Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-dauerlicherweise haben wir heute weder Geburtstagenachzufeiern noch, woran wir uns schon fast gewöhnthatten, Wahlen zu Gremien durchzuführen, sodass unsnichts anderes übrig bleibt, als unverzüglich in die Ta-gesordnung einzusteigen, falls nicht irgendjemand über-raschend einen Geschäftsordnungsantrag einbringt.
– Heute nicht?
– Gut.Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SibyllePfeiffer, Sabine Weiss , Katrin Albsteiger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. BärbelKofler, Axel Schäfer , Klaus Barthel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEU-Afrika-Gipfel – Neue Impulse für die ent-wicklungspolitische PartnerschaftDrucksache 18/844b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Movassat, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEEU-Afrika-Gipfel – Partnerschaft an Gerech-tigkeit und Frieden ausrichtenDrucksachen 18/503, 18/871Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Gesamtzeit von 96 Minuten vorgese-hen; das ist uns inzwischen vertraut. – Dazu gibt es of-fenkundig keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister Gerd Müller.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gehtheute früh um ein spannendes Thema: Es geht umAfrika. Ich danke den Fraktionen von CDU/CSU undSPD, dass wir dieses Thema heute in der Kernzeit derBundestagsdebatte behandeln und damit in den Mittel-punkt der Debatte stellen.„Mut ist, zu geben, wenn alle nehmen.“ Woran den-ken wir alle denn, wenn wir an Afrika denken? Ichdenke beispielsweise an einen großen Helden in Bangui– ich glaube, das gilt auch für Dagmar Wöhrl; denn wirwaren in der vergangenen Woche zusammen in der Zen-tralafrikanischen Republik –: Ich denke an den Pfarrervon Bangui, den wir besucht haben. Er hat einfach seineKirche geöffnet und hilft 20 000 Menschen, die gekom-men sind, Flüchtlingen in größter Not. Wir haben Elendgesehen. Wir haben Not gesehen, die zum Himmelschreit. Meine Damen und Herren, wir können helfen.Wir müssen angesichts solcher Situationen helfen.Deshalb haben wir, die Bundesregierung, unserMinisterium, entschieden, dass wir mit Soforthilfen inder Zentralafrikanischen Republik helfen, dass wir Me-dizin in Krankenhäuser bringen. Es gibt sechs offeneKrankenhäuser. Dort wird aber auf dem Niveau von1948 oder 1950 in Deutschland operiert. Wir können denMenschen sofort helfen. Deshalb leisten wir Soforthilfe.Wir haben auch entschieden, die ZentralafrikanischeRepublik als Zielland neu in unsere Entwicklungszusam-menarbeit aufzunehmen;
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1892 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Bundesminister Dr. Gerd Müller
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denn wir müssen dahin gehen, wo die Not am größtenist. Ich freue mich deshalb ganz besonders, einen neuenAnsatz in der Entwicklungszusammenarbeit mit Frank-reich umzusetzen. Zusammen mit dem französischenEntwicklungsminister werden wir Strukturen in den Be-reichen Verwaltung, Gesundheit, Schule und Ernährungentwickeln. Frankreich und die Afrikanische Union ha-ben die Sicherheitslage in der Zentralafrikanischen Re-publik stabilisiert. Dies wird auch in den nächsten Wo-chen hier eine Rolle spielen bei der Beantwortung derFrage, ob wir ein Mandat für die Bundeswehr beschlie-ßen und in welcher Größenordnung wir Soldaten entsen-den.Ich wurde nicht nach Soldaten gefragt. Ich wurdenach Entwicklungshelfern, nach Ärzten und nach Hilfeim zivilen Bereich gefragt. Aber ich danke den französi-schen Freunden, die hier großartige Arbeit leisten. DieEntwicklungszusammenarbeit kommt nicht zuletzt, siekommt immer zuerst. Deshalb brauchen wir neue Struk-turen der Krisenprävention und der Konfliktbewälti-gung. Vor diesem Hintergrund haben wir in dieser Wo-che einen strukturell neuen Beschluss gefasst: Wirwerden die Afrikanische Union mit Blick auf den EU-Afrika-Gipfel zusätzlich unterstützen und die Hilfe fürdie African Peace Facility auf 900 Millionen Euro erhö-hen. Afrikaner wollen und können ihre Probleme selberlösen;
aber wir stehen natürlich an ihrer Seite.Wenn Sie versuchen, ein Bild von Afrika in IhremKopf aufzurufen, dann müssen Sie bedenken: Afrika istein Kontinent mit 54 verschiedenen Ländern. Das istnicht nur der K-Kontinent – Krisen, Katastrophen,Kriege –; das ist nur ein Teil. Sie können auch andereBilder von Afrika lebendig werden lassen, denn Afrikaist ein faszinierender Kontinent: Wüsten und Regen-wald, 2 000 Sprachen und Kulturen, eine pulsierende Ju-gend, fruchtbarste Böden – nicht nur Wüsten und Tro-ckenheit –, Vielfalt der Arten, die Einzigartigkeit derNatur, das Ökosystem der Tierwelt. Afrika ist ein Konti-nent der Schätze, Möglichkeiten und Chancen; unserNachbarkontinent, ein Chancenkontinent.Wir, das BMZ, sind das Afrika-Ministerium und in32 Ländern Afrikas mit mehr als 2 000 Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern engagiert. Ich möchte den Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern, insbesondere der GIZ, hierauch einmal herzlich danken. Sie leisten Großartiges inschwieriger Umgebung.
Deutschland ist ein angesehener Partner. Wir habenviel zu bieten. Wir bauen auf: Verwaltungsstrukturen,politische Strukturen, zivile Strukturen, Demokratie,Rechtsstaat. Wir haben das Modell der dezentralen Lö-sungen, das vielen hilft. Wir sind Ratgeber, Finanzierund Projektpartner der Wirtschaft. Wir entwickeln Infra-strukturen, großartige Projekte; wir bauen Schulen, Be-rufsbildungszentren, Krankenhäuser, wie man vor Ortsehen kann. Wir investieren insbesondere in Bildung.Bildung verändert alles. Bildung ist auch in Afrika derSchlüssel für Zukunft. Wir investieren in Gesundheit.Dies alles beinhaltet das neue Afrika-Konzept, das ichgemeinsam mit den Fraktionen, mit Ihnen im Parlamentweiterentwickeln möchte. Deshalb bin ich sehr dankbarfür den interessanten und guten Vorschlag Ihres Antra-ges. Wir werden diese Punkte natürlich aufnehmen. Mitdem neuen Afrika-Konzept des Bundesministeriumsverstärken wir unsere Arbeit und setzen neue Schwer-punkte.Ich kann hier nur ein paar Ansätze nennen. Wir setzenneue Schwerpunkte mit einer Sonderinitiative für eineWelt ohne Hunger. Das Hungern in der Welt ist sicherlichder größte Skandal. 1 Milliarde Menschen sind überge-wichtig. In der Fastenzeit und bei Diäten beschäftigenwir uns mit Verzicht und Abnehmen. Aber 1 MilliardeMenschen sind unterernährt und hungern. 25 000 Kindersterben täglich. Das ist deshalb ein Skandal, weil es nichtsein muss. Diese Welt, dieser Planet kann 10 MilliardenMenschen ernähren. Dazu müssen wir unseren Beitragleisten. Deshalb habe ich zusammen mit den Fraktioneneine Sonderinitiative für eine Welt ohne Hunger gestar-tet.
Wir werden unser Wissen, unser Können, unsere techno-logischen Fähigkeiten transferieren und in verschiede-nen Ländern Afrikas zehn grüne Innovationszentren auf-bauen, um die gesamte Kette der landwirtschaftlichenWertschöpfung vom Acker bis zum Teller zu stärken. ImRahmen dieser Leuchtturmprojekte werden wir zeigen,wie sich in Afrika eine nachhaltige Landwirtschaft ent-wickeln lässt.Wir schließen daran Berufsbildungszentren für ländli-che Entwicklung an. Meine Damen und Herren, wir star-ten eine Zukunftsoffensive für Afrikas Jugend: hundertneue deutsch-afrikanische Partnerschaften – machenauch Sie mit! – mit afrikanischen Schulen, Hochschulen,Kommunen, Kirchen. Wir wollen Tausende afrikanischeStudenten an deutsche Universitäten holen. Neue Aus-bildungs- und Kammerpartnerschaften wurden und wer-den mit der deutschen Wirtschaft besprochen. Wir brau-chen mehr Hermesbürgschaften für mehr Investitionenfür Afrika. Wir planen ein deutsch-afrikanisches Jugend-werk, die Aktion „Sportler für Afrika“ und vieles mehr.Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlichrichten wir unseren Blick auch auf das Flüchtlingselend.Deshalb werde ich in den nächsten Tagen dorthin gehen,wo die Not am größten ist – in den Südsudan –, und vorOrt die internationalen Organisationen unterstützen.Denn es kommt darauf an, dass wir den Menschen hel-fen. Es geht nicht darum, korrupte Systeme zu stabilisie-ren, aber die Menschen brauchen unsere Hilfe.
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Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Wir in Deutschland stehen für Menschenrechte, für dieGleichberechtigung der Frau, für Demokratie. Ich dankeden Fraktionen, allen Kolleginnen und Kollegen, die en-gagiert und mit viel Idealismus bei der Arbeit sind undmich unterstützen. Ich danke aber auch unserer Bundes-kanzlerin, die Afrika trotz aller aktuellen Probleme aufdie Tagesordnung gesetzt hat und auch – ich weiß es –im Herzen trägt und deshalb beim EU-Afrika-Gipfel ei-nen Schwerpunkt setzt. Unsere Bundeskanzlerin genießtnicht nur in Europa, sondern auch in Afrika hohes Anse-hen.
Nun blicke ich nach vorne: Wie wird Afrika morgenaussehen, was für Bilder gehen einem da durch den Kopf?Afrika ist und wird ein Kontinent der Jugend sein – nichtwie das Parlament hier, sage ich.
– Ich nehme das zurück.
Mit 50 und besser – in der Generation, der ich ange-höre – ist man ja auch noch jung,
und wir haben große Verantwortung für die Jugend.
Auf dem afrikanischen Kontinent sind 50 Prozent derMenschen – jeder zweite; das ist eine unglaublicheZahl – jünger als 18 Jahre. Diese Dynamik, diese sprü-hende Kraft der afrikanischen Länder wollen wir weiter-entwickeln. Afrika morgen, das wird ein Kontinent sein,der wächst, mit einer Bevölkerung, die sich bis zum Jahr2050 verdoppelt. Die Weltbevölkerung wächst jeden Tagum 250 000 Menschen; besonders viele davon kommenin Afrika zur Welt. Afrika ist ein Kontinent des Auf-schwungs; das möchte ich ganz besonders in Richtungder deutschen Wirtschaft sagen, die sich dort mehr enga-gieren muss. Sechs von zehn der am schnellsten wach-senden Volkswirtschaften der Welt sind in Afrika. Hiergibt es große Chancen für Investitionen und Partner-schaften. Ich stimme Horst Köhler zu, der sagt: Sprechenwir nicht über, sondern mit Afrika.
Hören wir auf mit Lektionen und Urteilen, mit Besser-wisserei! Wir müssen mehr zuhören, afrikanische Ge-schichte, Literatur, Kunst, Kultur verstehen, afrikanischeEigenverantwortung stärken, afrikanische Lösungen ernstnehmen.Vielen herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Niema
Movassat für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemandhier wird bestreiten, dass wir endlich Beziehungen aufAugenhöhe zu Afrika brauchen. Der EU-Afrika-Gipfel,der im April stattfinden wird und über den wir hier re-den, müsste also eigentlich ein echter Schritt hin zu fai-ren Beziehungen sein. Die Botschaft müsste sein: Wirmachen Schluss mit westlicher Besserwisserei und Arro-ganz.
Die Realität wird aber leider wohl anders aussehen.Das lässt die Themenwahl für den Gipfel schon befürch-ten; denn die afrikanischen Länder wollen gerne überHandelsfragen reden, die EU aber nicht. Auch die Koali-tion betont in ihrem Antrag in zentralen Punkten dieThemenvorgaben der EU. Einmal mehr diktieren dieEuropäer den afrikanischen Staaten die Agenda. Das hatmit Augenhöhe nichts zu tun.
Für viele afrikanische Länder sind die Wirtschafts-partnerschaftsabkommen mit der EU, die sogenanntenEPAs, derzeit ein zentrales Thema. Diese stehen in derTradition einer jahrzehntelangen fatalen Freihandels-politik.„Freihandelspolitik“ klingt ja ganz nett; dahintersteckt aber ein neoliberales Konzept, das den meistenAfrikanern keinen Wohlstand gebracht hat. Ganz im Ge-genteil! Die Länder Afrikas mussten ihre Märkte fürwestliche Produkte öffnen und Schutzzölle abbauen. Dashatte verheerende Auswirkungen auf die Ernährungs-situation der Bevölkerung.Noch in den 80er-Jahren wiesen die ärmsten Länderder Welt bei Lebensmittelexporten einen Überschussvon 1 Milliarde Dollar auf. Heute weisen sie dagegen einDefizit von 25 Milliarden Dollar auf.Europa überschwemmt Länder wie Ghana, BurkinaFaso und die Elfenbeinküste mit Milchpulver, Tomaten-paste, Geflügel- und Schweinefleisch zu Dumpingprei-sen. Die EU fördert das bis heute mit Subventionen. Lo-kale Märkte in Afrika wurden zerstört, Kleinbauern undlokale Händler wurden arbeitslos und verarmten. Heutesind die Länder stark abhängig von Nahrungsmittelim-porten. Die eigenen Bauern können die Nahrungsversor-gung nicht mehr gewährleisten.Diese Freihandelspolitik will die EU fortsetzen undverschärfen. Das ist Irrsinn. Es darf so nicht weiterge-hen.
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1894 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Niema Movassat
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Die Freihandels- und Strukturanpassungspolitikzwingt Staaten auch, ihre öffentlichen Betriebe zu priva-tisieren, angeblich, weil es das Beste für die Menschenvor Ort ist. Aber das Gegenteil ist der Fall! Nehmen wirnur den lebenswichtigen Bereich Wasser: Südafrika hathier fleißig privatisiert. 2007 wurde in Südafrika 10 Mil-lionen Menschen das Wasser abgestellt. Rund 2 MillionenSüdafrikaner wurden aus ihren Häusern geworfen, nach-dem sie sich wegen der horrenden Wasserrechnungen ver-schuldet hatten. Teilweise stiegen die Wasserpreise um biszu 600 Prozent. Von diesen Privatisierungen profitierenKonzerne wie Nestlé, nicht die Menschen. Damit mussendlich Schluss sein.
Sinnvoller wäre es, die EU würde sich, beispielsweiseim Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, für starkeöffentliche Einrichtungen in den Ländern des Südenseinsetzen, die die Grundversorgung mit Lebensmitteln,Wasser und Energie sowie im Hinblick auf Bildung undGesundheit sicherstellen. Das wäre eine Politik für dieMenschen.
Ich muss sagen, mir wird richtig unheimlich, wennunser Herr Bundespräsident sogar noch behauptet, dasssich Freihandel auf Frieden und Warenaustausch aufWohlstand reime. Das gäbe sprachlich im Deutschunter-richt eine glatte Sechs und ist inhaltlich total daneben.
Freihandel und Warenaustausch finden seit vielenJahrzehnten statt, und zwar meist in der Form, dass sieden wirtschaftlichen Interessen der Industrieländer undnicht den Menschen in den Ländern des Südens dienen.Da wir den afrikanischen Ländern schon so lange denwunderbaren Segen des Freihandels bringen, frage ichmich: Woher kommen eigentlich die ganzen Flücht-linge? Sie fliehen aus Not und Elend. Der Freihandelschafft eben meist nicht Frieden und Wohlstand.
Wenn man schon das Thema Sicherheit in Bezug aufAfrika aufmacht, wie Sie dies im Koalitionsantrag getanhaben, dann muss man auch darüber reden, dass die eu-ropäische Politik einen Beitrag zur Unsicherheit inAfrika leistet, und zwar durch die aufgedrückte neolibe-rale Politik, die Hunger und Armut schafft, und durchWaffenexporte, die zur Gewaltanwendung in Konfliktenführen. Deutschland ist übrigens drittgrößter Waffen-exporteur. Man sollte sich manchmal auch an die eigeneNase fassen.
Nach dem Schiffsunglück vor Lampedusa im letztenOktober, bei dem etwa 350 Menschen starben, war derAufschrei groß, aber nichts hat sich seitdem verändert.Vielmehr erleben wir eine immer weitere Aufrüstung dereuropäischen Grenzschutzsysteme. Das ist nicht nur einArmutszeugnis, das ist menschenverachtend.
Beim Lesen des Koalitionsantrags frage ich mich zu-dem: Wer ist eigentlich für den Klimawandel hauptver-antwortlich? Auch das ist eine der Fluchtursachen. ImKoalitionsantrag ist einseitig die Rede davon, dass manverhindern müsse, dass in Afrika der CO2-Ausstoß mitsteigendem Energiebedarf ansteigt. Welchen Beitrag dieEU auf diesem Gebiet leisten muss, benennen Sie abernicht.
Wir Industrieländer produzieren bis heute den mit Ab-stand höchsten CO2-Ausstoß. Deutschland will für Neu-wagen bis heute noch nicht einmal Abgasgrenzen ein-führen, nur um BMW, Audi und Mercedes zu schützen.
Wenn wir von Augenhöhe reden, dann gehören auch sol-che selbstkritischen Worte in einen EU-Afrika-Antrag.
Dann weisen Sie in Ihrem Antrag auf das starke Be-völkerungswachstum in Afrika hin. Sie verschweigendabei aber völlig die Ursachen, wie mangelnde sozialeSicherungssysteme. In den Industrieländern ist das Be-völkerungswachstum auch erst durch wirtschaftlicheEntwicklung und durch die Einführung sozialer Siche-rungssysteme zurückgegangen. Das ist der richtige Weg,um die Ursachen der Probleme zu bekämpfen.Wir als Linke sagen: Alles, aber auch alles, was dieBeziehungen zwischen Europa und Afrika angeht, musskohärent auf ihre Entwicklungsförderlichkeit ausgerich-tet werden. Dazu sind einige grundlegende Veränderun-gen notwendig:Erstens. Die Handelspolitik und die EPAs müssen aufdie Agenda des Gipfels. Eigentlich gehören diese Ab-kommen gänzlich gestoppt.
Zweitens. Das A und O einer jeden Entwicklung ist,dass die Menschen sich aus eigener Kraft ernähren kön-nen. Deshalb brauchen wir endlich umfassende Kon-zepte der Ernährungssouveränität, die Schluss machenmit Landraub und Nahrungsmittelspekulationen.Drittens. Wir brauchen ein Unternehmensstrafrecht,damit es Sanktionen gegen europäische Konzerne gibt,die Menschenrechtsverletzungen in Afrika und an-derswo begehen.Viertens. Wir brauchen eine menschenwürdigeFlüchtlings- und Asylpolitik.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1895
Niema Movassat
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Fünftens. Wir brauchen eine Klimapolitik, die sicher-stellt, dass zunächst die Hausaufgaben im eigenen Landgemacht werden, bevor man anderen Ländern schlaueRatschläge gibt.Sechstens. Mit der Militarisierung der deutschen undeuropäischen Afrika-Politik muss Schluss sein. Es gehtdabei immer wieder um Rohstoffinteressen und geostra-tegische Ziele, die in den Deckmantel von Menschen-rechten gehüllt werden. Es gibt keine außenpolitischeVerantwortung für mehr Auslandseinsätze der Bundes-wehr. Afrika braucht nicht mehr Soldaten und Waffen.Deshalb müssen auch Rüstungsexporte sofort gestopptwerden.Danke für die Aufmerksamkeit.
Bärbel Kofler ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal möchte auch ich betonen, dass ich frohbin, dass wir das Thema der Beziehungen zwischenEuropa und Afrika hier einmal zu einer prominenten De-battenzeit miteinander besprechen. Ich halte das für drin-gend nötig und geboten.
Es ist im Übrigen genauso nötig und geboten, dasswir auf allen Gipfeln und bei allen Kontakten mit Afrikadamit anfangen, auf höchster politischer Ebene mit-einander zu sprechen. Das wünsche ich mir für den EU-Afrika-Gipfel; das wünsche ich mir aber auch für zu-künftige Treffen und Kontakte mit afrikanischen Staatenund ihren Staatschefs.Einen Satz, Herr Movassat, kann ich mir nicht ver-kneifen. Ich habe den Eindruck, Sie haben unseren An-trag einfach nicht gelesen.
Es tut mir leid, aber unser Antrag enthält eine ganzeMenge Themen. Ich werde sie noch ausführen, zum Bei-spiel das Thema Wirtschaftspartnerschaftsabkommenund wie wir das ausgestalten wollen. Auch zum ThemaKlimawandel findet sich in unserem Antrag eine Menge,gerade auch dazu, wie wir dieses Thema angehen wol-len.Sie haben von „Augenhöhe“ gesprochen. Dazumöchte ich einen schönen Satz aus Ihrem eigenen An-trag zitieren, wonach Sie Afrika als „Opfer der kapitalis-tischen Industrialisierung des Nordens“ bezeichnen.
Ich glaube nicht, dass das etwas mit Augenhöhe zwi-schen Europa und Afrika zu tun hat.
Ich bin froh, dass wir den vierten EU-Afrika-Gipfelauf der Tagesordnung haben und über dieses Thema re-den. Ich glaube, dass es wichtig ist, ehrlich Bilanz zuziehen: Was ist in den letzten Jahren passiert? Haben wirwirklich Fortschritte erreicht? Sind wir zwischen Europaund Afrika zu konkreten Vereinbarungen gekommen?Da haben wir großen Nachholbedarf, gerade auch aufden drei Feldern, die auf dem Gipfel angesprochen wer-den und die wir auch in unserem Antrag thematisieren:Frieden und Entwicklung, Klima und Energie sowienachhaltiges Wirtschaftswachstum und nachhaltigerHandel; ich unterstreiche das Wort „nachhaltig“. In die-sem Bereich haben wir noch sehr viel Konkretisierungs-arbeit zu leisten. Einen Beitrag dazu soll unser Antragleisten.
Frieden ist selbstverständlich eine Voraussetzung fürEntwicklung. Der Weltentwicklungsbericht der Welt-bank stellt ganz klar fest, dass all die Länder, in denenStaatlichkeit zusammengebrochen ist, in denen Kriegund Krisen herrschen und innere Willkür und Korruptionstaatliches Leben nicht möglich machen, die Millen-niumsentwicklungsziele nicht erreicht haben. Friedenund Sicherheit sind zwingende Voraussetzungen für Ent-wicklung, und in diesem Sinne müssen wir Entwick-lungspolitik als vorausschauende Friedenspolitik begrei-fen; genau an dieser Stelle müssen wir ansetzen.
Ich bin überzeugt, dass wir gerade auch mit Instru-menten, die wir in Deutschland entwickelt haben, einbreites Angebot machen können. Ich nenne in diesemZusammenhang explizit den Zivilen Friedensdienst, weiler eine hervorragende Möglichkeit ist, um in Postkon-flikten, aber manchmal auch schon, bevor Konflikteausbrechen, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu-sammenzubringen und Ausgleichsstrukturen und Aus-gleichsmöglichkeiten zu schaffen.Es geht aber manchmal auch um den Aufbau vonStaatlichkeit und den Aufbau von staatlichen Sicher-heitsstrukturen. Natürlich braucht man zum Beispieleine korruptionsfreie Polizei und Justiz, um die für dieweitere Entwicklung notwendigen Strukturen aufbauenzu können. Auch dazu kann Deutschland Beiträge leis-ten.
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1896 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Dr. Bärbel Kofler
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Natürlich müssen wir die Zivilgesellschaft einbezie-hen, wenn es um Frieden und Entwicklung geht. Wir ha-ben in unserem Antrag – ich bin sehr dankbar, dass wirdas gemeinsam beschlossen haben – explizit auf die UN-Resolution 1325 Bezug genommen. Darin geht es da-rum, Frauen bei der Beilegung von Konflikten und Aus-einandersetzungen mit Waffengewalt gleichberechtigtmit einzubeziehen und das Potenzial von Frauen für einefriedliche Entwicklung zu nutzen und zu stärken. Dasdarf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern das mussunsere Aufgabe im Regierungshandeln, aber auch inner-halb der Parlamente sein.
Was das Thema Klima und Energie angeht, ist es,glaube ich, selbstverständlich und seit der Rio-Deklara-tion vor über 20 Jahren unumstößlich anerkannt: Frie-den, Entwicklung und Umweltschutz bedingen einanderund gehören zusammen. Selbstverständlich – das betoneich ausdrücklich – stehen meine Fraktion und ich wieauch, glaube ich, wir alle gemeinsam für das Prinzip dergemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung,wenn es um das Thema Klimawandel und Klimaschutzgeht.Wir haben historische Verantwortung. Afrika ist nichtder Kontinent, der den CO2-Ausstoß und den Klimawan-del vorangetrieben hat, leidet aber wie kein anderer Kon-tinent unter den Folgen des Klimawandels. Wüstenbil-dung, Wassermangel und künftige Konflikte um Wasser,Konflikte um fruchtbare Böden und Nahrungsgrundla-gen sind Folgen des Klimawandels, für den wir Verant-wortung tragen. Deshalb haben wir auch eine finanzielleVerantwortung, und wir müssen unserer Verantwortunggerecht werden, was den Know-how-Transfer und dieMöglichkeiten zur Vermeidung von CO2-Ausstoß beiuns selbst angeht.
Das gilt im Übrigen auch für alle Verhandlungen überKlimaabkommen, die wir voranbringen müssen. Wirmüssen das ambitionierte Klimaschutzziel, die Erd-erwärmung auf weniger als 2 Grad zu begrenzen, errei-chen. Ich weiß, wie schwierig das ist. Aber es muss ge-lingen. Und wir müssen als Entwicklungspolitiker dasThema Anpassungsmaßnahmen wesentlich stärker inden Fokus rücken und finanziell entsprechend ausgestal-ten, um den Menschen in anderen Ländern eine Chancezu geben.Dazu gehört aber auch – wenn man den Antrag genauliest, dann wird das auch deutlich, Herr KollegeMovassat –, dass wir mit Afrika gemeinsam Verantwor-tung haben, was Afrikas Energiebedarf angeht, um seineeigene Entwicklung vorantreiben zu können und seinereigenen Bevölkerung die Chance auf Energiezugang zugeben. Wir müssen das gemeinsam vorantreiben. Dazuhaben wir zwei Punkte in unseren Antrag aufgenommen.Erstens sind die Zusagen der Europäischen Union einzu-halten, die in der afrikanisch-europäischen Energiepart-nerschaft vereinbart wurden. Dabei geht es darum, dass100 Millionen Afrikaner in den nächsten sieben JahrenZugang zu Energie erhalten. Dazu müssen wir stehen.Das hat auch finanzielle Auswirkungen, und dazu mussman stehen. Ich freue mich darüber, dass in unserem An-trag steht, dass wir uns bei den eigenen Exportkreditenan Energieeffizienz und dem Einsatz erneuerbarer Ener-gien orientieren müssen, wenn es insbesondere umAfrika geht.
Damit haben wir eine gemeinsame Verantwortung mitden Partnerländern; denn eine solche Ausrichtung kön-nen wir den Ländern nicht vorschreiben, sondern dasmüssen wir im Dialog mit ihnen gemeinsam entwickeln.Das muss der Wunsch der Länder auf beiden Kontinen-ten sein.Zweitens, zum Thema nachhaltige Wirtschaftsent-wicklung und nachhaltiges Handeln. Die EPAs stellenzwar nicht das einzige Instrument dar, spielen aber einewichtige Rolle. Der Antrag der Linken nimmt nicht dendurchaus vorhandenen Wunsch Afrikas auf, Handel mitEuropa zu treiben und seriöse, gute Investitionen in ih-ren Ländern zu erhalten.
Es wäre schön, wenn Sie nicht nur über die eigene Ideo-logie, sondern über das redeten, was die Menschen aufanderen Kontinenten wirklich wünschen.
In einem Punkt haben Sie recht: Die europäischenWirtschaftspartnerschaftsabkommen müssen entwick-lungsfördernd sein und dürfen nicht das Gegenteil vondem bewirken, was wir alle mit Entwicklungszusam-menarbeit erreichen wollen. Genau das steht in unseremAntrag:Die Verhandlungen der Europäischen Union mitden afrikanischen Staaten über den Abschluss vonWirtschaftspartnerschafts- und Handelsabkommenmüssen dem Ziel der ökonomisch, ökologisch undsozial nachhaltigen Entwicklung sowie der Men-schenrechte verpflichtet sein.
Nur dann erachte ich solche Abkommen für entwick-lungsfördernd. Nur dann macht es auch Sinn und ist esim Interesse der afrikanischen Partnerländer. Natürlichentspricht es meinem Selbstverständnis als Parlamenta-rierin, die Regierung aufzufordern, alles zu tun, dass dieEU-Kommission, die diese Verhandlungen führt, mehrFlexibilität zeigt und auf die Wünsche der afrikanischenLänder stärker eingeht. Die Regierung ist hier also ge-fordert.
Selbstverständlich finde ich es richtig, dem Wunsch derafrikanischen Länder zu entsprechen, dieses wichtigeThema auch auf dem 4. EU-Afrika-Gipfel zu behandeln.
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Dr. Bärbel Kofler
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Warum das Ganze? Weil klar ist, dass Wachstum al-lein Armut nicht beseitigen kann. Das besagt der letzteBericht der United Nations Conference on Trade andDevelopment. Er macht ganz deutlich: In den am we-nigsten entwickelten Ländern – darunter sind 34 afrika-nische – sind 80 Prozent der Menschen in schlechtbezahlten, prekären und unsicheren Jobs in der Land-wirtschaft oder im Kleinhandel beschäftigt. Es muss unsdarum gehen, Perspektiven für menschenwürdige Arbeitund ein menschenwürdiges Leben auch in Afrika zu er-öffnen.
Dazu gehören gerechte Handelsregeln, die Wert-schöpfungsketten in afrikanischen Ländern ermöglichen;ich sage das ausdrücklich. Dazu gehört des Weiteren,Exportdumping zu verhindern und afrikanischen Län-dern faire Absatzchancen in Europa zu eröffnen; auchdas steht in unserem Antrag. Wir brauchen Transparenz-regeln, die klarmachen, welche Auswirkungen Finanz-ströme und Rohstoffeinnahmen auf Finanzen und wirt-schaftliches Handeln haben, welche Staaten Einnahmengenerieren und welche nicht und wohin die Mittel flie-ßen. Die afrikanischen Länder müssen mit einer Finanz-basis ausgestattet werden. Sie müssen Steuern erhebenkönnen, um mit den Einnahmen ein Sozialwesen zufinanzieren.
Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Zeit.
Herr Präsident, ich komme zum Ende. Man könnte si-
cher noch eine ganze Reihe von Maßnahmen anführen,
die wichtig sind. Ich glaube, wir haben in den nächsten
Jahren mit vielen internationalen Konferenzen Gelegen-
heit, zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe zu kommen.
Wir haben die EU-Afrika-Gipfel, wir haben den ganzen
Prozess der Weiterentwicklung der Armutsbekämpfung
bzw. der Millenniumsziele, wir haben den Klimagipfel
in Paris. All das – wie auch die G-8-Präsidentschaft –
muss genutzt werden, um die entwicklungsfördernde
Zusammenarbeit mit Afrika voranzutreiben.
Danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun
der Kollege Uwe Kekeritz das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eswurde schon gesagt: Der kommende 4. EU-Afrika-Gip-fel bietet eine große Chance, deutlich zu machen, dassAfrika ein Kontinent mit großem Potenzial ist, und auch,dass Afrika dieses Potenzial bereits sehr aktiv nutzt.Afrika hat Zukunft. Zur Wahrheit gehört allerdings auch,dass die Probleme in Afrika noch immens sind. Deshalbmüssen die Themen „gute Regierungsführung“, „sozialeund ökologische Gerechtigkeit“ und das unendlich großeThema der Menschenrechte auf die Gipfelagenda gesetztwerden.
Die EU muss sich eindeutig gegen die Kriminalisie-rung von Homosexuellen stellen, die in vielen LändernAfrikas pogromartige Ausmaße angenommen hat. DerHass auf Homosexuelle wird inzwischen staatlicherseitsgefördert und auch instrumentalisiert. Die EU muss sichhierzu klar positionieren und ihre Politik entsprechendanpassen.
Auf dem Gipfel muss die EU auch erklären, welchenBeitrag sie denn in Bezug auf jene Menschen leistet, dieaus Verzweiflung und Perspektivlosigkeit die Risiken ei-ner Flucht auf sich nehmen. Anstatt die Festung Europaweiter auszubauen, brauchen wir endlich einen humani-tären Umgang mit Flüchtlingen.
Statt Frontex, Eurosur und Abschiebehaft müssen Ar-mutsbekämpfung in den Herkunftsländern und men-schenwürdige Aufnahmeverfahren hier in Europa dieRichtschnur unserer Politik sein.
