht gebundenen Staaten, die ein gemeinsames Vorgehen erleichtert hat.Wir müssen dabei immer bewußt sein: Es kann keine realistische Entspannungspolitik um die Menschenrechte herum geben. Es kann auch keine realistische Menschenrechtspolitik in einem Klima der Konfrontation und polemischer Anfeindungen geben.
Wer die unerläßliche Mitarbeit der östlichen Regierungen in Menschenrechtsfragen erreichen will, darf nicht den Eindruck erwecken, es komme ihm auf Destabilisierung der Systeme an.
Der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Windelen, hat in bezug auf die DDR folgendes erklärt — ich zitiere —:Unter den gegebenen Bedingungen sehen wir uns dazu verpflichtet, unter Nutzung einer Modus-vivendi-Politik wenigstens die Folgen der Teilung für die Menschen unseres Volkes erträglicher zu machen. Wir sind nicht darauf aus, die DDR zu destabilisieren. Wir wollen vielmehr zu praktischen Lösungen kommen, und dafür braucht die DDR ebenso Verhandlungsspielraum wie wir selber. Deshalb stellen wir uns auf den Boden der Tatsachen.Präsident Reagan hat am 8. Mai 1985 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg erklärt, daß die Politik der Vereinigten Staaten nicht darauf gerichtet sei, das sowjetische System zu unterminieren oder zu ändern.Meine Damen und Herren, unsere Politik verlangt ein hohes Maß an Beharrlichkeit und Geduld, an realistischem Sinn für das Machbare, an Augenmaß auch für die Lage der anderen Seite. Dazu gehören Prinzipientreue ebenso wie Behutsamkeit.Der Kollege Schäuble hat dazu gesagt: Diskrete Bemühungen haben noch nichts mit Komplizenschaft zu tun, sondern damit, daß man auch hier die andere Seite nicht überfordern darf, wenn man Lösungen finden will. Ich sage Ihnen: Beides, die diskreten Bemühungen und das klare öffentliche Wort, gehört im rechten Maß zusammen, und jedes hat seine Funktion.Bei den Gesprächen der Bundesregierung mit den Staaten des Warschauer Pakts ist die menschliche Dimension ständiger Gesprächsgegenstand. Die Gespräche, die eine Delegation des Deutschen Bundestages in Ottawa mit den Leitern östlicher Delegationen beim KSZE-Menschenrechtstreffen geführt hat, haben den Bemühungen der Bundesregierung eine wirkungsvolle Unterstützung gegeben. Diese Kollegen haben mit anerkennenden Worten die Arbeit gewürdigt, die Botschafter Eickhoff und seine Mitarbeiter dort geleistet haben. Ich mache mir das gern zu eigen und möchte der Delegation Dank und Anerkennung der Bundesregierung aussprechen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, jede Reise von Politikern in die Länder des Warschauer Pakts und jeder Kontakt mit östlichen Vertretern muß auch unseren humanitären Anliegen dienen. Viele unserer europäischen Mitbürger in den anderen Staaten des Warschauer Pakts, unsere deutschen Mitbürger in der DDR setzen ihre Hoffnungen darauf, daß wir alle Anstrengungen unternehmen, damit in den West-Ost-Beziehungen Bedingungen geschaffen werden, unter denen ihre Freiräume — soweit vorhanden — erhalten und unter denen sie erweitert werden. Das ist ein politisches Mandat, das uns alle verpflichtet. Diese Erwartung wird uns auch durch die Stimme der Kirchen vermittelt, der wir aufmerksames Gehör schenken sollten.Diese Überlegungen haben auch unsere Linie und die gemeinsame westliche Linie bei dem Menschenrechtstreffen bestimmt, das vom 7. Mai bis 17. Juni 1985 in Ottawa stattgefunden hat.Meine Damen und Herren, diese Konferenz 'hätte in der Öffentlichkeit, vor allem in den Medien, die Aufmerksamkeit verdient, die ihr im Interesse aller Deutschen und aller Europäer in West und Ost zukommt.
Diese erste KSZE-Konferenz, die ausschließlich den Menschenrechten gewidmet war, hat gezeigt: Unsere Menschenrechtspolitik gegenüber den kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa wird von allen unseren Partnern mitgetragen. Das Expertentreffen in Ottawa hat erneut bewiesen, daß unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis, aber auch die Neutralen und Ungebundenen in Europa durch gemeinsame Werte verbunden sind. Obenan steht dabei die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. So steht es im ersten Artikel des Grundgesetzes, so ist es in der Präambel der Vereinten Nationen niedergelegt. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die Präambeln der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen nennen an erster Stelle die Würde des Menschen als den Ursprung aller Menschenrechte. Das gilt genauso für den Menschenrechtsteil der Schlußakte von Helsinki. Mit unseren Verbündeten und unseren Partnern und mit den neutralen Demokratien in Europa befinden wir uns auf festem rechtlichem Boden, wann immer wir die Rechte und Grundfreiheiten des ein-
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11152 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Bundesminister Genscherzelnen gegen Einschränkungen und gegen Willkür des Kollektivs verteidigen. Das ist in Ottawa geschehen. Die Forderung nach Geltung und die Kritik an der Verletzung von Menschenrechten sind auf diesem Forum deutlich zum Ausdruck gekommen. Mängel und Mißstände wurden dargelegt und zum Gegenstand der Debatte gemacht.Wir haben uns darüber hinaus der Anliegen angenommen, die besonders unsere deutschen Landsleute betreffen. Die besonderen Probleme, die sich aus der deutschen Teilung ergeben, waren Gegenstand der Erörterung. Ich nenne als erstes das Recht der Freizügigkeit, das Recht des einzelnen, sein Aufenthaltsland zu verlassen und — wenn gewünscht — auch dahin zurückzukehren. Nicht nur unsere Delegation, nicht nur der Vertreter Italiens im Namen der Europäischen Gemeinschaft haben in Ottawa mehrfach die Versagung dieses Rechts getadelt und seine Verwirklichung gefordert. Alle unsere Partner und Freunde einschließlich der Neutralen sind in zahlreichen Interventionen für dieses Recht eingetreten. Wir haben Anlaß, gerade für diese Gemeinsamkeit zu danken.
Ein anderer besonderer Schwerpunkt unserer Ausführungen war das Recht der Angehörigen von nationalen Minderheiten auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf den tatsächlichen Genuß der Menschenrechte gemäß der Schlußakte von Helsinki und dem abschließenden Dokument des Madrider KSZE-Folgetreffens. Die Lage der Deutschen in einigen Warschauer-Pakt-Staaten gab dazu besonderen Anlaß. Zusammen mit unseren Freunden und Verbündeten haben wir uns eingesetzt für das Recht des einzelnen, sich auf die Menschenrechte zu berufen, für sie zu werben, für die Achtung der Religions- und Gewissensfreiheit, für die Rechte der Gewerkschaften, für die schrittweise Abschaffung der Todesstrafe, für die Abschaffung der Isolationshaft, für die Zulassung von Beobachtern zu Strafprozessen und nicht zuletzt für die Verpflichtung der Teilnehmerstaaten, die Menschenrechtstexte der Schlußakte von Helsinki und des abschließenden Dokuments von Madrid erneut zu veröffentlichen.Zu all diesen Punkten haben wir konkrete Vorschläge eingebracht oder mit eingebracht. Alle Gedanken zu Vorschlägen und Verbesserungen, mit denen unsere Delegation nach Ottawa kam, sind von unseren Partnern gebilligt und unterstützt worden.Wir haben schließlich dieses Treffen auch genutzt, um in bilateralen Kontakten für die Lösung von Härtefällen einzutreten. Wir haben dabei die Informationen und Hinweise verwendet, die wir von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und von Gruppen und Organisationen und Einzelpersonen erhalten haben.Auf der Konferenz in Ottawa kamen auch die Unterschiede der menschenrechtlichen Verhältnisse in den einzelnen Staaten des Warschauer Pakts zum Ausdruck. In der Sowjetunion hat sich die menschenrechtliche Lage seit der Konferenz von Madrid nicht verbessert. Ja, die Zahl der Deutschen, denen die Ausreise gewährt wurde, ist zurückgegangen.
Dagegen sehen wir in anderen Ländern Verbesserungen, auch in der DDR. Wir haben auch daraus in Ottawa kein Geheimnis gemacht. Bei den Ausreisen von der DDR in die Bundesrepublik, beim Besucherverkehr, im Verhältnis zwischen Kirche und Staat, bei der Gewährleistung von Religions- und Gewissensfreiheit in der DDR gab es Verbesserungen. In Polen sind trotz jüngster Rückschläge der menschenrechtlichen Lage seit dem Folgetreffen von Madrid auch Fortschritte aufzuweisen. Ungarn zeichnet sich weiter durch eine relativ großzügige und humane Innenpolitik aus. Der Vertreter Ungarns hat auf der Konferenz eine stark beachtete Rede über die Rechte der Minderheiten im eigenen Land gehalten. Unsere Delegation, die unmittelbar danach zu Wort kam, verwies auf den beispielhaften Inhalt und Geist dieser ungarischen Intervention.Der Westen hat sich in Ottawa nicht zu Schwarzweißmalerei verleiten lassen. Er hat auf die Einlassungen der Warschauer-Pakt-Staaten differenziert reagiert. Das ist von der anderen Seite verstanden und in vielen Fällen gewürdigt worden. Es ging dem Westen auf dieser Konferenz darum, die mangelnde Achtung und die Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wo immer sie sich ereignen, darzulegen und unter den Delegationen offen zu diskutieren und so auf dem Weg zur Erfüllung der in Helsinki und Madrid von allen Teilnehmerstaaten eingegangenen Verpflichtungen einen Schritt weiterzukommen.Die Mißachtung der Menschenrechte in Ländern des Warschauer Paktes kam offen zur Sprache. Sie sind nach längerem Zögern selbst auf diese Debatte eingegangen — bis hin zur Nennung und Behandlung von Einzelfällen. Künftig kann nicht mehr behauptet werden, daß KSZE-Expertentreffen mit einem solchen Mandat nur und ausschließlich zur Darlegung der Verhältnisse im jeweils eigenen Staat ermächtigt sind.Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß solche Debatten einen wertvollen und unentbehrlichen Beitrag zum KSZE-Prozeß leisten. Ihre Wirkung liegt in einer ganz Europa umfassenden Meinungsbildung, mehr vielleicht als in direkten Reaktionen der kritisierten Regierungen. Es wird das Bewußtsein gestärkt: Die Menschenrechte sind für jedermann gültig, auch wenn die Staaten nicht zu ihrer Beachtung gezwungen werden können.Dieses Bewußtsein muß auch bei den Trägern staatlicher Gewalt beachtet werden. Das vollzieht sich gewiß nicht über Nacht. Es geht um eine Entwicklung, die sich in den Vorstellungen der Menschen vollzieht und die schrittweise die zerstörten und verschütteten Gemeinsamkeiten des geteilten Europas wiederbeleben soll.Die Debatte in Ottawa hat aber auch die fundamentalen Unterschiede im Menschenrechtsver-
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Bundesminister Genscherständnis der Systeme bestätigt. Der Westen forderte in Ottawa die Bekräftigung und Erweiterung der Freiheitsrechte des einzelnen. Diese Rechte stehen dem Menschen unmittelbar zu. Sie stehen nicht zur Disposition des Staates; sie stehen auch nicht zur Diskussion in einer Rangordnung der Werte. Sie können weder durch die Postulierung eines Rechtes auf Arbeit noch eines Rechtes auf adäquaten Lebensstandard noch durch ein Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit in ihrer Wertigkeit verdrängt werden.Für die Bundesrepublik Deutschland ist die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates, die Verwirklichung von Frieden und Freiheit ein verfassungsrechtliches Ziel. Aber wir wissen auch, daß die Durchsetzung dieser Ziele nicht die Verwirklichung der individuellen Menschenrechte ersetzen kann, ja, daß sie erst die Verwirklichung der individuellen Menschenrechte voraussetzt.
Die Menschenrechte sind weder ersetzbar noch sind sie austauschbar. Die westliche Seite hat sich mit einer Verwässerung der individuellen Menschenrechte nicht einverstanden erklärt. Unsere Vorschläge für ihre Verwirklichung bleiben auf dem Tisch.In dem gemeinsamen Entwurf eines Schlußberichts der Konferenz, der von allen Bündnispartnern und von Irland eingebracht wurde, haben wir maßvolle Forderungen für eine bessere Achtung der Menschenrechte auf allen hier genannten Gebieten eingebracht. Keiner dieser Vorschläge würde den Bestand eines europäischen Staates gefährden.Von diesen gemeinsamen Positionen aus werden wir das Gespräch auf künftigen KSZE-Veranstaltungen, vor allem auf der Folgekonferenz in Wien, wiederaufnehmen.In der letzten Phase gab es einen Vermittlungsvorschlag der Neutralen für einen knappen Schlußbericht. Dieses Dokument, das als einzigen Vorschlag die Empfehlung enthält, die Folgekonferenz in Wien möge die Abhaltung weiterer Menschenrechtstreffen ins Auge fassen, wurde von allen westlichen Staaten angenommen. Der Osten lehnte es ab.Dabei hat sich die Übereinstimmung des Westens und aller Neutralen sowie Ungebundenen im grundsätzlichen Verständnis der Implementierung der Verpflichtung aus der Schlußakte von Helsinki erwiesen. Auch diese Erklärung ist für künftige Menschenrechtsdebatten der KSZE wichtig.Wir haben seinerzeit im abschließenden Dokument von Madrid nicht nur das Treffen in Ottawa, sondern auch die Einberufung eines Expertentreffens über menschliche Kontakte vereinbart. Wir haben das erreicht, weil wir in Madrid trotz schwerer Belastungen der internationalen Lage nicht vom Verhandlungstisch aufgestanden sind, wie manche uns empfehlen wollten.Das Thema Menschenrechte wird schon auf der Außenministertagung zum zehnten Jahrestag derSchlußakte am 1. August in Helsinki erneut behandelt werden. Das im April 1986 in Bern beginnende Expertentreffen über menschliche Kontakte wird dem Thema Freizügigkeit gewidmet sein. Auf der Folgekonferenz in Wien werden die Themen von Ottawa im Gesamtzusammenhang der KSZE wiederaufgenommen werden.Die offene Aussprache in Ottawa hat für den weiteren Dialog über Menschenrechte eine realistische, klärende Vorarbeit geleistet. Ein solcher Beitrag liegt auch in der Stärkung des Bewußtseins von den gemeinsamen kulturellen und moralischen Wurzeln des europäischen Menschenrechtsverständnisses, das nachhaltiger wirkt als die darüber liegende Schicht kollektivistischer Ideologien und das stärker ist als das Menschenrechtsverständnis des politischen Systems, das sich auf diese Ideologien gründet. Es gilt jetzt, die gemeinsamen Wurzeln des Bewußtseins zu heben und zu beleben. Die Kräfte, die in der kulturellen Identität Europas liegen, müssen aktiviert werden. Deshalb kommt dem Kulturforum in Budapest eine Bedeutung zu, die auch im Zusammenhang mit der Förderung der menschlichen Kontakte und der Menschenrechte zu sehen ist.Meine Damen und Herren, jede Bilanz des KSZE-Prozesses muß sich hüten, mit vereinfachten Maßstäben zu messen. Statistische Angaben über die Zunahme der menschlichen Kontakte und die Entwicklung menschlicher Freiräume in diesem und jenem Bereich geben die wirklichen Veränderungen nur teilweise wieder. Der bedeutsame Wandel liegt auch in der Entwicklung des Bewußtseins der Menschen und dem sich daraus ergebenden Einfluß auf das Verhalten der Regierungen. Es ist wichtig für die Menschen auf der anderen Seite der Trennungslinie zwischen den unterschiedlichen Systemen zu wissen, daß die Regierungen auf einen Entwicklungsprozeß festgelegt sind, auf den sich auch die Hoffnungen der Menschen dort drüben richten. Es ist wichtig, daß mit der Schlußakte von Helsinki eine Berufungsgrundlage existiert gegenüber den Trägern staatlicher Macht, die die Unterschriften der höchsten Vertreter dieser Staaten trägt. Es ist unzulässig, die Forderung nach Verwirklichung der Bestimmungen der Schlußakte als Forderung nach Übernahme von Elementen einer abzulehnenden Gesellschaftsordnung abzutun. Die Kraft der Idee darf auch hier nicht unterschätzt werden. Die Tätigkeiten der Helsinki-Komitees als Formen organisierter Opposition in der Sowjetunion sind unterbunden worden. Auch das ist ein ständiges Thema der westlichen Kritik an der Durchführung beziehungsweise Nichtdurchführung der Schlußakte von Helsinki. Aber der Bewußtseinsänderungsprozeß, der zur Gründung dieser Helsinki-Komitees führte, wirkt fort.Der KSZE-Prozeß hat den mittleren und kleineren Staaten im Osten Mitwirkungs- und Mitspracherecht eröffnet, die ihre nationale Identität und ihr Bemühen um Eigenständigkeit im Rahmen ihrer Bindungen gestärkt haben. Auch hierin liegt eine wichtige Entwicklung, die sich günstig auf die menschlichen Freiräume auswirken kann. Die Bun-
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Bundesminister Genscherdesregierung wird das ihre tun, den KSZE-Prozeß in allen Bereichen voranzutreiben. Wir werden das Bekenntnis aller anderen Teilnehmerstaaten zur Entspannung, zum KSZE-Prozeß an der Bereitschaft messen, bei der Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki in allen Bereichen voranzuschreiten, auch bei den Menschenrechten und bei den menschlichen Kontakten.Die Bundesregierung wird sich weiter im bilateralen Dialog mit allen Staaten des Warschauer Pakts und auch mit anderen und im Rahmen des KSZE-Prozesses für die Förderung der Menschenrechte und der menschlichen Kontakte einsetzen. Die Bundesregierung wird sich mit ihrer kontinuierlichen und berechenbaren Politik bemühen, die West-Ost-Beziehungen in ganzer Breite mit langfristiger Perspektive fortzuentwickeln, um den Rahmen für die Verbesserung der Lage der Menschen zu festigen.Die Wiederaufnahme der Genfer Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über Kernfragen der strategischen Sicherheit, die übereinstimmende Definition der Ziele dieser Verhandlungen und die Rückkehr beider Großmächte zu einem regelmäßigen politischen Dialog schaffen dafür neue Möglichkeiten. Bundeskanzler Helmut Kohl hat dazu am 20. März 1985 erklärt:Wir stehen vor einer neuen Phase in den WestOst-Beziehungen.
Von der Wiederaufnahme des Rüstungskontrolldialogs zwischen den USA und der Sowjetunion in Genf können generelle Impulse für eine Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses ausgehen. Es besteht jetzt die Chance,— fuhr der Bundeskanzler fort —zu dauerhafteren und grundlegenderen Ergebnissen zu kommen als in den 70er Jahren.Um solche Ergebnisse, vor allem für die Menschen, meine Kollegen, geht es. Wir werden dafür sorgen, daß die Menschenrechtsverpflichtungen, wie sie der Schlußakte zugrunde gelegt und durch die Unterschriften der höchsten Vertreter aller Teilnehmerstaaten bekräftigt sind, nicht nachträglich relativiert oder verwässert werden können. Wir werden Versuchen widerstehen, die Menschenrechte und die menschlichen Kontakte zu einem Tauschobjekt zu machen, um Vorteile auf anderen Gebieten zu erzielen. Die Gewährung der Menschenrechte in allen Ländern bietet eine Garantie für das friedliche Zusammenleben der Völker. Wir haben in Deutschland erlebt, wie die Nichtachtung der Menschenrechte der erste Schritt zur Unterdrückung der Freiheit und der Menschenrechte in den Nachbarländern war und schließlich zum Bruch des Friedens führte.Das Bekenntnis zum Recht des Menschen auf Leben als dem höchsten Gut muß durch die Ernsthaftigkeit bei Rüstungskontrolle und Abrüstung, durch den Verzicht auf Überlegenheit und durch die strikte Einhaltung des Gewaltverbots bewiesen werden.Die Bundesregierung wird alle Möglichkeiten für eine breite Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen West und Ost und zur Verbesserung der Beziehungen mit unseren östlichen Nachbarn nutzen. Wir werden in diesem Rahmen auch in Zukunft auf eine stärkere Einbeziehung der menschlichen Dimension hinarbeiten.In keinem anderen Bereich können schnellere Fortschritte bei der Realisierung der Schlußakte erzielt und Beweise des guten Willens gegeben werden als bei der Verwirklichung der Menschenrechte.
Sie können bei der großzügigen Lösung menschlicher Härtefälle und bei der zügigen Genehmigung von Ausreiseanträgen bewiesen werden. Hier müssen den Worten in der Schlußakte die Taten folgen.Aufgabe unserer Politik ist es, innerhalb der bestehenden Staatenordnung in Europa die Entwicklungen zu unterstützen, die auf eine Überwindung des Trennenden hinarbeiten, die zur Besinnung auf europäische Gemeinsamkeiten führen, die wirtschaftliche, technologische, kulturelle Zusammenarbeit fördern.
Meine Damen und Herren, eine solche Politik sind wir auch unseren Mitbürgern in der DDR schuldig, unseren Mitbürgern, die sich Fortschritte von unserer Politik der Verständigung und Zusammenarbeit erhoffen, unseren Mitbürgern, die wissen, daß Kraftmeierei vielleicht Schlagzeilen bei uns und daß Gleichgültigkeit vielleicht Beifall von anderer Seite bringt, aber ganz sicher keine Fortschritte für die Menschen. Um die Menschen aber, um die vielen Einzelschicksale muß es uns gehen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Professor Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, für unsere Fraktion feststellen zu können, daß wir den Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers weitgehend zustimmen können. Leider heißt das noch nicht, daß wir uns in Übereinstimmung auch mit der Regierungskoalition befinden; denn — wenn Sie mir diese allgemeine Bemerkung vorab gestatten — in den letzten Monaten wird es ja zunehmend schwieriger, festzustellen, wer eigentlich für die Bundesregierung spricht und was die Außenpolitik der Bundesregierung ist. Wir sehen gerade auch unter diesem Gesichtspunkt der weiteren Debatte mit Interesse entgegen. Ihre Rede, Herr Kollege Genscher, war, j a durch das eindeutige Bemühen der Schadensbegrenzung durch präemptive Zitate gekennzeichnet.
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Dr. Ehmke
Ich sehe natürlich mit einigem Amüsement, Herr Kollege Genscher, daß die FDP aus dieser außenpolitischen Kakophonie der Kohl-Regierung nun auch noch versucht, auf Kosten der CDU Wahlvorteile zu erreichen. Ich darf aber in aller Bescheidenheit, verehrter Herr Kollege Schäfer, den Außenminister daran erinnern: Wir wären gar nicht in dieser außenpolitischen Verunsicherung, die mit einem Ansehens- und Einflußverlust der Bundesrepublik verbunden ist, wenn Herr Genscher seine Wendeübungen nicht gemacht hätte.
Die eigentliche Gefahr, die ihm droht, ist, daß er von seinen eigenen Wendekünsten eingeholt wird.
Ich frage mich manchmal, Herr Kollege Genscher, wo Sie heute eigentlich wären, wenn die SPD nicht in solchen zentralen Fragen wie Anerkennung der polnischen Westgrenze, Ablehnung der Weltraumrüstung oder Selbstbehauptung Europas so klar Kurs gehalten hätte.
Aber, Herr Bundesaußenminister, ich will Sie nicht erschrecken: Sie können sich darauf verlassen, daß die SPD Sie auch weiterhin gegen die törichte und offensichtlich unbelehrbare Kraftmeierei der Dreggers, Hupkas und Huyns unterstützen wird.
Sie selbst, Herr Außenminister, haben eben gesagt, daß sich Menschenrechte nicht zur Kraftmeierei eignen. Auch darin stimmen wir Ihnen zu. Die Behandlung dieser zentralen Frage — nicht nur im Ost-West-Verhältnis — erfordert nicht nur Maßstäbe, sondern auch Augenmaß. Einseitigkeit erschlägt das Thema. Das gilt für alle und nach allen Seiten. Wer z. B. den Einmarsch in den Prager Frühling oder nach Afghanistan — wir haben das gerade behandelt — gutheißt, der ist kein glaubwürdiger Anwalt von Menschenrechten. Das gleiche gilt aber auch für diejenigen, die vor den schweren Menschenrechtsverletzungen etwa in Chile oder Paraguay die Augen verschließen.
Man kann auch nicht Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua anklagen und vor weit schwereren Menschenrechtsverletzungen des Marcos-Regimes in den Philippinen die Augen verschließen.
Man kann nicht Verfolgung von Minderheiten in Äthiopien zu Recht anprangern,
und die menschenverachtende Apartheidspolitik Südafrikas als ein Naturereignis behandeln,
wie es wieder und wieder aus Ihren Reihen geschieht.
Man kann auch die Menschenrechtsverletzungen der iranischen Regierung nicht verurteilen und Menschenrechtsverletzungen von Gruppen, die das Khomeini-Regime bekämpfen, gutheißen.
Man kann nicht Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Libanon oder auf der Westbank anprangern und den menschenverachtenden Terror antiisraelischer Gruppen als Freiheitskampf feiern.
Man kann nicht Prozesse und Urteile in Polen oder in der DDR kritisieren und zur Folter in der Türkei schweigen. Ich erinnere an unsere letzte Diskussion. Und natürlich gilt umgekehrt jeweils das gleiche. Denn, verehrte Kollegen, das Bild, das die Welt heute in Sachen Menschenrechte bietet, ist ja alles andere als erfreulich. Man braucht sich nur einmal einen der Menschenrechtsberichte des Europäischen Parlaments anzuschauen, das übrigens seine Aufgabe weltweit auffaßt, im Gegensatz zu der Einseitigkeit, die von Teilen der Union beim Weißbuch gefordert wird.
Wir müssen auch sehen: es ist oft sehr willkürlich, welche Menschenrechtsverletzungen überhaupt ins öffentliche Bewußtsein gehoben werden. Die Massenmorde des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha haben wir alle — wohl wegen unserer gleichzeitigen Verurteilung der vietnamesischen Invasion — viel zu spät und, nachdem wir eingestiegen sind, viel zu leise kritisiert.Müssen wir uns vor Einseitigkeit hüten, so müssen wir andererseits auch differenzieren. Massenmorde sind etwas anderes als unfaire Prozesse. Folter ist etwas anderes als Asylverweigerung. Das Stichwort Asyl mahnt andererseits, auch den Splitter im eigenen Auge nicht zu vergessen. Wir sind in Sachen Asylverfahren wie überhaupt im Bereich des Umgangs mit Ausländern keineswegs über alle Zweifel erhaben. Daher müssen wir in Sachen Menschenrechte — auch darin stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Genscher — unsere eigenen Dinge in Ordnung bringen und dürfen das Eintreten für Menschenrechte in anderen Ländern nie mit Selbstgerechtigkeit verbinden.Das gilt übrigens auch im Ost-West-Verhältnis. Wir haben z. B. in Ottawa zusammen mit unseren Verbündeten, mit den Neutralen und mit vielen nicht-gebundenen Staaten die schwerwiegende Beschränkung der Meinungsfreiheit und der Freizügigkeit in der DDR zu Recht kritisiert. Wir müssen uns aber auch fragen lassen — und müssen uns selber fragen —, ob wir denn etwa bei der Verwirkli-
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Dr. Ehmke
chung der sozialen Gleichberechtigung der Frauen wirklich besser dastehen als die DDR.Man kann gewiß nicht das eine gegen das andere aufrechnen, Herr Kollege Klein; aber man muß beide Fragen ernst nehmen. Ich freue mich — wenn ich hier mal etwas Werbung betreiben darf —, daß die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer DDR-Sammlung „Realitäten und Argumente" gerade einen interessanten Vergleich über die Verwirklichung von Grundrechten in den beiden deutschen Staaten herausgebracht hat. Ich empfehle dieses Heft Ihrer Aufmerksamkeit.
Damit komme ich zum KSZE-Prozeß und zur Bedeutung der Menschenrechte, Korb III der Schlußakte, in diesem Prozeß. Ich teile Ihre Meinung, Herr Bundesaußenminister, daß die Konferenz von Ottawa über die Verwirklichung der Menschenrechte in Europa nicht nur nützlich, sondern ein Erfolg war, trotz der teilweise heftigen Kontroversen zwischen Ost und West und trotz des Fehlens eines Konsenses und damit eines gemeinsamen Schlußdokuments. Es kann auch nicht überraschen, daß der Osten auch diesmal wieder bemüht war, die Kollektivrechte auf Frieden, wirtschaftliche Sicherheit und soziale Gleichheit in den Vordergrund zu rücken, während für den Westen naturgemäß die individuellen Rechte, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Ausreisefreiheit, im Vordergrund stehen.Die Menschenrechtsdebatte im Rahmen des KSZE-Prozesses ist zugleich ein Dialog zwischen zwei Gesellschaftssystemen und damit zwischen unterschiedlichen Rangordnungen von Werten. Sie ist schon darum eminent politisch. Will man die Möglichkeiten der KSZE-Schlußakte insoweit richtig einschätzen, muß man sich zunächst über die Natur dieser Schlußakte klarsein. Abgesehen davon, daß viele ihrer Bestimmungen in Form von Absichtserklärungen verfaßt sind, ist diese Schlußakte natürlich kein Vollstreckungstitel, aus dem man im Namen der Menschenrechte die Abschaffung der kommunistischen Gesellschaftssysteme im Ostblock einklagen und durchsetzen könnte. Der Vertreter der Bundesregierung in Ottawa, Botschafter Eikhoff, hat zu Recht erklärt, die Bundesregierung wünsche nicht, „daß die Menschenrechte zu einem Streitthema zwischen den Systemen verkümmern". Die Vorschläge des Westens verlangten „nichts, was die innere Ordnung anderer Staaten in Frage stellen könnte".Durch die lange Experten-Be- und -Verhandlung der Schlußakte ist diese nicht nur etwas lang, sondern auch etwas perfektionistisch geraten. Willy Brandt hat oft auf diesen Umstand hingewiesen. Für den oberflächlichen Leser mag so der Eindruck entstehen, daß die Übereinstimmung viel weiter ging, als das in Wirklichkeit der Fall war, so als ob man sich um so einiger sei, je mehr Worte und Begriffe man in einem Text unterbringe.Helmut Schmidt hat demgegenüber schon bei der Unterzeichnung der Schlußakte in Helsinki vor zehn Jahren darauf hingewiesen, daß Übereinstimmung — ich zitiere — „nur zu einem relativ kleinen gemeinsamen Nenner" erreicht werden konnte und daß es nun darum ginge, diesen Anfang in praktischen Schritten auszubauen.Das entsprang nicht einem mangelnden Respekt vor den Menschenrechten, für die die Sozialdemokratie oft — etwa gegenüber dem menschenverachtenden Nazi-Regime — unter Einsatz des Lebens ihrer Mitglieder, eingetreten ist. Diese Vorsicht entsprang vielmehr der politischen Erkenntnis, daß die Schlußakte und ihr Korb III nie ein Mittel sein können, die Gesellschaftsordnung der Länder des Ostblocks abzuschaffen.
Wohl aber wollten wir im Vertrauen auf die Kraft der Menschenrechte gerade in der europäischen Tradition mit der Schlußakte einen Dialog und einen Prozeß in Gang setzen, der helfen soll, die Teilung Europas und Deutschlands zu überwinden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ?
Nein, ich möchte meine Ausführungen zu Ende führen.
Helsinki, Belgrad, Madrid und Ottawa waren Stationen dieses Weges. Wir hatten nicht, Herr Kollege Huyn, die kleinmütige Angst der Konservativen, wir könnten uns dabei am Bindestrich-Dogmatismus des Marxismus-Leninismus anstecken.
Glücklicherweise gibt es Konservative — ich will Abwesende hier nicht namentlich in Anspruch nehmen —, die heute ganz freimütig zugeben, daß sie sich in der Einschätzung dieser Entwicklung geirrt, daß wir recht behalten haben.
Bei allem, was zu tun bleibt — die Ottawa-Konferenz hat das nochmals gezeigt —, müssen wir auch sehen: Wir haben in diesem KSZE-Prozeß mehr erreicht, als wir am Anfang selber zu hoffen gewagt haben. Der Eiserne Vorhang des Kalten Krieges existiert nicht mehr; interessanterweise wird auch das Wort nicht mehr gebraucht.
Menschliche Erleichterungen, Informationsaustausch, Jugendaustausch, Kulturaustausch, Städtepartnerschaften, Handel gibt es zwar heute immer noch in sehr unzureichender Weise, aber doch in einem Maße, das vor 15 Jahren niemand für möglich gehalten hat.
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Dr. Ehmke
Die Dissidentenbewegungen zeigen, daß Meinungsfreiheit zunimmt, und die ungarischen Wahlergebnisse der letzten Woche zeigen, daß sich selbst insoweit etwas bewegt.
Das ist nur möglich, verehrte Kollegen, kraft des Dialogs, der in Europa nach Entspannung und Entkrampfung eingesetzt hat und in dem wir — ich wiederhole es — auch hinsichtlich der an uns gerichteten Fragen offen sein müssen. Im Grunde muß der KSZE-Dialog nach beiden Seiten ein Dialog des Friedens und der Reform in Europa sein. Dieser Prozeß ist schwierig. Aber er geht in die richtige Richtung.Unsere Politik mißbraucht die Menschenrechte daher nicht als Banner für Kreuzzüge gegen Andersdenkende und andere Gesellschaftssysteme. Wir wollen, soweit es in unserer Macht steht, helfen. Hier trifft das Wort „Verantwortungsethik" den eigentlichen Kern. Wir wollen helfen, daß Menschenwürde und Menschenrechte praktisch werden können. Das gilt für die KSZE-Politik im allgemeinen wie für das Eintreten und Helfen im Einzelfall, von dem der Außenminister gesprochen hat und auf dem wenige über mehr Erfahrung verfügen als die führenden Sozialdemokraten Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Willy Brandt.
Wenn ich jetzt zu den Unionsparteien komme, die seinerzeit — übrigens als einzige Parteien in Europa neben den albanischen Kommunisten und den italienischen Neofaschisten — Helsinki abgelehnt haben,
so muß ich feststellen: Sie haben damals von Helsinki nichts gehalten, berufen sich jetzt aber darauf. Wir freuen uns darüber, weil wir uns über jeden freuen, der seine Meinung zum Positiven geändert hat.
Aber wir verurteilen leidenschaftlich jene, die meinen, nun die Schlußakte als Hebel zur Abschaffung der Gesellschaftssysteme im Ostblock einklagen oder einsetzen zu können. Herr Hupka, wir verurteilen Ihr verantwortungsloses Geschwätz über die Destabilisierung
der osteuropäischen Staaten und Gesellschaften.
Wir freuen uns allerdings auch — das schließt Mitglieder Ihrer Fraktion und den Bundesaußenminister ein —, daß dieser Provokation, die doch auch von den Menschen in Osteuropa nur als zynischempfunden werden kann, auch aus den Reihen der Koalition entgegengetreten worden ist.
Daß auch der Herr Bundeskanzler sich noch zu einem klaren Wort in dieser Sache aufrafft, ist wohl nicht zu erwarten.
In Wahrheit, meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, geht es im KSZE-Prozeß um die Frage, ob wir die Sowjetunion davon überzeugen können, daß sich gesellschaftliche Stabilität in ihrem sicherheitspolitischen Glacis in Osteuropa auf die Dauer nicht durch Panzer, sondern nur durch gesellschaftspolitische Reformen gewinnen läßt.
Damit komme ich zum Schluß zu der schwierigsten Frage der KSZE-Politik. Diese Frage ist gerade für Sozialdemokraten unbequem. Aber wir dürfen uns vor ihr nicht drücken. Es ist eine Frage, über die ich oft mit dem Kollegen Mertes gesprochen habe, der uns gerade in der Debatte über Menschenrechte im Ost-West-Verhältnis fehlen wird.Unsere KSZE-Politik ist von der Hoffnung auf und von dem Bemühen um graduelle Reformen getragen. Sie ist eine Politik der kleinen Schritte. Unseren Kritikern auf dem rechten Flügel der Union halten wir daher entgegen, daß kleine Schritte besser sind als große Worte.
Aber wie ist das mit den Menschen in Osteuropa? Haben wir ein Recht, ihre Ungeduld zu kritisieren oder sie moralisch zu belehren, wenn Sie sagen, daß Freiheit unteilbar sei, und wenn sie für sich selbst und nicht erst für ihre Kinder oder ihre Enkel die Verwirklichung der Menschenrechte verlangen? Dieses Recht haben wir nicht. Wir können mit ihnen in diesen Fragen nicht von einem eingebildeten Sockel einer höheren oder besseren Moral diskutieren.
Aber wir können in aller Demut, die uns übrigens insoweit gerade gegenüber unseren Landsleuten in der DDR besonders gut ansteht, darauf hinweisen — ähnlich wie es etwa die katholische Kirche gegenüber der Untergrundbewegung in Polen tut —, daß wir, gerade um sie nicht, sei es propagandistisch oder sei es praktisch, zu instrumentalisieren, unsere Politik an ihrer voraussichtlichen Wirkung ausrichten müssen. Wir haben nicht hehre Worte oder Parolen, wir haben praktische Ergebnisse zu verantworten. Diese Spannung ist unaufhebbar. Wir müssen uns ihr aber immer bewußt sein, gerade im Gespräch mit den Menschen in Osteuropa. Unsere Menschenrechtspolitik braucht nicht nur moralische Maßstäbe, sie braucht auch politisches Augen-
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Dr. Ehmke
maß. Sie muß frei sein von Selbstgerechtigkeit und von Überheblichkeit.
Sie muß versuchen, zu helfen, nicht zu richten.
Das Wort hat der Abgeordnete Reddemann.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Wenn jemand hier steht und verlangt, daß Politik frei von Selbstgerechtigkeit sein soll, und die ganze Zeit seiner Rede dazu benutzt, um seine eigene Selbstgerechtigkeit vorzuführen, kann man darüber nur den Kopf schütteln.
Ich habe nicht die Absicht, auf Herrn Ehmke einzugehen. Es lohnt wieder einmal nicht, wie wir das früher schon so oft im Auswärtigen Ausschuß erlebt haben. Ich stelle nur eines fest, Herr Kollege Ehmke: Wenn ausgerechnet Sie, der Sie dem Bundesaußenminister in den letzten Jahren Ihrer Koalition mehr als einmal in den Rücken gefallen sind, sich nun plötzlich zur Stabilisierung dieses selben Bundesaußenministers erklären,
dann wirkt dies ungefähr so glaubwürdig wie ein Zwischenruf Ihres Fraktionsvorsitzenden Vogel.
