Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sieherzlich und wünsche uns einen guten Morgen und einenerfolgreichen Tag.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBundesbericht Forschung 2006– Drucksache 16/3910 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeFlach, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPRedeNeue Wege in der Technologieförderung er-greifen – Deutschland als Technologiestandortstärken– Drucksache 16/4863 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der AbgeordnetenMichael Kretschmer, Katherina Rdam), weiterer Abgeordneter undder CDU/CSU sowie der Abgeordneten Renézungen 11. Mai 2007.00 UhrRöspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDDie technologische Leistungsfähigkeit mitdem 6-Milliarden-Euro-Programm und derHigh-Tech-Strategie stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. HeinzRiesenhuber, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten RenéRöspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDForschungsprämie zur besseren Koopera-tion von Wissenschaft und Klein- und Mit-telunternehmen zügig umsetzen– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaPieper, Ulrike Flach, Uwe Barth, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPInnovationen brauchen Freiheit – Für mehrArbeit und Wohlstand– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaPieper, Ulrike Flach, Uwe Barth, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPtextInnovationen durch Investitionen – Sonder-programm für die Wissenschaft zur Verbes-serung der Kooperation mit der Wirtschaft
– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Krista Sager, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENTechnologiepolitik auf nachhaltige Innova-tionen ausrichten– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-cht zur technologischen Leistungsfähig- Deutschlands 2006 und Stellungnahme Ilse Aigner,
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Was haben wir erreicht? Wohin wollen wir? Ich bindavon überzeugt: Die Hightechstrategie, an der zahlrei-che Häuser der Bundesregierung beteiligt sind, ist derInstrumentenkasten für die natürliche Partnerschaft zwi-schen Wissenschaft und Wirtschaft. Die Hightechstrate-gie ist verbunden mit deutlich höheren Investitionen inForschung und Entwicklung sowie mit neuen Anreiz-systemen und Instrumenten; ich erinnere an dieser Stellean die Forschungsprämie, die wir in den nächsten Jahrenzunächst auf kleine und mittelständische Unternehmenfokussieren. Wir haben damit einen Einstieg gemacht.Die Erfahrungen mit diesem Anreizsystem werden unsdann zur Diskussion über die Fragen führen: Wie entwi-ckeln wir weiter? Welche anderen Anreizsysteme gibtes? In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mitden Instrumenten zu beschäftigen haben, die in anderenLändern der Europäischen Union erfolgreich praktiziertwerden.Lassen Sie mich etwas zum Wettbewerb „Austausch-prozesse zwischen Wissenschaft und Wirtschaft“ desStifterverbandes und meines Hauses sagen: GesternAbend hat die Verleihung des Preises stattgefunden.Fünf Standorte, interessanterweise übrigens auch zweiFachhochschulen, wurden für ihre besonders gelungenenProzesse des Austausches zwischen Hochschule und Un-ternehmen ausgezeichnet.
Schließlich bereiten wir derzeit gemeinsam mit demStifterverband einen Wettbewerb zur Förderung vonSpitzenclustern vor. Das heißt – das halte ich für einegute Entwicklung –: In Deutschland wird nicht allein dieExzellenzinitiative das Instrument sein, mit dem die Ex-zellenz in der Forschung und in den Formen der strategi-schen Allianzen gefördert wird, sondern wir schaffenweitere Instrumente. Wir entwickeln einen ausdifferen-zierten Instrumentenkasten. Das wird Früchte tragen.Zum Berichtswesen: Der Bundesbericht Forschung2006 ist auch Teil dieser Debatte. Er war der letzte seinerArt. Ich sage Ihnen zu: Das Volumen des nächsten Be-richtes kann deutlich weniger umfangreich sein als dieVolumina der letzten Berichte, der Bericht sollte dafüraber stärker auf das Thema Innovation fokussiert sein.Es geht nicht um die Sammlung irgendwelcher Fakten,sondern um die Sammlung der Fakten, die wir brauchen,um hier darüber zu diskutieren, was die richtigen Wegezu mehr Innovation sind.Die entscheidende Botschaft ist: Wir haben seitens desBundes 2006 11,8 Millionen Euro für Wissenschaft, For-schung und Entwicklung ausgegeben. Das ist eine deutli-che Steigerung.
– Milliarden! Vielen Dank, Herr Kollege Tauss. Es wa-ren 11,8 Milliarden Euro.
Das ist die Basis. Jedem ist auch klar: Bei den Haus-haltsverhandlungen 2008 wird die positive Nachrichtvon Dynamik in der Wirtschaft auch zu einer positivenNachricht für Investitionen in FuE führen müssen;denn 3 Prozent von 100 ist weniger als 3 Prozent von200.
Das heißt, wir müssen weiter zulegen. Ich erwarte ent-sprechendes Verhalten auch von den Ländern und vonden Unternehmen in Deutschland.
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
Wir wollen nicht zunehmen – das wird uns jetzt verboten –,sondern wir wollen zulegen. Ich rede jetzt auch nicht überErnährungsforschung – das habe ich Herrn Westerwelleeben versprochen –, weil dazu schon alles gesagt ist.
Mit der Hightechstrategie haben wir die Weichen ge-meinsam richtig gestellt. Ich nenne als Beispiel für stra-tegische Allianz die Initiative zur Forschung an organi-schen Leuchtdioden, bei der wir 100 Millionen Euro, dieWirtschaft 500 Millionen Euro zur Verfügung stellen.Weitere solche Vereinbarungen sind in Vorbereitung.Wir bereiten derzeit gemeinsam mit Wirtschaftsmi-nisterium, Umweltministerium, Verbraucherschutzmi-nisterium und dem Ministerium für Verkehr, Bau undStadtentwicklung eine Strategie zum Thema Energieef-fizienz vor. Wir werden die Entwicklung modernerEnergietechnologien mit rund 2 Milliarden Euro bis zumJahre 2009 fördern.Auf dem Klimaforschungsgipfel in Hamburg habenwir Vorbereitungen getroffen, um im Herbst die High-techstrategie für den Klimaschutz vorzulegen.
Wir werden übrigens allein mit dem Klimaschutzpro-gramm, das vorgelegt worden ist und über das KollegeGabriel gesprochen hat, 255 Millionen Euro zur Verfü-gung stellen.Es müssen also immer zusammenspielen: Erhöhungder Finanzinvestitionen, Erneuerung unserer Konzepte,Förderung all der Instrumente, die strategische Allian-zen, die die Partnerschaft zwischen Wissenschaft undWirtschaft befördern. Dann gilt – davon bin ich über-zeugt – ab 2010 der Satz: Steuerpolitik ist Innovations-politik. Unternehmen, die mehr in Forschung investie-ren, müssen das bei ihrer Steuerlast spüren. Ich bindavon überzeugt: Das wird die Fortsetzungsgeschichtenach der Einführung der Forschungsprämie sein müssen.
Zwei weitere Punkte möchte ich nennen; dann istmeine Redezeit abgelaufen; Herr Präsident, ich weiß es.Forschungsinfrastruktur: Wir sind dabei, mit inter-nationalen Partnern XFEL vorzubereiten. Im Juni soll esden Startschuss in Hamburg geben. Auch das ist wichtig.Schließlich: Wer Forschung und Entwicklung beför-dern will, muss dafür sorgen, dass Qualifizierung ge-lingt. Deshalb bereitet die Bundesregierung – mit ge-meinsamen Anstrengungen des Bundes, der Länder, derStiftungen und anderer Experten – bis Herbst eine Quali-fizierungsinitiative vor, um auch im Bereich der Qualifi-zierung die Voraussetzungen zu schaffen, die notwendigsind, damit wir auch den wichtigen, von mir zuletzt ge-nannten Punkt erreichen: dass jeder Innovationswettbe-werb nicht nur mit Finanzen und Konzepten, sondernauch mit dem Erfolg im weltweiten Talentwettbewerbverbunden ist.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Pieper, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Frau Ministerin, eine auf Zukunft ausge-richtete Forschungspolitik schafft die Grundlage für In-novationen und damit für neue Arbeitsplätze und nach-haltiges Wachstum.
Deswegen ist für uns die Forschungs- und Bildungspoli-tik das Kernthema deutscher und europäischer Politik,und deswegen legen wir, Frau Ministerin, großen Wertdarauf, dass diese Bundesregierung auf die Forschungs-förderung ein weitaus größeres Augenmerk richtet, alses bisher der Fall ist.
Ihre Hightechstrategie, Frau Ministerin, ist eine An-sammlung von Forschungsprogrammen bis zum Jahr2009, aber sie lässt eben keine strategische Ausrichtungerkennen, wie Deutschland als europäischer und interna-tionaler Forschungsstandort etabliert werden könnte.
Bei einer solchen Strategie müssen wir – dass das bei Ih-rer Strategie fehlt, bemängeln wir – auf Spitzenfor-schung und auf Wachstumsbranchen in der Wirtschaftsetzen. Dafür stehen für uns Liberale im Kern die fol-genden drei Bereiche: Biotechnologie, Gesundheitsfor-schung und Energie- und Klimaforschung.
Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel nennen: Diepharmazeutische Industrie, Herr Tauss, ist ein Wachs-tumsmotor. Mit einem Forschungsanteil von 78 Prozentträgt sie überdurchschnittlich zum 3-Prozent-Ziel derWirtschaft bei. Die Wirtschaft hat ihre Hausaufgaben ge-macht. Sie ist die tragende Säule der Forschungsfinan-zierung in unserem Land. Ihre Ausgaben hierfür stiegenin den letzten zehn Jahren von 27 Milliarden auf heuterund 40 Milliarden Euro. Das kommt natürlich auch beiden hohen Exportraten für Technologiegüter zum Aus-druck. Deutschland ist dabei Exportweltmeister.Die Ausgaben für Forschung von Bund und Länderndagegen stagnieren. Waren es 1997 noch 15,6 MilliardenEuro, so sind es heute 16,8 Milliarden Euro. Man merktkeinen großen Unterschied. Die Lissabonstrategie, dieSie, Frau Ministerin, immer betonen, verlangt von uns,für Forschung 3 Prozent vom BIP auszugeben. Mit denWeichenstellungen, die bis jetzt im Haushalt vorgenom-men worden sind, werden wir dieses Ziel aber nicht er-reichen. Der Anteil der Forschungsausgaben liegt jetzt
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Cornelia Pieperbei 2,46 Prozent, bei rückläufiger Tendenz. Deswegenmeinen wir, wir müssen klotzen und nicht kleckern. DieBundesregierung muss mehr in Bildung und Forschunginvestieren. Das vermissen wir. Insbesondere gilt das fürdie Länder, die das Ziel, einen Anteil von 3 Prozent desBIP bei den Forschungsausgaben zu erreichen, in ihrenHaushalten zum Teil gar nicht berücksichtigen.
Ich glaube, es reicht nicht aus, halbherzige Positionenbezüglich der Forschung zu beziehen. Ich nenne dasStichwort Forschungsprämie – Sie sind darauf einge-gangen, Frau Ministerin –: Wir haben begrüßt, dass dieBundesregierung dieses Konzept, das die FDP seit derletzten Legislaturperiode verfolgt, realisiert hat. Leiderfördert die Prämie so, wie sie jetzt umgesetzt wurde,nicht die eigentlichen Forschungsarbeiten zur Gewin-nung neuen Wissens, sondern setzt den Schwerpunkt aufden Technologietransfer bereits vorhandener FuE-Er-gebnisse, zum Beispiel auf Workshops mit der Wirt-schaft zur Feststellung des Forschungsbedarfs. AuchMessungen zur Validierung von Forschungsergebnissenfinden, einmal abgesehen vom sehr bürokratischen An-tragsverfahren, nicht statt.
Die Einschränkung bei der Verwendung der Mittel hatin der Praxis die Folge – Herr Tauss, hören Sie gut zu,dann können Sie etwas lernen –, dass die Prämie nichtzur Finanzierung von Forschungstätigkeiten wie demKauf von Geräten oder der Einstellung von Forschungs-personal verwendet werden darf. Das heißt, untermStrich werden dadurch eben nicht die Defizite in der Zu-sammenarbeit mit der Wirtschaft abgebaut und keineneuen Kooperationen gefördert.
Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie die bürokrati-schen Hürden fallen! Hören Sie auf die Unternehmen!Hören Sie auf die Wirtschaft! Wir brauchen neue Inno-vationsimpulse, damit das 3-Prozent-Ziel erreicht wird.Frau Ministerin, handeln Sie hier!
Seit Jahren zeigt sich, dass die industrielle Umset-zung von Forschungsergebnissen aufgrund einer struk-turellen Lücke im Innovationsprozess nicht mit der ge-botenen Effizienz erfolgt. Was heißt das? Diese Lückeresultiert aus der nicht ausreichenden Reife der For-schungsergebnisse und führt zu einer mangelhaften At-traktivität für Investoren – Industrie wie auch kleine undmittelständische Unternehmen – für die das betriebswirt-schaftliche Risiko bei einer Produktentwicklung bei feh-lender Validierung zu groß ist.Führen Sie einen Innovationsfonds der deutschenForschung ein, wie ihn die Max-Planck-Gesellschaft for-dert! Das wäre der richtige Weg. Vor allen Dingen: Zol-len wir den Wissenschaftlern in unserem Land endlichmehr Anerkennung! Lassen wir endlich zu, dass einWissenschaftstarifvertrag geschlossen wird! Denn derTVöD ist der größte Hemmschuh für Spitzenforschungin diesem Land, dafür, dass internationale Wissenschaft-ler hierher kommen bzw. Nachwuchs im Land bleibt.Wir brauchen mehr Anerkennung für die Wissen-schaft. Wir brauchen ein weitaus forschungsfreundliche-res Klima in diesem Land. Deswegen rege ich an, FrauMinisterin, dass jedes Ministerium des Bundes jedesJahr einen Forscherpreis auslobt und nicht nur Ihr Hausauf diesem Gebiet aktiv wird. Es ist gesellschaftspoli-tisch einfach nicht mehr einzusehen, dass ein Fußballstarin Deutschland Gagen in Millionenhöhe bekommt, jungeSpitzenforscher aber keinerlei Anerkennung erfahren.Darauf, dass sich das ändert, legen wir als Liberale gro-ßen Wert.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Keine Angst; ich werde den Bundesbericht nicht
vorlesen.
Ich wollte Sie schon darauf aufmerksam machen, dass
die Redezeit dafür vermutlich nicht reichen würde.
Deutschland ist zum vierten Mal hintereinanderExportweltmeister.
9,2 Prozent aller in der Welt exportierten Waren habenden Stempel „Made in Germany“. Das hat viele Gründe.Es liegt sicherlich daran, dass wir viele fleißige und guteArbeitnehmer haben, die übrigens lange genug Lohnver-zicht geübt haben. Es liegt auch daran, dass wir vielegute, kreative und verantwortungsbewusste Unterneh-mer haben.Aber darauf werden wir uns nicht ausruhen können.China hat im letzten Jahr die USA von Platz zwei aufPlatz drei verdrängt. Ich gehe davon aus, dass wir nächs-tes oder spätestens übernächstes Jahr den Weltmeister-titel an China abgeben werden. China hat Riesenvor-kommen an Rohstoffen, wir nicht. Unser Potenzial sinddie gut ausgebildeten Menschen, die hier leben. Die Ba-sis unseres Erfolgs lässt sich mit zwei Worten ausdrü-cken: Bildung und Forschung.
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René Röspel
Eigentlich müsste ich deswegen nicht nur den Bundesbe-richt Forschung hier liegen haben, sondern auch den na-tionalen Bildungsbericht, den wir demnächst sicherlichauch diskutieren werden. Beides gehört zusammen, istunabdingbar verknüpft in einer Gesellschaft, die nichtnur sozial, sondern auch wirtschaftlich und im For-schungsbereich nach vorne kommen will.
Zuständig für Bildung und Forschung ist nicht nur derBund. Auf der einen Seite sind es die öffentlichenHände, Bund und Land, auf der anderen Seite – es istschon erwähnt worden – die Wirtschaft. Auch aus demBundesbericht geht hervor, dass es in den Ländern – ichweiß, es ist nicht einfach –
deutliche Defizite gibt, was die finanzielle Förderungangeht. Ich würde mir – das ist dringend nötig – eine Re-form des Bildungswesens in Deutschland wünschen.Dafür sind originär die Länder zuständig.
In Nordrhein-Westfalen, meinem Heimatland, hat dieSPD bereits eine Diskussion über ein modernes und ge-rechtes Schulsystem begonnen. In Baden-Württemberggibt es eine interessante Initiative von 100 Hauptschu-len, die sich an das Kultusministerium gewandt und dieLandesregierung aufgefordert haben, endlich das unge-rechte dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen.
Als Forschungspolitiker spricht man ja gerne auch ein-mal über die Bildung.Die zweite wichtige Säule ist die Wirtschaft. Sieträgt große Teile der Investitionen in Forschung und Ent-wicklung. Das ist gesagt worden; aber trotzdem ist esrichtig. Die Wirtschaft profitiert eben auch von dem, wasdie öffentliche Hand, was Bund und Land für Bildungund Forschung zur Verfügung stellen. Deswegen habeich kein Verständnis, wenn die Wirtschaft – die Zahlendes Stiftungsverbandes der deutschen Wirtschaft, FrauPieper, sprechen da eine deutliche Sprache – ihrer Ver-pflichtung zur Steigerung von Forschung und Entwick-lung in gehörigem Maße nicht nachkommt.
Deswegen habe ich auch kein Verständnis, wenn Unter-nehmen Rekordumsätze machen, aber gleichzeitigArbeitsplätze abbauen, wenn sie Rekordgewinne aus-schütten, aber immer weniger in die Köpfe ihrer Be-schäftigten und in Forschung und Entwicklung investie-ren.
Wenn man den Finger nach außen richtet, zeigen janach Gustav Heinemann drei Finger zurück: Die dritteSäule ist der Bund. Auch wir haben hier eine Aufgabeund spielen selbstverständlich eine wichtige Rolle. Ichdarf in Erinnerung rufen – das gehört zur Geschichte –:Zwischen 1998 und 2005 hat die SPD zusammen mitdem damaligen Koalitionspartner, den Grünen, Bildungund Forschung erst wieder nach vorne gebracht. Wir ha-ben die Ausgaben für Bildung und Forschung von 1998bis 2005 um 37 Prozent erhöht.
Frau Pieper, in Ihrer Regierungszeit war Bildung undForschung ein Auslaufmodell, die Etats gingen nach un-ten. Wir haben sie erst wieder gesteigert. Wir sind froh,dass wir mit dem neuen Koalitionspartner diesen erfolg-reichen Kurs noch einmal verstärkt fortsetzen können.
Ein Beispiel dafür ist die Exzellenzinitiative. Das istein Wettbewerb zur Förderung von Spitzenleistungen anUniversitäten, der in diesem Bereich bereits für großeDynamik und Bewegung gesorgt hat. 1,9 Milliarden Eurowerden wir bis 2011 zur Verfügung stellen; drei Vierteldavon trägt der Bund, ein Viertel tragen die Länder.Mit dem Pakt für Forschung und Innovation si-chern wir den großen deutschen Forschungsorganisatio-nen zu, jedes Jahr bis zum Jahr 2010 verlässlich3 Prozent mehr Mittel zur Verfügung gestellt zu bekom-men. Dass sich das lohnt, sieht man, wenn man in denBericht hineinschaut. Ich möchte einige Beispiele – beifast 800 Seiten kann ich nicht alle nennen – anführen.54 der weltweit am meisten zitierten Wissenschaftler imBereich der Grundlagenforschung kommen aus der deut-schen Max-Planck-Gesellschaft.
Schaut man sich an, welche Institute mit ihrer Publika-tionszitierung in wissenschaftlichen Zeitschriften welt-weit vorne liegen, dann stellt man fest: In den BereichenChemie, Physik, Materialwissenschaften und Weltraum-wissenschaften ist die Max-Planck-Gesellschaft aufPlatz eins – Entschuldigung, dass ich sie zweimal nenne.Wir sind hier erfolgreich.
Auch für Erfolge im Bereich der angewandten For-schung gibt es gute Beispiele. Jedes Kind kennt mittler-weile den MP3-Player, eine Entwicklung der Fraunho-fer-Gesellschaft aus Deutschland. Das zeigt aber auchdie immer noch vorhandenen Probleme des Technolo-gietransfers, ohne Frage.
Die Fraunhofer-Gesellschaft macht zu 90 Prozent Ver-tragsforschung für Industrie, Handel und Dienstleistungenöffentlicher Hand, die sehr erfolgreich ist. Die Leibniz-
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René RöspelGemeinschaft, die ich in der letzten Ausschusssitzungals Gemischtwarenladen bezeichnet habe, wird aufSeite 84 des Berichtes treffend charakterisiert:Vielfalt bei gleichzeitig hoher Qualität, Effektivitätund Effizienz der wissenschaftlichen Arbeit.Ein berechtigtes Lob.
Wir können uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen.Die Chinesen schlafen nicht, schon gar nicht um9.20 Uhr deutscher Zeit. Der dickste Brocken beimExport – Sie sprachen es an; das muss man analysieren –sind Autos. Der Großteil der privaten Forschungsgelderund Investitionen geht in wenige Bereiche: Kfz-Bau,Elektrotechnik, Chemieindustrie.
– Und Maschinenbau, danke; im letzten Jahr aber übri-gens mit rückläufigen FuE-Investitionen.
Das ist sehr bedenklich. Wir sind zusammen mit denSchweizern ziemlich weit oben im internationalen Ma-schinenbau, aber Forschung und Entwicklung gehen zu-rück.Das bedeutet für die öffentliche Forschungsförderung– das ist unsere Aufgabe –, dass wir zusätzliche For-schungsfelder identifizieren und unterstützen müssen,die uns parallel zu diesen großen Bereichen Zukunfts-chancen eröffnen. Das sind zum Beispiel diejenigen, diewir – Frau Ministerin Schavan erwähnte es schon – inder Hightechstrategie beleuchten, mit der wir 6 Milliar-den Euro bis 2009 zusätzlich zur Verfügung stellen:Nanotechnologie, Informations- und Kommunikations-technologie, Verkehrstechnologie und Gesundheitsfor-schung. Insbesondere diese ist nicht nur technologischinteressant, sondern für die Menschen unmittelbar; ichnenne hier das Stichwort Krankheitsbekämpfung. Beider Umwelttechnologie sind wir bereits Exportweltmeis-ter; hier steht noch ein gigantischer Markt zur Ver-fügung. Nicht zuletzt nenne ich auch die Energietech-nologie. Wenn es uns gelingt, neue Energieträger zumobilisieren, die umweltfreundlich sind und die hier vorOrt angewandt werden können, und wenn wir die Effi-zienz dieser Technologie steigern können, dann schafftdas nicht nur mehr Exportmöglichkeiten, es schafft vorallen Dingen im Inland mehr Arbeitsplätze, wir könnendamit das Klima und die Umwelt schützen und den Frie-den nach innen und außen sichern.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Petra Sitte, Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für dieBewertung der Hightechstrategie hat sich mir ein Bildaus dem Umweltbereich aufgedrängt. Die Hightechstra-tegie der Bundesregierung erscheint mir ein bisschenwie eine Flussbegradigung, also quasi wie die Begradi-gung eines Erkenntnisstromes aus Wissenschaft undForschung. Die Seitenarme intellektuellen Artenreich-tums dieses Flusses werden nämlich weitestgehenddurch die Hightechstrategie ausgetrocknet.Ich will Ihnen sagen, warum ich diese Feststellungtreffe: weil jegliche zu fördernden Aktivitäten ihre Exis-tenzberechtigung im Wesentlichen aus einem gemeinsa-men Nenner ableiten. Europa – ich zitiere Sie – soll zueinem „wissensbasierten, wettbewerbsfähigen For-schungsraum“ und der angeschlossene „europäischeForschungsraum zu einem wirklichen Forschungsbin-nenmarkt“ werden. Also all das, was nicht direkt in dieseRichtung fließt, wird demzufolge kaum etwas vom Mil-liardenregen der Hightechwolke der Bundesregierungauffangen können.