Ein weiterer wesentlicher Punkt der Verhandlungenmuss natürlich auch die internationale Unternehmens-verantwortung sein. Werte Kolleginnen und Kollegenvon der CDU/CSU, sicherlich erinnern Sie sich nochdaran, wie wir in der letzten Legislaturperiode mit sau-guten Argumenten, von der SPD und den Grünen zu-sammengestellt, die Politik der Bundesregierung diesbe-züglich kritisiert haben.
Die Bundesregierung setzt auf Freiwilligkeit und nichtauf verbindliche Regelungen. Da ist es doch sehr ver-wunderlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, dass ausgerechnet SPD-geführte Ministeriendie Minimierung von Verantwortung von Unternehmenunterstützen, die in Krisengebieten tätig sind. Ich spre-che von den Ministern Gabriel, Nahles und Maas. Sieunterstützen nach wie vor die EU-Kommission darin,dass dort tätige Unternehmen, also Unternehmen, die inKrisengebieten tätig sind, weniges veröffentlichen undweniges transparent machen müssen. Alles soll nur frei-willig geschehen.
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1898 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Uwe Kekeritz
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– Ja, ja. Die Unternehmen sollen das freiwillig machen,Frau Kollegin Pfeiffer. – Das halte ich für absurd. Daskann noch nicht einmal Welke toppen.
Das Leitmotiv des Gipfels lautet: Investitionen inMenschen, Wohlstand und Frieden. Ich bin überhauptkein Freund dieses Titels. Menschlichkeit, Wohlstandund Frieden sind nicht nur eine Frage von Investments.Allerdings ist es schon merkwürdig, dass trotz dieserÜberschrift das Wirtschaftsabkommen EPA nicht auf dieTagesordnung des Gipfels kommen soll. Worum geht esbei diesem EPA? Es geht um den afrikanischen Markt,der für die europäische Industrie inzwischen hochinte-ressant geworden ist. Ein weitgehender zollfreier Zu-gang wäre natürlich auch für die europäische Industriesehr profitabel. Aber genau diese Zolleinnahmen brau-chen die Entwicklungsländer für ihre Entwicklung.Das weiß auch die EU. Die Steuereinnahmen für dieECOWAS werden sich jährlich um circa 1,5 MilliardenEuro reduzieren. Die EU bietet deshalb eine Gegenleis-tung an. Sie sagt: Ihr bekommt als Ausgleich dafür6,5 Milliarden Euro, zahlbar innerhalb von fünf Jahren. –Es geht aber nicht nur um Zolleinnahmen; es geht umArbeitsplätze, die ganze Familien ernähren, die Nach-frage auf dem lokalen Markt schaffen; es geht um kleineIndustrien, die den Zellkern weiterer Entwicklung inAfrika in sich tragen.
Endlich wächst eine kleine Industrie in Afrika. DieseEntwicklung darf nicht grob fahrlässig durch Freihan-delsabkommen gefährdet werden.
Es muss uns doch allen klar sein, dass die afrikani-schen Staaten jeden Konkurrenzkampf mit der europäi-schen Industrie auf dem afrikanischen Markt verlierenmüssen. Die EU hat offensichtlich immer noch nicht be-griffen, dass soziale Stabilität in allen Ländern der Erdeauch in unserem Interesse liegt.Herr Minister Müller, Ihre Forderung, Wertschöp-fungsketten in den Ländern zu belassen, ist richtig, wich-tig und zentral für die Entwicklung. Die Durchsetzungder EPAs wird aber genau das Gegenteil bewirken undbereits entwickelte Wertschöpfungsketten bedrohen undvernichten. Herr Müller, hier erwarten wir von Ihnen einklares Veto gegen diese EPA-Verhandlungen.
Die 6,5 Milliarden Euro sind trügerische Silberlinge, dieder europäischen Industrie noch nicht einmal wehtun;denn dieses Geld wird von den Steuerzahlerinnen undSteuerzahlern gezahlt.Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich inBrüssel umgehend für ein Moratorium der EPAs einzu-setzen. Sie sind nicht notwendig. Sie zerstören die lang-sam wachsende industrielle Produktion, und sie stehenunseren entwicklungspolitischen Zielen diametral entge-gen. Wir warten hier auf einen allgäuerischen Donner-schlag, Herr Minister.Danke schön.
Der Kollege Jürgen Klimke hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Im Jahre 2000 hieß es in ei-ner langen Geschichte der Wochenzeitung Die Zeit zumThema Afrika:Seit vier Jahrzehnten flackert Afrika als Kontinentder Apokalypse über die Bildschirme: eine unendli-che Geschichte von Dürre und Hungersnot, Krank-heit und Korruption, Terror und Tyrannei, Schuldenund Schuld.Meine Damen und Herren, 14 Jahre später gibt es an-dere, konstruktivere Sichtweisen mit viel Perspektive,was Afrika betrifft. Die GIZ bezeichnet Afrika heute alsKontinent der Zukunft. Die Redewendung vom „Konti-nent der Chancen“ ist fast sprichwörtlich geworden. Wa-rum nun dieser Wandel? Hat man nur beschlossen, dasvorher halbleere Glas einfach als halbvoll anzusehen?Folgende Punkte scheinen mir wesentlich zu sein:Afrika hat sich selbst auf den Weg gemacht, sich zu ent-wickeln, und es entwickelt sich. Deutliche Fortschrittesind erkennbar: bei der Armutsbekämpfung, bei der Bil-dung, bei der Wirtschaftsentwicklung, bei der Stärkungder Staatlichkeit und bei der Kooperation innerhalb Afri-kas. Auf die darauf beruhenden Chancen geht unser An-trag ein.Zum Antrag der Linken mit dem schönen Titel „EU-Afrika-Gipfel – Partnerschaft an Gerechtigkeit und Frie-den ausrichten“. Befremdlich an diesem Antrag ist, dassman so tut, als würde die auf Frieden und Gerechtigkeitausgerichtete EU-Politik heute nicht verfolgt, als müssteman die EU daran erinnern, dies in den Fokus zu stellen.Meine Damen und Herren, die Stärkung der Entwick-lungszusammenarbeit mit Afrika, die verstärkten Inves-titionen in Bildung, die Leuchtturmprojekte im Bereichder Berufsbildung – ja, dient das alles etwa nicht der Ge-rechtigkeit? Die Initiativen in der Entwicklungszusam-menarbeit für die Herstellung von Transparenz, zumBeispiel bei Rohstoffeinnahmen, sind ebenso gerechtwie unser Einsatz, Kollege Kekeritz, für die Stärkungder Unternehmensverantwortung, CSR; um hier nur ei-nige Beispiele zu nennen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1899
Jürgen Klimke
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Ich will damit zeigen: Wir müssen uns mit unserer Poli-tik nicht verstecken. Wir sind auf einem guten und richti-gen Weg, gerade in der Entwicklungszusammenarbeit.Deutschland hat viel geleistet; auch das muss maneinmal sagen. Ich verweise zum Beispiel auf den ehema-ligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der Afrika ganzoben in Deutschland eine Stimme verliehen hat und sichauch heute noch in Afrika engagiert.Herr Minister Müller, ich möchte Ihnen besondersausdrücklich danken und Sie dafür loben, dass SieAfrika zum Schwerpunkt Ihrer Politik gemacht haben,aber auch solche Fragen aufgreifen wie Corporate SocialResponsibility, soziale Unternehmensverantwortung, dieAfrika interessieren. Das ist etwas, was für Afrika wich-tig ist.Aber lassen Sie mich noch einige Worte als Außenpo-litiker sagen, meine Damen und Herren. Wir bekennenuns ganz klar zu einer interessengeleiteten deutschenAußenpolitik. Ich möchte das im Folgenden kurz darle-gen. Welche Interessen hat Deutschland, welche Interes-sen haben die EU-Staaten in Afrika? Ich sehe vor allenDingen vier Bereiche: geostrategische, wirtschaftspoliti-sche, sicherheitspolitische und innenpolitische Interes-sen.
Lassen Sie mich mit dem Letzten, den innenpoliti-schen Interessen, anfangen. Da geht es darum, unregu-lierte Zuwanderung nach Europa zu verhindern, weil un-sere Gesellschaft nicht in unbegrenztem Maßeaufnahmefähig ist. Das ist eine Tatsache. Das ist auchder Grund dafür, dass es Frontex gibt. Wir werden Fron-tex auch nicht abschaffen, wie es die Linke fordert; ganzabgesehen davon, dass Frontex zum Beispiel Tausendevon Menschen aus Seenot rettet.
Wir wollen aber verstärkt daran arbeiten, dass die Men-schen in ihren Herkunftsländern bleiben können, bleibenwollen,
aber nicht müssen und dort Perspektiven haben.Sicherheitspolitisch ist Afrika früher nicht hinrei-chend ernst genommen worden. Die afrikanischen Ver-hältnisse waren für uns verwirrend, und die Problemewaren weit weg. Das hat sich nun geändert. Ein Grunddafür ist der globale Terrorismus, der Rückzugsräumeauch in Libyen, in Mali und in Mauretanien hat. Gründedafür sind aber auch die Piratenangriffe am Horn vonAfrika und die Bedrohung des Seehandels. Ich kommeaus Hamburg und weiß sehr viel darüber, zumal wir auchden Internationalen Seegerichtshof bei uns in der Stadthaben.Wenn wir heute ein Konzept dafür entwickeln, wiefragile Staaten stabilisiert werden können, dann ge-schieht das auch deshalb, weil die Globalisierung undVernetzung der Welt voranschreitet. In diesem Zusam-menhang begrüße ich es sehr, dass Europa und Deutsch-land zunehmend bereit sind, sich auch sicherheitspoli-tisch in Afrika zu engagieren. Wir wissen, dassSicherheit eine Grundvoraussetzung für Entwicklung ist.Meine Damen und Herren, natürlich hat Deutschlandauch wirtschaftliche Interessen in Afrika; ganz klar. Wiekann ein Kontinent mit 1 Milliarde Menschen, dessenFläche zu 80 Prozent noch nicht intensiv nach Boden-schätzen untersucht worden ist, uninteressant für unsereWirtschaft sein? Unsere Wirtschaft ist im Zusammen-hang mit Afrika auf zweierlei angewiesen: auf den Zu-gang zu diesen Rohstoffen und auf den Export dieserRohstoffe in andere Märkte – zusammen mit den afrika-nischen Partnern. Afrika ist für deutsche Unternehmenals Handelspartner wichtig und als Investitionsstandortinteressant. Es bietet große Chancen. Wenn eine Regionden Sprung aus der Armut geschafft hat, dann war es fastimmer die freie Wirtschaft, die dazu den Löwenanteilbeigetragen hat. Das Beispiel Ost- und Südostasien zeigtdas.Wir müssen erreichen, dass sich Unternehmen ausEuropa sicher fühlen, damit sie in Afrika investieren.Wenn bei diesen Investitionen auch soziale und ökologi-sche Mindeststandards eingehalten werden, dann sprichtnichts dagegen. Beiderseitige Marktöffnung gehört je-doch dazu.
Herr Kollege.
Herr Präsident?
Ich hatte den begründeten Verdacht, dass Ihnen nicht
aufgefallen ist, dass die Redezeit zu Ende ist.
Gut. Ich darf dann zum Schluss noch eine Bemerkung
machen, Herr Präsident, eine Bemerkung vor allem als
Vater von vier Kindern und als Entwicklungspolitiker.
Unabhängig von den Interessen, die wir haben, müs-
sen wir feststellen, dass in Afrika, zum Beispiel im Ni-
ger, noch 114 von 1 000 Kindern im ersten Lebensjahr
sterben, während es in Deutschland „nur“ 4 Kinder sind.
Das darf uns nicht unberührt lassen. Ich danke deswegen
allen, die sich gerade in diesen Fragen durch Spenden
oder durch freiwillige Aktionen engagieren und einen
Beitrag für Afrika und die Welt leisten.
Danke sehr.
Heike Hänsel ist die nächste Rednerin für die Frak-tion Die Linke.
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1900 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Klimke, Sie sagten, es gehe für die Europäi-sche Union um geostrategische und sicherheitspolitischeInteressen. Nichts anderes haben wir in unserem Antragganz klar kritisiert. Die soziale und ökonomische Ent-wicklung steht nicht im Mittelpunkt, sondern die Interes-sen der Europäischen Union. Genau deswegen lehnenwir diese Politik ab.
Herr Müller, ich begrüße es, dass Sie jetzt die Ent-wicklungszusammenarbeit mit der ZentralafrikanischenRepublik aufnehmen wollen, dass viel Geld dafür zurVerfügung gestellt wird. Aber wenn sich die Auswahlder Länder jetzt danach richtet, wohin deutsche Soldatenentsendet werden, wird damit in unseren Augen der völ-lig falsche Weg eingeschlagen. Es geht nämlich darum,zunächst einmal zu fokussieren, wo die Bedürfnisse derBevölkerung liegen und wo wir Entwicklung fördernmüssen. Es darf nicht ausschließlich danach gehen, inwelchen Ländern wir militärisch präsent sind.
Frau Kofler, Sie hatten sich ja über das Wort „Kapita-lismus“ in unserem Antrag echauffiert.
– Ja, darüber, dass die Länder des Südens Opfer des Ka-pitalismus sind. – Ich frage mich: Wie bezeichnen Siedenn diese Wirtschaftsordnung, wenn nicht als kapitalis-tisch?
Profit, Marktöffnung, Zugang zu Rohstoffen – all dassteht vor dem Recht auf Nahrung, vor Ernährungssouve-ränität. Es geht doch um Profitinteressen. Genau das kri-tisieren wir. Wir wollen eine andere Weltwirtschaftsord-nung, weil nur so Entwicklung ermöglicht werden kann.
Diese Auseinandersetzung führen wir natürlich jetztauch im Rahmen des EU-Afrika-Gipfels mit den afrika-nischen Ländern. Es wurde erwähnt: Die EU will nichtüber diese zentrale Frage der Ausrichtung der Handels-politik diskutieren. Dabei gibt es massive Kritik ausden Ländern des Südens. Aminata Traoré, die ehema-lige Kulturministerin Malis und eine bekannte Globali-sierungskritikerin, bezeichnete schon vor Jahren dieWirtschaftspartnerschaftsabkommen als die „Massen-vernichtungswaffen Europas“, weil sie Millionen vonExistenzen von Kleinbauern, von Kleinhändlern bedro-hen und dadurch mehr Arbeitslosigkeit und mehr Armutentsteht. Das steht ja genau im Gegensatz zu dem, was,wie behauptet wird, durch die EPAs erreicht werden soll,nämlich mehr Entwicklung.Die afrikanischen Länder sollen ihre Märkte weiteröffnen. Ein zentraler Punkt ist eben auch der Abbau vonExportzöllen, zum Beispiel für Rohstoffe. Aber genaudiese Exportzölle sind wichtig, um Rohstoffe in denLändern zu halten und dort eine eigene ökonomischeEntwicklung in Gang zu setzen und Wertschöpfungsket-ten aufzubauen. Herr Minister Müller, das war ja einzentrales Anliegen Ihrer Antrittsrede.
Sie sagten, die Wertschöpfung in den Ländern des Sü-dens, in Afrika, muss gestärkt werden. Deswegen müs-sen Sie sich entscheiden; ich erwarte von Ihnen eineklare Positionierung: entweder Freihandel oder Entwick-lung und Stärkung der Wertschöpfung in Afrika. Beideszusammen geht nicht.
So haben Sie es in Ihrem Antrag auch nicht formuliert,Frau Kofler. Zu den Exportzöllen äußern Sie sich nicht.Sie bleiben nebulös und sagen, dass Sie eine entwick-lungsförderliche Handelspolitik wollen. Was ist denn daskonkret?Sie müssen dafür sorgen, dass die afrikanischen Staa-ten ihre Wirtschaft, ihre Ökonomien schützen können.
Wenn wir aber stärker in diese Märkte hineindrängen,dann verhindern wir das. Übrigens: Nicht nur wir, dieLinke, kritisieren das seit vielen Jahren, auch viele kirch-liche und zivilgesellschaftliche Organisationen tun das.Diese beschweren sich darüber, dass sie nicht an diesenProzessen beteiligt werden. Ähnlich wie bei den Ver-handlungen über TTIP mit den USA fehlt der Zugang zuInformationen. Parlamente werden kaum informiert.Parlamentarier in afrikanischen Ländern haben sich oftbei uns beschwert, dass sie nicht informiert sind undHunderten von EU-Beamten gegenüberstehen, die sieganz leicht über den Tisch ziehen können. Das ist keinePartnerschaft auf Augenhöhe.
Deswegen fordern wir auch, dass die EPA-Verhandlun-gen gestoppt werden. Wir wollen dahin kommen, dass esneue wirtschaftliche Beziehungen gibt, die gerecht auf-gebaut sind.Jetzt möchte ich noch etwas zu dem ganzen Themen-komplex der Sicherheitspolitik sagen. Der EuropäischeEntwicklungsfonds der EU ist milliardenschwer. Überdiesen Entwicklungsfonds werden auch Militäreinsätzeund Polizeieinsätze in Afrika finanziert. Auch das kriti-sieren wir seit Jahren. Es kann nicht sein, dass Entwick-lungsgelder für Militärmissionen missbraucht werden.Deswegen fordern wir das Ende dieser sogenannten afri-kanischen Friedensfazilität.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1901
Heike Hänsel
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Für uns ist ganz klar, dass die zivil-militärische Zu-sammenarbeit in Afrika jetzt verstärkt werden soll. Dasheißt, Entwicklungszusammenarbeit und Militärmissio-nen sollen Hand in Hand gehen; sie sind sozusagen zweigleichberechtigte Instrumente, um den Zugang zu Roh-stoffen unter anderem in den afrikanischen Ländern ab-zusichern. Auch diese Instrumentalisierung der Entwick-lungspolitik lehnen wir ab.
Zum Schluss. Ich komme aus Stuttgart, und da liegtes nahe, dass ich die US-Kommandozentrale AFRICOMerwähnen muss. Von Stuttgart-Möhringen aus werdendie Militäreinsätze und Drohneneinsätze der USA inAfrika koordiniert. Wenn wir etwas für die Menschen inAfrika machen wollen, dann müssen wir diese Zentraleschließen. Dort werden völkerrechtswidrige Angriffe aufMenschen in Afrika – gezielte Tötungen – organisiert.Das ist eine unmenschliche Politik. Deswegen: Schlie-ßen wir AFRICOM in Stuttgart!Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Strässer für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Auch ich bin sehr froh da-rüber, dass es gelungen ist, nach den vielen afrikapoliti-schen Debatten, die in dieser Legislaturperiode schonstattgefunden haben, nunmehr eine zu führen, die sichnicht in erster Linie mit militärischen Interventionenauseinandersetzt. Ich glaube, das ist gut. Eine solcheFokussierung wäre auch falsch. Sie ist – das habe ich inder Debatte bezüglich Mali bereits gesagt – auch nichtinkludiert, wenn man über Verantwortung in der Außen-politik redet. Es wäre ein völlig falscher Ansatz. Verant-wortung für diese Länder bedeutet in erster Linie Krisen-prävention und Einsatz für Menschenrechte. Damit kannverhindert werden, dass es zu solchen Interventionenkommt, meine Damen und Herren.
Es ist hier schon viel über militärische Interventiongesagt worden. Wir haben in den letzten Wochen undMonaten über viele Begrifflichkeiten in der Außenpoli-tik gesprochen. Der Begriff „Verantwortung“ wurde mitAttributen wie zynisch und heuchlerisch kommentiert.Anfang April werden wir hier – es gibt einen entspre-chenden Antrag –, aber auch vor Ort des Genozids inRuanda gedenken. Das sollten wir uns noch einmal inErinnerung rufen.Sehr viele Menschen nicht nur in diesem Land, son-dern auch in anderen Ländern und Vertreter von Nichtre-gierungsorganisationen – ich knüpfe an den Aufruf vonAmnesty International an – fordern uns dringend auf,nicht wieder wie 1994 sehenden Auges einen beginnen-den Genozid zuzulassen. Ich frage Sie allen Ernstes: Istes heuchlerisch und zynisch, wenn wir sagen, dass dieZentralafrikanische Republik im Moment eine militäri-sche Intervention braucht, damit ein sich anbahnenderGenozid verhindert wird? Ich finde, es ist verantwor-tungsvoll, dass wir darüber nachdenken.Meine ganz persönliche Meinung ist: Die Entsendungvon einem oder zwei Transportflugzeugen ist für michzu wenig. Ich unterstütze die Franzosen bei dem, was siedort tun, nämlich diesen sich anbahnenden Genozid zuverhindern, damit wir in 20 Jahren nicht wieder hier ste-hen und darüber klagen.
Wir sprechen hier – das ist völlig richtig – über ver-schiedenste Formen der Zusammenarbeit mit afrikani-schen Ländern. Es ist von Herrn Minister Müller ange-sprochen worden, dass unser Blick auf Afrika derSituation der Staaten auf dem afrikanischen Kontinentmöglicherweise nicht gerecht wird. Natürlich gibt es un-terschiedliche Entwicklungen. Natürlich haben wir un-terschiedliche Ansätze in Bezug auf die Staatlichkeit, dieRechtsstaatlichkeit sowie auf die Bestrafung von schwe-ren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.Meine Damen und Herren, ich finde es zu einfach, zusagen, dass die komplette Politik der BundesrepublikDeutschland und der EU ausschließlich darauf ausge-richtet ist, eigene Interessen zu formulieren und durch-zusetzen, und dass die Menschenrechte – quasi als Deck-mantel – nur am Rande eine Rolle spielen. Ich finde, dasist eine sehr problematische Diskussion. Das will ichauch an ein, zwei Beispielen deutlich machen.Wir und insbesondere die Kollegin Groth haben imAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe inder letzten Legislaturperiode immer sehr deutlich daraufhingewiesen, dass wir mit der Menschenrechtssituationin Ägypten, einem nordafrikanischen Land, das sich ineinem schwierigen Transitionsprozess befindet, nichteinverstanden sind. Das gilt insbesondere für den Sinai,wo es Menschenhandel und andere Dinge gibt.Wir haben Gespräche mit dem ägyptischen Botschaf-ter geführt. Ich hatte vor drei Tagen noch einmal – inAnführungsstrichen – das „Vergnügen“. Ich habe mitden Kolleginnen und Kollegen aus Ägypten über die Si-tuation in ihrem Land geredet und ihnen gesagt – das sa-gen wir alle im Übrigen –: Die Situation auf dem Sinaiist nicht haltbar. Die Situation dort muss verändert wer-den; denn dort geschehen elementare Menschenrechts-verletzungen. Dabei geht es um Menschenhandel,Organentnahmen und vieles mehr. – Zeigen wir, wennwir das kritisieren, etwa mit dem Finger auf andere Län-der und wollen nur eigene Interessen umsetzen? Oderverzichten wir darauf, auf Menschenrechtsverletzungenschwerster Art hinzuweisen, wenn sie sich auf dem afri-kanischen Kontinent abspielen?Ich habe vorletzte Woche im Menschenrechtsrat inGenf schwer für eine gemeinsame Entschließung mehre-rer europäischer Länder gearbeitet, um auf die Situation
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1902 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Christoph Strässer
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in Ägypten aufmerksam zu machen. Das ist richtig, unddas ist gut. Ich finde, wir haben, gerade in Anbetrachtunserer Partnerschaft, nicht nur das Recht, sondern auchdie Verpflichtung, über solche Situationen in den afrika-nischen Ländern zu reden und natürlich auch darauf hin-zuweisen, dass wir den Aufbau von rechtsstaatlichenStrukturen, von Staatlichkeit unterstützen wollen. Dasses diese nicht gibt, ist doch Teil der großen Probleme invielen afrikanischen Ländern.Es gibt viele Länder, die sich sehr gut entwickeln. Dasgilt zum Beispiel für Ghana; es gibt noch andere Bei-spiele. Es gibt aber eben auch Länder, wo es nicht funk-tioniert. Wir haben aufgrund der sehr intensiven Zusam-menarbeit, auch im entwicklungspolitischen Bereich,das Recht, zu sagen: Wenn es im Osten der Demokrati-schen Republik Kongo keine Staatlichkeit mehr gibt,dann ist es die Pflicht der Bundesrepublik Deutschlandund der EU, auf Veränderungen hinzuwirken. Diese Ver-änderungen zu unterstützen, ist keine Einmischung indie Angelegenheiten der Demokratischen RepublikKongo, wo es nach wie vor schwerste Menschenrechts-verletzungen gibt.
Es ist auch unsere Verpflichtung, etwas zu tun. Es istdoch eine Verhandlung auf Augenhöhe. Es ist keine Ein-mischung in die inneren Angelegenheiten eines Landesmit Arroganz und westlicher Besserwisserei. Wir mah-nen dort die Umsetzung von internationalen Menschen-rechtsverträgen an, die all diese Staaten unterschriebenhaben. Sie haben sie nicht unter Druck unterschrieben.In Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte ist die Würde des Menschen klar definiert. Daraufmüssen wir diese Länder hinweisen. Im Übrigen kritisie-ren wir Menschenrechtsverletzungen auch bei uns. Wennwir das im eigenen Land tun, dann ist es auch unserRecht, dies in Bezug auf andere Länder zu tun.Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen – Herr Kekeritzhat das Thema LGBTI angesprochen –: Im Moment istAlice Nkom in Deutschland zu Besuch. Alice Nkom isteine Menschenrechtsverteidigerin aus Kamerun. Sie istungefähr 70 Jahre alt und war im Jahre 1969 die ersteschwarze Frau in Kamerun, die zur Anwaltschaft zuge-lassen worden ist. Sie hat am Dienstag hier in Berlin den7. Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Am-nesty International erhalten. Thema war der Kampf ge-gen Homophobie in Kamerun – nur in Kamerun. FrauNkom hat gestern Abend im Auswärtigen Amt eine, wieich finde, beeindruckende Rede über das, was sich inKamerun entwickelt, gehalten. Ich kann nur sagen – ichweiß, dass die Bundeskanzlerin dieses Thema auf demEU-Afrika-Gipfel ansprechen wird –: Es kann, geradeunter Geltung der Allgemeinen Erklärung der Men-schenrechte, nicht sein, dass wir Homophobie durchge-hen lassen.
Ich bitte Sie, sich intensiv anzuschauen, was sich imMoment in diesem Zusammenhang in einigen afrikani-schen Ländern abspielt. Dies betrifft nicht nur Uganda.Es gibt diese Tendenzen – darüber haben wir oft gespro-chen – auch in der Demokratischen Republik Kongo undin anderen Ländern. Es gibt dazu – das wusste ich garnicht – seit 1962 eine Gesetzgebung in Kamerun.Eine aus meiner Sicht klare Botschaft ist: Homopho-bie, die Verfolgung von LGBTI-Menschen ist nicht nurin Deutschland, wo die Strafbarkeit von homosexuellenHandlungen noch nicht sehr lange abgeschafft ist, son-dern auch in Afrika eine ganz wichtige Angelegenheit.Hier müssen wir weiter ansetzen. Wir müssen nicht nurFrau Nkom, die mir gesagt hat, dass sie sich gefährdetfühlt, sondern allen Betroffenen dieser Menschenrechts-verletzungen im Zweifel Hilfe und Unterstützung an-bieten. Das bedeutet auch, denjenigen, die sich damitbefassen, in den Ländern, in denen sie arbeiten, konsula-rischen und Botschaftsschutz zu gewähren. Sie macheneine ganz wichtige Arbeit in diesem Feld, auch für unsund unsere Werte. Ich finde, das sollten wir insgesamtganz massiv unterstützen, meine Damen und Herren.
Was lehren uns die Anträge und all die Erklärungen,die wir in den letzten Wochen und Monaten hier abgege-ben haben? Ich – Sie haben das gemerkt – sehe die Ent-wicklung auf dem afrikanischen Kontinent insbesondereunter dem menschenrechtlichen Aspekt. Ich sage: DieWahrung der Menschenrechte dort wie auch bei uns istdie Basis für vernünftige Beziehungen. Die Basis fürvernünftige Beziehungen ergibt sich aber nicht aus Ent-wicklungen, die wir anderen Nationen, anderen Ländernaufgeben, sondern aus freiwilligen Vereinbarungen inden großen menschenrechtlichen Verträgen. Ich finde, esist unsere Verpflichtung, auch hier im Parlament daraufhinzuweisen.Ich sage – allerdings nicht mit erhobenem Zeigefin-der, sondern in dem Bewusstsein, dass die Umsetzungund Durchsetzung der Menschenrechte in Europa undDeutschland vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Ein-führung des demokratischen Wahlrechts nach dem Ers-ten Weltkrieg immerhin 250 Jahre gedauert hat –: Wirsollten von diesen Nationen und Menschen nicht erwar-ten, dass sie innerhalb von wenigen Wochen und Mona-ten das erreichen, wofür wir und unsere Vorfahren jahr-zehntelang gekämpft haben. Wir sollten einen Diskursführen und durch gemeinsame Anstrengungen dafür sor-gen, dass Grundrechte und Menschenrechte weltweitGeltung haben. Dafür sind sie geschaffen worden. Dasist der konstruktive Beitrag, den ich meine, wenn ichsage: Deutsche Interessen gibt es in der ganzen Welt. EinTeil der deutschen Interessen besteht darin, dazu beizu-tragen, dass alle Menschen auf dieser Welt unter dengleichen Voraussetzungen, nämlich der Allgemeinen Er-klärung der Menschenrechte, leben und ihre Würde er-halten bzw. bekommen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1903
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Nun hat der Kollege Frithjof Schmidt das Wort für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Drei große Themen werden beim vierten EU-Afrika-Gipfel in Brüssel im Zentrum der Gespräche über diepolitischen Konflikte stehen – es ist wichtig, dass mandarüber spricht, dass es da richtige Konflikte gibt –:Viele afrikanische Länder wollen erneut über ihre Kritikan den Verhandlungen über die Wirtschaftspartner-schaftsabkommen reden. Sie erinnern sich vielleicht:Der Gipfel 2007 wäre darüber fast geplatzt. Seitdem gibtes hierzu eine lange Geschichte der Auseinandersetzung;sie kommt zurück und holt uns ein. Die afrikanischenLänder wollen keine zu große Marktöffnung, weil siedann die Existenz ganzer Wirtschaftszweige und damitihre Stabilität gefährdet sehen; mein Kollege UweKekeritz ist darauf schon ausführlich eingegangen.Die Europäische Union will eigentlich nicht darübersprechen. Sie wird es aber tun müssen. Sie wird begrei-fen müssen, dass es dabei auch um Stabilität geht. DieEU will unter anderen Aspekten über Stabilität reden:zum einen über afrikanische Sicherheitsstrukturen – undda im Kern über militärische Fragen – und zum anderenüber Migration, das heißt über die große Zuwanderungs-welle über das Mittelmeer nach Europa mit ihren vielenOpfern.Dass es wieder einmal im Vorfeld diese Konflikteüber die Tagesordnung gegeben hat, zeigt schon vorab,dass der Dialog mit den afrikanischen Staaten seit 2007durch die Handelspolitik schwer belastet wird.
Das belastet natürlich auch die notwendige Debatte überFrieden und Sicherheit.Es ist sinnvoll, mit der Afrikanischen Union gemein-sam an einem sicherheitspolitischen Konzept für denKrisenbogen in Subsahara-Afrika von Mali über Zentral-afrika bis nach Somalia und bis zur Region der GroßenSeen und dem Kongo zu arbeiten. Aber eine gemein-same europäische politische Idee oder Initiative dafür istbisher nicht erkennbar. Stattdessen soll anscheinend ein-fach die African Peace Facility umgebaut werden: zu ei-nem Instrument der verstärkten Militärausbildung undeiner anderen Lastenteilung bei Militäreinsätzen im Auf-trag der Afrikanischen Union oder vielleicht auch derEuropäischen Union. Frau Merkel hat das gestern „Er-tüchtigungsinitiative“ genannt – ein interessantes Wort.
Das ist eine politische Sackgasse.
Das treibt ein jahrelanges Umfunktionieren dieserehemaligen Institution zur Friedensförderung zu einerArt Dachverband der Militärkooperation auf die Spitze.Die African Peace Facility wird aus dem EuropäischenEntwicklungsfonds finanziert. Ihre Aktivitäten gelten alsEntwicklungshilfeleistung, zertifiziert vom DAC in Pa-ris. Es ist in der Europäischen Union schlicht rechtswid-rig, solche Gelder für Militärausbildung zu verwenden.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen kann man dazukonkret kein Wort lesen. Sie ignorieren diesen zentralenStreit. Wie stehen Sie zu diesem Umfunktionieren? Un-terstützen Sie das? Herr Minister Müller, was ist dennIhre Meinung? Wollen Sie das wirklich mitmachen? Daswäre absurd; denn dann würden wir mit Entwicklungs-hilfegeldern direkt Soldatinnen und Soldaten finanzie-ren. Das geht doch nicht.