Meine Damen, meine Herren, der Deutsche Bundestag hat sich am 25. Juli 1975 zum erstenmal mit der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa befaßt. Damals wie heute hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Entwicklung der Menschenrechte in Europa gelegt. Für die seinerzeitige Regierung sagte er — und ich möchte ihn wörtlich zitieren —:An den praktischen Auswirkungen gerade dieser Aussagen wird die Bundesregierung den Wert der Konferenzergebnisse messen ... sie wird ... den Willen jedes Teilnehmerstaates zu echter Entspannung danach beurteilen, wie er diese Zusagen erfüllt. Konzentrieren wir uns also— so Hans-Dietrich Genscher am 25. Juli 1975 —nach der Konferenz auf die ... Durchführung der Konferenzbeschlüsse gerade im Bereich des Korbes III.Meine Damen, meine Herren, ich begrüße es, daß die Regierung Kohl die Menschenrechtskonferenz der KSZE-Staaten in Ottawa zum Anlaß genommen hat, um vor dem Deutschen Bundestag eine Art Zwischenbilanz über die Entwicklung der Menschenrechte zehn Jahre nach Helsinki vorzulegen.Nach der Unterzeichnung der Schlußakte damals — und das läßt sich rückblickend sicher sagen — fühlten viele Menschen neue Hoffnungen. Skeptiker, zu denen auch ich gehört habe, waren nicht sehr gefragt. Selbst in den Staaten des Warschauer Pakts, wo Menschenrechtsforderungen von Amts wegen und von der Ideologie her wie Verbrechen verfolgt werden, kamen Gruppen aufrechter Frauen und Männer zusammen, um die Rechte, die ihnen die KSZE-Akte versprach, auch zu erproben. Wir kennen, verehrter schönfärbender Herr Kollege Ehmke, das Schicksal der meisten dieser Dissidenten. Das polnische Militärregime hat zur Zeit der Konferenz von Ottawa eigens drei der führenden Verfechter der Menschenrechtsbewegung und der KSZE-Schlußakte zu mehrjähriger Gefängnisstrafe aburteilen lassen.
— Das kann man von ihm auch kaum erwarten. —Inzwischen kennen wir auch die Haltung der Regierungen der Staaten des Warschauer Pakts auf der Ottawa-Konferenz. Die Delegierten der kommunistischen Regierungen lehnten sogar den Vorschlag ab, Menschen nicht schon deswegen inhaftieren zu lassen, weil sie sich auf die Menschenrechtsaussagen der Schlußakte von Helsinki beriefen. Vor zehn Jahren, meine Damen, meine Herren, schrieb der Leiter der deutschen Delegation auf der Genfer Vorkonferenz, Botschafter Klaus Blech, im „Deutschlandarchiv" hoffnungsvoll, nun sei es endlich erlaubt, die Teilnehmerstaaten der KSZE unter Berufung auf deren Schlußakte zu fragen, ob ihren Menschen und Völkern die Chance der Menschenrechte tatsächlich gegeben worden sei.Auf der Konferenz von Ottawa, also vor wenigen Wochen, legten nun vier Staaten des Warschauer Pakts ein Arbeitspapier vor, mit dessen Hilfe sie eine wirkliche Diskussion über die Menschenrechte verhindern wollten. Für sie war die ernsthafte Behandlung der Rechte der Menschen ein — ich zitiere wörtlich —:Instrument zur Schürung von Feindseligkeiten und Haß zwischen den Völkern und zum Anheizen internationaler Spannungen oder ein Mittel zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.Das, Herr Kollege Ehmke, war die Realität von Ottawa.
1975 keimte in vielen die Hoffnung auf eine Entkrampfung der Lage in Deutschland, auf mehr Menschlichkeit in der DDR, auf größere Freizügigkeit, auf eine durchlässig gemachte Zonengrenze. Aber — dies muß ich leider hinzufügen — bis heute gilt — trotz aller Ereignisse der letzten Jahre, trotz aller Erfolge in Menschenrechtsfragen in den letzten 24 Monaten — weiter die Erklärung, die Politbüromitglied Hermann Axen unmittelbar nach der Konferenz von Helsinki vor dem 15. Plenum des Zentralkomitees der SED abgab. Ich zitiere wörtlich:
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ReddemannDie Ergebnisse der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bestätigen eindringlich, daß die Politik der Abgrenzung von der kapitalistischen BRD die notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Verwirklichung der Politik der Koexistenz darstellt. Die positiven Ergebnisse von Helsinki schwächen den unversöhnlichen Klassenkampf zwischen Sozialismus und Imperialismus keineswegs ab.
Es handelt sich bei diesem unversöhnlichen Klassenkämpfer, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, übrigens um denselben Hermann Axen, der gutgläubig gebliebene ursprüngliche Sozialdemokraten in den späten 40er Jahren aus den Leitungsgremien der FDJ ausmerzte und der derzeit mit einigen schon mehr als gutgläubigen Politikern aus der augenblicklichen SPD-Führung die sozialistische Einheitsfront gegen die westlichen Chemiewaffen schmiedet.
— Verehrter, wenn sie das als flegelhafte Verleumdung bezeichnen, dann kann ich Sie nur höflich bitten, daß Sie wenigstens das noch lesen, was Ihre eigene Partei verkündet. Sie brauchen mir j a nicht zu glauben. —Es läßt sich leider nicht bestreiten, meine Damen, meine Herren: Auch im Deutschen Bundestag gibt es inzwischen Mitglieder, denen bei der Verletzung der Menschenrechte durch kommunistische Regierungen nur ein beredtes Schweigen einfällt. Sie sind dafür um so lauter, wenn sie unsere freie Gesellschaft denunzieren können, sie achte die Menschenrechte nicht.
Unser Kurzzeit-Kollege Hans-Christian Ströbele lieferte, sozusagen auf die Stunde passend, heute ein typisches Beispiel. Er will dem Deutschen Bundestag eine Entschließung zumuten, in der das angestrebte Vermummungsverbot für gewalttätige Auch-Demonstranten als eine — ich zitiere — „innenpolitische Kriegserklärung an die inner- und außerparlamentarische Opposition" bezeichnet wird, in der er unterstellt, der Gesetzgeber wolle Polizei und Demonstranten aufeinanderhetzen, Richter zu Politurteilen zwingen und ein Grundrecht einschränken. Herr Ströbele — ich sehe ihn zwar nicht, aber trotzdem sage ich ihm offen —, wir nehmen solche sterilen Aufgeregtheiten als spätpubertäre Auslassungen gelassen hin. Wären Sie aber mit einem Papier, das auch nur einen Bruchteil Ihrer Behauptungen auf die SED-Regierung münzte, in der DDR aufgetreten, so hätten Sie nicht mit einem Sitz im Hohen Haus, sondern mit einem Platz im Zuchthaus zu rechnen. Fünfeinhalb Jahre Haftanstalt sind schon in Bagatellfällen dieser Art die Regel.Ich weiß, meine Damen, meine Herren, es gibt einige, die das nicht gerne hören wollen. Sie hören uns die wir als Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen mit der Realität im gespaltenen Deutschland buchstäblich täglich konfrontiert werden, nur ungern zu. Es stört ihre Friedensbetrachtung, wobei ich zugebe, daß ich durchaus keine Absicht habe, zu stören. Ich möchte genauso im Frieden leben wie Sie.Aber was soll ich der Frau sagen, deren Ehemann nach einem unbedachten Wort von einem Bezirksgericht der DDR in langjährige Haft geschickt wird, wobei die Frau genau weiß, daß die miserable ärztliche Behandlung den schwer Nierenkranken die Haftzeit nicht überstehen läßt? Was nützt der jungen Frau, die nach einem unverhofft genehmigten Verwandtenbesuch spontan im Westen bleibt, ein Friedenstrostwort, wenn sie erfährt, daß man ihre Kinder nicht nur nicht zu ihr hinausläßt, sondern sie den Großeltern abnimmt und in ein staatliches Heim steckt? Kann ich einem Übergesiedelten, dem die DDR-Behörden den Besuch beim todkranken Vater verweigern, sagen, er solle um des lieben Weltfriedens willen nicht öffentlich darüber sprechen? Meine Damen, meine Herren, ich glaube, das können wir überhaupt nicht tun.Wir wollen das Schicksal dieser Menschen nicht zur ideologischen Waffe verkümmern lassen, aber wir müssen auf das Schicksal der Opfer hinweisen, wenn wir die Lage nicht einäugig und wertfrei betrachten, wenn wir uns nicht, wie es Kurt Schumacher einmal sagte, durch Schweigen auf die Seite der Schinder statt der Opfer stellen wollen.
Für uns gilt weiter das Wort, das unser so plötzlich gestorbene Kollege Alois Mertes von diesem Platz aus sagte:Innerdeutsche Entkrampfung und Entspannung, echter Friede entstehen erst dann, wenn die international geltenden Menschenrechtsverpflichtungen in ganz Deutschland strikt eingehalten und angewendet werden. Der aktive politische Einsatz der Bundesrepublik Deutschland für die Menschenrechte beruht nach geltendem Völkerrecht nicht nur auf einem moralen Anspruch, sondern auf einer vertraglichen Verpflichtung.Meine Damen, meine Herren, ich glaube, dies ist eine Verpflichtung für uns alle.
Das Wort hat der Abgeordnete Horacek.
Wir sprechen heute, beinahe zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Schlußakte über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, über eine Nachfolgekonferenz, die in Ottawa stattfand. Wir haben sie begrüßt, und wir begrüßen auch diese Diskussion, weil wir eine kritische parlamentarische Begleitung des KSZE-Prozesses und eine öffentliche Debatte über die Frage der Menschenrechte für eine wichtige Aufgabe jedes Parlaments halten.Im Februar dieses Jahres habe ich zusammen mit anderen GRÜNEN an einer Konferenz von Mitgliedern der westeuropäischen Friedensbewegung
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Horacekund der osteuropäischen Bürgerrechtsbewegung in West-Berlin teilgenommen mit dem Thema „40 Jahre nach Jalta". Auf dieser Konferenz waren es vor allem Freunde der „Charta '77" aus der Tschechoslowakei, die uns an die große Bedeutung der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte durch nahezu alle Staaten Europas erinnerten. Und die Tatsache, daß die Regierung der UdSSR, der CSSR, Polens, der DDR usw. diese Schlußakte unterzeichneten, ermutigte die demokratische Opposition in diesen Ländern, von ihren Regierungen die Einhaltung der von ihnen unterschriebenen Deklarationen gerade im Bereich der Menschenrechte zu fordern.Für die Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung, die sich damals in Westeuropa entwickelte, hatte die Schlußakte von Helsinki ungleich geringere Bedeutung. Zu schnell wurde deutlich, daß die Vereinbarungen über vertrauensbildende Maßnahmen den realen Prozeß der Aufrüstung nicht stoppen konnten. Zu deutlich traten die nackten wirtschaftlichen Interessen hervor, die die Herrschenden beider Seiten über alle ideologischen Grenzen hinweg vereinten. Die Wirtschaftskapitäne Beitz und Amerongen sind in Osteuropa stets willkommen, während Linke und jetzt auch GRÜNE Einreiseverbote erteilt bekommen. Und bis heute habe ich noch nie davon gehört, daß jemand forderte, Herr Amerongen oder auch Herr Bangemann sollten ihre Wirtschaftsgespräche in Polen mit einem Besuch bei Walesa verbinden. Deshalb ist einiges von dem, was jetzt von dieser Seite gekommen ist, für mich ein bißchen unglaubwürdig.Zu sichtbar war und ist, daß die Fragen des Verhältnisses zur Dritten Welt in der KSZE-Schlußakte ausgeklammert waren, z. B. die wirtschaftlichen und militärischen Einmischungen und Rüstungsexporte aus Staaten Ost- wie Westeuropas. Wir wissen, wieviel die Sowjetunion nach Afrika liefert. Wir wissen aber auch, wohin wir in der Dritten Welt liefern. Diese Rüstungsexporte wurden weder als die vertrauensbildenden Maßnahmen gefährdend noch die Menschenrechtsklauseln oder die Sicherheit verletzend angesehen.In Osteuropa singt man kräftig „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht"; wer das aber zu genau nimmt, wird schikaniert, eingesperrt, manchmal auch umgebracht. Wegen diesen bis heute wirkenden Tatsachen sahen und sehen wir keinen Anlaß für eine große KSZE-Euphorie. Wir sind aber trotzdem der Auffassung, daß wir von den Erfahrungen der demokratischen Opposition in Osteuropa lernen sollten und daß auch die Basisbewegungen in Westeuropa den KSZE-Prozeß positiv einschätzen sollten. Der Wunsch, miteinander zu reden, Vereinbarungen zu treffen, die Festlegung zur Achtung der Menschenrechte, der Wille zu blockübergreifenden vertrauensbildenden Maßnahmen, der Verzicht auf jede gewaltsame Änderung von Grenzen waren und sind positiv und geben den Menschen bessere Möglichkeiten, die Einhaltung dieser Erklärungen einzufordern.Wir meinen deshalb auch, daß — da habe ich mich gewundert — die CDU/CSU es eigentlich erklären sollte, warum sie in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 25. Juli 1975 dieser Schlußakte nicht zugestimmt hat.
— Ich habe es nachgelesen. Ich habe gesehen, daß Sie alle mit Nein gestimmt haben.
— Ja, ich lese die Protokolle. Ich habe sie inzwischen lesen gelernt. Entschuldigen Sie, Kollege.
Wir betrachten den KSZE-Prozeß dennoch positiv. Wir bedauern, daß es in Ottawa nicht zu einer gemeinsamen Abschlußerklärung, daß es nicht zu einer neuen Bekräftigung des Willens zur Achtung der Menschenrechte kam, obwohl, wie wir erfahren haben, die bundesrepublikanische Delegation alles in ihren Kräften Stehende getan hat. Wir möchten uns dafür bedanken.Welche Schlußfolgerungen ziehen wir aus dem Scheitern der Konferenz? Als wir „Die Grünen" gegründet haben — ich war einer derjenigen, die das Programm mit geschrieben haben haben —, haben wir die Grund- und Menschenrechte in allen ihren ökologischen, ökonomischen, kulturellen, politischen, religiösen und anderen Dimensionen als in Ost und West unteilbar erachtet. Deshalb unterstützen wir auch Freiheits- und Menschenrechtsbewegungen sowie Bürgerinitiativen, die für die Verwirklichung der Menschenrechte eintreten. Das ist seit unserer Gründung für uns grundlegend geblieben. In dem Sinne treten wir auch für die Erweiterung dieser Rechte ein, die zu oft nur für die Starken, Gesunden, Weißen und auch Männer gedacht sind, zu wenig aber für die Farbigen, die Frauen, die Behinderten, die zu Schwachen.
Wir wissen, daß in den Systemen sowjetischen Typs die individuellen politischen Menschenrechte, die Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit, Ausreisefreiheit, Religionsfreiheit, Freizügigkeit, rechtsstaatliche Garantien ständig und willkürlich trotz aller Deklarationen außer Kraft gesetzt und mißachtet werden. Für uns sind die Erklärungen und Positionen von amnesty international zu unmenschlicher ungerechter Inhaftierung, Folter und Todesstrafe ein Fundament unserer Politik. Wir werden niemals aufhören, einen Staat zu kritisieren, in dem die Arbeit von amnesty verboten ist und in dem Menschen wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte verfolgt werden. Ich erinnere daran, daß im letzten Jahresbericht von amnesty international über 100 Länder — über 100 Länder!— in Ost, West und in der Dritten Welt genannt werden, die die Menschenrechte verletzten.
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HoracekFür uns ist aber auch klar, daß die Freiheit einzelner Individuen vielleicht von außen geschenkt werden kann, aber unter den Bedingungen eines Atomkrieges niemals einem ganzen Volk. Deswegen steht für uns die Solidarität mit den Menschen im Mittelpunkt, die in der Sowjetunion und in Mittel-Osteuropa für die Menschenrechte eintreten und deshalb verfolgt werden. Dies gilt natürlich nicht nur für einzelne Prominente wie Andrej Sacharow oder seine Frau Helena Bonner, sondern auch für so unbekannte Menschen wie z. B. Tatjana Ossipova von der Friedensverständigungsgruppe, die gerade vor kurzem noch zwei Jahre Verbannung zusätzlich zu ihren Lagerjahren bekommen hat, oder für Adam Michnik, Bogdan Lis, Wladislaw Frasyniok in Polen oder für Menschen wie Batek und Wolf in der Tschechoslowakei.Ich möchte noch mit einigen Worten kurz an einen besonders auch für mich schwierigen und sehr tragischen Fall in der Tschechoslowakei erinnern. Wir können pauschal an alle denken, die in Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und anderswo leiden. An diesem Beispiel zeigt sich für mich, wie tragisch Menschenrechtsverletzungen manchmal sind und daß wir alles dafür tun müssen, um da zu helfen. Es geht um Jaroslav Javorský, der 1977, nachdem er hierher zu seinen Eltern kam, dann mit einem falschen Paß bzw. zwei falschen Pässen nach Bulgarien ging, um auch seine Freundin herauszubekommen. Er wurde dabei verhaftet und zu 13 Jahren Gefängnis — angeblich wegen Spionage — verurteilt. Seine Freundin war nach ein paar Monaten frei. Das besonders Tragische daran ist, daß er inzwischen acht Jahre im Gefängnis ist — fünf Jahre hat er noch vor sich —, aber seine Freundin inzwischen schon zwei Jahre in Schweden verheiratet ist und inzwischen auch in die Tschechoslowakei zurückreisen kann. Das ist eine Situation, die für ihn im Gefängnis, da er das weiß und damit auch gepiesackt wird — in dem Sinn: Du hier und deine ehemalige Freundin da —, und für die Eltern hier besonders schwierig ist. Ich bitte alle hier im Bundestag vertretenen Parteien, aber auch alle gesellschaftlichen Gruppen und die Bundesregierung, alles mögliche dafür zu tun, um diesen Jaroslav Javorský freizubekommen.
Wir haben gesehen, daß die Vertreter der osteuropäischen Staaten in Ottawa den Verweis auf die kollektiven sozialen Rechte gebracht haben, um gegen die westlichen Länder zu argumentieren, und daß oft in ihren Ländern selbst das Recht auf Arbeit in einen gewissen Arbeitszwang verkehrt wird. Von der Verwirklichung eines angemessenen Lebensstandards, wie er oft gefordert wurde, ist, denke ich, für die Mehrheit der Menschen in Osteuropa nicht so sehr zu sprechen.Ich bin auch der Meinung, daß sich der Gegensatz zwischen Ost und West, in dem Ost mit Totalität und böse und West mit demokratisch gleichgesetzt wird, so nicht aufrechterhalten läßt. Ich sehe zum Beispiel, wie Teile auch dieses Hauses sehr einäugig argumentieren. Es werden die Polen erwähnt, es wird aber nicht die Türkei erwähnt. Es werden dieMinderheitsrechtsverletzungen in Bulgarien erwähnt, es werden aber nicht die Kurden in der Türkei erwähnt. Das höre ich nicht.
— Nein. Wir müssen in diesen Fragen mit beiden Augen genau und klar sehen, wo die Verletzungen der Menschenrechte stattfinden.
Deshalb sind wir gegen eine Einäugigkeit in der Vertretung der Menschenrechte. Eine Anerkennung der kollektiven sozialen Rechte erachten wir als sehr wichtig. Denn z. B. die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist für uns auch eine tiefe Verletzung der Menschenwürde und der Menschenrechte jedes Arbeitslosen.Ich möchte am Ende nochmals die ganze Problematik der Konferenzen ansprechen. Bei den KSZE-Konferenzen begegnen sich Vertreter von Staaten. Das halten wir für wichtig, aber nicht ausreichend. Wenn die Frage der Menschenrechte nur als eine Angelegenheit von Diplomaten betrachtet wird, dann führt das zu Entpolitisierung und Desinformation. Der Wunsch nach Solidarität und nach Anteilnahme muß gefördert werden. Deshalb sollen die Menschenrechte nicht nur hinter verschlossenen Türen durch Freikauf oder Austausch und diskretes Vorgehen behandelt werden. Auf der anderen Seite halten wir auch nichts von Propagandageschrei, indem die Verletzungen der Menschenrechte im Ostblock z. B. die Notwendigkeit weiterer Aufrüstung beweisen sollen. Die Alternative zur verteufelnden Propaganda darf aber nicht das Stillschweigen sein.Deshalb setzen wir uns dafür ein, die Frage der Verteidigung und der Erweiterung der Menschenrechte zum Anliegen der ganzen Gesellschaft zu machen. Wir begrüßen es, wenn viele gesellschaftliche Gruppen an diesem Prozeß teilnehmen und unterstützen die Auffassung, daß seit der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 die Menschenrechte internationalisiert worden sind. Keiner der Staaten, die diese Erklärung unterzeichnet haben, kann sich darauf zurückziehen, daß die Forderung nach Achtung der Menschenrechte eine Einmischung in seine inneren Angelegenheiten sei.
Über solche Erklärungen und den dadurch erreichten Grad der Allgemeingültigkeit hinaus gehen wir davon aus, daß Politik der Betroffenheit Einmischung bedeutet, Einmischung in die eigenen Angelegenheiten, das Recht auf Frieden, das Recht auf Leben, auf Menschenwürde und Menschenrechte weltweit. Das ist die Position der GRÜNEN.Wir sind der festen Überzeugung, daß eine Gesellschaft, die bewußt und solidarisch die Verteidigung und Erweiterung der Menschenrechte als ihr eigenes Anliegen betrachtet, hundertmal widerstandsfähiger gegen Bedrohungen und Propagandaoffensiven, durch wen auch immer ist, als es jede Statio-
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Horaceknierung neuer Raketen bewirken könnte. Deshalb unterstützen wir den KSZE-Prozeß und auch die Aneignung der KSZE-Themen durch die ganze Gesellschaft. Wir möchten in diesem Sinne auch initiativ werden anläßlich der nächsten KSZE-Konferenz zu Fragen der Kultur im Herbst in Budapest. Dort schlagen wir vor, begleitende Meetings von Künstlern aus Ost und West zu machen, um den Prozeß der Wiederaneignung einer gesamteuropäischen Dimension von Kultur zu fördern.Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liest man die Überschriften bzw. die Kommentare einiger Zeitungen, die sich mit der Ottawa-Konferenz beschäftigen — es haben sich die Medien bedauerlicherweise wenig mit dieser Konferenz beschäftigt, viel zu wenige; wir wünschen uns, daß unsere Medien auch solche Fragen etwas breiter in der Öffentlichkeit darstellen —, dann erfährt man in der „FAZ" „Menschenrechte kleingeschrieben", in der „Neuen Zürcher Zeitung" „Enttäuschende KSZE-Konferenz in Ottawa". Ich glaube, wir alle teilen auch etwas die Enttäuschung, daß es eben kein Schlußkommuniqué gegeben hat, und wir haben die Sorge, die auch die „Neue Zürcher" zum Ausdruck bringt, daß das alles kein gutes Omen für die nächste Expertenkonferenz im Frühjahr 1986 in Bern sei.Aber der Bundesaußenminister hat deutlich gemacht — und ich darf das wiederholen —, daß es doch einige Punkte gibt, die uns nicht so pessimistisch stimmen sollten; denn wenn zum allerersten Male Vertreter von 35 Teilnehmerstaaten der KSZE sich sechs Wochen lang über Fragen der Menschenrechte auseinandersetzen, wenn es keinen Abbruch dieser Konferenz gibt, ja, wenn es sogar möglich ist, daß man auf dieser Konferenz am Ende Einzelfälle darstellen kann, ist das, so glaube ich, ein Fortschritt, ist das ein Prozeß, den wir fördern sollten.
Meine Damen und Herren, ich glaube auch, daß die Delegation des Deutschen Bundestages, die dort teilgenommen hat, sehr dazu beigetragen hat, diesen Prozeß zu befördern, und ich bin sehr froh darüber, daß sich einzelne Kollegen — Herr Horacek — dort auch besonderer Fälle annehmen konnten und sie dort direkt vortragen konnten.Wir — die Bundesregierung und, wie ich glaube, das ganze Haus — sind entschlossen, diesen Prozeß zu fördern und die Staaten des Warschauer Paktes immer wieder daran zu erinnern, daß sie sich in der Schlußakte von Helsinki ganz klar bereit erklärt haben, über diesen für uns so wichtigen Bereich zu diskutieren. Insofern hoffe ich, daß man in Bern im nächsten Jahr vielleicht einen Schritt weiterkommt und daß bei der nächsten KSZE-Folgekonferenz inWien im Herbst 1986 dieses Thema wieder eine Rolle spielen wird.Meine Damen und Herren, es war für mich interessant, den Dissens zwischen Ost und West in bezug auf diese kollektive Dimension dargestellt zu sehen, die der Osten den Menschenrechten nun neuerdings beimißt, was ich natürlich ein bißchen als Alibi, das von unseren Forderungen ablenken soll, ansehen muß. Aber wenn da das Recht auf Leben, auf Arbeit und auf Erziehung gefordert wird, bitte ich doch einmal, auch unsere Verfassungen zu studieren und die Grundrechte durchzulesen; dann wird man zu dem Ergebnis kommen, daß trotz gelegentlicher wirtschaftlicher Rückschläge diese Grundrechte bei uns garantiert sind. Ich glaube, das muß man auch wieder einmal in Erinnerung rufen.
Wir werden natürlich nicht ablassen, individuelle Rechte einzuklagen. Wir betrachten das nicht als Einmischung in innere Angelegenheiten — das haben wir nie getan —, sondern wir drängen auf Vertragserfüllung. Das ist entscheidend!Wichtig ist aber meiner Meinung nach — das kam heute bei Bundesaußenminister Genscher auch deutlich zum Ausdruck —, daß das eben in der Dialogform geschieht, nicht in der Deklarationsform. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Mit großen Deklarationen, mit großen Anklagen, mit Weißbüchern werden wir weniger erreichen, als wenn wir den Dialog fortsetzen, allerdings so, daß wir bei diesem Dialog niemals vergessen, auch diese Menschenrechtsfragen anzusprechen, und zwar auch im Dialog der Parlamentarier bei ihren Reisen in Staaten des Warschauer Paktes. Es gibt ja manche — ich habe das gestern in meiner Rede zu einem anderen Thema schon angedeutet —, die manchmal angesichts der hervorragenden Gastfreundschaft, die man dort erlebt, vergessen, auch solche Fragen anzusprechen. Ich glaube, wir alle sollten das tun; das ist sicher sehr wichtig.Deshalb möchte ich auch dem Kollegen Rühe ein Kompliment machen, denn wenn er sagt, er wolle die Ostpolitik nicht der SPD und der FDP überlassen, betrachte ich das als eine wohltuende Aufforderung an seine eigene Fraktion — sofern diese Aufforderung noch nötig ist —, auch diesen Dialog fortzusetzen, denn keiner von uns hier nimmt für sich in Anspruch, die Ostpolitik für sich gepachtet zu haben.
Wir sind sogar sehr froh, wenn hier jetzt endlich ein gewisser Nachholbedarf gedeckt wird. Ich meine, daß auch von Ihnen viel dazu beigetragen werden kann, in diesem Dialog einen Fortschritt zu erzielen.
Meine Damen und Herren, in diesem Punkt stimme ich mit dem Kollegen Ehmke völlig überein: die UdSSR ist nicht mehr die UdSSR unter Stalin.
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Schäfer
Die Ära Gorbatschow sollte uns vielleicht Hoffnung geben. Wenn man schon in der Sowjetunion einen ökonomischen Vorsprung des Westens beklagt und sagt, man müsse aufholen und müsse sich unserem Standard annähern, sollten wir immer wieder — das wird in den Gesprächen mit dem neuen Chef der KPdSU und mit seinen neuen Gefolgsleuten sehr wichtig sein — darauf hinweisen, daß es einem solchen Staat auch gut ansteht, den Standard der Menschenrechte zu erreichen, den wir bereits erreicht haben. Wir setzen also große Hoffnungen auf Herrn Gorbatschow, die Hoffnung, daß er in diesem Fall etwas weitergeht als mancher seiner Vorgänger.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß es allerdings nicht allzu viel Sinn hat, wenn wir hier möglicherweise noch gewisse Behauptungen aus dem Osten unterstützen, wir wollten mit dieser Menschenrechtspolitik eigentlich den Osten destabilisieren. Das ist nicht unsere Absicht. Unsere Absicht war es immer, den Menschen zu helfen.
Insofern nutzen auch solche Worte nicht allzu viel,
weil Sie wiederum all denen dienen, die Sie propagandistisch gegen uns verwenden und insofern immer wieder irgendeine Sache aus der Tasche ziehen können. Ich finde, die Destabilisierung — weder faktisch noch verbal — führt uns hier nicht weiter.
Meine Damen und Herren, andererseits ist es für mich immer wieder erstaunlich, wie dieser diametrale Widerspruch existiert, wenn man also in den Staaten des Ostblocks den Anspruch erhebt, eine ideologische Überlegenheit zu haben, sich aber gleichzeitig so schwertut, auch einmal für Jugendliche die Möglichkeiten zu eröffnen, über die Ideologien zu streiten. Hier liegt doch eine der größten Schwächen dieses Systems. Ich finde es immer wieder erschreckend, wie wenig auch die DDR begreift, daß eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, daß sie von der Mehrheit besonders ihrer jugendlichen Bevölkerung akzeptiert wird, die ist, daß man diese Jugend auch reisen läßt, ihr die Chance gibt, Städte im Westen zu sehen, aber auch Berge und Meere. Mir hat neulich einmal ein junger Mann bei einer Reise in die DDR gesagt: „Ich möchte endlich einmal nach Spanien trampen." Das sind Dinge, die hier selbstverständlich sind. Aber wenn das alles 40, 50 Jahre lang für jemanden nicht möglich ist, sondern erst im Rentenalter, wenn er sicherlich nicht mehr unbedingt trampen möchte, dann — so glaube ich — sind das alles nur ganz alltägliche Vorkommnisse, die bei der Begegnung in der DDR deutlich machen, wie wenig auf Dauer — bei allen möglichen Fortschritten dieses Landes — innerhalb der Bevölkerung alle diese Fortschritte angesehen werden, solange ihr diese elementaren Grundrechte verweigert werden. Ich glaube, bei allen unserenGesprächen mit der DDR muß das eines der Hauptthemen sein: Gebt der Jugend die Chance, auch einmal aus diesem Land herauszukommen. — Schaffen wir dafür die Voraussetzungen!Meine Damen und Herren, es ist heute auch die Frage der Rußland-Deutschen angeklungen. Ich darf hier noch einmal an eine frühere Rede erinnern, in der ich gesagt habe, es dürfe nicht nur darauf ankommen, daß wir uns bemühen, die Ausreise für diejenigen, die solche Anträge in der Sowjetunion gestellt haben, zu ermöglichen, sondern wir müßten auch darauf achten, daß wir vor Ort in der Sowjetunion die Situation der Menschen verbessern.
Ich glaube, das ist wichtiger, als manchen illusionären Wunsch zu nähren, in das Land zu gehen, wo Milch und Honig fließen, in dem dann aber die Integration so schwerfällt.In diesem Augenblick muß man bei der Frage der Menschenrechte — so glaube ich — natürlich auch darauf hinweisen, daß man bei der Debatte um das Asylrecht und bei der Frage, wie häufig hier Ausländer ausgewiesen werden, auch bei den Behörden der Bundesrepublik voraussetzen sollte, daß sie sich zumindest außenpolitisch ein bißchen kundig machen, wenn sie Palästinenser oder iranische Studenten in ihre jeweiligen Länder — für die Palästinenser gibt es das nicht; da ist es der Libanon — entlassen und sie damit menschenrechtlich in ganz schwierige Situationen bringen.
Auch die Frage des Asylrechts ist eine Frage, die nicht einfach nur jenen überlassen werden kann, die sie statistisch lösen wollen oder die sie aus innenpolitischen Gründen lösen wollen. Hier muß bitte auch anerkannt werden, daß wir nicht menschenrechtliche Probleme hervorrufen sollten.
Meine Damen und Herren, Menschenrechte sind unteilbar. Es ist zu Recht gesagt worden — ich will jetzt nicht wieder alle Länder aufzählen; ich habe das früher schon einmal getan —, daß der, der A sagt, auch B sagen muß. Ich glaube, wir tun gut daran, nicht nur unsere östlichen Partner zu mahnen, sondern auch diejenigen, die sich dem Westen zugehörig betrachten und gelegentlich gern in die Bundesrepublik reisen möchten. Ich erinnere an einen südamerikanischen General, der gern kommen wollte, der seinen Besuch vorläufig aufgeschoben hat. Ich meine, diesem General sollte deutlich gemacht werden, daß es kein gutes Beispiel ist, wenn in seinem Land — wie mir gestern oppositionelle Politiker, liberale Politiker aus Paraguay gesagt haben — die sterblichen Überreste von Oppositionellen nicht einmal in dieses Land zurücküberführt werden dürfen. Meine Damen und Herren, das ist ein Vorgang, der mindestens so schwerwiegt wie
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Schäfer
alles das, was wir bestimmten anderen Ländern vorwerfen.
Hier — so meine ich — werden wir die Gelegenheit dieses Besuchs nutzen und ihn auf solche Dinge hinweisen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort sagen, das vielleicht ein bißchen pathetisch ist, das aber — wie ich glaube — am Ende an die DDR gesagt werden muß, die sich ja immer damit brüstet und eigentlich immer stärker den Anspruch erhebt, das nationale deutsche Kulturerbe besonders gut zu verwalten und sich in der Tradition dieses Erbes zu bewegen. Ich habe neulich bei einem Besuch in Weimar wieder feststellen können, wie schön Goethe- und Schiller-Häuser wieder hergerichtet worden sind. Man muß dann immer wieder erinnern an die Worte, die diese Klassiker gesprochen haben. Das gilt, glaube ich, nicht nur für die DDR. Ich meine, daß man Schillers Satz „Geben Sie Gedankenfreiheit" vielleicht bei der DDR umwandeln sollte, wenn man sich dort schon an das deutsche Erbe so gut erinnert, in: „Geben Sie bald mehr Bewegungsfreiheit." Das wäre auch schon ein großer Beitrag zu einer Verbesserung zwischen den deutschen Staaten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Klose.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Debatten über Menschenrechtsfragen zeigt sich immer wieder das gleiche Bild. Statt uns allein und ausschließlich um die Probleme der Menschen zu kümmern, um die es dabei doch in erster Linie gehen müßte, geraten wir alsbald in einen Aufrechnungsstreit darüber, wer wohl wen an Einseitigkeit übertrifft, so wie wir es jahrelang in der leidigen Extremistendebatte getan haben und noch immer tun: blind nach links, blind nach rechts. Nicht die Sache steht im Vordergrund, sondern häufig die Schuldzuweisung.Meine Damen und Herren, für diese Debatte konnte eigentlich nichts anderes erwartet werden, zumal hier die aus der Sicht der Opposition pikante Besonderheit hinzukommt, daß nicht auszumachen ist, was die Regierung, was vor allem die sie tragenden Parteien mit dieser Debatte erreichen wollen.
Der Bundesaußenminister hat sich über das Treffen in Ottawa in einer Weise geäußert, der wir Sozialdemokraten zustimmen können. Hier ist Kontinuität erkennbar, die mit Kanzlerzitaten zu belegen, dem Außenminister neuerdings offenbar ein Herzensanliegen ist, was ich verstehe. Nur, der Bundesaußenminister ist, wie es scheint, ein einsamer Streiter im Lager der Koalition. Die tägliche Pressemusik machen jedenfalls andere: der KollegeDr. Dregger z. B., der die Kontinuität in der Außenpolitik in Frage stellt; oder der Kollege Reddemann mit seiner Bemerkung, Genscher sei für die CDU/ CSU-Außenpolitik „problematisch" — sein Debattenbeitrag heute hat deutlich gemacht, warum —; der Kollege Dr. Hupka, der eine Politik der moralischen, rechtlichen und politischen Destabilisierung gegenüber Osteuropa fordert; und schließlich eine ganze Gruppe von Koalitionsabgeordneten, die dem Außenminister vorwerfen, die Fortschreibung eines Weißbuches über die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa verhindert zu haben. Der Abgeordnete Graf Huyn und sein Kollege von Habsburg nennen das „skandalös", sprechen von „Verhinderungspolitik", von „Leisetreterei". Es sei zu befürchten — wird der Kollege Dr. Hupka in der Presse zitiert —, daß sich die Appeasement-Politik der 30er Jahre wiederhole.Meine Damen und Herren, was soll man von alledem halten? Geht es der Bundesregierung bzw. der Koalition in dieser Debatte um Perspektiven für die Fortführung des KSZE-Prozesses, um die Intensivierung der Kontakte mit der DDR, um Entspannung und Menschenrechte? Fragen, meine Damen und Herren von der Koalition, die wir Ihnen stellen, so wie sie uns immer wieder von Bürgern und vor allem von Besuchern aus dem Ausland gestellt werden: Wohin steuert die Bundesrepublik außenpolitisch, wer spricht eigentlich für dieses Land?
Meine Damen und Herren, es ist auch aus der Sicht der Opposition nicht angenehm, solche Fragen zu hören. Es ist noch bitterer, sie nicht wirklich beantworten zu können.
Der Bundeskanzler könnte vielleicht Klarheit schaffen, wenn es ihn als Richtliniengröße gäbe, aber es gibt diese Größe nicht, sie ist auf Null geschrumpft.
Meine Damen und Herren, so schlimm das alles ist, noch schlimmer ist es, daß bei diesem Koalitionsspiel wieder einmal die Frage der Menschenrechte zum Prügel gemacht und als Kampfmittel eingesetzt wird, als Kampfmittel im Ost-West-Verhältnis, in der innenpolitischen Debatte und jetzt auch als Kampfmittel in der Koalition.
„Wieder einmal" sage ich; denn das alles ist ja nicht neu und auch nicht auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt.
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KloseVergleichbares hat es bei uns schon früher gegeben: siehe die Artikel der Parteivorsitzenden in der Zeitschrift „Das Parlament" vom 7. Januar 1978. Es findet auch heute statt: bei uns und anderswo, im Westen und Osten, wo immer sich beide Seiten treffen, zuletzt in Ottawa.
— Kein schlechter Platz.
Meine Damen und Herren, ob diese Konferenz in Ottawa ein Erfolg oder ein Mißerfolg gewesen sei, darüber ist in den letzten Tagen viel gesagt und geschrieben worden. Das Urteil ist unsicher. Positiv ist aus meiner Sicht jedenfalls, daß die Sowjetunion sich auf eine Erörterung von Menschenrechtsfällen in ihrem Machtbereich eingelassen hat. Damit hat sich das Recht, die Verwirklichung der Menschenrechte in anderen Teilnehmerstaaten kritisch zu hinterfragen und anzumahnen, durchgesetzt. Das ist wichtig für die Meinungsbildung der Regierenden und der Regierten in allen Teilnehmerstaaten.