Ihre Zuwendungsvoraussetzungen für Förderpro-gramme besagen ganz klar – ich zitiere wieder; daskann man nachlesen –:Die Projekte müssen unter industrieller Federfüh-rung stehen. In Ausnahmefällen können auch Ein-zelvorhaben von Unternehmen gefördert werden.Wohlgemerkt, wir reden hier über öffentliche Mittelin Höhe von 14,5 Milliarden Euro, die sich aus Steuer-geldern speisen. Ein gehöriger Teil dieser Mittel stammtaus der Besteuerung von Löhnen und Gehältern.Ich will an dieser Stelle deshalb darauf verweisen,weil diese Hightechstrategie natürlich positiv die Fragebeantworten muss, wem sie am Ende wirklich nutzensoll.
Wie wirkt sie sich denn am Ende tatsächlich auf die Ver-besserung der Lebensqualität der Menschen in diesemLand aus?Eine Gewinnergruppe können wir schon heute be-nennen: Das sind die großen Unternehmen der soge-nannten Hightechbranche, also jene, die es bereits imVorfeld dieser Hightechstrategie durch ihre Interessen-verbände geschafft haben, die Schwerpunktsetzung indiesen Programmen auf sich selbst zu lenken. Erkennt-nis- und Wissensanwendung wird vor allem dann öffent-lich gefördert, wenn sich dafür bereits jetzt ein Marktabzeichnet oder wenn man wie im Bereich der Sicher-heitstechnologien einen Markt erst künstlich schaffenwill. Innovative kleine und mittelständische Unterneh-men dagegen, die häufig vor dem Hintergrund struktur-schwacher Regionen wie im Osten die Keimzellen sind,werden es deutlich schwerer haben, sich um Projektför-derung zu bewerben und sich dann auch zu behaupten.
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Dr. Petra SitteDazu muss ich sagen: Ich bin einigermaßen froh, dasses nach endlosem Drängen auch meiner Fraktion nun ge-lingen soll – dies ist schon von Frau Pieper angespro-chen worden –, bis zum Sommer eine Art Forschungs-prämie für innovative kleine und mittelständischeUnternehmen aufzulegen, wie es sie bereits für andereöffentliche Wissenschaftseinrichtungen gibt.Frau Ministerin, damit wir uns nicht falsch verstehen:Sie haben als Hauptidee dieser Strategie die Auflage ei-ner modernen Form staatlicher Innovations- und Wirt-schaftsförderung angekündigt. Mit deren Hilfe sollenneue Arbeitsplätze insbesondere in strukturschwachenRegionen entstehen. Dagegen legen wir natürlich über-haupt keinen Widerspruch ein. Widerspruch melden wiran, weil sich schon jetzt abzeichnet, dass diese Hightech-strategie in Teilen nicht eingehalten werden kann. Eswerden eben nicht nur wichtige strategische Partner wiedie zitierten innovativen kleinen und mittelständischenUnternehmen vernachlässigt. Was dem Programm der-zeit auch völlig fehlt, ist ein Konzept, wie man diesemriesigen Fachkräftebedarf begegnen will. Weiterbil-dung und Fortbildung spielen in diesem Konzept kaumeine Rolle.
Bei der Umsetzung der neuen Hightechstrategie wer-den aber auch neue Konflikte und neue Konfliktlinienentstehen. Man kann schon jetzt in einzelnen Förderbe-reichen Problematisches erkennen. Im Programm selbstfinden sich kaum Mittel für Projekte zur Risikoabschät-zung und für die Voraussetzungs- und Begleitforschung.Es zeichnet sich bereits jetzt ein mangelnder Daten- undVerbraucherschutz ebenso ab wie fehlende Transparenzin der Mittelbewilligung. Es fehlen bei der Umsetzungdieses Programms Ansätze für einen öffentlichen Dialogzwischen Interessierten, Betroffenen, Experten sowieVertretern und Vertreterinnen aus Wirtschaft und Politik.Ihr Innovationskreis ist zwar für Sie eine interessanteBeratungseinrichtung; aber er findet nicht öffentlichstatt. Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften findenin dem Programm nur dann Erwähnung – das ist be-zeichnend –, wenn sie der Erklärung und damit am Endeauch einer höheren gesellschaftlichen Akzeptanz gegen-über sensiblen und besonders umstrittenen Technologiendienen.Schließlich werden wir – da bin ich mir sehr sicher –mit dem Programm vor dem Problem stehen, dass beianwendungs- und industriebezogener Forschung die Un-ternehmen – das ist natürlich – ein Geheimhaltungsinte-resse haben. Das widerspricht den Zielen öffentlicherForschungsförderung. Ich will Ihnen diese Kritik gern aneinem Beispiel erläutern. Das Programm „IKT 2020“dient der Subventionierung von Informations- und Kom-munikationstechnologien.
Viele Projekte gelten offenbar nützlichen und Erfolg ver-sprechenden Innovationen. Das wiederum kann ich nurvermuten und hoffen. Aber viele Projekte, die sich dortfinden, sind inhaltlich noch nicht genau beschrieben.So soll beispielsweise die Funkchiptechnologiekünftig weit mehr leisten als reine Identifikation in vie-len Transport- und Vertriebssystemen, in Fertigungsanla-gen zur Prozesssteuerung oder in Teilen des Einzelhan-dels. Eingebaute Funksensoren in Produkten machenauch umfassende Datenerfassung und Datenauswertungüber Einzelpersonen möglich. Produkte bekommen ge-wissermaßen ein Gedächtnis. Das Nutzer- und Verbrau-cherverhalten kann so lückenlos dokumentiert werden,und zwar ohne dass es die Betroffenen merken. Zu die-ser Problematik gibt es aktuell keine verbindliche Selbst-verpflichtung der Wirtschaft zum Datenschutz. Die be-stehenden gesetzlichen Regelungen reichen in diesemBereich überhaupt nicht aus.
Nun kann ja mancher hier, sowohl auf der Tribüne alsauch Sie im Saal, meinen: Das betrifft mich ja allesnicht. – Weit gefehlt, kann ich Ihnen da nur sagen. Dennes bezieht sich auf Ihr Kauf- und Fahrverhalten genausowie auf Ihren Fernseher und PC an jedem denkbaren Ort,ob in Ihrer Wohnung, im Garten oder sonst wo. Entwick-lungen dieser Art halten wir für höchst problematisch.Deshalb wollen wir sie nicht auch noch mit öffentlichenFördergeldern ausstatten und vorantreiben.
Weitere Beispiele ließen sich aufzählen für den Be-reich der Sicherheitstechnologien, für Teile der Gesund-heits- und Medizintechnik, für nukleare Energietechno-logien, für die Grüne Gentechnik, für Fahrzeug- undVerkehrstechnologien, aber auch für Querschnittstech-nologien wie die Nanotechnologie.
Für die Hightechpolitik der Bundesregierung ist übri-gens auch symptomatisch, dass für die aus den For-schungsvorhaben gewonnenen Patente und Nutzungs-rechte keinerlei Auflagen gemacht werden. Offenbar giltFolgendes: Die Kosten für Forschung und Entwicklungsind gesellschaftlich aufzubringen, später anfallendeVerwertungsgewinne dagegen werden privatisiert.Je tiefer ich mich bei der Vorbereitung und im Zugeunserer Beratungen im Ausschuss in die Hightechstrate-gie eingearbeitet habe, desto mehr bestätigt sich für michfolgende Erkenntnis: Öffentliche Forschungsförderungund die grundgesetzlich garantierte Freiheit von For-schung und Lehre stehen immer weniger im Dienste derGesellschaft.
Unlängst – Sie erinnern sich ganz gewiss an die Tumulte –wurde am Bundestag die Inschrift „Dem deutschenVolke“ durch ein Transparent verhängt, auf dem „Derdeutschen Wirtschaft“ stand.
Nachdem ich die Hightechstrategie studiert habe, kannich nur sagen: Die Protestierenden haben den Nagel aufden Kopf getroffen.
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Dr. Petra SitteDanke schön.
Ilse Aigner ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Wir diskutieren heute neben einerganzen Reihe von Anträgen über den letztjährigen Be-richt zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutsch-lands. Ich möchte hier zwei Feststellungen aus diesemBericht aufgreifen: Innovationen richten sich zuneh-mend an den Möglichkeiten des Weltmarktes aus, unddie Ausgaben für Forschung wurden von der Wirtschaftnicht kräftig genug erhöht. Letzteres ist bzw. war füreine Technologie- und Exportnation ein alarmierenderBefund. Dies liegt nicht im Interesse unseres Landes,aber auch nicht im Interesse der entsprechenden Firmenund der Wirtschaft.
Von unserer Seite haben wir den ersten Schritt getanund ein Programm mit zusätzlich 6 Milliarden Euro aufden Weg gebracht. Man kann es nicht oft genug sagen:Die Wirtschaft muss jetzt nachziehen.Natürlich braucht die Wirtschaft gute Rahmenbedin-gungen. Deshalb würde ich mich darüber freuen – esgibt entsprechende Anzeichen –, wenn sich bei der jetztanstehenden Unternehmensteuerreform gewisse Verän-derungen zugunsten von Forschung und Entwicklungauftun würden. Das kann nur in unserem Interesse sein.
Zurück zum Ausgangspunkt. Die Bundesregierung,insbesondere das federführende Forschungsministeriumunter der Leitung unserer Ministerin Annette Schavan,hat umgehend weitere Konsequenzen gezogen. Mit einerschlüssigen Hightechstrategie, die alle Ressorts der Bun-desregierung einschließt, hat sie alle auf einen gemeinsa-men Kurs eingeschworen. Die Richtung ist klar: MehrInnovation für mehr Arbeitsplätze.
Das Herzstück ist die Stärkung von Forschung undInnovation in der Wirtschaft. Diese erreichen wir vorallem, indem wir strategische Kooperationen zwischenWissenschaft und Wirtschaft fördern. Die Ministerin hatdie OLED-Initiative angesprochen. Wir wollen darüberhinaus gerade den kleinen und mittleren Unternehmenhelfen, sich international zu positionieren.Eines der neuen Instrumente wurde schon angespro-chen: die Forschungsprämie. Sie soll für Hochschulenund Forschungseinrichtungen ein Anreiz sein, sich ver-stärkt in Kooperationen mit der Wirtschaft zu begeben.Ziel: mehr Forschung und Entwicklung in den Betrie-ben.Ein weiteres wichtiges Instrument zur Bündelung derKräfte von Wissenschaft und Wirtschaft wird der Clus-terwettbewerb der Bundesregierung sein. Cluster vonUnternehmen, Forschungseinrichtungen und Hochschu-len sind anerkanntermaßen eine immer wichtiger wer-dende Innovationsquelle. Das wissen wir auch durch er-folgreiche Beispiele früherer Fördermaßnahmen. Indiesem Zusammenhang muss ich mal wieder – es sei mirnicht verübelt – eine bayerische Erfolgsstory anspre-chen.
Letztes Mal war Sachsen dran. Zum Ausgleich nenne ichdieses Mal Bayern: die Biotechregion rund um Mün-chen, wo 180 neue Unternehmen entstanden sind, derenmagnetische Wirkung bis ins Ausland reicht.
Wichtig wird sein, dass wir den geplanten Clusterwett-bewerb so ausgestalten, dass sich diese Erfolgsstorymehrfach wiederholt.Eine Sache liegt mir noch am Herzen – das wäre dasi-Tüpfelchen –: Vielleicht fällt uns irgendwann einmaleine bessere Bezeichnung als „Cluster“ ein. Ich habeeinmal nachgeschaut, was es in der wörtlichen Überset-zung heißt: Traube, Bündel, Schwarm, Haufen. So stehtes in „Wikipedia“. All das ist nicht sonderlich treffend.Dann gibt es – das habe ich bisher nicht gewusst – dasalte deutsche Wort „Kluster“; das schreibt man mit K.Das Wort ist allerdings nicht mehr gebräuchlich. In ei-nem alten Wörterbuch, dem Grimm’schen Wörterbuch,steht: „Was dicht und dick zusammensitzet.“ – „Dicht“ist ja noch in Ordnung. „Dick“ klingt aber, insbesonderenach der gestrigen Debatte, zusammen mit „sitzen“ nichtsonderlich dynamisch. Bis jetzt haben wir also keinenpassenden deutschen Begriff.
– Clusterle.Nun zurück zur Hightechstrategie. Man könnte auchHochtechnologiestrategie sagen. Sie spricht ein in derdeutschen Forschungslandschaft neues Förderinstrumentan – wieder so ein Wort –: Public Private Partnership, öf-fentlich-private Partnerschaften beim Aufbau von For-schungsinfrastrukturen. Ich halte dieses Instrument fürvielversprechend, um eine erkennbare Lücke zu schlie-ßen. Wir werden das unterstützen.Eine wichtige Säule der Hightechstrategie ist dieInternationalisierung der deutschen Wissenschaft undWirtschaft. Damit komme ich zurück auf den anfangsgenannten Punkt aus dem Bericht zur technologischenLeistungsfähigkeit: „Innovationen richten sich zuneh-mend an den Weltmarktmöglichkeiten aus.“ Besondersstark auf internationale Märkte ausgerichtet sind auchunsere umwelttechnologischen Unternehmen. Hier bele-gen wir international einen Spitzenplatz, den wir vertei-digen müssen.
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Ilse Aigner
Lassen Sie mich beispielhaft ein Projekt des For-schungsministeriums aus diesem Bereich nennen, indem die Ziele unserer Strategie – strategische Koopera-tionen von Wissenschaft und Wirtschaft und Orientie-rung auf internationale Märkte – exemplarisch umge-setzt wurden: „Spree 2011“. Die Spree fließt unmittelbarvor unserer Haustür. Anders als viele vergleichbareFlüsse in Deutschland hat die Spree eine relativschlechte Wasserqualität. Der Grund: Bei Starkregenläuft das Abwasser aus dem Kanalsystem in die Spreeüber. Jetzt hat sich ein Verbund aus mehreren mittelstän-dischen Unternehmen und der Technischen UniversitätBerlin zusammengeschlossen und die Idee entwickelt,mit sogenannten Pontons, künstlichen Inseln, diesesWasser zu sammeln, Membrankläranlagen in diese In-seln einzubauen und dadurch neue Inseln in der Spree zugewinnen.
Diese können künftig, wenn wieder Badewasserqualitätbesteht, zum Beispiel durch Strandcafés für die dannzahlreichen Badegäste genutzt werden.Dieses Problem der Wasserqualität gibt es aber nichtnur in Deutschland: Die Qualität der Flüsse ist leiderweltweit nicht überall in Ordnung.
Deshalb ist dies auch ein Beispiel, wie man gute Ideenaus Deutschland in die weite Welt exportieren kann.Leider kann ich, weil die Uhr schon blinkt, keine wei-teren Beispiele bringen – die es verdient hätten. Ent-scheidend ist: Wir sollten nicht versuchen, auf gleichemGebiet und mit gleichen Produkten mit anderen Ländernzu konkurrieren. Unser Vorteil war immer: Wir warenbesser, innovativer und erfinderischer. Dass dies sobleibt, muss unser gemeinsames Interesse sein. Dass wirda noch besser werden, muss unser gemeinsames Zielsein.
Nächste Rednerin ist die Kollege Priska Hinz,Bündnis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächsteinmal möchte ich festhalten, dass der BundesberichtForschung in seiner Präambel keine neuen politischenAussagen enthält, die Bundesministerin in ihrer Redeseltsam nebulös blieb und wieder nur Ankündigungenvorgetragen hat, nichts über die Umsetzung gesagt hat.
Die Hightechstrategie ist zwar gut gedacht, weil da-mit gebündelt werden soll und Schwerpunkte gesetztwerden sollen; doch sie ist damit noch lange nicht gutgemacht. Denn die dringenden Fragen und Probleme derGesellschaft erfordern konkrete Antworten. So wäre dieAusrichtung der Forschungspolitik auf den Klimawan-del, auf die demografischen Veränderungen, auf die zu-nehmende Heterogenität der Gesellschaft und auf dieRessourcenschonung dringend notwendig. Doch daslässt die Hightechstrategie vermissen.
Wir brauchen Nachhaltigkeit im Umgang mit Finanz-mitteln und der Qualifizierung von Menschen. Die Ent-wicklung von Rahmenbedingungen, die Forschung undEntwicklung begünstigen, gehört dazu. Die For-schungsprämie für die Kooperation von Hochschulenund Wirtschaft ist ein solcher Baustein. Ich will die De-tailkritik, die wir daran üben, jetzt nicht zum dritten Malvortragen – wir werden sehen, was die Forschungsprä-mie bringt. Aber klar ist: Deutschland braucht mehr Un-ternehmen, die hierzulande forschen und in die Entwick-lung und Vermarktung ihrer Produkte investieren.Forschung ist hierzulande durchaus attraktiv: Nach denUSA und Japan belegen die Deutschen einen Spitzen-platz bei der Anmeldung von Patenten. Aber die Bedin-gungen dafür, die Forschungsergebnisse zu marktfähi-gen Produkten und Verfahren weiterzuentwickeln,reichen in Deutschland bei weitem nicht aus, um innova-tive Unternehmen in Deutschland zu halten oder sieüberhaupt entstehen zu lassen. Dafür fehlt nämlich einausreichendes Angebot an Wagniskapital.
Wir haben hier einen Antrag eingebracht. Sie hättenschon lange selber einen Gesetzentwurf dafür auf denWeg bringen können. Bislang erfolgt sind nichts als An-kündigungen, auf jeder Veranstaltung, von fast jedemMinister dieser Bundesregierung.
Taten lassen Sie auf diesem Gebiet vermissen. Dabeikönnte hier ein neues Kapitel für die Entwicklung undUmsetzung von Innovationen aufgeschlagen werden.
Mit dem, was Sie nun mit der Unternehmensteuerre-form vorlegen, widersprechen Sie Ihren Sonntagsredenebenfalls. Muss es denn ausgerechnet die Forschungsein, die mit dem Gesetz steuerlich erschwert wird?Müssen es ausgerechnet die jungen und innovativen Un-ternehmen sein, die in Entwicklung investieren wollen?Für sie werden die steuerlichen Bedingungen, Kapital zuerhalten, verschlechtert. Ich bin überzeugt, dass es bes-sere Wege gibt. Vielleicht – ich habe die Signale vonFrau Aigner gehört – bewegen Sie sich; dann müssen Siedas schnell machen, wenn in der nächsten Zeit Investi-tionen in Deutschland getätigt werden sollen.
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Priska Hinz
Die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter gehört zur Leistungsfähigkeit unbedingt dazu. Wirhaben bereits jetzt einen Fachkräftemangel. Was machtaber die Regierung? Mittlerweile wird offensichtlich,dass durch den Hochschulpakt nicht genügend Mittel zurVerfügung gestellt werden – er ist unterfinanziert –, umdie notwendige Zahl an zusätzlichen Studienplätzen zufinanzieren.Die Quote der Studienanfänger ist in den letzten dreiJahren von 39 Prozent auf 35,5 Prozent gesunken. Flä-chendeckend wird der NC eingeführt; die Abiturientenverdrängen die Realschüler von den Ausbildungsplät-zen; die Hauptschüler gucken in die Röhre – da kannman doch nicht von einem Land für Bildung, Forschungund Entwicklung sprechen. Hier ist die Bundesregierunggefragt, tatsächlich mehr zu tun; denn, Frau Schavan, Siesind nicht nur Forschungsministerin, sondern auch Bil-dungsministerin.
Meine Damen und Herren, auch bei der Nachwuchs-förderung tun Sie viel zu wenig. Jetzt wollen Sie zwarein Programm zur Förderung von Professuren fürFrauen auflegen – nachdem Sie vorher alle Mittel fürdie Programme aus dem Haushalt gestrichen haben,durch die wirklich nachhaltig Strukturen verändert wer-den sollten –, aber Sie springen hier wieder zu kurz.Feste Zielzahlen und strukturelle Veränderungen sindnotwendig, damit sich tatsächlich nachhaltige Verände-rungen im Wissenschaftsbetrieb zugunsten von Frauenergeben. Es reicht nicht, einfach noch etwas dazuzupa-cken, während sich der Wissenschaftsbetrieb ansonstennicht weiter um die Frauen und die Frauenförderung imBereich des Nachwuchses bemühen muss.
Das BAföG ist ein wichtiges Instrument zur Förde-rung von Nachwuchs und ein weiterer Zankapfel in derKoalition.
Ich bin einmal gespannt, wie das ausgeht. Man hört nurunterschiedliche Signale. Auch hier ist die Quote derGeförderten stark zurückgegangen. Es wäre für die Wis-senschaft in Deutschland dringend notwendig, dass Siehier einen großen Schritt gehen.Frau Schavan, Sie sagen in einem Interview, das indieser Woche erschienen ist, dass man jetzt erst einmaldie Studiengebühren richtig einführen muss. Ich richtean Sie die Aufforderung, sich nicht nur darum zu küm-mern, ob die Länder jetzt Studiengebühren einführen,sondern auch darum, dass es endlich gescheite Stipen-diensysteme gibt, damit es den Studierenden ermöglichtwird, tatsächlich ein Studium zu absolvieren. So könntenwir den Fachkräftemangel beseitigen.
Meine Damen und Herren, einen zweiten großen Feh-ler neben der Unternehmensteuerreform scheinen Sie beider Umsetzung der Forscherrichtlinie der EU vorzube-reiten. Sie ist von der EU als Initiative für den gemein-samen Forschungsraum Europa gedacht, von dem Sieheute Morgen gesprochen haben, Frau Schavan.Was macht aber die Bundesregierung daraus? For-scherinnen und Forscher dürfen dann in die Bundesrepu-blik, wenn sich die Forschungseinrichtung, an der sie ar-beiten sollen, vor der Einreise verpflichtet, eventuelleAbschiebungskosten für diese Forscherinnen und For-scher zu übernehmen. Das kann ja wohl nicht wahr sein.Dadurch können wir von dem Wissenschaftsaustauschdurch Köpfe wirklich nicht profitieren. Das ist dochkeine Internationalisierungsstrategie, das ist eine Ab-schottungsstrategie.
Ich hoffe sehr, dass Sie sich besinnen. Wir werden unse-ren Beitrag in den weiteren Debatten in den Ausschüssenüber die Umsetzung der Forscherrichtlinie leisten.Unsere Kritik an der Schwerpunktsetzung im Rahmender Hightechstrategie gilt nach wie vor. Die technischeAusrichtung der Programme ist falsch. Am Beispiel derForschung für die zivile Sicherheit kann man das besondersgut sehen. Es sollen vor allen Dingen neue Technologiengefördert werden. Um den ökologischen Gesamtzusam-menhang, zum Beispiel zwischen den Klimaveränderun-gen, den Naturkatastrophen, den Bedrohungen aufgrundvon Ressourcenknappheit und den Sicherheitsnotwen-digkeiten, die daraus entstehen, kümmern Sie sich mitIhrer Strategie aber viel zu wenig. Die Ursachenfor-schung und die Weiterentwicklung friedlicher Konflikt-lösungsstrategien fehlen völlig, und die Geistes- und So-zialwissenschaften werden immer nur als Anhängselbetrachtet, nach dem Motto: Wir gucken erst einmal,was sich technologisch entwickeln soll, und dann gu-cken wir, ob die Gesellschaft das auch ertragen kann.Sie müssen eine integrierte Sicherheitsforschung an-streben, wobei die Beteiligung der Geistes- und Sozial-wissenschaften von Anfang an eine Selbstverständlich-keit sein sollte. Damit haben Sie noch einen langen Wegvor sich.
Als letzten Punkt möchte ich den Klimaforschungs-gipfel ansprechen, den Sie heute Morgen bereits lobenderwähnt haben. Eigentlich müssten Sie schon in diesemJahr die Energieforschung auf die erneuerbaren Ener-gien und deren Vernetzung, Transport und Speicherungausrichten. Sie müssten mehr Forschungsmittel für denBereich der klimafreundlichen Mobilität einsetzen.Diese Bereiche müssten auch gesellschaftlich erforschtwerden.Sie haben aber im Wesentlichen nur angekündigt,wieder in die Atomforschung investieren zu wollen. ImÜbrigen gibt es bereits ein neues großes Programm zurFusionsforschung. Das zeigt wieder einmal, auf welcher
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Priska Hinz
Seite Sie stehen. Diese Schwerpunktsetzung stellt si-cherlich keine nachhaltige Strategie für die gesellschaft-lichen Umbrüche und Herausforderungen dar, vor denenwir stehen.Ich bin der Meinung, dass eine Regierung aus denFehlern lernen sollte. Für die Forschungspolitik gilt dasallemal. Ich hoffe sehr, dass Sie noch umsteuern und sicheines Besseren besinnen, damit die Hightechstrategie inDeutschland zu einem echten Erfolgsmodell werdenkann.Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Ulla Burchardt,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal ist festzustellen: Mit dem6-Milliarden-Euro-Programm hält die Koalition Wort.Der Bund steht zum 3-Prozent-Ziel für Forschung undEntwicklung und geht in Vorleistung.