Sicherheitspolitik und Entwicklungspolitik dürfen nichtfinanziell vermischt werden, und die Kooperation in bei-den Feldern darf auch nicht indirekt mit handelspoliti-schem Wohlverhalten verbunden werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch zumdritten großen Streitthema des Gipfels kommen: zumUmgang mit der rasch wachsenden Migration zwischenAfrika und Europa. Dass Sie auf dieses wichtige Themain Ihrem Antrag fast gar nicht eingehen, sagt schon et-was aus. Auch diesen Konfliktpunkt des Gipfels ignorie-ren Sie, wenn es konkret wird. Dabei sterben nach wievor täglich Menschen im Mittelmeer. Da gibt es massi-ven Handlungsbedarf. Die Grenzüberwachung durchFrontex muss grundlegend verändert werden. Es ist not-wendig, dass sich Frontex an die internationale Seenot-rettungskonvention hält. Das muss durchgesetzt werden.
Es ist hier vorhin gesagt worden: Das machen sie. –Aber wir alle wissen: Das machen sie eben nicht konse-quent, nicht immer und nicht wirklich. Wenn die Fragegestellt wird: „Wann ist ein Schiff in Seenot?“, dann sa-gen die Polizeioffiziere von Frontex: Wir haben eineRichtlinie; es ist in Seenot, wenn es unter der Wasserli-nie ist. – Aber wenn es kurz vorm Sinken ist, dann darfman es nicht retten? Da läuft etwas ganz grundlegendschief.
Wir brauchen zusätzlich eine Agentur, die sich euro-paweit um die Aufnahme von Flüchtlingen und Migran-ten kümmert und sich als deren Anwältin versteht.Doch bei Migration geht es nicht nur um die Frageder Flüchtlinge. Den afrikanischen Staaten ist es wichtig,
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1904 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Dr. Frithjof Schmidt
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die positiven Seiten einer legalen Arbeitsmigration nachEuropa in den Vordergrund zu stellen.
Eine legale, befristete Arbeitsaufnahme in Europa mussmöglich sein. Das ist eine Frage der Ursachenbekämp-fung. Wir müssen es deutlich erleichtern, eine begrenzteArbeitserlaubnis zum Beispiel für Saisonarbeiter zu er-teilen. Der Bedarf ist da, auf beiden Seiten des Mittel-meers. Wir müssen hier dringend neue Wege gehen.
Davon ist bei der Vorbereitung des Gipfels in Brüsselleider wenig zu erkennen. Wir hoffen, dass im direktenDialog mit den afrikanischen Staaten doch noch Bewe-gung in diese Richtung aufkommt. Dafür hätten Sie auchunsere Unterstützung.Danke.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Dagmar Wöhrl
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SeitWochen beherrschen die Entwicklungen in der Ukraineund insbesondere auf der Krim die Nachrichten. Vielesagen, wir stünden davor, in die alte Politik des Null-summenspiels zurückzufallen, ganz im Sinne der hartenRealpolitik der 60er-Jahre, wo es nur Gewinner und Ver-lierer geben konnte. Ich glaube, sagen zu können: Wirals Deutsche und Europäer werden uns nicht in die Rolledes Kalten Kriegers zurückdrängen lassen. Viele deutendas als Zeichen der faktischen Schwäche. Ich würde sa-gen: Es zeigt, dass Europa diplomatische Stärke hat.Die tragende Säule unserer Partnerschaften in derWelt war und ist unsere Werteorientiertheit.
Auch der jetzt vor uns liegende EU-Afrika-Gipfel gibtuns die Möglichkeit, zu zeigen, dass wir weiterhin einekooperative Weltpolitik praktizieren und so echte Part-nerschaften ermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 14 Jahre ist es nunher, seit der erste EU-Afrika-Gipfel im Jahr 2000 stattge-funden hat. Afrika ist ein Kontinent der permanentenVeränderungen; er ändert sich manchmal schneller alsunser eigenes Bild von ihm. In dieser Zeit gab es vieleKatastrophenmeldungen, es gab aber auch viele Erfolgs-meldungen.Bei Katastrophenmeldungen denken wir an die großeDürrekatastrophe in der Sahelzone 2012. Nur fünf Jahrevorher gab es in dieser Region große Überschwemmun-gen und dadurch eine hohe Obdachlosigkeit.In Nordafrika waren wir in den letzten drei JahrenZeuge des größten demokratischen Aufbruchs, den mansich überhaupt vorstellen kann. Der Arabische Frühlinghat auf der ganzen Welt enorme Hoffnungen geweckt.Tunesien hat sich gerade eine der fortschrittlichsten Ver-fassungen der arabischen Welt gegeben und so in Bezugauf die Gleichberechtigung von Mann und Frau neueMaßstäbe gesetzt sowie Glaubensfreiheit und Bekennt-nisfreiheit verankert. Solche Fortschritte hat man sichvor ein paar Monaten noch nicht vorstellen können.Es gibt auch eine andere Seite. In Ägypten beispiels-weise scheint sich die Uhr zurückzudrehen. Hier prägtdas Militär die Politik.Nehmen wir das Beispiel Demokratische RepublikKongo. 2003 wurde ein Friedensabkommen verabschie-det, 2007 war das schon wieder obsolet, der Dritte Kon-gokrieg begann.Nehmen wir als Beispiel die Zentralafrikanische Re-publik, die ich letzte Woche gemeinsam mit dem Minis-ter besucht habe: 20 Jahre nach dem Genozid in Ruandaist vor den Augen der Weltöffentlichkeit einer der größ-ten Konflikte zwischen Muslimen und Christen ent-brannt. Ein Versöhnungsprozess liegt in ganz weiterFerne, und es ist auch nicht möglich – das kann man sichnicht vorstellen –, einen Versöhnungsprozess in Gang zusetzen, weil es keine funktionierende Justiz, keine ent-sprechenden Strukturen gibt. Der Wiederaufbau diesesLandes wird Jahrzehnte dauern.14 Jahre nach dem ersten EU-Afrika-Gipfel und kurzvor dem vierten Gipfel ist es wichtig, dass wir zurückbli-cken. Aber wir sollten uns auch fragen: Wo steht Afrikaheute? Wie ist das Afrika von 2014? Wie hat sich derKontinent gewandelt? Welches Afrika-Bild haben wir?Wie soll die Partnerschaft zwischen Europa und Afrikakünftig gestaltet werden?Wenn wir ein ehrliches Bild von Afrika wollen, dannmüssen wir auch einen ehrlichen Blick zulassen. DasBild von Afrika ist weder schwarz noch weiß, sondernunwahrscheinlich bunt.Seit dem Jahr 2000 haben sich die Malariafälle um75 Prozent reduziert. 2002 erhielten nur 50 000 Men-schen Arzneimittel gegen HIV und Aids, inzwischensind es 7,5 Millionen. Die Kindersterblichkeit ist rapidezurückgegangen: um 41 Prozent in 20 Jahren. Das istimmer noch zu hoch, trotzdem ist das eine der spektaku-lärsten Erfolgsgeschichten unserer weltweiten Entwick-lungspolitik.Afrika ist ein Magnet für ausländische Direktinvesti-tionen. Sie haben sich seit 2003 verdreifacht. Allein2012 wurden 46 Milliarden Euro in diesen Kontinent in-vestiert. Der Minister hat es vorhin angesprochen: Vonden zehn am schnellsten wachsenden Ländern sind sechsaus Afrika. Es wird mit einem durchschnittlichen Wirt-schaftswachstum von 6 Prozent gerechnet. Afrika istalso auch ein Chancenkontinent.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1905
Dagmar G. Wöhrl
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Die Liste der Erfolgsgeschichten und Katastrophen-meldungen könnte nicht vielfältiger sein, ebenso wie derKontinent nicht vielfältiger sein könnte: 54 Länder,885 Millionen Menschen, 3 000 Bevölkerungsgruppenund 2 000 Sprachen.Wie sieht unsere Rolle, wie sieht die Rolle der EU inAfrika künftig aus? Wer, wenn nicht wir in Europa, kannaufgrund der geografischen Nähe, die wir zu unseremNachbarkontinent haben, und aufgrund der eigenen Ge-schichte ein ernsthafter Partner Afrikas sein?Was sind die Ursachen für das permanente Auf undAb in Afrika? Sind es die Naturkatastrophen, von denender Kontinent Afrika immer wieder heimgesucht wird?Nein, es sind die Menschen, die für Licht und SchattenVerantwortung tragen.Alle Erfolge und auch die meisten Misserfolge, dieich eben erwähnt habe, sind von Menschen gemacht.Menschen sind es aber auch, die vor Ort lokale Lösun-gen schaffen für lokale Probleme, die schon seit Jahr-zehnten bestehen. Deswegen begrüße ich das Motto desdiesjährigen Gipfels: „Investing in People, Prosperityand Peace“. Beachtenswert finde ich, dass die Afrikanerdas Wort „People“ auf die Tagesordnung gesetzt haben.Wir sind immer für Hilfe zur Selbsthilfe, aber das darfnicht nur ein leerer Slogan sein. Wir wissen, dass 50 Pro-zent der jungen Menschen in Afrika jünger als 18 Jahresind. In sie muss investiert werden. Wenn uns das ge-lingt, dann sind langfristig auch Prosperity und Peacemöglich.Wo führt unsere Partnerschaft wirtschaftlich, kulturellund menschlich hin? Europa ist nach den USA undChina der wichtigste Markt für afrikanische Exporte.Umgekehrt repräsentiert Afrika nahezu 10 Prozent desAußenhandels der Europäischen Union.Neben den vielen Milliarden, die nach Afrika geflos-sen sind, war es für uns immer wichtig, unser Know-how, unser technisches Wissen und unsere Erfahrungenim Bereich der nachhaltigen Entwicklung zu transferie-ren. All das hilft, den Kontinent mit aufzubauen. UnserZiel ist es und wird es immer sein, die Abhängigkeit vonEntwicklungsgeldern, die teilweise immer noch besteht,abzubauen.Transparenz, Gleichberechtigung, politische Teilhabe –das ist unsere Vision von Partnerschaft. Der Hass gegen-über Homosexuellen in Uganda, die Homophobie, unddie beispiellose Hetzjagd dort – das haben meine Kolle-gen schon angesprochen – dürfen in unserer Partner-schaft absolut keinen Platz haben.
Deswegen ist es wichtig und richtig, dass die Auszah-lung der nächsten Tranche der EU-Budgethilfe von20 Millionen Euro für Uganda zurückgestellt worden ist.Wir haben eine Vision für Afrika. Afrika ist ein Kon-tinent der Chancen, der Potenziale, der enormen Mög-lichkeiten. Wir müssen in die Menschen investieren, da-mit sie fähig sind, die Zukunft ihres Kontinents selbst indie Hand zu nehmen. Die derzeitige Schulbildung reichtdafür aber nicht aus. Wir müssen viel mehr auf Qualitätsetzen. Es nützt nichts, wenn die Kinder endlich dieSchule besuchen, aber nach fünf Jahren Schulbesuch im-mer noch nicht rechnen und schreiben können. Wir müs-sen auf eine bessere Qualität hinarbeiten.
Frau Kollegin.
Nelson Mandela hat gesagt: Bildung ist die mäch-
tigste Waffe, um die Welt zu verändern. – Ich glaube, auf
der Bildung muss zukünftig der Schwerpunkt liegen.
Wir wollen der Bevölkerung Afrikas, insbesondere den
jungen Menschen, gute Gründe geben, zu Hause zu blei-
ben und ihr Land aufzubauen und nicht Leib und Leben
zu riskieren, indem sie sich auf kleine Flüchtlingsboote
quetschen, um nach Europa zu kommen.
Herr Minister, wir wünschen Ihnen das Beste. Wir
werden Sie beim EU-Afrika-Gipfel unterstützen.
Frau Kollegin, Sie müssen nun aber wirklich zum
Schluss kommen.
Ich wünsche mir nur eines, liebe Kolleginnen und
Kollegen: dass wir es wirklich schaffen, bei diesem EU-
Afrika-Gipfel hinsichtlich Migration, Post-2015, Klima-
wandel und ländliche Entwicklung zu konkreten Ergeb-
nissen zu kommen. Ich hoffe auf konkretere Ergebnisse
als die, die der letzte Gipfel hervorgebracht hat.
Vielen Dank.
Die Kollegin Engelmeier-Heite hat für die SPD-Frak-
tion als nächste Rednerin das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! NachKairo, Lissabon und Tripolis geht es nun Anfang Aprilerneut um die weitere Zusammenarbeit zwischen der EUund den afrikanischen Staaten, und zwar – das möchteich in aller Deutlichkeit betonen – um die partnerschaft-liche Zusammenarbeit der beiden Nachbarkontinente.Ich betone das insbesondere mit Blick auf den Antragder Fraktion Die Linke. In diesem stellen Sie den bevor-stehenden EU-Afrika-Gipfel in eine neokoloniale Ecke.Ich meine, Sie tun unseren afrikanischen Partnern un-recht, indem Sie sie dadurch implizit als schwächereSeite erscheinen lassen, die auf eine rein von europäi-schen Interessen geleitete Seite trifft. Das ist eine ganzschön arrogante Haltung, meine ich.
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1906 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Michaela Engelmeier-Heite
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Nein, in Brüssel trifft nicht ein schwaches Afrika aufein allmächtiges Europa. Vielmehr treffen sich im kom-menden Monat die Vertreterinnen und Vertreter einesstarken und selbstbewussten Kontinents, eben Afrikas,mit denen Europas, um die zum großen Teil bereits er-folgreiche Zusammenarbeit seit 2007 zu evaluieren undüber die Vertiefung der zukünftigen Zusammenarbeit aufAugenhöhe zu verhandeln. Ich freue mich, dass keinschwaches Afrika auf ein überstarkes Europa trifft. Daszeigt, dass unsere entwicklungspolitischen Bemühun-gen durchaus erfolgreich waren und sind, zeugen siedoch von einer sozialdemokratischen Ausrichtung derdeutschen Entwicklungspolitik: weg von der Nehmer-Geber-Charakterisierung hin zu einer partnerschaftli-chen Beziehung.
Wir legen auch weiterhin großen Wert darauf, dieafrikanischen Staaten als gleichwertige Partner bei derFestlegung gemeinsamer Aufgaben und gemeinsamerZiele zu betrachten. Bei aller ernstgenommenen undzum Teil auch berechtigten kritischen Betrachtung derFehler in der Vergangenheit betrachten wir den kom-menden Gipfel der Europäischen Union und Afrikas alsChance. Das ist eine Chance, aus den Fehlern der Ver-gangenheit zu lernen, und das ist eine Chance für neueImpulse in der entwicklungspolitischen Partnerschaft.Dabei bauen unsere afrikanischen Partner insbeson-dere auf Deutschland. Sie erwarten gerade von uns be-sondere Impulse für eine nachhaltige Entwicklungspoli-tik auf ihrem Kontinent. Deutschland und Europa stehennicht nur in der Pflicht, gemeinsam mit ihren afrikani-schen Partnern das gemeinsame Engagement festzulegenund auszubauen; Deutschland und Europa teilen mit ih-ren afrikanischen Partnern auch das gemeinsame Inte-resse, die offenen und neuen Herausforderungen ge-meinsam anzupacken. Diese Herausforderungen sindnicht zu unterschätzen. Daher begrüßen wir als Sozialde-mokratinnen und Sozialdemokraten den vereinbartenSchwerpunkt „Investieren in Menschen, in Wohlstandund in Frieden“ des kommenden EU-Afrika-Gipfels.Insbesondere der Punkt Frieden ist von zentraler Bedeu-tung für die Entwicklung des afrikanischen Kontinents.Bewaffnete Konflikte zerstören nicht nur unsere ge-meinsamen Entwicklungsbemühungen, sondern sie ver-hindern sie auch auf lange Zeit, nicht nur für die Dauerdes Konflikts, sondern auch in den Folgejahren. Leidtra-gende dieser Konflikte sind vor allem Frauen und Kin-der. Sie sind auch die Leidtragenden in den fragilenStaaten. Dort sind sie von Unterdrückung, mangelnderBeachtung ihrer Rechte und mangelnden Partizipations-möglichkeiten betroffen. Dabei wissen wir doch alle,dass gerade Frauen eine ganz wichtige Rolle in der Ent-wicklung der Länder einnehmen und einnehmen können.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang einenkleinen Blick nach Ruanda. Ruanda ist das Land mitdem höchsten Anteil an Frauen im Parlament – à labonne heure! Aus diesem Grund müssen wir unser be-sonderes Augenmerk auf die Förderung von Frauen undKindern legen. Sie sind es, in die wir investieren müs-sen. Die Punkte 6 und 11 unseres Antrages betonen un-sere Forderung, Perspektiven nicht nur für junge Män-ner, sondern auch für junge Frauen zu schaffen und allenKindern und Jugendlichen den Zugang zu Bildung zu er-möglichen.
Ich brauche nicht hervorzuheben, dass Bildung derSchlüssel zu einer zukunftsfähigen Entwicklung ist. Jeg-liche Investition in Frauen und Kinder muss daher im-mer als eine Investition in eine nachhaltige Entwicklungund als eine Investition in die Zukunft angesehen wer-den.Mit Punkt 11 streben wir die explizite Förderung vonFrauen als wesentliche Motoren für nachhaltige Ent-wicklung in unseren Partnerländern an. Die Bundes-regierung wird hierin aufgefordert, beim anstehendenGipfel auf die rechtliche Gleichstellung von Frauen undMädchen, auf den Schutz vor jeglicher Form von Gewaltund auf den Zugang zu Bildung, Eigentum und gutenArbeitsplätzen hinzuwirken. Frauen sollen darüber hi-naus künftig stärker an allen Kooperations- und Ent-scheidungsprozessen aktiv beteiligt werden. An dieserStelle betone ich noch einmal unseren Wunsch und unserStreben, die Kräfte Afrikas zu mobilisieren und zu stär-ken, damit wir, Europa und die Welt, unseren afrikani-schen Partnern auf Augenhöhe begegnen.Ich möchte nochmals auf den bereits erwähnten Gip-felschwerpunkt „Investieren in Menschen, in Wohlstandund in Frieden“ und damit auf aus meiner Sicht wichtigeAspekte zurückkommen. In Entwicklungsländern ster-ben täglich etwa 800 Frauen an den Folgen von Schwan-gerschaft und Geburt. Es bedarf sicherlich keiner weite-ren Erläuterung, wenn ich darauf aufmerksam mache,dass Schwangerschaften, die als Folge sexueller Gewalt,zum Beispiel in Kriegen und gewaltsamen Konflikten,entstehen, für Frauen besonders dramatisch sind. Dahermüssen sie unseren besonderen Schutz genießen, aberauch die Kinder, die in Krisengebieten leben.In Art. 6 der UN-Kinderrechtskonvention steht, dassjedes Kind von Geburt an das Recht hat, zu leben. Wirmüssen die Ziele der UN-Kinderrechtskonvention unter-stützen, um den Kindern in diesen Ländern das Überle-ben zu sichern. Dazu gehört auch eine menschenwürdigeGesundheitsversorgung, insbesondere auf unserem afri-kanischen Partnerkontinent. Gemeinsam mit unserenafrikanischen Partnern müssen wir dafür sorgen, dassFrauen und Kinder Zugang zu einer menschenwürdigenGesundheitsversorgung haben.Das Ziel, dass nicht mehr vier von fünf Kindern vorihrem fünften Geburtstag sterben müssen, müssen wirerreichen. Nach wie vor sind nämlich Lungenentzün-dung, Komplikationen infolge einer Frühgeburt oderwährend der Geburt, Durchfallerkrankungen und Mala-ria mit Abstand die häufigsten Todesursachen. Es sindFortschritte erreicht worden, aber im Kampf gegen die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1907
Michaela Engelmeier-Heite
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Kindersterblichkeit wird das UN-Millenniumsziel 4 klarverfehlt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an einenAntrag meiner Fraktion aus der vergangenen Wahl-periode. Sollten wir das darin formulierte Ziel, 2015 zumJahr der ersten HIV/Aids-freien Generation erklären zukönnen, erreichen, sind wir einen ganz großen und wich-tigen Schritt in die richtige Richtung gegangen.
Ich möchte aber auch noch auf ein weiteres Problembesonders hinweisen: die Registrierung von Kindern.Ebenfalls in der UN-Kinderrechtskonvention ist in denArt. 7 und 8 das Recht verbrieft, dass jedes Kind einRecht auf seine Identität hat, das Recht hat, zu wissen,wer es ist, zu welchem Staat es gehört und wer seine El-tern sind. Warum ist das so wichtig? Es handelt sich hiernicht nur um einen rein bürokratischen Akt, den manvernachlässigen kann, nein. Weltweit sind rund 230 Mil-lionen Kinder unter fünf Jahren in keinem Geburtsregis-ter eingetragen, mit weitreichenden Folgen: Weder kön-nen sie ihre Nationalität nachweisen noch wann siegeboren wurden noch wie sie heißen.
Frau Kollegin, Sie müssen – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja. – In Afrika südlich der Sahara besitzen 56 Prozent
der Kinder Geburtsdokumente. In Somalia und Liberia
werden aber nur 3 respektive 4 Prozent der Kinder regis-
triert. Eines muss klar sein: Kinder ohne Geburtsschein
sind juristisch inexistent und deshalb stärker dem Risiko
von Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt ausgesetzt.
Nicht registrierte Kinder sind in erhöhtem Maße gefähr-
det, Kinderhandel, Kinderarbeit oder einem verfrühten
Einzug in bewaffnete Konflikte ausgesetzt zu sein.
Sie sehen: Es gibt noch viele, vor allem immens wich-
tige Herausforderungen, denen wir uns auf nationaler
Ebene, aber auch auf europäischer Ebene gemeinsam
mit unseren afrikanischen Partnern stellen müssen.
Das war ein hervorragender Schlusssatz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der EU-Afrika-Gipfel wird ein Meilenstein auf die-
sem Weg sein.
Danke schön.
Nun erhält der Kollege Johannes Selle das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitunserem Antrag begleiten wir den vierten EU-Afrika-Gipfel in Brüssel. Dieser Gipfel hat große Bedeutung,unser Antrag ebenfalls. Ich begrüße ausdrücklich, dasswir darüber zu einer Premiumzeit diskutieren können –wie oft haben wir das Thema Afrika in den spätenAbendstunden diskutieren müssen!
Wer Afrika besucht hat, weiß, dass Afrika ein reicherKontinent ist. Es ist ein Jammer, dass es nicht gelingenwill, den Reichtum dieses Kontinents für die Menschenin Afrika nutzbar zu machen.In diesen Tagen fällt es wieder schwer, die positivenAspekte zu sehen – zu erdrückend sind die Berichte vonGewalt und Instabilität auf dem afrikanischen Kontinent:chaotische Verhältnisse in Libyen, religiös motivierte„Säuberungen“ in der Zentralafrikanischen Republik,anhaltende Kämpfe und eine wachsende humanitäre Ka-tastrophe im Südsudan. Die Folgen sind verheerend undverstärken den Eindruck von Chaos statt Chancen.Ich möchte an dieser Stelle Bundespräsident Gauckzitieren:Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wirkönnten verschont bleiben von den … Konflikten,wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen.Flüchtlingstragödien wie die, die uns vor kurzem beson-ders mitgenommen hat, gibt es nach wie vor. Afrika istder Nachbarkontinent Europas. Wir sollten es mit unse-rem geistig-kulturellen Erbe schaffen, den Menschen inAfrika zu würdigen Lebensbedingungen zu verhelfen, indenen sie auch gerne leben – oder sollten wir dazu An-leitung aus entfernteren Regionen benötigen?In vielen Gesprächen mit afrikanischen Gesprächs-partnern habe ich immer wieder zu hören bekommen,dass Deutschland gegenüber Afrika nicht so zurückhal-tend sein sollte, dass es sich seinem politischen und wirt-schaftlichen Gewicht entsprechend mehr engagierenmüsse; besonders eindrücklich hat der Außenministervon Togo vor kurzem bei uns im Ausschuss darauf hin-gewiesen. Das ist ein Appell, der sich gleichermaßen anuns wie an die Wirtschaft richtet. Wir müssen den anste-henden EU-Afrika-Gipfel nutzen, um ein klares Signalauszusenden: das Signal, dass uns an dem KontinentAfrika sehr viel liegt; das Signal, dass Afrika mit Europaund, bilateral gesehen, Deutschland einen starken Part-ner an seiner Seite hat. Um die Potenziale des Konti-nents im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung aus-schöpfen zu können, müssen sich Afrika und Europagemeinsam einer ganzen Reihe von Herausforderungenstellen.Mit diesem Antrag drücken wir aus, dass wir unserEngagement ausbauen und neue Akzente setzen wollen.Es ist klar, dass staatliche Entwicklungspolitik alleinnicht zu den gewünschten Zielen führen wird. Wichtigist der Ausbau der euro-afrikanischen Wirtschafts- und
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1908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Johannes Selle
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Handelsbeziehungen. Ohne eine Entwicklung der afrika-nischen Wirtschaft gibt es keinen Fortschritt.
Die angestrebten Abkommen für eine Wirtschaftspart-nerschaft gehen in die richtige Richtung.
Es ist eine Stärke dieses Antrages, deutlich zu machen:Diese Abkommen müssen so ausgestaltet werden, dasssie unseren afrikanischen Partnern zum Vorteil und nichtzum Nachteil gereichen.
Wenn wir von Entwicklung in Afrika sprechen, dannkommen wir an dem Thema „Frieden und Sicherheit“nicht vorbei. Frieden herzustellen, ist keine einfacheAufgabe. Erst gestern haben wir wieder über eine neueMission in Somalia gesprochen. Frieden zu erhalten undzu festigen, ist ebenfalls keine einfache Aufgabe.Bei der Mehrzahl der Konflikte, die wir heute inAfrika erleben, handelt es sich um innerstaatliche Aus-einandersetzungen, in denen nicht selten ehemaligeNachbarn aus religiösen oder ethnischen Gründen odervielleicht auch nur aufgrund des Ressourcenmangelsaufeinander losgegangen sind. In derartigen Post-Kon-fliktsituationen werden der beste Friedensvertrag und dieschönsten Entwicklungsprojekte nur wenig Bestand ha-ben, wenn die tiefen Gräben nicht überbrückt werdenkönnen.Genau dieses erleben wir gerade im Südsudan. In derEuphorie über die 2011 erzielte Unabhängigkeit wurden40 Jahre Bürgerkrieg nie aufgearbeitet und Verantwortli-che nie zur Rechenschaft gezogen. So war es der politi-schen Elite im vergangenen Jahr möglich, alte Wundenin der Bevölkerung für ihren Machtkampf zu instrumen-talisieren und eine noch immer andauernde Welle ethni-scher Gewalt loszutreten. Vor dieser grundsätzlichenProblematik stehen wir auch in Mali, in Libyen und inder Zentralafrikanischen Republik.Wenn Entwicklungen in diesen Regionen eine Chancehaben sollen, dann müssen umfassende Aussöhnungs-prozesse und eine intensive Aufarbeitung der Geschichteden Boden dafür bereiten. Darauf sollten wir auch in un-serer Zusammenarbeit achten.Aus diesem Grund bin ich dankbar, dass in unseremAntrag auch die Bereiche Kultur und Medien vorkom-men. Kultur und Medien gehören dazu, wenn Gesell-schaften auf Augenhöhe miteinander umgehen wollen.Als leuchtendes Beispiel möchte ich das Rwanda MediaProject nennen, ein Projekt, das die Unterstützung desBMZ, der GIZ und der Deutschen Welle hat. Ruanda istes wichtig, die Bereiche Kultur und Medien für die Ent-wicklung zu nutzen.Aussöhnung ist die große Leistung Europas in denvergangenen Jahrzehnten, eine Leistung, die heute vie-len unserer afrikanischen Partner als Vorbild dient.
Wir können die gewachsene Bedeutung Afrikas füruns und für die EU am besten dadurch deutlich machen,dass die Aktivitäten, die sich aus dem Gipfel und aus un-serem Antrag ergeben, eine politisch hochrangige Unter-stützung in der Arbeitsphase erhalten. Die permanentehochrangige politische Begleitung ist eine Vorausset-zung für das Gelingen und für signifikante Fortschritte.
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Heinrich für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir dis-kutieren die Vorbereitung und die erwünschten Inhaltedes EU-Afrika-Gipfels in wenigen Tagen. Es ist hier ei-niges zu dem Antrag der Linken gesagt worden. Wir sindnicht nur nicht sehr fröhlich darüber, sondern auch hierfiel mir das Wort „Augenhöhe“ ein; denn ich glaube, wirmüssen hier ordentlich miteinander arbeiten. Das Bild,das Sie von Afrika haben, haben wir – auch ich persön-lich – nämlich ganz sicher nicht.
Wir haben in den Reden immer wieder gehört: Part-nerschaft und Augenhöhe. Das steht in unserem Antrag.Sie haben das offensichtlich nicht gelesen. Es geht unsdarum, dass wir gemeinsam etwas entwickeln. Geradedieser immer wieder so genannte „ChancenkontinentAfrika“ bietet hier sehr viele Möglichkeiten.Erst gestern Nachmittag sprach ich mit einigen Vertre-tern der Stiftung Partnerschaft mit Afrika, die das von Bun-despräsident Köhler geförderte Programm COMENGAdurchführt. Hier treffen sich Deutsche und Afrikaner. Siereden und arbeiten miteinander, und das Wesentliche ist:Sie entwickeln gemeinsam ein Konzept.Dieser Ansatz, Partner beider Seiten ernst zu nehmenund mit einzubeziehen, ist meiner Meinung nach kon-struktiv und ein ausgezeichneter Ausdruck von Partner-schaft. Das ist ein wunderschönes Beispiel dafür, wiewir diesen Gipfel angehen.Dr. Katja Böhler von der Stiftung Partnerschaft mitAfrika sagte: Augenhöhe zu leben, bedeutet, dass deut-sche, europäische und afrikanische Partner von der Kon-zeption bis zur Umsetzung zusammenarbeiten. – Genaudas passiert unter anderem – wenn auch am anderenEnde der Skala – für und in Vorbereitung auf diesen EU-Afrika-Gipfel. Dieser Gipfel ist einmal mehr die Chancefür einen Austausch und das Finden gemeinsamer Posi-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1909
Frank Heinrich
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tionen – nicht nur in der übernächsten Woche, sondernauch jetzt in der Vorbereitung – sowie die Stärkung undden Ausbau partnerschaftlicher Beziehungen.Welche Themen im Zusammenhang mit diesem Gip-fel – wir haben von dem einen oder anderen gehört, woer die Prioritäten setzt und was sich in unserem gemein-samen Antrag wiederfindet – sind besonders wichtig?Ein wichtiges Thema – das ist der erste Punkt – ist hierBildung; dazu ist schon eine ganze Menge gesagt wor-den. Die afrikanischen Länder haben das Wort „people“in den Vordergrund gestellt; wie gesagt: die afrikani-schen Partner. Nach Aussage des Europäischen Auswär-tigen Dienstes, EAD, könne von afrikanischer Seite imRahmen des Gipfels mit einer konkreten Initiative imBereich Bildung gerechnet werden. Gemeinsame Im-pulse werden auch durch das begleitend stattfindende Ju-gendforum erwartet.Der zweite Punkt, der mir persönlich sehr wichtig ist,ist das Thema Migration. Wir können nicht nur unsereMittel, sondern auch die Entwicklungszusammenarbeitinsgesamt nutzen, um die Sicherheit und den Lebens-standard breiter Bevölkerungsschichten durch entspre-chende Maßnahmen zu verbessern. Ich bin auf die ange-kündigte separate Gipfelerklärung zu diesem Themagespannt. Ich fordere die Bundesregierung zu mutigenSchritten und Entscheidungen in dieser Hinsicht auf.Der dritte Punkt, der mir persönlich wichtig ist – da-mit meine ich beide Kontinente, aber auch und geradeunsere Seite –, ist, die Rolle des Privatsektors in der Ent-wicklungszusammenarbeit zu stärken. Wir brauchennicht nur kluge Entscheidungen hier in diesem Parla-ment und von Ihrem Ministerium. Wir brauchen auchunsere Bevölkerung und die Wirtschaft unseres Landes,die wir mitnehmen müssen. Das begleitende Wirt-schaftsforum zu diesem Gipfel wird dazu hoffentlich ei-nen guten Beitrag leisten.Insbesondere mit diesen drei Punkten – in unseremAntrag stehen noch viele weitere Punkte – wollen wirder Bundesregierung für ihren Auftritt auf diesem GipfelMut machen. Es ist schön, zu sehen, was da an verschie-denen Themen zusammengekommen ist.Ich möchte noch ein Thema, das mich persönlichganz besonders beschäftigt, ansprechen. Wir wissen,dass das Thema Klima in den nächsten Jahren und indieser Legislatur eine große Rolle spielt. Ich selber binSprecher für das Thema Wasser und habe erlebt, wie anRunden Tischen zum Thema Wasser hier in Berlin dieunterschiedlichsten afrikanischen Botschafter zusam-menkamen – es waren bis zu 30 Personen – und disku-tiert haben, und zwar erlebbar auf Augenhöhe. Dabei ha-ben alle – vielleicht ein Viertel der Anwesenden kam ausDeutschland oder anderen Ländern Europas – miteinan-der diskutiert: Was könnt ihr einbringen? Was könnt ihrbesser machen? In diesen Tagen war das Thema der Ne-xus, das Zusammenwirken von Ernährung, Wasser undEnergie. Ihre ehemalige Staatssekretärin Frau Eid hatdort referiert. Das war ein wirklicher Austausch auf Au-genhöhe.Für uns als CDU/CSU und für mich persönlich – daswurde schon von vielen Rednern angesprochen – gilt:Bei aller Gleichberechtigung und Partnerschaft ist unsDeutschen und Europäern die Verknüpfung der Entwick-lungszusammenarbeit mit Menschenrechten ganz beson-ders wichtig. Frau Kofler, Sie haben es erwähnt, undHerr Strässer, auch Sie haben es gesagt: Wir fühlen unsder Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Sienannten – das geht auch mir sehr nahe – in diesem Zu-sammenhang die Länder Nigeria, Uganda oder, wiediese Woche mehrfach erwähnt, Kamerun.Ich möchte noch ein anderes Thema nennen – dasklang vorhin kurz an –: Religionsfreiheit, und zwar inalle Richtungen. Wir dürfen nicht weiter zuschauen undunkommentiert lassen, dass in der ZentralafrikanischenRepublik christliche Milizen mordend durchs Land zie-hen; das muss diskutiert werden, da müssen wir etwastun. Umgekehrt haben wir vom Norden Nigerias erfah-ren, wie die Boko Haram nicht nur ihre eigenen Reli-gionsgenossen massakriert haben, sondern auch Christengetötet und Kirchen und Moscheen zerstört haben.Ich habe aber auch erlebt, wie Mittel aus der Entwick-lungszusammenarbeit an Christen weitergegeben wur-den, die diese wiederum mit anderen geteilt haben, umdamit Kirchen und Moscheen wieder aufzubauen. Manberichtete mir vor wenigen Wochen, dass ein Pastor ei-ner christlichen Kirche im Norden Nigerias tatsächlichan einem Freitagabend in einer Moschee eine Rede hal-ten durfte. Das ist für mich ein wunderschönes Zeichen,dass Entwicklungszusammenarbeit Menschen trotz allerUnterschiede der Religionen zusammenführen kann.