Im übrigen muß aber gesehen werden, daß die Menschenrechtsvorstellungen in Ost und West in starkem Maße voneinander abweichen, was sich naturgemäß in den Ergebnissen der Konferenz niederschlagen mußte.Meine Damen und Herren, es ist heute nicht der Zeitpunkt, eine wirklich umfassende Debatte über Menschenrechte zu führen. Die werden wir im September dieses Jahres nach Beantwortung unserer Großen Anfrage nachholen. Für heute geht es mir unter der Überschrift „Einseitigkeit" um einige Hinweise, die vielleicht für das Urteil über die Konferenz in Ottawa wichtig sind. Dabei interessieren mich vor allem die unterschiedlichen Menschenrechtspolitiken der beiden Großmächte.Nehmen wir zunächst die Sowjetunion! Die UdSSR versucht seit Jahren, der Welt ihr eigenes Menschenrechtsverständnis einzureden. Betont werden die kollektiven Menschenrechte — Frieden, Arbeit, Gesundheitssicherung — und die kollektive Dimension der inidividuellen Menschenrechte. So gesehen kann man ohne Übertreibung sagen, daß aus der Sicht der Sowjetunion die Menschenrechte am besten garantiert werden durch die volle Verwirklichung des kommunistischen Systems.Das, meine Damen und Herren, können und werden wir nicht akzeptieren, wenn und solange dieses Menschenrechtsverständnis dazu mißbraucht wird, massive Verstöße gegen die Menschenrechte in der Sowjetunion und anderswo zu vertuschen oder sogar zu rechtfertigen. Es gibt nach allem, was wir wissen, in der Sowjetunion und in fast allen Ländern des Ostblocks in der Tat massive Verstöße gegen die im Dokument von Helsinki definierten Menschenrechte. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf freie Religionsausübung, das Recht auf Freizügigkeit, die Pressefreiheit: alle diese Rechte werden im Osten — unterschiedlich von Land zu Land nach Art und Umfang — verletzt.Dies festzustellen, ist notwendig in einer solchen Debatte; daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, ist selbstverständliche Verpflichtung von Demokraten, die sich ernstlich um Fragen der Menschenrechte kümmern.Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten sehen diese Verpflichtung, und wir handeln entsprechend, auch wenn uns Böswillige immer wieder unterstellen, daß wir mit Blick nach Osten allzu diplomatisch vorgehen.
Von Appeasement sprach Herr Dr. Hupka. Aber er meinte ja nicht uns, sondern den Bundesaußenminister. Sollten er und andere jedoch auch uns meinen, so weise ich das zurück.
Bei Besuchen in Ostblockländern, bei Begegnungen mit Ostblockpolitikern werden von uns immer auch und immer wieder konkrete Menschenrechtsfälle angesprochen.
Das war auch so, als Willy Brandt an der Spitze einer sozialdemokratischen Delegation nach Moskau gereist ist. Wir haben ihm eine lange Liste von Fällen mit auf den Weg gegeben. Er und vor allem Hans Koschnick haben über diese Fälle in Moskau gesprochen.
Erfreulich in diesem Zusammenhang ist, daß sich die Verantwortlichen in der Sowjetunion auf diesen Dialog eingelassen haben und ihn fortsetzen wollen, allerdings mit zwei Zusätzen: Es sollen die individuellen, aber auch die sozialen Menschenrechte in die Diskussion einbezogen werden; und der Dialog ist nur möglich, wenn er zur Sache und nicht in dem mißbräuchlichen Bestreben geführt wird, die Frage der Menschenrechte als Kampfthema zu instrumentalisieren. Das, meine Damen und Herren, können wir akzeptieren, so wie wir es in der Vergangenheit als Methode akzeptiert haben, weil wir wissen, daß Protest, Klage und Anklage uns nicht weiterbringen.„Wir sollten uns bemühen", so der Bundesaußenminister am 13. November 1980 in Madrid, „Garantien für die Verwirklichung der Menschenrechte zu finden, ohne daß diese Grundfrage menschlichen Zusammenlebens als Mittel zwischenstaatlicher Politik mißbraucht werden kann." Dem stimmen wir zu. Und wir widersprechen allen, die meinen, nur durch öffentliche Anklage seien Fortschritte in der Menschenrechtsdebatte zu erzielen. Das mag im Einzelfall so sein, und wenn es so ist, sollte diese Methode angewandt werden. Im übrigen aber hilft
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11166 Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Klosemoralischer Rigorismus und die Attitüde der Anklage praktisch nicht weiter, wie außenpolitisch erfahrene Christdemokraten auch sehr gut wissen.In diesem Zusammenhang darf ich aus einer Rede unseres verstorbenen Kollegen Alois Mertes zitieren
— wenigstens bei diesem Zitat könnten Sie vielleicht einmal zuhören —, der am 17. Mai 1983 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg ausgeführt hat — ich zitiere —:Ich möchte ferner darauf hinweisen, daß auch in der Frage, ob öffentliche Erklärungen zu Menschenrechtsverletzungen als Instrument moralischen Druckes eingesetzt werden sollten, ein differenziertes Vorgehen ratsam ist. Wie die Erfahrung zeigt, können Appelle aus der Öffentlichkeit kontraproduktiv wirken und dadurch in den Anklagezustand versetzte Regierungen zu einer härteren Haltung veranlassen.In einem Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 1. März 1985 zu einem konkreten Fall liest sich das so:Mit einer Ausreisegenehmigung der polnischen Behörden dürfte allerdings erst dann zu rechnen sein, wenn der insbesondere durch Flugblattaktionen eines Jugendverbandes bekanntgewordene Fall bei uns nicht mehr in der Öffentlichkeit diskutiert wird.Meine Damen und Herren, Willy Brandt hat das in der schon erwähnten Artikelserie der Parteivorsitzenden in einem entscheidenden Satz zusammengefaßt, der lautet: „Im übrigen bleibe ich dabei, daß konkrete Hilfe wichtiger ist als aller Verbalismus."Daß dies richtig ist, wisen wir inzwischen alle; die Erfahrung hat es uns gelehrt. Und weil wir es wissen, stellt sich natürlich die Frage, was denn jene bezwecken, die in Ottawa die Sowjetunion oder die DDR oder die Volksrepublik Polen auf die Anklagebank der Weltöffentlichkeit setzen wollten. Geht es ihnen wirklich um Hilfe für Menschen? Und — so frage ich mich weiter — wie glaubwürdig ist denn eine Politik, die nicht auch die Schwächen der eigenen westlichen Position in Menschenrechtsfragen sieht? Daß es solche Schwächen gibt — wer könnte das bestreiten?Nehmen wir die USA als Beispiel. Zwei Ereignisse, die für die Beurteilung der Menschenrechtspolitik der USA wichtig sind, will ich erwähnen.
— Ich habe schon viel Unsinn von Ihnen gehört, Herr Jäger, aber manchmal übertreiben Sie ein bißchen.
Zwei Ereignisse sind wichtig:Erstens. Der für Südamerika zuständige Abteilungsleiter im US-Außenministerium, Motley, hat kürzlich Chile besucht. Dabei hat er gegenüber der chilenischen Tageszeitung „El Mercurio" erklärt, der Westen schulde der Militärregierung des chilenischen Generals Pinochet Dank für den Sturz des sozialistischen Präsidenten Allende im Jahre 1973; denn Pinochet habe die Stabilität der Hemisphäre bewahrt. Ich beziehe mich, indem ich dies berichte, auf die „Süddeutsche Zeitung" vom 26. Februar 1985.
Zweitens. Präsident Reagan hat zu Beginn dieses Jahres in seinem „Bericht zur Lage der Nation" in großer Offenheit erklärt, Ziel seiner Regierung sei es, die Herrschaft der Sandinisten in Nicaragua zu beseitigen, zumindest aber dafür zu sorgen, daß sie ihre die Freiheit bedrohende Politik aufgeben. Während er sich also einerseits deutlich unfreundlich gegen die gegenwärtige Regierung Nicaraguas äußerte, sprach er von den Kontras, die, vom CIA unterstützt, gegen die Sandinisten kämpfen und in deren Reihen sich bekanntlich viele ehemalige Nationalgardisten des Diktators Somoza befinden, als von „unseren Brüdern".Ich will an dieser Stelle keine Debatte über Nicaragua anfangen.
— Lachen Sie nicht! — Wir beobachten mit Sorgfalt und mit Besorgnis, was dort geschieht und wir wissen, daß es auch dort Menschenrechtsverletzungen gibt, allerdings vom Umfang her weniger als in El Salvador oder Guatemala. Aber nicht darüber will ich jetzt streiten. Worauf ich hinweisen will — und das tue ich, ob es Ihnen paßt oder nicht —, ist die für die Glaubwürdigkeit der USA und des Westens insgesamt unbestreitbare Tatsache, daß wir die nach Art und Umfang weitaus massiveren Menschenrechtsverletzungen des Diktators Somoza niemals bekämpft,
sondern zunächst mit Stillschweigen übergangen und erst sehr spät zu kritisieren begonnen haben. Daß der Präsident der Vereinigten Staaten ehemalige Somozisten, die die Menschenrechte massiv verletzt haben, heute „Brüder" und „Freiheitskämpfer" nennt, ist abstrus und schrecklich, und wir erlauben uns, das offen auszusprechen,
so wie wir auf der anderen Seite den Versuch der Sowjetunion verurteilen, Widerstandskämpfer in Afghanistan zu Terroristen und Gangstern,
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Klosedie Aggression zu einer Aktion brüderlicher Hilfe und die Umerziehungsaktion afghanischer Kinder zu einer humanitären Maßnahme zu machen.
Wer sich um Menschenrechte kümmert, muß beides zurechtrücken, muß sich für Wahrhaftigkeit in der Diskussion
und gegen jede Einseitigkeit im Urteil wenden.
Das gilt — um auch das nicht zu vergessen — auch für uns, im eigenen Land. Gott sei Dank werden die Menschenrechte bei uns weitestgehend respektiert. Aber es gibt auch bei uns Brüche und Einseitigkeiten. Dafür nenne ich drei Beispiele:Erstens. Wir diskutieren bei uns seit Jahren und in den letzten Monaten und Wochen mit besonderer Intensität über das Selbstbestimmungsrecht auch für die Deutschen. Das ist in Ordnung. Aber wie glaubwürdig ist es denn, wenn der Kollege Dr. Hupka das Selbstbestimmungsrecht für die Schlesier, die nicht mehr dort wohnen, fordert, der Bevölkerung von OstTimor, die dort noch immer lebt, soweit sie nicht getötet worden ist, dieses Recht aber verweigert?
Wie glaubwürdig ist die Bundesregierung, wenn man ihr Abstimmungsverhalten in der UNO in dieser Frage kennt? Gilt hier für uns das Recht und dort für jene die normative Kraft des Faktischen?
Zweitens. Wir sprechen viel von Minderheitenrechten.
Aber wir sind nicht bereit, daraus auch immer praktische Konsequenzen zu ziehen. Wir wissen z. B., daß viele Türken, die bei uns leben, Kurden sind. Einige von Ihnen, Frauen vor allem, sprechen kaum Türkisch. Ihre Sprache ist Kurdisch, das es nach Auffassung der türkischen Regierung gar nicht gibt. Wir schließen uns faktisch diesem unhaltbaren Standpunkt der türkischen Regierung an, denn auch bei uns gibt es gedruckte Lebenshilfen nur in türkischer Sprache.
In kurdischer Sprache gäbe es nichts, wäre da nicht das Rote Kreuz, das eine Lücke füllt.
Die Behörden in der Bundesrepublik Deutschland, der Bundesinnenminister zumal, haben auf meine Anfrage ausdrücklich erklärt, sie beabsichtigen nicht, Weiteres für diese Minderheit zu tun.
Drittens. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist bei uns gewährleistet. Wenn aber einer bei uns Kommunist ist, sich so bekennt und äußert, hat er mancherlei Nachteile zu befürchten; der Extremistenbeschluß beschränkt sich j a, wie wir wissen, in der Praxis nicht auf den öffentlichen Dienst.Warum ich das alles sage? Weil ich uns, so aussichtlos es erscheinen mag, davor bewahren möchte, allzu schnell und leichtfertig zu urteilen. Ob Ottawa ein Mißerfolg war und wem das anzulasten ist, diese Frage ist eben doch nicht ganz so einfach zu beantworten, wie es in ersten Stellungnahmen und Kommentaren erklärt worden ist.
Ein einfacher Beschluß des sowjetischen Politbüros — so der Kommentator der FAZ — reicht eben nicht aus, um in der Menschenrechtsfrage schnelle Fortschritte zu erzielen. Was wir brauchen, ist die zähe kontinuierliche Arbeit, Sisyphosarbeit, wenn Sie so wollen.
Helmut Schmidt hat darauf schon bei der Schlußkonferenz der KSZE in Helsinki am 30. Juli 1975 hingewiesen. Er sagte damals:Und für den Prozeß der Entspannung genügt auch nicht ein einmaliger Anstoß; sondern er braucht unser aller ständiges, unser aller stetiges Zutun, damit dieser Prozeß kontinuierlich fortschreitet.Helmut Schmidt schloß seine damalige Erklärung mit den Worten:Hier in Helsinki bekräftigt und dokumentiert Europa gemeinsam mit den Staaten Nordamerikas einen neuen Schritt auf dem Wege zur Stabilisierung des Friedens. Dies ist ein Weg, auf dem wir mit Geduld und Beharrlichkeit und ohne uns durch Rückschläge entmutigen zu lassen, Schritt für Schritt weitergehen müssen. Die Nachbarn der Bundesrepublik Deutschland, die Nachbarn in Ost und West, können sich dabei auf unsere Stetigkeit verlassen.
Hoffentlich, meine Damen und Herren, hoffentlich!
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11168 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Das Wort hat der Abgeordnete Graf Huyn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß sagen: Viele der Vorredner haben beschworen, bei dieser Frage nicht zu polemisieren, aber Herr Klose, was wir von Ihnen hier gehört haben, war genau das Gegenteil dessen; denn Sie haben leider hier einseitig Tatbestände vorgehalten. Ich bin der Meinung, daß die Frage der Menschenrechte viel zu ernst ist, als daß wir uns in dieser Frage gegeneinanderstellen sollten. Wir mögen verschiedene Nuancen, Absichten und auch Intentionen in manchem haben, aber ich meine, wir sollten zusammenwirken.
Ich fand es sehr gut und sehr positiv, wie vorhin in der Aktuellen Stunde über Afghanistan von allen Fraktionen — von der SPD, von den GRÜNEN, von der FDP, von uns — Dinge gesagt worden sind, die von allen in diesem Hause unterstützt worden sind. Ich bin der Meinung, dies sollte auch hier so sein.Wir jedenfalls bemühen uns, auf keinem Auge blind zu sein. Wir haben — und ich habe diese Initiative mit ergriffen — eine Große Anfrage zu Fragen der Menschenrechte — weltweit — eingebracht. Ich habe mit Freude gesehen, daß die SPD eine ähnliche Anfrage eingebracht hat.
— Entschuldigung, unsere hatten wir lange vorher ausgearbeitet. Es hat nur in der Koalition leider sehr lange gedauert, bis das abgestimmt war. Wir haben bereits vor anderthalb Jahren unter der Federführung der Frau Kollegin Hoffmann angefangen.Herr Kollege Neumann, wenn wir in diesen Fragen zusammenarbeiten könnten, fände ich das sehr gut. Ich habe Ihnen gestern, als wir mit der Frau Vizepräsidentin Renger in der Helsinki-Kommission zusammen waren, gesagt: Ich halte das, was Sie vorgeschlagen haben, eine wiederkehrende Dokumentation über Menschenrechte, für sehr gut. — Genau das ist es, was wir hier — das ist ein altes Anliegen der Union — vorgeschlagen haben, wobei ich der Meinung bin, wir könnten das natürlich auch über die Deutschen hinausgehend tun; allerdings haben wir als frei gewählte deutsche Abgeordnete eine besondere Verantwortung für die Deutschen in unserem geteilten Land und für die Deutschen im Bereich des Warschauer-Pakts, was nicht. heißt, daß wir nicht ebenso für die Menschenrechte anderer eintreten müßten.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, habe ich sehr bedauert, daß wir auf allen Seiten dieses Hauses bis heute nicht gewußt haben, welchen Bericht wir hier eigentlich diskutieren würden. Wir haben auch darüber, Herr Neumann, gestern gesprochen und waren uns einig.Mir liegt der Wortlaut des Briefes vom 24. Januar vor, den der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Dregger, auf Grund einer interfraktionellen Besprechung mit der FDP dem Bundeskanzler geschrieben hat. Dort heißt es:Im Ergebnis dieses Gesprächs richtet die Fraktion der CDU/CSU den Wunsch an die Bundesregierung, noch vor Beginn des in Madrid beschlossenen KSZE-Expertentreffens in Ottawa zu Fragen, betreffend die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einen Bericht über die Verwirklichung des Prinzips VII und des Korbs 3 der KSZE-Schlußakte sowie des Madrider Dokuments unter besonderer Berücksichtigung der menschenrechtlichen Situation der Deutschen im Bereich der Staaten des Warschauer Paktes vorzuschlagen. Dieser Bericht der Bundesregierung soll— wie gesagt, vor Ottawa —die Grundlage einer Aussprache im Plenum des Deutschen Bundestages bilden.Ich bedaure es sehr, daß die Bundesregierung und insbesondere das federführende Auswärtige Amt dieser Bitte, die von uns immer wieder vorgetragen worden ist, nicht nachgekommen ist, weder vor der Konferenz von Ottawa noch heute; denn das, Herr Bundesaußenminister, was Sie heute als Bericht gegeben haben, war kein Bericht über die Situation der Menschenrechte der Deutschen.
Wir erwarten, daß dieser Bericht noch nachgeholt wird.Die Veröffentlichung einer solchen Dokumentation ist ein altes Anliegen unserer Fraktion. Wir haben damals, im Jahre 1977, ein solches Weißbuch erstellt. Es ist inzwischen überholt und vergriffen. Aber es war eine Dokumentation, die den Erfolg gehabt hat, daß sie die Solidarität im Westen für unsere Anliegen hinsichtlich der Menschenrechte erhöht hat und daß sie auf vielen Wegen auch im Osten bekanntgeworden ist, den Menschen dort Mut, ihnen deutlich gemacht hat, daß sie nicht vergessen sind. Außerdem wären manche schwerwiegenden Einzelfälle ohne diese Dokumentation nicht einer glücklichen Lösung zugeführt worden. Ich teile die Meinung, daß man nicht alles über einen Kamm scheren darf. Ich teile die Meinung, daß viele Fragen diskret und schweigsam behandelt werden müssen und dann mehr Erfolg haben; dies ist durchaus wahr. Man muß aber das eine tun und darf das andere nicht lassen. Wir als Deutsche haben hier eine besondere Verantwortung.In dem Weißbuch von 1977 heißt es: Die CDU/ CSU-Fraktion sieht sich zu dieser Dokumentation auf Grund ihres eigenen Selbstverständnisses verpflichtet. Im Vorwort heißt es wörtlich:Die Bundesrepublik Deutschland ist durch Verfassungsrecht und menschliche Solidarität im besonderen Maße verpflichtet und nach Völkerrecht berechtigt, als Anwalt der Deutschen aufzutreten, und dem dient dieses Weißbuch.Dr. Helmut KohlIch bin der Meinung, daß wir die Maßstäbe hier jetzt nicht verändern dürfen, daß dies für uns auch heute noch eine Verpflichtung ist, wie sie es auch
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Graf Huynvor acht Jahren gewesen ist. Ich möchte dem Fraktionsvorsitzenden Dr. Dregger hier ausdrücklich dafür danken, daß er, als wir diesen Vorschlag eingebracht haben, am 6. September 1984 an den Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe geschrieben hat: Ihr Vorschlag wird von mir mitgetragen. — Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist um so bedauerlicher und unverständlicher, daß der erbetene Bericht weder — wie vereinbart — vor Beginn der Ottawa-Konferenz noch heute erstattet worden ist, als das amerikanische State Departement jährlich einen umfassenden Bericht über die Menschenrechte weltweit erstattet, in dem z. B. in diesem Jahr allein elf Seiten über die DDR enthalten sind.Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider hat Ottawa kein greifbares Ergebnis gebracht. Die „Neue Zürcher Zeitung" kommt zu dem Schluß: Das Expertentreffen muß als nahezu totaler Mißerfolg bezeichnet werden. — Trotzdem möchte ich als derjenige, der die Ehre hatte, die deutsche Delegation des Bundestages dort zu leiten, Herrn Botschafter Eikhoff im Namen der Delegation und des Bundestages meinen herzlichen Dank für all die Möglichkeiten abstatten, die er uns eröffnet, für die Kontakte, die er hergestellt hat.
Besonders bedanken wir uns für die guten Kontakte im Rahmen der EG, der NATO und auch zu den Neutralen, die hier ja die gleichen Werte verteidigen, gemeinsam verteidigen.Aber, meine Damen und Herren, wir müssen natürlich die entscheidende Frage stellen — ich meine, wir alle müssen sie stellen, auch die Bundesregierung —: Was hat das nun für die Menschen im sowjetischen Machtbereich gebracht? Welche Einzelfälle konnten oder können gelöst werden? Was ist mit Prinzip VIII der KSZE-Schlußakte geschehen, nämlich dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das j a auch in den Bereich der Grundfreiheiten gehört? Wie ist dies angesprochen worden? Wie sollen alle diese Fragen weiter behandelt werden? Denn der KSZE-Prozeß geht weiter. Jetzt, am 1. August, haben wir die Zehn-Jahres-Konferenz. Gerade angesichts des Scheiterns von Ottawa darf diese Konferenz, so meine ich, nicht eine Jubel- und Jubiläumskonferenz werden. Ihre Aufgabe muß vielmehr sein, diese Fragen weiter mit Nachdruck zu betreiben.Wenn man die Situation der Menschenrechte sieht — die Terrorurteile gegen Gewerkschaftsangehörige in Polen, den Kirchenkampf in der Tschechoslowakei, die schwierige Ausreise der Siebenbürgener Deutschen in Rumänien, die nur mit Schmiergeldern zu erreichen ist, den Kirchenkampf in den baltischen Staaten, den Archipel Gulag, die psychiatrischen Kliniken, die Fälle Sacharow und Orlow und die Fälle der vielen Unbekannten in der Sowjetunion, die Störsender in der DDR, die Folterungen politischer Gefangener —, dann kann man nur fragen: Ist das die neue Phase der Entspannungspolitik? Denn Entspannung ist ja nichts anderes als Gewährung der Grundfreiheiten, des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte. Und wenn es in einem Grundsatzartikel der „Prawda", vor wenigen Tagen erschienen heißt, die Linie der Konfrontation in allen Bereichen stelle den Testfall für die Härte und die Klassenmobilisierung aller Bruderparteien dar, die internationale Lage erfordere noch strengere Kriterien der Solidarität des Bündnisses sowie eine noch aktivere Koordination aller Aktionen im Blick auf den Klassenfeind, dann, meine Damen und Herren, meine ich, müssen wir um so mehr Anstrengungen unternehmen, um für die Menschen und die Menschenrechte ganz konkret etwas zu erreichen. Ich appelliere nochmals an die Bundesregierung, den von der Fraktion der CDU/CSU nach Abstimmung mit der FDP erbetenen Bericht über den Stand der Verwirklichung der Menschenrechte an den Deutschen im Bereich des Warschauer Paktes so bald wie möglich zu erstellen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Sie werden verstehen, daß ich mich besonders der menschenrechtlichen Lage unserer Landsleute in der DDR, im geteilten Deutschland zuwende. Auf der Konferenz in Ottawa hat diese Frage eine wichtige Rolle gespielt. Leider sind die Ergebnisse trotz großer Bemühungen und trotz Fortschritten auf Einzelgebieten insgesamt unbefriedigend geblieben.Unser Delegationsleiter, Herr Botschafter Dr. Eikhoff, hat in zahlreichen Stellungnahmen und Diskussionsbeiträgen energisch und überzeugend auf die für uns unbefriedigende menschenrechtliche Lage in der DDR hingewiesen. Herr Kollege Genscher, Sie haben Herrn Botschafter Eikhoff dafür gedankt. Herr Kollege Huyn, Sie haben sich diesem Dank angeschlossen. Ich möchte auch für mich Herrn Botschafter Eikhoff für seine Bemühungen in Ottawa danken.
Wir waren dabei nicht einäugig. Botschafter Eikhoff hat auch nicht verschwiegen, wo es nach unseren Auffassungen Fortschritte gegeben hat, wenn diese uns sicher auch nicht ausreichen.Zu drei besonders schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen, nämlich zum menschenverachtenden Grenzregime der DDR, zum Freizügigkeitsrecht unserer Landsleute in der DDR sowie aus Anlaß des Berliner Zwischenfalls vom 20. Mai, bei dem wahrscheinlich ein Toter zu beklagen war, sind die Auffassungen der Bundesregierung den Delegierten der Ottawa-Konferenz ausführlich und nachdrücklich vorgetragen worden. Wir fordern von der DDR, daß sie in ihrer Rechtsordnung aber auch in ihrer Rechtspraxis die Menschenrechte achtet.Das gilt ganz besonders für den Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte. Er verbürgt jedem das Recht,
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11170 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Bundesminister Windelensein Land freiwillig zu verlassen. Die DDR verstößt gegen diesen Grundsatz, indem sie das Verbot der Ausreise zur Regel, die Gestattung der Ausreise allenfalls zur Ausnahme macht. Hierdurch werden auch beabsichtigte Eheschließungen verhindert. Die Genehmigungspraxis der DDR bei Besuchen in dringenden Familienangelegenheiten läßt häufig jede Rücksichtnahme auf persönliche, auf familiäre, auf humanitäre Belange vermissen. Damit wird auch das Recht auf Ehe und Familie, das der Art. 22 des schon erwähnten Paktes enthält, verletzt.Aber die Bundesregierung würdigt durchaus, daß die DDR im Jahre 1984 in einem wohl einmaligen Schritt ungefähr 35 000 Bewohnern der DDR die Ausreise gestattet hat. Die Bundesregierung hofft, daß dies eine grundsätzliche Änderung der Haltung der DDR anzeigt. Aber immer noch und immer wieder kommt es vor, daß an den Grenzen in Deutschland auf Menschen geschossen wird, offenbar auch in der letzten Nacht wieder. Die Anwendung von Waffengewalt macht offizielle Stellungnahmen der DDR zur Frage der Menschenrechte unglaubwürdig.
Die Bundesregierung wertet den völligen Abbau der Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze als einen Schritt in die richtige Richtung. Aber die innerdeutsche Grenze ist dadurch natürlich nicht durchlässiger geworden.Fortschritte erwartet die Bundesregierung auch in anderen Bereichen, in denen die im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte niedergelegten Menschenrechte durch die Behörden der DDR verletzt werden. Menschen, die öffentlich Kritik an Politik und Praxis der DDR üben, sind häufig Opfer von Freiheitsbeschränkungen. Die Meinungsfreiheit wird durch die Gesetzgebung in der DDR ebenfalls erheblich eingeschränkt. Persönliche und familiäre Kontakte zu Menschen in westlichen Ländern werden in vielen Fällen durch staatliche Maßnahmen nicht nur behindert, sondern oftmals auch verhindert.Die Bundesregierung ist der Meinung, daß die Beachtung der Menschenrechte unerläßliche Voraussetzung für die Sicherung des Friedens und für mehr Stabilität in Europa ist.
Die östliche Seite postuliert ein oberstes Menschenrecht auf Frieden. Damit wird häufig von den ständigen Verletzungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten in den Ländern des realen Sozialismus abgelenkt. Zugleich propagiert besonders die DDR eine Koalition der Vernunft, deren Ziel die gemeinsame Sicherheit sei. Meine Damen und Herren, diese Argumentation wäre überzeugender, wenn sie den Zusammenhang von Vertrauen und gemeinsamer Sicherheit nicht nur in Worten, sondern vor allem in Taten stärker beachten würde. Die Grundvoraussetzung für Vertrauen ist nämlich die Respektierung der Menschenrechte. Friedenund Menschenrechte sind untrennbar aneinander gebunden.
Die Menschenrechte schränken die Verfügungsmacht staatlicher Gewalt über die Bürger ein. Sie setzen ihr Grenzen. Kein Staat der Welt, der seinen Bürgern Menschen- und Bürgerrechte voll gewährt, kann überhaupt einen Krieg führen, es sei denn, er diene Verteidigungszwecken. Seine Bürger würden ihn daran hindern, und sie hätten auch die Mittel dazu. Anders die Staaten, in denen die Bürger grundlegende Menschen- und Bürgerrechte nicht haben. In der DDR setzt die sogenannte Wehrerziehung schon im Kindergarten ein.
Zwölfjährige Schüler, die die Oberstufe besuchen wollen, müssen sich drei Jahre oder länger in der Volksarmee verpflichten. Die Schüler des 9. Schuljahres, also 15jährige, erhalten neben dem Wehrunterricht eine zwölftägige Wehrausbildung im Lager. In der 11. Klasse folgt bei den Oberschülern eine sogenannte vormilitärische Ausbildung, die ihnen — so heißt es in den einschlägigen Vorschriften — „Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Laufbahn motorisierter Schützen in der Nationalen Volksarmee" vermitteln soll.
Entsprechend wird bei der Lehrlingsausbildung verfahren. Die Betriebe sind verpflichtet, die jungen Bürger auf den Wehrdienst vorzubereiten,
— Sie würden dies bei uns sicher einen Skandal nennen.
Ich glaube, wir sollten bereit sein, das überall dort einen Skandal zu nennen, wo dies geschieht.
Auf der Grundlage von Plänen und von staatlichen Auflagen müssen die Betriebe in der DDR Nachwuchskräfte für militärische Berufe gewinnen. Zum Wehrdienst einberufene Betriebsangehörige müssen feierlich verabschiedet und nach dem Wehrdienst in — wie es heißt — würdiger Form wieder empfangen werden. Meine Damen und Herren, welche demokratische Gesellschaft ließe sich solche militärische Perfektion freiwillig gefallen?Aber genauso bedrückend ist die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zum Haß und die Kultivierung von Feindbildern. Ich meine, das ist kein Beitrag zu guter Nachbarschaft und steht im krassen Gegensatz zu den ständigen Friedensbeteuerungen. Wir fordern die DDR auf, die Haßerziehung endlich einzustellen.
Das wäre ein wichtiger Beitrag zum Frieden und zur Entspannung.Die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Helsinki, de-
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Bundesminister Windelenren zehnten Jahrestag wir demnächst begehen, stellt den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Frieden eindeutig her. Dort heißt es — ich zitiere —:Die Teilnehmerstaaten anerkennen die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen ist, die ihrerseits erforderlich sind, um die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen ihnen sowie zwischen allen Staaten zu gewährleisten.Beide Staaten in Deutschland haben diese Schlußakte unterschrieben.
Sie muß nun mit Leben erfüllt werden. Wir nehmen diese Verpflichtung ernst. Wir erwarten von der DDR, daß auch sie zu ihren Verpflichtungen steht. Sie kann dabei sicher sein, daß sie dafür die Zustimmung auch unserer Landsleute in der DDR finden wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schlaga.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es stellt sich nun die Frage, ob Sie hier Ottawa korrigieren wollen; sozusagen ein Ersatz-Ottawa veranstalten wollen. Sehen Sie sich bitte einmal an, wie der Tagesordnungspunkt 18 heißt. Herr Bundesminister, Sie loben Herrn Eikhoff und demonstrieren, daß er nicht das getan hat, was Sie gerne gehabt hätten.
Ich weiß, wir haben sehr viel zu tun. Da bin ich auch mit Ihnen in Übereinstimmung, sowohl was das, was Graf Huyn gesagt hat, wie auch was das betrifft, was der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen gesagt hat. Wesentlich ist aber, wie man etwas tut. Darin unterschieden wir uns offensichtlich erheblich. Herr Klose hat gerade dazu sehr differenziert Ausführungen gemacht. Ich habe denen nichts hinzuzufügen.
Herr Schäfer, Sie haben das Thema angesprochen, wie unterschiedlich die deutschen Zeitungen auf Ottawa reagiert haben. Ich habe ähnliche Beobachtungen gemacht und mir auch einige Beispiele aufgeschrieben. Da schreibt beispielsweise das „Handelsblatt": Fiasko für Moskau, die FAZ: Wieder ein Njet, die „Süddeutsche Zeitung": Ein Stück ehrlicher Politik, „Die Welt": Ottawa ohne Aussage zu Menschenrechten, Sowjets gegen Abschaffung der Folter. — Völlig falsch, übrigens. Wieder „Die Welt": Und Genscher entspannt.Löwenthal sagt am 12. Juni dieses Jahres, bezogen auf die Debatte, die wir hier jetzt führen — ich zitiere —:Man darf gespannt sein, ob nun wenigstens am 27. Juni— woher wußte er eigentlich schon am 12. Juni, daßam 27. Juni diese Debatte stattfindet?; sie ist nämlich erst in der vorigen Woche festgelegt worden —
im Deutschen Bundestag der vorgesehene Bericht über die Menschenrechtslage in Mittel-und Ostdeutschland vorgetragen wird oder ob Versuche des Außenministers Erfolg haben werden, einen zwar wohlklingenden Bericht über die Ottawa-Konferenz vorzulegen, das Hauptthema aber wegzulassen oder diesen Tagesordnungspunkt vor der Sommerpause einfach sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden zu lassen, ganz im Sinne der offenbar von Genscher angepeilten Entspannungspolitik alter Art, Phase 2 ..." Dazu muß man allerdings wissen, daß Herr Löwenthal im Bunde mit 55 CDU/CSU-Abgeordneten den Krieg gegen Genscher und gegen eine kontinuierliche KSZE-Menschenrechtspolitik sucht. Es sind hinreichend bekannte Namen bei diesen 55 — ein wesentlicher Teil saß und sitzt noch hier vor uns —, die Menschenrechtspolitik meist mit Schuldzuweisung und Selbstgerechtigkeit verwechseln. Sie haben mit Hilfe des Bundeskanzlers dem Außenminister auch diese Dreistundendebatte abgepreßt. Denn für September steht ohnehin die lange Debatte über die Große Anfrage zur Lage der Menschenrechte an. Urprünglich war für den heutigen Bericht — siehe Tagesordnung, in der es lapidar heißt: „Erklärung der Bundesregierung: Expertentreffen für Menschenrechte der KSZE in Ottawa"— eine Stunde vorgesehen. Sie wollten ursprünglich fünf Stunden haben.
— Oh j a, das kann ich Ihnen nachweisen.Es herrscht also ein erhebliches Durcheinander, nicht nur in den Schlagzeilen der deutschen Presse, sondern auch in der Koalition. Das kann sehr wohl zu Lasten einer kontinuierlichen Außenpolitik führen, wenn ich das recht sehe.
— Wenn Sie stören wollen, gehen Sie in das Kabinett Ihres Kanzlers. Da darf man das ununterbrochen.
Das Durcheinander an Aussagen in den Zeitungsschlagzeilen kommt daher, daß die meisten Zeitungen für eine laufende Berichterstattung von Ottawa offensichtlich keinen Bedarf verspürten. Oder es war ihnen zu teuer. Es gab eine wesentliche Ausnahme.
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SchlagaDie „Times" liegt nach meinem Erachten richtiger, wenn sie die folgende Überschrift verwendet: „East West Deadlock at Human Rights Forum". Das trifft einigermaßen den derzeitigen Zustand der Menschenrechtsdiskussion zwischen Ost und West, nämlich Stillstand oder toter Punkt. Tote Punkte aber lassen sich überwinden.In Ottawa standen sich trotz Schlußakte, Menschenrechtspakten und Charta zwei Welten in puncto Menschenrechten gegenüber. Daß diese beiden Welten überhaupt zusammengekommen sind, um über dieses heikle Ost-West-Thema zu diskutieren und festzustellen, wie es mit der Verwirklichung der Beschlüsse von Helsinki und Madrid stehe, war an sich schon ein durchaus zu würdigendes Ereignis.Hier standen sich erneut die von den westlichen KSZE-Staaten erfreulich einheitlich vertretenen sogenannten individuellen Menschenrechte, wie Minderheitenrechte, Durchlässigkeit der Grenzen, Religionsfreiheit und Freizügigkeit, und die von den Warschauer Pakt-Staaten vertretenen sogenannten kollektiven Menschenrechte, wie Recht auf Leben, Verknüpfung von Abrüstung und Menschenrechten, Zusammenarbeit der Anti-Hitler-Koalition bei der Bewahrung des Friedens, gegenüber. Die DDR fügte dann noch hinzu: Menschenrecht auf Arbeit, Menschenrecht auf Bildung, Menschenrecht auf gesundheitliche Versorgung. Das geht zum Teil zurück bis zu Bismarcks Sozialgesetzen.Im großen und ganzen verlief das Treffen moderat, nach unseren Feststellungen von bundesdeutscher Seite aus durchaus in der Kontinuität von Helsinki liegend.Manche mochten es dagegen heiß und machten große Rechnungen auf, die beiden Supermächte an der Spitze. Da war es dann wieder, das Kampfthema Menschenrechte, die Anklage, mit der man in der Regel eigentlich nur Verhärtungen erreicht.Die westlichen KSZE-Staaten hatten sich vorgenommen, als ein wesentliches Ziel wenigstens zu erreichen, daß die Beschlüsse von Helsinki und Madrid in allen 35 KSZE-Staaten erneut veröffentlicht werden sollten. Dazu kam es leider nicht. Denn die in Ottawa Versammelten gingen ohne Abschlußvereinbarung auseinander.Die Oberflächlichen und vielleicht auch die Selbstgerechten werden nun Ottawa als einen Rückschlag bezeichnen. Auch ich hätte mir tatsächliche Fortschritte von der Konferenz gewünscht.Aber in einem Gespräch mit dem Leiter der sowjetischen Delegation versuchte mich dieser zu überzeugen, daß hier in Ottawa eigentlich nur über die von den Amerikanern protegierten Menschenrechte geredet werde — wenn er denn die „Declaration of Independence" von 1776 gemeint haben sollte, hat er natürlich recht, denn die meinen wir auch — und daß keine Rücksicht auf Besonderheiten, Kulturkreise und verfassungsmäßige Verankerungen — womit er offensichtlich wieder die kommunistischen Vorstellungen von Menschenrechten gemeint hat — genommen werde.Ich fragte ihn, ob er das etwa so meine, wie es der iranische UN-Botschafter am 9. Dezember vergangenen Jahres vor der Vollversammlung gesagt hat, nämlich: Wir erkennen alle kodifizierten und von uns ratifizierten Menschenrechte an und praktizieren sie, soweit diese nicht islamischen Wertvorstellungen widersprechen. — Wenn ich richtig informiert bin, scheinen etwa 30 000 bis 40 000 Iraner an diesen Wertvorstellungen gezweifelt zu haben und sind dafür hingerichtet worden.Seine Antwort war: Nein, so meine ich das nicht. — Für mich war es keine Frage, daß es bei ihm zu Hause doch so oder so ähnlich zugeht. So schwierig ist das mit den Menschenrechten.Das ist doch auch denen bekannt, die jetzt Ottawa als Rückschlag bezeichnen. Das kann und darf aber kein Grund zur Resignation oder gar zur Kampfansage sein — an wen auch? Wir erreichen damit keine Einstellung von Menschenrechtsverletzungen und keine Änderung hin zu Vorstellungen und Praktiken von Menschenrechten, wie wir sie — manchmal mühsam genug — handhaben.Gestern vor 40 Jahren wurde in San Francisco die UN-Charta unterzeichnet. In der Präambel heißt es, die Organisation solle die Völker von der Geißel des Krieges verschonen und die Würde und die Grundrechte der Menschen bekräftigen. Die Diskussion um diese Würde und diese Grundrechte der Menschen muß weitergehen, und Sie werden uns Sozialdemokraten bei dieser wichtigen Diskussion immer mit an der Spitze finden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der heute schon mehrmals genannten „Neuen Zürcher Zeitung" beginnen:Die Experten aus 35 Ländern sind nach fast zweimonatigen Verhandlungen zu einem Ergebnis gekommen, das eigentlich schon längst feststand, daß nämlich ein grundsätzlicher und unüberbrückbarer Unterschied zwischen den östlichen und den westlichen Vorstellungen über das Wesen der zu schützenden Menschenrechte besteht.Dieser Gegensatz zwischen Unfreiheit und Freiheit, zwischen der Verweigerung und der Gewährung der Menschenrechte wurde gleich zu Beginn des Expertentreffens durch einen schrillen Paukenschlag aus dem Ostblock in bedrückender Weise offenkundig. Der polnische Partei- und Regierungschef Wojciech Jaruzelski erklärte am 7. Mai 1985 in der Breslauer Jahrhunderthalle — ich zitiere —:Das Problem einer deutschen nationalen Minderheit hat in Polen endgültig aufgehört zu existieren. Dieses Kapitel ist ein für allemal abgeschlossen. Die Umsiedlung der restlichen deutschen Bevölkerung wurde vollzogen. Übererfüllt haben wir alle internationalen Verpflich-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11173
Dr. Hupkatungen aus dem Bereich der Repatriierung und Zusammenführung von Familien, die getrennt waren.Nichts davon ist wahr. Unmißverständlicher kann man, so meine ich, die Verletzung der Menschenrechte nicht deutlich machen.Es leben heute im Machtbereich der Volksrepublik Polen über 1 Million Deutsche. Es liegen nahezu 150 000 Ausreiseanträge vor.