Der Kollege Röspel hat völlig recht. Das sage ich mitBlick auf die FDP: Wenn Sie jetzt feststellen, das sei al-les nicht genug, und immer mehr fordern, dann mussman daran erinnern, dass Sie der schwarz-gelben Koali-tion angehört haben, die bis 1998 die Forschungsausga-ben heruntergefahren hat.
Wir mussten uns dann bemühen, aus diesem Tief wiederherauszukommen.Insofern bringen wir als Sozialdemokraten jetztNachhaltigkeit in die von der rot-grünen Koalition er-folgreich begonnenen Maßnahmen wie die Exzellenzini-tiative, den Pakt für Forschung, die Clusterbildung, dieNetzwerke und vieles andere.Mit der ressortübergreifenden Hightechstrategiewird – ich greife gerne ein Bild auf, das die KolleginAigner immer verwendet – die nächste Stufe der Raketegezündet. Wo sie recht hat, sie recht.
Aus dem 6-Milliarden-Euro-Programm fließen4,5 Milliarden in die Wirtschaft. Das ist ja nicht per se zukritisieren. Wenn aber die Unternehmen die eigenenFuE-Tätigkeiten am Standort Deutschland real zurück-fahren – das belegen die Zahlen des Stifterverbandes –,dann ist das innovationsschädlich und ordnungspolitischprekär. Wir Sozialdemokraten stehen dazu: Forschungs-förderung darf kein Synonym für Subventionen undWirtschaftsförderung werden. Die Steuerzahler habenein Anrecht darauf, dass das, was wir zur Forschungsför-derung in Unternehmen ausgeben, von den Unterneh-men gemehrt wird und sich in einer Rendite für die ge-samte Gesellschaft niederschlägt.
In dieser Koalition wollen wir deutsche Marktführer-schaften in der Welt weiter ausbauen und knüpfen an un-sere strategischen Weichenstellungen zur Förderung vonSpitzentechnologien an. Ein besonders gutes Beispiel– das kann ich als Berichterstatterin feststellen – ist dieFörderung der Nanotechnologie.Seit 2004 gibt es die nationale Nanostrategie. Auchdeshalb liegt Deutschland mit den USA und Japan an derWeltspitze, was die Publikationen und Patentanmeldun-gen angeht. In Europa ist Deutschland – das kann manmit Stolz feststellen – mit großem Abstand der Cham-pion im Bereich der Nanotechnologie. 50 000 Arbeits-plätze wurden bis jetzt geschaffen. Vielfältige Produktewurden als Ergebnis von Innovationen entwickelt. Andiese erfolgreiche Strategie knüpfen wir in dieser Koali-tion an.Ob Ideen in Produkte, Verfahren und Dienstleistun-gen umgesetzt werden – das ist die klassische Frage: wiekommt man von der Idee zum Produkt? –, hängt nichtzuletzt von einer klugen ressortübergreifenden Politik-strategie ab, in die die Forschungsförderung als wichti-ger Teil eines Instrumentenmix eingebunden ist.Ich verweise auf ein weiteres erfolgreiches Beispiel,nämlich die Klima- und Energiepolitik der letztenJahre. Weg vom Öl und von der Atomenergie hin zumSolarzeitalter – das war und ist unser Leitbild –,
mit klaren Zielen für den Ausbau erneuerbarer Energien!Mit dem EEG wurde ein weltweit beachtetes innovativesFörderinstrument geschaffen, das zur Entstehung vonüber 170 000 neuen Arbeitsplätzen geführt hat.Bei aller Übereinstimmung in der Koalition, was dieHightechstrategie angeht: Frau Schavan, es gibt von unsdie Gelbe Karte, wenn Sie die Atomtechnik als Brü-ckentechnologie zum Ausstieg aus dem Atomausstiegbenutzen wollen. Das entspricht nicht dem Koalitions-vertrag.
Das deutsche Innovationssystem ist besser als seinRuf. Die Kollegen haben darauf schon vielfach hinge-wiesen. Die größte Schwachstelle ist die mangelndeLeistungsfähigkeit des Bildungssystems. Frau Schavanhat dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass bei-spielsweise nahezu 100 000 junge Forscherinnen undForscher fehlen, um das 6-Milliarden-Euro-Programmtatsächlich realisieren zu können. Daran sieht man, wodie großen Defizite im Innovationssystem bestehen.Deswegen muss die Föderalismusreform II als großeChance einer neuen Innovationspolitik genutzt werden.
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Ulla BurchardtWir brauchen endlich einen Investitionsbegriff imGrundgesetz, der Bildung, Wissenschaft und Forschungnicht länger diskriminiert. Beton wichtiger einzuschät-zen als Wissen oder – wie es unser KMK-Präsident Pro-fessor Zöllner treffend formuliert hat – die Investition ineine Friedhofsmauer zu erlauben, nicht aber in einenForschungsbereich, ist vorsintflutlich und entsprichtnicht mehr der Wissensgesellschaft.
Nicht nur Forschung, sondern auch Bildung und Wissen-schaft brauchen eine ausreichende Finanzierung. AuchBildung braucht ein klares quantitatives Ziel. Lassen Sieuns im Rahmen der Föderalismusreform II gemeinsamdie Chance für einen Paradigmenwechsel in der Innova-tionspolitik nutzen!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirreden heute nicht nur über Forschung und Grundlagen-forschung, sondern auch über Technologie und Techno-logieförderung, also über das, was – so hat es HelmutKohl einmal formuliert – hinten herauskommen muss,und darüber, wie viel wir in diesem Lande leisten. FrauSchavan, es war klar, dass Sie uns sagen würden, dassdie Bundesregierung sehr viel getan habe. Aber, FrauSchavan, „viel hilft viel“ ist an dieser Stelle nicht dasrichtige Motto.
Wenn wir zeitnah marktfähige Produkte erhalten wollen,helfen weder Ihre schönen, von uns immer anerkanntenGlanzbroschüren zur Hightechstrategie noch die Sub-ventionsgießkannen des Bundeswirtschaftsministers.Das Geld muss effizient eingesetzt werden. Mitnahme-effekte müssen vermieden und die Projekte konsequentauf ihren Erfolg überprüft werden. Genau hier, liebeKolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition,haben Sie Ihr großes Defizit.
Lieber Herr Tauss, lassen Sie mich das am Beispiel derLuft- und Raumfahrt verdeutlichen; das ist ja Techno-logie.Beispiel Airbus. Hier hören wir seit Monaten Krisen-nachrichten über einen deutsch-französischen Klein-krieg. Das Problem des Flugzeugbauers EADS ist nicht– wie die Propheten des Staatsinterventionismus immersagen – zu wenig staatlicher Einfluss, sondern zu viel.Die Konkurrenz schläft nicht. Boeing hat nicht wie Air-bus unter einer unflexiblen Firmenstruktur zu leiden.Wie lautet nun die Antwort der Bundesregierung? Meingeschätzter Kollege Hintze, der selten unter Sprachhem-mungen leidet, hat uns geantwortet: Wir werden „allestun, um die Luft- und Raumfahrtindustrie zu unterstüt-zen.“ Lieber Herr Hintze, das ist nicht nur äußerstschwammig, sondern wahrscheinlich auch mehr eineDrohung als eine Verheißung, muss ich als Technologie-politikerin sagen.
Der Einfluss des Staates auf strategische Unternehmens-entscheidungen von Airbus hat eben nicht zu einem bes-seren Ergebnis bei der Technologieentwicklung undnicht zu Arbeitsplätzen in Deutschland geführt, ein Ziel,das wir alle haben.Lassen Sie mich noch kurz das nationale Raumfahrt-programm streifen. Da haben wir ein Schauspiel erlebt,das jeden strategischen Gedanken seitens der Bundesre-gierung vermissen lässt. Da wird plötzlich aus heiteremHimmel erklärt: Wir alle wollen zum Mond. – Auf un-sere Frage, warum wir alle zum Mond wollen,
lautete die Antwort: weil die anderen auch dorthin fah-ren. Das ist alles andere als eine Hightechstrategie. Dasist einfach nur ein ideenloses Hin und Her.
Lassen Sie mich zum Abschluss ein Beispiel anfüh-ren, das uns alle zurzeit besonders bewegt, ein Glanz-stück der deutschen Technologiepolitik: Galileo. Hierhat schon die rot-grüne Bundesregierung den Fehler be-gangen, nicht entschieden gegen ein Zusammengehender beiden Bieterkonsortien anzugehen. Sie von Rot-Grün haben in Ihrer Regierungszeit auf dem Rücken derSteuerzahler ein Monopol entstehen lassen.
Was dieses Monopol angeht, schläft die Große Koalitionseit 2005 – und jetzt wundert sie sich, dass ihr alles umdie Ohren fliegt.
Galileo strotzt vor Ungereimtheiten. Es gibt eine un-sinnige Diskussion mit Spanien über ein drittes Boden-segment, das keiner braucht. Deutschland und Frank-reich haben bis heute offensichtlich unterschiedlicheVorstellungen, was Galileo können soll und inwieweitauch eine militärische Nutzung möglich sein soll.Lassen Sie mich an dieser Stelle Herrn Enders zitie-ren. Er sagte:Ich habe noch kein Projekt erlebt, das so stark poli-tisch geprägt war wie dieses.An dieser Stelle scheint die Politik offensichtlich nichtsegensreich zu wirken; genau das Gegenteil ist der Fall.
Herr Hintze, Sie haben noch sehr viel Arbeit vor sich!
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Ulrike FlachDie Beispiele zeigen, dass Sie zwar nach wie vorschöne Hochglanzbroschüren drucken lassen, es Ihnenaber nur schwer gelingt, im Technologiebereich etwas zubewegen. Trotz aller Reden zum Thema Hightech sindSie in den letzten Jahren kaum vorangekommen; das zei-gen uns die vorliegenden Berichte deutlich.Frau Schavan, Innovationsförderung muss sich amErfolg messen, und zwar – da stimme ich Frau Burchardtabsolut zu – am Erfolg für die Menschen. Sie haben unsein Plus von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen versprochen.Nach anderthalb Jahren müssen wir Ihnen sagen: Wir er-kennen keine Bewegung. Damit befinden wir uns in gu-ter Gesellschaft mit Herrn Professor Rürup, der das vorwenigen Tagen gegenüber der Öffentlichkeit gesagt hat.Ihre Versprechen sind bisher Makulatur. Ich hoffe, in dennächsten beiden Jahren wird das deutlich besser.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinz
Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Liebe Frau Flach, Sie haben
mit Begeisterung von Airbus, vom Mond und von Gali-
leo gesprochen. Das sind faszinierende Themen. Wenn
Sie mit Ihrer Kritik die Hightechstrategie der Bundesre-
gierung angreifen wollen, geht das ein bisschen am Zen-
trum vorbei.
Die Hightechstrategie ist eine Strategie – Frau
Schavan hat darauf hingewiesen –, die im europäischen
Kontext betrachtet werden muss. Wir haben den Ehr-
geiz – darüber sind wir uns einig –, Teil des dynamischs-
ten wissensbasierten Wirtschaftsraums der Welt zu wer-
den. – Dazu hat Frau Flach eine Frage. Es scheint ein
Verständnisproblem zu sein. Intellektuelle Probleme räu-
men wir sofort aus; über politische Probleme müssen wir
diskutieren.
Ich mache aber gleich zu Beginn darauf aufmerksam,
dass ich serienweise bestellte Zwischenrufe weder aus
den Reihen der Koalition noch aus den Reihen der Op-
position zuzulassen gedenke. Das ist insofern jetzt die
einsame Ausnahme. Bitte schön, Frau Flach.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Sie haben den Fin-
ger in die Wunde gelegt. Ich höre Herrn Riesenhuber
einfach so gern.
Herr Professor Riesenhuber, es ist Ihnen doch sicher-
lich bekannt, dass die Luft- und Raumfahrt ein Leucht-
turmprojekt der Hightechstrategie ist. In diesem Zusam-
menhang müssen wir leider darüber reden, dass in den
letzten Monaten vieles gegen die Wand gefahren worden
ist. Darüber sind wir uns normalerweise einig, lieber
Herr Professor Riesenhuber.
Liebe Frau Flach, wir beide haben mit sorgsam ver-teilten Rollen bei den zuständigen Stellen mehrfach mitHerzlichkeit angemeldet, dass Galileo nicht mit glückli-cher Hand gemanagt worden ist. Wir haben hier vorzüg-liche europäische Institutionen, bei denen Manager an-treten, über die wir alle nicht uneingeschränkt glücklichsind; und leider ist es in den vergangenen Jahren nichtgelungen, Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wenn wirkeine Geschäftsmodelle haben, steigt die Industrie nichtein, weil sie nicht weiß, ob das Geld zurückkommt. Überall diese Punkte haben wir mit Fleiß, Sachkenntnis undEntschlossenheit diskutiert.Hier aber geht es um die Frage der Gesamtanlage derHightechstrategie. Dazu muss ich sagen: Für den Wegin diese komplexe, wissensbasierte Welt, über die wirsprechen, hat die Bundesregierung ressortübergreifendeine einzigartige, integrierte Strategie angemeldet, unddas war mit einer solchen Entschlossenheit und Einmü-tigkeit bis jetzt noch nicht der Fall gewesen.
Es ist von verschiedenen Rednern darauf hingewiesenworden, welche Elemente umgesetzt worden sind, diekonstitutiv für die nächste Runde sein werden: die zu-sätzlichen 6 Milliarden Euro, die Planungssicherheit ge-ben, die zugesagten Steigerungsraten im Bereich derGrundlagenforschung, das Konzept des Wirtschafts-ministers, ein technologieoffenes Förderprogramm fürden Mittelstand mit schnellen Bearbeitungszeiten einzu-stellen. Dies alles sind vernünftige und integrierte Ele-mente, eingebunden in ein Gesamtkonzept. Dass es da-rüber hinaus noch eine Menge offener Baustellen gibt,wissen wir. Wenn wir nichts mehr zu tun hätten, könntenwir nach Hause gehen. Wir sind dabei, die Sache mit ei-nem sorgsam angelegten Konzept aufzubauen.Die Frau Ministerin sprach von der Schwierigkeit undauch der Chance, in vier Ressorts Energieforschung zubetreiben. Es ist eine Kunst, diese Forschung zu einerStrategie zusammenzuführen, in der sich die Kompeten-zen der einzelnen Ressorts wirklich auswirken könnenund die Forschung auch umgesetzt wird.Die Hightechstrategie spricht von Querschnittsbe-reichen, die zu organisieren schwierig, aber lebensnot-wendig ist. Ich nenne die Stichworte innovative öffentli-che Nachfrage, Normen und Standards; die Frage derAbstimmung reicht bis hin zu den Finanzstandards. FrauHinz hat das Wagniskapital zu Recht angesprochen. Zu
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Dr. Heinz Riesenhuberdieser Stunde tagt das Gremium, das die Eckpunkte desUnternehmensbeteiligungsgesetzes berät. In der letztenDebatte, die wir leider aufgrund Ihres schönen Antragsnicht Auge in Auge führen konnten – nachts um vier dis-kutiert man nicht mehr so lebendig –,
sind wir uns in vielen Positionen einig gewesen. Wirsind der festen Überzeugung, dass, weil wir die jungenUnternehmen brauchen und weil wir mehr Wagniskapi-tal brauchen, die Bundesregierung im Rahmen ihrerHightechstrategie die Voraussetzungen dafür schafft,dass sich in Deutschland Schwung und Dynamik weiter-entwickeln können.
Zu dieser Stunde, während wir hier diskutieren, sind wirdabei, dies zu tun. Nicht alle tun alles zugleich, aber mitverteilten Rollen bringen wir Deutschland sehr gutvoran.
Es stellt sich die Frage, wie wir die Forschung zu-rück in die Universitäten verlagern. Wenn die Fusion desForschungszentrums Karlsruhe mit der Universität zumKarlsruhe Institute of Technology, KIT, gelingt, dann ha-ben wir plötzlich wieder eine neue Qualitätseinrichtungvoll strahlkräftiger Forschung und Lehre an einer Stelle.Es stellen sich hier Fragen in ganz unterschiedlichenBereichen. Dabei beziehe ich Galileo durchaus mit ein.Wir sind hier weitergekommen und haben die richtigenAnsätze. Wir sind das Land der Ideen.
– Wenn Sie dem Präsidenten mitteilen, dass Sie mir zu-sätzliche zehn Minuten Redezeit Ihrer Fraktion überlas-sen, dann halte ich hier eine flammende Rede über dieErfolge.
Daran hat niemand Zweifel, Herr Kollege
Riesenhuber. Deswegen wird die Opposition auch keine
weiteren zehn Minuten zur Verfügung stellen.
Das ist sehr schmerzlich.
Was haben wir jetzt noch zu tun? Ich muss sagen:
Frau Schavan spricht sanft, behutsam und mit liebens-
werter Keuschheit die Fragen an.
Sie sagt hier – das finde ich gut –, Steuerpolitik sei auch
Innovationspolitik. Ich lese in einem Dokument der
Bundesregierung, dass wir steuerliche Instrumente der
Forschungsförderung erwägen wollen.
Ich höre von Frau Schavan, dass sie die Auswirkungen
der Forschungsprämie beobachtet und überlegen will,
welche weiteren Instrumente man hier ansetzen kann.
Mir scheint das eine faszinierende Debatte zu sein.
Wir haben die Frage der Tax-Credits gelegentlich in
diesem Haus diskutiert. Wir haben das schon vor mehre-
ren Jahren vorgeschlagen. Aber mir scheint dieser Zeit-
punkt jetzt – das finde ich faszinierend – besonders güns-
tig zu sein. Da greife ich einer komplexen Diskussion
nicht vor. Wir haben eine ausdifferenzierte Forschungs-
landschaft. Dieses flexible Instrument – unbürokratisch,
verlässlich für den Unternehmer, technologieoffen, per-
spektivisch angelegt – kann dazu beitragen, für Dynamik
und Entfesselung in denjenigen Bereichen zu sorgen, in
denen wir noch nicht so stark sind, wie wir es sein könn-
ten. Die mittelständischen Unternehmen haben ihre For-
schung in den vergangenen Jahren nicht mit der Dyna-
mik ausgebaut, die wir brauchen. Wir haben gelernt,
dass wir das Land der Ideen sind. Aber die Umsetzung in
Produkte und der Eintritt in die Märkte sind nicht immer
ganz glücklich gelaufen.
Herr Kollege!
Es scheint mir eine faszinierende Sache zu sein, die
Fülle der Möglichkeiten zu bedenken und sie mit Ent-
schlossenheit und ohne Hurrapatriotismus zu nutzen.
Der Staat soll die Zukunft nicht erfinden, der Staat ist
nicht kreativ.
Wenn er versucht, kreativ zu sein, irritiert er die Men-
schen.
Herr Kollege Riesenhuber, ich bin über Ihre Zuwen-
dung deswegen ganz besonders begeistert, weil ich weiß,
dass Sie sich den Hinweis auf solche Kleinigkeiten wie
Redezeiten bei diesem großen Blick auf die Welt und
ihre aktuelle Verfassung nur schwerlich gefallen lassen.
Ja.
Gleichwohl ist es so, wie es ist.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 98. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2007 9997
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Herr Präsident, Sie sehen die richtige Relation zwi-
schen der Redezeit und der Welt in ihrer aktuellen Ver-
fassung.
Das ist eine Disproportionalität, die wir überbrücken
müssen.
Wir können nicht kreativ sein. Wir sollten verlässlich
sein, einen sauberen Rahmen setzen und gute Bedingun-
gen schaffen. Wir sollten es den Männern und Frauen,
die Ideen haben, überlassen, den Raum zu nutzen und
mit fröhlichem Unternehmungsgeist die Welt für uns neu
zu erfinden, sodass wir gemeinsam in eine frohgemute
Zukunft schreiten können.
Herr Kollege Riesenhuber, ich möchte mich aus-
drücklich dafür bedanken, dass Sie Ihren Vortrag dies-
mal ganz überwiegend in unmittelbarer Nähe des Red-
nerpultes gehalten haben.
Ich hatte nämlich schon Vorkehrungen treffen lassen: Ei-
nige der Plenarassistenten haben sich an den Türen auf-
gestellt, um sicherzustellen, dass wir der Bestimmung
der Geschäftsordnung gerecht werden, dass die Verhand-
lung im Deutschen Bundestag stattfindet.
Nun erhält das Wort der Kollege Klaus Hagemann für
die SPD-Fraktion:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Beim Thema Forschung geht es nicht um lie-benswerte Lyrik, um den Zustand der Welt
– oder um Keuschheit –, sondern um harte Fakten: Wirhaben uns verpflichtet, 3 Prozent des Bruttoinlandpro-duktes für Forschung und Entwicklung aufzubringen.
Wir, Deutschland, liegen bei etwa 2,5 Prozent. Es gehtdarum, diesen Wert um einen halben Prozentpunkt zu er-höhen, damit wir unseren Verpflichtungen innerhalb derEuropäischen Union nachkommen.
Aufzubringen sind immerhin zusätzlich circa 50 Milliar-den Euro. Die Hälfte davon, also etwa 25 MilliardenEuro, hat die Wirtschaft aufzubringen. Etwa 6 Milliar-den Euro muss der Bund und ebenfalls 6 Milliar-den Euro müssen die Länder bereitstellen. Heute wurdeschon mehrfach gefragt: Werden diese Ziele erreicht?Ich habe die große Sorge, dass dieses Ziel nicht erreichtwird.
Wird die Wirtschaft ihre 2 Prozent schaffen, Frau Flach?Die Wirtschaft soll den größten Beitrag leisten – das istder Hauptpunkt –:
24 bis 25 Milliarden Euro.Eine Studie des ZEW, des Zentrums für EuropäischeWirtschaftsforschung, besagt: Die Initiativen des Bundeshaben sich in der Wirtschaft noch nicht durchgreifendniedergeschlagen. – Ich bitte die FDP als wirtschafts-nahe Partei, einen entsprechenden Appell an die Wirt-schaft zu richten.
75 Prozent der Mittel, die der Bund zur Verfügung stellt,fließen in die Wirtschaft. Damit sollen Anstöße für For-schung und Entwicklung gegeben werden.Hier ist schon wieder über steuerliche Entlastungenim Rahmen der Unternehmensteuerreform geredetworden. Ich muss darauf hinweisen, dass es in den zu-rückliegenden Jahren bereits eine Reihe von Steuerent-lastungen gegeben hat.
Zu einer erneuten Steuerentlastung wird es so bald nichtkommen. Im Rahmen der Unternehmensteuerreformwerden wir wiederum für weitere Entlastungen der Wirt-schaft sorgen.
Es wurde schon herausgestellt, dass Deutschland aufdem Gebiet der Grundlagenforschung gut dasteht. Dasist richtig so, und dazu tragen wir, der Bund, erheblichbei. Aber erhebliche Probleme gibt es doch bei der Um-setzung der Ergebnisse in Produkte und in Verfahren.Auf den MP3-Player wurde schon hingewiesen: SeineEntwicklung wurde von der Fraunhofer-Gesellschaftund damit auch durch Steuermittel gefördert. Allerdingsist in Deutschland niemand auf die Idee gekommen,MP3-Player zu produzieren.Zwischenzeitlich steht auch Wagniskapital zur Verfü-gung. Die KfW, die bundeseigene Kreditanstalt für Wie-deraufbau, stellt Mittel zur Verfügung, um Risiken abzu-decken, Frau Flach. Davon wird nur kein Gebrauchgemacht, bzw. die Hausbanken sperren sich dagegen. Ichkönnte Ihnen schlimme Beispiele aus meinem Wahlkreisnennen.Was EADS angeht, Frau Kollegin, haben bisher dieAktionäre profitiert; denn sie haben 500 Millionen Euroan Dividenden bekommen. Auch das sollte man nocheinmal herausstellen.