Ich bin für die Priorisierung unseres Themas dankbar,sodass wir, wie Kollege Selle gesagt hat, zur Hauptde-battenzeit unseres Parlaments sprechen können. Ichwünsche mir, dass wir irgendwann nicht mehr nur aufAugenhöhe miteinander reden und Afrika als hilfebe-dürftigen Nachbarkontinent betrachten, sondern dass wirirgendwann vom großen Bruder Afrika reden.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
Kollege Charles Huber das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Sicht der Bürger auf Afrika ist in der Re-gel von den Bildern in den Medien geprägt – das kennenwir alle und haben auch schon mehrfach darüber gespro-chen –, das heißt von Bürgerkrieg, Hunger, Korruptionund Aids.
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1910 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Charles M. Huber
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So kann man sagen: Den „Chancenkontinent Afrika“im ökonomischen Sinne haben nicht allzu viele auf demSchirm. Das ist mitunter sicher auch der Tatsache ge-schuldet, dass, wenn man das Wort Wirtschaft im Zu-sammenhang mit Afrika bloß erwähnt, einem praktischpostwendend neokoloniale Ambitionen unterstellt wer-den und einem sofort Begriffe wie Ausbeutung und Vor-teilsnahme um die Ohren fliegen.Meine Damen und Herren, so zu argumentieren, magder Profilschärfung einiger Parteien mit Blick auf derenWählerschaft dienen. Den Afrikanern hingegen hilft dasnicht.
Keine wirtschaftliche Entwicklung bringt keine nach-haltige Stabilität, die dieser Kontinent aber dringendbraucht,
keine Perspektiven für die Jugend, keine Arbeit fürFrauen und Männer, und, perspektivisch gesehen, auchkeinen Frieden. Wie verzerrt die Wahrnehmung zumBeispiel beim Thema Hungerbekämpfung in Drittlän-dern ist, zeigt eine Studie der Universität Göttingen.46 Prozent der Befragten meinten danach, dass allein– wohlgemerkt: allein – eine ökologische Landwirtschaftdie Welternährung verbessern würde. Nur 19 Prozentdenken, dass dies durch eine Ertragssteigerung in derLandwirtschaft herbeigeführt werden könnte. Wahrlicheine irrwitzige Logik.Die Sozialpsychologie spricht hier von einem soge-nannten Halo-Effekt, sprich von einem Beurteilungs-und Wahrnehmungsfehler, einer Vermengung positivbesetzter Themen wie hier das Thema Ökologie mit an-deren nach dem Motto „Was für die Ökologie gut ist, istgut für eine verbesserte Welternährungssituation“.Man stelle sich vor: Gar 63 Prozent würden gänzlichdem Umweltschutz Priorität einräumen, wenn es darumginge, zwischen welchem der beiden Themen man sichentscheiden müsste. Das heißt im Klartext: Einigen vonuns erscheint das Liebesleben der Schmetterlinge wichti-ger als die Welternährungssituation und die Situationhungernder Menschen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Effizienzsteige-rung im Bereich der Landwirtschaft ist der Schlüssel zurArmutsbekämpfung in Afrika.
Deswegen kostet ein Kilo Tomaten in Tunesien 50 Centund in Westafrika 3 Euro. Warum? Tunesien hat einebesser entwickelte Landwirtschaft, sprich: effizientereAnbaumethoden.Vorhin wurde das Thema Landwirtschaft schon ange-schnitten. Frau Hänsel, wenn Sie Afrika in der Realitätbetrachten, wird deutlich: In der traditionellen Landwirt-schaft bewirtschaften Menschen den Acker mit einemMuli statt mit dem Traktor. In der Regel geht es dannauch um saisonale Landwirtschaft. Das heißt, es wirdnur zur Regenzeit angebaut. Das kann eine Landwirt-schaft nicht dynamisieren. Wenn sich daran nichts än-dert, dann haben wir ein Problem mit der Ernährungs-sicherung.Im Allgemeinen sollten Themenbereiche mit Bezugauf Afrika mehr der rationalen Betrachtungsweise undetwas weniger der intellektuellen Folklore unterzogenwerden.
Denn auf der anderen Seite des Mittelmeers schlummerteine demografische Bombe. Für 2050 ist für Afrika eineVerdoppelung der Bevölkerung – ich wiederhole: eineVerdoppelung – prognostiziert, die Hälfte davon – daswurde schon angesprochen – unter 18 Jahren. Dazukommen Wasserknappheit, Klimaveränderung und chro-nische Engpässe in der medizinischen Versorgung. Dassind wahrlich keine erbaulichen Perspektiven.Mein beschränktes volkswirtschaftliches oder be-triebswirtschaftliches Verständnis erlaubt mir, die Fest-stellung treffen zu können, dass Handel Geld bringt,nicht nur den Europäern, sondern auch den Afrikanern.Wer Produkte verkauft, erwirtschaftet Geld. Er kanndann statt der üblichen 2 Euro pro Tag vielleicht 20 oder200 Euro pro Tag verdienen und dieses Geld langfristigin eigene Produktionsstätten und Produktionsentwick-lungen investieren. Oft stellt das fehlende Know-how inder Produktionsentwicklung ein Problem dar. DiesesKnow-how im Sinne der dualen Bildung zu fördern, isteines der wichtigsten Elemente der Entwicklungszusam-menarbeit.
Ein anderes Beispiel: der Export von Milchpulver. Ichkann mich an einen westafrikanischen Frischmilchher-steller erinnern, der nicht dadurch pleitegegangen ist,dass die bösen Europäer Milchpulver in sein Land ex-portiert haben, sondern dadurch, dass die meisten Leutekeinen Kühlschrank hatten und es häufig keinen Stromgab. Das ist echte afrikanische Lebensrealität: wenig bisgar keinen Strom zu haben.Zu den Importzöllen. Oft fallen sogar Hilfsgüter da-runter. Diese Zölle nutzen in erster Linie den Eliten, aufdie sich einige häufig dann beziehen, wenn man inAfrika die Korruption anprangert. Im Rahmen des vor-liegenden Abkommens mit der EU sind nun auf einmaldie afrikanischen Eliten gut und die Europäer schlecht;denn der Normalbürger profitiert von niedrigen Preisenund Wettbewerb. Nebenbei gesagt: Afrikanisch-europäi-schen Subventionen stehen afrikanische Löhne gegen-über, die in der Regel bei 15 Cent pro Stunde liegen. Soschnell vollzieht sich hier der Wandel vom Saulus zumPaulus und umgekehrt.Auch die afrikanischen Verantwortlichen selbst müs-sen aktiver am Aufbau ihrer Volkswirtschaften arbeiten.Manchen gelingt das. Aber ein hoher Prozentsatz der we-nigen vermögenden Menschen dort investiert zu wenigim eigenen Land, zu wenig in Produktionskapazitätenund zu viel in rentable Immobilienprojekte in Haupt-stadtzentren. Ein effizientes Steuersystem zu implemen-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1911
Charles M. Huber
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tieren, welches auch gut vernetzte inländische Eliten undnicht nur Exporteure aus dem Ausland zu Abgaben he-ranzieht, wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Rich-tung; denn einer der Gründe für so manchen kritischenAnsatz einiger afrikanischer Länder in Bezug auf dasAbkommen könnte auch dem Protektionismus einigerafrikanischer Politiker zugunsten gutsituierter Unterneh-mer vor Ort geschuldet sein und weniger den neokoloni-alen Absichten der Europäer.
Herr Kollege Huber, wenn Sie – –
Ich bin sofort fertig.
Wie schön.
Das wollte ich nicht hören.
Ich wollte Ihnen gerade anbieten, Sie bei anderer Ge-
legenheit wieder zur Wort kommen zu lassen, wenn Sie
mir versprechen, im Laufe des Vormittags zu Ende zu
kommen.
Alles in Ordnung. Auf diesen Vorschlag gehe ich ein.
Europa ist der größte Geber in der Entwicklungszu-
sammenarbeit; das ist richtig. Dass Rohstoffe ohne Kon-
ditionierung auf Menschenrechte nach China oder an-
derswohin gehen, ist falsch.
Vielen Dank.
Lieber Kollege Huber, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche Ih-
nen für die weitere parlamentarische Arbeit alles Gute.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/844 mit dem Titel „EU-Afrika-Gipfel – Neue Im-
pulse für die entwicklungspolitische Partnerschaft“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
der Fraktion der Grünen angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 16 b geht es um die
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „EU-Afrika-Gipfel – Partnerschaft
an Gerechtigkeit und Frieden ausrichten“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/871, diesen Antrag der Fraktion Die
Linke abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-
mit ist dieser Antrag mit breiter Mehrheit gegen die
Stimmen der Antragsteller abgelehnt bzw. die Be-
schlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mindestlohn in Höhe von 10 Euro pro Stunde
einführen
Drucksache 18/590
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Tourismus
Auch für diese Aussprache ist nach einer interfrak-
tionellen Vereinbarung eine Gesamtdebattenzeit von
96 Minuten vorgesehen. Es wäre schön, wenn sich die-
ses Zeitmaß, zu dem Sie Ihre Zustimmung gegeben ha-
ben, in der anschließenden Debatte auch realisieren
ließe, was nicht so einfach ist, wie der Blick auf die Uhr
und die Erfahrung der gerade abgeschlossenen Debatte
zeigen. – Jedenfalls nehme ich Ihre Zustimmung zu die-
ser Vereinbarung hiermit zur Kenntnis.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Von 2003 bis 2013 sind die Reallöhne in derBundesrepublik Deutschland um 0,7 Prozent gesunken;das bedeutet 0,7 Prozent weniger für die Arbeitnehmer,obwohl gleichzeitig ein Wirtschaftswachstum von13,6 Prozent real zu verzeichnen war. Wir haben beson-ders sinkende Löhne bei denen, die schon niedrigeLöhne haben. Ich sage Ihnen: Eine Ursache dafür ist,dass bei uns, obwohl wir seit Jahren dieses Thema debat-tieren, nach wie vor kein gesetzlicher Mindestlohn vor-handen ist. Deshalb freue ich mich, dass die bei diesemThema zahlreich anwesende Regierung einen Mindest-lohn auf den Weg bringen will. Angesichts der Tatsache,dass das ein zentrales Thema dieser Regierung sein soll,steht die Anwesenheit hier im diametralen Gegensatz zurBedeutung des Mindestlohns.
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1912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Klaus Ernst
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Der Mindestlohn ist überfällig. Immer mehr Men-schen sind im Niedriglohnbereich. 2012 waren es imVergleich zu 1995 allein 2,5 Millionen Menschen mehr.Wir haben inzwischen 8,4 Millionen Menschen im Nie-driglohnbereich. Da heute Equal Pay Day ist, aber nichtnur deshalb, möchte ich darauf hinweisen, dass es insbe-sondere Frauen sind, die von diesen Niedriglöhnen be-troffen sind.Es ist gut, dass ein Gesetz vorgelegt wurde. Ich findees auch gut, mit welcher Leidenschaft inzwischen in derKoalition das Thema diskutiert wird. Was ich allerdingsein wenig befürchte, ist, dass zumindest ein Teil der Ko-alition besondere Leidenschaft den Ausnahmeregelun-gen widmet und nicht dem schnellen Zustandekommeneines Mindestlohns.
Das ist sehr bedauerlich. Ich möchte Ihnen noch einmalans Herz legen, warum nach unserer Auffassung diese8,50 Euro wirklich zu wenig sind und warum wir einenMindestlohn von 10 Euro dringend sofort bräuchten. Da-für gibt es einige Argumente.Wir wissen, dass mit einem Mindestlohn von 8,50 Eurodie Leute gerade einmal so über das Existenzminimumkommen. Wir wissen aber auch, dass nach einer Analyseder Bundesagentur für Arbeit 740 000 Menschen, 41 Pro-zent der alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger, trotz einerVollzeitstelle bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro wei-ter im Hartz-IV-Bezug wären.Die neueste Studie des Instituts Arbeit und Qualifika-tion von 2014 zeigt, dass die Niedriglohnschwelle bei9,30 Euro liegt. Wenn die Niedriglohnschwelle bei9,30 Euro liegt, kommt niemand mit einem Mindestlohnvon 8,50 Euro aus dem Niedriglohnsektor heraus. Allebleiben darin. Deshalb ist es doch logisch, dass8,50 Euro zumindest dann, wenn man die Leute aus demNiedriglohnsektor herausbringen will, eindeutig zu we-nig sind. Deshalb brauchen wir einen Mindestlohn von10 Euro.
Ein weiteres Argument. Wir haben nun auch die Aus-sage der Bundesregierung, dass 10 Euro notwendig wä-ren, um mehr als die Grundsicherung im Alter zu be-kommen, wenn man sein ganzes Leben lang für 10 Europro Stunde gearbeitet hat. Wir produzieren also dieLeute, die im Alter wieder bedürftig sind.Wir wissen weiter, dass Sie bis 2018 keine Erhöhungdes Mindestlohns planen. Die 8,50 Euro Mindestlohndes Jahres 2010 – damals sind die entsprechenden ge-werkschaftlichen Forderungen entstanden – werden imJahr 2017 nach Abzug der Preissteigerungen nur noch7,38 Euro wert sein. Im Jahr 2017 gibt es also bei wei-tem mehr Bedürftigkeit als jetzt. Die 8,50 Euro müsstenzumindest dynamisiert werden. Daran, dass er nicht dy-namisiert wird, übt übrigens auch der DGB heftige Kri-tik.Ein weiteres Argument. Wir sind das wirtschaftlichstärkste Land in Europa; da liegen 8,50 Euro gerade soim Mittelfeld. Luxemburg, Frankreich, Niederlande,Belgien, Irland – alle liegen mit ihren Mindestlöhnenschon heute darüber. Deshalb sagen wir: Wir braucheneinen Mindestlohn von 10 Euro – sofort. Wir brauchennach dieser langen Debatte nicht mehr lange herumzu-diskutieren; die Debatten sind doch längst gelaufen.Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will – dassagen alle Umfragen – 10 Euro und sogar ein bisschenmehr. Nach einer vom Handelsblatt in Auftrag gegebe-nen Forsa-Umfrage, veröffentlicht am 14. Juli 2013, ha-ben selbst die Manager gesagt, dass 8,50 Euro zu wenigsind. Selbst die Manager haben sich für 8,88 Euro ausge-sprochen – im letzten Jahr. Geben Sie sich doch einmaleinen Ruck, und knausern Sie an dieser Lohnhöhe nichtso herum! Sie sind eh nicht betroffen; es sind eh die an-deren betroffen. Daher könnten Sie an dieser Stelle dochwenigstens einmal das herbeiführen, was die Leute wirk-lich brauchen, nämlich ein Einkommen, das über der Ar-mutsschwelle liegt – wenigstens das.
Auch deshalb schlagen wir in unserem Antrag die Kop-pelung an den Lohnindex vor.Ich weiß überhaupt nicht, wie Sie begründen wollen,dass wir hier im Bundestag beschließen, die Abgeordne-tendiäten direkt an den Lohnindex zu koppeln, um damitzu erreichen, dass die Abgeordneten nicht besser-, aberauch nicht schlechtergestellt werden, und dass Siegleichzeitig diese Ankoppelung an den Lohnindex denabhängig Beschäftigten verweigern, besonders denen,die an der untersten Einkommensschwelle in dieser Re-publik liegen. Das ist mir so was von unverständlich,und im Übrigen finde ich es auch schofelig. Wie wollenSie das draußen in Ihren Wahlkreisen begründen? Ichhabe den Eindruck, Sie kommen mit den Leuten dortsehr wenig zusammen.
Meine Damen und Herren, geben Sie sich einenRuck! An dieser Stelle ist noch viel zu verändern. Ichbitte Sie auch, über die von Ihnen geplanten Ausnahme-regelungen nachzudenken. Das Alter 18 Jahre als Unter-grenze für den Mindestlohn einzuführen, ist eine Alters-diskriminierung. Ich garantiere Ihnen: Bei Klagen hatdiese Regelung vor keinem Gericht Bestand.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Karl Schiewerling, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das ist nicht die erste De-batte zum Thema Mindestlohn; das wird auch nicht dieletzte Debatte zum Thema Mindestlohn sein. Aber es istwie immer eine Debatte, in der der Kollege Ernst mit
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1913
Karl Schiewerling
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blumigen Wörtern ganz viele Nebelbomben so intensivwirft, dass er hinterher selbst nicht mehr durchblickt.
Er hat hier vorgetragen: 747 000 Menschen arbeiten,können aber von dem dadurch verdienten Geld nicht le-ben und müssen daher aufstocken. – Das ist die ersteNebelbombe: Unter diesen 747 000 Menschen sind un-gleich viele Alleinerziehende, Menschen, die nicht voll-zeittätig sind. Auch bei 8,50 Euro Mindestlohn kannman mit einer halben Stelle auf Dauer nicht aus derGrundsicherung herauskommen.
In Deutschland gibt es etwa 50 000 sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigte – diese Zahl stammt vomIAB –, die vollzeittätig sind, die alleinstehend sind, dieweniger als 8,50 Euro verdienen und damit auf Grund-sicherung angewiesen sind. Ich sage Ihnen: Für dieseMenschen lohnt es sich, dass wir einen Mindestlohn ein-führen.
Herr Kollege Ernst, Sie haben mit abenteuerlichenZahlen beschrieben, wer alles einen Mindestlohn braucht.Danach leben jetzt 8,5 Millionen Menschen im Elend.Wenn die Welt so wäre, wie Sie sie beschreiben, hättenSie bei der letzten Bundestagswahl so viele Stimmen be-kommen müssen, dass die Hälfte der Abgeordneten die-ses Hauses Linke wären. Tatsache ist, dass die Menschendie Welt anders beurteilen als Sie, und deswegen sinddie Wahlergebnisse so, wie wir es erlebt haben.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das einmal in Demutanerkennen würden.Ich glaube, dass wir in unserer Großen Koalition aufdem richtigen Weg sind. Das, was wir gemeinsam aufden Weg bringen, trägt nicht die Hauptüberschrift „Min-destlohn“, sondern „Tarifpaket“. In dem Tarifpaket wirddeutlich, dass für uns die Tarifpartner Priorität haben. ImMittelpunkt steht zunächst einmal, dass wir das Entsen-degesetz so gestalten wollen, dass in Zukunft mehrBranchen ins Entsendegesetz aufgenommen werden undderen dort eingetragene Löhne für allgemeinverbindlicherklärt werden.
Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ernst?
Ja, klar.
Herr Schiewerling, danke, dass Sie die Frage zulas-
sen. – Ist Ihnen bekannt, dass die Bundesagentur mit Da-
tum vom 19. März Folgendes veröffentlicht hat? Zitat:
Bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro bleiben nach
Angaben der Bundesagentur für Arbeit auch künftig
740 000 – jetzt kommt es! – Vollzeitarbeitnehmer auf
staatliche Unterstützung angewiesen.
Wenn das so zutreffend ist – ich gehe davon aus, dass
die Bundesagentur das analysiert hat, bevor sie es veröf-
fentlicht –, dann stimmt die Aussage, die ich gerade ge-
macht habe, dass diese Personen letztendlich auch bei
einem Mindestlohn von 8,50 Euro auf staatliche Unter-
stützung angewiesen wären.
Herr Kollege Ernst, die Bundesagentur für Arbeit hatmit ihren Zahlen völlig recht. Sie müssen aber die wei-tere Analyse lesen. Unter den 740 000 befinden sichauch Menschen, die nicht alleinstehend sind, sondern ineinem Familien- oder einem anderen Lebensverbund le-ben und deren Einkommen nicht ausreicht, um ihre vier-oder fünfköpfige Familie zu ernähren, weswegen die Fa-milie oder der Haushalt natürlich auf Grundsicherungangewiesen ist. Selbst mit einem Lohn von 12 Euro kannjemand allein eine Familie nicht ernähren.
Das verbirgt sich hinter den Zahlen. Das ist ein Teil derNebelbomben, die Sie werfen.Das, was wir auf den Weg bringen, ist das Tarifpaket;ich will an dem Punkt fortfahren. Im Mittelpunkt steht,dass die Tarifverträge Priorität haben.
– Sie können jetzt herumbrüllen, wie Sie wollen; da-durch werden Ihre Aussagen nicht wahrer. Sie werdenlauter, aber damit bekommen Sie nicht mehr recht.
Die Frage, um die es geht, ist: Haben bei uns in der Bun-desrepublik Deutschland die Ordnungsprinzipien, dieihre Wurzeln in der Verfassung, in Art. 9 Abs. 3, haben– danach sind für die Löhne und Gehälter die Tarifpart-ner zuständig –,
Priorität oder nicht? Wir haben das gemeinsam in derKoalition vereinbart, und so steht es im Koalitionsver-trag. Unter der Überschrift „Gute Arbeit“ geht es gleichlos mit: Aufwertung der Tarifautonomie, Erweiterungdes Entsendegesetzes, Erleichterung der Allgemeinver-bindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Das ist derWeg, den wir zuvörderst gehen.Dann haben wir uns dazu entschlossen, dass es abdem 1. Januar 2015 einen Mindestlohn von 8,50 Eurogeben soll. Dieser Mindestlohn soll insbesondere dortgelten, wo keine Tarifverträge vorhanden sind. DieFrage, vor der wir jetzt stehen, lautet, wie wir das kon-kret ausgestalten. Das wird, glaube ich, relativ zügig be-antwortet.Es ist übrigens völlig richtig, dass die Regierungs-bank bei der Beratung eines Antrags der Linken nicht
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1914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Karl Schiewerling
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stärker besetzt ist. Die Regierungsbank wird voll besetztsein, wenn wir unser Gesetz verabschieden, weil wir aufdas stolz sind, was wir auf den Weg bringen.
Meine Damen und Herren, der Mindestlohn, so wie erin der letzten Zeit von den Linken immer propagiertwird, wird sozusagen als Allheilmittel dargestellt. DerMindestlohn ist kein Allheilmittel. In Ihrem Antrag sa-gen Sie sogar: Der Mindestlohn muss so hoch sein, dassam Ende nach 45 Beitragsjahren eine Rente dabei he-rauskommt, die weit oberhalb der Grundsicherung liegt.
Wenn Sie die Lohnpolitik auch noch für die Rente ver-antwortlich machen wollen, dann möchte ich gern ein-mal wissen, was die Tarifpartner überhaupt noch zu sa-gen haben. Sie wollen denen vorschreiben, wie sie es zumachen haben.
Meine Damen und Herren, wir sind insgesamt auf ei-nem guten Weg, was die Lohnentwicklung angeht; keineFrage. In den letzten Jahren haben wir eine deutlicheVeränderung bei den Tarifverträgen hin zu Löhnen undGehältern, die deutlich über dem Mindestlohn liegen. Inden Branchen, wo man immer Probleme hatte, nähertman sich mehr und mehr der Marke von 8,50 Euro; ichkönnte zahlreiche Beispiele liefern.Ich bin auch sehr froh darüber, dass Branchen, die bisdahin keine Möglichkeit gesehen hatten oder kein Inte-resse daran hatten, Tarifverträge auf Bundesebene abzu-schließen, mittlerweile solche Verträge abschließen. Ichdenke an den durchaus schwierigen Bereich der Fri-seure, aber auch an den in der Öffentlichkeit als ganzschwierig wahrgenommenen Bereich des Fleischerhand-werks. Ich glaube, dass das, was noch in der letzten Le-gislaturperiode mit Zustimmung vieler auf den Weg ge-bracht worden ist, jetzt auch seine Früchte trägt und dasswir damit insgesamt auf einem richtigen Weg sind.
Meine Damen und Herren, mit dem Beschluss, dassdie 8,50 Euro am 1. Januar 2015 kommen, wird gleich-zeitig – das ergibt sich aus der Tradition der Verantwor-tung der Tarifpartner – eine Kommission aus Arbeitge-bern und Gewerkschaften kommen, die in Zukunft überdie Höhe des Mindestlohnes entscheidet. Das muss dannnatürlich durch eine Verordnung der Bundesregierungverbindlich übernommen werden; das ist überhauptkeine Frage. Es liegt aber in der Systematik, dass die Ta-rifpartner für die Lohnfindung zuständig sind. Wir habenin dieser Koalition gemeinsam einen wichtigen Schrittgetan, indem wir ein Paket schnüren, durch das auch klarwird, wie die ordnungspolitischen Linien in Deutschlandaussehen.
Die Punkte, meine Damen und Herren, die noch offensind und zurzeit diskutiert werden, werden wir vernünf-tig miteinander beraten. Das ist überhaupt keine Frage.Man kann unterschiedlicher Auffassung sein. Aus denReihen des DGB habe ich gestern gehört, dass eine Al-tersgrenze von 18 Jahren unanständig sei. Ich frage michda allerdings, was denn Eltern machen, die ihrem 14-jäh-rigen Sprössling, der gerne dies oder jenes kaufen oderins Ferienlager fahren möchte, sagen: Pass mal auf, ver-dien dir mal was! Wenn dir dann noch Geld fehlt, gebenwir das dazu. Aber streng dich erst einmal an! – Handeltes sich da auch schon um ein Arbeitsverhältnis mit dem14-Jährigen? Wie gehen wir eigentlich mit solchen Din-gen um? Manchmal frage ich mich wirklich, ob wir inder Debatte die Verhältnismäßigkeit der Fragen, die wirhier angehen, im Blick behalten.
Ich glaube jedenfalls, dass wir auch die Frage der Al-tersgrenze gemeinsam angehen und vernünftig miteinan-der klären werden.
Dasselbe gilt für das Thema, dass junge Menschen, dieeine Ausbildung beginnen, im Schnitt fast 20 Jahre altsind. Auch das müssen wir miteinander bereden; dasmüssen wir miteinander klären. Ich bin sicher, dass wirdas tun werden.Ich danke Ihnen auf jeden Fall herzlich fürs Zuhören.Gemeinsam werden wir alles dafür tun, dass die wirt-schaftliche Entwicklung in Deutschland weiterhin posi-tiv ist. Wir können über Sozialpolitik und Arbeitsmarkt-politik fabulieren, wie wir wollen: Wenn wir keinewirtschaftliche Prosperität haben, wenn es uns nicht wei-terhin wirtschaftlich so gut geht wie jetzt, werden vieleDinge, die wir uns vorgenommen haben, keinen Bestandhaben. Wir wollen aber, dass sie Bestand haben. Deswe-gen arbeiten wir gemeinsam daran.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Schiewerling. – Nächste
Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So einfachist die Welt wirklich nur noch für die Linken:
10 Euro Mindestlohn sofort, und alle Probleme sindgelöst: das Mietpreisproblem, das Rentenproblem, dasNiedriglohnproblem.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1915
Brigitte Pothmer
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Ich sage Ihnen einmal, was sofort passieren würde, wennes Ihren Mindestlohn in Höhe von 10 Euro geben würde:Der Mindestlöhner in München wird weiterhin Wohn-kostenzuschüsse beantragen müssen,
und der Mindestlöhner in Ostdeutschland wird arbeits-los.Herr Ernst, Sie müssen einfach einmal verstehen, dassder Mindestlohn kein sozialpolitischer Tausendsassa ist.Er ist ein Instrument, um Lohndumping zu bekämpfen,und er ist ein Instrument, um faire Wettbewerbsbedin-gungen zu schaffen.
Dabei dürfen Sie natürlich den Zusammenhang vonLohnhöhe auf der einen Seite und Arbeitskräftenach-frage auf der anderen Seite nicht völlig außer Kraft set-zen. Aber wirtschaftspolitischer Sachverstand gehörte janoch nie zu den Kernkompetenzen der Grünen.
– Mist, ich meinte: gehörte noch nie zu den Kernkompe-tenzen der Linken. Also, ich gebe zu: Das war jetzt wirk-lich ganz doof für mich. Aber geben Sie mir noch einmaleine zweite Chance.
Lassen Sie mich noch etwas wirklich Wichtiges an-sprechen, nämlich den Gesetzentwurf des Ministeriums.Es ist ohne Zweifel ein Etappensieg für die SPD und fürFrau Nahles, dass es ihnen gelungen ist, die überborden-den Ausnahmeregelungen, die gefordert worden sind,zumindest im Referentenentwurf außen vor zu halten.
Aber man sollte bekanntermaßen, liebe Kollegen vonder SPD, den Tag nicht vor dem Abend loben. Das Ge-setzgebungsverfahren ist noch lang. Wenn Sie die Zei-tungen aufschlagen, können Sie nachlesen, dass die For-derungen nach Ausnahmen nicht vom Tisch sind. Ob wiram Ende einen Mindestlohn haben werden, der tatsäch-lich alle Beschäftigten vor Lohndumping schützt, oderob dieses Gesetz durchlöchert wird und damit eine Nie-driglohngrenze unterhalb des Mindestlohns geschaffenwird, werden wir erst bei der Verabschiedung des Geset-zes sehen.Was die Ausnahmen im Referentenentwurf angeht, sowill ich Ihnen sagen, dass es für die Ausnahmen für Ju-gendliche Argumente gibt, die sehr sorgfältig abgewo-gen werden müssen. Wir Grüne werden dazu ein Fach-gespräch führen und das Für und Wider sehr sorgfältigabwägen. Einig sind wir uns allerdings bei dem Ziel: Wirwollen natürlich alle nicht, dass durch den MindestlohnAnreize geschaffen werden, dass Jugendliche auf Aus-bildung verzichten und jobben gehen.Die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose ist anAbsurdität kaum noch zu übertreffen.
Ich prognostiziere Ihnen, dass kein Unternehmen mehreinen Langzeitarbeitslosen ohne Lohnkostenzuschusseinstellen wird, und zwar deswegen nicht, weil Sie einendoppelten Anreiz schaffen: Auf der einen Seite bekommtdieser Arbeitslose Lohnkostenzuschüsse, und auf der an-deren Seite muss der Arbeitgeber noch nicht einmal denMindestlohn zahlen. Das ist ein eklatanter Fehlanreiz,der sofort wieder vom Tisch muss.
Aber der Gesetzentwurf zum Mindestlohn enthältauch noch weitere äußerst kritische Punkte, die jetztdurch die Debatte über die Ausnahmen weniger Beach-tung gefunden haben: Es ist ein riesiger Fehler, dass Siedie Höhe des Mindestlohns bis 2018 einfrieren wollen.2018 ist der Mindestlohn von 8,50 Euro ungefähr noch7,50 Euro wert. Wozu setzen Sie eine Mindestlohnkom-mission ein, wenn Sie sie drei Jahre lang in den Schlaf-modus versetzen wollen?Es wäre die Aufgabe dieser Mindestlohnkommission,die Höhe des Mindestlohnes unter Berücksichtigung dergesamtwirtschaftlichen Lage und der Lohn- und Preis-entwicklung verantwortlich festzusetzen.