Da in den letzten Jahren von den polnischen Behörden kaum noch Ausreisegenehmigungen erteilt worden sind, bleiben Tausende von Besuchern in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar in der Hoffnung und Erwartung, daß die zurückgebliebenen und zurückgehaltenen Familienmitglieder nachkommen werden.Bis zu 90 und mehr Prozent der im Durchgangslager Friedland registrierten Deutschen, die von jenseits von Oder und Görlitzer Neiße eintreffen, sind Besucher mit einem Besuchervisum, was zur Folge hat, daß die Zahl der inzwischen nicht zusammengeführten, sondern durch die polnische Ausreisepraxis zerrissenen Familien mit 80 000 bis 100 000 beziffert werden muß.
Bevor die Familienmitglieder nachkommen können, damit aus der gegenwärtigen Familienzerreißung wieder eine Familienzusammenführung wird, vergehen drei bis fünf Jahre — wenn die Ausreise überhaupt gestattet wird.
Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland kann in diesen Fällen seit Jahr und Tag nicht helfend eingreifen, denn die polnischen Dienststellen weigern sich hartnäckig, Interventionsnotizen entgegenzunehmen.
Nachdem die Existenz der Deutschen in Ostdeutschland jenseits von Oder und Görlitzer Neiße erst jetzt wieder durch Jaruzelski geleugnet worden ist, war es befreiend, als Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl während seiner Rede auf dem Deutschlandtreffen der Schlesier am 16. Juni in Hannover erklärte — ich zitiere —:Es gibt diese Volksgruppe. Wir sind ihr Sachwalter. Ich versichere Ihnen, die Bundesregierung wird weiterhin darauf dringen, daß unsere Landsleute — wenn sie wollen — die Möglichkeit der Ausreise und der Familienzusammenführung erhalten. Diejenigen, die in ihrer Heimat bleiben möchten, haben ein Anrecht darauf, daß sie ihre kulturelle Eigenheit, unsere Sprache und ihr Brauchtum pflegen und entfalten können.
Bis heute ist es nicht gelungen, zu erreichen, daß den Deutschen das Volksgruppenrecht gewährt wird. Die Führung deutscher Vornamen ist verboten, die deutschen Nachnamen dürfen nur in polnischer Version geführt werden, deutscher Sprachunterricht wird an den Schulen überall erteilt, nur nicht dort, wo — wie im Oppelner Bezirk — die Mehrheit der Deutschen wohnt. Sich als Deutsche zum Deutschtum zu bekennen, ist strikt verboten.Die wiederholt vorgetragene Bitte, Gottesdienste in deutscher .Sprache abzuhalten, wird nicht nur verweigert, sondern es werden dazu auch unzutreffende Begründungen abgegeben; dies leider auch von der katholischen Kirche Polens. Es wird nämlich behauptet, man dürfe nicht polnischen Bürgern erst über den Gottesdienst deutsche Sprachkenntnisse vermitteln. Zuerst verbot man den Deutschen den Gebrauch der Muttersprache, jetzt bestraft man sie ein zweites Mal dafür, daß sie Deutsche sind, indem man den Vorwurf erhebt, daß diese angeblichen Deutschen doch gar kein Deutsch sprächen.Da nachher — wie bereits über die DDR — auch noch über die Sowjetunion und deren Umgang mit den Menschenrechten durch meinen Kollegen Claus Jäger berichtet werden wird, möchte ich nur noch einige Worte zur Tschechoslowakei und zu Rumänien sagen. Die Deutschen in der Tschechoslowakei belaufen sich auf eine Zahl zwischen 80 000 bis 100 000. Die Zahl der Ausreisewilligen wird mit 15 000 angegeben. Nur 1 000 bis 1 500 Deutsche kommen im Jahresdurchschnitt zu uns, aber mehr als die Hälfte sind Besucher, die die Chance einer Besuchsreise zum Hierbleiben nutzen. Ein Volksgruppenrecht wird den Deutschen in der Tschechoslowakei bis heute nicht gewährt.In Rumänien herrscht bei den Siebenbürger Sachsen und den Banater Schwaben ein großer Aufbruch, denn es geht um die Behauptung der nationalen, d. h. deutschen Identität. Bis zu 80 % der Deutschen planen die Ausreise. Obwohl jährlich 12 000 bis 16 000 Deutsche ausreisen konnten, ist die Ausreiseprozedur nach wie vor ebenso langwierig wie schikanös.
Vor allem ist man in Rumänien weit davon entfernt, entsprechend der KSZE-Schlußakte die Erlaubnis zur Heirat von rumänischen Staatsbürgern mit Bürgern der Bundesrepublik Deutschland großzügig zu erteilen. Es dauert meist drei und mehr Jahre, bis die Heiratserlaubnis nach Erfüllung bestimmter bürokratischer Auflagen erteilt wird.Auch die Praxis der Zahlung sogenannter Schmiergelder bei der Gewährung der Ausreise ist ein Stein des Anstoßes, zumal illegaler Wildwuchs und offiziell geduldete Praxis schwer zu unterscheiden sind.Das große Gespräch über alle diese Probleme, die unter dem Begriff Verweigerung der Menschenrechte zusammengefaßt werden müssen, war in Ottawa nicht möglich. Die einen erinnerten an die übernommenen menschenrechtlichen Verpflichtungen, forderten deren Erfüllung ein, beklagten
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Dr. Hupkaden gegenwärtigen Zustand und erbaten einen dringenden Wandel. Die anderen mauerten, redeten sich auf die Unverletzlichkeit der eigenen Souveränität heraus, verhielten sich selbstgerecht, stritten jede Verweigerung der Menschenrechte ab und verharrten darauf, es bei dem zu belassen, wie es jetzt grausame Praxis ist.So sehr zu bedauern ist, daß es in Ottawa nicht gelungen ist, ein Schlußkommuniqué zu verabreden, so darf aber auch dem zugestimmt werden, daß es weniger darauf ankommen muß, neue Papiere zu erstellen, als vielmehr darauf, die alten Papiere, d. h. die KSZE-Schlußakte und die Beschlüsse des Madrider Nachfolgetreffens, weit zu verbreiten. Dies gerade dort, wo deren Kenntnis unterdrückt wird.
Wer in Unfreiheit lebt und der Menschenrechte entbehrt, muß die Gewißheit von seinem Rechtstitel erhalten und darüber hinaus erfahren, daß andere für die Gewährung der Menschenrechte eintreten. Aber auch die freie Öffentlichkeit muß darüber informiert werden, wie es in Osteuropa um die Menschenrechte bestellt ist.Dabei geht es keineswegs nur um die den Deutschen verweigerten Menschenrechte, sondern auch und gerade — um nur wieder das Beispiel Polen zu nennen — um die in gleicher Weise auch den Polen vorenthaltenen Menschenrechte. Die jüngsten Prozesse und grausamen Verurteilungen von Polen der Gewerkschaft Solidarität und aus Kreisen der polnischen Intelligenz sprechen für die diktatorische Handhabung der Verweigerung der Menschenrechte. Gerade in diesen Tagen hat die katholische Kirche Polens zu Recht gegen die Praxis der Herrschenden protestiert.Leider hat unsere Öffentlichkeit nicht in dem Maße von der Konferenz in Ottawa Notiz genommen; Herr Kollege Schlaga hat darauf schon verwiesen. Daß aber die Deutsche Welle wie auch die beiden amerikanischen Stationen Radio Free Europe und Radio Liberty in München viel dazu beigetragen haben, die unterdrückten Völker über diese Konferenz zu unterrichten, soll rühmend erwähnt werden.
Ein Menschenrecht, an das wir uns so gewöhnt haben, daß wir uns gar nicht vorstellen können, in welcher Weise es anderen verwehrt wird, ist die umfassende und unzensierte Information. Der freie Informationsfluß ist gerade auch in der KSZE-Schlußakte garantiert. Aber wir sind weit davon entfernt; denn nach wie vor existieren 3 000 Störsender in der Sowjetunion. Auch darüber zu sprechen war in Ottawa genauso wenig möglich wie zuvor schon auf den Nachfolgetreffen in Belgrad und Madrid.Dennoch muß immer wieder der freie, ungestörte Zugang zu den Informationen unserer Medien gefordert werden. Wir als freie Bürger haben die Pflicht, überzeugend und lautstark Anwalt der Menschenrechte für die Deutschen und für jedermann zu sein. Daß dies heute wieder im Deutschen Bundestag geschieht, ist ein gutes Zeichen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Neumann .
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Nicht bei allen Beiträgen hat man gleichermaßen das Gefühl, daß es damit allein um einen Beitrag zur Durchsetzung der Menschenrechte in den Teilnehmerstaaten des KSZE-Prozesses geht, sondern daß in einem oder anderen Fall auch andere Zielrichtungen mit angepeilt werden. So ist das etwa mit dem ersten Beitrag — Herr Reddemann, Sie werden mir das nicht übelnehmen — in dem etwa ein Ziel angesprochen wird, das dem Prinzip I der Helsinki-Schlußakte widerspricht, in dem es heißt, daß die Teilnehmerstaaten das Recht jedes anderen Staates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht und seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen.
Ich habe auch manchmal das Gefühl, daß von anderen ein weiteres Ziel angesteuert worden ist, nämlich die Kontinuität der Bundesregierung im KSZE-Prozeß anzugreifen. Ich bin deshalb sehr dankbar, und wir sollten dem Bundesaußenminister auch dafür danken, daß er in dem bisherigen Prozeß, insbesondere bei den Konferenzen in Belgrad und Madrid, bei der Frage der Menschenrechte eine durchgängige, berechenbare und kontinuierliche Haltung gezeigt hat.Es ist bisher nicht aus den Augen verloren worden, daß trotz des unaufhebbaren Systemgegensatzes zum Nutzen des Friedens eine möglichst breite Verständigung und Kooperation möglich sein sollte. Die Regierung Helmut Schmidt hatte von Anfang an nie einen Zweifel daran gelassen, daß spektakuläre Erfolge insbesondere im Bereich der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht zu erwarten sind. Allein die Tatsache, daß das Prinzip VII und der Korb III, die Menschenrechte, unter Bezugnahme auf die Charta der Vereinten Nationen, die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die internationale Konvention über Menschenrechte extrahiert wurden, ist eine Basis, die geeignet ist, den Menschenrechtskonsens in ganz Europa zu erweitern und zu vertiefen. Daß wir davon noch weit entfernt sind, brauche ich nach den vielen Rednern, die hier vor mir gesprochen haben, nicht mehr zu betonen. Niemand wäre im übrigen glücklicher als wir Sozialdemokraten, wenn die Papiere, so wie sie uns nach Helsinki vorgelegt worden sind, unmittelbar verbindliche Wirklichkeit geworden wären.Wir sind uns darüber im klaren, daß die Begriffe in der Schlußakte von Helsinki, aber auch die völkerrechtlichen Regeln über die Menschenrechte ganz allgemein im Osten und Westen unterschiedlich interpretiert sind. Wir sind uns auch darüber im klaren, daß sie unterschiedlich gewichtet werden. Im Deutschen Bundestag gibt es jedenfalls we-
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Neumann
nig Differenzen über die Definition der Menschenrechte. Wir streiten uns in aller Regel nur über die Frage der Durchsetzung dieser Menschenrechte in der Welt.Wenn die Bundesregierung nach meinen Beobachtungen in der Vergangenheit sicher, aber auch jetzt, auf Frontalangriffe auf den Ostblock unter Zuhilfenahme der Schlußakte von Helsinki im menschenrechtlichen Teil verzichtet hat, dann offensichtlich nur deshalb, was Jürgen Schmude früher einmal ausgeführt hat, weil darin die Gefahr einer verschärften ideologischen Auseinandersetzung bis hin zum Kalten Krieg liegen könnte. Wir halten diese Position für richtig und daran fest. Dies soll aber nicht bedeuten, daß man nicht die Verletzung von Menschenrechten im einzelnen beim Namen nennen soll, aber wir Sozialdemokraten haben in der langen Tradition im Kampf für die Menschenrechte gerade gegenüber den Kommunisten auch erkannt, daß nur ein zähes und beharrliches Handeln sinnvoll ist und daß es im Einzelfall auch sinnvoll ist, bestimmte Dinge nicht öffentlich zu machen.Das ist überhaupt die Kernfrage, die Frage, welches Handeln das richtige ist, um Menschenrechte für den einzelnen betroffenen Menschen durchzusetzen. Sie findet nahezu immer unterschiedliche Beurteilungen, und ich bin überzeugt, daß es eine generelle Handlungsanweisung nicht geben kann. Zu unterschiedlich sind die Eingriffe in die Menschenrechte, zu unterschiedlich sind aber auch die Empfindlichkeiten und Reaktionen der der Menschenrechtsverletzungen beschuldigten Staaten. Es ist nach meiner Kenntnis auch noch nirgendwo von einem Wissenschaftler untersucht worden, ob über vertrauliche Interventionen dem einzelnen Menschen erfolgreicher geholfen werden kann, oder durch Öffentlichkeit. Mit einer solchen Untersuchung ist möglicherweise geholfen; möglicherweise bewirkt sie aber das Gegenteil, weil gerade dadurch Wege verschüttet werden, betroffenen Menschen auf vertrauliche Interventionen hin zu helfen. Wir haben hier im Bundestag durch öffentliche Anklage in einem Fall, den ich hier als beispielhaft nennen will, Erfolg erzielt. Das war der Fall von Kim Dae- Jung in Südkorea, der begnadigt worden und in Freiheit ist unti dessen politische Tätigkeit wir wieder erwarten.Wir haben aber auch Mißerfolge bei der Öffentlichkeit von Einzelfällen von Menschenrechtsverletzungen gehabt, wie bis heute bei dem Fall der Eheleute Sacharow. Auf der anderen Seite haben vertrauliche Interventionen, insbesondere in kommunistischen Staaten — hier ist schon über Interventionen auch von Sozialdemokraten berichtet worden —, oft zum Erfolg geführt. Es gab gute Gründe in der Vergangenheit, und es gibt gute Gründe auch in der Gegenwart, gerade mit den kommunistischen Ländern, nur in besonderen Fällen eine öffentliche Diskussion über Einzelschicksale zu führen. Persönlich möchte ich darauf hinweisen, daß die öffentliche Diskussion über Einzelfälle darüber hinaus mehr oder weniger zufällig ist und nur bestimmte Menschen in das Licht der Öffentlichkeit rückt. Sicher werden viele Hunderte, vielleicht sogar Tausende keine Gelegenheit haben, einen Fürsprecher zu finden, der sich auch von dieser Stelle, Herr Horacek, dafür einsetzt, daß er in Freiheit kommt. Ich bedaure dies, aber dies ist der Nachteil, wenn man einzelne Fälle in die Öffentlichkeit bringt. Und es gibt einen zweiten Nachteil, nämlich daß die ständige Wiederholung von Einzelfällen zu einer Routineangelegenheit wird. Nichts wäre schlimmer bei dem Einsatz für einzelne Menschen und für die Menschenrechte, als wenn dies zu einer Routineangelegenheit werden würde.
Wir werden also nicht umhin können, auch bei dem Einsatz für Menschenrechte im Einzelfall zu überprüfen, in welcher Form wir das Bestmögliche für den betroffenen Menschen machen können.Ich will auch nicht verhehlen, daß bei der Frage der Einflußmöglichkeiten gerade auf die Staaten des Ostblocks sehr unterschiedliche Reaktionen erfolgt sind. Bei der berechtigten Kritik an den Regierenden in Polen in ihrem Verhalten zur Solidarność, aber auch zu den jetzt vor Gericht stehenden Menschen, sollte nicht vergessen werden, daß nach Ausrufung des Kriegsrechts die polnische Regierung auf freiwilliger Basis dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes gestattet hat, die Inhaftierten zu betreuen. Dies ist ein einmaliger Fall gewesen, der nur deshalb funktioniert hat, weil er auf vertraulicher Basis erfolgt ist und die Vertraulichkeit auch eingehalten wurde. Ich wollte dies hervorheben, weil dies vielleicht auch für andere Fälle eine Möglichkeit eröffnet, im Rahmen der Tätigkeit des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes für solche Menschen zu sorgen, die in Haftanstalten sind und bisher nicht von neutralen Hilfsorganisationen betreut werden.Das Auswärtige Amt hat bei der Vorbereitung dieser Debatte — hier ist es schon von meinem Kollegen Graf Huyn gesagt worden — keine besonders glückliche Hand gehabt. Trotz mehrfacher Bitte, einen schriftlichen Bericht zu Ottawa zu bekommen, über den wir nun drei Stunden diskutieren sollen, wurde mir das schlichtweg verweigert. Es gab dann wohl ein Frühstück mit den Teilnehmern einer Delegationsreise nach Ottawa, aber davon haben die anderen Diskutanten in diesem Haus nichts, und wir waren auf die zugegebenermaßen sehr interviewfreundlichen Delegierten angewiesen, die in den Zeitungen berichtet haben, was hinter verschlossenen Türen in Ottawa passiert ist; denn es fand eine Konferenz hinter verschlossenen Türen statt.Nach der heutigen Erklärung des Bundesaußenministers kann ich nur wiederholen, was unmittelbar nach der Konferenz auf Grund der Pressemitteilung schon meine Beurteilung dieser Konferenz war. Es gab keine Sensationen — das war auch nicht zu erwarten —, aber die Konferenz war nützlich, weil sie dem Austausch der Meinungen über das Menschenrechtsverständnis im Westen und im Osten gedient hat. Vor Helsinki — daran muß man sich immer wieder erinnern — gab es ein solches
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Neumann
Forum nicht, ja es wäre sogar undenkbar gewesen, daß sich Experten auf so hohem Rang über Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen sachlich und offen unterhalten hätten.Ich will im übrigen auch für mich persönlich die Hoffnung nicht aufgeben, daß eine Diskussion in weiterer Zukunft irgendwann einmal zu einem Konsens über die Menschenrechte führt und ihnen in ihrer universellen Geltung zum Durchbruch verhilft. Wer eine solche Hoffnung aufgibt, brauchte sich hier nicht für die Menschenrechte einzusetzen.
Zu bedauern ist natürlich, daß es keine Schlußakte, kein gemeinsames Dokument gab; denn dieses hätte möglicherweise dazu geführt, gerade in den Ländern, in denen die Menschenrechte noch nicht so popularisiert sind, noch einmal eine Diskussion über die Schlußakte von Helsinki und die darin enthaltenen Menschenrechte herbeizuführen. Aber auf der anderen Seite bin ich fest davon überzeugt, daß alle Menschen bei den 35 Teilnehmerstaaten des KSZE-Treffens sehr genau wissen, was Gedanken-, Gewissens-, Religionsfreiheit und Überzeugungsfreiheit ist, ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache und der Religion. Die Menschen kennen die Menschenrechte. Wenn die Definition durch die Regierenden nur dazu führen würde, sie auch in die Realität umzusetzen!Lassen Sie mich ironisch noch sagen: Es war eine Expertenkonferenz. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, daß zum Abschluß kein Dokument mehr vorgelegt worden ist; denn wir haben leider auch erlebt, daß es vielen Experten nicht gelungen ist, die Menschenrechte klarer zu definieren, sondern daß sie sie verwässert haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jäger .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Deutsche Bundestag hat sein Mandat vom deutschen Volk. Das bedeutet, daß wir bei aller Würdigung der weltweiten Geltung der Menschenrechte als freies Parlament der Deutschen zuerst für die Menschenrechte der Deutschen eintreten sollten, wenn wir im Rahmen des KSZE-Prozesses über Menschenrechte debattieren. Wir lassen uns nicht daran hindern, unsere Stimme für unterdrückte und verfolgte Deutsche in aller Welt zu erheben, darunter ganz besonders für die Rußlanddeutschen. Von allen Landsleuten haben sie das härteste Schicksal zu tragen gehabt und tragen es bis heute.
Was diese Menschen bedrängt, ist auf Grund von Initiativen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und der Koalitionsfraktionen in letzter Zeit in diesem Hause zur Sprache gekommen.Lassen Sie mich das mit den Worten des Rußlanddeutschen Heinz Flaig ausdrücken, der vor über einem Jahr an das Präsidium des Obersten Sowjets geschrieben hat — ich zitiere —:Seit 1979 bemühe ich mich erfolglos bei der Visabehörde des Innenministeriums der Kasachischen Sowjetrepublik um die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland. Der Verlust der Hoffnung, seitens der Behörden eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen, treibt einem zum Äußersten. Dieser ungleiche dramatische Kampf ist zutiefst ethisch und human, da ihm als Ziel die Befreiung von der Diskriminierung und Assimilation sowie das Streben nach einer menschenwürdigen Existenz zugrunde liegen. Wenn morgen meine Sprache verschwinden soll, so bin ich bereit, schon heute zu sterben.So zitiert er abschließend den russischen Schriftsteller Rassul Gamsatow.Flaig, meine Damen und Herren, ist kein Einzelfall, rund hunderttausend unerledigte Ausreisegesuche sind dem Deutschen Roten Kreuz bekannt. Man muß davon ausgehen, daß die tatsächliche Zahl der ausreisewilligen Deutschen höher liegt. Wie sieht die Zahl der Ausreisegenehmigungen aus? Ganze 301 waren es in den ersten vier Monaten dieses Jahres, also 75 im Monatsdurchschnitt. 1983, als die Sowjetunion in Madrid mit ihrer Unterschrift unter das abschließende Dokument — die Sowjetunion hat das mit unterschrieben! — versprach, ständige und spürbare Fortschritte bei der Verwirklichung der Menschenrechte zu machen, waren es noch 121 im Monat — wahrhaftig auch keine große Zahl.Ich danke der Deutschen Delegation in Ottawa, vor allem Herrn Botschafter Eickhoff, dafür, daß sie diesen eklatanten Bruch der Zusagen von Madrid durch die UdSSR deutlich angeprangert haben.Die Verweigerung der Ausreise von Zigtausenden von Deutschen aus der Sowjetunion ist nicht nur ein Bruch feierlicher Zusagen von Madrid, er ist auch Vertragsbruch, und zwar doppelter Vertragsbruch. Die sowjetische Regierung verletzt nicht nur Art. 12 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der jedermann freie Ausreise aus jedem Land, auch dem eigenen, zusichert, sondern sie verletzt auch Art. 2 des deutsch-sowjetischen Vertrages vom 12. August 1970, des sogenannten Moskauer Vertrages, in dem sich beide Vertragspartner feierlich verpflichten, sich von den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen leiten zu lassen, die j a vor 40 Jahren unterzeichnet worden ist.Zu diesen Zielen zählt nach Art. 1 Nr. 3 der Charta, „die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen". Das gilt auch für die RußlandDeutschen. Wenn sich die Sowjetunion daran nicht hält, ist das ein Bruch des deutschsowjetischen Vertrages.
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Jäger
Nicht die Bundesregierung also, sondern die Sowjetregierung ist es, die den Moskauer Vertrag andauernd und massiv verletzt und damit unsere Vertragsbeziehungen auf das schwerste belastet.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bahr?
Bitte schön. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Kollege, welche Empfehlungen geben Sie der Bundesregierung auf Grund Ihrer Analyse?
Die Empfehlung, die ich der Bundesregierung geben werde, werden Sie am Schluß meiner Ausführungen hören. Ich bitte Sie, sich so lange zu gedulden.
Auch die Menschenrechte der Deutschen, die nicht aus der UdSSR ausreisen wollen, werden aufs schwerste verletzt, insbesondere die Religionsfreiheit und die Minderheitenrechte auf Grund von Art. 27 des Paktes. Es fehlt Protestanten wie Katholiken unter den Rußlanddeutschen an Pfarrern, und es fehlt an Lehrern, die den in diesen ländlichen Gebieten lebenden Kindern Deutschunterricht erteilen können, damit die deutsche Sprache nicht ausstirbt. In beiden Bereichen muß endlich Abhilfe geschaffen werden um der Menschenrechte dieser Deutschen willen.
Was ich für die Deutschen in der UdSSR ausgeführt habe, gilt in gleichem Maße für die Juden. Auch sie leben in schrecklicher Bedrückung, die dadurch noch härter ist, daß die hebräische Sprache nicht bloß nicht gefördert, sondern massiv unterdrückt wird. Ich bitte die Bundesregierung, der ich von der letzten Anhörung des Europarates in Jerusalem einen kurzen Bericht geschickt habe, ebenso wie in Ottawa auch künftig dieser Frage ein besonderes Gewicht beizumessen und sich für die Erlaubnis zur Ausreise der Juden einzusetzen.
Nicht nur die Religionsfreiheit der Deutschen und Juden, sondern auch die von Millionen gläubiger Christen in der UdSSR aus allen ihren Völkern wird ständig verletzt, darüber hinaus auch in anderen Staaten, vor allem der Tschechoslowakei. Die Praxis der Sowjetunion, Anhängern dieser Religionen, Aktiven, sich religiös Betätigenden nicht nur diese Rechte zu versagen, sondern sie in psychiatrische Anstalten einzuweisen, ihnen Prozesse zu machen, zeigt, wie brutal das Menschenrecht auf Religionsfreiheit verletzt wird.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Nach Ottawa gilt es jetzt, das KSZE-Folgetreffen von Wien im Herbst 1986 und zuvor das Korb-III-Treffen über menschliche Erleichterungen im Frühjahr 1986 in Bern gut vorzubereiten. Die Menschenrechte müssen dort wieder auf den Tisch. Der Sowjetregierung und den anderen Regierungen des Ostblocks muß eindringlich vor Augen geführt werden, daß die Erfüllung der menschenrechtlichen Verpflichtungen Richtschnur und Maßstab für echte Vertrauensbildung zwischen West und Ost ist.
Ich darf Herrn Minister Windelen nachdrücklich dafür danken, daß er dies hier so deutlich in Erinnerung gerufen hat.
Wer dem Frieden dienen will, kommt nicht daran vorbei, Würde und Rechte der Menschen, Würde und Rechte jedes Individuums zu achten und zu schützen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Böhm .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Frage, die in jüngster Zeit wieder zum Gegenstand öffentlicher Diskussion und eingehender Erörterungen geworden ist, ist in erster Linie eine Frage der Wahrung der Menschenrechte in ganz Deutschland.
Es ist lobenswert und ehrenvoll, wenn sich Bürger in der Bundesrepublik Deutschland — und ganz besonders junge Menschen — um die Menschenrechte in Südamerika und in Afrika sorgen; aber es ist lobenswert, ehrenvoll und obendrein außerordentlich naheliegend, wenn wir uns der Menschenrechte unserer eigenen deutschen Landsleute in der DDR annehmen.
Wer in aller Welt, wenn nicht wir, hat die Frage nach den Menschenrechten in Deutschland aufzuwerfen und die Wahrung dieser Menschenrechte in ganz Deutschland zu erörtern?
Über dieses selbstverständliche und natürliche Eintreten für die Menschenrechte von Menschen unseres eigenen Volkes hinaus gilt es, im internationalen Rahmen die DDR auf die Einhaltung der von ihr unterschriebenen internationalen Abkommen zur Sicherung der Menschenrechte zu drängen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Von der Erfüllung der von der DDR übernommenen Verpflichtungen sind wir noch weit entfernt, wie die tägliche Realität im geteilten Deutschland zeigt.
Die DDR ist Mitglied in den Vereinten Nationen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sagt in ihrem Art. 13 klar und deutlich: „Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren."
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Böhm
Die DDR hat auch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966 unterzeichnet und sich damit völkerrechtlich verpflichtet, die im Teil III dieser Konvention garantierten Menschenrechte, und zwar als Individualrechte, zu gewährleisten. Dazu gehört das Recht auf Freizügigkeit im eigenen Land und über die Grenzen des eigenen Landes hinaus.Die DDR hat sich schließlich mit der Unterzeichnung der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zur Förderung menschlicher Kontakte durch Erleichterung familiärer Begegnungen, der Familienzusammenführung, von Eheschließung und von Reisen sowie zur Verbesserung des gegenseitigen Austausches von Informationen verpflichtet. Noch immer aber enthält sie ihren Bürgern die solchermaßen garantierten Rechte vor.Mauer und Stacheldraht sind auch nach dem Abbau der Todesautomaten SM 70 durch ein neues Melde- und Warnsystem in Kombination mit dem Schießbefehl undurchdringbar.Wir begrüßen menschliche Erleichterungen auf verschiedenen Gebieten. Sie werden aber von der DDR nicht aus Gründen der Humanität oder in Erfüllung internationaler Verträge gewährt, sondern sie stehen, wie wir alle wissen, im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland.Noch immer aber wird das Stellen eines Ausreiseantrages in der DDR beantwortet mit beruflichen Konsequenzen wie Entlassung und Herabstufung, mit dem Einziehen des Passes und seiner Ersetzung durch das provisorische Dokument PM 12, mit der Unmöglichkeit, Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland zu empfangen, weil diese keine Einreisegenehmigung mehr erhalten, mit der Überwachung von Post und Telefon und mit Befragungen, die den Charakter eines Verhörs haben.Auch die in den letzten Jahren zu beobachtende Ausdehnung allgemeiner Kontaktverbote zu Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und zu Ausländern steht in direktem Gegensatz übernommenen Menschenrechtsverpflichtungen der DDR.
Die schwerwiegenden persönlichen und familiären Einschränkungen erschweren in unerträglicher Weise die Lebensbedingungen unserer Landesleute.Da wird einer alten Frau zur Auflage gemacht, in den drei Jahren, in denen ihr Enkel als Zeitsoldat in der „Nationalen Volksarmee" dient, ihre Freundin aus der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr zu Besuch bei sich zu empfangen.
Eine 18jährige Facharbeiterin, die einen jungen Mann aus der Bundesrepublik kennengelernt hat und mit ihm briefliche Kontakte unterhielt, wird aus ihrer Arbeitsstelle entlassen, nachdem sie derAufforderung nicht nachkam, diese Briefkontakte einzustellen.
Den Bewohnern eines Pflegeheims in der DDR wird vom Pflegepersonal eröffnet, daß Telefonanrufe von ihren Angehörigen aus der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr entgegengenommen werden, weil für das Pflegeheim die gleichen Vorschriften wie für Betriebe gelten, die auch keine Telefongespräche aus dem Westen entgegennehmen dürfen.Von solchen unsinnigen und unverständlichen Kontaktverboten sind nicht nur Pförtner in Behörden und Betrieben, Köchinnen für Schulspeisung und Putzfrauen in Kindertagesstätten betroffen, sondern auch ihre Familienangehörigen. Das Ausmaß dieser Kontaktverbote ist mit Sicherheitsbedürfnissen nicht zu rechtfertigen, ebenso wie die immer noch häufige Verweigerung der besuchsweisen Ausreise in dringenden Familienangelegenheiten, bei Geburten, Taufen, Konfirmationen, Eheschließungen, Hochzeitsjubiläen, hohen Geburtstagen und lebensgefährlichen Erkrankungen sowie Sterbefällen. Positive Entwicklungen bei der Zahl der erteilten Ausreisegenehmigungen, die wir begrüßen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Tragödien in deutschen Familien gibt, die vielen unvorstellbar sind: Die schwer krebskranke Frau, die nach ihrer Operation schon zwei Atteste in die DDR schickte, um ihren dort lebenden Bruder noch einmal zu sehen, und die auch nach dem dritten Attest, begleitet von allen Befunden, keine Chance dazu erhält; der 85 Jahre alte schwerkranke Mann, den nur der Gedanke und die Hoffnung aufrecht erhält, seinen 1925 geborenen Sohn, der in der DDR lebt, noch einmal zu sehen, und der erleben muß, daß dieser Sohn trotz fortgesetzter Bemühungen bei den zuständigen Behörden der DDR den Besuch nicht antreten kann.
Die Kinder eines seit 1966 in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ehepaares der Geburtsjahrgänge 1909 und 1913, das früher in der DDR ansässig war, konnten nicht einmal anläßlich der Goldenen Hochzeit, anläßlich der ihr folgenden schweren Erkrankung des Vaters und schließlich zum Begräbnis des Vaters die Besuchserlaubnis der DDR-Behörden erhalten.Aber es sind nicht nur diese menschlichen Tragödien, die uns belasten. Es belasten uns ebenso die ununterbrochenen, in jüngster Zeit verstärkten Bemühungen der Verantwortlichen in der DDR, die dortige junge Generation im Rahmen der sogenannten sozialistischen Wehrerziehung zum Haß zu erziehen. Diese Haßerziehung steht in direktem Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen, denen sich die DDR unterworfen hat, ganz besonders im Blick auf die Schlußakte von Helsinki.Wir bedauern den neuesten Beschluß zur Intensivierung der Wehrerziehung des Politbüros der SED, über den das „Neue Deutschland" am 22./23. Juni dieses Jahres berichtete. Wenn der stellvertretende
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Böhm
Verteidigungsminister der DDR, Generaloberst Heinz Keßler, vor dem 10. ZK der SED die Bedeutung der „sozialistischen Wehrerziehung als gesellschaftliches Anliegen und ganz besonders die allseitige Vorbereitung der Jugend auf den Wehrdienst" unterstreicht, dann ist das kein Beitrag zum Frieden in Europa.Verträge einhalten, Vertrauen bilden, Haß abbauen und Menschenrechte gewähren — das allein kann den Frieden in Europa sichern.
„Es darf nie wieder Krieg ausgehen von deutschem Boden!" Wer wollte dieser Überzeugung nicht zustimmen? Am Anfang aber jeder kriegerischen Auseinandersetzung steht die Verletzung von Menschenrechten. Darum dürfen wir in Deutschland nie wieder zur Verletzung von Menschenrechten schweigen. Wir tun es nicht!