Galileo, verehrte Frau Kollegin, ist natürlich in ersterLinie an der Privatwirtschaft gescheitert.
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Klaus HagemannIch bin dankbar, dass Minister Tiefensee in dieser Fragejetzt die Notbremse gezogen hat und der Kommission et-was Druck gemacht wird, damit Entscheidungen gefälltwerden. Ich bitte Sie, Frau Ministerin Schavan, dassauch Sie – oder die Frau Bundeskanzlerin – in IhrenWirtschaftszirkeln, zum Beispiel in der Forschungs-union, entsprechend Druck machen, damit die feierli-chen Verpflichtungen in den schönen Hochglanzbro-schüren seitens der Wirtschaft umgesetzt werden. DasGleiche gilt übrigens für die Länder; das möchte ich mitNachdruck hervorheben.
– Kein Einziger ist auf der Bundesratsbank. Das ist fastschon skandalös bei diesem Thema.Wir haben versucht, in diesem Zusammenhang dieneuesten Zahlen über die Forschungsmittel der Länderzu bekommen. Mein Büro hat sich zwei Tage lang be-müht, ist aber nicht an die Zahlen herangekommen. Dievorhandenen Zahlen über den Anteil der Länder sindzwei Jahre alt; sie stammen aus dem Jahr 2005.Auch wir als Bund sind betroffen. Wir stellen gerndas Geld zur Verfügung. Im Haushaltsausschuss habenwir darüber sehr heftig diskutiert; die Strategie wurdebegrüßt. Aber die Gelder müssen natürlich abgerufenund verausgabt werden. Ich bitte Sie, die entsprechendenKonzepte voranzubringen.
Wir werden in der nächsten Sitzungswoche den erstenBericht in Bezug auf die Hightechstrategie diskutieren.Da hoffe ich, noch mehr Antworten auf die Fragen zubekommen, die im Mittelpunkt stehen. Die Forschungs-prämie und die Exzellenzinitiative sind beispielsweisezu erwähnen. Wir wollen wissen, wie diese Programmelaufen, was – zusätzlich – bewirkt wurde und welchekonkreten Konzepte das BMWi und das BMBF vorzu-weisen haben.Das 3-Prozent-Ziel ist kein Selbstzweck. Wir wollendamit vielmehr einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit un-seres Landes, aber auch Europas leisten.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält der Kollege Axel Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist gut, dassheute hier im Hause bei dem Thema Hochtechnologie-strategie – oder neudeutsch: Hightechstrategie – die po-sitiven Beiträge weit überwogen haben.
Es ist ein großer Fortschritt, dass wir wieder verstärktüber Chancen reden, fest ins Auge fassen, was uns mor-gen Vorteile bringt, und nicht länger Unheil heraufbe-schwören, was uns am Ende vielleicht gar nicht droht.Die Blütezeit fruchtloser Angstdebatten über potenzielleRisiken der technologischen Entwicklung scheint jeden-falls endlich vorbei zu sein. Das Klima für Forschungund Innovationen hat sich gewandelt und wandelt sichweiter positiv.
Auch politisch können wir, können die Menschen imLand die Vorteile dieses Wandels hautnah spüren und dieFrüchte quasi mit Händen greifen. Die Zukunft gewinntnicht, wer die Vergangenheit konserviert. Wer rastet, derrostet. Wer nicht strampelt, der fällt zurück. Deshalbmüssen Chancen und Risiken der Forschung gewissen-haft abgewogen werden.Dem Wunsch der Fraktion der Grünen nach Technik-folgenabschätzung kann daher entsprochen werden.Wir praktizieren dies ohnehin bereits seit Jahren erfolg-reich, nicht wahr, Frau Burchardt?Aber wenn Technikfolgenabschätzung draufsteht,muss auch Technikfolgenabschätzung darin sein, woraufKollege Krummacher immer großen Wert legt.
Positive Neuerungen dürfen nicht durch Risikodiskus-sionen unnötig behindert werden. Im Gegenteil: Vorhan-dene und absehbare Chancen müssen angemessen einbe-zogen und entsprechend nach außen transportiert werden.Meine Damen und Herren, wir müssen verantwor-tungsvoll mit unserem Können und mit unseren wissen-schaftlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten umge-hen. Dies gilt insbesondere für die Energieerzeugung.Es kann nicht unser Ziel sein, die Erfolge Deutschlandsbeim Klimaschutz zu erschweren; denn wir haben eineVerantwortung für die Schöpfung.Die Kernkraft zum Beispiel ermöglicht eine kosten-günstige und klimafreundliche Energieerzeugung.
Sie steht in Deutschland derzeit für mehr als 75 Prozentder CO2-freien Stromerzeugung.
Zudem wirkt sie einer Verknappung der Öl-, Gas- undKohlevorkommen entgegen.Frau Hinz, Sie haben vorhin behauptet, der Kern-fusion werde in der Energieforschung eine zu große Be-deutung beigemessen.
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Axel E. Fischer
Diese Behauptung ist angesichts des Entwicklungspo-tenzials dieser Energieumwandlungsform unverständ-lich.
Was glauben Sie eigentlich, warum sich die EuropäischeUnion, die Schweiz, Japan, Russland, die VolksrepublikChina, Südkorea, Indien und die USA gemeinsam imRahmen des ITER-Projekts engagieren? Warum inves-tieren all diese Länder Geld und wollen in internationa-len Kooperationen Wege zur wirtschaftlichen Nutzungder kontrollierten Kernfusion aufzeigen? Was gewinnenwir denn, wenn wir uns hier zurückziehen und uns aufwissenschaftlichem Gebiet isolieren?
Was konkret gewinnen wir, wenn wir uns aus der For-schung im Hinblick auf Kernkraftwerke der vierten Ge-neration ausklinken? Nichts! Genau deshalb müssen wirunsere Wissenschaftler und unsere Unternehmen andiese neu entstehenden Technologien heranführen. Nichtdurch Abkopplung unserer Wissenschaft vom internatio-nalen Standard oder durch deutsche Sonderwege werdenwir am weltweiten technologischen Fortschritt teilhaben,sondern nur durch Mitmachen.
Unsere Unternehmen und unsere Wissenschaft müssenan vorderster Stelle mit dabei sein.Da Sie immer von der Vorreiterrolle sprechen,
sage ich Ihnen: Wir dürfen uns bei internationalen Pro-jekten nicht in die Schmollecke stellen oder uns garklammheimlich vom Acker machen.
Denn wir sind es unseren Kindern schuldig,
dass wir ihnen die gleichen Entwicklungschancen hinter-lassen, die auch wir vorgefunden haben. Mit der techno-logischen Leistungsfähigkeit eines Entwicklungslandesjedenfalls werden wir mit Sicherheit keine gute Zukunfthaben. Vor diesem Hintergrund ist es in höchstem Maßeunredlich, Investitionen in die Kernforschung schlecht-zureden. Im Gegenteil, wir müssen die Chancen und dieökologischen, ökonomischen und sozialen Vorteile dertechnologischen Weiterentwicklung dieser Schlüssel-technologie betonen.Es ist ebenfalls unredlich, die hervorragenden Ergeb-nisse des Klimaforschungsgipfels, der in der letztenWoche stattgefunden hat, kleinzureden. So zu tun, alshabe die damalige Bundesregierung unter dem Auto-kanzler vorbildhaft gearbeitet und als stehe die jetzigeBundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel auf derBremse, ist einfach nur lächerlich. Sie hatten siebenJahre lang Zeit, eine Forschungsstrategie im Hinblickauf das Klima zu entwerfen. Nichts ist geschehen.
Bis zum Herbst dieses Jahres, also nach weniger als zweiJahren Regierungstätigkeit, will Bundesforschungsmi-nisterin Schavan konkrete Ergebnisse vorlegen. So siehtdie Realität aus. Das ist erfolgreiche Realpolitik.
Die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissen-schaft wird immer bedeutender. Deshalb ist die Ver-schmelzung des Forschungszentrums Karlsruhe und derUniversität Karlsruhe zum KIT, zu einer Art MIT, einhervorragender Schritt, um einen Beitrag dazu zu leisten,dass sich Wissenschaft, Wirtschaft und Staat endlich ge-meinsam an der Erforschung, Entwicklung und Ferti-gung von Produkten beteiligen. In dieser Richtung mussdie Arbeit der Bundesregierung fortgesetzt werden. Wirunterstützen Frau Schavan auf diesem Kurs und freuenuns, dieses Thema in der Großen Koalition gemeinsamvoranzubringen.
Nun spricht die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichgehe jetzt nicht auf die Rede von Herrn Fischer ein.
Denn dann müsste ich so viel sagen, dass ich für meineneigenen Text zu wenig Zeit hätte. Ich glaube allerdings,meine Rede ist erfreulicher.
Wer samstags durch die Straßen zieht, sieht häufigleidenschaftlich putzende Männer
– wohlgemerkt, sie putzen ihre Autos. Insbesondere dieFelgen gelten als hartnäckige Schmutzmagneten, dieschon manchen stolzen Autobesitzer in Rage gebrachthaben. Doch – eine erfreuliche Nachricht – das ist bald
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Ute Bergpassé. Eine Firma aus Herford hat dieses Problem er-kannt und bei der Suche nach einer Lösung die Universi-tät Paderborn um Hilfe gebeten. Dort hat man sich imFachbereich Chemie mit dem Problem beschäftigt undeinen Lack erfunden, der Autofelgen quasi immun gegenSchmutz macht. Der Clou dabei: Der Lack wehrt insbe-sondere Eisenstaub ab, der von den Bremsscheibenstammt und als hartnäckig gilt.
Der neue Lack ist den sich derzeit im Handel befindli-chen Produkten ganz klar überlegen und wird von derHerforder Firma mittlerweile auch vermarktet.Solche Beispiele zeigen: Unternehmen, die mit Wis-senschaftlern kooperieren, die Forschung und Entwick-lung betreiben, haben im Wettbewerb die Nase vorn. Dasist auch der Grund, warum wir anwendungsnahe For-schung und Kooperationen zwischen Wirtschaft undWissenschaft fördern. Dafür investieren wir eine MengeGeld. Insgesamt 15 Milliarden Euro fließen in dennächsten Jahren in die Hightechstrategie. Ein großer Teildavon kommt direkt der Wirtschaft zugute, insbesonderedem Mittelstand.
Das tun wir nicht aus Wohltätigkeit, sondern weil wirdamit einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen verfolgen.Unsere Förderung unterstützt Wirtschaftswachstum, zu-kunftssichere Arbeitsplätze und schafft damit auch einsolides Fundament für unseren Sozialstaat. Da das Be-schäftigungswachstum in innovativen Firmen fast vier-mal so hoch ist wie in anderen, konzentrieren wir unsereUnterstützung natürlich genau auf diesen Bereich.Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,fordern in Ihrem Antrag für die Wirtschaft – ich zitiere –„eine indirekte FuE-Förderung“, die „zielgenau auf denAusgleich bestehender Schwächen … ausgerichtet“ istund „effizient, flexibel, bedarfsgerecht und unbürokra-tisch“ ist. Ich kann Ihnen heute eine freudige Nachrichtübermitteln: Genau das gibt es bereits
mit der indirekten Förderung für den Mittelstand durchdas Wirtschaftsministerium, im Übrigen einem wesentli-chen Bestandteil der Hightechstrategie. Knapp 600 Mil-lionen Euro fließen allein dieses Jahr in diesen Bereich.Mit unseren Investitionen erreichen wir zudem, dassdie Wirtschaft in diesem Bereich zusätzlich investiert,zum Beispiel bei ProInno: 1 Euro Innovationsförderungvom Staat macht 2 Euro an Investitionen aus der Wirt-schaft locker.
Solche Programme haben eine enorme Hebelwirkung.Die Evaluation bescheinigt ihnen eine hohe Effizienz.
Zurzeit wird im Wirtschaftsministerium daran gearbei-tet, das breite Förderangebot für Unternehmen nochübersichtlicher und serviceorientierter zu gestalten.Ein Problem beschäftigt uns aber sicherlich alle mo-mentan. Das wurde schon von einigen geäußert; nurFrau Pieper hat da die Augen ein bisschen zugemacht.Wir, der Bund, haben die Notwendigkeit erkannt, auftechnologische Erneuerungen zu setzen, und 6 Milliar-den Euro auf unsere FuE-Ausgaben draufgepackt.
Aber die Unternehmen ziehen noch nicht genug mit; daswurde eben schon mehrfach erwähnt.
Dabei sind die Chancen, die sich auch für die Wirtschaftdurch Forschung und Entwicklung und neue Technolo-gien ergeben, doch so eindeutig. Sie liegen auf der Hand.Nehmen wir zum Beispiel die Energietechnologien. Daverfügen wir bei den erneuerbaren Energien über einedominante Patentposition weltweit. Das macht sich wirt-schaftlich bezahlt. Deutsche Hersteller von Kraftwerks-technik, Windkraftanlagen und Solartechnik sind in derWelt führend. Das ist beispielgebend für andere Berei-che.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erkenntnis, dassdie technologische Leistungsfähigkeit Deutschlandsüber die Zukunft unserer Industrie- und Wissensgesell-schaft entscheidet und damit über Wohlstand und Teilha-bechancen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, hatsich inzwischen fast überall durchgesetzt. Dafür zu sor-gen, dass wir in eine gute Zukunft gehen, ist Aufgabevon Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Lassen Sie unsgemeinsam weiter beherzt daran arbeiten!
Der Kollege Thomas Oppermann von der SPD-Frak-
tion ist der letzte Redner in dieser Debatte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzterRedner kann ich nur feststellen: Es ist vieles gesagt wor-den, aber noch niemand hat die Debatte zusammenge-fasst.
Man kann das, ohne alle Belege, die dafür erbracht wor-den sind, noch einmal anzuführen, sicherlich in einemSatz machen: Die deutsche Forschung ist schon heutebesser, und ihre internationale Wertschätzung ist schonheute größer, als es die eine oder andere politisch inspi-rierte Diskussion der vergangenen Jahre uns nahezule-gen versucht hat.
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Thomas OppermannDas ist natürlich auch ein hervorragender Ausgangs-punkt, um noch besser zu werden.Als jemand, der in den letzten zehn Jahren die For-schungsdebatte verfolgt hat und die Forschungspolitikteilweise auch mitgestalten durfte, bin ich erstaunt, wieviel in Deutschland im Augenblick gleichzeitig umge-setzt wird: Wir machen die Hightechstrategie und denPakt für Forschung und Innovation; wir führen die For-schungsprämie und Vollkostenfinanzierung ein; dieExzellenzinitiative mit Graduate-Schools, Exzellenz-clustern und Eliteuniversitäten ist auf dem Weg; Junior-professuren wurden eingeführt; wir machen ein Euro-pean Research Council mit Pionierforschung – so etwashätte ich mir vor zehn Jahren im Rahmen der EU nievorstellen können –,
und wir befinden uns inmitten der Umsetzung der Lissa-bonstrategie. Das alles passiert jetzt. Es wäre – das mussman bei aller Fairness sagen – ohne die Reformdebatteder letzten zehn Jahre und ohne die Arbeit der Vorgän-gerregierung von Rot-Grün nicht möglich gewesen, soviel in so kurzer Zeit in Deutschland auf einmal zu ma-chen. Viele Konzepte sind da schon entwickelt worden.
Es belegt aber auch die enorme politische Durchset-zungskraft der Großen Koalition, die ja nicht an jederStelle so leicht wie hier ins Auge fällt.
Wir werden allerdings auch mit der HightechstrategieDeutschland nicht wieder dahin bringen können, wo eseinmal stand. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis indie 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als der Glaubean den Zusammenhang von wissenschaftlichem Fort-schritt und Wohlstandsbildung noch ungebrochen warund in Deutschland grundlegende Erkenntnisse wie dieRelativitätstheorie oder die Quantenmechanik entwickeltwurden, waren wir im Grunde genommen in den Natur-und Technikwissenschaften international unangefochtendie Nummer eins. Dahin kommen wir nicht so ohneWeiteres wieder hin, weil die anderen – das muss manzur Kenntnis nehmen – inzwischen viel besser gewordensind. Das schaffen wir nur mit vereinten Kräften im Rah-men der Europäischen Union.
Die Europäische Union kann zur Nummer eins inForschung, Entwicklung und Innovation werden, abernur, wenn wir die Lissabonstrategie umsetzen. Das istschwierig, wie wir wissen. Der Bund schafft es, die Län-der schaffen es kaum; auch die Wirtschaft schafft es bis2010 nicht, die 2 Prozentpunkte beizubringen. Am1. Mai haben wir gesagt: Der Aufschwung muss einAufschwung für alle werden, auch für die Arbeitnehmer.Heute können wir hinzufügen: Der Aufschwung, den wirim Augenblick haben, muss auch zu einem Aufschwungvon Forschung und Entwicklung in den Unternehmenführen.
Angesichts der Tatsache, dass die Länder es nicht schaf-fen, ihren Anteil von 0,5 Prozentpunkten aufzubringen,dürfen wir uns nicht zufrieden zurücklehnen und mitdem Finger auf sie zeigen.
Auch auf europäischer Ebene wird es nicht möglichsein, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen, wenn wir aufLänder wie Rumänien, Bulgarien, Malta oder Zypernwarten, bei denen der Anteil für diese Ausgaben ir-gendwo bei 0,5 Prozent liegt. Da muss, wie ich denke,der Exportweltmeister eine Führungsrolle übernehmen.
Wenn wir das 3-Prozent-Ziel bis 2010 erreichen, dannsollten wir uns für den Zeitraum bis 2020 vornehmen, ei-nen Anteil von 3,5 Prozent zu erreichen.Ich möchte noch drei Anmerkungen machen.
Die müssen aber knapp sein, Herr Kollege.
Seien Sie großzügig, Herr Präsident.
Ich war durch wochenlange Gefangenschaft im Untersu-chungsausschuss gehindert, hier im Plenum zu reden.
Die erste der drei Bemerkungen zur Exzellenzinitia-tive: Frau Pieper, Sie sagten, dass Sie Strategien ver-missten. Mit der Exzellenzinitiative überwindet die deut-sche Forschung eine bis dahin eklatante strategischeSchwäche. Die Versäulung der deutschen Forschung inMax-Planck-Institute, Fraunhofer-Institute usw. bedeu-tete ja nichts anderes als der Auszug der Spitzenfor-schung aus den Hochschulen. Jetzt kehrt sie zurück.Schauen Sie sich einmal die ganzen Anträge zur Exzel-lenzinitiative an, die Cluster und die Zukunftskonzepte.Die außeruniversitäre Forschung kommt zurück und ver-bündet sich mit der Hochschulforschung. Wir habenwieder exzellente internationale Forschungszentren inden Universitäten. Das heißt, wir überwinden eine strate-gische Schwäche, ohne eine vorhandene Stärke, nämlichdie Eigenständigkeit zum Beispiel der Max-Planck-Insti-tute und der Fraunhofer-Institute, aufzugeben.
Zwei weitere kurze Bemerkungen. Wir müssen zweiProbleme lösen, zwei Lücken schließen. Die erste ist dieSpitzentechnologie- und Innovationslücke. Die FDPhat nicht ganz unrecht, wenn sie sagt, dass wir genau in
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Thomas Oppermannden Bereichen der Spitzentechnologie, wo die Wert-schöpfungspotenziale am größten sind, noch Schwächenin Bezug darauf haben, die wissenschaftlichen Erkennt-nisse wirtschaftlich verwertbar zu machen. Wir brauchenden Innovationsfonds. Wir müssen im Rahmen derHightechstrategie eine Lösung finden.Die zweite Lücke, die geschlossen werden muss, istdie Mittelstandslücke. 88 Prozent der Mittel für For-schung und Entwicklung werden von Unternehmen mitmehr als 500 Beschäftigten aufgewendet. Die For-schungsinvestitionen der KMU machen 12 Prozent derGesamtinvestitionen der Wirtschaft aus. Das ist zu we-nig. Angeblich gehen auch noch 40 Prozent der Aufträgeins Ausland. Die Forschungsprämie ist eine erste Ant-wort darauf. Wir müssen prüfen, ob wir noch weitereMaßnahmen ergreifen müssen, um dem Mittelstand For-schung und Entwicklung zu ermöglichen.Jetzt komme ich zu meiner Schlussbemerkung, HerrPräsident. Es genügt nicht, die noch vorhandenen Lü-cken zu schließen. Es reicht nicht aus, den Instrumenten-kasten zu vervollständigen, die Instrumente zu schärfenund Milliarden Euro zu mobilisieren. Wir müssen in die-sem Land auch das Denken und die Einstellungen derMenschen verändern. Wir müssen vor allem die immernoch verbreitete Angst vor Technik überwinden.
Sie wollten eine Schlussbemerkung machen, Herr
Oppermann.
Wir brauchen in den Schulen und Hochschulen, in
den Unternehmen und Forschungseinrichtungen mehr
Innovationskultur, mehr Risikobereitschaft und mehr
Unternehmergeist. Die SPD wird sich in ihrem neuen
Grundsatzprogramm dazu bekennen. Wir wollen neue
Wertschöpfungen durch technischen Fortschritt und auf
diese Weise die Voraussetzungen für ökonomischen
Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in Deutschland er-
halten und verbessern.
Herzlichen Dank.
Lieber Kollege Oppermann, um allzu weitreichendenSchlussfolgerungen vor allen Dingen anderer Kollegin-nen und Kollegen vorzubeugen, weise ich darauf hin,dass die Mitgliedschaft im Untersuchungsausschuss kei-nen Anspruch auf zusätzliche Redezeiten im Plenum be-gründet. Nehmen Sie den Zuschlag als ganz persönlicheSympathiebekundung.
– Ebendrum. – Deswegen trage ich den eingeräumtenZuschlag gar nicht vor. Sie können sich im Präsidium er-kundigen, wie wir das gehandhabt haben.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen zu den Vorlagen,zunächst zu den Tagesordnungspunkten 22 a und 22 b.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/3910 und 16/4863 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ichnehme an, dass Sie damit einverstanden sind. – Dann istdas so beschlossen.Zum Tagesordnungspunkt 22 c. Hier geht es um dieBeschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung auf derDrucksache 16/3546 zu den Unterrichtungen durch dieBundesregierung über den Bericht zur technologi-schen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2006, Druck-sache 16/1245, über den Bericht zum 6-Milliarden-Euro-Programm für Forschung und Entwicklung,Drucksache 16/1400, sowie über die Hightechstrategiefür Deutschland, Drucksache 16/2577, und zu weiterenVorlagen.Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss, in Kenntnis der genannten Unterrichtun-gen den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und derSPD auf Drucksache 16/1546 mit dem Titel „Die tech-nologische Leistungsfähigkeit mit dem 6-Milliarden-Euro-Programm und der High-Tech-Strategie stärken“ inder Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist diese Be-schlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis dergenannten Unterrichtungen den Antrag der Fraktionender CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/2628 mitdem Titel „Forschungsprämie zur besseren Kooperationvon Wissenschaft und Klein- und Mittelunternehmen
zügig umsetzen“ anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich der Stimme? – Auch diese Beschluss-empfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition angenom-men.Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis dergenannten Unterrichtungen den Antrag der Fraktion derFDP auf Drucksache 16/1532 mit dem Titel „Innovatio-nen brauchen Freiheit – Für mehr Arbeit und Wohl-stand“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich derStimme? – Auch hier ist die Beschlussempfehlung ange-nommen.Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis die-ser Unterrichtungen den Antrag der Fraktion der FDPauf Drucksache 16/2083 mit dem Titel „Innovationendurch Investitionen – Sonderprogramm für die Wissen-schaft zur Verbesserung der Kooperation mit der Wirt-schaft “ abzulehnen. Wer stimmtdieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.