Was Sie hier machen, ist: Sie treffen eine politische Ent-scheidung. Gerade die Kolleginnen und Kollegen vonder CDU haben immer gesagt: Der Mindestlohn darfnicht politisch festgelegt werden. – Mit dieser Entschei-dung legen Sie den Mindestlohn bis 2018 politisch fest.Ferner koppeln Sie die Mindestlöhne von der allgemei-nen Lohnentwicklung ab. Damit torpedieren Sie Ihr ei-genes Ziel, nämlich dass der Mindestlohn dazu führensoll, dass so wenig Menschen wie möglich zusätzlich aufHartz IV angewiesen sind. Das ist mit den von mir ange-sprochenen 7,50 Euro natürlich nicht mehr möglich.Die Kommission, so wie Sie sie konstruieren, hat mitdem britischen Vorbild so gut wie gar nichts mehr zutun. Sie setzen die Wissenschaftler an den Katzentisch,Sie entziehen ihnen das Stimmrecht. Das Ergebnis ist,dass Sie damit den Mindestlohn eben nicht aus derKampfarena der Tarifparteien herausholen. Es ist dochdie Aufgabe der Mindestlohnkommission, die Wirkungdes Mindestlohnes zu evaluieren und wissenschaftsba-siert einen Vorschlag zu erarbeiten. Genau dieses Kon-zept hat in England zu einer großen Akzeptanz geführt:bei den Arbeitgebern, bei den Gewerkschaften und inder Bevölkerung. Eines kann ich Ihnen sagen: Nur einederart breite Akzeptanz bietet die Voraussetzung dafür,dass der Mindestlohn auch wirklich durchgesetzt werdenkann.
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1916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Brigitte Pothmer
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Schade, dass Sie sich diesem Erfolgsmodell nicht an-schließen wollen. Wir machen aber noch eine Aus-schussreise, um noch einmal mit der Mindestlohnkom-mission in England zu reden. Ich hoffe, dass Sie aufdiese Reise nicht mit einer interessengeleiteten Ein-sichtsbarriere gehen. Denn dann hätten wir vielleichtnoch Chancen, dass sich etwas ändert.Ich komme zum Abschluss. Sehr problematisch findeich die Ungleichbehandlung zwischen denen, die Tarif-löhne bekommen, und denen, die keine Tariflöhne be-kommen. Die einen kriegen den Mindestlohn 2015, dieanderen kriegen ihn 2017. Ich frage Sie: Was wollen Sieden Beschäftigten des Wach- und Sicherheitsgewerbes,den Wäschereibeschäftigten, den Floristinnen und Flo-risten, den Gärtnerinnen und Gärtnern und den Tankwar-ten, die 7,50 Euro in der Stunde bekommen, sagen? Nurweil ihr Lohn in einem Tarifvertrag festgelegt ist, wer-den sie benachteiligt. Es handelt sich dabei doch aber umgenau diejenigen, die sich gewerkschaftlich organisiertund für Tarifverträge gekämpft haben – das wollen Siedoch. Genau die werden jetzt benachteiligt.
Frau Kollegin Pothmer, Sie haben Ihre Redezeit im
Griff, nehme ich an.
Ich komme gleich zum Schluss. – Das ist sicher kein
Anreizsystem, um das gewerkschaftliche Engagement
zu fördern.
Sie sehen: Es gibt noch viele Baustellen. Ich habe die
Hoffnung nicht aufgegeben, dass Sie sich im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens unseren guten Argumenten
nicht verschließen. Wir wollen wirklich, dass der Min-
destlohn ein Erfolgsmodell für Deutschland wird.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Als nächstes spricht für die SPD die
Kollegin Kerstin Griese.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Pothmer, ich weiß zwar nicht, wie ichdas jetzt toppen kann, aber ich werde es versuchen.
– Lieber nicht? – Gut.Ich möchte ein herzliches Dankeschön an die Frak-tion Die Linke richten, da sie uns mit ihrem Antrag dieGelegenheit gibt, dieses wichtige Thema schon so frühzu diskutieren, und zwar in der Woche, in der von derRegierungskoalition ein Gesetzentwurf auf den Weg ge-bracht wird. Deshalb ist das ein guter Anlass.Es ist ein wichtiges Thema und eine Herzensangele-genheit für die SPD, einen gesetzlichen flächendecken-den Mindestlohn durchzusetzen. Dafür haben wir imWahlkampf gekämpft. Das haben wir versprochen, unddas haben wir gehalten.
Wir sind froh, dass wir diesen Mindestlohn gemein-sam mit unserem Koalitionspartner, der CDU/CSU, und– ich will das ausdrücklich erwähnen; denn das ist eingroßer Erfolg – auch gemeinsam mit den Gewerkschaf-ten umsetzen und so unser Versprechen halten können.Der Mindestlohn ist ein guter Schritt für viele Menschenin unserem Land und auch ein Erfolg für unsere Ministe-rin, die das so konsequent und so zielstrebig durchge-setzt hat. Ein herzliches Dankeschön auch dorthin.
Wir haben den Mindestlohn versprochen und haltendieses Versprechen. Wir werden die Details in dennächsten Wochen natürlich noch ausführlich beraten. Ichwill darauf hinweisen, dass der Mindestlohn ein großerFortschritt für die Menschen in unserem Land ist. Ichhabe nachgeschaut: Allein im Kreis Mettmann in Nord-rhein-Westfalen, aus dem ich komme – das ist ein imDurchschnitt wirtschaftsstarker Kreis –, werden etwa50 000 Menschen positiv von der Entscheidung für ei-nen Mindestlohn betroffen sein. In Nordrhein-Westfalenwerden es 1,3 Millionen Menschen und bundesweit 4 bis6 Millionen Menschen sein, die jetzt endlich einen an-ständigen Lohn für ihre Arbeit bekommen, auch wenndas nur eine Untergrenze ist und gute Tarife, die darüberliegen, natürlich noch besser sind.
In erster Linie ist das ein Erfolg für die Menschen unddie Branchen, in denen sie arbeiten. Das gilt auch fürdie, die in Minijobs arbeiten; denn dort wird viel Miss-brauch betrieben. Gerade heute am Equal Pay Day willich sagen: Es ist auch ein Erfolg für die Frauen, die im-mer noch in schlechter bezahlten Jobs arbeiten. Auch aufsie wird sich der Mindestlohn positiv auswirken.
Der Mindestlohn ist auch ein großer Fortschritt fürdie Unternehmen, und zwar für die Unternehmen in un-serem Land, die anständig zahlen. Denn er bringt mehrOrdnung und mehr Fairness auf dem Arbeitsmarkt. DerMindestlohn bedeutet für die Unternehmen: Endlich gibtes einen gerechten und fairen Wettbewerb und keinLohndumping mehr.Die Koalition schlägt einen Mindestlohn von 8,50 Eurovor. Ich wette: Wenn Sie nächstes Jahr mit einem ent-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1917
Kerstin Griese
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sprechenden Antrag kommen, Herr Ernst, dann schlagenSie 12 Euro vor. Das ist ja immer ein Überbietungswett-bewerb.
Wir liegen mit den 8,50 Euro ganz richtig; das ist derVorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Wir lie-gen im europäischen Vergleich genau zwischen Großbri-tannien mit 7,63 Euro, Irland mit 8,65 Euro und den Nie-derlanden mit 9,10 Euro. Ich glaube, das ist ein guterund vernünftiger Vorschlag. Ein reiner Überbietungs-wettbewerb hilft weder den Menschen noch dem Ar-beitsmarkt.
Wir schlagen vor, dass künftig – der KollegeSchiewerling hat es schon gesagt – eine Kommission derTarifpartner, die paritätisch besetzt ist, also mit Vertre-tern des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Bun-desvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände,über die weitere Entwicklung des Mindestlohns be-schließt. Das machen wir deshalb, weil wir die Tarif-autonomie und die Tarifpartner stärken wollen. Wir wol-len nicht weiter im Parlament über den Mindestlohnentscheiden, sondern wir wollen, dass die Tarifpartnerdies tun.
Es ist eine gute und kluge Lösung, die wir vorschlagen.Wir wollen, dass es keine politische Festsetzung gibt,sondern eine Festsetzung vonseiten der Tarifpartner.Wie überhaupt das Ziel unseres Gesetzentwurfs ja dieStärkung der Tarifautonomie ist. Deshalb haben wir eineÜbergangsfrist von zwei Jahren vorgesehen. Ich musssagen: Ich kann nicht verstehen, warum Sie sich darüberso aufregen;
denn die Übergangsfrist bedeutet doch, dass es endlichin mehr Branchen eine Tarifgebundenheit geben wird.
In der Fleischbranche haben wir das doch gesehen.
Wenn es nicht aufgrund der Mindestlohndebatte Druckgegeben hätte, hätte die Fleischbranche sich doch garnicht bewegt. Jetzt gilt für sie ein Tarifvertrag, und siewurde in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenom-men. Der Mindestlohn soll schrittweise auf 8,75 Europro Stunde steigen – immerhin. Mit dieser Übergangs-frist wollen wir auch und gerade die Branchen, in denenes noch keine Tarifgebundenheit gibt, auffordern und un-terstützen, einen Tarifvertrag abzuschließen; denn darinwird natürlich noch viel mehr geregelt als nur die Lohn-höhe. Deshalb ist das eine gute Sache.
Ich will ausdrücklich sagen: Wichtig ist, dass wir imVorfeld der Erarbeitung unseres Gesetzentwurfes einenBranchendialog geführt haben. Wir haben im Koalitions-vertrag festgehalten, dass es mit den Branchen, die vomMindestlohn betroffen sein werden, einen Dialog gebenwird. Wir alle haben in diesen Gesprächen viel gelernt.Ich finde, es ist vorbildlich, dass man vorher so intensivmit den Branchen berät.Die Gespräche haben eines gezeigt: Es gibt ganzunterschiedlich gelagerte Probleme. Manchmal ist dieunterschiedliche Bezahlung ein Ost-West-Problem.Manchmal gibt es Probleme – etwa im Taxigewerbe –,die man gar nicht über den Mindestlohn, sondern nurüber Entscheidungen in den Kommunen lösen kann. Oftgeht es auch um ganz konkrete Probleme, die man durchbegleitende Maßnahmen lösen kann. Das Ergebnis ist– das ist ein großer Erfolg unseres Vorschlags für einengesetzlichen Mindestlohn –, dass wir keine einzigeBranche ausnehmen werden.
Das ist auch deshalb wichtig, weil so kein Missbrauchbetrieben werden kann. Wir werden den Branchen, dieProbleme haben, beim Übergang helfen. Dann wird esdiesen Mindestlohn geben.Ich bin froh, dass der Mindestlohn zum 1. Januar2015 kommt, mit einer Übergangsfrist bis zum 1. Januar2017. Dann wird es den Mindestlohn für alle geben: flä-chendeckend und gesetzlich, beginnend bei 8,50 Europro Stunde. Danach werden die Tarifpartner über dieweitere Entwicklung entscheiden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten, was wirversprechen. Das ist gut für die Menschen, gut für dieArbeitsplätze und gut für die Wirtschaft in unseremLand. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen undganz besonders auf die Umsetzung dieses Mindestlohns.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Griese, auch für die prä-
zise Einhaltung der Redezeit.
Ich erteile jetzt der Kollegin Jutta Krellmann, Die
Linke, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Wissen Sie: Gerade wir Linke können ma-chen, was wir wollen – es ist immer alles Mist.
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1918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Jutta Krellmann
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– Ich bin noch nicht fertig. – Wenn ich mit Kolleginnenund Kollegen in Betrieben rede und ihnen sage: „DieLinke fordert 10 Euro Mindestlohn“, dann finde ich nie-manden, der sagt, dass das nicht in Ordnung ist, sondernich bekomme nur Zuspruch. Niemand sagt, dass er einenMindestlohn in der Höhe, über die im Moment diskutiertwird, möchte. 10 Euro ist richtig, und 10 Euro ist ge-recht.
Der Mindestlohn kommt, sehr verehrte Damen undHerren. Aus unserer Sicht ist er die unterste Halteliniefür alle, genauso wie die unterste Haltelinie im Bundes-urlaubsgesetz ist, dass die Menschen Urlaub bekommen.Auch da gibt es keine Abweichung: Bundesurlaubsge-setz ist Bundesurlaubsgesetz. Seitdem wir über den Min-destlohn reden, gibt es aber Debatten darüber, wer alleseine Abweichung braucht und wer alles eine Sonderre-gelung haben möchte; das ist unglaublich. Das Arbeitge-berlager, die CDU/CSU und das Handwerk fordern seitWochen Ausnahmen. Ich habe gestern Frühstücksfernse-hen geschaut. Da war zu sehen, dass sogar die Spargel-bauern in allen möglichen Regionen Abweichungen ver-langen, weil sie die Spargelernte sonst, wenn derMindestlohn eingeführt wird, in andere Länder outsour-cen müssen. Das ist doch eine verrückte Geschichte; soetwas geht überhaupt nicht.
Wir, meine Damen und Herren, sind auch nicht dieErsten in Europa, die einen gesetzlichen Mindestlohneinführen; als 22. Land sind wir fast die Letzten. Nir-gendwo hat der Mindestlohn zu Massenarbeitslosigkeitgeführt. Dafür gibt es, obwohl alle darüber quatschen,überhaupt keinen Beleg. Das ist auch völliger Schwach-sinn; das sind, wie es so nett gesagt wurde, Nebelkerzen.Dabei ist der Mindestlohn in den vergleichbaren euro-päischen Staaten in der Regel höher als der Mindestlohn,mit dem wir einsteigen werden; das ist eben schon malgesagt worden. Ein Land, das den höchsten Mindestlohnhat, ist dabei aber leider vergessen worden, obwohl esauch ein Stück weit vergleichbar ist: Luxemburg miteinem Mindestlohn von 11,10 Euro. Frankreich hat ei-nen Mindestlohn von 9,53 Euro, die Niederlande von9,11 Euro.
Selbst England hat einen Mindestlohn, der, gemessen inKaufkraftstandards, höher ist als der, den wir inDeutschland haben werden.
Noch letzte Woche versprach die Bundesarbeitsminis-terin Andrea Nahles: Der Mindestlohn kommt ohne Aus-nahme. – Jetzt wissen wir: Die SPD ist an dieser Stelleeingeknickt – nichts anderes – und verkauft die vorgese-hene Ausnahmeregelung jetzt als Erfolg.
Ausgerechnet für junge Menschen unter 18 ohne abge-schlossene Berufsausbildung soll es keinen Mindestlohngeben. Sie sollen künftig für die gleiche Arbeit schlech-ter bezahlt werden als über 18-Jährige. Damit machenSie diese jungen Menschen zu Arbeitnehmern zweiterKlasse.Ich habe in der Tarifpolitik dafür gekämpft, dass sol-che Regelungen aus den Tarifverträgen genommen wur-den. Jeder, der sich einmal mit Tarifverträgen im Hand-werk beschäftigt hat, kann sich noch daran erinnern, dassfast jeder Handwerkstarifvertrag Lohngruppen für überund unter 18-Jährige hatte. Wir haben lange gebraucht,um dafür zu sorgen, dass das abgeschafft wird, und jetztwird es durch die Hintertür wieder eingeführt. Das, sehrgeehrte Damen und Herren, ist Altersdiskriminierungund überhaupt nicht zu akzeptieren.
Angeblich sollen Jugendliche so davon abgehalten wer-den, lieber einen besser bezahlten Aushilfsjob anzuneh-men, statt eine Ausbildung anzufangen. Das ist völligerQuatsch. Frau Nahles und Co sprechen damit den Ju-gendlichen die Fähigkeit ab, eigene Entscheidungen fürihre Zukunft zu treffen. Die Jugend ist klüger, als wiralle glauben. Ich kenne keinen Jugendlichen, der dieChance hatte, eine Ausbildung zu machen, und sich dannentschieden hat, sie nicht aufzunehmen.Ich denke da an meine Ausbildung: Mein Ausbildungs-vertrag sah eine Ausbildungsvergütung von 222 D-Markvor; nach der Ausbildung hätte ich 1 350 D-Mark ver-dient. Wenn ich als Angelernter in den gleichen Betriebgegangen wäre, hätte ich nur 900 D-Mark bekommen.Man muss doch nicht glauben, dass Jugendliche nicht inder Lage sind, auszurechnen, was es für sie bedeutet,wenn sie eine Ausbildung machen: Sie holen die Diffe-renz schnell wieder herein, weil sie nach der Ausbildungmehr verdienen.
Das Problem ist: Es gibt zu wenige Ausbildungs-plätze. 2013 haben nur gut zwei Drittel derjenigen, dieeinen Ausbildungsplatz wollten, auch einen Ausbil-dungsplatz erhalten. Es fehlt nicht an der Ausbildungs-willigkeit junger Leute; es fehlt an dem politischen Wil-len der Großen Koalition, für mehr Ausbildungsplätzezu sorgen.
Schaffen Sie einen verbindlichen Rechtsanspruch aufeine Ausbildung! Nehmen Sie die Betriebe in diePflicht! Führen Sie die Ausbildungsplatzumlage ein! Da-mit würden Sie endlich etwas für die Fachkräftesiche-rung tun. Stattdessen jammern Sie ständig über denFachkräftemangel. Es gibt einige Ausbildungsbetriebe,die richtig viel und gut ausbilden. Andere machen nichtsaußer zu jammern. Bestrafen Sie nicht die Jugendlichen!Das hat mit einem Mindestlohn überhaupt nichts zu tun.
Letzter Punkt: Ausnahmeregelungen für Langzeitar-beitslose. Das ist im Grunde – ich habe leider nicht mehr
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Jutta Krellmann
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so viel Zeit; deswegen muss ich mich kurzfassen – eineFortsetzung der Agendapolitik der letzten Jahre. DassSie Menschen, die langzeitarbeitslos sind, von dieser Re-gelung ausschließen, ist nicht erträglich. Frau Pothmerhat bereits ausgeführt, dass das faktisch eine doppelteUnterstützung der Arbeitgeber ist. Das wird eher dazuführen, dass Menschen in Billiglohnjobs gedrängt wer-den, statt sie aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszu-holen. Deswegen sagen wir: Nein, keine Ausnahmerege-lung für Langzeitarbeitslose! Das ist zum Ersten nichtgerecht, und zum Zweiten erreicht man damit nicht das,was erreicht werden sollte.
Gerade demonstrieren Frauen draußen vor demReichstag für Equal Pay. Das finde ich total klasse. Aberhier drinnen verwehrt man durch die Ausnahmen beimMindestlohn gerade den Menschen Equal Pay, die daseigentlich bräuchten, nämlich Jugendlichen und Lang-zeiterwerbslosen.Vielen Dank.
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Stephan Stracke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Der allgemeine gesetzliche flächende-ckende Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro kommt. Sohaben wir es im Koalitionsvertrag vereinbart, und sowird es umgesetzt. Die Ressortabstimmung über den Ge-setzentwurf läuft. Wir machen Politik für die Menschenin unserem Land. Es macht Sinn, die Lebenswirklichkeitder Menschen in den Blick zu nehmen. Wir sind für pra-xisgerechte Lösungen. Deshalb sind wir mit den Ge-werkschaften und Arbeitgebern in einen Dialog getreten,den die Bundesministerin angestoßen hat. Auch wir, dieCDU/CSU-Fraktion, stehen mit den betroffenen Bran-chen im Dialog.Für uns gilt: Harte Arbeit und Leistungswille müssensich lohnen. Wir als CSU haben immer gesagt: Wer Voll-zeit beschäftigt ist, sollte von seiner Arbeit angemessenleben können. Die Menschen in unserem Land sollenvon der derzeit positiven wirtschaftlichen Entwicklungprofitieren.
Und so ist es auch: In keinem Industrieland ist die Ar-beitslosigkeit zwischen 2007 und 2013 so schnell zu-rückgegangen wie in Deutschland.
Das ist das Ergebnis unionsgeführter Politik, das ist dasErgebnis guter Wirtschaftspolitik, und genau die wollenwir fortsetzen.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-land profitieren von der guten wirtschaftlichen Entwick-lung. Die Gehälter in Deutschland sind in den letztenbeiden Jahren um rund 7 Prozent gestiegen bei einer In-flationsrate von 3,5 Prozent. Das zeigt: Die Teilhabefunktioniert sehr gut.Leistung muss fair bezahlt werden. Wir sind entschie-den gegen jegliches Lohndumping und Billiglöhne. Aberes ist und bleibt Aufgabe der Sozialpartner, eine faireBezahlung zu gewährleisten. Dass die Sozialpartner-schaft funktioniert, wurde aktuell in Bezug auf die Fleisch-industrie deutlich. Wir haben viele Diskussionen poli-tisch begleitet und gesagt: „Es muss hier zuVeränderungen kommen“, und genau das ist passiert.Wir werden nun die Fleischindustrie in das Arbeitneh-mer-Entsendegesetz aufnehmen, in dem ein entsprechen-der Mindestlohn verankert ist. Das zeigt: Die Sozialpart-nerschaft funktioniert. Vielleicht muss man an der einenoder anderen Stelle politischen Druck ausüben. Das ha-ben wir in der letzten Legislaturperiode getan. Es ist eingroßer Erfolg, dass uns das gelungen ist.
Die Sozialpartnerschaft entscheidet über Wohlstandund sozialen Frieden in unserem Land. Sie ist die tra-gende Säule und darf auch in Zukunft nicht infrage ge-stellt werden. Deshalb gilt für uns: Einen einheitlichenflächendeckenden Mindestlohn gibt es nur bei Wahrungder Tarifautonomie; beides gehört zusammen. Nicht vonungefähr heißt das Gesetz, das die Ministerin auf denWeg gebracht hat, Tarifautonomiestärkungs- und nicht-schwächungsgesetz.Wir wollen die Tarifbindung und die Ordnung des Ar-beitslebens durch Tarifverträge stärken. Deshalb werdenwir die Allgemeinverbindlicherklärung erleichtern. Wirwollen das Interesse der Tarifpartner möglichst hochhal-ten und die Voraussetzungen entsprechend erleichtern.Das ist ein guter Ansatz. Die Branchenmindestlöhne lie-gen derzeit überwiegend über 8,50 Euro; sie haben sichbewährt. Deswegen werden wir das Arbeitnehmer-Ent-sendegesetz entsprechend ändern. Wir werden es für alleBranchen öffnen. Sie wissen, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz bislang auf einen bestimmten Katalogbegrenzt ist. Diesen Katalog werden wir erweitern. Es istgut, dass wir hinsichtlich der Branchenmindestlöhneeine große Breite vorsehen.Bei dem Mindestlohn von 8,50 Euro ist entscheidend,dass die zukünftige Anpassung über eine Mindestlohn-kommission stattfinden soll. Sie wird mit Vertretern derTarifvertragsparteien paritätisch besetzt werden. Wirwollen keinen politischen Mindestlohn, sondern einen,bei dem die Tarifvertragsparteien in der Verantwortungstehen. Genau das werden wir garantieren. Dabei gilt es,die nachlaufende Tariflohnentwicklung im Blick zu be-halten und die entsprechenden Anpassungen vorzuneh-men. Es wird so sein, wie wir es im Koalitionsvertragvereinbart haben: Wenn die Mindestlohnkommission ge-
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1920 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Stephan Stracke
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sprochen hat, wird das eins zu eins umgesetzt. So stellenwir uns das vor. Darauf haben wir uns verständigt.Wir brauchen einen Mindestlohn mit Augenmaß.Deshalb wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, dassmögliche Probleme bei der Umsetzung berücksichtigtwerden; beispielhaft genannt wurde die Saisonarbeit.Wir wollen Arbeit schaffen, nicht Arbeitslosigkeit. Wirwollen keine Verwerfungen in den Betrieben, zum Bei-spiel im Rahmen der Landwirtschaft. Wir müssen immerdarauf achten, dass wir die richtige Balance schaffen undwahren. Deswegen haben wir uns mit dem Koalitions-partner verständigt. Wir sind uns im Grundsatz einig,was die Ausnahmen – Auszubildende, Ehrenamtlicheund Praktikanten – angeht.Wir müssen aber auch darauf achten, dass der Min-destlohn im Ergebnis nicht nach hinten losgeht. Deshalbgilt es, keine Anreize dafür zu setzen, dass auf eine Be-rufsausbildung zugunsten einer Beschäftigung mit Min-destlohn verzichtet wird. Wir haben in Deutschland der-zeit ein hervorragendes Ausbildungsniveau. Genau daswollen wir erhalten, gerade vor dem Hintergrund des be-stehenden Fachkräftemangels. Über die Altersgrenzevon 18 Jahren müssen wir sicherlich noch einmal disku-tieren. Wenn das Durchschnittsalter der Auszubildendenderzeit bei knapp 20 Jahren liegt, müssen wir darüber re-den, ob es sachgerecht ist, die Grenze bei 18 Jahren an-zusetzen.Für Langzeitarbeitslose müssen wir besondere Chan-cen für einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt schaf-fen. Deswegen ist es richtig, dass wir sie zumindest füreine Beschäftigungszeit von sechs Monaten vom Min-destlohn ausnehmen. Wir müssen darüber diskutieren,ob und inwieweit weitere Regelungen zielführend wä-ren.Entscheidend wird auch sein – so haben wir es imRahmen des Koalitionsvertrages vereinbart –, dass wirBranchentarifverträge weiterhin berücksichtigen. Beste-hende Tarifverträge sollen nicht verdrängt werden. Dasgilt für die Übergangszeit bis Ende 2016. Darauf lege ichWert.Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren wirt-schaftlich hervorragend entwickelt. Kein anderes Landsteht so gut da wie Deutschland. Deswegen ist es verant-wortbar, dass wir den Mindestlohn einführen. Ich weiß,dass damit arbeitsmarktpolitische Unwägbarkeiten ver-bunden sind, insbesondere in den Regionen, die schwä-cher aufgestellt sind als die starken Regionen, beispiels-weise in Süddeutschland. Aber auch Personengruppenwie Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose müssenwir besonders in den Blick nehmen. Wir müssen hier dierichtige Balance schaffen. Das tun wir im Rahmen desProzesses, der nun ansteht.Ich bedanke mich ganz herzlich.
Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen ist dieKollegin Müller-Gemmeke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Linke schreibt am Anfang ihresAntrags: Ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschlandist überfällig. Da haben Sie natürlich recht.
Die Forderung nach einem Mindestlohn in Höhe von10 Euro kann ich zum jetzigen Zeitpunkt aber nur kriti-sieren. Selbst die Linksfraktion müsste doch merken,wie schwer es ist, in Deutschland überhaupt einen Min-destlohn durchzusetzen. Natürlich wissen auch wir, dassein Mindestlohn von 8,50 Euro Altersarmut nicht ver-hindern kann. Natürlich muss der Mindestlohn deshalbin den nächsten Jahren zügig steigen.
Es bedurfte aber einer großen Kraftanstrengung, dasssich fast alle gesellschaftlichen Kräfte in Deutschlandauf 8,50 Euro einigen konnten. Jetzt geht es darum, dassdieser Mindestlohn endlich kommt, und zwar für alle. Indieser Situation ist Ihr Diskussionsbeitrag nicht zielfüh-rend.
Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich in Ihrem An-trag beispielsweise einmal mit der Durchsetzung desMindestlohns beschäftigt; denn das ist ein äußerst wich-tiger Aspekt, auf den auch Arbeitsmarktexperten auf-merksam machen. Studien zeigen nämlich, dass vieleBeschäftigte, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde ver-dienen, gar nicht nach Stundenlohn, sondern nach Stück-lohn bezahlt werden. Viele haben keine fest vereinbarteArbeitszeit. Das heißt, für mehr als ein Drittel dieser Be-schäftigten fällt unbezahlte Mehrarbeit an. Hier gilt esalso, Regelungen zu finden, die die Beschäftigten vorMissbrauch schützen. Es muss gewährleistet sein, dassder bezahlte Lohn auf Stundenbasis ermittelt und umge-rechnet werden kann. Wenn eine Mindestlohnstunde zu-künftig 90 Minuten dauern würde, dann wäre das kata-strophal.
Grundvoraussetzung dafür ist auch, dass ordentlichkontrolliert wird. Wie das tatsächlich sichergestellt wer-den soll, sehe ich noch nicht; denn die FinanzkontrolleSchwarzarbeit, die ja letztlich die Einhaltung des Min-destlohns kontrollieren soll, hat schon heute nicht genugPersonal. Mehr Personal ist auch nicht geplant. Das hatdie Bundesregierung im Finanzausschuss nochmals be-stätigt. Hier ist also die Ministerin gefragt. Sie muss zü-gig schlüssige Regelungen für den Nachweis der Ar-
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Beate Müller-Gemmeke
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beitszeit schaffen und für ausreichend Kontrollpersonalsorgen. Ein Mindestlohn nur auf dem Papier wäre nichtakzeptabel.
Eine klare politische Linie wünsche ich mir, wie dieLinke, auch bei der Diskussion um die Ausnahmen. Ichfand es schon absurd, welche Ausnahmen in letzter Zeitimmer wieder diskutiert wurden, beispielsweise bei Mi-nijobs oder bei Rentnerinnen und Rentnern. Ganz aktuellsind dem Arbeitgeberpräsidenten Kramer auch noch Äl-tere ohne Ausbildung eingefallen. Ist ihre Arbeit weni-ger wert? Sind sie weniger produktiv? Oder sind sie garBeschäftigte zweiter Klasse? Minijobs sind doch heuteschon eine Niedriglohnfalle. Rentnerinnen und Rentnerarbeiten doch vor allem, weil ihre Rente nicht zum Le-ben reicht. All diejenigen, die solche Ideen verbreiten,kann ich nur fragen: In welcher Welt leben Sie eigent-lich?
Die Ministerin muss jetzt beim Mindestlohn klareKante zeigen. Ausnahmen führen zu Fehlanreizen undVerdrängungseffekten. Warum sollte ein Arbeitgeber ei-nen Mindestlohn zahlen, wenn es billigere Arbeitskräftegibt? Ein solcher Billigmindestlohn wäre auch völligsinnwidrig; denn ein Mindestlohn ist laut Definition dieniedrigste gesetzlich erlaubte Entlohnung. Darunter gibtes nichts. Nehmen Sie, die Union, das endlich zurKenntnis!
Es gibt viele, die sich mit dem Mindestlohn noch im-mer unendlich schwertun. Sie übersehen dabei schlicht-weg die positiven Aspekte:Erstens. Tarifflucht, OT-Mitgliedschaften, Befristun-gen, Leiharbeit und auch Werkverträge – alles zusam-men hat die Gewerkschaften geschwächt. Der Mindest-lohn wird die Tarifpartner und somit auch dieTarifautonomie von unten stärken.
Zweitens. Notwendig ist der Mindestlohn auch für dieverantwortungsvollen Betriebe, die ihre Beschäftigtenfair und auf Augenhöhe behandeln. Sie wollen beimWettbewerb um die niedrigsten Löhne nicht mitspielen.Sie brauchen Schutz, damit sie nicht vom Markt ge-drängt werden. Der Mindestlohn macht also auch wirt-schaftspolitisch Sinn.Drittens. Vor allem aber profitieren die Menschen vondem Mindestlohn. Damit können sie – zumindest diemeisten Alleinstehenden – von ihrer Arbeit leben. Siemüssen nicht zum Jobcenter laufen und ihren Lohn, densie verdient haben, mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken.Es geht auch um den Wert von Arbeit. Aber dazumuss der gesetzliche Mindestlohn wirklich flächende-ckend eingeführt werden. Der DGB hat das wunderbarauf den Punkt gebracht: Würde kennt keine Ausnahmen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Markus Paschke, SPD, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „DieEinführung eines flächendeckenden gesetzlichen Min-destlohns in Deutschland ist lange überfällig“, so steht esin Ihrem Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonden Linken, und bis hierhin kann ich dem auch zustim-men.
Mindestlöhne sind Kernelemente sozialer Gerechtig-keit, und sie sind eine Grundvoraussetzung für gute Ar-beit. Aber, meine Damen und Herren von den Linken,Sie müssen sich auch einmal entscheiden, welcher LinieSie folgen wollen. Vor nicht einmal einem halben Jahrhaben Sie selbst einen Gesetzentwurf vorgelegt, in demSie die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euroforderten.
„Einfach mehr fordern“ scheint wieder das Motto zusein.
Leider ist das Leben nicht so einfach. Etwas durchzu-setzen, was man für gut und richtig befindet, ist viel Ar-beit.
Man muss Argumente verschiedener Interessengruppenabwägen, sich eine Meinung bilden und Koalitionspart-ner finden, mit denen man seine Ziele umsetzen kann.
Wie gut, dass sich die SPD-Fraktion aufs Arbeiten ver-steht.
Nach nicht einmal 100 Tagen im Amt hat AndreaNahles diese Woche den Referentenentwurf des Tarifpa-ketes in die Ressortabstimmung gegeben. Ich zolle derMinisterin und Ihrem Haus für diese Leistung meinenehrlichen Respekt.
Sie hat damit ein zentrales Anliegen von 5 MillionenMenschen umgesetzt. Es ist auch nicht das erste Gesetzaus ihrem Hause – ich erinnere an das Rentenpaket –,
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Markus Paschke
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sondern schon das zweite große Vorhaben für mehr Ge-rechtigkeit in unserem Land.
Es muss endlich Schluss sein mit der Subventionierungvon Niedriglöhnen!Wenn ich einkaufen gehe, finde ich im Supermarktmeines Vertrauens in den Regalen alles, was ich brauche,und die Ware ist in einem guten Zustand. Mein Friseurleistet gute Arbeit, wie man sieht.