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19a bis 19 c auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Grunenberg, Dr. Klejdzinski, Antretter, Dr. Corterier, Ewen, Fischer , Herterich, Dr. Holtz, Klose, Nagel, Purps, Rapp (Göppingen), Dr. Schwenk (Stade) und der Fraktion der SPD
Tiefseebergbau
— Drucksachen 10/2932, 10/3447 —
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Internationaler Seerechtsgerichtshof der Vereinten Nationen
— Drucksache 10/2930 —
c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen
— Drucksache 10/2931 —
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 19a und 19c und eine Aussprache von 60 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Sprung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte gibt mir Gelegenheit, die Haltung der Bundesregierung zum Tiefseebodenregime des UN-Seerechtsübereinkommens und zu unseren Verhandlungszielen noch einmal zu erläutern.Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung schwerwiegende Vorbehalte gegen denjenigen Teil desUN-Seerecl-tsübereinkommens, der den Tiefseebergbau regelt. Die Bundesregierung hat ausschließlich wegen dieses Teils entschieden, das Seerechtsübereinkommen nicht zu unterzeichnen. Sie ist der Auffassung, daß auf diese Weise die Möglichkeiten größer sind, notwendige Verbesserungen zu erreichen.In der Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion sind die Bestimmungen, gegen die sich unsere Bedenken richten, im einzelnen aufgelistet. Sie sind darüber hinaus im Bundestag mehrfach eingehend erörtert worden. Ich kann daher darauf verzichten, sie noch einmal hier vorzutragen.Nur soviel, meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen: Diese Bestimmungen sind vor allem als ein Präjudiz für andere Bereiche der Weltwirtschaftsordnung problematisch. Sie enthalten aber auch erhebliche Belastungen und Unsicherheiten für den Tiefseebergbau privater Unternehmer, der auf dieser Grundlage wirtschaftlich nicht möglich ist. Statt internationaler Wettbewerbsfreiheit schafft die Konvention ein bürokratisches System mit neuen Formen des Protektionismus zugunsten traditioneller Rohstoffproduzenten. Die Interessen der Verbraucher werden völlig vernachlässigt.Statt den Tiefseebergbau zu ermutigen, wird die Entwicklung dieser neuen Technologie durch zahlreiche Belastungen erschwert. Statt die freiwillige Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Technologietransfers zu fördern, verlangt die Konvention den obligatorischen Transfer technologischen Wissens, was die wünschenswerte Zusammenarbeit nur behindern kann.Ein Meeresbergbausystem, das nur bestehende Strukturen schützt und konserviert, schafft kein Wohlstandswachstum und wäre darüber hinaus wirtschaftspolitisch und entwicklungspolitisch ein falscher Weg. Wohlstandswachstum ist nur zu erreichen, wenn sich Initiativen frei entfalten und überholte Strukturen ändern können. Daran sollten auch die Entwicklungsländer ein Interesse haben.Wir glauben, daß diese Erkenntnis sich zunehmend auch im internationalen Bereich durchsetzen wird, und wir wollen dies durch geduldiges Bemühen unterstützen. Wir wollen daher auch nicht den Eindruck erwecken, als könnten wir uns mit einem Tiefseebodenregime in der vorliegenden Form anfreunden oder als könnten wir es letztlich doch akzeptieren, wenn es nur gelänge, es durch einige Verordnungen der Vorbereitungskommission technisch und finanziell anwendbar zu machen.Meine Damen und Herren, um dies auch ganz klar und deutlich zu sagen: Wir fordern nicht die Änderung der gesamten Struktur des Meeresbodenregimes. Wir akzeptieren eine fachlich kompetente Meeresbodenbehörde, die unsere Interessen berücksichtigt, und wir akzeptieren auch ein internationales Meeresbergbauunternehmen auf einer vernünftigen wirtschaftlichen Grundlage. Wir wünschen jedoch — und dies ist der entscheidende Punkt — grundsätzliche Änderungen einzelner wirtschaftspolitischer Kernbestimmungen dieses Teils des Seerechtübereinkommens, und wir sind
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11180 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Parl. Staatssekretär Dr. Sprungwie Großbritannien der Auffassung, daß dies eher möglich ist, wenn wir über unsere Haltung von vornherein keine Mißverständnisse entstehen lassen. Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern geduldig für diese Verbesserungen eintreten, und zwar innerhalb wie auch außerhalb der Vorbereitungskommission.Die Vorbereitungskommission hat zwar gegenwärtig kein Mandat, über Änderungen der Konvention zu verhandeln. Die Verhandlungen dort werden aber die künftige Entwicklung gleichwohl erheblich beeinflussen. Wir werden unsere Vorstellungen in der Vorbereitungskommission daher sehr deutlich erläutern und klarstellen, wie wir uns ein Tiefseebodenregime, das für alle wichtigen Tiefseebergbaustaaten akzeptabel ist, vorstellen. Dort, wo durch Verordnungen dieser Kommission Probleme gelöst werden können, werden wir konkrete Vorschläge dazu vorlegen.Kurzfristig werden wir unsere Ziele sicherlich nicht erreichen können. Zunächst bedarf es der Einsicht der Mehrheit, daß uns die Regeln für den Tiefseebergbau in eine Sackgasse geführt haben. Erst wenn diese Erkenntnis Allgemeingut geworden ist, wird es möglich sein, einen neuen Verhandlungsprozeß einzuleiten.Wir haben auf der Frühjahrstagung der Vorbereitungskommission in Kingston in einer Grundsatzerklärung aber auch Verhandlungen über die Kernprobleme angeboten. Diese Erklärung ist mit großem Interesse aufgenommen worden. Ich glaube daher, daß die Einsicht wachsen wird, daß bei einem Abseits-Stehen wichtiger Industrieländer das Meeresbodenregime und die davon für die Dritte Welt erwarteten Vorteile nicht wirksam werden können. Wir werden in den kommenden Sessionen der Vorbereitungskommission weiter in diese Richtung wirken. Wir würden es begrüßen, wenn wir uns dabei — wie in der Vergangenheit — auf einen breiten Konsens im Parlament stützen können.Meine Damen und Herren, unser langfristiges Ziel bleibt eine Seerechtskonvention und ein Meeresbodenregime, das von allen Staaten, d. h. auch von den westlichen Tiefseebergbaustaaten, getragen werden kann. Ob es gelingt, hängt allerdings nicht nur von uns allein, sondern auch von der Einstellung der anderen Industrieländer, vor allem aber auch von der Einstellung der USA ab. Wir können unsere Vorstellungen nur im Verbund mit den anderen westlichen Tiefseebergbaustaaten durchsetzen. Daher werden wir — wo immer uns dies möglich ist — Konsultationen mit den USA, mit Großbritannien, mit Frankreich und mit Japan führen, um die westliche Koordinierung in der Vorbereitungskommission zu stärken und um die USA zu einer größeren Mitwirkung an dem beginnenden Denkprozeß zu bewegen.Meine Damen und Herren, wir haben wiederholt unsere Kooperationsbereitschaft auf allen Gebieten der Meereswirtschaft erklärt. Wir haben neue Vorschläge zur Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern und mit einem internationalen Unternehmen im Tiefseebergbau in die Diskussion eingeführt. Dies alles beweist, daß die Nichtzeichnung dieser Seerechtskonvention nicht den Weg in das maritime Abseits bedeutet, das so oft befürchtet wird. Wir wissen, daß unsere meereswirtschaftlichen Chancen in der internationalen Zusammenarbeit liegen. Wir treten daher auf allen Gebieten der Meereswirtschaft für die Bewahrung der Freizügigkeit, für die Stärkung der Marktkräfte, d. h. insbesondere für die Abkehr von Protektionismus, die Beendigung des Subventionswettlaufs und für die Zusammenarbeit mit allen Staaten ein.Dies gilt für alle Bereiche der Meereswirtschaft und nicht nur für den Tiefseebergbau, auf den sich die Diskussion in der letzten Zeit konzentriert hat.Ein Beweis für das gewachsene Interesse an diesen Fragen ist die Bildung der Meereswirtschaftskommission beim Bundesminister für Wirtschaft. Diese Kommission soll eine Plattform der Wirtschaft sein, um alle meereswirtschaftlichen Interessen zur Geltung zu bringen.Ich hoffe sehr, daß sich die Bundesregierung bei den kommenden meereswirtschaftlichen Aufgaben auf einen breiten parlamentarischen Konsens stützen kann. In der sachlichen Bewertung der Seerechtskonvention waren die Bundesregierung und die überwältigende Mehrheit des Parlaments — bisher wenigstens — stets einig. Es wäre äußerst nützlich, wenn es dabei bliebe. Ein solcher Konsens könnte die Position der Bundesregierung bei den bevorstehenden Verhandlungen und bei der Verwirklichung ihrer meereswirtschaftlichen Ziele nicht unbeträchtlich stärken. Dies läge in unser aller Interesse.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grunenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Bundesrepublik vollzieht sich gerade in diesen Tagen der höchste Ausdruck meerespolitischen Lebenswillens: die Kieler Woche. Gott sei gedankt, daß unser Staatsoberhaupt mit Vornamen Richard und nicht Wilhelm heißt. Das bietet Gewähr dafür, daß auf der Kieler Förde nicht der Herrscher des Atlantiks den Herrscher des Pazifiks grüßt.Jüngste Ereignisse bei uns reizen zu einer Gedankenverbindung zu Ereignissen vor gut 200 Jahren, als sich der von Statur kleine Friedrich der Große mit Schlesien beschäftigte, während andere die Machtverhältnisse auf den Weltmeeren änderten. Der Bundeswirtschaftsminister ist sogar bereit, einen Meereswirtschaftszweig, die Hochseefischerei, auf dem Altar seiner ordnungspolitischen Grundsätze oder Vorstellungen — oder wie man es bezeichnen soll — zu opfern.
— Lesen Sie denn nicht die FAZ? Das ist doch Pflichtlektüre.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11181
GrunenbergDie Deutschen und das Meer, bis heute von einem Extrem ins andere stolpernd dank ihrer Regierenden.Während bis zum 10. Dezember 1984 durch die Zeichnung der Seerechtskonvention 155 Staaten diese Erde dokumentierten, daß sie sich zu einem Vertragswerk bekennen wollen, welches für den Bereich der Meere dieser Welt konkrete Friedenssicherung und Konfliktverhütung verspricht, Rechtssicherheit für die Meeresnutzer schafft, steht die Bundesrepublik durch Entscheid der Regierung vornehm in der Reihe von 16 Staaten als Außenseiter der Völkergemeinschaft: die Bundesrepublik auf einem kleinen meerespolitischen Friedhof am Rande pulsierenden Lebens und Treibens.Nun zur Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zum Tiefseebergbau. Es sind präzise Fragen gestellt und diffuse, auch widersprüchliche Antworten gegeben worden; wie üblich eine Aufzählung der Dinge, die man nicht will. Nun ist ständige Kritik am Teil XI der Seerechtskonvention, die seit drei Jahren insbesondere vom Wirtschaftsminister zu hören ist, wohl keine konstruktive Politik.Es gibt gravierende ordnungspolitische Bedenken in der Frage des Technologietransfers, aber keinen Vorschlag, wie sich die Regierung das vorstellt. Etwa grundsätzlich keinen Technologietransfer? Oder in welcher Form sonst?Es gibt Bedenken wegen der finanziellen Regelungen einschließlich der Abgabenbelastung, aber keinen Vorschlag, ob man z. B. Förderlizenzen und Abgaben nach deutschem Muster gestaltet haben will.Es gibt Bedenken wegen der rohstoffpolitischen Regelungen und Produktionsbeschränkungen zugunsten der traditionellen Rohstoffländer. Aber wie verträgt sich das mit unseren Abhängigkeiten von Rohstoffimporten aus terrestrischen Förderländern?Es gibt Bedenken wegen der Revisionskonferenz. Aber soll es in einigen Jahren oder Jahrzehnten denn keine Möglichkeit die Revision einer Konvention geben, wenn sie nicht praktikabel sein sollte?Es gibt Bedenken wegen der Zusammensetzung und Entscheidungsmechanismen der Meeresbodenbehörde. Soll dafür ein Oberbergamt eingerichtet werden? Das kann man auch einmal sagen. Oder soll das Greenbook der USA von 1982 wieder eingebracht werden? Oder die nächste Frage: Welche Partner in der Vorbereitungskommission werden für unsere Änderungsvorschläge einstehen? Etwa Kanada, Japan, Australien oder Frankreich?Die Schlußakte der 3. UN-Seerechtskonferenz — von uns unterzeichnet — sieht gemäß Resolution I die Vorbereitungskommission vor mit der Aufgabe, die ausfüllungsbedürftigen Teile der Seerechtskonvention operativ umzusetzen. Die Kommission soll insbesondere die Voraussetzungen für die Errichtung der internationalen Meeresbodenbehörde und des Internationalen Seerechtsgerichtshofs und die Ausführungsvorschriften für den Tiefseebergbau erarbeiten. Das Mandat soll nach Auskunft der Bundesregierung keine Zuständigkeit zur formalenÄnderung der Seerechtskonvention einschließen. Im Rahmen der Ausführungsregelungen ist es aber möglich, Bestimmungen der Seerechtskonvention zu interpretieren und zu ergänzen. Das heißt, das Mandat der Kommission ist nicht festgelegt bezüglich Teil XI des Konventionstextes. Das beweist schon die Praxis, z. B. in der Zusicherung eines Bergbaufeldes für die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie das Seerechtsübereinkommen gezeichnet hätte, und beweisen die laufenden Verhandlungen bezüglich der Abbaufelder Japans, Frankreichs und der Sowjetunion.Die Vorbereitungskommission arbeitet jedenfalls munter sehr praxisbezogen weiter, allerdings zugunsten der Zeichner der Konvention. Aus unserer Sicht ist es Aufgabe der Regierung, durch konkrete Änderungsvorschläge zu klären, wie weit das Mandat der Vorbereitungskommission geht.Machen Sie Änderungsvorschläge, Herr Außenminister und Herr Wirtschaftsminister, konkrete Änderungsvorschläge!Aber im federführenden Auswärtigen Amt ist der Arbeitsstab „Seerecht" aufgelöst. Der oberste Chef des Amtes wandelt fröhlich weiter über den Wolken, und sein Parteivorsitzender und Bundeswirtschaftsminister argumentiert in peinlicher Weise mit Begriffen gegen die Seerechtskonvention — auch in Gegenwart ausländischer Gäste, wie am 13. Juni dieses Jahres hier in Bonn —, mit Begriffen, die in der Konvention nicht enthalten sind. Es ist auch schwer, mit einem Vertragstext zu arbeiten, der nur unvollkommen in unsere Sprache übersetzt wurde. Genau dieser fehlerhafte Text ist aber die Vorlage für die Übersetzungskonferenz der deutschsprachigen Länder Bundesrepublik, DDR, Osterreich, Schweiz, Liechtenstein. Bekanntlich sind Begriffe der einen Sprache für eine andere Sprache interpretationsfähig. So ist es kein Wunder, daß alle diese Staaten für diese Übersetzungsverhandlungen zu den jeweiligen Teilen der Seerechtskonvention ihre Experten und Sachkenner hinzuziehen, nur nicht die Bundesrepublik.Schiffahrtsrelevante Teile, Abgrenzungskriterien, Umweltschutz, Fischerei, militärische Nutzung, wissenschaftliche Meeresforschung, Streitbeilegungssystem und Seerechtsgerichtshof, Tiefseebergbau mit und ohne Pionierstatus, Technologietransfer, kurz, alle diffizilen Bereiche müssen ins Deutsche übertragen werden.Während die DDR durch Botschafter Dr. Görner, dem langjährigen Leiter der DDR-Seerechtsdelegation, in der Vorbereitungskommission jetzt Vorsitzender der Unterkommission 4 — Seerechtsgerichtshof —, aus der letzten UN-Generalversammlung Vorsitzender des Rechtsausschusses, in der deutschsprachigen Konferenz am Verhandlungstisch sitzt, unterstützt von seinen Experten, begnügen wir uns damit, einen Beamten des auswärtigen Dienstes und zwei Dolmetscherinnen mit einem teilweisen mangelhaften deutschen Text in dieses Fegefeuer zu schicken, ohne die federführend zuständigen Ressorts zu beteiligen.
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11182 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
GrunenbergIn der EG ist Deutsch eine Amtssprache. Es ist die Frage, ob dieser deutsche Text, der im wesentlichen von den Nicht-EG-Staaten Schweiz, Österreich und DDR gestaltet wurde, in der EG verwendet und anerkannt wird.
Warum wurde die EG an der Erstellung des deutschen Textes der Seerechtskonvention nicht beteiligt, zumal sie doch an allen Verhandlungen der III. UN-Seerechtskonferenz teilgenommen hat? Ein deutscher Text ist dringlich, wenn außer Teil XI die UN-Seerechtskonvention nach Auffassung der Bundesregierung Gewohnheitsrecht ist oder wird. Es sollten zumindest die Exekutivorgane des Bundes die Seerechtskonvention lesen können. Es steht nirgends geschrieben, daß die Exekutive und auch Bundestagsabgeordnete die Amtssprachen der UNO, nämlich Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, zur Berufsausübung exakt beherrschen müssen.Auch im Interesse der reibungslosen parlamentarischen Arbeit bitte ich Sie, dem Antrag auf Drucksache 10/2931 zuzustimmen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer den Beitrag des Kollegen Grunenberg eben verfolgt hat und sich an die dramatisch aufgemachte Aktuelle Stunde zu der Frage erinnert,
ob die Bundesregierung zeichnet oder nicht — Frau Kollegin Timm, Sie sind ja schon bei der leisesten Zwischenbemerkung sehr empfindlich —, der wird sich auch daran erinnern, daß damals, als auch der SPD-Vorsitzende Brandt einschwebte, um in Fragen des Nord-Süd-Konflikts seine Darstellung zu dieser Frage, ob wir zeichnen sollen oder nicht, zu geben, so getan wurde, als wenn wir bei einer Nichtzeichnung in einer großen Dramaturgie an die Wand gedrückt würden. Der jetzt gerade so ruhig sprechende Abgeordnete Grunenberg hat sogar im Auswärtigen Ausschuß vorhergesagt, daß eine Nichtzeichnung beinahe dem Austritt der Bundesrepublik aus der UNO gleichkäme.
Daran muß man erinnern, wenn man jetzt die zurückhaltenden Ausführungen der Sozialdemokraten hört und man sich hier umschaut, um festzustellen, wer von den Sozialdemokraten im Moment — bei einer Großen Anfrage zu diesem Thema — im Saal sitzt. Da ist ja außer der profihaft dazwischenrufenden Parlamentarischen Geschäftsführerin kaum etwas sichtbar!
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU begrüßt die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Sozialdemokraten zum Tiefseebergbau und zur Seerechtskonvention. Die Sozialdemokraten dramatisierten vor einigen Monaten die Befürchtung, die Bundesrepublik werde in der Vorbereitungskommission isoliert sein. Sie behaupteten weiterhin, die Nichtzeichnung verstoße nicht nur gegen wohlverstandenes außenpolitisches Interesse der Bundesrepublik Deutschland, sondern schade zudem dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Völkergemeinschaft nachhaltig.Die Realität sieht anders aus. Die Bundesrepublik Deutschland wurde in die konstruktive Beratung der Vorbereitungskommission integriert. Insbesondere die Grundsatzerklärung des deutschen Vertreters vom 11. März 1985 im Plenum der Vorbereitungskommission stieß auf Aufmerksamkeit. Es war ein starkes Interesse erkennbar, die Bundesrepublik Deutschland trotz ihrer Nichtzeichnung in die inhaltliche Diskussion um die Ausgestaltung des Seerechts einzubeziehen.Die CDU/CSU begrüßt ausdrücklich die konstruktive Haltung der Bundesregierung, die sich darin manifestiert, daß die Bundesregierung eine weitere engagierte Mitarbeit im Rahmen der Vorbereitungskommission angekündigt, die Gründe für ihre Nichtzeichnung dargelegt und dafür Verständnis gewonnen hat.Die Entwicklungsländer befinden sich nunmehr in einer Phase des Nachdenkens. Die darin begründete Chance soll die Bundesregierung nach Meinung der CDU/CSU nutzen, um gemeinsam mit anderen westlichen Ländern langfristig neue Verhandlungen zur Seerechtskonvention zu erreichen. Dies um so mehr, als die Entwicklungsländer erkennen, wie wenig hilfreich weitere Ergebnisse der Seerechtskonvention sind, wenn wesentliche Länder wie die USA, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland außenvor bleiben.Chancen, die eigenen Vorstellungen durchzusetzen, ergeben sich derzeit nur im Verbund mit den westlichen Tiefseebergbaustaaten. Aus diesem Grunde hat die CDU/CSU durch ihren Fraktionsvorsitzenden, Herrn Dr. Dregger, den Außen- wie auch den Wirtschaftsminister gebeten, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um eine allseits akzeptierte Konzeption für ein multilaterales Meeresbodenregime zu ermöglichen.Übereinstimmend erklärten beide Minister in ihrer Antwort, daß die Bundesregierung jede Chance, ihre Vorstellungen in der Vorbereitungskommission multilateral zu erläutern, wahrnehmen wird. Darüber hinaus wies der Bundeswirtschaftsminister darauf hin, daß die meereswirtschaftlichen Chancen der Bundesrepublik Deutschland in der internationalen Zusammenarbeit liegen, insbesondere deshalb, weil die Bundesrepublik Deutschland selbst nicht über ein eigenes Küstenvorfeld verfügt.Die gesamte deutsche Meerestechnik stellt ein beachtliches Wirtschaftspotential dar. Aus diesem Grunde ist es notwendig, vordringlich das Ziel zu verfolgen, der deutschen Meereswirtschaft im inter-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11183
Kittelmannnationalen Rahmen möglichst umfassende Betätigungsfelder offenzuhalten. Angesichts der hohen Leistungsfähigkeit der deutschen meerestechnischen Industrie stellen die in Teil XI der Seerechtskonvention kodifizierten Regelungen — z. B. hinsichtlich des Technologietransfers — die deutsche Industrie vor unlösbare Probleme und inakzeptable Bedingungen.Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Sprung dafür, daß er dies hier noch einmal klargestellt hat, und darf Herrn Grunenberg daran erinnern, daß er jahrelang gemeinsam mit mir diese inakzeptablen Bedingungen herausgestellt hat, so daß es schon mehr als ein Hammelsprung ist, den er hier vollführt, wenn er so tut, als würden all diese Probleme nicht mehr existieren.
Andere westliche Länder zeichneten die Seerechtskonvention übrigens ausschließlich aus nationalen Gründen, um z. B. ihre eigene Rohstoffproduktion zu sichern. Also mehr, um zu verhindern, als zu gestalten. Offensichtlich würde dies angesichts der geplanten rigiden Produktionsmengenbeschränkung gemacht, denn diese schützt ausgerechnet die Landproduzenten bestimmter Rohstoffe. Dann ist nicht davon die Rede, daß es angeblich auch um die Interessen der Dritten Welt oder aber um ein gemeinsames Erbe der Menschheit geht.Angesichts der Tatsache, daß die Zeichnerstaaten zum Teil aus rein nationalen Beweggründen die Seerechtskonvention gezeichnet haben, sollte auch die Bundesrepublik Deutschland ihrerseits die eigenen nationalen Interessen hervorheben und gegenüber anderen Ländern offensiv vertreten.
Die deutsche Meerestechnik hat ein beachtliches Potential. Bedeutsam ist hier vor allem die marine Rohstoffgewinnung. Ziel muß es deshalb sein, den Zugang zur Meeresnutzung und die damit verbundene Technologieentwicklung zu sichern.Vorrangiges Problem der deutschen Meerestechnik ist deshalb der Marktzugang, weil sie ansonsten ohne Chance bei der Erstellung von Referenzanlagen im eigenen Marktbereich ist. Die Bundesregierung ist ihrerseits bemüht, der deutschen Industrie geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Darüber hinaus erwartet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aber auch seitens der Industrie die Bereitschaft zum Engagement und zur Ausnutzung jeder Chance einer Zusammenarbeit, z. B. mit Ländern der Dritten Welt. — Sei es kooperativ im Rahmen eines Joint ventures oder in anderen Bereichen.Das von Schleswig-Holstein und der Bundesregierung am 13. Juni dieses Jahres initiierte Meeressymposium verdeutlichte, daß die Bereitschaft zum Engagement wächst. Gerade weil Tiefseebergbau zur Zeit in wirtschaftlicher Hinsicht noch ein Fernziel ist, muß auf dem Weg zu diesem Ziel alles getan werden, um den Anschluß nicht zu verlieren.Meine Damen und Herren, gerade auch der Meerestechnologie kommt im Hinblick auf die Rohstoffgewinnung erhebliche Bedeutung zu. Diese ist nicht nur auf den meerestechnologischen Sektor beschränkt, sondern wirkt sich auch nachhaltig im Hinblick auf den Dienstleistungsbereich wie auch in der Anlagenindustrie aus. Diese Chancen bieten sich aber nur, wenn man an der Lösung technischer Probleme aktiv mitarbeiten kann.Deshalb ist es unabdingbar, Anschluß im Hochtechnologiebereich zu halten. Letztes ist aber wiederum nur möglich, wenn der deutschen Industrie die entsprechenden Zugangsmöglichkeiten offenstehen. Gerade dies ist aber im Teil XI der Seerechtskonvention — Tiefseebergbau — nicht gewährleistet.
Zwar zwingt die derzeitige entspannte Lage auf den Rohstoffmärkten nicht zu verstärkten Tiefseebergbau-Aktivitäten, weshalb auch viele, die vor Jahren glaubten, es sei fünf Minuten vor zwölf, ihre Aktivitäten inzwischen beinahe wieder eingestellt haben. Deshalb beweist das Verhalten der Sowjetunion und anderer, daß es ihnen bei ihrer Zeichnung der Konvention mehr um die Verhinderung von Tiefseebergbau als um seine Gestaltung geht.Aber dies alles darf uns nicht davon abhalten, gemeinsam mit anderen westlichen Industriestaaten aktiv an der positiven Gestaltung mitzuarbeiten.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir sehr darauf achten müssen, daß die Seerechtskonvention mit ihren Folgen nur ein Teil von internationalen Verträgen ist. Viele internationale Verhandlungen, die zur Zeit stattfinden — ich erinnere an die Antarktis-Verhandlungen —, beinhalten bereits ähnliche protektionistische planwirtschaftliche Vorstellungen, wie wir sie in der Seerechtskonvention gefunden haben.
Ich fordere die Bundesregierung auf — und ich darf ihr zusichern, daß die CDU/CSU ihre Arbeit sehr aufmerksam verfolgen wird —, nicht nur in der Seerechtskonvention unserer konstruktiven kritischen Unterstützung sicher zu sein, sondern auch in anderen Bereichen der internationalen Verhandlungen darauf zu achten — je globaler und größer die Verhandlung, desto aufmerksamer —, daß Gedanken von Planwirtschaft, Dirigismus, überzogenen bürokratischen Einrichtungen, die letztlich niemandem nutzen, weder der Dritten Welt noch uns, nicht Platz greifen.
Es muß uns gelingen, zusammen mit anderen zu überlegen — wenn der Nachdenkungsprozeß in der Dritten Welt so weit ist, mag es in zwei, oder in drei Jahren sein, daß sie merkt, ohne USA, ohne Großbritannien, ohne die Bundesrepublik wird der Tiefseebergbau nicht praktikabel sein —, wie wir gemeinsam eine Lösung finden. Diese muß wirklich den Gedanken eines gemeinsamen Erbes der Menschheit mit beinhalten. Eine Lösung, in der Entwicklungsländer, die kein technisches Know-
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11184 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Kittelmannhow haben, die keine langen Küsten haben, auch an dem beteiligt werden, was der Gewinn aus der Ausbeutung der Meeresschätze erbringt — soweit diese einmal wettbewerbsfähig werden. Dies würde dann wirklich vielen Menschen auch in der Dritten Welt helfen. Ich darf herzlich für Ihre Aufmerksamkeit danken.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Eid.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Lassen Sie mich zu Beginn mein Bedauern darüber ausdrücken, daß im Bundestag zum wiederholten Mal über dieses Abkommen zu einer Zeit debattiert wird, in der die Aufmerksamkeit der Medien kaum noch gegeben ist.
Der Redaktionsschluß der großen Tageszeitungen ist vorbei. Gerade wenn die Bundesregierung der Meinung ist, daß dieses Abkommen Ausstrahlung auf andere Bereiche der Weltwirtschaftsordnung hat, wie ich der Antwort auf die Anfrage der SPD entnehmen kann, sollten ihre Vertreter mit uns zusammen dafür sorgen, daß solche Themen öfter zu besseren Tageszeiten placiert werden.
Wir sollten gerade hier das Thema „Weltwirtschaftsordnung" und unser Verhältnis zur Dritten Welt ernster nehmen.
Doch jetzt zum Abkommen selbst und zur Anfrage der SPD. Ihnen wird vielleicht nicht entgangen sein, daß wir in der Frage des Seerechtsübereinkommens eine Wende vollzogen haben. Sowohl die Anfrage der SPD als auch die Haltung der Bundesregierung, die sich in der Antwort niederschlägt, bestätigen unsere Auffassung erneut. Um noch größeren Schaden zu verhindern, fordern wir GRÜNEN die Bundesregierung heute auf, alles in die Wege zu leiten, daß sie auch nach Ablauf der Frist im vergangenen Dezember dieses Abkommen noch zeichnen kann.
Das Abkommen ist natürlich ungenügend. Deshalb haben wir noch 1983 eine Zeichnung abgelehnt. Zum einen haben wir prinzipiell Schwierigkeiten mit der weiteren besitzmäßigen Aufteilung der Weltmeere durch die Erweiterung auf die 200Seemeilen-Wirtschaftszone. Dadurch werden die Binnenstaaten, die zu den ärmsten in der Welt gehören, noch stärker benachteiligt, und vom gemeinsamen Erbe der Menschheit, als das die Weltmeere und der Meeresgrund durch das Abkommen gesichert werden sollen, bleibt noch weniger übrig.
Zum zweiten sind die heutigen Methoden des Tiefseebergbaus ökologisch durchaus nicht unverfänglich. Welche Folgen für Meeresfauna und -flora sich dadurch ergeben, können wir überhaupt noch nicht abschätzen.
Diese Defizite haben jedoch überhaupt nichts mit der Kritik zu tun, die Sie, meine Herren und Damen von der Koalition und auch von der SPD, am fertigen Abkommen üben. Für Sie ist es schon zuviel, wenn Sie durch einen Technologietransfer den ärmeren Ländern den Tiefseebergbau ermöglichen sollen.
Deshalb hat die Koalition das Abkommen nicht gezeichnet, und dieselbe Kritik entnehmen wir dem Antrag der SPD vom September vergangenen Jahres — nur mit dem Unterschied, daß die SPD die Zeichnung fordert, um noch Nachbesserungen im Sinne der deutschen Konzerne Salzgitter AG und Preussag zu bewirken, damit die Exklusivität der reichen Nationen auf den Weltmeeren erhalten bleibt. Ganz in diesem Sinne hatte j a auch seinerzeit die sozialliberale Koalition mit einer Reihe anderer Industriestaaten einen Separatvertrag für das ergiebigste Schürfgebiet für Manganknollen im Pazifik abgeschlossen, um das UN-Abkommen zu unterlaufen.
Nein, meine Herren und Damen, wir sind nicht der Meinung, daß den Ländern der Dritten Welt jetzt unbedingt die modernste Großtechnologie in Sachen Tiefseebergbau aufgedrängt werden soll. Der Transfer soll ja laut Abkommen zu angemessenen Preisen stattfinden. Dies würde bedeuten, daß sich die interessierten Regierungen und größeren Konzerne dieser Länder noch stärker zu Lasten der Interessen ihrer Bevölkerung in die Verschuldung stürzen. Unserer Ansicht nach besteht derzeit vom Rohstoffbedarf her überhaupt nicht die Notwendigkeit zum gigantischen Schürfen viele .100 m unter der Erde.
Am ehesten wäre hier wohl zunächst einmal ein Moratorium angebracht; aber die Freibeuterei auf dem Meeresboden, das Recht des Stärkeren — in dem Fall des finanzkräftigen Nordens, und die ärmeren Länder bleiben auch hier wieder draußen —, das kann für uns nicht die Alternative sein!
Deshalb ist der vertragslose Zustand für uns genauso inakzeptabel wie der Versuch, hier noch Nachbesserungen im Sinne bundesdeutscher . Konzerne und derjenigen der anderen Industrieländer zu erreichen. Deshalb fordern wir GRÜNEN die Bundesregierung auf, alles zu unternehmen, selbst noch nach Fristende zeichnen zu können. Nach unseren Erkundigungen im Wirtschaftsministerium wäre dies ohne weiteres möglich.
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch hinzufügen, dem Antrag der SPD, eine deutsche Übersetzung anfertigen zu lassen, stimmen wir zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich stelle hier sicherlich im Einvernehmen mit dem Kollegen Grunenberg und dem Kollegen Kittelmann fest, daß uns
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Beckmanndas politische Interesse nicht nur auf die Nutzung und Beherrschung des Weltraums, sondern auch auf die Meere unserer Erde ausrichtet. Das wird auch durch mehrere Veranstaltungen in jüngster Zeit dokumentiert. Vor zwei Wochen hat in Bonn ein Meeressymposium stattgefunden, zu dem Bundeswirtschaftsminister Dr. Bangemann und sein schleswig-holsteinischer Kollege Westphal eingeladen haben. Die Resonanz dieser Veranstaltung war wirklich sehr beachtlich. Einen Tag später hat die Meereswirtschaftskommission beim Bundesminister für Wirtschaft ihre dritte Sitzung abgehalten. Dort wurde einstimmig ein Globalkonzept „Meerestechnik" verabschiedet. Heute bietet sich hier bei uns im Parlament die Gelegenheit, nach der Entscheidung der Bundesregierung zur Zeichnung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen eine erste Bilanz über die weitere Entwicklung in diesem Bereich zu ziehen.Die Große Anfrage der SPD-Fraktion zielt gerade auf den Teil des Seerechtsübereinkommens, der nach unserer Auffassung ungenügend geregelt ist. Dies war für uns übrigens Ende des vergangenen Jahres auch der Hauptgrund, einer Zeichnung des Übereinkommens nicht zuzustimmen.Ich darf noch einmal daran erinnern, daß sich unsere gravierenden Bedenken insbesondere auf folgende Bestimmungen der Konvention beziehen.Erstens. Die Tiefseebergbauunternehmen müssen an die UN-Behörde eine Abgabe zahlen, die vom Ertrag unabhängig ist und die das wirtschaftliche Ergebnis der Unternehmen erheblich beeinträchtigt.
— Ich stimme Ihnen zu, Herr Dr. Dregger.Zweitens. Die Unternehmen müssen ferner ihre eigene Technologie und die ihrer Unterlieferanten an die UN-Behörde übertragen. Das soll zwar nur unter bestimmten Voraussetzungen — z. B. im Streitfall auf Grund eines Schiedsurteils — erfolgen, aber es bleibt im Endergebnis bei der zwangsweisen Verpflichtung zum Technologietransfer gegen den Willen der Verfügungsberechtigten.Drittens. Andere Vorschriften betreffen Beschränkungen des Meeresbergbaus, der im Interesse der traditionellen Rohstoffländer Quotenregelungen unterliegt und nur eine untergeordnete Rolle spielen darf.Viertens. Als Schlußpunkt der dirigistischen und protektionistischen Bestrebungen sieht diese Konvention vor, daß das gesamte Meeresbodensystem nach 25 Jahren in einer Revisionskonferenz mit Dreiviertelmehrheit völlig abgeändert werden kann, und zwar mit bindender Wirkung auch für die überstimmte Mehrheit. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei einem derartigen Gruselkatalog restriktiver und protektionistischer Vorstellungen ist doch wohl die Zurückhaltung eines Engagements der Industrie im Zukunftsmarkt Meerestechnik und Meeresnutzung nur allzu verständlich.
Eine vernünftige Meerespolitik hätte eine Liberalisierung und Internationalisierung aller Meeresnutzungen anstreben müssen. Im übrigen stehen wir mit unseren Vorbehalten j a auch nicht allein. Sie werden weitgehend von den Staaten geteilt, die wie Japan, Frankreich, Italien, Belgien und die Niederlande das Seerechtsübereinkommen unterzeichnet haben, die Ratifizierung dieses Übereinkommens aber von weiteren Verhandlungen abhängig machen wollen. Auch bei diesen Staaten haben die Bestimmungen des Tiefseebergbauregimes bisher keine allgemeine Zustimmung gefunden. Wir befinden uns also in guter Gesellschaft; denn diese Länder verfolgen ähnliche Ziele wie die Bundesregierung.Meine sehr verehrten Kolleginnen, meine Herren Kollegen, in diesem Zusammenhang begrüßt meine Fraktion, daß es der deutschen Delegation gelungen ist, an den Beratungen der Vorbereitungskommission als Beobachter mit Rede- und Vorschlagsrecht teilzunehmen. Von einem Abseitsstehen, wie es die Opposition immer wieder so eindrucksvoll an die Wand gemalt hat, Herr Kollege Grunenberg, kann also überhaupt keine Rede sein.
Wesentliche Gestaltungsmöglichkeiten werden aber mit den Industrieländern, die unsere Interessen teilen, in nächster Zukunft leider nicht durchsetzbar sein. Das Mandat der Vorbereitungskommission schließt keine Zuständigkeit zur formalen Änderung des Seerechtsübereinkommens ein. Es können lediglich im Rahmen der Ausführungsbestimmungen einzelne Regelungen des Seerechtsübereinkommens interpretiert und ergänzt werden. Diese Möglichkeiten — darüber sind wir uns im klaren — müssen nachdrücklich genutzt werden. Es scheint mir jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt noch zu früh zu sein, um beurteilen zu können, ob sich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt aus dieser Diskussion eine grundsätzliche Änderung der Struktur des Tiefseebergbauregimes ergeben kann.Eines ist jedenfalls abzusehen: Es kann nur ein Tiefseebergbauregime wirksam werden, das auf weitgehender Akzeptanz der Staaten beruht. Ein internationales Unternehmen und eine internationale Meeresbodenbehörde werden sich ohne die Industrieländer nicht finanzieren lassen.
Damit wächst im übrigen auch langfristig der Druck, den Vorstellungen der Industrieländer entgegenzukommen und sowohl ihren wirtschaftlichen Zielvorstellungen als auch den berechtigten Interessen der Tiefbergbauindustrie zu entsprechen.Meine Damen und Herren, der Abbau der Tiefseerohstoffe wird sicherlich jetzt und in den nächsten Jahrzehnten noch nicht wirtschaftlich sein. Hier stehen wir noch am Beginn eines langen Verhandlungsprozesses in den internationalen Gremien, aber auch am Beginn eines Reflektionsprozesses für die nationale Meereswirtschaftspolitik. In gewissem Maße besteht bei uns im Vergleich zu
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11186 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Beckmannanderen Staaten auch ein Nachholbedarf. Die Probleme der deutschen Meereswirtschaft beruhen zu einem erheblichen Teil auf objektiven Gründen, z. B. auf den gegebenen geographischen Nachteilen, wie jedermann leicht erkennen kann, der Protektion auf dritten Märkten und der internationalen Rohstoff situation.Mit der Errichtung einer Meereswirtschaftskommission beim Bundesministerium für Wirtschaft wurde nun ein geeignetes Forum geschaffen, ein Globalkonzept für die deutsche Meereswirtschaft zu entwickeln. Wir sind dem Bundeswirtschaftsminister dafür sehr dankbar.