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Präsident Dr. Norbert LammertSchließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5, inKenntnis der schon mehrfach erwähnten Unterrichtun-gen den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen auf Drucksache 16/2621 mit dem Titel „Technolo-giepolitik auf nachhaltige Innovationen ausrichten“abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlungzu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich derStimme? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c auf:a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenUlla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LINKENEntwicklung der extremen Rechten und dieMaßnahmen der Bundesregierung– Drucksachen 16/1009, 16/4675 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Petra Pau, Jan Korte, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der LINKENV-Leute in der NPD abschalten– Drucksache 16/4631 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Petra Pau, Klaus Ernst, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der LINKENBeratungsprojekte gegen Rechtsextremismusdauerhaft verankern und Ergebnisse der wis-senschaftlichen Begleitforschung berücksichti-gen– Drucksache 16/4807 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auchfür diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das sovereinbart.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste aus antifaschistischen Organisationen und Verbän-
den, die wir heute eingeladen haben! Neofaschistische
Propaganda und Gewalttaten haben einen neuen Höchst-
stand erreicht. In den Parlamenten von Sachsen und
Mecklenburg-Vorpommern verbreitet die NPD men-
schenverachtende Hetze. Auf den Straßen richten ihre
Fußtruppen Terror gegen alle, die nicht in ihr Weltbild
passen.
Einen Augenblick, bitte! Ich bitte diejenigen, die an
dieser Debatte nicht teilnehmen können oder wollen,
ihre anderweitigen Verpflichtungen außerhalb des Ple-
narsaals wahrzunehmen und – soweit sie der Debatte im
Plenarsaal doch folgen wollen – die dafür hinreichend
verfügbaren Sitzplätze zu benutzen. – Wir warten, bis
wir das realisiert haben. – Bitte schön, Frau Jelpke.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.Sinn unserer Großen Anfrage war es, diese Entwick-lung so gründlich wie möglich zu erforschen. Die Linkewill, dass Neofaschismus in diesem Land bekämpftwerden kann.
Die Antworten der Bundesregierung sind jedoch extremknapp. Oftmals hat sie trotz des Einsatzes von V-Leutenin dieser Partei überhaupt keine Erkenntnisse.Wir wollen Aufklärung und wir wollen Konzepte ge-gen rechts. Stattdessen präsentiert uns die Regierungeine Mischung aus Oberflächlichkeit, Ignoranz und Ver-harmlosung. Diese Antwort, auf die wir ein Jahr langwarten mussten, hinkt weit hinter den Notwendigkeitenher.Ein Beispiel. In manchen Regionen werden Linkeoder Menschen ausländischer Herkunft Tag für Tag vonRechtsextremisten bedroht. Neofaschisten sprechen vonsogenannten national befreiten Zonen. Selbst dieBundeszentrale für politische Bildung warnt auf ihrerHomepage vor einer Faschisierung der ostdeutschenProvinz. Aber die Bundesregierung wiegelt ab und be-hauptet, es könne lediglich der Eindruck entstehen, dassRechtsextremisten punktuell das öffentliche Erschei-nungsbild bestimmen. Das ist unserer Meinung nacheine zynische Missachtung der Opfer neofaschistischerGewalt.
Zweites Beispiel. Über Nazikonzerte erteilt die Re-gierung die nichtssagende Auskunft – ich zitiere –:Rechtsextremistische Bands bevorzugen Rock-musik in den verschiedensten Stilrichtungen oderLiedgut in Balladenform.Tatsächlich dringen Neofaschisten immer stärker in an-dere Musikstile ein. Ich nenne hier nur Ska, Punk, Rapund Hip-Hop. Diese Musik wird mit Texten unterlegt,die Hetze und Mordaufrufe enthalten. Darauf geht dieBundesregierung in ihrer Antwort mit keinem Wort ein.Eine falsche Behauptung löst die andere ab; eine Wis-senslücke folgt auf die nächste. Bekannt ist, dass Lädender rechten Szene für den Zusammenhalt der Nazikame-radschaften zentral sind. Warum die Regierung keinerleiErkenntnisse hat, wie sich diese Läden entwickeln undwie verbreitet sie sind, können wir nicht nachvollziehen.
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Ulla JelpkeDies betrifft ebenso die Widersprüche innerhalb derNPD.Rechtsextreme Einstellung ist ein Problem in derMitte der Gesellschaft, keines des Randes oder be-stimmter Altersgruppen.
So heißt es in einer Studie der sozialdemokratischenFriedrich-Ebert-Stiftung.Doch die Bundesregierung will den Neofaschismusnur als Problem sehen, das den extrem rechten Rand be-trifft. Tatsächlich suchen und finden Neofaschisten An-knüpfungspunkte weit in der sogenannten Mitte dieserGesellschaft. Vor wenigen Tagen hat der CDU-Landratvon Muldental mit sogenannten volkstreuen Jugendli-chen und Anhängern der NPD freundlich geplaudert.Der sächsische Landtagspräsident Erich Iltgen, Mitgliedder CDU, hielt es in dieser Woche nicht einmal für nötig,den NPD-Abgeordneten Holger Apfel zu rügen, als erMigranten als „Wohlstandsneger“ bezeichnete und diesediffamierte, indem er sagte, sie seien sowieso nicht inDeutschland integrierbar. Für die Linke ist so etwasnicht mehr mit Naivität zu entschuldigen.
Aber damit nicht genug. Das Studienzentrum Wei-kersheim unter der Schirmherrschaft von Unionspoliti-kern fördert seit Jahren Wehrmachtsverherrlichung undAntisemitismus. Bei Vertriebenenverbänden, Burschen-schaften und etlichen pensionierten Bundeswehroffizie-ren lässt sich Ähnliches beobachten. Umfragen zeigenhohe Zustimmungswerte für rassistische Positionen. Eshat sich ein Graubereich etabliert, in dem sich Rechts-extremisten und Konservative vermischen. Doch die Re-gierung drückt beide Augen zu und will hiervon nichtswissen. Es gibt keinerlei Erkenntnisse.Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfragezeigt erneut: Eine ernsthafte Bekämpfung des Rechts-extremismus bedarf einer umfassenden Konzeption.Der Einsatz von V-Leuten in der NPD gehört unsererMeinung nach nicht dazu.
Wenn wir verhindern wollen, dass Naziparteien weitereWahlerfolge feiern und der rechte Terror auf den Straßenzunimmt, brauchen wir vielfältige Programme und Ak-tionen gegen diese braunen Banden. Wir brauchen Kon-zepte gegen den weitverbreiteten Antisemitismus undRassismus in dieser Gesellschaft.Ich danke Ihnen.
Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Par-
lamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die GroßeAnfrage der Fraktion Die Linke „Entwicklung der extre-men Rechten und die Maßnahmen der Bundesregierung“mit 286 und – wenn wir die Unterfragen hinzurechnen –insgesamt 390 Fragen wurde von der Bundesregierungin der geforderten Ausführlichkeit beantwortet. Die Kri-tik an der Sorgfalt der Bundesregierung bei der Beant-wortung dieser Fragen, Frau Jelpke, möchte ich zurück-weisen.
Vielmehr scheinen zwischen den Fragestellern und derPosition der Bundesregierung Diskrepanzen aufzutreten,auf die ich in meiner Kommentierung der Großen An-frage eingehen möchte.Da ist zunächst einmal eine Vorbemerkung erforder-lich. Wir reden heute über Rechtsextremismus. Das istangesichts der leider anhaltenden Aktualität dieses The-mas sicher wichtig. Der Rechtsextremismus, der heuteunser Thema ist, stellt aber nur einen Teil der extremis-tischen Bedrohungen unserer Grundordnung dar – ei-nen gewichtigen, den wir sehr ernst nehmen müssen undauch sehr ernst nehmen. Es muss aber auch klar bleiben– ich glaube, das ist für die meisten Mitglieder diesesHauses selbstverständlich –, dass sich der freiheitlicheStaat gegen jede Form extremistischer Bedrohung ver-teidigen muss.
Dieser Logik folgen unsere Verfassungsschutzberichte,wenn sie rechtsextremistische, linksextremistische undislamistisch-terroristische Bestrebungen und Gefährdun-gen darstellen.Wir reden also heute aus klarem Anlass über einenTeil des Gesamtproblems. Das Gesamtproblem verdientauch deshalb eine Erwähnung, weil nur so das Schutzgut„freiheitlich-demokratische Grundordnung“ hinrei-chend deutlich wird. Die Diskussion über den Rechts-extremismus, den wir gemeinsam bekämpfen wollen,darf nicht zur Legitimierung linksextremistischer Ge-genbewegung führen.
Grundlage unserer Auseinandersetzung mit demRechtsextremismus und seiner Bekämpfung ist einmehrdimensionaler Handlungsansatz mit präventivenund repressiven Elementen. Dabei ist das wohl wich-tigste Instrument der Extremismusprävention, denMenschen – auch und gerade den heranwachsendenMenschen – den Wert von Freiheit, Recht und Demokra-tie deutlich zu machen.
Gerade wir in Deutschland wissen leider aus überreicherErfahrung, was es bedeutet, dieser Grundwerte zu ent-behren. Ein positives Verhältnis zu unserem Staat, zu un-serer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist diesicherste Gewähr gegen extremistische Versuchungen.
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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
Ich habe mich unter diesem Gesichtspunkt mit denVorbemerkungen der Großen Anfrage der Linken aus-einandergesetzt. Leider finde ich in diesen Vorbemer-kungen wenig überzeugende Hinweise für solch einpositives Verhältnis zu unserem Gemeinwesen. Stattdes-sen werden rechtsstaatliche Institutionen und demokrati-sche Parteien zu indirekten Handlangern des Rechts-extremismus erklärt. So weisen Sie, meine Damen undHerren von der Linken, auf angeblich gut begründeteÄngste in der Bevölkerung hin und behaupten, dass anti-semitische und rassistische Lösungsangebote auch des-halb auf Zustimmung stoßen, „weil die Bürgerinnen undBürger nach Alternativen zur Koalition der marktradika-len Kräfte von Grünen bis zur CDU suchen.“Ich könnte hier noch weitere Beispiele aus den Vorbe-merkungen nennen. Wenn man diese Vorbemerkungenliest, fragt man sich, ob wir wirklich im selben Staat le-ben. Ich bitte deshalb das Hohe Haus um Verständnis,dass die Bundesregierung im Rahmen ihrer Antwort da-rauf verzichtet hat, auf diese Vorbemerkungen der Frage-steller einzugehen.
Einen Punkt aber möchte ich in Reaktion auf die Vor-bemerkungen der Großen Anfrage festhalten: Wer unserefreiheitlich-demokratische Grundordnung gegen Ex-tremismus, gerade auch gegen Rechtsextremismus, ver-teidigen will, der ist nur glaubwürdig, wenn er dieseGrundordnung selbst bejaht und davon überzeugt ist,dass sie es wert ist, verteidigt zu werden.
Nach meiner persönlichen Beobachtung – wenn ichdies anführen darf – besteht das gegenwärtige Risiko inder Verbreitung rechtsextremistischen Gedankengutesbei weitem nicht nur in der Verführungskraft und Attrak-tivität dieser menschenverachtenden Thesen, es bestehtnicht nur in der gefährlichen Struktur rechtsextremisti-scher Organisationen, sondern das Risiko besteht auch inder Leere und Orientierungslosigkeit in den Köpfen Ein-zelner, insbesondere Jugendlicher.
Ich sage das deshalb, weil politische Bildung, diezum Verständnis und zur Bindung an die Werte unseresRechtsstaates und unserer Rechtsordnung beiträgt, indiesem Zusammenhang unbedingt Beachtung verdient.Der politische Bildungswert dieser Großen Anfrage istjedoch durchaus in Zweifel zu ziehen. Schwerpunkt fürdie Autoren war, Erkenntnisse über rechtsextremistischeErscheinungen und Tendenzen in unterschiedlichenGliederungen unserer Gesellschaft zu erhalten. Die Bun-desregierung hat sich, wie gesagt, um angemessene Aus-kunft bemüht, was oft dadurch erschwert wurde, dasssich die Fragesteller in ihrem Auskunftsbegehren weitvon den gültigen Kriterien des Verfassungsschutzes,etwa den §§ 3 und 4 des Bundesverfassungsschutzgeset-zes, entfernt und die Fragestellung nicht selten zum An-lass zweifelhafter politischer Wertungen und Unterstel-lungen genommen haben. Hier, Frau Jelpke, istmöglicherweise die Ursache für die in Ihren Augen un-befriedigende Antwort auf Ihre Fragen zu suchen. WennSie Fragen stellen, die mit Wertungen verbunden sind,die die Bundesregierung nicht teilt, können Sie nicht dieAntworten erwarten, die Sie sich vorgestellt haben.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lötzsch?
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Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
über die Hälfte Ihrer Redezeit sind Sie auf die Vorbe-
merkungen unserer Großen Anfrage eingegangen, was
Sie ja eigentlich nicht tun wollten. Ich nehme das zum
Anlass, um darauf hinzuweisen, dass Sie viele unserer
Fragen unzureichend beantwortet haben. Mir geht es
konkret um die Frage 180. Darin geht es um die rechts-
extremen Denkfabriken. Die Bundesregierung lässt hier
sehr viel offen. Ich möchte die unzureichend beantwor-
tete Frage 180 zu einer Zwischenfrage nutzen. Vielleicht
können Sie das Ganze etwas präziser ausführen.
Sie wissen, dass das Studienzentrum Weikersheim
in die Schlagzeilen gekommen ist, weil dort immer wie-
der rechtsextreme Vorträge gehalten wurden. Minister-
präsident Oettinger sah sich gezwungen, seine Mitglied-
schaft in diesem Studienzentrum zumindest ruhen zu
lassen. In Anbetracht dieser Tatsache möchte ich gerne
von Ihnen wissen, warum die Bundesregierung dieses
Studienzentrum weiterhin unterstützt und ob Sie bereit
und in der Lage sind – Sie sind natürlich in der Lage
dazu; ich möchte aber wissen, ob Sie dazu auch bereit
sind –, die finanzielle Unterstützung für das Studienzen-
trum Weikersheim sofort einzustellen.
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Frau Kollegin Lötzsch, ich bin auf die Vorbemer-kungen eingegangen, weil die Bundesregierung in derBeantwortung der Großen Anfrage aus den von mir ge-schilderten Gründen zu diesen Vorbemerkungen nichtStellung genommen hat und weil die Vorbemerkungenbedauerlicherweise keine Hinweise auf das eigentlicheSchutzgut, um das es uns bei der Extremismusbekämp-fung – hier der Rechtsextremismusbekämpfung – geht,enthält.Wir sind zurzeit dabei, eine schriftliche Anfrage, dieSie zum Thema Weikersheim gestellt haben, zu beant-
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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergnerworten. Ich will dieser Antwort nicht vorgreifen, ich willmir aber einen Hinweis erlauben: Ich habe das Zitat ge-bracht, in dem Sie von einer marktradikalen Koalitionsprechen, die von den Grünen bis zur CDU reicht; dieSPD gehört vermutlich auch dazu.
– Wenn ich das Zitat richtig deute. Vielleicht sind Sieauch außen vor geblieben. Ich weiß das nicht. – Ich habediese Aussage in Ihren Vorbemerkungen aus gutemGrund zitiert: Sie leisten mit einer solch sektiererischenWertung gegenüber anderen demokratischen Parteienkeinen Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.Das ist meine feste Überzeugung.
Gerade vor dem Hintergrund solcher oft problemati-scher Fragestellungen sei es mir erlaubt, im Sinne einerKlarstellung zusammenfassend zu betonen: Für die Bun-desregierung bleibt die Bekämpfung des Rechtsextre-mismus eine Daueraufgabe, nicht nur, aber natürlichauch im Bereich der inneren Sicherheit. Die Bundesre-gierung nimmt zusammen mit allen demokratischenKräften die Bekämpfung des Rechtsextremismus sehrernst und tritt den rechtsextremistischen Erscheinungs-formen mit einem Bündel an repressiven und präventi-ven Maßnahmen deutlich entgegen. Gerade die Entwick-lung von zielgerichteten Präventionsstrategien isthierbei von besonderer Bedeutung. Vielfalt, Toleranzund Demokratie sind Werte, die in der präventiven Ar-beit kontinuierlich und überzeugend vermittelt werdenmüssen.Aber auch die bereits rechtsextremistisch gefährdetenJugendlichen dürfen nicht aufgegeben werden. Das Par-lament hat für diese Arbeit 19 Millionen Euro im Jahrzur Verfügung gestellt. Das Programm „Jugend für Viel-falt, Toleranz und Demokratie“ ist am 1. Januar 2007 er-folgreich gestartet. In Ergänzung zu dem Präventivpro-gramm ist im Auftrag des Parlaments ein weiteresProgramm geplant, das einen Schwerpunkt auf die an-lassbezogene Intervention gegen Rechtsextremismussetzt. Für dieses Programm sollen 5 Millionen Euro imJahr zur Verfügung gestellt werden. Dabei geht es umAngebote zur Beratung, darum, den betroffenen Kom-munen, aber auch den betroffenen Menschen vor Ort ineiner akut bedrohlichen Situation mit rechtsextremem,fremdenfeindlichem oder antisemitischem Hintergrundschnelle und professionelle Hilfe anzubieten. Die Bun-desregierung nimmt ihre Verantwortung wahr. Wir wol-len dabei Hand in Hand mit allen demokratischen Kräf-ten in Bund, Ländern und Kommunen handeln. Um neueWege bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus aus-zuloten und vorhandene Strategien zu optimieren, hatdas Bundesministerium des Innern mit dem Familienmi-nisterium und den jeweiligen Partnerressorts der neuenLänder einschließlich Berlins sowie den kommunalenSpitzenverbänden eine Koordinierungsgruppe einge-setzt. Es geht vor allem darum, Synergieeffekte zu er-zeugen und Lücken in der Handlungskette aufzuzeigen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir hier wichtige Impulsegeben können. Nur wenn jede Ebene ihre Verantwortungübernimmt und im Verbund mit den anderen Verantwor-tungsträgern entschlossen und konsequent handelt, kön-nen und werden wir diesen schwierigen Kampf beste-hen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Miriam Gruß,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Jeder vierte Deutsche ist tendenziell auslän-derfeindlich eingestellt. Rechtsextreme Einstellungensind kein Randphänomen, sondern in der Mitte der Ge-sellschaft verwurzelt; dies ergab unlängst die schonangesprochene bundesweite Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ausländerfeindlichkeit ist demnach die amweitesten verbreitete rechtsextreme Einstellung. 26,7 Pro-zent der Befragten aus allen Bevölkerungsschichten,Bundesländern und Wählergruppen stimmten entspre-chenden Thesen zu. Das ist jeder vierte Bundesbürger.Wir reden hier also nicht von einer Gruppe Verrückter.Es ist deshalb notwendig, immer wieder zu thematisie-ren, wie gefährlich die unterschiedlichen Spielarten despolitischen Extremismus sein können.
Dieses Problem darf nicht marginalisiert werden.Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet sind inTeilen Deutschlands rechtslastige Strukturen entstan-den, die unsere freiheitlich-demokratische Grundord-nung infrage stellen. Der Rechtsextremismus beginnt,dort langsam die Alltagskultur zu durchdringen. Es istein schwelender Brand, der die Zivilgesellschaft be-droht. Dieser Brand breitet sich klammheimlich immerweiter aus und ist bald nicht mehr einzudämmen. Dabeigeht es nicht nur um Skinheads mit Springerstiefeln undSpringmessern, sondern auch um scheinbar ganz nor-male Menschen, die in der Mitte unserer Gesellschaftleben. Die rechte Szene wird immer selbstbewusster,warnte unlängst das Bundeskriminalamt. Das zeigt sichauch an ihren zunehmend öffentlich gewählten Tatortenund an provokativen Auftritten und Demonstrationen.Vor allen Dingen junge Menschen werden mehr undmehr, ideell verbrämt, mit demokratiefeindlichem Ge-dankengut erzogen. Viele von ihnen werden so für ihrLeben geprägt und gebrandmarkt.
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Miriam GrußEs ginge auch anders. Doch präventive politischeBildungsarbeit scheint nicht immer erwünscht. Sie, sehrgeehrte Damen und Herren von der Großen Koalition,hätten die Beratungs- und Hilfeprogramme gegenRechtsextremismus doch am liebsten einstampfen las-sen – gegen den Rat aller Experten und der vor Ort enga-gierten Spezialisten.
Nur mit massivem Druck konnten wir Sie alle dazu brin-gen, diese Programme weiter existieren zu lassen, wennauch in mangelhafter Ausstattung.
Sie alle haben die Programme auf ein Minimum redu-ziert, auf Projekte, die nur noch eine Reaktion zulassen,nicht aber die so dringend notwendige präventive Ak-tion.
Dabei ist und bleibt Prävention das wichtigste Mittel imKampf gegen extremes Gedankengut.
Die neuen Programme, die Sie aufgelegt haben, grei-fen nur in Krisensituationen.
Doch wer beurteilt, wann ein Vorfall problematisch ist?Wie schnell kann ein mobiles Beratungsteam im Notfallvor Ort sein, und wie lange hat dieses Team Zeit zu ar-beiten? Muss es gleich zum nächsten Brandherd weiter?Der Rechtsextremismusexperte Wilhelm Heitmeyer be-tonte bereits mehrfach, dass Projekte nur dort erfolgreicharbeiten können, wo sie gut vernetzt sind. Berater vonaußerhalb werden von den Menschen vor Ort nicht ak-zeptiert.Angesichts der vom Rechtsextremismus ausgehendenBedrohungen und der Gefahr einer sich zunehmend he-rausbildenden rechtsextremen Jugendszene bleibenstaatlich unterstützte Projekte zur Bekämpfung solcherTendenzen eine Daueraufgabe und kein einmaliges Er-eignis.
Die Motive rassistischer Einstellungen sind mittler-weile sehr vielschichtig. Ihre Bekämpfung muss es des-halb auch sein. Neben den hier thematisierten punktuel-len Beratungs- und Hilfeangeboten müssen wirweiterhin die Ursachen dieser fatalen Entwicklung fin-den und beheben. Diese sind in erster Linie Bildungs-mangel, Armut und Arbeitslosigkeit.Deshalb brauchen wir, wie von unserer Fraktion be-reits im vergangenen Spätsommer gefordert, ein tragfä-higes und langfristiges Konzept zur Bekämpfung vonExtremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitis-mus
und keine Oberflächenkosmetik. Die zuständigen Stellenbrauchen Planungssicherheit.
Wir brauchen einen integrativen Ansatz, durch dender Extremismus im Ansatz bekämpft wird. Eine reineKrisenintervention wird nicht ausreichen. Wie ein sol-cher integrativer Ansatz aussehen könnte, haben wir inunserem Antrag bereits deutlich gemacht.
Die Bundesregierung zeigt in diesem Punkt allerdingsBeratungsresistenz.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Meine Damen und Herren, nur wenn wir dieses Pro-
gramm langfristig gemeinsam angehen, können wir un-
sere Gesellschaft vor einer katastrophalen Entwicklung
und viele junge Menschen vor einem Irrweg, der ihr Le-
ben ruiniert, bewahren.
Danke.
Ich gebe das Wort der Kollegin Gabriele Fograscher,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Zunächst eine Klarstellung: Das StudienzentrumWeikersheim erhält weder aus dem Bundeshaushaltnoch aus dem Landeshaushalt Baden-Württemberg Mit-tel. Traurig ist allerdings natürlich, dass es anscheinenddurch Privatpersonen finanziert wird und dadurch finan-ziell gut ausgestattet ist.Frau Gruß, wir wollten die BundesprogrammeCivitas und Entimon keineswegs einstampfen. Es waraber von Anfang an klar, dass die Programme weiterent-wickelt werden müssen. Das haben wir getan. Ich gebeja zu, dass der Diskussionsprozess nicht immer einfachwar, aber ich glaube, wir haben hier jetzt einen gutenAnsatz gefunden, der nachhaltig wirken wird.