Beim Urlaub auf Borkum ist jeder Krümel Sand, den ichins Hotelzimmer schleppe, am nächsten Tag verschwun-den. Hinter all dem stehen Menschen, die einen gutenund engagierten Job machen. Die Arbeit all dieser Men-schen ist es wert, mit mindestens 8,50 Euro pro Stundeentlohnt zu werden.
Um es ganz klar zu sagen: Beim Mindestlohn geht es umdie Würde und den Wert von Arbeit für die Menschen inunserem Land.Ist es normal, wenn in einem der reichsten Länder derErde Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesagtwird, ihre Arbeit sei nicht einmal 8,50 Euro pro Stundewert? Da sage ich deutlich: Nein. Ist es normal, wenn je-mand, der Vollzeit arbeitet, zum Amt gehen muss, weildas Geld nicht zum Leben reicht? Da sage ich deutlich:Nein. Wer sein Geschäftsmodell darauf gründet, Be-schäftigte unterirdisch zu entlohnen, und darauf baut,dass der Steuerzahler, also wir alle, den Rest bezahlt, dersollte sein Geschäftsmodell noch einmal ernsthaft über-denken.
Andersherum wird ein Schuh daraus: Die Arbeitgeber,die anständige Löhne zahlen, werden mit der Einführungeines gesetzlichen Mindestlohns endlich vom unfairenWettbewerb durch Dumpinglöhne befreit,
flächendeckend von Flensburg bis Garmisch-Partenkir-chen und von Aachen bis Frankfurt/Oder. Deshalb ist dergesetzliche Mindestlohn ein Meilenstein für eine wirk-lich soziale Marktwirtschaft.
Gesetze müssen einfach und verständlich sein. Jeder,Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, muss erkennen können,welche Rechte und Pflichten er hat. Dieser Aufgabe– davon bin ich fest überzeugt – kann ein Gesetz jedochnur gerecht werden, wenn es ohne große Ausnahmen be-schlossen wird. Jedes Wenn-dann, jede Einschränkungschafft Unsicherheit und bietet denen, die danach su-chen, ein willkommenes Schlupfloch. Um es klar zu sa-gen: Wir reden hier von 8,50 Euro als Lohnuntergrenze;das ist die gesetzliche rote Linie, die nach 2017 nichtmehr unterschritten werden darf. Wir reden von Min-destarbeitsbedingungen wie zum Beispiel den vier Wo-chen Urlaub, die laut Bundesurlaubsgesetz jedem Ar-beitnehmer zustehen, oder der Lohnfortzahlung imKrankheitsfall. Nach oben sind die Spielräume natürlichoffen. Es steht jedem Arbeitgeber frei, mehr zu zahlen,wenn er qualifizierte und engagierte Mitarbeiter habenmöchte.
Und hier liegt auch der Gedankenfehler in Ihremheute vorliegenden Antrag, meine Damen und Herrenvon der Linken. Natürlich wären höhere Löhne wün-schenswert, aber das ist Sache der Tarifvertragsparteien.
Die wissen am besten, was branchentypisch oder regio-nal möglich ist. Ein Mindestlohn regelt nur das untereEnde, das Mindeste, was Arbeit in Deutschland wert ist.Theodor Storm hat einmal festgestellt:Am Ende pflegen die Idealisten doch recht zu be-halten, wenn auch mitunter vielleicht hundert Jahre,nachdem sie begraben sind.So lange wollten wir dann doch nicht warten.
Deswegen haben wir uns auf den Weg gemacht und klar-gestellt: Eine verlässliche Umsetzung eines gesetzlichenMindestlohns, der niemanden überfordert, aber auch denWert der Arbeit anerkennt, gibt es nur mit der SPD, mitniemandem sonst.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Christel Voßbeck-Kayser, CDU/CSU, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerKollege Paschke hat gerade Theodor Storm zitiert.Theodor Storm kam mir auch in den Sinn, als ich denAntrag der Linken gelesen habe, aber in anderer Form.Theodor Storm hat die Geschichte vom kleinen Häwel-mann geschrieben. Ich weiß nicht, wer von Ihnen dieseGeschichte seinen Kindern vorgelesen hat. Der kleineHäwelmann konnte nie genug bekommen und hat sich inseinem Bettchen herumfahren lassen, bis die Sonne auf-ging und ihn ins Meer warf. Der kleine Häwelmannsagte immer: Mehr, mehr! Das hat, genau wie Ihr An-trag, Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion DieLinke, mit der Lebens- und Arbeitswirklichkeit derMenschen hier im Land und ihren tatsächlichen Bedürf-nissen nur wenig zu tun.
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Christel Voßbeck-Kayser
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Wenn ich mir Ihren Antrag durchlese, wird mir vor al-lem eines klar: Sie denken dabei nicht an die Langzeit-arbeitslosen und auch nicht an die Erwerbsgeminderten.Genau die Gruppen, zu deren Anwalt Sie sich hier stän-dig berufen, vergessen Sie also.
Sie missachten mit Ihrer Forderung eines Mindestlohnsvon 10 Euro auch sämtliche Erfahrungen, die in anderenLändern oder auch Studien gemacht worden sind. Ichmöchte einmal das Beispiel Frankreich anführen. Frank-reich ist ein Musterbeispiel dafür, dass Mindestlöhne Ar-beitsplätze vernichten und den Einstieg in den Arbeits-markt von vornherein verhindern. Der Mindestlohn inFrankreich betrug zuletzt 9,43 Euro, und die Arbeitslo-sigkeit der 15- bis 24-Jährigen lag im letzten Jahr nacheiner OECD-Studie bei fast 24 Prozent. Vor diesem Hin-tergrund stellen Sie sich hier hin und fordern einen Min-destlohn von 10 Euro! Da ist die Katastrophe für dendeutschen Arbeitsmarkt doch vorprogrammiert.
Um was geht es Ihnen bei Ihrem Antrag? Ich habe dasGefühl, es geht Ihnen einzig und allein darum, Ihr politi-sches Süppchen zu kochen. Seien Sie aber vorsichtig,Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, dassIhnen das, was Sie da anrichten, nicht überkocht; denn inIhrem Forderungstopf ist eindeutig zu viel drin.
Über die Konsequenzen denken Sie anscheinend auchnur wenig nach. Das ist in meinen Augen nur eines: ver-antwortungslos.Eines ist gewiss: Bei der Einführung einer Lohnunter-grenze ist Sensibilität notwendig. Für die Menschen, fürdie Wirtschaft und für unser ganzes Land steht zu vielauf dem Spiel.Ja, es ist richtig: Der Mensch soll mit seiner HändeArbeit wenigstens so viel erwirtschaften, dass er damiteine einfache Existenz sichern kann. Es ist ein Verdienstvon beiden Parteien in der Koalition, dass wir uns zu-sammengefunden haben, gerade weil es uns um die Inte-ressen der Menschen geht und auch, um im Interesse derMenschen zu handeln und zu entscheiden, die nicht dieKraft haben, sich hier durchzusetzen, auch im Interesseder Menschen, die keine Lobby für die Dimension dieserHerausforderung haben.Auch wenn die Koalitionspartner verschiedene Denk-ansätze verfolgen, die SPD mit ihrem eher staatlich ge-prägten Denken, wir, die Unionsfraktion, von marktwirt-schaftlichen Prinzipien geleitet –
diese marktwirtschaftlichen Prinzipien ermöglichen er-folgreiches Wirtschaften in Partnerschaft und haben unsgerade in den Jahren 2008/2009 durch die schwere Fi-nanz- und Wirtschaftskrise geführt –, so eint uns in derKoalition doch ein gemeinsames Ziel: Wir wollen, dasses den Menschen gut geht und damit unserem Land.Was sagen Sie, Kolleginnen und Kollegen der Frak-tion Die Linke, jungen Menschen ohne Schulabschluss,Geringqualifizierten, Langzeitarbeitslosen, denen derEinstieg in die Arbeitswelt durch den von Ihnen gefor-derten Mindestlohn erschwert wird? Ihr Ansatz bringtdiesen Menschen keine Lösung.
Gehört nicht auch beim Thema Mindestlohn zurWahrheit: „Um einen Mindestlohn zu erhalten, musseine Mindestleistung erbracht werden“? Deshalb sagenwir als Unionsfraktion: Um Langzeitarbeitslosen denEinstieg in die Erwerbstätigkeit zu erleichtern, werdensie in den ersten Monaten ihrer Arbeit aus diesem Min-destlohnmodell herausgenommen; denn sozial ist, wasArbeit schafft. Wichtig ist uns in der Unionsfraktion: EinMindestlohn darf kein politischer Lohn werden, sondernmuss ein von den Tarifpartnern ausgehandelter Lohnsein. Das hat sich bewährt.
Daher lehnen wir als Unionsfraktion den vorliegen-den Antrag ab; denn bei der Problemlösung hilft keineRadikalität. Wir werden eine marktwirtschaftliche Lö-sung realisieren, sorgsam und mit der Vernunft der Gro-ßen Koalition.Vielen Dank.
Frau Kollegin Voßbeck-Kayser, das war Ihre erste
Rede hier im Deutschen Bundestag. Meinen Glück-
wunsch! Ich wünsche Ihnen viele weitere Redebeiträge
im Hohen Hause.
Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin
Daniela Kolbe, der ich hiermit das Wort erteile.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Ich bin wirklich von Herzen froh, dass er jetztendlich kommt: ein gesetzlicher einheitlicher Mindest-lohn für alle Beschäftigten. Wir wollen ihn einführen. Erwird in Ost und West gleich hoch sein; und das ist auchgut so.
Unsere Regierung wird damit das Leben von mehre-ren Millionen Menschen und ihren Familien verbessern.Viele werden nicht mehr vom Staat abhängig sein. Sehrviele werden weniger vom Staat abhängig sein. VieleMenschen werden sich etwas mehr leisten können. Vorallen Dingen werden sie sich sicherer fühlen. Das wirdihre Lebensqualität in jedem Fall verbessern und unserLand ein richtig gutes Stück gerechter machen.
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1924 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Daniela Kolbe
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Siemüssen schon verstehen, dass es uns darum geht – da-rauf sind wir stolz wie Bolle –, das Leben von Menschenkonkret und Stück für Stück zu verbessern, und dass wirkeine Lust darauf haben, ihnen etwas von einem Wol-kenkuckucksheim zu erzählen, das wir leider nicht aufdirektem Weg erreichen werden. Deshalb ist unser An-satz, 8,50 Euro als allerunterste Haltegrenze einzuführenplus eine Mindestlohnkommission einzusetzen, die die-sen Betrag anpassen wird, der goldrichtige Weg.
Wir wissen schon lange, dass wir ein Problem mitNiedriglöhnen unter 8,50 Euro haben. Bereits im Jahr2004 hat die SPD in Sachsen das Thema im Landtags-wahlkampf aufgegriffen. Wir haben „Mindestlohn stattBilliglohn“ plakatiert, und jetzt endlich führt unsereBundesministerin Andrea Nahles diesen Mindestlohn füralle in Deutschland ein.
Es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass diese For-derung in Sachsen aufgekommen ist. Nach Zahlen desIAQ ist in Deutschland jeder fünfte Arbeitnehmer vonLöhnen unter 8,50 Euro betroffen. In den neuen Bundes-ländern ist es jeder Dritte. In meinem Heimatland Sach-sen sind es mehr als 33 Prozent. Das sind mehr als600 000 Menschen, für die wir ganz konkret etwas tunwerden.
Frau Kollegin Kolbe, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Krellmann?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Frau Kolbe. Sie haben eben davon ge-
sprochen, dass der Mindestlohn für alle eingeführt wird.
Aber es ging vorhin um Ausnahmen. Was sagen Sie
denn zu den Ausnahmen, die von Ihrer so tollen Ministe-
rin Nahles auch vorgeschlagen wurden?
Mit dem vorliegenden Referentenentwurf bin ich per-sönlich sehr zufrieden, weil wir keinerlei Ausnahmenbei Branchen haben.
Die Ausnahmen sind darin aufgeführt. Das ist ein Rie-senpunkt. Wir haben bis auf die Gruppe der U 18, dieMinderjährigen – worüber man diskutieren kann undwozu ich persönlich auch eine andere Auffassunghabe –, keine Ausnahmen für Personengruppen vorgese-hen.Ich denke, dass wir damit einen sehr guten Kompro-miss gefunden haben, der dem überwiegenden Teil derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern helfen und auchkeine Ausweichbewegungen zulassen wird.
Es war uns ganz besonders wichtig, dass wir das flä-chendeckend regeln und keinen Flickenteppich schaffenund dass der überwiegende Teil der Menschen davonprofitieren kann. Dafür kann ich Andrea Nahles – Siekennen ja unsere Konstellation hier – ein Riesenkompli-ment aussprechen. Der vorliegende Gesetzentwurf istsuper.
Ich war gerade bei den neuen Bundesländern stehengeblieben. Jeder Dritte im Osten wird von der neuen Re-gelung profitieren. Deshalb werden wir damit auch einengroßen Schritt dazu leisten, dass sich die Löhne in Ostund West und dadurch auch die Rentenwerte angleichen.Nach den gestern vorgelegten Zahlen gibt es immernoch einen Unterschied von etwa 8 Prozent zwischenden Renten in Ost und West. Wenn wir den Mindestlohneinführen, wird sich das weiter angleichen und auch ei-nen weiteren Politikansatz, den wir uns vorgenommenhaben, wesentlich leichter machen. Wir wollen nämlichauch die Rentensysteme in Ost und West angleichen, undwir machen das jetzt ein ganzes Stück leichter.
Der gesetzliche Mindestlohn wird klug eingeführt.Ich habe das eben schon erwähnt. Wir machen keineBranchenausnahmen. Im Gegenteil, mit den Branchen,bei denen es Probleme geben könnte, hat Frau Bundes-ministerin gesprochen und kluge Lösungen vereinbart,ohne jedoch Ausnahmen für Branchen hinzunehmen. Esgibt Branchen, in denen es Probleme geben kann, zumBeispiel im Taxigewerbe, weil sie die Preise nicht selberbestimmen können. Deswegen ist es klug, dass man ge-meinsam nach vernünftigen Lösungen sucht und siedann auch findet.
Denn es ist auch für die Unternehmen richtig undwichtig, den Mindestlohn einzuführen, und zwar ohneSchlupflöcher. Gerade in Ostdeutschland leiden vieleehrliche Unternehmer darunter, dass es eine Schmutz-konkurrenz gibt, bei der nur mit Billiglöhnen konkurriertwird. Dem schieben wir jetzt endlich einen Riegel vor.Auch dass der Mindestlohn für alle Volljährigen gel-ten wird, ist sehr richtig. Denn wir wollen keine Aus-weichbewegungen. Wir wollen nicht, dass die jungenMenschen die Billigheimer der Nation werden und Un-ternehmen ihre Geschäftsmodelle entsprechend strickenund auf junge Erwachsene ausrichten. Wir wollen, dassjunge Menschen eine Berufsausbildung machen bzw. einStudium aufnehmen. Genau das ist auch der Fall: Diejungen Menschen gehen nach der Schule an die Uni-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1925
Daniela Kolbe
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versität oder in die berufliche Ausbildung, obwohl sie invielen Bereichen schon jetzt beim Jobben mehr als8,50 Euro bekommen können. Trotzdem machen sie dieAusbildung oder studieren, obwohl sie auch als Unge-lernte jobben könnten.Warum machen sie das? Ungelernt will doch in die-sem Land nun wirklich niemand sein. Das ist auch gutso. Das sollten wir unterstützen. Wir wollen das mit Ju-gendarbeitsagenturen tun, die jungen Menschen dabeihelfen, einen Ausbildungsplatz zu finden und Betreuungaus einer Hand zu bekommen. Auch da hat die GroßeKoalition genau den richtigen Ansatz.
Zum Schluss. Herzlichen Dank an die Linke, dass wirheute über dieses wichtige Thema reden können. Ichfreue mich schon auf den Gesetzgebungsprozess. Ichfreue mich, ehrlich gesagt, auch riesig auf Silvester;denn ab dann wird es für sehr viele Menschen eine Ver-besserung geben. Sogar bis dorthin wird es Verbesserun-gen geben. Wenn man sich die Tarifentwicklung an-schaut, dann stellt man fest, dass es schon in vielenBranchen in die richtige Richtung geht, nämlich nachoben, in Richtung 8,50 Euro, und das ist auch gut so.Vielen Dank.
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Kai Whittaker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdemheute schon so viele Gedichte hier vorgetragen wurden,möchte ich dem nicht nachstehen:Wir wandern in der FrühlingszeitUnd tanzen Ringelreihen.Es blüht die ganze WeltUnd keiner ist alleine.Das war extra für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Linksfraktion.
Zum heutigen UNESCO-Welttag der Poesie schien mirein Frühlingsgedicht die passende Antwort auf Ihren ly-rischen Antrag zum Mindestlohn zu sein.
Dieser Antrag reiht sich in Ihre märchenhaften Forde-rungen zur Mütterrente und zur Rente mit 60 ein. Erstwollten Sie die Mütterrente gar nicht.
Dann, nachdem wir sie beschlossen haben, geht sie Ih-nen natürlich nicht weit genug. Die Rente mit 63 über-bieten Sie durch die Rente mit 60, verschweigen aber diehöheren Kosten. Nun also ein Mindestlohn von 10 Euro.
Schauen wir uns Ihren Antrag einmal ernsthaft an. Siefordern drei Dinge: Erstens wollen Sie einen Mindest-lohn von 10 Euro. Zweitens soll dieser Mindestlohn derLohnentwicklung angepasst werden. Drittens soll derMindestlohn für jedes Arbeitsverhältnis gelten. Die ei-gentliche Frage heute ist doch: Sind 8,50 Euro genugoder nicht? Sie sagen immer wieder, dass es außer beiuns in Deutschland in ganz Europa Mindestlöhne gibt.Das ist aber nicht die ganze Wahrheit; denn was zählt– das ist eine kleine VWL-Nachhilfe für die KollegenErnst und Krellmann –,
ist der effektive Mindestlohn, also das Verhältnis vonMindestlohn zu den mittleren Einkommen. Dieser liegtin Luxemburg, wo man den höchsten Mindestlohn zahlt,bei lediglich 42 Prozent. Mit einem Mindestlohn von10 Euro läge aber dieser Wert bei uns in Deutschland beiüber 70 Prozent, der höchste weltweit. Damit schadenSie der deutschen Wirtschaft.
Die Unternehmer in Ihren eigenen Reihen können da-von schon ein Lied singen. Ihre BundestagskolleginKerstin Kassner betreibt eine kleine Pension auf der In-sel Rügen. Bedauerlicherweise musste sie im Wahl-kampf einräumen, dass sie einen Mindestlohn von10 Euro nicht zahlen kann. Gerne würde sie mehr geben.Aber leider, leider sind die Einnahmen zu gering. Sostand es zumindest im Focus. Wenn Ihnen schon IhreUnternehmer suspekt sind, dann hören Sie doch wenigs-tens auf die Gewerkschaften. In Ihrem Antrag verweisenSie aber lediglich auf die NGG, die Saar-Arbeitskammerund Verdi, die mehr als 8,50 Euro fordern. Schön wärees aber, wenn Sie auch darauf hinweisen würden, dassder DGB, die IG Bergbau und die IG Metall mit8,50 Euro einverstanden sind.
Aber offensichtlich sind Ihnen selbst diese Gewerk-schaften zu neoliberal. Deshalb wollen Sie diese auchgleich an die Kandare nehmen. Ich zitiere aus der Märki-schen Allgemeinen von letzter Woche: „Die Gewerk-schaften sind für höhere Löhne da und basta.“ Es geheüberhaupt nicht, dass „Gewerkschafter als politischeLohndrücker unterwegs sind“. Das klingt ja richtig trot-zig. Ihr Parteichef Bernd Riexinger macht anscheindendkeinen Hehl daraus, was er von unabhängigen Gewerk-schaften hält.
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1926 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Kai Whittaker
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Im alten Griechenland wusste aber schon Sophokles:Im Unglück ist der Trotz nicht förderlich. Gleich zwei-mal befolgen Sie dieses Sprichwort nicht. In IhremAntrag fordern Sie, dass sich der Mindestlohn der Lohn-entwicklung anpassen muss. Wenn ich mir aber Ihre Par-teitagsbeschlüsse anschaue, komme ich zu einem ganzanderen Ergebnis.Mit immer höheren Mindestlohnforderungen kom-pensieren Sie Ihre schrumpfenden Wahlergebnisse.
2006 haben Sie 8 Euro gefordert, 2010 haben Sie bereits10 Euro gefordert, und für 2017 stellen Sie 12 Euro inAussicht. Das ist eine Steigerung von 50 Prozent in elfJahren. Nennen Sie mir einen einzigen Arbeitnehmer indiesem Land, der auch nur ansatzweise eine solcheLohnsteigerung zu verzeichnen hatte.
In Wahrheit wollen Sie doch einen politischen Min-destlohn. Das ist mit uns nicht zu machen. Der Mindest-lohn muss von der wirtschaftlichen Lage abhängig sein.Da sind wir uns in der Großen Koalition absolut einig.Deshalb definieren wir Leitplanken für die Entwicklungdes Mindestlohns.In Ihrer dritten Forderung wollen Sie den Mindest-lohn für alle Beschäftigten gelten lassen. Genau da zeigtsich der fundamentale Unterschied zwischen Ihnen unduns. Der Mindestlohn ist kein verteilungspolitisches All-heilmittel. Er soll für fairen Wettbewerb und faire Löhnesorgen. Fair heißt aber nicht gleich. Sie wollen alle Men-schen gleichmachen. Für uns aber ist jeder Mensch ein-zigartig. Daher ist es unsere Pflicht, allen Menschen denWeg in den Arbeitsmarkt offenzuhalten, auch jungen Er-wachsenen und Langzeitarbeitslosen.
Deshalb halten wir die geplanten Ausnahmen für sinn-voll. Die Bürger verlassen sich darauf, dass wir nichtstupide Parteiprogramme umsetzen, sondern dass wir fürsie arbeiten und nachdenken. Darum haben sie uns alsGroße Koalition in die Regierung gewählt und nicht Sie.
Zum Schluss, Herr Präsident, möchte ich meinen Kol-legen aus der Linksfraktion aber doch noch etwas Hoff-nung machen.
Sie sollen nicht den Eindruck haben, dass wir nicht auchvon Ihnen lernen können.
Ihr großer Vorsitzender Gregor Gysi
hat einmal gesagt: Ich bin eh kein Freund des Tolerie-rens. Entweder man sagt richtig Ja, oder man sagt richtigNein. – Wir in der Großen Koalition sagen zu Ihrem An-trag richtig Nein.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Whittaker, das war Ihre Premiere hier
im Hohen Hause, Ihre erste Rede. Ich gratuliere Ihnen
dazu und wünsche Ihnen viele weitere Möglichkeiten,
Politik und Literaturkenntnisse zu verknüpfen.
Als Nächster spricht der Kollege Ralf Kapschack von
den Sozialdemokraten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-nen herzlichen Gruß auch an die Besucher auf der Zu-schauertribüne.Wer hätte das gedacht? Wer hätte vor einem Jahr ge-dacht, dass wir uns heute über die Höhe des Mindest-lohns streiten, aber nicht mehr über seine Notwendig-keit?
Wir reden heute über das Wie, aber nicht mehr über dasOb. Dass die Bundesregierung jetzt einen gesetzlichenMindestlohn auf den Weg bringt, ist das Verdienst derSPD.
Ohne diese Verabredung hätte es keine Koalition mit derCDU/CSU gegeben; das ist völlig klar. Ich sage auchganz persönlich: Für mich war das ein zentrales Ar-gument, um in meiner Partei für die Zustimmung zumKoalitionsvertrag zu werben. Also, es ist mittlerweileweitgehender Konsens in diesem Haus, dass wir einengesetzlichen Mindestlohn brauchen. Ich gestehe: Ichfinde das großartig.
Ich weiß allerdings, dass bei dem einen oder anderenMitglied unseres Lebensabschnittspartners die Begeiste-rung noch, sagen wir einmal, steigerungsfähig ist. Aberda leisten wir gerne Motivationshilfe, und wir gebenauch gerne Tipps für Entspannungsübungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, jetztzu Ihnen. Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dassSie diesen Antrag eingebracht haben, weil Sie Angst ha-ben, dass Ihnen das Thema abhanden kommt, weil wirjetzt konkret handeln.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1927
Ralf Kapschack
(C)
(B)
Ich will Ihren Beitrag zu der Debatte überhaupt nichtkleinreden, aber wir müssen doch sagen, wie es ist. Siehaben im Oktober die Einführung eines gesetzlichenMindestlohns von 8,50 Euro gefordert.
– Moment! – Sie haben – das ist richtig – gesagt, das seieigentlich zu niedrig, aber Sie haben auch gesagt, alsEinstieg, als erster Schritt sei es richtig. Diesen erstenSchritt machen wir jetzt, nicht mehr und nicht weniger.
Sie können uns doch nicht ernsthaft erzählen, HerrErnst, dass sich die Datenlage seit Oktober grundlegendgeändert habe – Sie sollten in Ihrer eigenen Argumenta-tion schon stringent bleiben –, es sei denn, es handeltesich im Oktober und auch jetzt um reine Showveranstal-tungen. Aber gerade Ihnen, Herr Ernst, will ich das nunüberhaupt nicht unterstellen.
Wir machen jetzt den ersten Schritt. Dass es in dennächsten Jahren eine deutliche Anpassung geben muss,ist doch völlig unbestritten. Wir sagen: Wer Vollzeit ar-beitet, muss von dem, was er am Monatsende auf demKonto hat, auch leben können. Ich komme aus demRuhrgebiet. Von dort stammt ja die Lebensweisheit:„Grau ist alle Theorie – entscheidend ist auf’m Platz.“
Der Platz, das ist die Lebenswirklichkeit der Menschen.Mehr als 4 Millionen werden vom Mindestlohn, so wieihn die Bundesarbeitsministerin auf den Weg gebrachthat, profitieren. Das ist eine ganz konkrete Verbesserungder Lebenswirklichkeit vieler Menschen.Das hat auch etwas mit Würde und Gerechtigkeit zutun. Mit dem Mindestlohn stellen wir sicher, dass Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer die nötige Anerken-nung für ihre Arbeit bekommen. 8,50 Euro sind nichtdas Paradies, das behauptet niemand. Der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister GuntramSchneider hat einmal gesagt: 8,50 Euro, das ist so etwaswie Hartz IV de luxe. – Ich glaube, das trifft es ganz gut.Für meinen Wahlkreis – ich komme aus dem Ruhrge-biet; ich habe es schon gesagt – hat Verdi ermittelt, dassmehr als 30 000 Beschäftigte einen Stundenverdienstvon unter 8,50 Euro haben. Mehr als 11 000 Beschäf-tigte haben einen Stundenverdienst, der unter 6,50 Euroliegt. Sie alle werden von unserem Gesetz profitieren.
6,50 Euro, das verdienen zum Beispiel die Taxifahrer inmeiner Heimatstadt; um es einmal ganz konkret zu ma-chen.Ein gesetzlicher Mindestlohn hilft aber nicht nur Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern – das ist schon an-gesprochen worden –, er hilft auch, um Unternehmenvor Wettbewerb mit Lohndumping zu schützen. EinMindestlohn in Deutschland, allgemeinverbindlich undflächendeckend, stärkt die Tarifverträge; das erleben wirgerade.Bei allem Respekt vor der Tarifautonomie: Wenn Ta-rifpartner dauerhaft nicht in der Lage sind, eine Entloh-nung zustande zu bringen, die deutlich über dem Exis-tenzminimum liegt, dann ist der Gesetzgeber gefordert,das sicherzustellen, und das machen wir jetzt.
Jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Dererste Schritt, den wir mit 8,50 Euro Mindestlohn jetztgehen, reicht Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Linken, nicht; das verstehe ich sogar. Aber er ist einRiesenschritt. Das zeigt sich, wenn ich mir die Diskus-sion der letzten Jahre anschaue und wenn ich mir an-schaue, wo jetzt an allen Ecken und Enden noch gebohrtund gedrückt wird, um das Konzept des flächendecken-den gesetzlichen Mindestlohns zu durchlöchern.Der renommierte Arbeitsmarktforscher GerhardBosch hat den vorgesehenen Mindestlohn „eine dergrößten Sozialreformen der Nachkriegszeit“ genannt.Ich will ihm da nicht widersprechen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Kapschack. – Das war
auch Ihre erste Rede. Auch Ihnen ganz herzlichen
Glückwunsch von allen hier im Hause.
Nächster Redner in der Debatte ist Kollege Mark
Helfrich, CDU/CSU-Fraktion.
Herzlichen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Im November letzten Jahres bin ich als neu-gewählter Abgeordneter hier schon einmal Ohren- undAugenzeuge einer taktisch motivierten Debatte zumMindestlohn geworden. Damals ging es um den Gesetz-entwurf der Linken zur sofortigen Einführung einesMindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde. Damals reich-ten Ihnen 8,50 Euro, um die SPD als GroKo-Partner hierin diesem Plenum vorzuführen.Heute brauchen Sie hingegen 10 Euro, um sich hierim Haus als die sozialere Alternative profilieren zu kön-nen. Ein solches Verhalten zeigt, dass wir als CDU/CSU
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1928 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Mark Helfrich
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zu Recht immer darauf bestanden haben, dass die Lohn-festsetzung nicht durch die Politik zu erfolgen hat. DieEntlohnung von Menschen taugt schlicht und ergreifendnicht für polittaktische Spielchen. Genau das ist es, wasSie uns hier heute liefern und den Menschen in diesemLand antun.
Es geht um viel zu viel. Es geht mit Sicherheit nichtum – wenn ich die Worte der Kritiker des Mindestlohnszitiere – den Untergang des Abendlandes, aber es gehtum die berechtigten Hoffnungen und Anliegen von Mil-lionen von Menschen und darum, dass wir diese Hoff-nungen am Ende des Tages auch erfüllen können.Wer hart arbeitet, der muss auch ordentlich bezahltwerden. – Für eine solche Aussage werden Sie auf jederCDU- oder CSU-Versammlung in dieser Republik eineMehrheit finden; Sie werden ehrlichen Applaus dafür er-halten. Da sind wir alle beieinander. Wir sind aber nichtbeieinander, wenn es darum geht, die Augen vor derRealität zu verschließen. Ihr Antrag zeugt meines Erach-tens von Realitätsverlust.Fakt ist, dass bereits ein Mindeststundenlohn von8,50 Euro in bestimmten Branchen und Regionen dieserRepublik zu Verwerfungen am Arbeitsmarkt führenkann. Die derzeitige konjunkturelle Hochphase und diegünstige Situation am Arbeitsmarkt erlauben es uns– zusammen mit der Übergangsphase 2015/2016 –, dieseVerwerfungen in den Griff zu bekommen und den Min-destlohn zu einem Erfolg zu machen.
Was ist jetzt Ihre Antwort auf eine wirklich ge-schichtsträchtige Sozialreform, den flächendeckendengesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde? Siesatteln obendrauf und kommen mit einer Forderung nacheinem Mindeststundenlohn von 10 Euro um die Ecke. Esist keine Kunst, sozial zu sein, wenn ein anderer zahlt,meine sehr geehrten Damen und Herren von der Links-fraktion. Sie verkennen, dass es bei dem Mindestlohnauch immer eine Finanzierungsseite gibt. Sie brauchenkeine Angst zu haben: Ich werde hier heute nicht singen– die Karnevalszeit ist vorbei –, aber trotzdem die Fragestellen: Wer soll das bezahlen?
Die Menschen in diesem Land haben große Sympa-thien für gerechte Löhne und auch für den Mindestlohn– das zeigen alle Umfragen –, aber sie haben am Endedes Tages auch Verantwortung für ihr persönlichesHaushaltsbudget. Wenn wir bei der Höhe des Mindest-lohns übertreiben, dann werden wir massive Ausweich-bewegungen erleben: Es werden weniger Blumensträußegekauft. Die Haare werden häufiger auf Basis der Nach-barschaftshilfe geschnitten. Zeitungsabos werden schlichtund ergreifend gekündigt. Unternehmen, die Löhne ober-halb des Mindestlohns zahlen, werden im Lohngefügeentsprechend stärker unter Druck geraten. Es werdenstärkere Rationalisierungsbemühungen in den Unterneh-men entstehen. Auch die Missbrauchsanfälligkeit wirdsteigen. Es wird mehr unbezahlte Überstunden geben.Da muss man dann nachkontrollieren; Sie haben vorhinskizziert, wie Ihre Vorstellung dazu ist. Ich glaube, wirhätten dann am Ende des Tages den Beschäftigten in die-sen Branchen einen sozialen Bärendienst erwiesen, unddas kann keiner wollen.Wenn wir den Mindestlohn hingegen richtig – das sollheißen: moderat – justieren – das kann in diesem Zusam-menhang genau übersetzt werden mit: 8,50 Euro –, dannwerden viele profitieren: die Beschäftigten von höherenLöhnen, die Unternehmen von fairem Wettbewerb – derWettbewerb wird dann nicht mehr über Lohndumpinggeführt – und nicht zuletzt die öffentlichen Haushalte da-durch, dass es weniger ergänzende Hartz-IV-Leistungengeben wird.Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass auch ich dasPhänomen des Aufstockens in der Masse bedrückendfinde, dass das aber nicht per se Ausdruck einer sozialkalten Gesellschaft ist, sondern im Gegenteil eine Errun-genschaft dieser Gesellschaft. Das ist etwas, was Sie völ-lig verkennen.