Unstreitig, meine sehr verehrten Damen, meine Herren Kollegen, ist: Die deutsche Meeresforschung genießt auf Grund ihrer Leistung heute noch einen weltweiten Ruf. Auch die deutsche meerestechnische Industrie hat in vielen Bereichen international eine Spitzenstellung und Spitzenleistungen vorzuweisen, so z. B. im Spezialschiffbau, in der Unterwassertechnik und bei den Bohrinseln. Schließlich haben wir auch in der Meerestechnik eine Spitzenstellung erreicht, die wir nicht verspielen wollen. Es gilt, unsere Position zu verteidigen. Die FDP-Fraktion sagt all diesen Bestrebungen ein herzliches Glückauf.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Klose.Klose SPD: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich Ende vergangenen Jahres gegen die Zeichnung der Seerechtskonvention entschieden. Ich will darüber jetzt nicht mehr streiten. Die Gründe, die sie für diese Entscheidung genannt hat, beziehen sich auf das sogenannte Meeresbodenregime. Dieses Regime wird aus grundsätzlichen ordnungspolitischen Erwägungen abgelehnt, wofür ich — ich sage das, um Ihnen an diesem Abend eine Freude zu machen — ein gewisses Verständnis habe, auch wenn ich die vorgetragenen Bedenken nicht in allen Punkten teile.Im übrigen hat sich die Bundesregierung aber in allen Äußerungen eher positiv zu den anderen Teilen der Seerechtskonvention geäußert, und der Leiter der deutschen Delegation hat das in seinem Schreiben vom 15. März 1985 an die Vorbereitungskommission noch einmal bestätigt.Das ist nicht eben viel. Aber es ist, wie ich zugebe, auch nicht ganz unwichtig. Denn die Bundesrepublik muß deutlich machen, daß sie an einer allgemein akzeptierten Kodifizierung des Meeresvölkerrechts interessiert ist, welche Regeln sie akzeptiert und welche für sie vor allem im Interesse der deutschen Seeschiffahrt unverzichtbar sind. Auf die allmähliche Herausbildung von Gewohnheitsrecht kann sie nicht warten. Sie muß gestaltend Einfluß nehmen.Ob sie das als Nichtzeichnerstaat kann, ist zweifelhaft. Die Sitzung der Vorbereitungskommission in Kingston hat darüber jedenfalls keinen Aufschluß gebracht. Teilnehmer berichten, daß die Nichtzeichnung die Stellung der Bundesrepublik weder merklich verschlechtert noch merklich verbessert habe; es habe sich aber gezeigt, daß bei kritischen Situationen in Sachverhandlungen andere Staaten, vor allem die Gruppe der 77 und die Sowjetunion, durchaus bereit seien, die Tatsache der Nichtzeichnung anzusprechen, um deutsche Sachvorstellungen abzublocken.Ich bin nicht dabei gewesen und kann es folglich nicht beurteilen. Aber mir erscheint unverändert die Befürchtung begründet, daß wir auf Dauer an Gestaltungsmöglichkeiten eher verlieren, die wir für eine Verbesserung des Vertragswerks brauchen, zumal da unser Gewicht als Kurzküstenstaat mit dem der Vereinigten Staaten oder auch Großbritanniens überhaupt nicht zu vergleichen ist. Die Perspektiven für die deutsche Meereswirtschaft sind jedenfalls nach meiner Einschätzung — ich bedauere, das sagen zu müssen — eher zurückhaltend zu beurteilen. Hoffentlich irre ich mich.Was mich — das werden Sie vielleicht verstehen — persönlich berührt, ist die Frage des Seerechtsgerichtshofs. Um diese Frage habe ich mich noch als Hamburger Bürgermeister intensiv gekümmert, übrigens seinerzeit in guter Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, das die Kandidatur Hamburgs nicht nur angemeldet, sondern tatkräftig unterstützt hat, wofür ich bei dieser Gelegenheit noch einmal danke.Um so betrüblicher finde ich es, daß diese Frage heute von der Bundesregierung insgesamt so sehr in den Hintergrund gerückt wird, als sei für sie diese Frage von ganz nebensächlicher Bedeutung. Für Hamburg — und ich bin Hamburger Abgeordneter — ist sie das jedenfalls nicht,
auch wenn der Kollege Echternach gelegentlich diesen Eindruck zu erwecken versucht. Wir wünschen unverändert, daß der Seegerichtshof nach Hamburg kommt,
und wir gehen davon aus, daß die Bundesregierung in geeigneter Weise darauf hinwirkt, daß die Entscheidung zugunsten von Hamburg aufrechterhalten bleibt.Um das zu erreichen, muß die Bundesregierung tätig werden. Dazu gehört erstens, daß wir unser Interesse an einer Seerechtskonvention deutlich artikulieren. Dazu gehört zweitens die Formulierung von klaren politischen Zielen, besonders für den Bereich des von der Bundesregierung kritisierten Meeresbodenregimes. Dazu gehört drittens die Fähigkeit zum Kompromiß mit legitimen Interessen anderer Staaten, denen wir unsere Vorstellungen ja nicht einfach aufzwingen können. Dazu gehört viertens die klare Aussage der Bundesregierung gegenüber dem UN-Sekretariat, daß sie an der Entscheidung für Hamburg als Sitz des Seerechtsgerichthofs festhält. Dazu gehört fünftens die Fortsetzung
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Kloseder Planungsarbeiten für den Seerechtsgerichtshof in Hamburg.Die beiden zuletzt genannten Punkte sind um so bedeutungsvoller, als die Sowjetunion in Kingston die Initiative für eine Revision der Standortentscheidung ergriffen hat. Zugleich haben Jugoslawien und Portugal ihre Bewerbungen für Split und Lissabon reaktiviert. Darüber hinaus ist das UN-Sekretariat beauftragt worden, alle mit dem Sitz des Seerechtsgerichtshofs zusammenhängenden praktischen Fragen durch eine Studie zu klären. Nach deren Vorliegen ist mit einer erneuten und im Ergebnis offenen Diskussion der Sitzfrage in der Frühjahrssitzung der Vorbereitungskommission 1986 zu rechnen.Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, warum die Bundesregierung in dieser Frage so zögerlich vorgeht. Sind es finanzielle Erwägungen — jedenfalls hat der Bundesfinanzminister den Seerechtsgerichtshof in Hamburg bisher nicht als Baumaßnahme ausgewiesen, was geschehen müßte —, oder sind es politische Erwägungen, außenpolitische oder innenpolitische? Ich weiß es nicht. Für eine Antwort wäre ich dankbar. Ich glaube, daß das ganze Haus einen Anspruch darauf hat, diese Antwort zu hören.
Jedenfalls kann ich mich mit dem lapidaren Hinweis, eine Revision der Standortentscheidung stehe derzeit nicht an, nicht zufriedengeben. Das stimmt so nicht. Die Zeit läuft, jedenfalls in dieser Frage, erkennbar gegen uns.Meine Damen und Herren, die Politik des Aussitzens mag ja bisweilen ihre Vorteile haben; in diesem Fall führt die Abwartehaltung der Bundesregierung aber dazu, daß andere ohne uns und am Ende gegen uns entscheiden werden. Schon jetzt ist das sichere Ergebnis unserer Abstinenz eine deutlich einflußreichere Position der Sowjetunion gegenüber den Ländern der Dritten Welt.
Daß dies den deutschen und westlichen Interessen entspräche, kann ich nicht sehen.
Ich bitte daher die Bundesregierung, ihre abwartende Haltung aufzugeben und zu handeln.
Es kann doch auch für sie nicht politisch gleichgültig sein, ob 40 Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen eine UN-Institution auf deutschem Boden eingerichtet wird oder nicht.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition bitte ich nun ganz herzlich — und nehmen Sie es mir mal als eine herzliche Bitte ab —, wenigstens dem SPD-Antrag zum Seerechtsgerichtshof zuzustimmen, damit sich eine handelnde Bundesregierung der parlamentarischen Zustimmung sicher sein kann.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete von Geldern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße, daß wir uns im Deutschen Bundestag erneut über die Fragen des Seerechts unterhalten, weil dies wieder deutlich macht, daß die Aussage eines führenden deutschen Völkerrechtlers, die er in seiner Habilitationsschrift geschrieben hat, das Seerecht sei das Paradigma für das Scheitern parlamentarischer Kontrolle bei politischen Zukunftsfragen, jedenfalls für den Deutschen Bundestag nicht gilt. Wir sind eines der wenigen Parlamente, das die Seerechtsdiskussion von Anfang an aufmerksam und intensiv begleitet hat.
Aber diese Debatte heute hebt sich doch von denen der Vergangenheit insoweit ab, als die damalige Gemeinsamkeit, meine Damen und Herren von der SPD, heute nicht mehr gegeben ist.
Sie haben seit dem Regierungswechsel, wie Herr Kollege Kittelmann vorhin sagte, eine Art Hammelsprung, eine Wende vollzogen. Die Gemeinsamkeit, was die Anforderungen an ein für deutsche Interessen genügendes Seerechtsübereinkommen betrifft, ist von Ihnen einseitig aufgekündigt worden.Aber nun möchte ich zu zwei konkreten Fragen etwas sagen, die hier von den Kollegen Grunenberg und Klose angesprochen worden sind. Zunächst zur Frage der deutschen Übersetzung — dieses Thema entspricht auch einem Antrag der SPD —: Eine authentische für die völkerrechtliche Interpretation maßgebliche Sprachfassung gibt es nach Art. 320 des Seerechtsübereinkommens nur in den Amtssprachen der Vereinten Nationen; die kann es also nicht in Deutsch geben. Eine deutsche Übersetzung kann insofern nur für den internen Gebrauch maßgebend sein. Darüber wird seit geraumer Zeit mit den anderen deutschsprachigen Ländern verhandelt. Wegen des unterschiedlichen Standes der Vorbereitungen und Terminschwierigkeiten der anderen Beteiligten konnte ein erstes Treffen erst im Oktober 1984 stattfinden. Inzwischen sind zwei weitere Treffen abgehalten worden. In Anbetracht des Umfangs und der Schwierigkeiten der Übersetzung werden noch einige Treffen erforderlich sein. Aber es ist kein Zweifel, Herr Kollege Grunenberg, daß dem Anliegen des SPD-Antrags längst Rechnung getragen ist; die deutsche Übersetzung wird erstellt. Insofern brauchen wir diesen Antrag hier heute nicht anzunehmen. Wir können ihn getrost ablehnen, weil er mitten in eine Bemühung der Bundesregierung fällt.Das zweite ist die Frage des Seegerichtshofs in Hamburg. Herr Kollege Klose, als Sitz des Interna-
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Dr. von Gelderntionalen Seegerichtshofs ist in Art. 1 Abs. 2 der Anlage VI zum Seerechtsübereinkommen Hamburg festgelegt. Sie haben hier geschildert, welche Bemühungen sowohl Hamburgs als auch der Bundesregierung dazu geführt haben. Diese Bestimmung — das ist nun wichtig — wurde unter der Voraussetzung getroffen, daß die Bundesrepublik Deutschland im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Seerechtsübereinkommens Vertragspartner sein wird. Zum Inkrafttreten dieses Übereinkommens sind aber bekanntlich 60 Ratifikationen erforderlich. Wann diese Zahl erreicht sein wird, läßt sich zur Zeit überhaupt nicht voraussehen. Es liegen bisher 19 Ratifikationen vor.Durch die Entscheidung der Bundesregierung, das Abkommen nicht zu zeichnen, wird ein etwaiger deutscher Beitritt bekanntlich nicht ausgeschlossen. Deshalb vertreten wir den Standpunkt, daß eine neue Entscheidung über den Sitz des Seegerichtshofs vorerst weder erforderlich noch rechtlich überhaupt möglich ist. Unser fortbestehendes Interesse am Seegerichtshof ist den anderen Staaten in der Vorbereitungskommission und dem Sekretariat der Vereinten Nationen bekannt und wird bei allen sich bietenden Gelegenheiten von uns deutlich gemacht. Insofern zielt auch dieser zweite Antrag der SPD ins Leere. Es könnte eher schädlich sein, wenn wir neue Diskussionen über den Standort des Seegerichtshofs aufnehmen würden.
Ich möchte abschließend sagen — das gilt für die ganze Debatte heute abend —: Meine Damen und Herren von der SPD, zerreden Sie hier nicht ein Thema. Helfen Sie mit, die Meereswirtschaft zu entwickeln. Hier sind endlich fruchtbare Ansätze gemacht worden. Helfen Sie mit, daß wir unseren Partnern in den Vereinten Nationen mit Gelassenheit begegnen und die sich in der Zukunft bietenden Chancen zu einer Veränderung dieses Übereinkommens entschlossen nutzen. Danke schön.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 19b und 19c. Wer dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2930 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2931 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Auch dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und Dritte Beratung des von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes
— Drucksache 10/3453 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
— Drucksache 10/3536 — Berichterstatter:
Abgeordnete Becker
Broll
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/3552 — Berichterstatter:
Abgeordnete Carstens
Frau Seiler-Albring
Esters
Kleinert
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Broll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundestagspräsident hat den Bericht über die Anpassung der Diäten und der Kostenpauschale, zu dem er verpflichtet ist, zur rechten Zeit vorgelegt. Die drei Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP haben sich den Vorschlag des Präsidenten zu eigen gemacht. Wir haben ihn im Geschäftsordnungsausschuß beraten und haben keinen Grund gesehen, von dem Vorschlag abzuweichen. Im Gegenteil: Wir finden diesen Vorschlag außerordentlich vernünftig.Es gibt also im wesentlichen keinen politischen Streit um diese Frage. Es war j a der Sinn des Gesetzes, das vor drei Jahren gemacht worden ist, daß die Anpassung der Aufwandsentschädigung und der Kostenpauschale für uns Abgeordnete eine gewisse Normalität bekommen soll, so wie andere Anpassungen, etwa die der Beamtengehälter, im Grunde auch die der Tarifbediensteten in der freien Wirtschaft, der Renten usw., auch eine gewisse Normalität sind.Es ist ja nicht leicht, angesichts der immerhin sehr beliebten Kritik an diesem Teil unserer Tätigkeit selbst über das zu beschließen, was wir bekommen. Das fällt den meisten schwer. Schwer ist es auch — das wissen wir —, die Höhe vor all denen zu rechtfertigen, die weniger verdienen. Das ist für denjenigen immer schwer, der mehr verdient, zumal die Tätigkeit, die wir hier ausüben, für viele recht undurchsichtig ist. Dieses Schicksal teilen wir mit vielen freien Berufen, mit vielen in führenden Stellungen Beschäftigten. Das ist unser Schicksal.
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BrollWir müssen es tragen. Der Beruf, den wir ausüben, macht uns ja auch außerordentlich viel Spaß. Wir säßen ja nicht hier, wenn wir diese Freude trotz aller Beschwernisse, die wir in Kauf nehmen, nicht hätten.
Wenn es darum geht, wieder aufgestellt zu werden, sieht man, wieviel Freude doch der einzelne jeweils an der Tätigkeit hat.
Freude aber macht eine Tätigkeit um so mehr, wenn sie nicht nur in sich selbst Befriedigung schafft, sondern wenn sie auch entsprechend honoriert wird.
Es gibt also, wie ich sagte, keinen politischen Streit zwischen den wesentlichen Fraktionen dieses Hauses. Der Streit wäre auch nicht begründet gewesen, weder wegen des politischen Gehaltes, den die Sache nicht hat, noch wegen der Höhe der Sätze, um die es geht.
Die Kostenpauschale wird angesichts der allgemeinen Kostenentwicklung um den sehr genau ausgerechneten Satz von 2,4 %, sprich: 195 DM, erhöht, und die Diäten werden um den Satz erhöht, der sich wiederum aus der Berechnung der allgemeinen Entwicklung der Einkommen — Renten, Arbeitslosenhilfe, Tariflöhne, Sozialhilfe, Beamtengehälter usw. — ergibt, nämlich um den Durchschnittssatz, um den sich alle diese erhöht haben, von 2,8 %, sprich: 224 DM.
Dieser Satz ist, wie gesagt, das Spiegelbild der allgemeinen Entwicklung. Mehr wollten wir uns j a selbst nicht geben.Auch die absolute Höhe ist durchaus gerechtfertigt. Ich habe eben noch in dem Bundestagshandbuch nachgesehen und festgestellt,
daß etwa 360 von rund 520 Abgeordneten ein akademisches Studium mit Examen abgeschlossen haben, also bereits einen bestimmten beruflichen Vorlauf haben. Auch die anderen, die kein akademisches Examen haben, sind in ihren Berufen, wie wir wissen, alle außerordentlich erfolgreiche Leute gewesen. Da ist eine Bezahlung an der unteren Schwelle des höheren Dienstes mindestens gerechtfertigt, wenn nicht vielleicht gerade schon das kaum noch Zumutbare.In diesem Sinne haben wir ein absolut reines Gewissen bei dem, was wir heute beschließen. Ich muß sagen, ich persönlich freue mich darauf und meine Familie mindestens genauso.Mich bestärkt bei meiner Tätigkeit ein persönliches Erlebnis: Als ich vor 20 Jahren junger Ratsherr war — damals in Opposition im Stadtrat von Oldenburg — meinte meine Fraktion ebenfalls, gegen eine geplante Erhöhung stimmen zu sollen. Wir waren furchtbar stolz. Ich habe vergessen, ob es Taktik oder ob es ehrlich gemeint war. Am nächsten Morgen las ich neugierig die Zeitung und hoffte, meinen Namen und andere rühmend erwähnt zu finden. Nichts dergleichen. Ausgelacht wurden wir. Was seien wir doch für Laffen, hieß es da. Wir seien die Minderheit und wüßten genau unser Nein würde gar nichts bewirken. Wir stimmten aus taktischen Gründen mit Nein und hofften doch auf die große Wohltat.Ich habe mir damals geschworen, nie würde ich mehr gegen eine Diätenerhöhung stimmen. Das habe ich bis heute eingehalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Becker .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich bei der dritten Lesung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes fünf Punkte herausstellen, von denen ich meine, daß die Grünen dreien uneingeschränkt zustimmen müssen: Erstens. Wir müssen selbst entscheiden. Zweitens. Wir achten auf alle Einkommensveränderungen bei der Festsetzung der Entschädigung. Drittens. Wir halten Augenmaß bei der Kostenpauschale. Viertens. Wir wollen noch größere Offenheit bei zusätzlichen Einkommen. Und fünftens. Wir wollen auch an die zukünftigen Parlamentarier denken, die einmal hier unsere Aufgaben wahrnehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zu den fünf Punkten ein paar Bemerkungen machen.Erstens. Nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1977 muß das Parlament selbst über die Höhe der Entschädigung und der Kostenpauschale entscheiden. Andere Gremien sind dazu nicht befugt.Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß eine unabhängige Kommission 1976 sich mit der Frage unserer Entschädigung und Kostenpauschale auseinandergesetzt und etwas festgelegt hat, das sieben Jahre Bestand hatte, ohne daß es verändert worden ist. Sieben Jahre lang!
Zum zweiten Punkt: Bei der Ermittlung der Veränderungen der Entschädigung haben wir Kriterien zugrunde gelegt: die Preisentwicklung, die Entwicklung der Nettoeinkommen, die Entwicklungen
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Becker
im sozialen Bereich, insbesondere auch bei der Rentenversicherung, Veränderungen bei der Arbeitslosenversicherung, Veränderungen beim Kindergeld, Veränderungen bei der Ausbildungsförderung, Veränderungen beim Wohngeld, Veränderungen bei der Sozialhilfe, die Entwicklung der Löhne und Gehälter in Industrie und Wirtschaft und Veränderungen bei den Vergütungen und Gehältern im öffentlichen Dienst.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben bei dem Vergleichsmaßstab, als wir 1983 an die Berechnung dieser Einkommen gegangen sind, einige Zielgruppen ins Auge gefaßt. Das waren zum Beispiel die hauptamtlichen Landräte, hauptamtliche Oberbürgermeister oder Oberstadtdirektoren und die Ministerialräte — nicht nur im Hause des Bundestages, sondern auch in den Ministerien.Bei Punkt drei, soweit es um die Veränderung der Kostenpauschale geht, haben wir die Entwicklung der Einzelhandelspreise und die Lebenshaltungskosten berücksichtigt, und zwar nur insoweit sie mit der Tätigkeit der Abgeordneten hier zu tun haben. Deswegen das Augenmaß bei der Kostenpauschale!In diesem Zusammenhang möchte ich beim vierten Punkt noch darauf hinweisen, daß wir gestern neue Verhaltensregeln über die finanzielle Situation der Abgeordneten erörtert haben. Wir werden im September oder Oktober dieses Jahres dazu kommen, daß wir größere Klarheit über unsere finanzielle Situation des Einkommens hier mit zusätzlichen Einkommen haben werden.
Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich darauf verweisen, daß der einzelne Abgeordnete in diesem Hause etwa 7,8 Jahre verweilt. Zu Beginn einer Wahlperiode ist die durchschnittliche Verweildauer aller 520 oder mehr Abgeordneten hier 6,2 Jahre. Am Ende einer Wahlperiode kommen wir auf 9,8 Jahre.Für die, die in diesem Hause tätig sind und einen Teil ihres Lebens im Interesse der Allgemeinheit verbringen, sind keine Reichtümer zu erwerben. Das möchte ich an dieser Stelle betonen.
Bei der Gesamtentwicklung der Einkommen möchte ich auch noch daran erinnern, daß wir nicht nur an uns jetzt denken müssen. Es ist sehr leicht, von überall zu fordern: keine Erhöhung der Einkommen der Abgeordneten. Wenn dies immer so weiter ginge, muß die Frage gestellt werden, wer denn eigentlich noch bereit ist, 80 Stunden in der Woche in Zukunft für das Volk zu arbeiten. Das muß man fragen.
In diesem Sinne, meine ich, waren wir gut beraten, jetzt kein 13. Monatsgehalt ins Gespräch zu bringen, sondern bei dem zu bleiben, was wir bisher vereinbart haben.Die SPD-Fraktion stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst eine gute Nachricht: Es wird heute abend keine namentliche Abstimmung geben.
Dann die schlechte Nachricht: Wir sind selbstverständlich gegen diese Diätenerhöhung.
Ich finde es peinlich, wenn die Mehrheit in diesem Hause
— hören Sie zu, von der Sozialdemokratie! — in der „Operation 83" sogar den Behinderten das Geld zusammengestrichen hat, während man heute, zwei Jahre später, an diesen Streichungen kosmetische Korrekturen vornimmt und gleichzeitig einen Diätenerhöhungsautomatismus genehmigt. Das finde ich peinlich.
Da sollten Sie in Ihrer Begründung für diese Diätenerhöhung ehrlicher sein. Es gibt da j a einen parteispezifischen Zynismus, den man einfach mal hier benennen muß.
In der letzten Debatte sagte der Kollege Dr. Bötsch von der CSU, jetzt hätten wir ein Verfahren, das auf Grund eines Katalogs die Chance bietet, die Diskussion über dieses leidige Thema in der Öffentlichkeit zu versachlichen und aus den Niederungen des Parteigezänks etwas zu entziehen.
Das kann ich verstehen, daß Sie die Frage der Diätenerhöhung aus den Niederungen des Parteiengezänks heraushaben wollen;
denn es würde doch, meine Damen und Herren von der CDU, Begehrlichkeit erwecken, wenn man die Höhe Ihrer Diäten mit dem vergliche, was Facharbeiter, Sozialhilfeempfänger und so weiter wirklich. beziehen. Ich habe noch nie, meine Herren von der SPD, eine derartige Scheinheiligkeit erlebt,
wie Sie hier dargestellt haben, auf wen Sie sich hier alles beziehen. Das ist derselbe Grund, weswegen ich gegen prozentuale Lohnerhöhungen bin. Sie sockeln drauf, Sie gehen von 6 500 DM prozentual hoch. Das ist wohl bei einem Sozialhilfeempfänger
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Dr. Müller
eine andere Situation. Deswegen ist es scheinheilig, was Sie hier machen. Das sollten Sie endlich mal zugeben.
Nun zu der Begehrlichkeit. Es gibt einen guten Grund, für die Absicherung und für hohe Diäten zu sein. Dieser Grund ist schlichtweg, jede Form von Vorteilsnahme, Bestechlichkeit und dergleichen zu verhindern. Nun habe ich aber gerade in der Pharmazie sehr stark den Eindruck gewonnen, daß die Begehrlichkeit mit der Höhe des Einkommens steigt.
Es war ja nicht der durchschnittliche kleine Abgeordnete, der nimmt und kriegt. Der ist das nicht, sondern es ist immer derjenige, bei dem das Einkommen schon sehr hoch ist. Insofern kehrt sich ja dieses Argument bedauerlicherweise um. Deswegen können wir GRÜNEN gerade aus demokratiespezifischen Gesichtspunkten dieser Erhöhung in keinster Weise zustimmen. Die Begehrlichkeit steigt mit dem hohen Einkommen. Deswegen haben wir hier Skandale wie Flick, wie Pharmazie und dergleichen zu behandeln.
Wir lehnen diese Art von Erhöhungsautomatismus deswegen ab, weil wir der Meinung sind, daß die Diätenhöhe öffentliches Thema bleiben sollte. Was Sie wollen, ist nach italienischem Modell Scala mobile. Sie kennen j a die Auseinandersetzung, die man in Italien hat. Ich garantiere Ihnen, wir werden selbstverständlich die gleiche Auseinandersetzung in diesem Hause haben. Das heißt, das Thema sind wir auf diese Weise nicht losgeworden.
Dafür, daß Sie von der Sozialdemokratie das Thema, das Ihnen so peinlich ist, nicht loswerden, werden wir als GRÜNE auch weiterhin garantieren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Müller, wenn Sie sich hier einen sozialen Anstrich geben
— Herr Doktor Müller,
ich nehme an, Sie sind im öffentlichen Dienst tätig —, dann frage ich Sie: Haben Sie einmal die Briefe von Hinterbliebenen unserer verstorbenen Kollegen gelesen?
Das zu Ihrer larmoyanten Darlegung in diesem Bereich.Im übrigen will niemand einen Automatismus einführen. Nur haben wir eine gesetzliche Verpflichtung, den Bericht des Bundestagspräsidenten, den dieser jährlich vorzulegen hat, hier zu diskutieren und damit öffentlich zu machen, unsere Vorstellungen darzulegen. Das werden wir Jahr für Jahr auch weiter tun.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Gründe, die uns veranlaßt haben, die hier vorgesehenen Erhöhungen durchzuführen, sind von meinen Vorrednern und in den vergangenen Wochen ausreichend dargestellt worden und bedürfen keiner weiteren Erörterung. Ich möchte mich deshalb auf einige wenige grundsätzliche Erwägungen beschränken, die sich aus der hier zu diskutierenden Materie ergeben.Wenn es um die finanzielle Ausstattung des Abgeordneten geht, dann geht es, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, immer auch um ein Stück Unabhängigkeit des Abgeordneten, um die Funktion und die Stellung des Mandatsträgers in unserer demokratischen Staatsordnung, wie es in Art. 38 des Grundgesetzes vorgesehen ist. Das Amt eines Bundestagsabgeordneten — das muß auch in der Öffentlichkeit klar gesagt werden — ist nach unserer Verfassung ein oberstes Staatsamt, ein Amt, das Einsatz und Verantwortung gegenüber dem ganzen Volk abverlangt. Das ist kein „Job", den man mal so eben übernimmt, weil vielleicht gerade kein besonderes Angebot am Markt war. Es ist eine Aufgabe, die der einzelne Abgeordnete für seine Wähler wahrnimmt und vor diesen auch zu verantworten hat.Dieser Bedeutung und dieser Verantwortung und der Belastung durch das Amt steht die aus der Staatskasse zu gewährende Entschädigung gegenüber. Sie ist als Entgelt für die Inanspruchnahme des Abgeordneten durch sein zur Hauptbeschäftigung gewordenes Mandat zu verstehen. Das hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt. Das Verfassungsgericht hat aber auch gesagt, daß der Abgeordnete damit nicht etwa zum Staatsbeamten avanciert wird, sondern der vom Vertrauen der Wähler getragene Inhaber eines öfentlichen Amtes, Träger des freien Mandats und Vertreter des ganzen Volkes ist. Gerade aus diesem Grunde bin ich auch nicht dafür, die Entschädigung des Abgeordneten wie die Alimentation eines Beamten zu behandeln und zu handhaben.
Insbesondere wird sich meine Fraktion — das will ich hier ausdrücklich betonen — klar all denjenigen entgegenstellen, die die Einführung eines dreizehnten Monatsgehalts für Abgeordnete auf ihren Schild gehoben haben. Wir jedenfalls werden dem schlechten Beispiel der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Hessen nicht folgen.
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11192 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
BeckmannEine derartige Ausweitung der Abgeordnetenentschädigung werden wir jedenfalls nicht mitmachen.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir werden den beiden vorgeschlagenen Änderungen des Gesetzes zustimmen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Artikel 1 bis 4, Einleitung und Überschrift zur Abstimmung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —
Die aufgerufenen Vorschriften sind mit Mehrheit gegen eine Reihe von Gegenstimmen angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist das Gesetz mit Mehrheit angenommen worden.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Günther Jansen hat eine schriftliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zur Abstimmung abgegeben*). Ich stelle das für das Protokoll fest.
Ich rufe Punkt 21 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jaunich, Frau Schmidt , Kuhlwein, Gilges, Delorme, Fiebig, Hauck, Müller (Düsseldorf), Weisskirchen (Wiesloch), Frau Dr. Lepsius, Sielaff, Witek und der Fraktion der SPD
Ergebnis der ärztlichen Vorprüfung im März 1985
— Drucksache 10/3462 —
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
Ergebnis der ärztlichen Vorprüfung im März 1985
— Drucksache 10/3560 —
Entgegen der Ankündigung in der Tagesordnung ist für die beiden Anträge nicht Ausschußüberweisung, sondern Beschlußfassung vereinbart worden.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Punkte a und b und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
*) Anlage 2
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Delorme.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die ärztliche Vorprüfung, das sogenannte Physikum, ist auch in diesem Jahr ins Gerede gekommen. Es war schon ein Schock, daß von den 5 675 Kandidaten
42,08 % durchgefallen sind, und man sprach sicher nicht zu Unrecht von einem Katastrophenphysikum.
Herr Abgeordneter, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Ich möchte Ihnen ein bißchen Ruhe verschaffen.
Ich kann mir vorstellen, daß es einige Kollegen gibt, die über etwas anderes sprechen wollen als über das, was auf der Tagesordnung steht; aber ich bitte, das außerhalb des Raumes zu tun oder dem Redner hier Gehör zu schenken.
Bitte schön, Herr Delorme.
Denn es ist in der Tat eine persönliche Katastrophe für fast 2400 junge Menschen, die bei dieser Prüfung auf der Strecke blieben.Es ist auch nicht verwunderlich, daß der Verdacht aufkam, daß man angesichts der angekündigten Ärzteschwemme durch Herausprüfen die Zahl der nachdrängenden Mediziner reduzieren wollte. Dieser Verdacht ist sehr laut und sehr eindeutig geäußert worden. Ich darf hier einen Verband zitieren, der sicher nicht in dem Verdacht steht, daß er ein Hort von Systemveränderern ist, nämlich den Ring Christlich Demokratischer Studenten, dessen stellvertretender Bundesvorsitzender, Herr Debertin, nachdem er Bezug auf die — wie er es sieht — dubiose Praxis des Instituts für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen genommen hat, wörtlich erklärt hat: Der Verdacht liegt nahe, daß sich das Institut politischem Druck gebeugt habe.Meine Damen und Herren, wir wissen — das ist sehr breit diskutiert worden —, daß das angewandte Prüfungssystem erhebliche Mängel hat. Diese Feststellung haben nicht nur die Betroffenen gemacht, sondern diese Feststellung ist auch durch eine Fülle von Fachgutachten belegt, und auch der Bundesrat hat sich diese Meinung zu eigen gemacht.Nun ist das Physikum nicht zum erstenmal so negativ aufgefallen. Bereits 1981 sind 56 % der Prüflinge durchgefallen. Nur hat man damals entschlossen reagiert und hat die Ungereimtheiten sofort beseitigt. Die damalige Gesundheitsministerin Frau Antje Huber hat veranlaßt, daß die Prüfungsergebnisse nachgebessert werden, und sie hat auch eine Änderung der Prüfungsordnung veranlaßt.Die Prüfungsordnung ist in der Approbationsordnung in § 14 festgelegt. Ursprünglich war Bestehensbedingung, daß 60 % der gestellten Fragen zutreffend beantwortet werden. Man hat auf Grund
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Delormedieser negativen Erfahrungen des Jahres 1981 eine Relativierung eingebaut. Man hat eine Fehlerquote von 18% toleriert. Man hat aber daran festgehalten, daß mindestens 50% der gestellten Fragen richtig beantwortet werden müssen. Man hat damit auch einem Spruch des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen, das vorgeschlagen und angeregt hatte, von der absoluten Quote zu einer relativen Quote überzugehen, ähnlich wie es in den USA, in Kanada, in Japan und in der Schweiz der Fall ist. Die Bestehensgrenze — ich sagte es schon — von 60 % wurde durch eine Gleitklausel mit 18 % aufgebessert, aber dieser starre „50-%-Anker" wurde belassen.In diesem Jahr ist nun diese Regelung völlig schiefgelaufen, denn bei der sehr niedrigen Durchschnittsquote von lediglich 53,1 % der bestandenen Prüfungen mußte diese 50-%-Klausel natürlich wie eine Barriere wirken.Der Bundesrat, der sich mit dieser Frage befaßt hat, hat erfreulich einsichtig reagiert. Er hat einen Antrag beschlossen, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, eine grundsätzliche Änderung des bisherigen Prüfungssystems in der ärztlichen Ausbildung herbeizuführen und die Mitwirkung der Hochschulen am Prüfungsverfahren zu verstärken.Die Länder haben sich darauf verständigt, eine Kommission einzusetzen, die die Prüfungsfragen der ärztlichen Vorprüfung vom März 1985 überprüft. Ziel der Überprüfung ist es festzustellen, ob Prüfungsfragen wegen ihrer Ungeeignetheit eliminiert werden müssen.So steht es wörtlich in dem Beschluß des Bundesrates.Nun werden Sie sagen, meine Damen und Herren von der Koalition: Das wollen wir ja auch. In der Tat, Sie haben sich, nachdem sich das Gesundheitsministerium zunächst mit Zehen und Klauen dagegen gewehrt hat, dazu durchgerungen, soweit eine Verbesserung durchzuführen. Aber das reicht nicht aus. Sie dürfen nicht auf halbem Weg stehenbleiben, denn darüber hinaus hat der Bundesrat gefordert:Für den Fall, daß dieses Verfahren nicht bis Ende Juli zu einer wesentlichen Nachbesserung der ärztlichen Vorprüfung vom März 1985 führt, fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, durch Änderung der Approbationsordnung kurzfristig die Bestehensregeln zu ändern und das Ergebnis der Prüfung im Interesse der betroffenen Medizinstudenten nachzubessern.Weiter sagt der Bundesrat:Sollte es nicht zu einer Nachbesserung kommen, muß denjenigen Kandidaten, die die ärztliche Vorprüfung nicht bestanden haben, die Möglichkeit gegeben werden, die Prüfung zu wiederholen, gegebenenfalls in mündlicher Form.Genau das wollen wir mit unserem Antrag.Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang ein Zitat vortragen, das der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht, im Bundesrat gebracht hat. Unter anderem sagte er:Wenn an einer Hochschule von 100 geprüften Studenten 80 das Examen nicht bestehen, dann ist Anlaß gegeben, sich zu fragen, ob die Prüflinge oder ob nicht vielmehr die Prüfer etwas falsch gemacht haben.
Meine Damen und Herren, wir meinen, nicht die Studenten sind dümmer geworden. Und selbst wenn — was wir ausschließen — die Hochschulen versagt hätten, kann man die Studenten dafür nicht bestrafen.
Auch hier darf ich Ihnen noch einmal ein Zitat von Herrn Albrecht vortragen und darf Sie bitten, das zu beherzigen und wirklich ernst zu nehmen.Es bleibt die Frage: Was ist mit denen, die nun die Leidtragenden dieses Systems gewesen sind? Dazu will ich ganz klar unsere Position darlegen. Es ist Unrecht, das man diesen Menschen angetan hat. Es ist in der Tat zum Teil lebensentscheidend, wenn hier eine solche Prüfung nicht bestanden wurde, auch in Anbetracht der Situation des großen Angebots an nachwachsenden Medizinern. Wenn hier jemand durchgefallen ist, kann das eine ganze Lebenskarriere zerstören. Wir müssen das deshalb sehr, sehr ernst nehmen. Wenn wir eine Nachbesserung verlangen, heißt das nicht, daß wir der Meinung wären, hier sollte auf Leistungsstandards verzichtet werden; aber wir brauchen die richtigen und nicht die falschen Leistungsstandards.
Meine Damen und Herren, wenn man diese Worte akzeptiert — und ich glaube, es besteht Anlaß dazu —, dann wäre es für Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sicher richtig, entsprechend zu handeln. Andernfalls hätte ich persönlich dafür kein Verständnis.Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen, der sich weitgehend mit der Forderung des Bundesrates deckt. Ich beantrage, über diesen Antrag abschnittsweise abstimmen zu lassen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Becker.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Delorme, wir werden diesem Vorschlag nicht folgen, und ich werde Ihnen auch erzählen, aus welchen Gründen.
Hohe Durchfallquoten in der ärztlichen Vorprüfung sorgen hin und wieder für Schlagzeilen und Studentendemonstrationen. Dies hängt wahrscheinlich mehr damit zusammen, daß alle Prüfun-
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Dr. Becker
gen im ganzen Bundesgebiet an einem Tag ablaufen, während die übrigen Prüfungen in anderen akademischen Fächern zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden.
Bei anderen Studiengängen sind Durchfallquoten von 40, ja 60 % keine Seltenheit. Hier geht man schnell zur Tagesordnung bzw. zur Wiederholungsprüfung über.Bei dem Physikum im März — Sie haben es gehört — lag die durchschnittliche Mißerfolgsquote bei 42 % gegenüber sonst etwas über 20 %. Allerdings gibt es starke Quotenunterschiede zwischen den einzelnen Universitäten. So gab es in Würzburg eine Durchfallquote von 22 % und in Hannover von 79 % — bei den gleichen Fragen. Hier müssen Zweifel aufkommen, 'ob dies allein an den Prüfungsfragen gelegen hat. Es gibt in der Zwischenzeit einige Untersuchungen darüber, daß das mit der Dauer des Studiums zusammenhängt,
daß die Studenten, die in einem kurzen Weg studieren, d. h. nur die Mindestzahl der Semester hinter sich bringen, sehr hohe Erfolgsquoten haben und daß bei den Studenten, die schon etwas länger studiert hatten und die auch schon einmal Mißerfolg hatten, die höheren Durchfallquoten waren.
— Ich kenne diese Gutachten auch, Herr Delorme!Von über 5 600 Examenskandidaten bestanden 190 endgültig das Examen nicht; das sind etwas über 3 %. In anderen akademischen Fächern ist das etwa die gleiche oder eine etwas höhere Zahl.In dem Antrag der SPD wird nun die Forderung erhoben, auf dem Verordnungsweg das Prüfungsergebnis vom März nachträglich zu verändern. Dagegen, meine Damen und Herren, sprechen erhebliche rechtsstaatliche Bedenken. Wo soll denn dann die Nachbesserungsgrenze liegen: etwa bei 40 %, bei 30 % oder gar, Herr Delorme, bei 25 %?Eine andere Frage ist, ob die Durchführung der Prüfung — die Formulierung und die Aufstellung der einzelnen Fragen — rechtmäßig war oder nicht.
Hier wären aber die Länder zuständig. Dies ist keine Frage, die vom Bundestag geregelt werden muß. Das können die Länder in eigener Zuständigkeit regeln.Die Gesundheitsministerkonferenz hat sich daher auch schon Ende März zusammengesetzt und festgestellt, daß die ärztliche Vorprüfung nach Recht und Inhalt in Ordnung war.