Die Anfrage der Linken zum Rechtsextremismus ent-hält 286 Fragen, deren Beantwortung nicht ausschließ-lich in der Zuständigkeit des Bundes liegt; das wissen
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Gabriele FograscherSie. Viele Fragen wurden deshalb nur knapp beantwor-tet. Ich finde aber schon, dass trotzdem ein guter Über-blick über die Entwicklung und die Erscheinungsformendes Rechtsextremismus in Deutschland gegeben wird.Trotz der vielfältigen Aktivitäten der Bundesregierungbleibt die Bekämpfung des Rechtsextremismus natürlichauch in Zukunft eine wichtige Aufgabe.Das wird leider auch durch die aktuellen Zahlen ge-zeigt. Dr. Schäuble stellte am 30. März 2007 fest – ichzitiere –:Der höchste Zuwachs ist dabei im Bereich der poli-tisch motivierten Kriminalität – rechts festzustellen,der mit 18.142 Straftaten … ohnehin den Haupt-anteil stellt …Die politisch motivierte Kriminalität rechts ist im Ver-gleich zu 2005 in 2006 um rund 14 Prozent gestiegen.Die Gewalttaten von rechts stiegen um rund 7,8 Prozentauf 1 115 registrierte Fälle.Diese Zahlen sind erschreckend. Deshalb brauchenwir beides: Wir brauchen repressive Maßnahmen, wieVereins- und Versammlungsverbote, und konsequenteStrafverfolgung. Das ist die eine Seite wehrhafter Demo-kratie.Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung– dort sind die Vereinsverbote der letzten Jahre seit 2000aufgeführt –:Verbote sind grundsätzlich Ultima Ratio der Ausei-nandersetzung mit dem politischen Extremismus …Die Bundesregierung bewertet diese Verbote alserfolgreich, da hierdurch die Strukturen des gewalt-bereiten subkulturell geprägten Rechtsextremis-mus … deutlich geschwächt wurden.Auch mit den Änderungen des Versammlungsrechtsund des Strafgesetzbuches seit April 2005 wurden dieMöglichkeiten verbessert, rechtsextremistische Ver-sammlungen zu verbieten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Jelpke?
Ja.
Frau Kollegin Fograscher, Sie haben gerade über Ver-
bote von Organisationen gesprochen. In der Tat hat die
Bundesregierung einige Verbote erlassen. Wie Sie wis-
sen, ist aber das NPD-Verbotsverfahren gescheitert,
und zwar vor allem deshalb, weil die V-Leute des Ver-
fassungsschutzes nicht abgezogen wurden.
Vertreter Ihrer Partei – an führender Stelle Herr
Struck, aber auch der Vorsitzende des Innenausschusses,
Herr Edathy – sprechen sich immer wieder für ein neues
Verbotsverfahren aus. Sind Sie bereit, nähere Auskunft
darüber zu geben, wie das Thema in der Fraktion der
SPD weiterbehandelt wird? Wird sich die SPD unserem
Antrag anschließen, die V-Leute abzuschalten, damit die
Bundesverfassungsrichter die Situation erneut überprü-
fen können?
Frau Jelpke, ich wollte eigentlich später auf Ihren An-
trag zum Abzug der V-Leute aus der NPD eingehen, aber
ich kann das auch gerne an dieser Stelle tun. Ich halte
diesen Antrag für naiv. Denn ich glaube, dass viele Ein-
schätzungen in den Antworten der Bundesregierung auf
Erkenntnissen beruhen, die ohne den Einsatz von V-Leu-
ten nicht gewonnen werden könnten.
Ich halte Ihren Antrag auch für gefährlich, weil sich
ein weiteres Verbotsverfahren über lange Zeit hinziehen
könnte und wir dann keine Informationen mehr über
Entwicklungen in der extremen rechten Szene hätten.
Deshalb werden wir Ihrem Antrag, die V-Leute abzuzie-
hen, nicht zustimmen.
Schwerpunkt der Maßnahmen in der Auseinanderset-
zung mit politischem Extremismus bleiben die präventi-
ven Maßnahmen. Wir haben die ehemaligen Bundes-
programme Civitas und Entimon weiterentwickelt bzw.
ein neues Bundesprogramm mit dem Titel „Jugend
für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti-
semitismus“ aufgelegt, das mit jährlich 19 Mil-
lionen Euro ausgestattet ist.
Wir setzen mit diesem Programm bei den Jugendli-
chen an. Wir nehmen die Erkenntnisse aus der wissen-
schaftlichen Begleitforschung der vergangenen Jahre zu
Civitas ernst und setzen sie um. Von zentraler Bedeutung
ist die Eingebundenheit von Projekten in Vernetzungs-
strukturen. Wenn zum Beispiel ein außerschulisches Pro-
gramm auch in der Schule seinen Widerhall findet, er-
höht dies die Erfolgsaussichten deutlich. Deshalb ist es
richtig, dass das neue Programm lokale Aktionspläne
fördert. Eingebundenheit und Akzeptanz eines Projektes
in der jeweiligen Kommune sind wichtige Voraussetzun-
gen für den Erfolg. Denn demokratische Kultur muss zu-
allererst auf lokaler Ebene gestaltet und gelebt werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage des Kollegen Spieth?
Ja.
Frau Kollegin Fograscher, ich habe eine Nachfrage zuIhren Ausführungen über die Programme Civitas undEntimon. Sie sprachen davon, dass diese Programmemit dem neuen Programm fortgesetzt werden, und habenauf die einzelnen Positionen hingewiesen. Sind Sie wirk-lich der Überzeugung, dass das neu aufgelegte Bundes-programm eine Weiterentwicklung des Civitas-Pro-gramms darstellt? Wie Sie wissen, stand im Civitas-Programm der präventive Charakter – insbesondere die
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Frank SpiethMobilisierung zivilgesellschaftlicher Ansätze – im Vor-dergrund. Bei dem neuen Programm hingegen wird imWesentlichen der präventive Ansatz vermieden; stattdes-sen wird mit der Krisenintervention nur noch der reak-tive Ansatz verfolgt. Das heißt, es wird erst dann mit Be-ratungsangeboten agiert, wenn das Kind schon imBrunnen liegt.Halten Sie das wirklich für eine Fortentwicklung,oder sehen Sie es als das, was es ist, nämlich ein Rück-schritt gegenüber den ursprünglichen Programmansät-zen?
Ich habe über das Folgeprogramm von Civitas und
Entimon gesprochen, das mit jährlich 19 Millionen Euro
ausgestattet ist und in der Tat eine Weiterentwicklung
dieser Programme bedeutet. Ich komme gleich zu dem
Programm, das wir zusätzlich auflegen. Ich danke unse-
ren Haushältern in der SPD-Bundestagsfraktion und be-
sonders Frau Griese, dass es uns gelungen ist, dieses
Programm mit 5 Millionen Euro auszustatten. Dieses
Programm beinhaltet die sogenannte Krisenintervention.
Das kommt hinzu. Ich halte das für sinnvoll.
Dieses mit 5 Millionen Euro ausgestattete Programm
„Förderung von Beratungsnetzwerken – Mobile Kri-
seninterventionsteams gegen Rechtsextremismus“ ist
ein zusätzliches Programm. Es wird in Zukunft in jedem
Bundesland eine Koordinierungsstelle geben, die neben
der Bildung eines landesweiten Beratungsnetzwerkes
auch über die Zusammensetzung und Koordinierung der
mobilen Interventionsteams entscheiden wird. Diese
Landeskoordinierungsstellen dienen als Kontaktstellen
für die Betroffenen in Krisensituationen. Es werden ein
regelmäßiger Informationsaustausch und Öffentlich-
keitsarbeit über das Beratungsnetzwerk und die mobilen
Interventionsteams gewährleistet. Mit dieser Konzeption
werden wir – davon bin ich überzeugt – mehr erreichen,
als Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-
tion, in Ihrem entsprechenden Antrag fordern.
Wir haben gerade über den Abzug der V-Leute disku-
tiert. Sie fordern die Bundesregierung auf, „dem Bun-
destag ein inhaltliches und finanzielles Konzept für eine
zu schaffende unabhängige Beobachtungsstelle Rechts-
extremismus, Rassismus und Antisemitismus vorzule-
gen“. Glauben Sie ernsthaft, dass eine solche Beobach-
tungsstelle mehr Informationen über das Innenleben der
NPD oder anderer rechter Organisationen bekommt als
der Bundesverfassungsschutz und die Verfassungs-
schutzämter der Länder?
Ich halte diese Ansicht nicht nur für naiv, sondern
auch für gefährlich.
Rechte und rechtsextreme Parteien engagieren sich
inzwischen auch im vorpolitischen Raum. Sie gehen in
Vereine, richten Straßen- und Familienfeste aus, enga-
gieren sich in Elternbeiräten der Schulen, stellen sich als
Trainer und Betreuer in Sportvereinen zur Verfügung.
Besonders besorgniserregend ist die zunehmende Verall-
täglichung rechtsextremer Jugendkultur. Mit rechts-
extremer Musik und Dresscodes, Symbolen und Konzer-
ten werden Jugendliche angelockt. Hier besteht in der
Tat weiterer Aufklärungs- und Informationsbedarf.
Wertvolle Arbeit leistet dabei das Bündnis für
Demokratie und Toleranz, auch aus Bundesmitteln ge-
fördert, die in diesem Haushalt auf 1 Million Euro pro
Jahr aufgestockt wurden.
Ich selbst durfte in der letzten Woche in Würzburg Preis-
träger auszeichnen, die am Wettbewerb „Aktiv für De-
mokratie und Toleranz“ teilgenommen haben. Ich habe
dabei engagierte und motivierte Menschen kennenge-
lernt, die sich ehrenamtlich in vielfältigen Projekten und
Initiativen gegen rechts und rechtes Gedankengut stellen
und für Respekt, Vielfalt, Demokratie und Toleranz im
Alltag werben. Diese Menschen brauchen unsere Unter-
stützung und Anerkennung.
Ich darf Sie zum Schluss zu einer Veranstaltung am
23. Mai, am Tag des Grundgesetzes, einladen. Das ist in
der nächsten Sitzungswoche. Hier wird das Bündnis für
Demokratie und Toleranz wie in jedem Jahr aktiv. Im
Haus der Berliner Festspiele werden unter anderem die
Botschafter der Toleranz ausgezeichnet. Sie können sich,
wenn Sie diese Veranstaltung besuchen – ich glaube, Sie
alle haben eine Einladung erhalten –, von vorbildlichen
Projekten einen eigenen Eindruck verschaffen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-
legin Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Kurzinter-vention bezieht sich sowohl auf den Herrn Staatssekretärals auch auf die Kollegin Fograscher. Herr Staatssekre-tär, Sie waren der Auffassung, dass Sie meine Anfragenoch nicht beantwortet hätten. Ich darf Ihnen mitteilen,dass Herr Staatssekretär Diller vom Finanzministeriummir am 9. Mai die Antwort zugeleitet hat. Frau KolleginFograscher, aus dieser Antwort geht eindeutig hervor,dass das Studienzentrum Weikersheim – mir liegt einevierseitige Tabelle vor – aus Mitteln des Bundes finan-zielle Unterstützung erhalten hat,
zum Beispiel für das 5. Jung-Weikersheim-Seminar zumThema Konservatismus, eine sicherheitspolitische Ta-gung und die 13. Internationalen Studientage „Der So-zialstaat im Wandel – Eigentum oder Bevormundung des
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Dr. Gesine LötzschBürgers?“. All das fand im Studienzentrum Weikersheimstatt; all das wurde über den Bundeshaushalt finanziert.
Ich will das hier richtigstellen.Ich habe mich auf eine offizielle Angabe der Bundes-regierung bezogen. Frau Kollegin Fograscher, Sie kön-nen sich diesen Bericht gern von den Berichterstatterndes Einzelplanes 06 Ihrer Fraktion überreichen lassen.Dann müssen Sie mich hier nicht mehr zeihen, die Un-wahrheit zu sagen.
Es besteht kein Bedürfnis, zu antworten. Deswegen
gebe ich das Wort zum nächsten Redebeitrag der Kolle-
gin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Teile der extremen Rechten haben es geschafft, durchlangfristige Strategien ernst zu nehmende Erfolge zu er-zielen; das zeigen die Antworten auf die Große Anfragedeutlich. Der NPD ist es gelungen – ich zitiere aus derAntwort –,... im Rahmen der „Volksfront von rechts“... unter-schiedliche Kräfte sowohl aus dem Neonazilagerals auch aus dem rechtsextremistischen Parteien-spektrum zu bündeln.Sie hat... die Bedeutung langjähriger kontinuierlicher Ba-sisarbeit und lokaler Verankerung … erkannt undversucht deshalb, entsprechende Schwerpunkte …zu setzen …Da ist also von „kontinuierlicher Basisarbeit“ und von„lokaler Verankerung“ die Rede. Was heißt das konkret?Ich möchte Ihnen ein aktuelles Beispiel erzählen. Esillustriert, wie Rechtsextreme vor Ort Fuß fassen undeinbezogen werden. In meiner Heimat Sachsen liegt derMuldentalkreis mit der Kreisstadt Grimma. Es ist eineganz normale Kleinstadt mit normalen Leuten. Die NPDsitzt allerdings im Kreistag; es gibt dort junge Leute, diesich selbst als „volkstreu“ bezeichnen und aktiv Kontaktzu den örtlichen Behörden aufbauen. Wie wir vor eini-gen Tagen zur Kenntnis nehmen mussten, tun sie das mitErfolg: Der Landrat Dr. Gey, ein CDU-Mitglied, emp-fing direkt in seinem Amtssitz eine rechtsextreme Dele-gation und debattierte mit deren Angehörigen, als wärensie politisch Interessierte wie andere auch. Danachschwärmte die NPD in einer Pressemitteilung davon underklärte, es sei ein „von gegenseitigem Respekt und vonFairneß“ getragener Dialog gewesen.Ich will Ihnen sagen, was mich hieran am meisten er-schüttert: Es ist nicht die Tatsache, dass Herr Gey bereitist, mit allen Menschen aus seiner Stadt zu sprechen,sondern die Tatsache, dass es in einem derart offiziellenRahmen getan wurde, ohne sich in angemessener Weisevon diesen Neonazis zu distanzieren.
Nach dem Medientrubel war der Vorfall dem Landratpeinlich; er erklärte, er habe einen Fehler gemacht. Zudieser Einsicht hätte er aber schon vorher kommen kön-nen; denn es gab schon vorher Warnungen. Sie wurdenaber leider nicht ernst genommen.Dieses aktuelle Ereignis zeigt die Hilflosigkeit, mitder die Behörden vielfach den Rechtsextremen gegenü-berstehen. Mittlerweile hat sich Dr. Gey beraten lassen;er geht mit einem Anwalt gegen bestimmte Aussagender NPD vor. Am Tag zuvor rechtfertigte er sein Treffennoch, indem er erklärte, dass für ihn Toleranz keine Ein-bahnstraße sei.
Ich bin auch für Toleranz; aber Demokraten sollten ihreToleranz nicht auf Verfassungsfeinde ausweiten.
Wir haben unseren demokratischen Rechtsstaat his-torisch schwer errungen. Er ist auch heute keine Selbst-verständlichkeit. Wenn wir die Nazis von heute nicht beijeder Gelegenheit in ihre Schranken weisen, werden siealles daran setzen, das Fundament wieder zu zerstören.Wer Neonazis in seinem Amtssitz empfängt, macht ihremenschenverachtenden Ansichten gesellschaftsfähig.Das darf nicht geschehen.
Ich wünsche mir deshalb, dass die politisch Verant-wortlichen insbesondere auf kommunaler Ebene stärkerden Kontakt zu den erfahrenen Initiativen gegen rechts su-chen und sich beraten lassen. Die Verzweiflung von Initia-tiven im Muldentalkreis ist nun groß; das Verhalten desLandrats zeigt, dass staatliche Stellen bei der Entwicklungvon Weitblick und Sensibilität im Zusammenhang mitdieser Problematik teilweise noch in den Kinderschuhenstecken. Das schafft immer wieder Schlupflöcher für gutgeschulte Rechtsextremisten; sie arbeiten kontinuierlichund basisorientiert.Gerade solche langfristigen Strategien müssen auchwir Demokraten im Kampf gegen Rechtsextremismusnoch stärker ausbauen. Ein wichtiger Teil sind dabei dieBundesprogramme. Die ehemaligen Programme Civitasund Entimon waren breit angelegt. Sie bauten auf lang-fristig ausgerichteten Konzepten auf. Sie haben demo-kratisches Engagement vor Ort gestärkt, waren auflokale Projekte zugeschnitten und hatten die Zivilgesell-schaft als wichtigsten Akteur im Blick. Die neuen Bun-desprogramme sind im jetzigen Zustand nicht in derLage, das zu leisten, weil sie eine Abhängigkeit der Ini-tiativen von örtlichen Behörden schaffen. Leider fehlen
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Monika Lazarda, wie wir an dem Beispiel gesehen haben, immer nochdie notwendigen Kompetenzen.Der vorhin genannte Muldentalkreis erhält Bundes-mittel, ist aber ein Beispiel dafür, wie es schlecht laufenkann. Bewährte Initiativen stehen dort ohne Bundes-förderung da und sind auf die Gnade dieses Landratesangewiesen. Stattdessen besteht die Gefahr, dass rechts-extreme Gruppierungen davon profitieren können. Initia-tiven und Beratungsnetzwerke werden so zu Rufern inder Wüste degradiert. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
Außerdem zeigen die neuen Programme teilweise einenMangel an konzeptioneller Nachhaltigkeit. Wenn etwadie Bundesregierung nur zahlt, nachdem es vor Ort be-reits gebrannt hat, ist das zu kurz gedacht. Die Evalua-tion der früheren Bundesprogramme zeigt eindeutig,dass es auf eine präventive und kontinuierliche Beratungankommt.
Eine Intervention ist nur möglich, wenn Strukturenvorhanden sind, auf die man im Ernstfall zurückgreifenkann. Da die Förderung aber auf drei Monate begrenztist, können kontinuierliche Beratungssysteme garnicht entstehen. Ein solcher Ansatz, der nur auf Reaktionsetzt, steht in der Gefahr, zu scheitern.Ein weiterer Fehler dieses Programms ist die Lan-deskoordinierungsstelle, die die Kontaktstelle für Be-troffene sein soll. So wird das nicht funktionieren. DerVorteil der bisherigen Programme war doch, dass mansich unkompliziert an eine nichtstaatliche Einrichtungwenden konnte. Welche Migrantin und welcher Punkerruft im Ministerium an? Das frage ich mich wirklich.
Dieses Denken zeigt sehr wenig praktisches Einfüh-lungsvermögen in die Szene.
Ich verlange nicht, dass die Koalition unsere Konzepteübernimmt, aber ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Großen Koalition, dass Sie auf Vernunft undErfahrung bauen. Dazu müssen die zivilgesellschaftli-chen Initiativen wirklich weiter gestärkt werden.Wir dürfen uns allerdings nicht in Scheingefechtenzwischen Regierung und Opposition verstricken. MeinZiel ist es, einen demokratischen Konsens im gesamtenSpektrum dieses Hauses herzustellen. In anderen Fragenkönnen wir uns gern politisch streiten, hier aber halte iches für wichtig, unsere Kräfte zu bündeln.
Im Kampf gegen Rechtsextremismus muss die Bundes-regierung offensiv für eine Kultur der Demokratie undAnerkennung werben. In zahlreichen Regionen habensich schon Netzwerke gebildet, die den Rechtsextremenden kulturellen Kampf ansagen. Solche Aktivitäten bil-den die Basis für unsere Demokratie. Sie brauchen un-sere volle Unterstützung. Ich nenne Ihnen einige ausge-zeichnete Beispiele von Initiativen, die ich selbstbesucht habe und die zeigen, dass es funktionieren kann,wenn Initiativen mit Bürgermeistern zusammenarbeiten.In Pirna, Sachsen, gibt es die Aktion Zivilcourage, inVerden, Niedersachsen, das Bündnis für Demokratie undToleranz, in Lübtheen, Mecklenburg-Vorpommern, dasBürgerbündnis gegen Rechts und in Wunsiedel, Bayern,das Bündnis gegen Rechtsextremismus und die Jugend-initiative. Unsere Demokratie darf es sich nicht leisten,dass diese kleinen Initiativen pleitegehen. Hier sind be-sonders Länder, Landkreise und Kommunen in derPflicht.Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antragder Linksfraktion eingehen, in dem es um die Abschal-tung der V-Leute in der NPD als Voraussetzung für einneues Verbotsverfahren geht. Das Verbotsverfahrenwird in allen Fraktionen heiß diskutiert, natürlich auchbei uns. Ich persönlich sehe einen erneuten Verbotsan-trag eher kritisch. Die harte Hand der Repression wirdrechtsextremes Denken in den Köpfen nicht zerschlagenkönnen. Wir müssen uns stattdessen fragen, warum sichin unserem Land so viele Menschen mit rechtsextrememund antisemitischem Gedankengut identifizieren. Wasgeschieht in diesem Land, in dem nach einer Studie derFriedrich-Ebert-Stiftung 8,6 Prozent der Befragten eingeschlossenes rechtsextremes Weltbild vertreten? Würdeein NPD-Verbot die Haltung der 15,2 Prozent verändern,die meinen, es sollte einen starken Führer geben, derDeutschland mit starker Hand regiert? Ganz sicher nicht.Mit einem Verbot kann man gewisse Strukturen beschä-digen, aber nicht die Ideologie in den Köpfen ändern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Landgraf?
Ja.
Ist Ihnen bekannt, dass Landrat Gey aus dem Mul-
dentalkreis, also aus meinem Wahlkreis, heute eine
einstweilige Verfügung gegen diese falsche Darstellung
der NPD gerichtet hat? Für uns ist klar, dass er – das
müssten Sie gehört haben – einem Gespräch mit Jugend-
lichen zugestimmt hatte, an dem die NPD-Funktionäre
dann ungebeten teilgenommen haben. Die NPD hat es
falsch dargestellt. Halten Sie den Landrat Gey tatsäch-
lich für einen Wegbereiter der NPD-Strategien? Ich je-
denfalls halte ihn für einen aufrechten Demokraten.
Ich habe in meinem Redebeitrag schon darauf hinge-wiesen, dass Herr Gey gegen gewisse Äußerungen derNPD vorgeht. Es ist vollkommen okay, dass er dasmacht. Auch habe ich Herrn Gey nicht abgesprochen,ein Demokrat zu sein. Er ist für mich in dieser Hinsichtein naiver Demokrat gewesen.
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Monika Lazar
Es mag sein, dass diese Jugendlichen sich irgendwiebenachteiligt gefühlt haben und meinten, mit dem HerrnLandrat in Kontakt kommen zu müssen. Allerdings hät-ten bei mir schon dann die Glocken geläutet, wenn sicheine Gruppierung, die sich „volkstreu“ nennt, anmeldet.Das mag bei anderen politischen Richtungen anderssein. Allerdings müsste Herr Gey seine Pappenheimereigentlich kennen; denn es waren bekannte NPD-Funk-tionäre dabei. Diese Funktionäre sitzen auch im Kreis-tag; selbst der NPD-Kreisvorsitzende war anwesend.Wie Sie wissen, hat Herr Gey selber gesagt, es seieher schwierig gewesen und er hätte es so nicht machensollen; zwar hätte er sich mit den Jugendlichen unterhal-ten sollen, die Funktionäre aber hätte er hinauswerfenmüssen. Das hat er also selber eingesehen. Er hat einenFehler gemacht. So etwas muss man einfach benennen,und man muss darüber diskutieren, damit solche Fehlernicht noch einmal gemacht werden.
Abschließend möchte ich drei Beispiele dafür geben,was wir alle tun können, damit Rechtsextreme nicht indie schon vorhin angesprochenen Lücken stoßen:Erstens. Wir selbst müssen die Lücken schließen, diedie Rechtsextremen heute suchen, um Menschen in ihreGruppen zu ziehen.Zweitens. Wir müssen uns selber vor Ort begeben unduns mit den Anliegen der Menschen dort ernsthaft be-schäftigen.Drittens. Wir müssen gerade für junge Leute Ange-bote schaffen, nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondernauch kulturell. Wir müssen ihnen zeigen, dass unsereGesellschaft ihre Ideen, ihr Engagement braucht. So ent-steht auch ein Gemeinschaftsgefühl mit einer demokrati-schen Grundlage.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Alois Karl, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Fraktion der Linken beschert dem Bundes-
tag zum wiederholten Mal eine Debatte über Rechts-
extremismus.