Unsere Aufgabe ist jetzt, gemeinsam dafür Sorge zutragen, dass es den Menschen in unserem Land konkretbesser geht. Es wird nur besser gehen, wenn Wachstumund Beschäftigung nicht unter dem leiden, was wir be-schließen. Es darf nicht sein, dass durch die Einführungeines allgemeinen Mindestlohns Menschen ihre Arbeitverlieren bzw. andere nicht die Gelegenheit haben, ausder Arbeitslosigkeit auf den Arbeitsmarkt zurückzukeh-ren.Sie sehen hier heute eine CDU, die in der TraditionLudwig Erhards steht, die für soziale Marktwirtschafteinsteht, die sich auch ordnungspolitisch sehr weit be-wegt hat. Es sollte Ihnen in dieser Stunde etwas wertsein, dass Sie das hier so erleben. Wir sind als CDU/CSU nicht bereit, die arbeitsmarktpolitischen Erfolgeder letzten Jahre leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Für so-zialpolitische Blütenträume stehen wir nicht zur Verfü-gung.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. Auch Ihnen die besten Glückwünsche;
denn es war auch Ihre erste Rede heute. Herzlichen
Glückwunsch im Namen des ganzen Hauses.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Bernd Rützel das Wort.
Der Arbeitslohn … muß es dem Arbeiter und seinerFamilie ermöglichen, zu einem wahrhaft menschli-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1929
Bernd Rützel
(C)
(B)
chen Lebensniveau im materiellen, sozialen, kultu-rellen und geistigen Bereich Zugang zu erhalten.Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DiesesZitat stammt von Papst Johannes Paul II. Des Weiterenschrieb er am 14. September 1981 in der Sozialenzyklika„Laborem exercens“:Durch Arbeit muß sich der Mensch sein täglichesBrot besorgen, und nur so kann er beständig zumFortschritt von Wissenschaft und Technik sowie zurkulturellen und moralischen Hebung der Gesell-schaft beitragen …Das war vor gut 30 Jahren. Vor über 120 Jahren, näm-lich 1891, hat der Arbeiterpapst Leo XIII. in der Mutteraller Sozialenzykliken, „Rerum novarum“, geschrieben,„dass der Lohn nicht etwa so niedrig sei, dass er einemgenügsamen, rechtschaffenden Arbeiter den Lebens-unterhalt nicht abwirft.“Ich bin heute aus zweierlei Gründen sehr erfreut unddankbar dafür, dass nun die Einführung eines gesetzli-chen flächendeckenden Mindestlohnes zum Greifennahe ist.
Einmal, weil es um die Würde und die Wertschätzungdes Menschen geht. Der Mensch muss vom Lohn seinerVollzeitarbeit leben können, ohne auf staatliche Fürsorgeangewiesen zu sein. Ein anständiges Einkommen, dasdie Existenz sichert, ist auch ein Zeichen des Respektsfür die geleistete Arbeit.
Zum anderen ist ein Mindestlohn auch ökonomischsinnvoll. Ich bin häufig in meinem Wahlkreis bei mittel-ständischen Firmen und werde dort oft angesprochen,dass der flächendeckende und einheitliche Mindestlohnschnell eingeführt werden muss. Diese Unternehmenfürchten nämlich den Dumpingwettbewerb, der zulastenanständiger Unternehmen wie dieser geht, die ordentli-che Löhne zahlen, aber unter dem Druck stehen, dass dieKonkurrenz das nicht tut und damit Aufträge gewinnt.Wir verbessern mit dem Mindestlohn auch die Wettbe-werbssituation eben der Unternehmen, die ihre Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter fair behandeln und dies auch inZukunft tun möchten. Wir tragen mit diesem Mindest-lohn damit zu Ordnung und Fairness im Wettbewerb bei.
Mit unserem flächendeckenden gesetzlichen Mindest-lohn stellen wir also einen Mindestschutz bereit, der ei-nerseits Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und an-dererseits Unternehmen vor unfairer Konkurrenz mitunangemessen niedrigen Löhnen bewahrt. Und wir ge-ben die finanzielle Verantwortung für existenzsicherndeLöhne dorthin, wohin sie gehört: zu den Unternehmen.Denn sie profitieren von der Arbeit ihrer Mitarbeiter –nicht die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Es ist alsowidersinnig, wenn diese dafür bezahlen sollen, dass dieArmutslöhne der Beschäftigten aufgestockt werden. Dassind versteckte Subventionen, meine Damen und Herren.
Nach genau dieser Logik sorgte vor fast auf den Taggenau 100 Jahren der Automobilhersteller Henry Fordfür eine Sensation: Er verdoppelte auf einen Schlag denLohn für seine Beschäftigten; zugleich kürzte er die Ar-beitszeit von neun auf acht Stunden. Man hat ihn dafürfast für verrückt erklärt. Damit schuf er aber die Voraus-setzung dafür, dass sich nun seine Arbeiter selber dieAutos kaufen konnten, die sie hergestellt und gebaut ha-ben. Viele von uns kennen ja den Satz: Autos kaufenkeine Autos.
Damit hat er seinen Absatz vervielfacht. Was HenryFord wusste und was auch heute noch richtig ist: Anstän-dige Löhne kurbeln die Binnenwirtschaft an. Sie sorgenfür mehr Nachfrage, und Sie wirken sich auch positivauf die Konjunktur aus. Wir schaffen mit dem von unsgeplanten Mindestlohn noch etwas – das haben wir heutebereits gehört –: Wir stoppen die Erosion der Tarifbin-dung, die in den letzten Jahren zu der raschen Ausbrei-tung des Niedriglohnsektors beigetragen hat. Wir legeneine Untergrenze fest, die nicht unterschritten werdendarf, darüber hinaus ist es wieder das Handwerk der Ta-rifpartner.Mit dieser Tarifautonomie stärken wir die Höhe desMindestlohnes für den jeweiligen Geltungsbereich. Ichhabe heute früh die Zeitung aufgeschlagen und bin frohdarüber, dass die Arbeitgeber und Gewerkschaften schonvor 2018, nämlich 2017, den Mindestlohn, diesen Ein-stieg, erhöhen wollen. Das ist ein gutes Zeichen.
Damit setzen wir die Tarifpartnerschaft in den Vorder-grund. Es ist kein politischer Mindestlohn, den wir ha-ben.Abschließend, meine sehr geehrten Damen und Her-ren, kann ich mich nur den Worten der Kolleginnen undKollegen der Linken anschließen. Wir haben es heuteschon zweimal gehört; ich will es noch einmal sagen,weil es mir sehr gefällt. Ich habe den Gesetzentwurf vom23. Oktober 2013 dabei. Das ist fünf Monate her. Dortheißt es: Wir sind für einen Mindestlohn von 8,50 Euro.Begründet wird dies damit: Diese untere Grenze hat dasZiel, vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern ein ihre Existenz sicherndes Einkommen zugewährleisten und eine angemessene Teilhabe am sozio-kulturellen Leben zu ermöglichen. – Ich habe es mir so-gar markiert. Es hat mir sehr gut gefallen.
Abschließend möchte ich einen Satz zu meiner Vor-rednerin von der Union sagen, die gesagt hat: Sozial ist,was Arbeit schafft. Dieser Satz stimmt nicht. Er gefällt
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1930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Bernd Rützel
(C)
(B)
mir nicht. Sozial ist, was gute Arbeit schafft. Das ist einUnterschied, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Als Letztes: 8,50 Euro. Es wird Zeit, die Zeit ist ge-kommen: Weniger ist zu wenig.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Wir haben heute nur Premieren. Auch
Ihnen einen ganz herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ers-
ten Rede, Herr Kollege Rützel.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Albert
Weiler, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Können Sie mal ganz kurz warten?
Ja.
Könnte die Gratulation etwas schneller und leiser
vonstatten gehen? Der Kollege Weiler hält heute auch
seine erste Rede und hätte es gerne, dass Sie die Auf-
merksamkeit ihm schenken.
Danke schön, Frau Präsidentin. – 10 Euro, 12 Euro,12,50 Euro? Ich frage Sie: Wer bietet mehr?
– 14, höre ich. Wer bietet mehr?
Jetzt müssen wir wirklich mal die Kirche im Dorf lassen.Wir sind doch hier nicht auf einem Jahrmarkt.
Der hier vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke isteine Überbietungsdebatte, die meines Erachtens jegli-cher Grundlage entbehrt und ihresgleichen sucht.
Zwar begrüßen die Linken das Vorhaben der GroßenKoalition vom Grunde her – das ist schon einmal einAnsatz –, fordern dann aber total überzogene Mindest-löhne. Wir haben es eben schon gehört. Selbst in Ihreneigenen Reihen gibt es Abgeordnete, die es beim Min-destlohn gegenüber den eigenen Mitarbeitern nicht ernstnehmen. Frau Kassner wurde genannt. Sie zahlte ihrenPensionsmitarbeitern auf der Insel Rügen nicht einmaldie 8,50 Euro. Wasser predigen, Wein trinken: Dasscheint mir Ihre populistische Methode zu sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wird dürfendas Rückgrat unserer deutschen Wirtschaft, nämlich diezahlreichen kleinen und mittelständischen Unternehmen,nicht überfordern. Sie werden es nicht glauben: Lohnmuss erwirtschaftet werden.
Liegt der Lohn über den Kosten für den jeweiligenArbeitsplatz, meine lieben Kollegen von der Linken,droht dessen Wegfall. Das wollen wir doch wohl allenicht haben.
– Ja, das war betriebswirtschaftlich, aber auch volks-wirtschaftlich.Wenn wir uns nicht in die Tasche lügen wollen, müs-sen wir festhalten, dass es mit der Einführung eines flä-chendeckenden Mindestlohns Branchen geben wird, diean den 8,50 Euro schwer zu knabbern haben werden.10 Euro oder gar mehr würden derzeit unüberwindbareProbleme bedeuten. Es ist naiv, zu glauben, keinerlei ne-gative Effekte zu erleben. Wir müssen hier ehrlich blei-ben.Schaue ich als junger Bundestagsabgeordneter bei-spielsweise auf das Gastgewerbe in unseren ländlichenGebieten, so stelle ich fest, dass wir bei zweistelligenMindestlöhnen mit Entlassungen bzw. mit Schließungenvon Gaststätten zu rechnen haben werden. Unser Gast-gewerbe setzte 2013 weniger um als im Jahr zuvor. DieBeschäftigtenzahl sank um 1,3 Prozent. Die Zahl derVollzeitbeschäftigten ging im Vergleich zu 2012 um2,6 Prozent zurück. Das wollen Sie mit Ihren Forderun-gen nach einem Mindestlohn von 10 Euro jetzt nochmaßlos verschärfen. Ich sage Ihnen: Nicht mit uns!
Gerade bei den Betrieben in strukturschwachen Ge-bieten wird es zu Preiserhöhungen und zum Wegfall vonArbeitsplätzen für Geringqualifizierte kommen. Zudemwären Saisonarbeiter und Erntehelfer nicht mehr bezahl-bar. Aber auch diese werden gebraucht.
Richtig ist – das will ich hier ganz klar sagen –: WerVollzeit arbeitet, muss auch davon leben können.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1931
Albert Weiler
(C)
(B)
Die Große Koalition hat sich in ihrem Koalitionsver-trag auf einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von8,50 Euro verständigt. So werden wir das auch umset-zen. Hierbei dürfen wir die kleinen und mittelständi-schen Unternehmen aber nicht überfordern. Ein Min-destlohn von 8,50 Euro bedeutet Gehaltssteigerungen imzwei- bis dreistelligen Bereich. Dies muss unter gleichenwirtschaftlichen Bedingungen erst einmal erwirtschaftetwerden.
Als gelernter Elektriker, Lokomotivführer und imzweiten Bildungsweg studierter Leiter einer Verwaltungkommt mir persönlich bei der gesamten Mindestlohnde-batte folgender Aspekt zu kurz: Wer einen Mindestlohnohne Ausnahme will, muss gleichzeitig sagen, was ihmeine ausgebildete Fachkraft mindestens wert ist.
Meines Erachtens kann es nicht sein, dass ein ungelern-ter Hilfsarbeiter den gleichen Mindestlohn erhält wie einjunger Geselle im Handwerk, der sich jahrelang ange-strengt, Leistungswillen bewiesen und gearbeitet hat.
Jugendliche dürfen durch Mindestlöhne nicht dazuverleitet werden, auf eine Berufsausbildung zu verzich-ten. Das ist der falsche Weg. Ausbildung und Leistungmüssen sich lohnen. Ihre falschen Anreize sind auch mitBlick auf die Sicherung zukünftiger Fachkräfte vonüberragender Bedeutung. Diesen negativen Trend wol-len Sie mit Ihrer Forderung nach einem Mindestlohn von10 Euro noch verstärken, meine Damen und Herren vonder Linken. Das ist nicht gut.
19-Jährige hätten dann beispielsweise die Wahl zwi-schen einer Aushilfstätigkeit in Vollzeit mit einem Mo-natsgehalt von circa 1 600 Euro und einer ordentlichenBerufsausbildung mit einem Monatsgehalt von circa700 bis 800 Euro. Es gehört wenig Phantasie dazu, sichvorzustellen, dass viele Jugendliche dieser finanziellenVersuchung eben nicht widerstehen können und sich fürdie zunächst besser bezahlte Aushilfstätigkeit entschei-den. Das würde den Fachkräftemangel ins Uferlose trei-ben.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns einen ver-nünftigen Mindestlohn einführen, der wirtschaftlich ge-boten und nicht wie auf einem Jahrmarkt durch denHöchstbietenden ausgefeilscht ist.
Ich fasse zusammen: Erstens. Leistung und Ausbil-dung müssen sich lohnen. Zweitens. Ein Mindestlohnvon 10 Euro überfordert unsere kleinen und mittlerenBetriebe. Drittens. Die Folge Ihres Antrags wäre, dassAusbildungs- und Arbeitsplätze verloren gehen. Daskönnen und wollen wir uns nicht leisten.
Daher empfehle ich Ihnen an dieser Stelle, den Antragder Linken abzulehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das war, wie gesagt, Ihre erste Rede.
Herzlichen Glückwunsch! Damit hatten wir sechs Pre-
mieren in dieser Debatte.
Wenn die Glückwünsche ausgesprochen sind, darf der
Kollege Matthäus Strebl von der CDU/CSU diese De-
batte beschließen. – Herr Kollege Strebl.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Bei dem Thema Mindestlohn dürften sichalle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien einigsein: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen voneiner Vollzeitbeschäftigung leben können. Wir alle wis-sen aber auch, dass das längst nicht überall der Fall istund dass hier dringend nachgebessert werden muss. EinSchritt auf dem Weg ist die Einführung eines flächende-ckenden gesetzlichen Mindestlohns. Dieser Mindestlohn– diese Behauptung kann hier aufgestellt werden – wirdkommen, und er wird bei 8,50 Euro in der Stunde liegen.Allerdings hat die Fraktion Die Linke nun den Antrageingebracht, einen Mindestlohn in Höhe von 10 Euroeinzuführen. Darüber werden wir heute befinden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie dürfenmir glauben, wenn ich sage: Auch ich gönne den Be-schäftigten eine solche Lohnuntergrenze. Allerdingshabe ich bei aller Sympathie für einen Lohn von 10 Euroin der Stunde als Mindestlohn die Realität nicht aus denAugen verloren. Das zwingt uns, diesen Antrag der Lin-ken abzulehnen.
Es heißt immer – wohl auch zu Recht –: Deutschlandist ein reiches Land; der Wirtschaft geht es gut. Richtigist: Es geht uns besser als anderen, und Vergleiche hin-ken bekanntlich immer. Dennoch möchte ich daraufhinweisen, dass es in der Europäischen Union Ländergibt, die ihre Erfahrungen mit dem Mindestlohn bereitsgemacht haben. Dies sind 21 von 28 Ländern mithöchst unterschiedlichen Mindestlöhnen. Spitzenreiterist Luxemburg, das heute schon erwähnt wurde, mit11,10 Euro, gefolgt von Frankreich mit 9,53 Euro.Da möchte ich kurz verweilen. Wie es um die franzö-sische Wirtschaft und den dortigen Arbeitsmarkt bestelltist, muss ich hier nicht unbedingt erläutern.
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1932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Matthäus Strebl
(C)
(B)
Ein hoher Mindestlohn ist also keineswegs Indiz für ge-samtwirtschaftliches und persönliches Wohlergehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die GroßeKoalition ist keine Klientelkoalition, sondern muss dasgesamtwirtschaftliche Umfeld im Auge behalten. Wirsind uns dieser Verantwortung bewusst. Wir wägen abund werden dementsprechend richtig entscheiden, wenndie Diskussion dann so weit gediehen ist. Es gibt genü-gend seriöse Experten, die uns in Gesprächen immerwieder gesagt haben: Bereits bei einem Mindestlohn von8,50 Euro könnten bestimmte Betriebe ins Strauchelnkommen und damit Arbeitsplätze gefährdet werden. Dasgilt umso mehr, meine sehr verehrten Kollegen von derLinksfraktion, bei einem Mindestlohn von 10 Euro.Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns darfnicht dazu führen, dass einige etwas mehr verdienen,viele aber ihren Arbeitsplatz verlieren. Dabei könntenwir es uns einfach machen und der Forderung der Linkenfolgen.
Beifall bekämen wir dann von den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern. Aber Applaus ist bekanntlich nurdas Brot, von dem Schauspieler leben – in einer fiktivenWelt.
Die Realität sieht nämlich anders aus. Deshalb verzich-ten wir in diesem Fall auf den Beifall und orientieren unsan dem, was unserer Wirtschaft und den Beschäftigtengleichermaßen guttut.Machen wir uns nichts vor: Bereits heute gibt es in-nerhalb der Großen Koalition berechtigterweise Diskus-sionen, aber vor allen Dingen Einvernehmen darüber,dass es bei der Einführung eines Mindestlohns eng be-grenzte Ausnahmen geben wird, um nicht Arbeitsplätzezu gefährden. Ausnahmen könnte es beispielsweise beiRentnern,
Auszubildenden oder Langzeitarbeitslosen geben. Da-rüber diskutieren wir derzeit noch. Wenn wir eine Lö-sung gefunden haben, werden wir entscheiden und dasRichtige tun.Die Meinungen über den Mindestlohn in der Gesell-schaft reichen von Befürwortung bis hin zu Ablehnung;das muss man gerechterweise sagen. Die Wirtschaftsorgt sich, dass bei einem Mindestlohn zu wenig jungeMenschen eine Ausbildung beginnen. Der Bauernver-band fürchtet zum Beispiel um die Gurkenproduktion.Vieles andere wurde heute schon genannt. In Münchenwurde darauf verwiesen, dass es schließlich auch Abitu-rienten geben soll, die in Ausbildungsberufe streben. Ge-gen jegliche Altersbeschränkung spricht sich zum Bei-spiel auch der Chef der IG Bergbau, Chemie, Energieaus. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende unseresgeschätzten Koalitionspartners wiederum hält die Alters-grenze von 18 Jahren für „sehr gut begründbar“. DerChor derer, die sich in unterschiedlichster Weise äußern,ist also groß und sehr vielfältig.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Min-destlohn kommt. Er ist wichtig. Er darf aber keinesfallsderart attraktiv sein, dass junge Menschen auf eine Be-rufsausbildung verzichten. Ein Mindestlohn von 10 Euro,wie er im Antrag der Linksfraktion gefordert wird,würde einer solchen Entwicklung aber Vorschub leisten.
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit?
Ich denke an die Zeit, Frau Präsidentin, und komme
langsam zum Ende.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Min-
destlohn von 8,50 Euro hilft dem Einzelnen. Er kann
auch als gewaltiges Investitionsprogramm bezeichnet
werden. Wenn es stimmt, was das hannoversche Pestel-
Institut berechnet hat, kommt es durch den Mindestlohn
zu einem Kaufkraftzuwachs von gut 19 Milliarden Euro
und damit zu einem Investitionsschub, der die Binnen-
nachfrage stärkt.
Machen wir mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro ei-
nen Anfang. Setzen wir gemeinsam ein Zeichen, dass
wir uns für die Gesamtgesellschaft ebenso verantwort-
lich wissen wie für jede einzelne Arbeitnehmerin und
jeden Arbeitnehmer. Die 10-Euro-Forderung der Links-
fraktion ist keine gute Grundlage für eine verantwor-
tungsvolle Politik. Wir lehnen den Antrag deshalb ab.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/590 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Ulle Schauws, Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFrauen gerecht entlohnen und sicher beschäf-tigenDrucksache 18/847
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1933
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Wiederspruch. Dann ist so beschlossen.Die Debatte wird von der Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen, eröffnet. Bitte schön.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Zum sechsten Mal gibt es – geradejetzt parallel am Brandenburger Tor – eine Kundgebungzum Equal Pay Day. Zum sechsten Mal wird die beste-hende Lohnlücke beklagt. Und zum sechsten Mal hörenwir von einer Bundesregierung blumige Ankündigun-gen. Das kann nicht wirklich Ihr Ernst sein. Es ist dochkeine Bagatelle, dass Frauen noch immer 22 Prozent we-niger verdienen als Männer. Betroffene Mienen undSymbolpolitik bringen uns kein Stück weiter.
Appelle allein – das haben wir gesehen – sind nichtgeeignet, um die Welt zu verändern … Das Ziel ist,dass der Equal Pay Day nicht irgendwann MitteMärz, sondern in Zukunft am 1. Januar stattfindet.Darum geht es.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, jetztmüssten Sie eigentlich heftig klatschen; denn das sindnicht meine Worte, sondern die von Frank-WalterSteinmeier; er hat es vor einem Jahr an dieser Stelle ge-sagt, bei der Debatte zum Equal Pay Day 2013. Und wirmeinen: Er hat recht.
Die Forderungen der Regierungsfraktionen beimThema Entgeltgleichheit sind aber enttäuschend. Hierhat die Union ganze Arbeit geleistet. Anders ist der An-trag von letzter Woche nicht zu deuten. Die Ankündi-gungen sind zwar wortreich, aber die geplanten Maßnah-men sind schwammig und wenig ambitioniert. Es ist alsogut, dass wir diese Debatte zu unserem Antrag auf dieheutige Tagesordnung setzen konnten. So werden wirübrigens dem Equal Pay Day gerecht.
Unsere erste Forderung ist eine gerechte Bewertungvon Arbeit und eine gesellschaftliche Aufwertung vonBerufen mit hohem Frauenanteil. Nichts anderes meintder Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, wenn er dieser Tage eine deutlich bes-sere Bezahlung von Pflegekräften fordert: Der Lohnmüsse dem guter Handwerker entsprechen. Der Unter-schied ist aber, dass es uns nicht nur um Pflegekräftegeht. Arbeit darf nicht willkürlich und auch nicht inte-ressengelenkt bewertet werden.Es reicht auch nicht aus, wenn die Regierungsfraktio-nen die Bewertung von Arbeit mit den Tarifpartnern vo-ranbringen wollen. Wir brauchen endlich allgemeingül-tige geschlechtsneutrale Kriterien. Nur so werden wirdem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleich-wertige Arbeit“ gerecht.
Im zweiten Punkt fordern wir, dass Entgeltregelungenüberprüft werden und insbesondere Entgeltdiskriminie-rungen verbindlich beseitigt werden. Im Antrag der Re-gierungsfraktionen steht das zwar auch, aber die Unter-nehmen werden nur aufgefordert. Ansonsten setzen sieauf mehr Transparenz bei Unternehmen ab 500 Beschäf-tigten. Transparenz, Freiwilligkeit, Selbstverpflichtung –das alles haben wir schon hundertmal gehört. Das ist ein-fach zu wenig.Ohne verbindliche Regelungen ist eines sicher: Sotreffen wir uns in den nächsten Jahren wieder hier zumEqual Pay Day, und zwar nicht im Januar, sondern wie-der im März. Wir brauchen ein Entgeltgleichheitsgesetz,alles andere ist Symbolpolitik.
In unserem dritten Punkt geht es darum, dass wir diebetroffenen Frauen stärken wollen. Deshalb fordern wirein Verbandsklagerecht, damit die Frauen zukünftignicht mehr alleine klagen und ihren Job gefährden müs-sen. Die Regierungsfraktionen planen dazu gerade ein-mal einen individuellen Auskunftsanspruch. Das hilftaber nicht wirklich weiter. Außerdem ist Entgeltdiskri-minierung kein individuelles Problem, sondern ein ge-sellschaftliches Problem. Nehmen Sie das endlich zurKenntnis!
Der vierte Punkt liegt mir besonders am Herzen.Frauen brauchen gerechte Löhne, aber sie brauchen auchsoziale Sicherheit. Sie sind häufig von Befristungen be-troffen. Die Folgen sind allseits bekannt: Unsicherheit,fehlende Lebensplanung, wenig Weiterbildung und Ar-beitslosigkeit. Vor allem erhalten befristet Beschäftigteauch noch deutlich weniger Lohn. Deshalb wollen wirdie sachgrundlose Befristung abschaffen. Im Koalitions-vertrag wird das Thema mit keinem einzigen Wort er-wähnt. Ich muss das immer und immer wieder sagen;denn hier fehlt der Großen Koalition jegliche Empathie,und das ist nicht akzeptabel.
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die Zahlen sinddoch allseits bekannt: Abteilungsleiterinnen mit Hoch-schulabschluss erhalten im Schnitt 3 700 Euro, Männer inderselben Position 5 200 Euro, das sind satte 1 500 Euro
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1934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Beate Müller-Gemmeke
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mehr. Entgeltdiskriminierung ist also kein Nischenpro-blem der klassischen Frauenberufe. Die Physikerin ver-dient weniger als ihr männlicher Kollege. Ebenso wirddie frauendominierte Pflege schlechter bezahlt als an-dere gleichwertige Tätigkeiten. Es ist wirklich an derZeit, dass Frauen für das, was sie leisten, gerecht bezahltwerden.
Es liegen vielfältige Vorschläge auf dem Tisch. GebenSie sich einen Ruck! Notwendig sind gesetzliche Rege-lungen; denn es muss endlich Schluss damit sein, dass esArbeit von Frauen zum Schnäppchenpreis gibt. SchaltenSie nach den heutigen Beileidsbekundungen also nichtwieder in den Ruhemodus bis zum siebten Equal PayDay.„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ – so ist übrigensein Flugblatt der SPD überschrieben. Unten steht großund fett: „Andere reden über Frauenpolitik – die SPDhandelt“. Wir nehmen Sie beim Wort.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Sabine Weiss,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Eingangs eine kleine Anmer-kung: Ich bin mir relativ sicher, dass eine ganze MengeKolleginnen und Kollegen bei diesem Tagesordnungs-punkt gerne hier sitzen und zuhören würden. Ich weiß,dass ganz viele jetzt draußen am Brandenburger Tor sindund im Rahmen der Kundgebung ihre Unterstützung fürdas Anliegen bekunden.
Verehrte Kollegin Müller-Gemmeke, ja, es ist tatsäch-lich unfassbar – das sehen auch wir so –, dass wir imJahr 2014 immer noch über eine Lohndifferenz von22 Prozent zwischen Männern und Frauen sprechen, unddas sechs Jahre nach Einführung des Equal Pay Day.
– Ganz ruhig, ganz gelassen. Dazu komme ich gleich.Wir werden etwas tun. – Das ist in Zeiten, in denenFrauen mindestens so gut ausgebildet sind wie Männer,einfach nicht zu glauben.Die Gründe für diese Entgeltungleichheit sind vielfäl-tig und daher schwierig zu bekämpfen: Berufswahl, län-gere Erwerbsunterbrechungen oder Teilzeitarbeit wegender Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen An-gehörigen, geringere Entlohnung in frauentypischen Be-rufen – die Liste der Gründe ist eben lang, und dieGründe können nicht einfach in Schwarz und Weiß dif-ferenziert werden.
Ganz wichtig: Weniger Erwerbseinkommen führt zuweniger Rente. So einfach diese Gleichung ist, so gra-vierend sind die Folgen für die Frauen. Die Rentenlückezwischen Männern und Frauen beträgt fast 60 Prozent.
– Richtig.Wir haben, Frau Müller-Gemmeke, der Lohndifferenzzwischen Männern und Frauen den Kampf angesagt:Ausbau der Betreuung, Aufwertung sozialer Berufe,
Unterstützung von Unternehmen bei der Betreuung, He-ranführen von Mädchen an typische Männerberufe, ver-besserte Mütterrente und, und, und; ein ganzes Maßnah-menbündel nehmen wir in die Hand, um die vielfältigenGründe zu beseitigen. Das sind eben keine blumigen An-kündigungen, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Wir ha-ben in den Koalitionsverhandlungen stundenlang mitviel Empathie – auch die wollten Sie uns absprechen –darüber diskutiert und sind zu diesen Ergebnissen ge-kommen. Wir wollen zeitnah einen Anspruch auf Rück-kehr von Teilzeit in Vollzeit schaffen, damit diejenigen,die familienbedingt zeitweilig weniger arbeiten möchtenoder müssen, nicht in der Teilzeitfalle landen.Auch einen individuellen Auskunftsanspruch werdenwir festlegen, um mehr Transparenz bei der Entlohnungzu erreichen.
Das alles sind nach unserer festen Überzeugung zielfüh-rende Maßnahmen, die wir im Kampf um mehr Entgelt-gleichheit brauchen.
Neben den politischen und gesetzlichen Möglichkeitenist jedoch auch ein Umdenken in unseren Unternehmennötig, um diese Ungerechtigkeit endlich zu beenden.Das wahre Leben ist aber dies: Jedes Paar trifft indivi-duelle Lebensentscheidungen. „Tritt ein Partner für dieKindererziehung oder die Pflege von Angehörigen be-ruflich kürzer oder nicht?“, das ist eine Frage, die in denmeisten Beziehungen irgendwann diskutiert wird. Indiese persönlichen Entscheidungen hat sich der Staatnicht einzumischen; denn das geht ihn nichts an.
Ich akzeptiere und befürworte es, wenn Familien zu demSchluss kommen, dass ein Partner familienbedingt kurz-fristig oder dauerhaft auf ein Erwerbseinkommen ver-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1935
Sabine Weiss
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zichtet. Das ist ihr gutes Recht und ihre ureigenste Ent-scheidung. Ich akzeptiere aber nicht, dass Familien zudem Schluss kommen müssen, dass sie keine andereWahl haben, weil sie ihre Kinder oder andere Angehö-rige versorgen müssen.
Frauen bekommen aber nun einmal die Kinder, und da-ran wird auch der medizinische und technische Fort-schritt in den nächsten Jahrzehnten nichts ändern.
Frauen werden leider häufig für das Kinderkriegen oderdie Pflege ihrer Angehörigen und die damit in der Regelverbundene berufliche Auszeit bestraft, und das ist nichtrichtig.
Sie haben es gerade gesagt, Frau Müller-Gemmeke:Bei Berufen mit einem deutlich niedrigeren Erwerbsein-kommen handelt es sich vielfach, wenn auch nicht nur,um typische Frauenberufe. Heute stand im Übrigen inder Zeitung, dass der Unterschied bei Steuerberatern amgrößten ist: Die Frauen erzielen im Schnitt nur 56 Pro-zent des Bruttogehalts der Männer.Es gibt allerdings eine Ausnahme, die wir heute aucheinmal erwähnen sollten: Bei den Postboten liegen dieFrauen tatsächlich mit rund 100 Euro vorne.
Es wäre toll, wenn wir das demnächst auch in vielen an-deren Bereichen vorweisen könnten.
Eine Lohndifferenz von 22 Prozent ist nicht hinnehm-bar; aber noch weniger ist für mich die Lohndifferenzvon 7 Prozent hinnehmbar, die auch dann bleibt, wennman Kriterien wie Arbeitszeit, Berufswahl oder Er-werbsunterbrechungen berücksichtigt. An diese Proble-matik müssen und werden wir schnell und konsequentherangehen.
Ich stimme nicht mit allen Forderungen im Antrag derGrünen überein. Wir lehnen zum Beispiel, weil Sie, FrauMüller-Gemmeke, es erwähnt haben, ein Verbandsklage-recht und die Abschaffung der sachgrundlosen Befris-tung ab.