— Herr Delorme, ich erzähle es Ihnen ja noch.In der Zwischenzeit sind bei einzelnen Ländern Zweifel aufgetreten. Sie haben in einer mehrheitlich — nicht einstimmig — angenommenen Entschließung am 14. Juni beschlossen, eine Kommission zur Überprüfung der Prüfungsfragen einzusetzen. Es soll rasch festgestellt werden, ob einzelne Prüfungsfragen als ungeeignet ausgesondert werden müssen, und dann wird sich auch das Prüfungsergebnis zugunsten der Studenten ändern. Diese Kommission soll ihre Arbeit Anfang Juli abschließen. Das Verfahren wäre auch das schnellste und wahrscheinlich allein praktikable Verfahren, um zu verhindern, daß die betroffenen Studenten ein Semester verlieren.Eine Änderung der Approbationsordnung, wie Sie sie anstreben, müßte erst wieder über den Bundesrat laufen. Diese Änderung würde dann frühestens am 27. September 1985 vom Bundesrat verabschiedet.
Dies bedeutet, daß dann die Studenten ein Semester voll verloren hätten.
— Das sind nicht zwei Paar. Wenn es so gemacht werden müßte, Herr Delorme, würden sie ein Semester verlieren;
denn das Sommersemester läuft bereits.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es, daß die Länder in ihrem Antrag jetzt auch bereit sind, für die Zukunft eine grundsätzliche Änderung der bisherigen schriftlichen Multiple-choice-Prüfung in die Approbationsordnung aufzunehmen. Das hatten sie bisher abgelehnt. Dies ist eine Forderung, die von vielen von uns — auch von der Regierung — seit über zwei Jahren erhoben wird. Dabei soll eine Ergänzung durch eine mündliche Prüfung unter stärkerer Mitwirkung der Hochschule am Prüfungsverfahren erfolgen.Es ist dann allerdings auch möglich, meine Damen und Herren, daß der anscheinende Erfolg über das sogenannte Skandalphysikum vom März 1985 zu einem Pyrrhus-Sieg für die Studenten wird; denn sie müßten ihr Lernverhalten weitestgehend ändern. Das Lernen nur nach dem Skript gehört dann der Vergangenheit an. Ich halte dies auch zugunsten der besseren Qualifikation des ärztlichen Nachwuchses für richtig.
Verfehlt allerdings erscheint es mir, anzunehmen, daß von der Bundesregierung und den Ländern die Prüfung als Bedarfssteuerungsinstrument für den ärztlichen Beruf eingesetzt wird, wie dies von studentischer Seite behauptet wird und auch etwas in Ihrem Antrag anklingt.
Da die rechtlich einwandfreie Regelung am schnellsten über die vom Bundesrat ergriffene Maßnahmeder Überprüfung des Examens erreicht werden
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11195
Dr. Becker
kann, lehnen wir den SPD-Antrag ab und haben einen Entschließungsantrag eingebracht, den wir zur Abstimmung stellen.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wagner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Jahr sind, wie wir gerade gehört haben, bundesweit 42 % der Medizinstudenten durch die Vorprüfung gefallen. Wenn nicht schon nach dem ersten Tag eine ganze Reihe von Studenten ausgestiegen wären, weil sie gesehen haben, wie sinnlos dieses Unterfangen der Prüfung war, wäre die Zahl noch höher gewesen. In einigen Städten wie Aachen, Essen und Hannover sind es denn auch zwischen 70 und 80 %, die durchgefallen sind.Dieses Ergebnis der letzten Vorprüfung ist nur ein Ausdruck der Kostendämpfungsstrategie der Bundesregierung. Der Zusammenhang zwischen dem Gerede von der Ärzteschwemme und dem Versuch, den Nachwuchs vom Markt fernzuhalten, ist zu eindeutig. Obwohl sonst immer von den freien Kräften des Marktes geredet wird, wird hier mit dirigistischen Maßnahmen versucht, den Markt zu beeinflussen.
Hilfestellung leistet dabei eine recht eigenartige Prüfungsordnung, die sich schematisch an durchschnittlichen Prüfungsleistungen im Bundesgebiet orientiert. Diese entscheiden, ob der einzelne Student die Prüfung besteht oder nicht. Es wird dabei aber vergessen, daß der Schwierigkeitsgrad je nach Art des abgefragten Stoffes unterschiedlich sein kann. So sind denn auch ganz andere Ergebnisse in unterschiedlichen Städten bei ein und derselben Prüfung vorgekommen. Dieser Stoff muß natürlich auch vorher vermittelt worden sein. Die Proteste der betroffenen Studenten zeigen, daß der Prüfungsstoff demokratisch erarbeitet werden muß und demokratisch kontrolliert sein muß. Dies ist nicht geschehen. Statt dessen hat die Gesundheitsministerkonferenz übereinstimmend festgestellt, daß die Prüfung formal und inhaltlich ordnungsgemäß durchgeführt und damit rechtmäßig war. Dies ist ein Hohn gegenüber dem Problem der Medizinstudenten, die immer häufiger die Vorprüfung wiederholen müssen und die dann faktisch gezwungen werden, die Ausbildung aufzugeben. Dies ist auch volkswirtschaftlich äußerst unsinnig. Diese Selektionspolitik benachteiligt vor allem die vielen auf BAföG angewiesenen Studenten, die neben ihrem Studium Lohnarbeiten müssen und sich eben nicht von morgens bis abends den Stoffen für das Multiple-choice-Verfahren in den Kopf bimsen können.
Die Gründe für die hohen Durchfallquoten sollen angeblich in den mangelnden naturwissenschaftlichen Kenntnissen der Studenten liegen. So ist zumindest von offizieller Seite zu hören. Die Kritik der GRÜNEN richtet sich nun gerade gegen das rein naturwissenschaftliche Verständnis von Krankheit.
Krankheiten haben immer etwas mit sozialen Verhältnissen der Menschen und mit psychologischen Faktoren zu tun. Fast die Hälfte der Patienten, die die Arztpraxen aufsuchen, leiden ausschließlich oder auch an psychosomatischen Krankheiten. Die Ausbildung der Ärzte muß diesem Umstand Rechnung tragen. Nicht die Zerstückelung des kranken Menschen in einzelne Organe, sondern der ganze Mensch einer kranken Umwelt müssen mit im Vordergrund stehen.
Dabei ist auch die Sensibilität für gesundheitsschädigende Arbeits- und Umweltbedingungen herzustellen.
Ich erinnere hier nur an den Umgang mit gifthaltigen Arbeitsstoffen oder an die Lagerung von Altlasten im Boden von bisher ungeahnten Ausmaßen. Auch für diese Probleme brauchen wir gut ausgebildete Ärzte.In den Krankenhäusern arbeiten Ärzte bis zu 36 Stunden ohne Freizeitausgleich, weil gespart wird, während arbeitslose Hochschulabgänger keine Einstellung bekommen. Vor allem im Interesse der Patienten, denen häufig ein total übermüdeter Arzt bzw. eine Ärztin am Krankenbett gegenübersteht und über Leben und Tod entscheiden muß, ist dieser Zustand unverantwortlich.
Noch eines will ich im Zusammenhang der sogenannten Kostendämpfungsstrategien deutlich sagen. Die bisherigen Strategien, zu denen auch die Begrenzung der Zahl der Studenten und Studentinnen gehört, sind fruchtlos. Wir können dies auch im Parlament nicht häufig genug betonen. Nicht die Zahl der Ärzte und der Medizinstudenten sind die Ursachen für die heutigen Probleme, sondern die verkrusteten Strukturen im Gesundheitswesen, wobei standespolitische Interessen der Ärztelobby und die Interessen der Pharma- und Geräteindustrie an erster Stelle stehen.
So werden neue, sinnvollere Methoden der Behandlung, der Beratung, der Abrechnung mit den Krankenkassen systematisch schon im Ansatz blockiert. Fazit ist dann die Fließbandarbeit der niedergelassenen Ärzte, die Vergabe von Medikamenten, die selbst wieder neue Krankheiten hervorrufen.Das Gerede von der Ärzteschwemme ist folglich bloße Ideologie. Wir brauchen Ärzte in den Betrieben, in den Gesundheitszentren und in der Wissenschaft, die den Zusammenhang von krankmachenden Arbeitsbedingungen und krankmachender Umwelt und Gesundheit sehen.Danke.
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11196 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In aller Freundschaft — ich wende mich jetzt an die Bundesregierung — zunächst einige kritische Bemerkungen. Als ich im Mai dieses Jahres durch eine Anfrage von der Bundesregierung ihre Auffassung zu den Ursachen des Ergebnisses der hier zu besprechenden ärztlichen Vorprüfung in Erfahrung bringen wollte, wurde ich in der Antwort darauf hingewiesen — zu Recht —, daß die Konferenz der Gesundheitsminister der Länder übereinstimmend die formale und inhaltliche Ordnungsgemäßheit und damit die Rechtmäßigkeit der Prüfung festgestellt habe und die Ursachen des Ergebnisses darin lägen, daß viele Medizinstudenten ihr Lernverhalten verstärkt einseitig auf das Auswendiglernen von Fragen und Antworten früherer Prüfungen ausrichteten. Auch als meine Fraktionskollegin Frau Dr. Adam-Schwaetzer, ebenfalls im Mai, eine ähnliche Anfrage zu diesem sogenannten Katastrophenphysikum einbrachte, erklärte die Bundesregierung: Es besteht aber kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß die Prüfungsfragen formal und inhaltlich in Ordnung und damit rechtmäßig waren.Doch wie das Leben so spielt — das erfahren wir —, sind natürlich die Vertreter der Länder im Bundesrat gewichtigere Fragesteller als unsereins, und deshalb ist seit diesen Antworten die Diskussion weitergekommen. Ich begrüße die intensive Aussprache und den Beschluß des Bundesrats zu unserem Thema. Ich habe den Ausführungen des Herrn Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit vor dem Bundesrat entnommen, daß die Bundesregierung jetzt, anders als in den erwähnten Antworten, die nochmalige Überprüfung der Geeignetheit und der Rechtmäßigkeit der einzelnen Fragen durch eine Kommission für richtig hält. Das begrüße ich und unterstreiche ich.Denn — auch das sage ich in aller kritischen Loyalität — wenn die Mißerfolgsquote jahrelang um, aber meist unter 20% liegt und im Frühjahr 1985 auf 42,1 % steigt und etwa in Hannover bei 75% liegt — was ja die Aufmerksamkeit des Herrn niedersächsischen Ministerpräsidenten erregt hat —, dann muß die Ursache intensiver untersucht werden, als es in der Antwort der Bundesregierung auf meine Anfrage den Anschein hatte.Natürlich kann andererseits eine derartige Quote als solche allein noch nicht als Grundlage für eine einschneidende Änderung genommen werden. Es geht um eine gründliche Überprüfung, wie sie der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen unterstützt.Deshalb und aus den Gründen, die der Kollege Becker genannt hat, kann der Antrag der SPD in der vorliegenden Fassung nicht unterstützt werden.Ich begrüße aber nachdrücklich, daß der Deutsche Bundestag — und das ist auf den Antrag der SPD zurückzuführen — sich noch vor der Sommerpause mit diesem Thema befaßt, wobei ich hoffe, daß später vielleicht nur noch über grundsätzliche Neuordnungen des Prüfungssystems zu diskutieren wäre, weil — das erwarte ich im Sinne dessen, was der Kollege Becker gesagt hat — Bundesregierung und Landesregierungen das konkrete Problem bis dahin in einer vernünftigen und befriedigenden Art erledigt haben.Sicher ist der Deutsche Bundestag nicht die Instanz, die Prüfungsfragen und Prüfungsergebnisse bewertet oder korrigiert. Aber es gehört, glaube ich, doch zu seinen Aufgaben, die an einem konkreten Fall sichtbar werdenden Probleme konkret und auch grundsätzlich zu thematisieren.Zu den grundsätzlichen Fragen einige Anmerkungen. Bereits im April 1981 — damit will ich nur zum Ausdruck bringen, daß ich nicht erst seit heute mit dem Thema beschäftigt bin — habe ich an die damalige Bundesregierung die Frage gerichtet: Ist die Bundesregierung bereit, das Prüfungssystem einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen, da bereits vor langem von Fachwissenschaftlern und Bildungspolitikern Bedenken gegen Multiplechoice-Verfahren und gegen die Tendenz zur Überprüfung abfragbaren computerisierten Wissens erhoben wurden?Das kann man, glaube ich, nicht durch Änderungen von Klauseln innerhalb eines Verfahrens erreichen.Damals erklärte sich die Bundesregierung dazu bereit. Sie verwies in ihrer Antwort auf eine damit beauftragte Sachverständigengruppe.Seitdem sind vier Jahre vergangen. Aber der Rede des Herrn Bundesministers vor dem Bundesrat entnehme ich, daß diese Arbeit erfreulicherweise kontinuierlich weitergegangen ist und daß Entwürfe vorliegen, die jedoch anscheinend auf Ablehnung in den Ländern und auch in den Hochschulen gestoßen sind.Deswegen erscheint mir die jetzt neu begonnene Diskussion im Bundesrat, die ja auch durch unseren Entschließungsantrag unterstützt wird, sehr notwendig.Es ginge zu weit, im Rahmen der Zeit hier mehr zu tun, als noch einmal einige grundsätzliche Zweifel an dem Multiple-choice-Verfahren, vor allem am ausschließlichen Benutzen dieses Verfahrens anzumelden,
weil es — vor allem im medizinischen Bereich — wesentliche Aspekte menschlicher Leistung und Eignung unberücksichtigt läßt.
Ärztliche Leistung, verehrter Herr Kollege Dr. Bekker, bezieht sich ja in der Praxis Gott sei Dank nicht auf das punktuelle fragebogenmäßige Abfragen von Symptomen. Da fällt mir immer die Geschichte von einem Bekannten ein, der kürzlich zu einem Arzt ging und über Herzbeschwerden klagte. Der Arzt riet ihm zunächst, sofort mit dem Rauchen aufzuhören, und hielt ihm einen Vortrag über die Gefährlichkeit des übermäßigen Tabakgebrauchs.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11197
NeuhausenAuf die Antwort dieses meines Bekannten, daß dies nicht möglich sei, erfolgte ein weiterer Vortrag über die gefährlichen Folgen des Rauchens, bis es meinem Bekannten endlich gelang, darauf hinzuweisen, daß ein sofortiger Rauchstopp deswegen keine Konsequenzen haben könne, weil er schon seit 20 Jahren dieser Leidenschaft entsagt habe — was seinem Arzt klarzumachen ihm aber erst mit großen Mühen gelang. — Meine Damen und Herren, diese scherzhafte Bemerkung hängt sehr intensiv mit dem Problem als solchem zusammen.Überdies — und das meine ich sehr im Ernst — liegt in der Scheinobjektivität solcher Verfahren eine sehr hohe Voraussetzungssubjektivität der Fragen. Auch das sollte einmal im Hinblick auf die Kombination mit der angestrebten mündlichen Ergänzung sehr sorgfältig überlegt werden. Aber das geht bis in Fragen der Wissenschaftstheorie hinein.Was überprüft werden soll, ist Leistung und Qualifikation. Ich spreche hier ausdrücklich von Leistung, die sachgerecht und menschengerecht zu überprüfen ist, weil ich es für falsch halte, die Diskussion über dieses Thema, wie es auch im Antrag der SPD geschieht, mit ganz anderen Themen zu vermischen. Das hat auch Konrad Adam in der „FAZ" kürzlich getan, als er dieses Thema mit dem Verhältnis von Breiten- und Spitzenförderung beim Studium in Verbindung brachte. Ich finde, hier geht es darum, Qualifikationen sachgerecht und — ich sage es noch einmal — auch menschengerecht festzustellen. Jede Instrumentalisierung, auch politische Instrumentalisierung dieses Themas zu anderen Zwecken ist höchst problematisch und dient in Wirklichkeit niemandem.Meine Damen und Herren — ich bitte Herrn Kuhlwein um Aufmerksamkeit —, der altgriechische Philosoph Epicharm aus Krastos — mal eine Neuerung — sagte im 6. Jahrhundert vor Christus:Nicht nachbedenken,— das sind so Selbstverständlichkeiten, aber die Vorsokratiker haben damit angefangen —sondern vorbedenken soll der weise Mann.Meine Damen und Herren, wer kann diesem Anspruch immer genügen?Ich glaube, daß der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen einen Beitrag dazu leistet, die Basis zu diesem Thema neu zu legen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine Vorbemerkung zu dem ideologischen Krampf, den wir da gerade gehört haben. Wir haben selbstverständlich eine Kostendämpfungsstrategie — das ist richtig —, weil wir der Auffassung sind, daß wir auch für das Gesundheitswesen nicht mehr ausgeben sollten, als für die Gesundheit der Patienten notwendig ist, und wir alle Ausgaben, die unnötig sind, in höheren Beiträgen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer wiederfinden. Zu hohe Lohnnebenkosten — das wissen wir — haben dann wieder eine negative Auswirkung auf den Arbeitsmarkt. — Ich möchte hier also den richtigen Zusammenhang wiederherstellen.
— Sind Sie für Beitragserhöhungen in der Krankenversicherung?
— Ich stelle das hier fest und werde das entsprechend der Öffentlichkeit weitergeben. Ich nehme an, daß wir alle dafür sind, daß die Beiträge in der Krankenversicherung nicht steigen, sondern gesenkt werden können, und dazu brauchen wir eine Kostendämpfung.
Ich sage hier ausdrücklich als Gesundheitsminister, daß wir keine Ärzteschwemme haben. Es ist einfach eine billige Unterstellung, zu behaupten, hier würde irgend jemand daran arbeiten, Ärzten, zukünftigen Ärzten oder Medizinstudenten künstlich den Weg für ihre berufliche Arbeit zu beschneiden oder zu verkürzen. Wir brauchen auch in der Zukunft qualifizierte Ärzte. Das Wort von der Ärzteschwemme ist nicht ein Begriff der Bundesregierung.Bei dem, was die Vertreterin der GRÜNEN gesagt hat, hat gerade noch die Behauptung gefehlt, der Gesundheitsminister persönlich habe die einzelnen Examensarbeiten korrigiert und z. B. dafür Sorge getragen, daß in Hannover 80 %, in Tübingen aber nur 30 % durchgefallen sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, so können wir hier doch nicht argumentieren. Eine solche Argumentation ist doch völlig unmöglich.
Sie wissen doch ganz genau, wie diese Prüfungsergebnisse zustande kommen.Ich will eine weitere Bemerkung machen: Das, was wir hier erleben und was hier abläuft, ist ein Vorgang, von dem Studenten anderer Studiengänge nur träumen können.
Denn dort gibt es ebenfalls in großer Zahl — in noch größerer Zahl — Prüflinge, die das Examen nicht bestehen. Die Mißerfolgsquoten bei den Juristen, den Technikern und in anderen Studiengängen sind beträchtlich. Wenn wir hier so weitermachen, dann hat das Konsequenzen, dann werden wir uns im Deutschen Bundestag in Zukunft auch mit anderen Studiengängen beschäftigen müssen, nur weil eine bestimmte Quote von Studenten durchgefallen ist. Es ist festzuhalten: Bei der ärztlichen Vorprüfung werden die Bestehensregelungen zugrunde gelegt, wie sie in der Approbationsordnung festgelegt sind. Diese sind von der Bundesregierung und
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11198 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Bundesminister Dr. Geißlervom Bundesrat beschlossen worden und rechtlich einwandfrei.Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, wie die Realitäten sind: Beim Physikum in diesem Frühjahr lag die durchschnittliche Mißerfolgsquote bei 42 %. Diese Studenten können das Examen wiederholen,
ein Teil von ihnen ein weiteres Mal. Endgültig durchgefallen sind 3 %. Bei anderen Examina lag die durchschnittliche Durchfallquote früher bei 20 %.Nun, selbstverständlich müssen solche Prüfungen rechtmäßig sein. Jeder Prüfungsbescheid ist ein Verwaltungsakt. Wenn eine Prüfung nicht in Ordnung ist und ein fehlerhafter Prüfungsbescheid erlassen wird, dann handelt es sich um einen fehlerhaften Verwaltungsakt, der selbstverständlich wieder aufgehoben werden muß. Dies kann aber doch nicht dadurch geschehen, daß nun der Verordnungsgeber, also im Grunde genommen der Gesetzgeber, eine Verordnung beschließt, in der sozusagen im nachhinein gesagt wird, daß eine Prüfung, die schon durchgeführt worden ist, also z. B. das Physikum in diesem Frühjahr, wiederholt werden muß. Vielmehr muß ganz normal überprüft werden, ob die rechtlichen Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Durchführung der Prüfung gegeben sind oder nicht, und genau das machen jetzt die Länder.
— Entschuldigung, was heißt: dort sitzen keine Ignoranten? Ich habe doch gar nicht behauptet, daß dort Ignoranten sitzen.
Ich weiß nicht, was Sie damit wollen. Gegen wen wenden Sie sich hier eigentlich? Ich würde mich hüten, zu behaupten, im Bundesrat säßen Ignoranten, zumindest nicht bei der Mehrheit des Bundesrates; das muß man hinzufügen. —
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn hier Fehler vorgekommen sind, dann muß das rechtsstaatlich ordnungsgemäß erledigt werden. Das kann nur dadurch geschehen, daß die einzelnen Prüfungsfragen überprüft werden. Dazu haben die Länder auf meine Anregung hin eine Kommission eingesetzt
— Gott sei Dank, daß das geschehen ist —, die die einzelnen Fragen überprüft. Dann kann festgestellt werden, ob einzelne von den 320 Fragen zu Unrecht gestellt worden sind. Auf Grund einer solchen Überprüfung kann dann selbstverständlich auch das Prüfungsergebnis korrigiert werden. Etwas anderes kann man doch in einem solchen Zusammenhangüberhaupt nicht machen. So zu verfahren habe ich den Ländern empfohlen.Nach meiner Auffassung ist es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, die Durchfallquote bei einem einzelnen Examen zum Anlaß zu nehmen, auf dem Verordnungswege ein Prüfungsergebnis zu korrigieren; das können wir nun wirklich nicht machen. Bei welcher Durchfallquote — jetzt sind 42 % durchgefallen, das nächste Mal sind es vielleicht 35 % oder 25 % — sollen denn nun jeweils das Ministerium und der Bundesrat tätig werden, um im nachhinein wieder eine Prüfung zu korrigieren?Mir wird gesagt, in einzelnen Ländern gebe es ganze Stöße von Eingaben von Professoren, die sagen: die und die Frage ist nach unserer Auffassung nicht richtig formuliert. Da müssen Sie mir sagen, bei welcher Protestquote einzelner Hochschullehrer hinsichtlich bestimmter Fragen das Examen wiederholt werden muß. So können wir doch beim besten Willen nicht verfahren. Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß wir nach rechtsstaatlichen Grundsätzen einen solchen Weg einschlagen. Vielmehr müssen wir es so machen, wie es die Bundesregierung vorgeschlagen hat und wie ich es vorgeschlagen habe: Überprüfung durch eine Kommission.3 % sind endgültig durchgefallen. Da muß ich nun wirklich etwas sagen: Wenn jetzt verlangt wird, daß die 3 %, die das Examen das erstemal gemacht haben, dieses Examen wiederholt haben, wiederum durchgefallen sind, das Examen noch einmal wiederholt haben — ein ganz anderes, gar nicht das jetzige Physikum, sondern das frühere, bei dem im Durchschnitt nur 18 % durchgefallen sind —, auch da durchgefallen sind, die das Examen also schon dreimal ohne Ergebnis gemacht haben, dieses Examen jetzt noch einmal wiederholen dürfen, dann muß ich wirklich die Frage stellen — was auch der Spartakus in Marburg mir empfohlen hat, Herr Bohl —, ob wir denn nicht am besten das ganze Physikum abschaffen. Dann brauchen wir überhaupt keine Prüfung mehr.
— Völlig richtig. Das ist nämlich das Ergebnis. Dann können wir die Prüfungen auch ganz abschaffen. Ich denke da nur logisch und konsequent.Wie ist es denn, liegt die Grenze bei 1 %, bei 1,5 %, bei 2 %? Wie viele Leute dürfen denn nach Ihrer Meinung eigentlich durchfallen?
— Herr Delorme, das sind gar keine Mätzchen. Wissen Sie, das ist ein ganz billiger Stimmenfang, den Sie da bei den Mainzer Studenten zu machen versuchen. Um nichts anderes handelt es sich.
Mit rechtsstaatlichen Grundsätzen hat das überhaupt nichts zu tun.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11199
Bundesminister Dr. GeißlerAber wir machen natürlich etwas anderes. Seit über zwei Jahren empfehle ich, das Multiple-choice-Verfahren zu ergänzen. Das Multiple-choice-Verfahren als alleinige Prüfungsmethode ist natürlich nicht ausreichend. Seit zwei Jahren, seit ich Minister bin, habe ich ununterbrochen dafür plädiert, dieses Verfahren durch mündliche Prüfung zu ergänzen. Alle haben mir erklärt — Fakultätentag, Rektorenkonferenz, die Länder: Geht nicht! Unmöglich! Kein Personal! Jetzt — insofern hat dieses Physikum schon eine Wirkung gehabt — sagen die Länder: Das, was der Bundesgesundheitsminister schon vor zwei Jahren empfohlen hat, war doch ganz vernünftig.
Wir müssen das Multiple-choice-Verfahren durch mündliche Prüfungen ergänzen. — Dies ist von Anfang an meine Meinung gewesen.Ich sage Ihnen auch: Ich bin durchaus der Meinung, auch was den Anker anbelangt, daß man z. B. das Schweizer Modell mit in die Prüfung einbeziehen sollte. Das sollten wir alles tun. Wir hätten das schon ein bißchen früher haben können, wenn alle die, die die Verantwortung tragen, so etwas für richtig gehalten hätten.Also ein größerer Anteil mündlicher Prüfungen unter Einbeziehung internationaler Erfahrung ist ein erklärtes Ziel der Bundesregierung, und wir werden dies bei der Änderung der Approbationsordnung auch dem Hohen Haus und dem Bundesrat so vorschlagen.Im übrigen ist der Weg, den ich vorgeschlagen habe und den der Bundesrat für richtig gehalten hat, auch ein wirksames Mittel, um den Studenten, die möglicherweise zu Unrecht durchgefallen sind, zu helfen.
Denn der Weg, den Sie vorschlagen, nämlich den Verordnungsweg zu ändern
— Sie können schreien, was Sie wollen —, führt dazu, daß alle betroffenen Studenten ein Semester verlieren. Mit der Kommission zur Überprüfung können wir den Studenten wirksamer und rascher helfen — alles unter der Voraussetzung, daß die Prüfung in der Tat nicht rechtmäßig gewesen ist.Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen: Bitte stimmen Sie dem Antrag von CDU/CSU und FDP zu. Damit leisten Sie der Rechtsstaatlichkeit,
gleichzeitig aber auch den betroffenen Studenten einen guten Dienst.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Die Fraktion der SPD hat um absatzweise Abstimmung ihres Antrages gebeten.
Wer Absatz I des Antrages der Abgeordneten Jaunich, Frau Schmidt , Kuhlwein und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/3462 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist Absatz I mit Mehrheit abgelehnt.
Wer Absatz II derselben Drucksache zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist auch Absatz II mit Mehrheit abgelehnt.
Wer Absatz III der Drucksache 10/3462 zuzustimmen wünscht, denn bitte ich um das Handzeichen. — Wer will dagegen stimmen? — Enthaltungen? — Dann ist auch dieser Absatz mit Mehrheit abgelehnt. Damit ist die ganze Vorlage abgelehnt.
Wer dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/3560 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Antrag mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe Punkt 22 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi
— Drucksachen 10/2810, 10/3021, 10/3490 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Dr. Lepsius
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat Frau Wagner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Dekade der Frau geht zu Ende. Die große Koalition der etablierten Parteien — von der CDU/CSU über die FDP bis zur SPD — hat sie auf ihre Art und Weise schon längst begraben.
Der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN wurde im Ausschuß verzögert und dann abgelehnt. Eine Frauendebatte im Bundestag vor Nairobi sollte verhindert werden.
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11200 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Frau WagnerAber dies verwundert mich auch gar nicht, denn wie hätten Sie glaubwürdig darlegen können, welche Konsequenzen aus den vorangegangenen Weltfrauenkonferenzen von Mexiko und Kopenhagen gezogen worden sind? Frauenpilotprojekte in der sogenannten Dritten Welt sind mit lächerlichen Beträgen ausgestattet worden. 1985 sind die Mittel auch noch um die Hälfte auf 1,8 Millionen DM gekürzt worden. Die halbe Frauenstelle im BMZ wurde gleich ganz gestrichen.Konsequent ist dies schon, aber eben konsequent gegen die Frauen; es ist konsequent gegen die Beschlüsse der Weltfrauenkonferenz gerichtet. So ist es eben auch konsequent, daß Arzneimittel, die hier verboten sind, in die Dritte Welt exportiert werden dürfen.Auch deshalb haben Sie versucht, kritische autonome Frauen aus der Regierungsdelegation herauszuhalten. Dieser Versuch war erfolgreich. Dies hindert Sie freilich nicht daran, vor, in und nach Nairobi schöne Sprüche auf den Lippen zu haben. Die Weltfrauenkonferenz hat lediglich einen symbolischen Stellenwert. Konsequenzen sind nicht zu erwarten.
Blumige Formulierungen finden wir schon in dem Antrag der CDU/CSU und der FDP, die überhaupt nicht auf das Thema eingehen. Aber wer von Ihnen interessiert sich schon für das Thema? Wer in der Bundesrepublik weiß überhaupt etwas von der Weltfrauenkonferenz? Heute wird zwar im Falle der Annahme des Antrages der großen Koalition die Bundesregierung aufgefordert, der breiten Öffentlichkeit die Anliegen und Themen dieser Konferenz bekanntzumachen. Doch ich frage mich, wie dies in einer Woche noch erreicht werden soll. Also Sprüche, nichts als Sprüche! Genausogut könnten wir nichts verabschieden. Streichen Sie Ihren Antrag — bis auf Ziffer 5 — zusammen. Dann sind wir eventuell bei den Realitäten.Besonders schlimm finde ich Ziffer 4 der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit. Dort steht:... die Bundesregierung wird aufgefordert,4. sich dafür einzusetzen, daß die Weltfrauenkonferenz Empfehlungen zur Lösung der praktischen Probleme von Frauen, insbesondere in den Entwicklungsländern, verabschiedet, vor allem mit folgenden Forderungen:a) Berücksichtigung der Lage der Frau bei der Planung von Projekten und Förderung von Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lage, .. .Doch wie sehen die Realitäten aus? Die Entwicklungshilfe, die Entwicklungshilfekonzepte der Industrieländer haben doch erst die fortschreitende Verarmung der Menschen in der Dritten Welt — und hier besonders die Frauen — und die rücksichtslose Ausbeutung der Natur vorangetrieben. Die Hilfe der BRD ist auf aggressive Förderung der Exportwirtschaft gerichtet. Doch gerade die fortschreitende Industrialisierung der Dritten Welt fördert die sexistische Teilung der Arbeit.
Angestammte Arbeitsplätze gehen den Frauen verloren zugunsten von Arbeitsplätzen unter ausbeuterischen Bedingungen. In Südostasien z. B. sind 90 % der Belegschaft in der Mikrochipproduktion Frauen. Die restlichen 10 % sind männliche Vorgesetzte.Dies sei nur als ein Beispiel für die inhaltslosen Formulierungen des vorliegenden Antrags der etablierten Parteien genannt.
Sie sind aber nicht nur inhaltsleer, sondern auch unehrlich, weil sie nicht aufzeigen, in welch einem Dilemma wir stecken; denn einerseits sind wir Nutznießer der Ausbeutung in der Dritten Welt, andererseits tragen die dort erzeugten Produkte zur Abschaffung und Entqualifizierung hiesiger Frauenerwerbsplätze bei.Wir haben bewußt auf solche überheblichen wie schmückenden Formulierungen und Anträge verzichtet. Viele schöne Worte helfen weder den Frauen hier noch den Frauen in der Dritten Welt.
Das Wort hat Frau Professor Männle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wagner, ich finde es schon sehr interessant, daß Sie hier aus dem Antrag der Koalition zitiert haben, weil Sie Ihren Antrag j a überhaupt nicht sehen lassen können. Als Sie Ihren Antrag eingebracht haben, haben Sie gefordert, daß eine Frau Delegationsleiterin werden sollte. Dies stand aber schon längst fest. Wenn Sie in der Vorbereitungskommission gewesen wären, hätten Sie es gewußt.
Sie haben andere Forderungen darin, z. B. die, daß die autonomen Frauengruppen finanziell unterstützt werden sollen. Es sind sehr inhaltsreiche Forderungen, die Sie in Ihrem Antrag aufgestellt haben. Ich wollte der Öffentlichkeit nur einmal sagen, was Sie hier gefordert haben.
Lassen Sie mich die Probleme herausgreifen, die sich, wie ich meine, für die Weltfrauenkonferenz eigentlich schon heute, deutlich vor der Konferenz,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11201
Frau Männle) stellen. Es ist schade, daß auf Grund der Unfähigkeit, eine Tagesordnung und eine Geschäftsordnung bereits vorher festzulegen — dies ist Sache der Vorbereitungskommissionen auf internationaler Ebene —, bereits ein Großteil der Konferenzenergie durch die Lösung derartiger Formalia absorbiert wird. Wir können uns darauf einrichten, daß sich die Konferenz zwei Drittel der Zeit damit beschäftigt, was eigentlich diskutiert wird. Das ist sehr traurig. Das halte ich für ein ganz entscheidendes Manko bei dieser Frauenkonferenz.Ein Zweites erschwert die Auseinandersetzung mit Frauenproblemen in ähnlicher Weise. Wenn man sich das Papier anschaut, dann stellt man fest, daß ein Viertel bis ein Drittel des gesamten Beratungspapiers bereits jetzt als kontrovers gekennzeichnet wird. Dies heißt, daß im wesentlichen politische Streitfragen im Mittelpunkt der Diskussion stehen werden, daß Frieden und Abrüstung, daß eine neue Weltwirtschaftsordnung — Sie haben es vorhin auch schon angedeutet —, daß Fragen um Palästinenser und Südafrika im Mittelpunkt der Diskussionen stehen; das sind keine eigentlichen Frauenprobleme. Frauenprobleme fallen hinten herunter, werden als nebensächlich behandelt, werden untergeordnet, fallen vielleicht unter den Tisch. Ich halte es für das Bedauerliche an dieser Weltfrauenkonferenz, daß es nicht möglich war, hier schon vorher Einigungen zu erreichen. Dies wird den Anliegen der Frauen in aller Welt überhaupt nicht gerecht, und dies entspricht nicht den Erwartungen der Frauen an die Weltfrauenkonferenz.Wir fordern deswegen die Bundesregierung auf, gemeinsam mit gutwilligen Ländern — ich darf es einmal so bezeichnen — alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die eigentlichen Konferenzthemen in den Mittelpunkt zu stellen, um zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Die Erwartungen hinsichtlich der Konferenz sind doch groß. Zum einen geht es darum, zu überprüfen, was der Weltaktionsplan gebracht hat, der damals vor zehn Jahren aufgestellt worden ist, und wie man die Fortschritte bewertet. Hier haben wir von der Frauenpolitik der Bundesregierung her doch recht gute Ergebnisse, die sich im internationalen Vergleich sehen lassen können.Zum anderen geht es aber auch um die Entwicklung wirksamer Strategien zur Förderung der Gleichberechtigung. Ich meine, hierbei sollten wir unser Hauptaugenmerk auf die Dritte Welt richten. Wir sollten uns fragen: Welchen Beitrag können wir ganz konkret leisten, welchen Beitrag kann die Bundesrepublik Deutschland leisten, um konkrete Ergebnisse für Frauen in den Entwicklungsländern zu erreichen?Vielleicht hilft uns der Tagungsort Nairobi, den Blick für Frauen in anderen Kulturkreisen zu öffnen. Ich meine, er hilft uns vielleicht auch, bei unserer zukünftigen Entwicklungspolitik die Auswirkungen auf Frauen stärker mitzubedenken, als dies bisher der Fall ist.Ich habe die Weltfrauenkonferenz und die möglichen Ergebnisse etwas kritisch betrachtet, weil ich nicht ganz sicher bin, ob die Regierungen fähigsind, die Konferenz so in den Griff zu bekommen, daß unseren Anliegen tatsächlich Rechnung getragen wird. Von daher hoffe ich, daß die Frauen selbst, die vorher beim Forum zusammenkommen, das auch parallel dazu stattfindet, in der Lage sein werden, Impulse zu setzen. Ich bin davon überzeugt, daß die Frauen selbst Kreativität, Spontaneität und Initiative zeigen werden, daß sie Handlungsbereitschaft zeigen werden und vielleicht den Immobilismus von Regierungen durch eigene Kraft überwinden. Ich würde mir das jedenfalls von dieser Weltfrauenkonferenz und dem Forum erwarten und wünschen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Allein die Tatsache, daß eine solche Weltfrauenkonferenz stattfindet, ist der schlagende Beweis dafür, daß es immer noch keine Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen gibt.
Chancengleichheit ist aber ein wesentlicher Bestandteil des Kampfes zur Überwindung der Armut und der Arbeitslosigkeit in der Welt. Leider trifft es immer am ehesten und härtesten die Frauen, wenn sich irgendwo auf dieser Erde die Lebensbedingungen verschlechtern. Frauenarbeit ist überall die schlechtestbezahlte, unangenehmste, sozial am niedrigsten eingeschätzte und oft auch gefährlichste Arbeit.
Hinzu kommt: Wenn nicht mehr ausreichend bezahlte Arbeit für alle vorhanden ist, werden Frauen mehr oder minder dazu erpreßt, sich wieder an ihren Küchentisch zurückzuziehen. Dazu Beispiele aus dem Lager der Regierungsparteien: die neuen Zeitverträge, die am ehesten die Frauen treffen, die ersatzlose Streichung des Modellprogramms „Mädchen in gewerblich-technischen Berufen",
Streichung bei Umschulung und Rehabilitation, Kürzung des Mutterschaftsgeldes von 750 DM auf 510 DM,
keine Arbeitsplatzgarantie bei dem geplanten Elternurlaub usw. usw. Den Negativkatalog könnte man beliebig fortsetzen.Wenn man sich dann noch das böse Wort des Stuttgarter Oberbürgermeisters Rommel von den Doppelverdienern vergegenwärtigt, weiß man, wo es bei der CDU langgeht und welchen Stellenwert diese Bundesregierung Frauen in unserer Gesellschaft einräumt.
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11202 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Bitte.
Frau Kollegin Blunck, sollten Sie nicht Ihre Liste der frauenpolitischen Fehlleistungen der Bundesregierung künftig auch noch um den BAföG-Kahlschlag ergänzen, bei dem die Bildungschancen der Frauen in besonderer Weise beeinträchtigt worden sind?
Herr Kollege Kuhlwein, wenn ich jetzt die Negativliste fortsetzen wollte und anfinge, all die Streichungen namentlich zu benennen, wäre ich im nächsten Jahr um diese Zeit noch nicht fertig.
— Seien Sie doch ruhig!
Allerdings ist das alles kein auf die Bundesrepublik und damit auf Industrienationen beschränktes Problem.