Dies soll offensichtlich in periodischen Abständen ge-
schehen, wohl um der Welt zu zeigen, wie weit wir in
Deutschland auf dem schlechten Weg nach rechts außen
schon gekommen sind.
In ihrer Großen Anfrage malen die Linken dieses
Bild, besser gesagt: dieses Zerrbild, mit 286 Fragestel-
lungen und mit 390 Einzelfragen. Sie nehmen kein Blatt
vor den Mund, sondern ziehen das Fazit gleich vorne
weg: Deutschland ist auf dem Weg nach rechts außen,
und dafür sind alle im Bundestag vertretenen Parteien
gleichermaßen verantwortlich; wir alle hier – von den
Grünen bis hin zur CDU/CSU – gehören zu den markt-
radikalen Kräften – der Staatssekretär hat das angespro-
chen –; die Sozialdemokraten und die Freidemokraten
werden automatisch in Sippenhaft genommen.
Die Linken stellen damit eine abstruse, eine wirre Si-
tuation dar. Unser Land soll in der öffentlichen Wahr-
nehmung in ein schlechtes, in ein schiefes Licht gerückt
werden. Das ist der eigentliche Sinn Ihrer Anfrage. Aber
damit werden Sie nicht durchkommen. Wir leben näm-
lich in einem anderen Land, in einem offenen Land, in
einer anderen Gesellschaft, in einer toleranten Gesell-
schaft.
Der Widerspruch gegen Rechtsextremismus ist für
mich, für uns, für unsere Fraktionen selbstverständlich.
Wir alle wissen, dass dieser Extremismus menschen-
feindlich ist, dass der Rechtsextremismus der Feind des
demokratischen Rechtsstaates ist. Wir wissen, dass er
diese Staatsordnung aufheben möchte.
Die von Ihnen abgekanzelten Fraktionen haben zu-
dem ein anderes gemeinsames Ziel: Wir wollen unsere
Staatsordnung gegen jeden Extremismus verteidigen,
gegen den rechten genauso wie gegen den linken.
Ich kann für unsere Fraktion nur sagen: Wir sind da
hellwach, und zwar auf beiden Augen. Im Gegensatz zu
Ihnen kann unsere Werteordnung von rechts oder von
links bedroht werden. Ich verweise nur auf die Äußerun-
gen des Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft, Konrad
Freiberg, von gestern.
Sie ignorieren beharrlich, dass die Bedrohung von
links genauso gegeben ist. Aus diesem Grunde meine
ich, meine Damen und Herren von der Linken, Sie stel-
len nicht eine Lösung des Problems dar, sondern Sie sind
oft ein Teil des Problems.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Jelpke?
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege, ich bin der Meinung, dass es immereine schlechte Antwort ist, wenn man kein Konzept ge-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 98. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2007 10013
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Ulla Jelpkegen Rechtsextremismus hat, auf Linke einzuschlagen.Ich frage Sie aber ganz einfach: Können Sie mir Bei-spiele dafür nennen, dass bei Linken Waffenlager gefun-den worden sind, wie es bei Neofaschisten in der Ver-gangenheit der Fall war? 133 Menschen sind durchRechtsextremisten erschlagen worden. Haben Sie ähnli-che Beispiele für Linke?
Liebe Frau Jelpke, Sie bräuchten nur den Bericht derBundesregierung zur Kriminalitätsstatistik des Jahres2006 anschauen. Dort ist sehr akribisch dargestellt, wiesich die Entwicklung der rechts- und linksmotiviertenStraftaten vollzogen hat. Die Zahl der linksmotiviertenGewaltdelikte ist immer noch deutlich höher als die derrechtsmotivierten.
– Doch, leider Gottes ist das so. Darunter fällt auch alldas, Frau Jelpke, was Sie angesprochen haben.
Sie haben vorhin in Ihrer Rede auch kurz die soge-nannten befreiten Zonen angesprochen. Fragen Sie zumBeispiel einmal beim Polizeipräsidium in Münchennach. Dort werden Straßenseiten zum Beispiel vonMigranten für sich reklamiert und als deutschenfreieZone bezeichnet.
All das, Frau Jelpke, müssen Sie in Ihre Diskussion ein-beziehen. Das, was Sie ansprechen, ist auf der rechtenSeite in der Tat gegeben, wird aber auf der linken Seitevon Ihnen verschwiegen. Das ist Ihr Fehler.
Politisch motivierte Straftaten sind für uns – ob vonrechts oder von links motiviert – in der gleichen Weiseerheblich. Wir können das Auge auf der linken Seite aufkeinen Fall zudrücken.
Ich komme auf die Anfrage selber zurück. Sie desav-ouieren sich selber, weil Sie die historischen Tatsachenin Ihrer Anfrage verdrehen. Sie führen eine unangemes-sene Radikalität in Ihrer Sprache. Sie nehmen keineRücksicht auf die Opfer und sind teilweise historischeBrandstifter.
Die Radikalität Ihrer Sprache und die Verdrehung histo-rischer Tatsachen kommt zum Beispiel zum Vorschein,wenn Sie sich in Ihrer Anfrage mit den Heimatvertrie-benen befassen. Sie nehmen die Unwahrheit bewusst inKauf, wenn Sie die Vertriebenen – immerhin sind das15 Millionen; davon sind 2 Millionen auf der Flucht ge-storben –
als „sogenannte“ Heimatvertriebene bezeichnen und dieVertreibung der Deutschen als bloße Umsiedlung ausOsteuropa bezeichnen.
Diese Sprache, Frau Jelpke, ist verletzend. Das hätte ichauch Ihnen nicht zugetraut.
Meine Fraktion und die große Mehrheit im Haus wis-sen um das große Leid der Heimatvertriebenen und umdie 2 Millionen, die auf der Flucht umgekommen sind.Wir wissen aber auch, dass sie sich in großen Teilenbeim Wideraufbau in Deutschland verdient gemacht ha-ben.
Niemand will Unrecht gegen Unrecht aufrechnen. Wiralle wissen, welch unendliches Leid die Deutschen überdie Welt gebracht haben. Aber es ist nicht korrekt, dassSie die Organisationen der Heimatvertriebenen zwischendem rechten Rand des demokratischen Meinungs-spektrums und neonazistischen Personen einordnen. Ge-nau das machen Sie. Das weisen wir auf das Schärfstezurück.
Im Gegensatz zu Ihnen wissen wir um die Verdienste derHeimatvertriebenen in diesem Land.Auch studentische Verbindungen stellen Sie aufsehr abstruse Weise dar.
Hierzu sage ich ein offenes Wort: Wer dort aufgenom-men werden will, Herr Ströbele, der muss die Frage be-antworten, ob er rechten oder linken Organisationen an-gehört. Wenn er diese Frage mit Ja beantwortet, wird ernicht aufgenommen. Wenn er sie falsch beantwortet,wird er später hinausgeschmissen.Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. In IhrerGroßen Anfrage richten Sie Ihren Fokus auch auf die,wie Sie schreiben, rechtsextremistisch durchsetzten Tra-ditionsverbände, Reservistenvereinigungen und Kame-radschaftskreise. Auf diese Frage hat Ihnen die Bundes-regierung bereits geantwortet. Aber die Antwort genügtIhnen nicht. Sie finden es schick, nur die Frage zu stel-len. Auf die Antwort kommt es Ihnen offensichtlichnicht an. Ihnen genügt es, einen bestimmten Eindruck zu
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Alois Karlsuggerieren. Die Bundesregierung hat Ihnen geantwor-tet, dass keine rechtsextremistisch durchsetzten Tradi-tionsverbände bekannt seien. Dennoch bin ich mir si-cher, dass Sie die nächste Gelegenheit nutzen werden,um diese Frage in gleicher Weise erneut zu stellen.Ich darf Ihnen sagen, dass ich aus meiner früheren Tä-tigkeit in der Kommunalpolitik viele dieser Vereinekenne.
Sie alle haben eine grundlegende Gemeinsamkeit, liebeFrau Jelpke: All diejenigen, die den Krieg miterlebt ha-ben, sagen, nie wieder dürfe es Krieg und nie wiedereine Zeit des Unrechts und der Intoleranz geben wie sei-nerzeit. Diese Einstellung verbindet sie. Ich sage Ihnen:Das sind keine „kalten Krieger“. Im Gegenteil, sie sindTeil einer Bürgerinitiative für Frieden und Verständi-gung in unserem Land geworden.Durch die Antwort der Bundesregierung zieht sich einroter Faden:
In unserem Lande bewegen wir uns nicht an den rechtenRand des politischen Spektrums. Es existieren inDeutschland rechts-, aber auch linksextremistischeGruppen. Hier stellen sich uns große Aufgaben. Aber imbloßen Verbot von Parteien sehe ich nicht die Lösung.Wenn wir die NPD verbieten würden – darauf läuft IhrAntrag hinaus, da Sie fordern, die V-Leute in der NPDabzuschalten –, würden wir uns damit den großen Vorteilnehmen, über die V-Leute Informationen abschöpfen zukönnen, um zu wissen, welche Aktionen und De-monstrationen rechte Gruppen und die NPD planen. Dasallein ist schon ein Gewinn.Sie verlangen, die NPD zu verbieten. Das verlangenallerdings auch die Republikaner. Daran sehen Sie, dassman sich seine Freunde nicht unbedingt aussuchen kann.
– Auch die Republikaner verlangen das Verbot der NPD.
Ich meine, dass es unter sicherheitspolitischen Gesichts-punkten richtig wäre, die NPD weiterhin durch V-Leuteverfolgen und beobachten zu lassen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. – Dadurch gewinnen wir
mehr, als wenn wir in einem unsicheren Verfahren erneut
die Forderung nach einem Verbot der NPD aufgreifen.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überzogen, und
Sie haben gerade einen guten Schlusssatz gesagt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen ein schönes Wochenende, Frau Präsidentin.
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Spieth.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Karl, nachmeiner Auffassung haben Ihre Ausführungen vor Un-kenntnis gestrotzt. In Ihrer Darstellung haben Sie eineungeheure Schlichtheit und Verharmlosung herüberge-bracht, die so selbstredend ist, dass man dazu eigentlichnichts mehr sagen müsste. Aber dennoch muss man,glaube ich, auch der Öffentlichkeit sagen, dass das, wasSie hier äußern, im krassen Widerspruch steht zu dem,was Ihr eigenes Jugendministerium, das wohl CDU-ge-führt ist, zu diesem Thema sagt. Ich darf, Frau Präsiden-tin, aus dem Bundesprogramm zitieren: Die Verfestigungrechtsextremistischer, fremdenfeindlicher und antisemi-tischer Strukturen im Gemeinwesen und deren gezielteEinflussnahme auf die Einstellung der Bürgerinnen undBürger bedrohen die demokratische Grundordnung unse-rer Gesellschaft. – Das heißt: Im Bundesjugend- und -fa-milienministerium wird sehr wohl begriffen, dass wirhier eine massive Bedrohungssituation in den Kommu-nen, bei den Menschen in allen Regionen Deutschlandshaben.Wir haben verschiedenste Untersuchungen. Ich willhier nur den von der Thüringer Landesregierung – CDU-geführt – vorgelegten „Thüringen-Monitor“ nennen.Dort wird seit Jahren auf das besondere Problem rechts-extremistischer Einstellungen, fremdenfeindlicher Ein-stellungen, antisemitischer Einstellungen hingewiesen.Es wird aufgezeigt, dass über 20 Prozent der Thüringe-rinnen und Thüringer – das wird durch andere Studienfür andere Regionen in Ost und West genauso belegt –demokratiefeindliche, rechtsextreme Einstellungen ha-ben. Wenn man dann sagt: „Wir können vor dem Hinter-grund dieser Debatte links und rechts gleichstellen“,dann halte ich das für unverantwortlich und meine, daswird der historischen Herausforderung in keiner Weisemehr gerecht.
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Frank SpiethIch will Ihnen klar sagen: Wir werden genauso wieSie jede Gewalt ablehnen, und zwar egal, ob sie vonrechts oder von links kommt. Aber derart – auch histo-risch – verharmlosend rechts und links gleichzustellen,das ist nach meiner Auffassung in der Tat so etwas wie– Sie haben es vorhin gesagt – Brandstiftung.
Herr Kollege Karl, Sie haben das Wort.
Ich darf darauf mit wenigen Sätzen antworten. – Wis-
sen Sie, ich habe in meiner Rede nicht bestritten, dass in
der rechten Szene Gefahren bestehen. Das wird auch in
allen Dokumentationen, in allen Statistiken aufgelistet;
das ist gar keine Frage. Wogegen ich mich gewandt
habe, ist die Unehrlichkeit und auch die Unkorrektheit in
Ihren Anträgen und in Ihren Anfragen, die in eklatanter
Weise mindestens 50 Prozent des anderen Spektrums
ausblenden und so tun, als wäre hier eine Bedrohung von
rechts gegeben, eine Bedrohung auf der linken Seite aber
in gar keiner Weise vorhanden. Darin besteht die Unehr-
lichkeit und damit auch die Unkorrektheit Ihrer Anträge.
Ich gebe der Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke,
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Karl, eine Zahl vorweg: Im statistischen Schnittwerden bundesweit nicht durch die Linke, sondern durchdie Bundesregierung Tag für Tag drei Gewalttaten regis-triert, die rechtsextremistisch, rassistisch oder antisemi-tisch motiviert sind. Das sind die offiziellen Zahlen – dietatsächlichen liegen weit höher und damit auch die Zahlder Opfer.Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismussind also längst wieder eine Gefahr für Leib undLeben. Wenn jemand brandstiftet, dann sind das dieseMenschenfeinde, die auf andere Menschen, weil sie an-ders aussehen, anders leben oder anders lieben, Über-griffe vollziehen. Von den Toten hat meine KolleginJelpke schon gesprochen.
Eine zweite Zahl dazu: Allein von 2004 bis 2006, alsobinnen zwei Jahren, hat die Zahl der registrierten Straf-und Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrundum 50 Prozent zugenommen. Diese Entwicklung istalarmierend. Deshalb müssen auch wir, der Bundestagund alle Fraktionen, uns fragen, ob wir bislang adäquatauf diese Entwicklung reagiert haben. Ich finde: Nein.Wir sollten es aber endlich tun, und zwar parteiübergrei-fend.Aber nicht nur die Zahlen sprechen eine klare Spra-che. Wir haben es auch mit einer neuen Qualität vonRechtsextremismus zu tun. Rechtsextremismus istheute längst nicht mehr auf schlagende Stiefelknechte zureduzieren wie vielleicht noch vor zehn Jahren. Von derStrategie über die Programmatik bis hin zum Personalsuchen Rechtsextremisten Widerhall in der Gesellschaft,und das mit Erfolg. Auch hiermit haben wir uns gemein-sam im Bundestag bisher nicht adäquat beschäftigt.Meine erste These: Nur wenn die Analyse stimmt,gibt es auch Aussicht auf Erfolg. Stimmen unsere Analy-sen? Ich sage: Nein. Das beginnt schon bei den Zahlenund Fakten. Deshalb sage ich erneut für die Fraktion DieLinke: Wir brauchen endlich eine unabhängige Be-obachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismusund Antisemitismus.
Ihre Einrichtung war eigentlich in diesem Hause schoneinmal beschlossen, aber es gibt sie noch immer nicht.Meine zweite These: Solange Rechtsextremismusvorwiegend als Rand-, Jugend- oder Ostphänomen be-handelt wird, werden wir ihn nicht zurückdrängen kön-nen.
Dasselbe gilt übrigens, solange der Rechtsextremismusvorwiegend als innen- oder rechtspolitisches Problembearbeitet wird. Die Besetzung der Regierungsbank beidieser Debatte spricht Bände.
Deshalb brauchen wir endlich eine ressortübergrei-fende Strategie, die sich auf Kompetenz stützt und dieZivilgesellschaft stärkt.Aber genau da haben wir das nächste Problem. Wirerleben gerade – das spielte hier schon eine Rolle – eineUmstrukturierung der Initiativen, die sich für Demokra-tie und Toleranz engagieren. Die Gefahr ist eben immernoch nicht gebannt, dass dabei Bewährtes gegen Ver-fehltes ausgetauscht wird. Zu dem sächsischen Beispielwurde hier schon gesprochen. Das wäre natürlich einDing aus dem Tollhaus, wenn sich Rechte hier Mittel er-schleichen könnten.Meine dritte These: Wer die NPD verbieten will, derist zum Erfolg verpflichtet. Deshalb halte ich es aus-nahmsweise einmal mit meinem Kollegen Bosbach ausder CDU. Er hatte an die Adresse der SPD gemeint: Ei-nes gehe überhaupt nicht, nämlich monatelang öffentlichüber ein NPD-Verbot zu reden, aber nichts dafür zu tun;
denn das werte die NPD nur zusätzlich auf. Ich fügehinzu: Das sollten wir tunlichst alle gemeinsam unterlas-sen.
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Petra PauBezüglich der Frage, ob ein NPD-Verbot sinnvoll istoder nicht, gibt es übrigens auch in der Linken unter-schiedliche Auffassungen. Aber in einem sind wir unseinig: Wer die verfassungsfeindliche NPD ernsthaft undrechtsstaatlich verbieten will, muss zuerst das Verbots-hindernis beseitigen, das heißt, die V-Leute abschalten.Sie nützen nichts, sie schaden aber sehr viel.
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Die Bundesregierung und diese GroßeKoalition bekämpfen jeglichen politischen Extremismusentschlossen und nachhaltig. Deswegen diskutieren wirfast in jeder Sitzung des Innenausschusses darüber. Ichsage dazu: Das ist gut so.Ich verwehre mich aber an dieser Stelle für mich unddie SPD-Fraktion ganz klar gegen den permanenten Ver-such, Rechts- und Linksextremismus gleichzustellen undgegenseitig aufzurechnen.
Ich glaube, aus historischer Verantwortung heraussind wir verpflichtet, Rechtsextremismus von Grund aufals zentrale Herausforderung für unsere freiheitliche De-mokratie, für unsere Bundesrepublik Deutschland, fürunser friedliches Zusammenleben zu sehen. Deswegenglaube ich, dass wir uns klarmachen müssen, dass imRechtsextremismus ein Bedrohungspotenzial liegt, dasniemals relativiert werden darf.
Wir dürfen uns an dieser Stelle nichts vormachen. Inbetroffenen Gebieten, Städten und Gemeinden, aberauch in Schulen und Vereinen ist oft die Angst da,Rechtsextremismus zu thematisieren: die Angst vor Stig-matisierung, die Angst vor Nachteilen. Deswegen wirddas Thema leider viel zu oft totgeschwiegen. Wir habenes im Rahmen eines Ausflugs mit dem Kollegen KlausUwe Benneter vor einem halben Jahr bei einem Vor-Ort-Besuch in Brandenburg erlebt. Da haben uns Bürger-meister und Schulleiter berichtet, dass man sich in derSchule weigert, zu thematisieren, dass Rechtsextremis-mus in den Klassen ein Thema ist, weil man Angst umdas gute Image der Schule hat. Deshalb ist es wichtig,dass wir an dieser Stelle etwas tun.
Rechtsextremismus ist ein Thema, das wir nicht sowie viele Medien behandeln sollten, nämlich dass wir eserst dann auf die Tagesordnung hier im Bundestag set-zen, wenn etwas passiert ist und es Schlagzeilen gibt. Esist ein Thema, das keine Konjunktur duldet. Im Gegen-teil: Dauerhaftes Engagement ist hier gefragt. Genau dasmachen die Bundesregierung und die Große Koalition,indem die wichtigen Programme fortgeschrieben wer-den.
In der Tat ist eine schlimme Entwicklung bei den Ge-walt- und Straftaten zu verzeichnen. Kollegin GabiFograscher hat es erwähnt, und es ist auch in den ent-sprechenden Berichten nachzulesen. Im Bund waren es15 914 Straftaten im vorletzten Jahr und über 18 000 imletzten Jahr. Auch in Baden-Württemberg gibt es eineimmense Steigerung von 1 166 auf 1 351 Fälle. Das istalso nicht nur in den neuen Bundesländern ein Thema.Dort tritt es sicher verstärkt auf, aber es ist ein gesamt-deutsches Problem.Als Abgeordneter aus Baden-Württemberg möchteich einmal darauf hinweisen, was wir dort erleben. Da istein Wanderzirkus unterwegs; es gibt Kundgebungen,Aufmärsche, Einschüchterungen, in Friedrichshafen, inLaupheim, in Aulendorf. Es erschüttert einen, was dortstattfindet. Man kann sich nur wundern, wenn oft so ge-tan wird, als ob dies nur in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern ein Thema wäre.
Die Zahlen zum rechtsextremistischen Personen-potenzial sind deutlich: Über 38 000 Personen werdendiesen Kreisen zugerechnet, von denen 10 400 dazunoch als sehr gewaltbereit eingestuft werden. Das istschlimm und besorgniserregend. Es ist sehr wichtig, dasswir entschieden und nachhaltig dagegen vorgehen.Rechtsextremismus ist aus meiner Sicht aber nichtnur an Wahlerfolgen beispielsweise der NPD in zweiLandtagen oder an Kundgebungen und Aufmärschenfestzumachen, sondern ist auch in sehr vielen gesell-schaftlichen Bereichen vorhanden. Auch darauf solltenwir bei einer solchen Debatte unser Augenmerk richten.Die Strategie beruht ja vielfach auf vier Säulen:Kampf um die Straße – Kundgebungen, Aufmärsche; ichhabe es erwähnt –, Einschüchterungen, Kampf um denEinzug in die Parlamente, leider die beiden Erfolge derNPD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Mecklen-burg-Vorpommern. Aber auch der Kampf um die Köpfeund letztendlich eine organisierte Willensbildung sindan dieser Stelle von Bedeutung. Leider sehen sehr vielein der sogenannten neuen Rechten eine Scharnierfunk-tion zwischen rechtskonservativem Denken und rechts-extremistischem Handeln. Ich glaube, das ist eine sehrgefährliche Grauzone, die sich leider sehr stark ent-wickelt.
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Martin GersterIch will hier nur ein Beispiel anführen. „Gesellschaftfür freie Publizistik“ zum Beispiel hört sich wunderbaran; mit 500 Mitgliedern ist diese aber inzwischen diegrößte rechtsextremistische „Kulturvereinigung“. Hiersind Referenten wie David Irving, der Holocaustleugner,oder auch Albrecht Jebens, früher im WeikersheimerStudienzentrum, jetzt bei der Hans-Filbinger-Stiftung tä-tig, zu finden. Ich bin heilfroh, dass die Bundeskanzlerinin der Woche nach Ostern den Ministerpräsidenten aufAbwegen ganz klar gestoppt hat.
Bezüglich der Zwischenfrage von Frau Lötzsch vor-hin, in der sie auf Bundesmittel für das StudienzentrumWeikersheim hingewiesen hat, will ich ganz klar sagen,dass es offenbar so ist, dass über die Bundeszentrale fürpolitische Bildung geringe Mittel für einzelne Veranstal-tungen zur Verfügung gestellt worden sind. Heute Mor-gen hatten wir eine Kuratoriumssitzung, wo insbeson-dere über diese Themen gesprochen worden ist. Schade,dass von Ihrer Fraktion niemand da war; dort wäre dieseNachfrage eigentlich gut platziert gewesen. Aber ichversichere Ihnen, dass wir als Kuratoriumsmitglieder beider nächsten Sitzung darüber reden werden, wer von die-sen Mitteln profitiert.
Ich denke, das gehört dort auf die Tagesordnung.
Ich weise an dieser Stelle aber auch darauf hin, dasssich in der Grauzone zwischen rechtskonservativemDenken und rechtsextremistischem Handeln im Bereichder Publizistik einige Zeitschriftenverlage und Magazinebewegen, bei denen wir sehr genau hinschauen sollten.Wir haben erlebt, wie leider auch die stellvertretendeFraktionsvorsitzende der FDP – das soll jetzt kein Vor-wurf von mir sein – hereingefallen ist und der „Deut-schen Militärzeitschrift“ ein Interview gegeben hat.Kurz darauf hat sie sich dafür entschuldigt. Das ist inOrdnung. Ich appelliere an uns alle, zukünftig darauf zuachten, wer nach einem Interview fragt.