Dennoch sollten wir den heutigen Tag zum Anlass neh-men, gemeinsam Lösungen zu finden, um diese Unge-rechtigkeit endlich zu beenden. Dann können wir denEqual Pay Day entweder am 1. Januar begehen, oder wirverzichten darauf, weil wir ihn dann überhaupt nichtmehr brauchen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Cornelia
Möhring, Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es gibt wiederkehrende Ereignisse, die uns Freude ma-chen, Rituale, Gedenktage, die wir gerne begehen. Esgibt aber auch Tage, deren sich wiederholender Anlass,ehrlich gesagt, überhaupt kein Grund zur Freude ist, soauch der Equal Pay Day. Jedes Jahr stellen wir MitteMärz, nämlich am Equal Pay Day, fest, dass der Lohn-unterschied, auch Gender Pay Gap genannt, unverändertbei 22 Prozent liegt. Übrigens übertreffen nur Österreichund Estland diesen Lohnraub innerhalb Europas. Unver-ändert sind seit vielen Jahren auch die Analysen. Zuzwei Dritteln liegen die Gründe für die ungleichenLöhne in der miesen Bezahlung in den sogenanntenFrauenberufen und in der Tatsache, dass Frauen in mitt-leren und höheren Führungsebenen seltener als Männervertreten sind, sowie darin, dass der Anteil von Frauenbei den Teilzeitbeschäftigten oder im Niedriglohnbe-reich immer noch 80 Prozent beträgt. Das letzte Drittelkommt zustande, weil Frauen auch für gleiche Arbeitschlechter bezahlt werden. Das ist und bleibt ein riesigerSkandal.
Machen wir es doch einmal ganz konkret: Eine Groß-handelskauffrau erhält in 40 Jahren Erwerbstätigkeit271 000 Euro weniger als ein Großhandelskaufmann.Bei einer Köchin beträgt die Differenz 100 000 Euro. Ei-ner Ärztin entgehen in nur 35 Jahren 441 000 Euro, nurweil sie eine Frau ist. Der Lohnunterschied zwischen ei-ner Erzieherin und einem Maschinenschlosser beträgtauf das Berufsleben gerechnet 231 000 Euro. Ich frageSie: Warum bekommt eigentlich die Kollegin, die sichum das Wohl unser aller Nachwuchs kümmert, eigent-lich so viel weniger, obwohl sie doch faktisch sogarmehr Verantwortung übernimmt?
Das kann so nicht weitergehen. Es muss endlich glei-che Löhne für gleichwertige Arbeit geben.
Bis zur Rente wird aus dem 22-prozentigen GenderPay Gap ein 40,8-prozentiger Gender Pension Gap; dasist die Rentenungleichheit zwischen Frauen und Män-nern. Um dieser zunehmenden Altersarmut zu begegnen,müssen wir bei gerechten und guten Löhnen anfangen.Ich will jetzt nicht zur vorherigen Debatte zurückkom-
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1936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Cornelia Möhring
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men; aber ich glaube, wir haben gute Anknüpfungs-punkte, um zu begründen, warum es einen deutlich hö-heren Mindestlohn geben muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist ein weite-rer wichtiger Gedenktag, nämlich der Internationale Tagzur Überwindung von Rassendiskriminierung. Der er-wähnte Gender Pay Gap würde noch viel schlimmer aus-sehen, wenn wir die illegale Arbeit einbeziehen würden.Die Forschungslage ist dünn, aber sie ist existent. Ineiner Studie der Uni Hamburg wurde die Situation pa-pierloser Menschen in der Hansestadt untersucht. Dorterfahren wir von Haushaltshilfen, die in einer Sechstage-woche 280 Euro verdienen, und von einem durchschnitt-lichen Stundenlohn von 4 Euro, der in der Gastronomiebezahlt wird. Auch dafür – das sage ich ganz deutlich –brauchen wir dringend Lösungen, damit papierloseFrauen nicht weiter dieser doppelten Diskriminierungausgesetzt sind.
Was will nun die Große Koalition gegen diese Unge-rechtigkeiten unternehmen? Es soll Lageberichte zurFrauenförderung und Entgeltgleichheit in Betrieben mitüber 500 Beschäftigten und ein individuelles Auskunfts-recht geben. Da zittert schon der Equal Pay Day vor sei-ner Auflösung. Diese Vorschläge suggerieren nämlich,dass der Gender Pay Gap auf eine tragische Ansamm-lung von Einzelschicksalen zurückgeht. Doch genau dasist falsch. Es geht um massenhaften Lohnraub, um struk-turelle Diskriminierung von Frauen; es geht um politi-sches Versagen seit Jahren.
Ich finde es eigentlich nicht erstaunlich, dass das indem Antrag der Grünen geforderte wirksame Instrumentgegen diese Vereinzelung und gegen das politische Ver-sagen, nämlich ein Verbandsklagerecht, von der GroßenKoalition abgelehnt wird. Individuell gegen Diskrimi-nierung klagen ist ein Hindernislauf: Es ist aufwendig,es ist langwierig, es ist teuer, es ist mühsam. Könntenaber Verbände und Gewerkschaften oder sogar die Anti-diskriminierungsstelle Klage führen, müssten Fraueneben nicht mehr vereinzelt um ihre Rechte kämpfen.
– Sie würden davon sehr stark profitieren, ja.Die in dem Antrag der Grünen vorgeschlagenen Kri-terien und Bewertungssysteme, um gleichwertige Arbeitverbindlich vergleichbar zu machen und Berufe aufzu-werten, sind sehr sinnvoll. Wir teilen das. Ich erinnerebei dieser Gelegenheit daran, dass auch die SPD daschon einmal weiter war – vor GroKo-Zeiten. Denn wasist das für ein fragwürdiger Maßstab: Geht es um dasWohl der Menschen, wird mies bezahlt, geht es um Ex-traprofite und Wachstumswahn, wird Arbeit höher ge-schätzt. Das schadet uns allen, und das muss sich ändern.
Pflegerische und sorgende Arbeit muss dringend aufge-wertet und besser bezahlt werden. Sorgen Sie endlichdafür, dass wir den Equal Pay Day am 1. Januar feiernkönnen!
Vielen Dank.
Danke schön. – Für die SPD spricht jetzt Gabriele
Hiller-Ohm.
Meine hoch geschätzte Frau Präsidentin! Sehr ver-ehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Frauen müssen im Schnitt immer noch 80 Tage län-ger arbeiten, um auf den Jahreslohn von Männern zukommen. Das – da sind wir uns alle einig – ist beschä-mend.
Wo, so frage ich Sie, bleibt der laute Aufschrei in unse-rer Bevölkerung bei so hartnäckiger und langanhaltenderVerletzung unseres Grundgesetzes?Meine Damen und Herren und auch sehr verehrte Da-men und Herren auf den Tribünen, ich spreche oft mitSchülergruppen, und dann spreche ich auch diesesThema an. Ich habe festgestellt, dass das Thema Lohn-diskriminierung überhaupt nicht so wahrgenommenwird. Ich habe mich gefragt: Wie kann das sein? Warumist keine Empörung zu hören bei den jungen Frauen,aber auch bei den jungen Männern? Die Mädchen undjungen Frauen fühlen sich überhaupt nicht benachteiligtoder diskriminiert. Sie sind erfolgreich in der Schule, inder Ausbildung und im Studium. Sie haben die jungenMänner inzwischen in vielen Bereichen überholt. Dafällt es offensichtlich nicht nur den jungen Frauenschwer, sich vorzustellen, dass die ganzen Mühen ein-mal in Altersarmut enden könnten. Das Problem, meineDamen und Herren, ist in seiner Tragweite in den Köp-fen der Menschen überhaupt noch nicht angekommen.Blicken wir auf die letzten Jahre zurück: Wir habenuns auf politischer Ebene bei der Beantwortung derFrage von mehr Gerechtigkeit für Frauen in der Regelgestritten. Es gab keine breite Übereinstimmung in unse-rer Gesellschaft, Diskriminierung von Frauen abzuschaf-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1937
Gabriele Hiller-Ohm
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fen. Jetzt, meine Damen und Herren, haben wir eine guteChance, diesen dringend notwendigen Konsens zu errei-chen. Wir haben es geschafft, die CDU/CSU zu überzeu-gen, und werden es dann auch schaffen, Frauen inDeutschland endlich das zukommen zu lassen, was ih-nen zusteht: Gerechtigkeit.
Wir haben lange Zeit auf Freiwilligkeit gesetzt.
Die Wirtschaft hat uns dafür nur den Finger gezeigt, undnichts hat sich verbessert. Wir brauchen also klare ge-setzliche Regeln, damit die Benachteiligung von Frauenauf dem Arbeitsmarkt beseitigt werden kann. Ein Ent-geltgleichheitsdurchsetzungsgesetz, wie auch Sie, liebeKolleginnen und Kollegen der Grünen, es in Ihrem An-trag fordern, haben wir bereits in unserem Koalitionsver-trag festgeschrieben.
Wir wollen im ersten Schritt alle Unternehmen ab500 Beschäftigten dazu verpflichten, einen Bericht überden Zustand der Entgeltgleichheit in ihrem Betrieb vor-zulegen.Darüber hinaus brauchen wir ein gesetzlich festgeleg-tes individuelles Auskunftsrecht, und Regelungen zuverbindlichen Verfahren, wie Unternehmen Entgeltdis-kriminierung beseitigen können, müssen ebenfalls fest-geschrieben werden. Wichtig ist natürlich auch, überSanktionen nachzudenken, damit das Gesetz dann auchWirkung entfalten kann. Unsere FamilienministerinManuela Schwesig wird schon sehr bald Eckpunkte fürdieses wichtige Gesetz vorlegen.Aber Sie haben recht: Das reicht natürlich noch nicht.Ein weiterer Hemmschuh sind die Minijobs, die für vieleFrauen – besonders für die, die verheiratet sind und Kin-der haben – eine verheerende Teilzeitfalle darstellen.Minijobs sind für viele Frauen zunächst sehr attraktiv,um nach einer Familienphase wieder in das Berufslebeneinzusteigen. Man arbeitet Teilzeit, bezahlt keine Steu-ern, braucht keine Abgaben an die Sozialversicherungenzu entrichten und kann sich beitragsfrei über den Partnerkrankenversichern lassen. Die Zahlen bestätigen das:84 Prozent der Frauen, die ausschließlich in einem Mini-job arbeiten, sind verheiratet.So verlockend der Einstieg in eine Beschäftigungdurch einen Minijob ist, so verheerend ist der Klebe-effekt: einmal Minijob, immer Minijob!
Der Weg in die Altersarmut ist oft vorgegeben, vor al-lem, wenn die Ehe auseinandergeht, und inzwischenwird fast jede zweite Ehe geschieden.Wer Vollzeit gearbeitet hat und wegen der Familie aufTeilzeit gegangen ist, muss deshalb ein Recht auf Rück-kehr in den Vollzeitjob haben. Dieses Rückkehrrechtwird unsere Arbeitsministerin Andrea Nahles jetzt ge-setzlich verankern, und das ist gut so;
denn damit schaffen wir eine Alternative zum Minijob.Wir helfen damit auch den Vätern; denn genauso, wiesich viele Frauen wünschen, mehr arbeiten zu können,wünschen sich immer mehr Männer, weniger zu arbei-ten, um mehr Zeit für ihre Kinder zu haben, und auchdas ist gut so. Das müssen wir unterstützen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider werdenFrauen trotz guter Bildungsabschlüsse noch immer mitschlecht bezahlten Jobs abgespeist. Sieben von zehn Be-schäftigten im Niedriglohnbereich sind Frauen. Ich freuemich deshalb, dass Ministerin Nahles jetzt – wahrlich imEilzugtempo – ihre Vorschläge für ein Mindestlohnge-setz vorgelegt hat. Eins ist sicher: Ein gesetzlicher flä-chendeckender Mindestlohn wird vielen Frauen zu bes-seren Löhnen verhelfen, und auch das ist gut so.
Gut für Frauen ist außerdem, dass wir uns im Koali-tionsvertrag auf eine Quote für Frauen in Führungsposi-tionen einigen konnten. Auch an dieser wichtigen Stellehaben wir den politischen Streit beendet und setzen jetztauf Konsens. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür,dass sich in unserer Gesellschaft endlich ein neues Be-wusstsein entfaltet und Frauen genauso selbstverständ-lich Führungsaufgaben wahrnehmen können wie Män-ner.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der Bundes-tagswahl ist gerade einmal ein halbes Jahr vergangen.Wie sieht es aus? Wir haben im Koalitionsvertrag vieleVerbesserungen für die Menschen durchgesetzt, und wirhaben eine Regierung, die voll durchstartet. Diesmal istmir um die Frauen und Männer in unserem Land nichtbange.Danke schön.
Vielen Dank. – Frau Dr. Freudenstein, Sie haben jetzt
das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Am heutigen Equal Pay Dayschwebt die Zahl 22 als Symbol der Ungerechtigkeitüber allen Debatten und Forderungen. Diese Zahl löstbei vielen Wut und bei fast allen zumindest Unverständ-nis aus.
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1938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Dr. Astrid Freudenstein
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Frauen verdienen im Schnitt etwa 22 Prozent wenigerals Männer. Wir alle hier finden das vermutlich unge-recht, und doch können wir Gerechtigkeit – so viel Ehr-lichkeit muss in der Debatte sein – mit den uns zur Ver-fügung stehenden Mitteln so einfach nicht herstellen.
Man tut in Debatten, gerade wenn sie durch Wut auf-geladen sind, immer gut daran, sich zunächst die Ur-sachen für einen solchen Unterschied anzusehen. Indiesem Fall sind das die häufigen und oft langen fami-lienbedingten Erwerbsunterbrechungen von Frauen,Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie undBeruf, die hohe Teilzeitquote von Frauen, der nach wievor geringe Anteil von Frauen in Führungspositionenund die Wahl des Berufs oder der Branche. Die FAZfasste das vor wenigen Tagen in dem prägnanten Titelzusammen: „Zu lange raus, zu viel Teilzeit, der falscheBeruf“.Dort, wo gesellschaftliche Rahmenbedingungen fürdie Lohnunterschiede ursächlich sind, haben wir bereitseiniges auf den Weg gebracht und viele Verbesserungenerreicht. Wir haben die Betreuungsangebote ausgebaut,das Elterngeld mit Partnermonaten kombiniert und Pro-gramme zum beruflichen Wiedereinstieg nach der Fami-lienpause aufgelegt.
Das Betreuungsgeld macht es Frauen leichter, bei sichzu Hause eine sehr flexible Kinderbetreuung zu organi-sieren, und hilft damit beim Wiedereinstieg in den Beruf.Wir sind also auf einem guten Weg, haben aber noch ei-niges vor. So haben wir in der Großen Koalition verein-bart, das Teilzeitrecht zu reformieren und damit dieRückkehr zur Vollzeitstelle nach der Familienphase zuerleichtern; das wird Frauen helfen.
Es ist völlig klar: Elternschaft darf natürlich kein Kar-rierehindernis sein. Ganz im Gegenteil: Wir müssen vielmehr dahin kommen, dass Arbeitgeber noch mehr alsbisher erkennen, dass gerade Frauen, die Familie undBeruf unter einen Hut bringen, oft hochmotiviert, un-wahrscheinlich schnell und bestens organisiert sind.
Einer der wesentlichen Faktoren für geschlechtsbe-dingte Lohnunterschiede ist nach wie vor die Berufswahlvon Frauen. 70 Prozent der Beschäftigten im Niedrig-lohnsektor sind Frauen. Sie sind besonders häufig vonNiedrigstlöhnen betroffen. 90 Prozent der Friseure sindFriseurinnen. In der Erziehung und in der Pflege arbeitensogar zu mehr als 93 Prozent Frauen zu oft niedrigenLöhnen. Das sind nur einige Beispiele.
Dass Frauen aber trotz Girls’ Days und Infotagen nachwie vor scharenweise in typische sogenannte Frauenbe-rufe gehen, müssen wir hier alle zur Kenntnis nehmen,auch wenn es uns nicht unbedingt gefällt.
Nun wäre es einfach, wenn man hier allein mit Auf-klärung viel erreichen könnte. Ich weiß aber aus eigenerberuflicher Erfahrung an der Uni gut, dass gerade diejungen Abiturientinnen sehr gut wissen, was sie tun. Siewissen sehr gut, dass sie als Grundschullehrerin nichtreich werden. Aber sie wissen eben auch sehr gut, dassdieser Beruf mit nahezu jeder familiären und örtlichenLebenslage ausgezeichnet zu vereinbaren ist.
Die jungen Frauen wissen sehr gut, dass sie ein Ger-manistikstudium selten in die höchsten Führungsetagender deutschen Wirtschaft führt. Sie studieren es trotz-dem, weil es ihnen Spaß macht
und weil sie bekanntlich besser und mehr lesen als diemännlichen Kollegen. Junge Frauen wissen durchaus,dass soziale Berufe längst nicht so gut bezahlt sind, wiewir uns das wünschen würden und wie es angemessenwäre. Sie werden trotzdem Sozialarbeiterin, Erzieherin,Altenpflegerin. Ich begrüße das.Der Gender Pay Gap, die Lohnlücke zwischen Frauenund Männern, über die wir heute diskutieren, ist fürjunge Frauen, die einen Beruf wählen, kein sehr großesThema, zumindest keines, das sie in ihrer Entscheidungganz wesentlich beeinflussen würde. Das ist vielleichteiner der wesentlichen Gründe für diese 22 Prozent Lohn-unterschied.Wir müssen auch anerkennen, dass die Arbeitgeber,die in dieser Diskussion gelegentlich als vermeintlichSchuldige dargestellt werden, mit der jetzigen Situationhäufig selbst nicht sehr glücklich sind. Ich möchte Ihnenein Beispiel nennen: Die Maschinenfabrik Reinhausen,einer der größten Arbeitgeber in meiner Stadt Regens-burg, bemüht sich seit Jahren ganz gezielt darum, jungeweibliche Auszubildende und junge Ingenieurinnen zubekommen, weil man dort sehr genau weiß, wie gut ge-mischtgeschlechtliche Teams arbeiten und welche zu-sätzlichen Kompetenzen durch Frauen in den Betriebkommen. Der Erfolg ist mäßig. Das Interesse jungerFrauen an Berufen in der ausgesprochen gut bezahltenMetall- und Elektroindustrie ist überschaubar, obwohl esdort sehr flexible Arbeitszeitmodelle und ausgesprochensichere Arbeitsplätze gibt.
Symbolpolitik wird uns also nicht weiterbringen.Wichtiger ist es, die Folgen pragmatisch und lebensnahabzufedern. Der Mindestlohn wird, so hoffe ich, geradeden Frauen nützen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1939
Dr. Astrid Freudenstein
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Mit der Mütterrente verbessern wir die Lage vielerFrauen, die Kinder großgezogen und auf Erwerbsarbeitverzichtet haben und heute mit niedrigen Renten lebenmüssen. Die Erziehung von Kindern ist übrigens eineLebensleistung, die unsere Mütter ganz und gar unent-geltlich erbracht haben. Mit der Mütterrente würdigenwir die Erziehungsleistung von Frauen und verkleinerndamit zugleich die größte finanzielle Gerechtigkeits-lücke, die es zwischen Frauen und Männern im Ren-tenalter gibt.
Hat man alle äußeren Faktoren, die Lohnunterschiedeerklären können, berücksichtigt, so wird aus der verstö-renden Zahl von 22 Prozent die Zahl 7. Es bleibt immernoch eine Lohnlücke von etwa 7 Prozent zwischenFrauen und Männern, die wir uns nicht wirklich erklärenkönnen.
Bei gleicher Qualifikation und gleicher Berufserfahrungwerden Männer auf gleichen Positionen oft besser be-zahlt. Das wollen wir nicht hinnehmen.
Daher müssen wir auch weiter an den Ursachen arbeiten.Denn für gleiche Arbeit muss es selbstverständlich glei-ches Geld geben. Niemand von uns wird bestreiten wol-len, dass wir nach der Gleichberechtigung die Gleichbe-zahlung brauchen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort zu ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag hat jetzt die Kollegin Ursula
Schulte von der SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie allekennen sicher das Buch „Die unendliche Geschichte“von Michael Ende. Manchmal denke ich, dass die Be-schäftigung mit der rechtlichen Gleichstellung vonFrauen und Männern genau in diese Kategorie passt.
Denn das Thema steht schon sehr, sehr lange auf derpolitischen Agenda.Sicherlich, wir haben schon viel erreicht. Aber als ichvor genau 30 Jahren mit meiner kommunalpolitischenArbeit anfing, habe ich nicht im Traum daran gedacht,dass wir im Jahr 2014 von einer wirklichen Gleichstel-lung von Männern und Frauen noch so weit entfernt seinwürden.Ein wichtiges Thema für meine Fraktion und michsind vor allem die erheblichen Lohnunterschiede zwi-schen Männern und Frauen. Auch im 21. Jahrhundertgibt es da bei uns in Deutschland nach wie vor ein deut-liches Gefälle. Von einer Entgeltgleichheit kann nichtdie Rede sein. Die Gründe sind sicher vielschichtig.Aber Frauen verdienen immer noch bis zu 22 Prozentweniger, einfach deshalb, weil sie Frauen sind. Das istbeschämend, nicht akzeptabel und muss geändert wer-den.
Aber es kommt noch schlimmer. Im Laufe ihrer Er-werbsbiografie und vor allem mit steigendem Alter ver-ändert sich dieser Einkommensunterschied weiter zulas-ten der Frauen. Für diese Gerechtigkeitslücke gibt esverschiedene Ursachen. Der Erste Gleichstellungsbe-richt nennt insbesondere die familienbedingte Erwerbs-unterbrechung und vor allem die geringen Verdienst-möglichkeiten in frauentypischen Berufen sowie dasFehlen von Frauen in bestimmten Berufen und auf höhe-ren Führungsebenen. Deshalb kann ich Ihnen, liebe Kol-leginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, nurbeipflichten, wenn Sie in Ihrem Antrag fordern – ich zi-tiere –:Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche undgleichwertige Arbeit“ muss endlich durchgesetztwerden, damit Frauen gerecht entlohnt werden.
Es geht also darum, typische Frauenberufe aufzuwer-ten, die Teilzeitfalle zu durchbrechen, die prekären Be-schäftigungsverhältnisse abzuschaffen sowie ein Verfah-ren in Gang zu setzen, das Transparenz über dieEntgeltstrukturen in Betrieben und bei den Tarifvertrags-parteien sicherstellt. Genau das sieht der Koalitionsver-trag vor.Die Regierungskoalition hat sich unter anderem da-rauf verständigt, die direkte Lohndiskriminierung zwi-schen Männern und Frauen zu beseitigen, indem Unter-nehmen gesetzlich verpflichtet werden, einen Berichtzur Entgeltgleichheit vorzulegen, ein individuelles Aus-kunftsrecht einzuführen und sich verbindlichen Prüfver-fahren zu unterziehen. Unsere zuständige Ministerin ist– da bin ich vollkommen sicher – ein Garant dafür, dassdies auch umgesetzt wird.
Was wir in der Tat benötigen – darauf möchte ichganz besonders hinweisen –, ist ein aussagekräftigesPrüf- und Bewertungsverfahren zur Messung von Lohn-ungleichheit. Wir brauchen effektive Prüfsteine, diemöglichst viele Diskriminierungstatbestände erfassen.Es soll aber nicht nur bei Transparenz und Prüfung blei-ben. Wenn es tatsächlich einen Hinweis auf Entgeltdis-kriminierung gibt, benötigen wir auch Mittel und Wege,damit Betriebe und Tarifvertragsparteien aktiv werden
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1940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014
Ursula Schulte
(C)
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müssen. Und wir benötigen Maßnahmen zur Durchset-zung sowie entsprechende Sanktionsmöglichkeiten, umdiese Diskriminierung abzubauen. Wir brauchen alsoklare gesetzliche Regelungen.
Wenn wir Entgeltdiskriminierung aufdecken und an-gehen wollen, müssen wir alle handelnden Akteure insBoot holen. Es geht nicht gegeneinander, sondern nurmiteinander. Wenn wir hier und heute klare Signale andie Unternehmen senden, müssen wir ebenso dafür sor-gen, dass das Prinzip der Entgeltgleichheit auch in an-dere Politikbereiche einbezogen wird. Dazu zähle ich dieReform der Minijobs, die Einführung des flächende-ckenden Mindestlohns, die Diskussion über das Betreu-ungsgeld und insbesondere ein geschlechtergerechtesSteuersystem, Stichwort Ehegattensplitting.
In all diesen Bereichen besteht weiterhin sehr großerHandlungsbedarf, wenn wir die Entgeltgleichheit unddie Gleichstellung von Männern und Frauen wirklich re-alisieren wollen.Lassen Sie mich hier und heute das Thema Entgelt-gleichheit noch aus einer ganz anderen Perspektive be-leuchten, die mir persönlich sehr am Herzen liegt. AlsAbgeordnete für den Kreis Borken vertrete ich – wie esso schön heißt – den ländlichen Raum. Hier stellen sichmanchmal Probleme bzw. Fragen doch ein wenig andersdar. Ein Kernthema im ländlichen Raum, mit dem ich alslangjährige Kommunalpolitikerin häufig zu tun hatte,sind die Leistungen pflegender Angehöriger. Wenn ichvon pflegenden Familienangehörigen spreche, meine ichin erster Linie Frauen. Ich nenne sie inzwischen die ver-gessenen Frauen. Sie pflegen nach der Kindererziehungin der Mehrheit oft die eigenen Eltern oder Schwiegerel-tern, gar nicht so selten beide Elternpaare, ohne dassdiese Leistung gesellschaftlich anerkannt wird. DieseFrauen und auch die wenigen pflegenden Männer sindfür unsere Gesellschaft eine wesentliche Stütze.
Ohne sie würde das System der Pflege zusammenbre-chen, allein weil uns die finanziellen und personellenRessourcen fehlen.Fakt ist, dass mir die Entscheidung, ob ich als pfle-gender Angehöriger noch berufstätig sein kann odernicht, vielfach durch den Grad der Pflegebedürftigkeitabgenommen wird. Bei schwer demenzerkrankten Men-schen mit Weglauftendenz oder bei Menschen mitschweren körperlichen oder geistigen Behinderungen isteine Berufstätigkeit für die Pflegenden kaum denkbar.Deshalb benötigen wir neben einer neuen Wertschät-zungskultur – diese bitte nicht nur in Sonntagsreden –eine stärkere Berücksichtigung dieser Leistung bei denRentenansprüchen.
Es kann nicht sein, dass wir diese Frauen am Ende in dieGrundsicherung schicken. Hier tragen wir alle unmittel-bar Verantwortung. Auch das gehört für mich zu einergerechten Entlohnung von Frauen.Ich könnte noch viele andere Themen ansprechen.Aber ich habe meine Redezeit schon überzogen, wie ichgerade sehe.
Zum Schluss möchte ich doch noch einen Wunsch äu-ßern. Ich wünsche mir, dass spätestens die Generationmeiner Enkelin Charlotte, die jetzt neun Jahre alt ist,nach Leistung und Qualifikation bezahlt wird. Sie sollsich keine Gedanken mehr darüber machen müssen, wiesie Familie und Beruf miteinander vereinbaren kann.Kurz: Sie soll ein gleichberechtigtes, vielfältiges Frauen-leben führen. Dafür lohnt es sich doch zu kämpfen.Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
Vielen Dank, Frau Kollegin Schulte. Dass ich die
Zeitüberschreitung geduldet habe, war jetzt das Privileg
der ersten Rede. Das darf aber nicht zur Gewohnheit
werden. Trotzdem herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ers-
ten Rede.
Wir haben heute noch eine Premiere. Auch für die
Kollegin Antje Lezius ist es die erste Rede. Sie haben
jetzt das Wort, Frau Lezius.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So vielZeit muss sein: Ich darf den Landrat und einige Ortsbür-germeister aus meinem Wahlkreis Birkenfeld auf derTribüne begrüßen. Herzlich willkommen!
Ein Aspekt, der zur Ungleichheit führt, ist die Berufs-wahl junger Frauen. In meiner ehemaligen Funktion alsVorsitzende des Frauennetzwerkes BPW in Wiesbadenhabe ich festgestellt, dass es oft noch festgefügte Vor-stellungen über die klassische Rollenverteilung in denKöpfen gibt. Hier müssen wir nach wie vor ansetzen undFörderprogramme wie zum Beispiel den Girls’ Day wei-terhin hochhalten.Ein weiteres Best-Practice-Beispiel ist hier die Fahr-zeugbranche, die Ingenieure in die Schulen schickt, umMädchen für technische Berufe zu gewinnen, und dieFührungskräfte schult, um Verhaltensmuster und Vorur-teile, die in vielen von uns stecken, zu hinterfragen undDiversity Management zur Selbstverständlichkeit wer-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. März 2014 1941
Antje Lezius
(C)
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den zu lassen. Das ist eine konstruktive Art, mit diesenProblemen umzugehen.
Wir sagen jungen Frauen, dass sie selbstverständlichfür technische Berufe geeignet sind und dass eine Be-rufstätigkeit als Anlagenmechanikerin oder Tischleringenauso sinnstiftend ist und Freude bringen kann wie dieArbeit als Erzieherin oder Bürokauffrau.Es gibt aber auch zahlreiche Frauen, die nicht voll ar-beiten möchten, zum Beispiel weil sie mehr Zeit für ihreFamilien haben wollen. Ein flexibler Arbeitsmarkt, denSie immer gern kritisieren, funktioniert auch in die an-dere Richtung, nämlich mit maßgeschneiderten Ar-beitsangeboten, die moderne Unternehmen heute für undmit ihren Mitarbeitern gemeinsam gestalten.Wir trauen den Frauen mehr zu, als Sie es tun.
An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal die grüne Be-vormundungspartei.
Wir wollen Frauen, die ihre eigene Erwerbsbiografiebesser planen, um ein Klebenbleiben in atypischen Ar-beitsverhältnissen zu vermeiden. Dies geht freilich miteiner guten Ausbildung besser. Durch eine verstärkteNutzung der dualen Teilzeitausbildung kann zum Bei-spiel fast 50 Prozent der jungen Mütter zwischen 16 und25 Jahren ohne Berufsausbildung geholfen werden, sicheine Zukunft aufzubauen.Gleichzeitig setzen wir auf ein gesellschaftliches Um-denken. So möchten 60 Prozent der jungen Paare undFamilien Erwerbsarbeit partnerschaftlich umsetzen, abernur 14 Prozent schaffen dies. Hier sind wir alle gefor-dert, die Ursachen von Erwerbsungleichheit im Sinne ei-nes partnerschaftlichen Miteinanders zu beseitigen undechte Wahlfreiheit im Lebenslauf zu ermöglichen.
Schließlich wollen wir Frauen, die selbstbewusst ihreAnliegen vertreten. Dazu setzen wir neben geschlechter-gerechter Berufswahl auch auf die individuellen Fähig-keiten der Frauen, ihre Bedürfnisse und Anliegen offen-siv gegenüber ihren Arbeitgebern zu vertreten. Frauenkönnen viel, trauen sich aber oft selbst wenig zu.Wir werden in punkto Entgeltgleichheit gemeinsammit den Tarifpartnern Muster struktureller Ungleichheitin Tarifverträgen diskutieren und beseitigen. Gleichzei-tig werden wir uns konkret an Unternehmen wenden, umim Einvernehmen mit den MitarbeitervertretungenLohndiskriminierungen aufzuspüren und zu beseitigen.Wir halten diesen Weg für gangbarer als das von Ihnengeforderte Verbandsklagerecht. Wir vertrauen darauf,dass die Beteiligten ihr Unternehmen besser kennen undgemeinsam im Dialog mit Mitarbeitern und Tarifpart-nern bessere Lösungen finden.
Wir als Große Koalition sagen auch in aller Klarheit:Wir wollen gemeinsam mit der Wirtschaft etwas gegenden Fachkräftemangel tun. Dazu müssen wir weiblichesPotenzial finden und fördern; denn die Betriebe könnenes sich gar nicht mehr leisten, auf gut ausgebildete Mit-arbeiter, weibliche oder männliche, zu verzichten.
In den Unternehmen kommt diese Erkenntnis mittler-weile verstärkt an. Laut „Unternehmensmonitor Fami-lienfreundlichkeit 2013“ schätzen 80 Prozent der befrag-ten Unternehmen das Thema Familienfreundlichkeit imUnternehmen als wichtig ein. 2003 waren es lediglich47 Prozent. Sie sehen: Wir sind auf einem guten Weg.Allerdings dürfen wir hierbei auch die wirtschaftlicheLeistungsfähigkeit der Unternehmen nicht außer Achtlassen. Kleine Unternehmen müssen andere Anstrengun-gen vollziehen, um ihren Mitarbeitern maßgeschneiderteLösungen, etwa in Form flexibler Arbeitszeitmodelle, zubieten als große.Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel ist es,den Equal Pay Day jedes Jahr am 1. Januar zu begehen.Das ist ein großes Ziel, aber ein erreichbares. Ich bin derMeinung, dass das allerdings nicht mit Verboten, son-dern nur im ständigen und konsequenten Dialog geht. Daist jede Frau gefordert, für sich und andere Frauen einzu-stehen und sich gegenseitig zu unterstützen.Liebe Kolleginnen, gerne gebe ich allen Frauen mitauf den Weg: Die Decke ist gläsern, und ich gebe zu be-denken: Wie leicht bricht Glas.
Frau Kollegin, herzlichen Glückwunsch! Das war
nicht nur Ihre erste Rede,
sondern Sie waren auch die letzte Rednerin in dieser De-
batte.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/847 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 2. April 2014, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen allen
ein nicht zu arbeitsreiches Wochenende.