Industrienationen und Entwicklungsländer sind sich auf diesem Feld sehr ähnlich. Der Unterschied liegt darin: Wenn „frau" in der Industriegesellschaft noch ein Stück Schwarzbrot in der Hand hält, ist „frau" in der Dritten Welt bereits verhungert. Deshalb müssen in Nairobi Empfehlungen zur Lösung der praktischen Probleme von Frauen, insbesondere in den Entwicklungsländern, verabschiedet werden.
Ich bin der Kollegin Luuk dankbar, daß sie für meine Fraktion den Antrag der Regierungsparteien so angereichert hat, daß wir jetzt gemeinsam eine Beschlußempfehlung mit konkreten Arbeitsaufträgen an die Regierungsdelegation für Nairobi verabschieden können.
Bitter ist für mich dabei — Frau Karwatzki, es tut mir in der Seele weh, es sagen zu müssen —: Sie fahren nach Nairobi als politisches Leichtgewicht. Was hätte die Bundesrepublik Deutschland nicht alles in die Waagschale werfen können, um den berechtigten Forderungen der Frauen in der Dritten Welt Nachdruck zu verleihen!
Aber eine reiche Industrienation, die bei der geringsten Störung ihres Wohlbefindens nichts Eiligeres zu tun hat, als die zäh und beharrlich errungenen Rechte und Chancen von Frauen hierzulande sofort wegzufegen,
wird mit ihren Forderungen und Empfehlungen an die Entwicklungsländer nicht ernst genommen werden können.
Jetzt hat Frau Dr. AdamSchwaetzer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Scherze mit meinem Namen kenne ich schon, seit ich in die erste Klasse der Schule ging. Sie sind seit der Zeit nicht origineller geworden,
aber immer wieder schön offensichtlich für diejenigen, die phantasielos sind.Frau Blunck, den ersten Teil Ihrer Rede haben wir hier schon bei der ersten Debatte über die Entschließungsanträge gehört, über die wir heute abzustimmen haben. Sie werden dadurch, daß Sie das ständig wiederholen, nicht relevanter für das, was in Nairobi zu diskutieren ist.
Ich glaube kaum, daß irgendeine der Frauen, die wir in Nairobi treffen werden, überhaupt nur Verständnis dafür hat, wenn Sie versuchen darzulegen, was es bedeuten könnte, BAföG zu bekommen oder die Voraussetzungen für BAföG zu verändern,
daß sie Verständnis dafür haben könnte, daß bei einem Mutterschaftsurlaubsgesetz, das nach wie vor existiert, die materielle Ausstattung ein bißchen verändert wird. Diese Frauen werden kaum Verständnis dafür haben, weil sie sich gar nicht vorstellen können, was es überhaupt bedeutet, geschützt zu sein, wenn sie Mutter wird,
weil sie sich überhaupt nicht vorstellen können, was es bedeutet, Bildungschancen zu haben.
Meine Damen und Herren, wir wollten Öffentlichkeit herstellen. Deshalb begrüße ich, daß sich ein Sender bereit erklärt hat, morgen früh um sieben auf einer Welle, die von relativ wenigen Bürgern gehört wird, tatsächlich einen kleinen Beitrag zu leisten. Ich hoffe, daß dieser Beitrag morgen doch von ein paar Bürgern mehr gehört wird.Ich bin aber sicher, daß wir im Herbst hier im Hause eine große Frauendebatte führen werden. Wir werden die Bundesregierung fragen, was denn nicht nur ihr Beitrag, sondern auch was tatsächlich die Ergebnisse der Weltfrauenkonferenz in Nairobi sein werden. Ich fürchte, diese Ergebnisse werden
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11203
Frau Dr. Adam-Schwaetzernicht sehr reich aussehen — wegen der Probleme, die schon die Frau Kollegin Männle geschildert hat.Aus den Vorbereitungspapieren wird sehr deutlich, daß viele, viele Länder gar kein Interesse daran haben, in die konkreten Probleme von Frauen einzusteigen;
gar kein Interesse daran haben, zu diskutieren, wie Bildung, Beschäftigung und Gleichberechtigung miteinander zusammenhängen, und lieber das wiederholen möchten, was auf vielen anderen Konferenzen in dieser Welt schon hunderttausendmal gesagt worden ist und auch nicht dazu geführt hat, mehr Chancengleichheit für Frauen in der Dritten Welt zu bringen.Ich hätte es begrüßt, wenn von den GRÜNEN die Kollegin, die mit uns nach Nairobi reist, hier zu sehen gewesen wäre;
aber offensichtlich ist sie nicht daran interessiert, mitzubekommen, was in diesem Plenum zu Nairobi und der Weltfrauenkonferenz diskutiert wird.
Ich bedaure es auch außerordentlich, daß es nicht gelungen ist, einen einheitlichen Antrag für diese Weltfrauenkonferenz zu verabschieden.
Ich bedaure es deshalb, weil der Antrag, den CDU/ CSU, SPD und FDP miteinander verabschieden, so formuliert ist, daß er eigentlich für jeden konsensfähig sein müßte, der wirklich an den praktischen Problemen der Frauen in der Dritten Welt orientiert ist.Frau Wagner, wir haben j a im Ausschuß angeboten, auch mit Ihnen Änderungsformulierungen zu diskutieren, aber Ihr Beharren auf einer Sonderbehandlung der autonomen Frauengruppen hat dazu geführt, daß es zu keiner Einigung gekommen ist. Das allerdings halte ich für gerechtfertigt; denn wir können nur die Probleme insgesamt betrachten, aber nicht Sonderfragen aus der Bundesrepublik gesondert behandeln.Meine Damen und Herren, es ist sehr wichtig, daß Nairobi mehr wird als nur eine politische Show.
Deshalb unterstütze ich die Bundesregierung nachdrücklich in ihrem Bemühen, das Einstimmigkeitsprinzip auf dieser Konferenz aufrechtzuerhalten; denn sonst gibt es keinerlei Chance, weltweit eine Übereinstimmung über Strategien zu erzielen, die sicherlich nicht alle kurzfristig durchzusetzen sind. Es ist eine bittere Erkenntnis, die aber auch wir aus den Industriestaaten nachvollziehen müssen: Man kann nicht Schritte, mit denen 2 000 Jahre Entwicklungsdefizit überbrückt werden sollen, in zehn Jahren erwarten. Auf der anderen Seite ist die Entwicklung, die wir in der Bundesrepublik in den vergangenen 40 Jahren vollzogen haben, sehr viel grundlegender, als sich das viele 1950 noch erträumt haben. Viele von den neuen Kollegen der GRÜNEN sind wahrscheinlich zu jung, um das nachvollziehen zu können.
Dennoch bleibt es richtig, daran zu arbeiten, Entwicklungschancen zu verbessern, Chancengleichheit nicht nur bei uns, sondern in allen Ländern zu versuchen herzustellen. Die Frage ist nur, wie schnell es geht und ob nicht unsere Ungeduld die anderen wesentlich mehr überfordern würde als ein schrittweises Vorgehen dieses gestattet.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Frau Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Wagner, ich verstehe nicht den Gegensatz, den Sie aufbauen: In den autonomen Gruppen sind die Kritischen, und in den Frauenverbänden, die im Deutschen Frauenrat zusammengeschlossen sind, sind die Braven. Ich möchte vielmehr deutlich machen, daß gerade in den Frauenverbänden die kritischen Leute sind; denn sonst hätten wir es nicht so weit gebracht, im Rahmen der gesamten Frauenbewegung da zu stehen, wo wir heute sind. — Das ist das erste.
Das zweite: Frau Kollegin Wagner, Sie müssen den Beweis antreten, daß die Bundesregierung bewußt kritische Frauen draußen vor der Tür gelassen hat. Ich bedaure sehr, daß Sie nicht mit nach Nairobi fahren; dann hätten wir uns an Ort und Stelle mit den kritischen Frauen gemeinsam auseinandersetzen können. Es werden mehr kritische Frauen da sein, als Sie sich das überhaupt in Ihren kühnsten Träumen vorstellen können.Wenn Sie hier behaupten — Sie müssen aber zuhören, sonst erzählen Sie uns beim nächstenmal wieder dasselbe —,
wir förderten nicht kritische Frauen aus den autonomen Frauenverbänden, Frau Kollegin Wagner, dann sagen Sie entweder bewußt oder unbewußt, die Unwahrheit. Ich trete Ihnen den Beweis an, daß wir Frauen aus dem autonomen Frauensektor fördern, die nach Nairobi fahren, damit das ein für allemal geklärt ist.Zweitens. Frau Kollegin Wagner — ich habe Ihnen gut zugehört, im Gegensatz zu Ihnen, Sie hören mir nicht zu und quatschen da hinten rüber —, haben Sie den Beweis antreten wollen, daß über die Weltfrauenkonferenz nichts berichtet worden ist. „Für Sie", die „Informationen für die Frauen",
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11204 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Parl. Staatssekretär Frau Karwatzki„Frauen und Entwicklung", „Journal für die Frau", „Frau und Beruf" haben darüber berichtet, und das Westdeutsche Fernsehen hat eine halbstündige Sendung mit uns aufgenommen. Sie waren leider nicht geladen, dafür Frau Blunck und ich und der Deutsche Frauenrat. Also das, was wir haben tun können, haben wir getan.
— Herr Kollege Matthöfer, ich habe auf die Auswahl keinen Einfluß genommen.
Wenn Sie, liebe Kollegin Blunck, von „Leichtgewicht" reden, dann hätte ich das für mich zwar gern in Anspruch genommen, was meine Person angeht. Aber rein politisch muß ich sagen, da sitzen wir in unterschiedlichen Booten. Am Montag dieser Woche war der stellvertretende Generalsekretär der UNO bei uns und hat sehr deutlich gemacht, daß die Bundesregierung, die Bundesrepublik Deutschland das besondere Vertrauen der Entwicklungsländer hat. Dann von „Leichtgewicht" zu reden — dies, Frau Kollegin Blunck, kann ich wirklich nicht mehr nachvollziehen.
— Nicht wegen Geld! Herr Kollege Immer, wenn Sie von Entwicklungshilfe sprechen, reden Sie doch nicht nur von Geld, und ich auch nicht. Jetzt machen Sie doch nicht solche Zwischenrufe! Daran glauben Sie doch selbst nicht.
Von daher schlußfolgernd: Ich glaube, daß die Bundesregierung inhaltlich sicherlich den Part, den eben sowohl die Kollegin Männle als auch die Kollegin Adam-Schwaetzer hier ausgeführt haben, einbringen wird, was für die SPD und, so hoffe ich, vielleicht auch noch für die GRÜNEN genauso wichtig ist wie für uns: die Frage der Umsetzung der neuen Technologien, die Frage der Vereinbarkeit von Frau und Beruf, die j a in den Entwicklungsländern noch viel viel kritischer als bei uns gesehen werden muß, und manche anderen inhaltlichen Bereiche mehr.Ich wünsche mir, daß wir, wenn wir von Nairobi zurückkommen, hier wirklich inhaltlich zu den Dingen diskutieren, die wir vielleicht gemeinsam erreicht haben, aber auch deutlich sagen, was uns nicht gelungen ist. Meines Erachtens vergibt sich doch keiner etwas, wenn man im deutschen Parlament zugibt, daß das eine oder andere nicht erreicht wurde. So, glaube ich, werden wir gemeinsam im Interesse der Frauen in Nairobi auch etwas bewirken.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit auf Drucksache 10/3490 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit Mehrheit angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" für den Zeitraum 1985 bis 1988
— Drucksache 10/3297 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Müller , Werner (Dierstorf), Schulte (Menden) und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/3574 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Herr von Geldern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" sind in den Jahren 1980, 1981 und 1982 erheblich und mit sehr nachteiligen Wirkungen für den ländlichen Raum gekürzt worden, und zwar um insgesamt 30 %. Seitdem bemüht sich die heutige Bundesregierung, diese Bundesmittel wieder auf den alten Stand zu bringen, und das ist mit der Erhöhung im Jahre 1985 nach Erhöhungen 1983 und 1984 nunmehr gelungen. Dies ist zunächst einmal wichtig. Wir haben jetzt wieder 1,3 Millionen DM Bundesmittelanteil im Haushalt.Zweitens, zum Inhaltlichen! Die einzelbetriebliche Investitionsförderung ist wesentlich verändert worden. Durch den Wegfall der Förderschwelle kann man heute sagen, daß nicht mehr das verfehlte Prinzip des Wachsens oder Weichens gilt. Es werden Kapazitätserweiterungen im Milchbereich nicht mehr gefördert.
— Das sagen Sie ja wider besseres Wissen, HerrKollege Müller! — Wir haben die Förderschwelleabgeschafft, was von der Landwirtschaft außeror-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11205
Parl. Staatssekretär Dr. von Gelderndentlich begrüßt worden ist, und wir haben das allgemeine Agrarkreditprogramm hinzugefügt.Ferner ist neu, daß forstliche flankierende Maßnahmen gegen die Waldschäden gefördert werden und daß die Dorferneuerung wieder in die Gemeinschaftsaufgabe aufgenommen worden ist. Speziell zur Dorferneuerung möchte ich bemerken, daß wir im Jahre 1985 bereits eine Verdoppelung bei den Mittelanforderungen aus den Orten unseres Landes gegenüber 1984 haben.
Schließlich und ganz wichtig bei der Betrachtung der 85er Bundesmittel: Sie sind insbesondere zugunsten der Ausgleichszulage in den benachteiligten Gebieten erhöht worden, und zwar von 65 Millionen DM in einem Schritt auf 190 Millionen DM. Dadurch ist es jetzt möglich geworden, in allen benachteiligten Gebieten die Ausgleichszulage zu zahlen und diese Ausgleichszulage auch entsprechend anzuheben.Ich glaube, daß wir eine sehr positive Bilanz über die Entwicklung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" in den letzten zweieinhalb Jahren hier vorlegen können.Zweitens, meine Damen und Herren, zum Thema Leybucht. Der Entschließungsantrag der GRÜNEN platzt mitten hinein in das laufende Planfeststellungsverfahren. Ein Erörterungstermin über dieses Küstenschutzvorhaben hat vom 13. bis 16. November 1984 stattgefunden. Dabei ist der in dem Entschließungsantrag der GRÜNEN angesprochene Alternativvorschlag des World Wildlife Fund bereits eingebracht worden. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die vom WWF unterbreitete Alternative in den Abwägungsprozeß vor Erlaß des Planfeststellungsbeschlusses mit einbezogen wird. Wir gehen ferner davon aus, daß bei der Entscheidung durch das Land eine Abwägung der verschiedenen Belange des Küstenschutzes, der Raumordnung, des Naturschutzes erfolgt und so ein ausgewogener Kompromiß als Lösung gefunden wird.Lassen Sie mich zu dem Thema der Küstenschutzmaßnahmen im Rahmen dieser Gemeinschaftsaufgabe und zum Antrag der GRÜNEN noch folgendes sagen. Diese Forderung der Fraktion DIE GRÜNEN im Entschließungsantrag ist, was den Zeitpunkt betrifft, zu dem sie jetzt innerhalb des laufenden Planfeststellungsverfahrens vorgetragen wird, verfrüht. Was die Zuständigkeit des Deutschen Bundestages betrifft, ist sie falsch adressiert. Und was ihren Inhalt betrifft, so ist sie unbegründet. Die Menschen an der Küste, die einen weiten Horizont haben, sind extremen Forderungen abgeneigt; diese sind ihnen ein Greuel. Sie wissen seit Jahrhunderten — und vielleicht verstehen Sie das, was ich jetzt sage, Frau Kollegin Blunck —: „De nich will Beken, de mut wieken" — wer nicht deichen will, muß weichen —, und zugleich lieben diese Menschen ihre Umwelt und Natur. Bleiben wir mit ihnen auf dem Teppich und lassen das Verfahren, für das das Land Niedersachsen geradesteht und das seinen ordnungsgemäßen rechtsstaatlichen Verlauf nimmt, auch gegenüber der Bundesregierung und der von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Bundesmittel, ordnungsgemäß ablaufen. Ich glaube, so verfahren wir mit diesem Entschließungsantrag richtig. — Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Immer .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu Anfang zwei Zitate bringen. Das erste Zitat:Die Preisgarantien und Produktionsbeihilfen der EG-Marktpolitik sind um so einkommenswirksamer, je höher das Produktionsvolumen eines Betriebes, je höher die Produktivitätsteigerung und je stärker die Spezialisierung auf bestimmte landwirtschaftliche Produkte möglich ist.Zitat aus „Schwerpunkte der Raumordnung" der Bundesregierung.Dazu Zitat von dem Bauernpräsidenten Schartz vom Freitag, dem 21.6. 1985:Wir haben eine neue agrarpolitische Situation, weil die steigenden Kosten nicht mehr mit Produktionserhöhungen aufgefangen werden können. Das jahrhundertealte Konzept, mit dem die Bauern überlegt haben, nämlich mehr zu produzieren, um die Kostensteigerungen auf zu-fangen, funktioniert nicht mehr.Darum meint Schartz, es muß eine neue Einkommenskomponente geben. So am 21.6. 1985.Auf diesem Hintergrund fragen wir: Wie ist das eigentlich mit dem Agrarkreditprogramm? Wen trifft es, und wem hilft dieses Programm,
wenn nur 60 % dieser Mittel abgerufen worden sind, wenn Bayern sagt, es ist für die Katz — denn Bayern verweigert dieses Programm —, und wenn nur 60 % der Nebenerwerbsbetriebe darauf eingegangen sind!Ich habe schon einmal erklärt — und das sage ich noch einmal —, wem das Wasser bis zum Hals oder bis zum Mund steht, der kann keinen Kredit aus einem Programm aufnehmen, das nur darauf gerichtet ist, die Arbeitsproduktivität im Betrieb zu verändern, aber keine Chance für eine Produktionsausweitung gibt, also niemals die Zinsen einbringen kann, die es ermöglichen soll. Darum ist die Frage zu stellen, ob das Kreditprogramm bei der wachsenden Verschuldung der Landwirtschaft auf Grund der falschen Agrarpolitik dieser Regierung nicht endlich auch für Umschuldungsmaßnahmen eingesetzt werden soll. Das sollte man einmal prüfen; denn es hat j a keinen Zweck, daß der Durchschnitt der Betriebe mit 38,5 ha gefördert wird — so ist es
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11206 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985
Immer
ja im Ergebnis —, aber die kleinen und die, die kaputtgehen, überhaupt nichts bekommen.
Die Aufstockung der Ausgleichszulage ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, aber wie ist es mit der Ausweitung? Wir möchten einen Bericht darüber was damit geschehen ist, und möchten nicht einfach stillschweigend eine Ausweitung um 2 Millionen ha hinnehmen.Zur Dorferneuerung. Es ist begrüßenswert, daß da einige Mittel mehr ausgegeben werden sollen. Aber sie können doch nur dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn damit Arbeitsplätze geschaffen werden und wenn sie dorthin geleitet werden, wo wirklicher Bedarf besteht und effektiv etwas erreicht werden kann. Wenn, wie in Rheinland-Pfalz, eine Gemeinde mit 400 Einwohnern 15 000 DM Planungskosten einsetzen muß, ehe sie überhaupt in ein solches Programm kommt, dann ist es für die Katz.
Dann wird dieses Programm niemals eine Wirkung haben. Darum fordert die SPD-Fraktion, daß diese Mittel aus dem Dorferneuerungsprogramm den Ländern zugewiesen werden und daß diese sie unbürokratisch verteilen, selbstverständlich mit Rechnungslegung, damit die Mittel dorthin kommen, wohin sie sollen.Unsere Forderungen sind erstens, das Agrarkreditprogramm dahin gehend zu überprüfen, ob nicht auch Umschuldungsmaßnahmen möglich sind, zweitens Gewährung von flächengebundenen Ausgleichszulagen, wobei erst ein Bericht gegeben werden sollte, ehe eine Ausweitung erfolgt, drittens Berücksichtigung ökologischer Notwendigkeiten in der Agrarstrukturpolitik, z. B. Schutz des Wattenmeeres durch ökologisch orientierte Wasserbaumaßnahmen, was auch für Flüsse und Bäche gilt. In dem Sinne stimmen wir einer Überweisung des Leybucht-Antrages der GRÜNEN zu.Zur Dorferneuerung bitten wir um eine unbürokratische Verwendung der angekündigten Zusatzmittel in Länderkompetenz. Priorität sollte es haben, diese Mittel dort einzusetzen, wo Arbeitsplätze gesichert oder vermehrt werden können und wo effektiv Dorferneuerung betrieben werden kann. Aber ich muß hinzufügen: Die Länder haben, wie man hört, noch nicht zugestimmt; sie fühlen sich durch die Bundesregierung erpreßt. Ob sie die Aufstockung der Mittel überhaupt wollen, ist sehr fraglich. Das muß diese Regierung prüfen.Angesichts der Ungereimtheiten in der Agrarpolitik, die der Herr Staatssekretär beiseite geschoben hat — Preisverhandlungen, Getreidepreis, Veto, Vorsteuerpauschale, Quotenregelung, Ausgleichszulagen — muß man feststellen: Die Bundesregierung ist die Regierung von Schilda, um nicht zu sagen, von Schulda: ein Schildbürger —, ein Schuldbürgerstreich nach dem anderen.
In Abwandlung eines Wahlschlagers der Koalition vor der Wende erkläre ich: Die beste Politik für die Menschen in bäuerlichen Betrieben und auf dem Lande ist eine Ablösung dieser Regierung.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Hornung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat den Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" so rechtzeitig vorgelegt, daß er in den Ausschüssen diskutiert werden kann, und damit die Richtung für 1985 bis 1988 dargelegt.
Der Rahmenplan ist ein hervorragendes Instrument von Bund und Ländern zur Mitfinanzierung von Maßnahmen im ländlichen Bereich, die dem Allgemeinwohl und der Landwirtschaft dienen. Der Grundtenor dieser Gemeinschaftsaufgabe ist, daß Investitionen vorgenommen werden, die vor Ort von den Betroffenen nicht allein geleistet werden können, um die Situation langfristig zu verbessern. Der Bund gibt 60 %, die Länder geben 40 %. Die Bundesregierung mißt gerade dieser Aufgabe einen hohen Stellenwert zu, was durch die konsequente Aufstockung der Mittel unter Beweis gestellt wird. So waren es 1983 — das wurde schon angedeutet — bereits 1,15 Milliarden DM, 1985 1,3 Milliarden DM. Wir sprechen dem Bund und auch den Ländern dafür recht herzlichen Dank aus.
— Herr Müller, wir wissen ja, daß dieses Programm sehr gut angenommen wird, weil die Länder bereits für 1988 1,48 Milliarden DM angemeldet haben, die allein der Bund aufzubringen hätte.
Prinzipiell ist heute die Gemeinschaftsaufgabe nicht auf Produktionssteigerung im Bereich der landwirtschaftlichen Ernährungsgüter ausgerichtet und entspricht damit voll der neuen Agrarpolitik,
nämlich der Zielrichtung, die Produktion der Ernährungsgüter an den Verbrauch anzupassen.
Es ist eine Reihe von Schwerpunkten gesetzt. Der erste ist die Flurbereinigung, die der Neuordnung der Gemarkungen zu wirtschaftlichen Einheiten dient. Dies hat in den letzten 30 Jahren bei den einzelnen Landwirten einen großen Produktivitätszuwachs gebracht, wie er sonst nirgendwo zu finden ist. Die umweltfreundliche Gestaltung der Flure mit
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11207
HornungFeucht- und Trockenbiotopen und Feldgehölzen ist von vielen leider noch nicht richtig als Instrument der Flurbereinigung erkannt worden.Seit 1984 ist auch die Dorferneuerung eines der wichtigen Mittel. Auch hier hat Herr Immer natürlich nicht verstanden, daß dies im Rahmen der Flurbereinigung eine große Bedeutung hat. Bedenken Sie: Das Land Baden-Württemberg hat hier schon beste Erfahrungen. Wasserwirtschaftliche Maßnahmen und Verkehrserschließung sind möglich.
— Das wird alles eingeschlossen.
— Das haben Sie noch nicht mitbekommen.Bei der Investitionsförderung hat die Bundesregierung einen neuen Weg eingeschlagen. Das einzelbetriebliche Programm mit der sogenannten Förderschwelle ist beseitigt und gehört der Vergangenheit an. Dort wurde ausschließlich der Produktionszuwachs gefördert.
Heute hat in diesem Bereich eine große Anzahl von Bauern, die zuvor ausgeschlossen waren, eine große Chance,
ein Programm, nämlich auch im Bereich des Agrarkreditprogramms, mitzugestalten.Ich habe natürlich schon verstanden, Herr Immer, daß Ihnen das nicht paßt.
Sie sind es gewesen, der von der Lebensqualität gesprochen hat. Wir meinen heute nicht Produktionszuwachs, sondern die Verbesserung der Verhältnisse der Menschen.
Daß da bereits die viel geforderten Bestandsobergrenzen und auch die Prosperitätsklauseln Eingang gefunden haben, verdient besondere Beachtung.Zur Erhaltung der Landwirtschaft und der Kulturlandschaft in benachteiligten Gebieten: Ein Drittel unserer landwirtschaftlichen Fläche in der Bundesrepublik fällt in diesen Bereich. Es besteht jetzt die Chance, ab 1985 alle Betriebe über 3 ha zu unterstützen. Dies finden wir ganz besonders gut, nachdem auch die EG das verbessert hat.
Auch die Marktstrukturen sind in diesen Bereich einbezogen. Es geht darum, dem Erzeuger einen möglichst großen Anteil von dem Preis zu geben, den der Verbraucher zahlen muß. Einbezogen sind auch die Seefischmärkte und die Kellerwirtschaft.Im Rahmen des Marktstrukturgesetzes ist das einbezogen, was auf EG-Verordnungen beruht.Die Förderung der forstlichen Maßnahmen kommt in der heutigen Zeit eine besondere Bedeutung zu, um möglichst einen vitalen, widerstandskräftigen Wald aufzubauen. Dafür bestehen alle Chancen.Für die Erhaltung des Lebensraums an Nord-und Ostsee, die eine permanente Aufgabe ist, hat sich das Bisherige voll bewährt. Die Länder haben hier nach dem Subsidiaritätsprinzip eine spezifische Fördermöglichkeit. Allerdings habe ich die Sorge, Herr Immer, daß Länder wie etwa Bremen, das mit 14 000 DM pro Einwohner verschuldet ist, kaum mehr mitmachen können.
Herr Kollege Hornung, wie wäre es mit einem Schlußsatz?
Ich habe die Bitte, die EG möge mehr Flexibilität als hier zeigen und damit eine effizientere Politik betreiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage mich: Welche Möglichkeit bietet die agrarstrukturelle Vorplanung, Regionen mit stark überdurchschnittlichem Viehbesatz zu erfassen und dort eine Dezentralisierung einzuleiten, z. B. in Südoldenburg? In diesen Gebieten steht die landwirtschaftliche Tierproduktion zur landwirtschaftlichen Fläche in einem krassen Mißverhältnis. Der Zukauf riesiger Mengen Futtermittel ist notwendig. Das Problem der Abfallbeseitigung von an sich hochwertigem organischem Dünger ist nur durch weiträumigen Transport in den Griff zu bekommen. Ich will hier nicht näher auf Grundwasserbelastung, Geruchsbelästigung und vielfach fragwürdige Tierhaltungsformen eingehen. Ich frage nur noch einmal ganz schlicht: Hat sich die Agrarstrukturelle Vorplanung hiermit befaßt, und kann sie sich hiermit befassen? Ist nicht zu überlegen, ob dort, wo gebietsweise mehr als zweieinhalb Vieheinheiten je Hektar gehalten werden, zumindest eine Erweiterung der Bestände verhindert werden müßte? Holland hat vor einem halben Jahr diesbezüglich gehandelt. Wir sollten nicht warten, bis wir holländische Verhältnisse haben.
Zur Flurbereinigung: Die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Recht und der gegenwärtigen Praxis der Flurbereinigung hat sich immer mehr ausgeweitet.
Im letzten Herbst hat sich eine landesweite Interessengemeinschaft aus Bauern und Naturschützern gegen die Flurbereinigung in Bayern gegründet.
Die Flurbereinigung gibt es schon sehr lange. Nur wurde sie früher wesentlich demokratischer ge-
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Werner
handhabt. Es war z. B. 1857 hessisches Recht — das ist schon lange her aber trotzdem —: Die Hälfte der Eigentümer mit mehr als zwei Drittel der Fläche muß zustimmen, damit eine Flurbereinigung eingeleitet werden kann. — Bayerisches Recht 1861: Acht Zehntel der Eigentümer müssen zustimmen. — Badisches Recht 1856: Zwei Drittel müssen die Flurbereinigung beantragen. — Dann aber 1937, Reichsumlegungsordnung: Zustimmung der Betroffenen nicht erforderlich. An diesem undemokratischen Verfahren hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert.
Über die negativen Auswirkungen der Flurbereinigung auf Flora und Fauna und auf die Vielfalt schöner Landschaften ist schon so viel gesagt worden, daß ich es nicht zu wiederholen brauche.Für die Flurbereinigung werden fast 650 Millionen DM ausgegeben, davon für den freiwiligen Landtausch, den wir für sinnvoller halten und der nicht zerstörerisch wirkt, ganze 2,5 Millionen DM.Das einzelbetriebliche Investitionsförderungsprogramm hat ein Volumen von 775 Millionen DM im Jahr. Ich behaupte: Es hat für den ländlichen Raum insgesamt mehr Schaden als Nutzen gebracht.Wenn ich hier einzelne Punkte kritisiere, so kritisiere ich damit nicht den Ansatz, Bauern mit einer 65-Stunden-Woche und einem bescheidenen Lebensstandard finanzielle Hilfen zu geben, im Gegenteil. Aber die falsche Verteilung der Mittel hat zu der heutigen Misere von Überschüssen und Höfesterben geführt.
Ich verstehe ja den Gesetzgeber — und das Wirtschaftsinteresse, das dahinter steht —, daß er eine Zinsverbilligung nur geben möchte, wenn gleichzeitig Investitionen gemacht werden. Aber der Bauer, der auf seinem Hof von 20 ha 80 000 DM Schulden hat — und das ist der Durchschnitt, bei vielen sind sie doppelt so hoch —, der braucht die Zinsverbilligung, um seine Schulden abtragen zu können. Dafür bekommt er jedoch keinen Pfennig.
Was viele Bauern brauchen — und in der Richtung muß bald etwas getan .werden —, sind Entschuldungshilfen. Damit soll nicht gemeint sein, daß jemandem, der selbst schuld an seiner Lage ist, automatisch geholfen wird. Aber wenn fast die Hälfte der Bauern mit Vollerwerbsbetrieben von der Substanz lebt, trifft es mit Sicherheit nicht zu, zu meinen, die seien alle zu dumm oder nicht fleißig genug, um Bauern sein zu können.
Noch zum einzelbetrieblichen Förderungsprogramm Nr. 9.2 — Zitat —:Die Förderung ist davon abhängig, daß mindestens 35% der von den Schweinen verbrauchten Futtermittel vom Betrieb selbst erzeugt werden können.Das entspricht genau der grünen Forderung, die Tierhaltung an die Fläche zu binden. Sehr gut. Nur war ich, leider, so gründlich und habe nachgerechnet. Danach dürfen rund 60 Schweine je Hektar gehalten werden. Das führt zu über sechs Dungeinheiten oder 480 kg Stickstoff pro Hektar. Das darf doch nicht wahr sein! — Die Gülleverordnung verbietet mehr als drei Dungeinheiten je Hektar.
Bei einzelbetrieblichen Investitionsförderungsprogrammen und beim Agrarkreditprogramm können bis zu 65 000 DM Jahresgesamteinkommen Mittel vergeben werden. Ich habe nichts dagegen, daß ein Landwirt 65 000 DM Einkommen hat. Aber der muß doch nicht unbedingt noch gefördert werden, wenn andere ein Null-Einkommen haben.
Lassen Sie uns den Mittelwert der bäuerlichen Einkommen nehmen, der lag im letzten Jahr bei 21 000 DM und nur dem Anspruch auf Förderung geben, dessen Einkommen darunter liegt!
Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich wollte zwar unseren Antrag noch vorstellen, aber die Zeit dazu reicht leider nicht mehr.
Ich bedanke mich.
Herr Bredehorn ist der nächste Redner. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das agrarpolitische Instrument der Gemeinschaftsaufgabe hat sich bewährt. Die gemeinsame Verantwortung Bund — Länder trägt den Durchführungsvorhaben sowohl hinsichtlich des finanziellen Bedarfs als auch hinsichtlich der jeweiligen regionalen Relevanz Rechnung. — Also, jetzt ist schon eine Minute um. Die Uhr läuft hier j a — toll.
— Ich mache es dann etwas langsamer. —
Trotz der generellen Haushaltssanierung konnte eine Aufstockung der Bundesmittel für dieses Jahr auf 1,3 Milliarden DM erreicht werden. Dies allein zeigt, welchen Stellenwert wir der Agrarstruktur im ländlichen Raum und den Verhältnissen der dort lebenden Menschen beimessen. Regional- und strukturpolitische Maßnahmen tragen zu einem intakten Wirtschaftsgefüge wesentlich bei. Deshalb erfolgt zwischen der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und der Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur eine enge Koordination. Richtig ist, daß gerade im ländlichen Raum die Arbeitslosigkeit das Problem Nummer eins ist und wir die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Juni 1985 11209
Bredehornlandwirtschaftliche Entwicklung nicht losgelöst von dieser unbefriedigenden Arbeitsmarktsituation sehen dürfen.Den Vorstellungen der FDP von einer gesunden mittelständischen Wirtschaft entspricht in der Agrarpolitik unser Leitbild eines leistungsfähigen bäuerlichen Familienbetriebes. Einkommenskombinationen und Landbewirtschaftung im Nebenerwerb werden in den nächsten Jahren zu einer bestimmenden Komponente in unseren Bemühungen werden, Wege aufzuzeigen, durch die der Landwirt seine Existenz sichern kann. Wir müssen eine Gesamteinkommenspolitik anstreben, die die Landwirte in ihrer Heimat beläßt, inmitten einer ländlichen Bevölkerung, die sich aus allen Berufen zusammensetzt. Sinnvolle Einkommenskombinationen entbinden nämlich die Landwirte von der Notwendigkeit, das Letzte aus ihren Betrieben herauszuholen.Der Landwirtschaft ist durch eine Preispolitik, die auf Mengenzuwachs und Produktionsankurbelung basiert, auf Dauer schlecht gedient. Der Verzicht auf letzte Intensitätsstufen im landwirtschaftlichen Betrieb packt das Überschußproblem an seiner Wurzel. Nur 25% aller Mittel, die der europäische Agrarfonds für die Marktordnungen ausgibt, gehen in die landwirtschaftlichen Einkommen ein. Wir müssen anstreben, daß investive Mittel, die neue Produktionsausweitungen bewirken, verstärkt in Richtung auf die ökologischen Bedürfnisse unserer Gesellschaft umgeschichtet werden.
Mit einer eher marktwirtschaftlich orientierten Agrarpolitik werden Ausgaben für Verwertung von Überschüssen zurückgeführt.
Dieses Geld muß der Erhaltung eines gesunden Naturhaushalts zugute kommen. Bereits im vergangenen Jahr hat die FDP gefordert, daß der Einstieg in eine marktentlastende Agrarpolitik mit 100 Millionen DM aus der Gemeinschaftsausgabe ermöglicht wird. Leider ist unser Anliegen auf taube Ohren gestoßen. Wir werden den Antrag nach der Sommerpause aber wieder einbringen. Es muß doch jedem einleuchten, daß der Aufwand für Extensivierung, Stillegung oder Aufforstung von Flächen sinnvoller ist als der für die Verwertung von Produkten, für die es keine Nachfrage gibt.
Dabei kann es sich nicht nur darum handeln, Grenzertragsböden aus der landwirtschaftlichen Nutzung großräumig herauszunehmen, um dort Naturschutz zu betreiben. Ein wirklicher ökologischer Ausgleich, der zur Erhaltung von Pflanzen und Tieren der „roten Listen" beiträgt, ist nur kleinräumig möglich. Ich stelle mir einen Biotopverbund vor, der unsere Kulturlandschaft netzartig überzieht.Die Neuausrichtung der Agrarstrukturförderung und der Gemeinschaftsaufgabe muß erstens dieExistenzsicherung von Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrieben gewährleisten; zweitens den natürlichen Standortbedingungen Rechnung tragen und in bestimmten Gebieten durch direkte Einkommensbeihilfen ergänzt werden; drittens die Modernisierung der Betriebe, Arbeitserleichterungen und Maßnahmen, die der Verbesserung der bäuerlichen Lebensbedingungen dienen, in den Vordergrund stellen; viertens alle Investitionshilfen, die auf Kapazitätsausweitung oder Ertragssteigerung ausgerichtet sind, sofort streichen. Die EG-Förderung zum Bau neuer Schweineställe ist falsch und wird von uns abgelehnt. Den Punkt fünf übergehe ich jetzt einmal und möchte sechstens sagen: Der Küstenschutz bleibt auch weiterhin die Voraussetzung für die Erhaltung des Lebensraumes an den Küsten von Nord- und Ostsee. Für uns ist der Küstenschutz auch in den nächsten Jahren ein Förderungsschwerpunkt, so lange, bis wir auch die letzten Deiche sturmflutsicher ausgebaut haben.Ich bin sehr überrascht — das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen —, daß die SPD dem Antrag der GRÜNEN hier zustimmen will.
— Gut, das ist in Ordnung, das akzeptiere ich. — Ich meine, der Leybucht-Plan — um das mal deutlich zu sagen; Sie sollten sich mal vor Ort erkundigen und sich das ansehen — ist ein guter Kompromiß zwischen Naturschutz und den Belangen der Landessicherheit.
Was dort jetzt gemacht wird, dient dem Schutz der Menschen, dem Schutz der Betriebe und führt zu einer vernünftigen Entwässerung. Es wird auch von den Naturschützern dort akzeptiert. Ich sehe meinen verehrten Kollegen Carl Ewen dort sitzen. Ich hoffe, daß er mit mir einer Meinung ist. Er kennt die Dinge dort vor Ort auch.
Ich sehe schon die Lampe hier leuchten.Abschließend möchte ich feststellen: Insgesamt gesehen wird die Gemeinschaftsaufgabe einer agrarstrukturellen Verbesserung im Rahmen ihrer Möglichkeiten und finanziellen Ausstattung gerecht. Für die FDP ist es zukünftig aber erforderlich, daß Ökologie und Einkommenssicherung bei den Einzelvorhaben sinnvoll abgewogen werden.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 10/3297 und 10/3574 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und
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Vizepräsident WestphalStädtebau sowie an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu andere, weitergehende Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir sind damit amSchluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Juni 1985, 8 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.