– Herr Kollege, das war von mir nicht böse gemeint; ichwollte nur einmal dieses Beispiel anführen. Wir habenauch in unseren eigenen Reihen Kollegen, die in eineFalle tappen könnten. Wir sollten also alle sehr vorsich-tig sein, damit wir als Abgeordnete diesen Leuten nichtauf den Leim gehen.
– Ich habe deutlich darauf hingewiesen, dass es nicht nurKollegen von der FDP waren.Die Frage ist, was wir tun können. Ich will an dieserStelle betonen, dass wir die Initiativen vor Ort stärkenmüssen. Wir müssen diese Leute ermutigen, im Kampfgegen rechts weiterzumachen. Es ist vielfach nicht ein-fach, unsere Werte zu verteidigen; denn man gerät unterDruck und wird eingeschüchtert. Deswegen glaube ich,dass die Fortschreibung der entsprechenden Programmean dieser Stelle ein ganz wichtiges Instrument ist.
Das Bundesprogramm wird mit 19 Millionen Eurofortgeschrieben. Außerdem werden 5 Millionen Eurodraufgesattelt. Ich sage herzlichen Dank an alle Kolle-gen, die an dieser Stelle mitgewirkt haben. Ich bedankemich auch bei den betreffenden Ministerien, dass sieschnell bereit waren, hier mitzuarbeiten. Ich glaube, dasist ein wichtiges Signal.Ich will mit dem Hinweis schließen: Geld ist nicht al-les. Aber ohne Geld ist auch beim Kampf gegen denRechtsextremismus leider kaum Land zu gewinnen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Christian Ahrendt,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich glaube, wir können hier übereinstimmendfeststellen, dass der Rechtsextremismus in Deutschlandzugenommen hat. Wir können auch feststellen, dass sichdie rechtsextremistischen Parteien organisieren. DVUund NPD sprechen sich bei Landtagswahlen ab. Wir ha-ben im letzten Jahr erlebt, dass aufgrund dieser Abspra-che die NPD in den Landtag von Mecklenburg-Vorpom-mern eingezogen ist. 2004 konnte die DVU wieder inden Landtag Brandenburg einziehen. Ebenfalls 2004 istdie NPD in den Sächsischen Landtag eingezogen.Auch die rechtsextremistische Gewalt nimmt zu. DieFrage, die daraus resultiert, lautet, wie die Zivilgesell-schaft und die Parteien dieser Herausforderung begegnensollen. Man kann nun den Antrag stellen, die V-Männerin der NPD sozusagen abzuschalten, um so ein neuesVerbotsverfahren gegen die NPD vorzubereiten. Dashalte ich aber für falsch. Ich bin nämlich der festenÜberzeugung, dass es richtig ist, Aufklärung in derrechtsextremistischen Szene zu betreiben und Erkennt-nisse über das Gefährdungspotenzial in der rechtenSzene zu gewinnen. Daher halte ich es, wie gesagt, fürfalsch, die V-Männer abzuschalten.
Man muss ferner sagen, dass die Erfolgsaussichten ei-nes NPD-Verbotsverfahrens nicht unbedingt als positiveinzuschätzen sind. Aus einem Verbotsverfahren würdensich in jedem Fall folgende Konsequenzen ergeben:Erstens. Die NPD dürfte sich während des gesamtenVerfahrens einer nicht unerheblichen medialen Auf-merksamkeit sicher sein.
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Christian AhrendtZweitens. Wenn das Verfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht verloren geht, dann erhält die NPD dasGütesiegel „nicht verfassungswidrig“, was sie sich dannauf die Fahne schreiben könnte.
Auch vor diesem Hintergrund muss man sich sehr wohlüberlegen, ob man ein solches Verfahren tatsächlich an-strengen möchte.Drittens. Ein solches Verfahren löst tatsächlich nichtdie Probleme. Wir haben in der Bundesrepublik durch-aus Erfahrungen mit Parteiverboten. Bisher haben wirfeststellen müssen, dass man zwar die Partei verbietenkann, aber nicht die Überzeugung. Die Überzeugung be-steht weiter.
Deswegen kommt es darauf an – das hat mein Vorrednerrichtig gesagt –, dass wir die Kräfte in der Zivilgesell-schaft unterstützen.Die NPD setzt im ländlichen Raum und in denKleinstädten an. Dort bereitet sie zurzeit große Schwie-rigkeiten. Während des Landtagswahlkampfs in Meck-lenburg-Vorpommern und der Kommunalwahl in Sach-sen-Anhalt konnten wir der Presseberichterstattungentnehmen, dass dort ganz gezielt Politiker anderer Par-teien in martialischer Weise in ihrer Meinungsäußerungeingeschüchtert wurden. Auf der anderen Seite verstecktsich die NPD hinter einer Fassade bürgerlicher Freund-lichkeit, indem sie Kinderfeste veranstaltet, Bürgerinitia-tiven gründet und in Elternversammlungen vertreten ist.Die Auseinandersetzung der Menschen vor Ort – ge-rade derjenigen in einem Ehrenamt – mit diesem Pro-blem über eine lange Zeit verlangt viel Kraft. Dazu mussaus diesem Hohen Hause wesentlich mehr Unterstützunggeleistet werden, als nur – das sage ich an dieser Stelleganz deutlich – Programme aufzulegen und dann zur Ta-gesordnung zurückzukehren.
Ich will das Stichwort Brandstiftung, das ein Kollegein dieser Debatte genannt hat, aufgreifen. Es ist viel ge-klagt worden, wer wann welcher Zeitung – möglicher-weise auch aus dem rechten Bereich – welches Interviewgegeben hat. Ich habe mir ein Plakat herausgesucht, dasmich persönlich, weil ich aus Mecklenburg-Vorpom-mern komme, immer sehr geärgert hat. Ich glaube, es ge-hört zur politischen Kultur, dass man sich auch einmalüberlegt, wie man im politischen Wettbewerb wirbt.Dies ist ein Plakat von Ihnen von der Linken mit dem Ti-tel „Es reicht“.
Herr Kollege, Plakate lässt nur die Präsidentin zu.
Ich zeige es nur kurz und packe es jetzt wieder ein.
Wer solche Plakate aufhängt und sich parallel dazu
die Plakate der NPD anschaut, wird feststellen: Es sind
die gleichen Plakate; es ist die gleiche Sprache. Man
muss sich, da nach unserer Verfassung Extremismus
nicht teilbar ist, sehr wohl überlegen, wie man im politi-
schen Wettbewerb agiert und ob man sich dieser Metho-
den bedienen will.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführun-gen betonen, dass die CDU/CSU-Fraktion jegliche Formvon Extremismus ablehnt, insbesondere den politischenExtremismus, egal ob von rechts oder links motiviert.
Ich teile die Auffassung meiner Vorredner und warne da-vor, Extremismus zu kategorisieren, wie es oftmals vomAntragsteller getan wird.Wir alle haben vorgestern die gewalttätigen Aus-schreitungen der linken Szene in Hamburg verfolgt.Nach eigenen Aussagen wollten die linksextremen Ran-dalierer mit Brandanschlägen und anderen Aktionen denWeltwirtschaftsgipfel verhindern.
Polizisten wurden mit Flaschen, Brandsätzen und Stei-nen beworfen. Heute schreibt der „Tagesspiegel“, dassdie Gefahr von links wachse. Das ist die Realität, unddarauf müssen wir Antworten finden.
Wenn man Ihre Anträge zum Thema Rechtsextremis-mus liest und die jüngsten Äußerungen zu den Krawal-len hört, dann muss man auf der einen Seite den Ein-druck gewinnen, dass Sie zwischen tolerierbarem undnicht tolerierbarem Extremismus unterscheiden.
Das lehnen wir von vornherein ab. Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion: Wir sind weder auf dem linken noch aufdem rechten Auge blind. Das sollte auch bei anderenFraktionen in diesem Hause so sein.
Auf der anderen Seite warne ich davor, Extremismus zuverharmlosen, wie es einige immer wieder tun.
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Thomas BareißJede Form von Extremismus muss entschieden bekämpftwerden.Es ist besorgniserregend, dass die rechtsextremisti-sche Ideologie gerade bei jungen Menschen ankommt.Im Verfassungsschutzbericht wird festgestellt: Die Zahlsowohl der rechts- als auch der linksmotivierten Strafta-ten hat zugenommen; dies haben wir schon von ver-schiedensten Seiten gehört. Wir nehmen die Aussagendes Verfassungsschutzberichts sehr ernst. Ich sage aberin aller Deutlichkeit, dass ich eine künstlich hochgezo-gene Debatte für genauso falsch halte;
denn das zeigt ein falsches Bild von Deutschland in derWelt.
Extremismus verfolgt immer die gleichen Ziele: Intole-ranz und Ignoranz. Das sind Eigenschaften, die wir inDeutschland nicht haben wollen.Ich möchte auf die vorliegenden Anträge und dieMaßnahmen, die die Bundesregierung ganz konkret zumThema Rechtsextremismus ergreift, eingehen. Wir be-grüßen es, dass sich die Bundesregierung des ThemasExtremismus annimmt. Allein für die Bekämpfung derextremen Rechten gibt sie 24 Millionen Euro im Jahraus. Ich halte das Programm der Bundesregierung„Förderung von Beratungsnetzwerken – Mobile Inter-vention gegen Rechtsextremismus“ für richtig; denn die-ses Programm setzt im Gegensatz zu bisherigen Pro-grammen dort an, wo es gebraucht wird, nämlich vorOrt, in den Kommunen, in den Gemeinden und in denLändern.
Ich halte es auch für richtig, dass die Länder undKommunen mit ins Boot genommen werden; denn nur inenger Kooperation mit den Ländern können in allenBundesländern nachhaltige Strukturen für eine präven-tive und engagierte Arbeit gegen Rechtsextremismus,Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit aufgebautwerden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lazar?
Gerne.
Herr Kollege, ich habe gerade gelesen, dass Sie aus
dem Wahlkreis Zollernalb kommen. Ich war vor einigen
Wochen in dieser Region und habe an einer Veranstal-
tung in Burladingen teilgenommen. Auch Sie haben
wahrscheinlich mitbekommen, dass in Burladingen das
Problem besteht, dass rechtsextreme Jugendliche für Un-
sicherheit im Ort, zum Beispiel auf dem Weihnachts-
markt, sorgen. Die Initiativen dort haben mir ganz ein-
deutig gesagt, dass ihnen die politische Unterstützung,
angefangen beim Bürgermeister, fehlt. Ich würde gern
von Ihnen wissen, ob Sie sich vor Ort dafür einsetzen,
dass das Problem von den Politikern auf kommunaler
Ebene erkannt wird. Sie haben ja gerade das Bundespro-
gramm befürwortet. Ich würde mich sehr freuen, wenn
Sie den Bürgermeister darauf ansprechen würden.
Ich bin für diesen Einwurf dankbar. Ich kenne die Re-gion sehr gut. Ich bin dort auch Kreisrat. Aus diesemGrund setze ich mich dafür ein, dass die kommunalenKräfte verstärkt werden und im Kampf gegen Rechtsex-tremismus Unterstützung vom Land und vom Bund be-kommen.
Ich werde mich nicht nur als Bundestagsabgeordneter,sondern auch als Kreisrat vor Ort dafür einsetzen.
Für das neue Programm sind im Haushalt des Bun-desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend 5 Millionen Euro vorgesehen. Oftmals wird ver-kannt, dass sich die Länder darüber hinaus mit eigenenMitteln – Minimum 20 Prozent – an der Finanzierungdes Programms beteiligen müssen. Damit wird die Ei-genverantwortung gestärkt, und die Mittel werden er-höht. Dadurch wird die Kraft vor Ort verstärkt.Ich glaube, mit dem Programm zeigt die Bundesregie-rung eines: ihre Entschlossenheit im Kampf gegen denRechtsextremismus zielorientierter als bisher anzuge-hen. Umso erstaunlicher finde ich es, dass die Kollegenvon der Linkspartei das Konzept in ihrem Antrag als„ungeeignet“ ablehnen. Stattdessen fordern sie ein neuesKonzept, ohne sich mit dem auseinanderzusetzen, wasbereits umfassend geschieht und was die Bundesregie-rung weiterentwickelt und verbessert hat.Ich möchte hier ganz offen sagen, dass es in der Ver-gangenheit Kritik an laufenden Projekten gegeben hat.Bei näherer Betrachtung muss man feststellen, dass vieleFinanzmittel leider nicht am richtigen Ort angekommensind. Gerade deshalb bin ich – das habe ich vorhin schonerwähnt – für eine kommunale Trägerschaft und nichtfür eine Projektträgerschaft. Das haben wir jetzt festge-schrieben.Mein Kollege von der SPD hat es vorhin gesagt – si-cherlich sind wir uns darin einig –: Geld ist nicht alles.Wir brauchen auch anderes, um Extremismus zu be-kämpfen. Wir müssen die Frage stellen, warum geradejunge Menschen dem Extremismus oftmals verfallen.Ein Grund ist sicherlich, dass vielen eine individuellePerspektive und Zukunftszuversicht fehlen. Gerade im
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Thomas BareißOsten führt dies meines Erachtens immer wieder zu Pro-blemen. Deshalb finde ich es unglaublich ermutigend,dass der Arbeitsmarkt eine hervorragende Entwicklungvorweist. Bundesweit sind im April 2007 130 000 Ju-gendliche weniger arbeitslos gemeldet gewesen als imVorjahresmonat. Das ist eine erfolgreiche Bilanz, die dieBundesregierung zu Recht immer wieder stolz in denMittelpunkt stellt.
Ein weiterer Lichtblick ist der Ausbildungspakt, derkürzlich um drei Jahre verlängert worden ist. Circa25 000 Verträge – das sind 13 Prozent mehr als im ver-gangenen Jahr – wurden abgeschlossen. Das „Ausbil-dungsprogramm Ost“ mit 13 000 Plätzen in 2006 zeigt,dass jedem Einzelnen eine Perspektive geschaffen wird.Jeder Ausbildungsplatz oder Arbeitsplatz mehr entziehtdem Extremismus Nährboden und trägt dazu bei, jungenMenschen eine Zukunft zu geben. Wer eine Zukunft hat,wird sicherlich keine fremdenfeindlichen oder andereParolen von sich geben.
Ein weiterer Schlüsselfaktor ist die Bildung. Ich binfest davon überzeugt, dass Bildung das beste Mittel ge-gen Intoleranz ist. Außerdem bietet Bildung die Chance,die unterschiedlichen Lebensformen als Bereicherungund nicht als Bedrohung zu erfahren. Das fördert Tole-ranz und verhindert Fremdenfeindlichkeit.Gerade in der Familie werden Werte und vor allenDingen Respekt und Toleranz anderen gegenüber gelehrtund vermittelt. Deshalb ist jeder Euro, der in die Familieinvestiert wird, auch ein Mittel gegen Rechtesextremis-mus. Die Familie bildet deshalb den Kern unserer Ge-sellschaft.Daneben bilden – das wurde bereits angesprochen –Vereine eine ganz wichtige Basis; das sage ich, weil ichaus Baden-Württemberg komme. Jeder, der in einemVerein, zum Beispiel einem Sportverein oder Musikver-ein, vor Ort engagiert ist, wird nicht zu einer rechtsextre-men Vereinigung gehen, sondern einen wichtigen undengagierten Beitrag in der Gesellschaft leisten.
Weil wir die Ratspräsidentschaft innehaben, möchteich noch eines sagen: Ich glaube, Europa ist ein ganzwichtiger Schlüssel. Viele Menschen haben heutzutagedie Möglichkeit, Europa und die Welt – andere Men-schen, andere Kulturen und andere Religionen – perJugendaustausch kennenzulernen. Das ist ein ganzwichtiges Mittel, um Fremdenfeindlichkeit vorzubeu-gen. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit der Euro-päischen Union über 7 Milliarden Euro für Jugendaus-tauschprogramme innerhalb der nächsten fünf Jahre zurVerfügung gestellt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, umExtremismus zu bekämpfen.Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen: DieBundesregierung misst der Auseinandersetzung mit demExtremismus und seiner Bekämpfung einen sehr hohenStellenwert bei. Die CDU/CSU-Fraktion wird die Bun-desregierung bei diesem Vorhaben weiterhin mit vollerKraft unterstützen.Herzlichen Dank.
Bevor ich dem Kollegen Nitzsche das Wort gebe, gra-
tuliere ich dem Kollegen Michael Hartmann sehr herz-
lich zu seinem heutigen Geburtstag.
Das Wort hat der Kollege Henry Nitzsche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieAuseinandersetzung mit Kräften, die unseren Rechts-staat bedrohen, ist richtig und wichtig.Bei diesem sensiblen Thema muss aber die Frage ge-stellt werden, ob die Große Anfrage, die Anträge und diegesamte parlamentarische Arbeit der Linken wirklich ge-eignet sind, unseren Rechtsstaat zu schützen. Nach demLesen der Großen Anfrage bezweifele ich mittlerweilegrundsätzlich, dass sie überhaupt darauf abzielt, Gefah-ren vom Rechtsstaat, somit von der Meinungsfreiheit ab-zuwenden; denn in der Großen Anfrage werden – derKollege Karl hat es schon erwähnt – Heimatvertriebe-nenverbände, Trachtenverbände, Burschenschaften undsogar Teile der Bundeswehr pauschal unter Generalver-dacht gestellt. Selbst die Union sitzt nach Darstellung derLinken irgendwo da drin. Ich wundere mich, dass Sie denADAC nicht bemühen; denn schließlich setzt er sich fürdas Rechtsfahrgebot in Deutschland ein.
Was wir hier bekommen, ist die Verzerrung der politi-schen Zustände. Das erinnert mich – einige aus den Rei-hen der Linken kennen das noch – an die DDR. Das Ver-ständnis von Freiheit und Demokratie wird in eineausschließlich linke Meinungsführerschaft umgedeu-tet. Der Fokus wird umgeschwenkt, sodass die Mitte zwi-schen SPD und PDS angekommen zu sein scheint. Ich er-innere mich dabei an die Parole von Walter Ulbricht ausDDR-Zeiten: „Jeder Mann an jedem Ort – mehrmals inder Woche Sport“ – angesichts der letzten Beschlüsse derKoalition geradezu Labsal.Wenn man allerdings die historische Mission der Ar-beiterklasse und ihrer leninistischen Arbeiterpartei mitFührungsanspruch anführt, um die entwickelte sozialisti-sche Gesellschaft mit dem linken Meinungsführeran-spruch zu zementieren, wird mir Angst. Ich frage mich:Sind wir trotz Wendezeit, trotz Montagsdemonstrationenwieder da angekommen, wo die Freiheit des Wortes mitFüßen getreten wird? Findet sich das bürgerliche Lagerwie einst die Blockparteien mit der Meinungsführer-schaft der politischen Linken ab? Wenn ja, macht siesich auch Schuld an der Pervertierung der Meinungsfrei-heit.
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Henry NitzscheZu den Zahlen: Von 2001 bis 2006 wurden für etwa4 500 Projekte circa 192 Millionen Euro ausgegeben.Gleichzeitig stieg aber die Zahl rechtsextremer Strafta-ten und rechtsextremer Wahlerfolge. Und was will Ge-nossin Jelpke jetzt? Mehr Geld. Und was passiert dann?Arbeitsbeschäftigung für Politologen und Soziologen.Frau Jelpke, ich habe gelesen, dass Sie Soziologin sind.Das ist ja die Kaste von Menschen, die für eine gute Lö-sung das passende Problem sucht.
Das Problem DDR haben wir damals abgewickelt. Ichbin 1989 auf die Straße gegangen,
da haben Sie sich noch bei den Grünen in Hamburg denHintern gewärmt, für gutes Westgeld. Sie hätten dieDDR erleben können.Für mich ist Demokratie Wettbewerb, Parteienwettbe-werb um die besten politischen Konzepte.
Wenn Sie jetzt die NPD verbieten wollen, müssen Siezur Kenntnis nehmen – –
– Frau Präsidentin, kann man einmal um Ruhe bitten?2004 haben in Sachsen 190 909 Menschen die NPDgewählt. Bei der letzten Bundestagswahl waren es748 568. Wollen Sie sagen, das sind alles Rechtsextre-misten? Wollen Sie das behaupten? Gehen Sie doch ein-mal auf die Sorgen und Nöte dieser Menschen ein! Fra-gen Sie sie, warum sie NPD gewählt haben: aus Frust,aus Protest, als Denkzettel.
Sind das etwa die Wechselwähler, die Sie an die NPDverloren haben, immerhin 11 000 in Sachsen?
Ich lese – vielleicht beruhigt Sie das – jetzt gern undoft die „junge Welt“. Da gibt es hochinteressante Bei-träge. So konnten wir am 14. März dieses Jahres in der„jungen Welt“ lesen, dass Genossin Jelpke vom Verfas-sungsschutz überwacht wird.
Was steht in diesem Bericht? Ich nenne exemplarischwenige Punkte: kontinuierliche Zusammenarbeit mit derDeutschen Kommunistischen Partei; Ihre politische Hei-mat war die orthodoxe Politsekte KommunistischerBund – da gibt es hier weitere Verstrickungen –;
zahlreiche Veröffentlichungen in linksextremistischenPublikationen; ein ungeklärtes Verhältnis zu politischmotivierter Gewalt.
Selbst die Verfassungsschutzbehörden stecken in derWelt Jelpkes – Zitat – „seit vielen Jahren selber tief imbraunen Dreck“. Für Sie ist also alles rechtsradikal.Ich sage Ihnen: Personen und Organisationen, die sel-ber in linksextremistische Zusammenhänge verstricktsind, können bei der Auseinandersetzung mit demRechtsextremismus keine Bündnispartner sein. Deshalbsind Ihre Anträge abzulehnen. Für Ihr Poesiealbum – ichweiß nicht, ob Sie eines haben –
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
– ich komme zu meinem Schlusswort – möchte ich zi-
tieren, was Rosa Luxemburg gesagt hat: „Freiheit ist im-
mer die Freiheit des Andersdenkenden.“
Ich gebe das Wort dem Kollegen Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Nitzsche, Ihr Redebeitrag zum Rechtsextremismusliest sich wie eine Bewerbung für die NPD; dort gehörenSie geistig auch hin.
Sie sollten hier nicht über Rechtsextremismus reden. Ichwundere mich, dass jemand wie Sie in die CDU aufge-nommen werden konnte; aber das ist ein anderes Thema.In dem kleinen Westerwaldort Oberlahr fand letztenSonntag eine Demonstration von über 1 000 Menschengegen die NPD statt. Dabei war zu beobachten, dass die-ser Protest aus der Mitte der Gesellschaft gekommen ist.Der CDA-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz for-derte während der Versammlung ein Verbot der NPD.Auch die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes –Bund der Antifaschisten“ wirbt mit einer Unterschriften-sammlung für einen erneuten Anlauf für ein NPD-Ver-bot. Und das ist gut so.Um beurteilen zu können, warum das erste Verbots-verfahren scheiterte, lohnt sich ein genauer Blick insJahr 2000: In der „FAZ“ vom 5. April 2000 wird HerrSchily zitiert, dass von der NPD keine Gefahr für dieDemokratie ausgehe. In der „Berliner Zeitung“ vom26. April 2000 warnte er vor unbedachten Schnellschüs-sen und wies Forderungen nach einem Verbot rechts-extremer Parteien zurück.
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Gert WinkelmeierErst nach einer Reihe rechtsextremistischer An-schläge – ich erinnere an den Düsseldorfer Sprengstoff-anschlag – wurde die Debatte über ein NPD-Verbot leb-hafter. Auf einmal forderte der bayerische Innenministerein NPD-Verbot. Es gab auch Widerspruch: Branden-burgs Innenminister Schönbohm fand die Gründe für einNPD-Verbot nicht ausreichend, Frau Künast bezeichnetedas Verbotsverfahren laut „FAZ“ vom 11. Oktober 2000als absoluten Quatsch, und die FDP war immer gegenein Verbot der NPD. Dass es überhaupt zu einem Ver-botsantrag kam, haben wir dem damaligen KanzlerSchröder zu verdanken, der seine Kampagne „Aufstandder Anständigen“ initiierte und davon sprach, dass dasVerbot ein Stück politischer Hygiene bedeute. Danachsetzte ein kampagnenartiger, hektischer Aktionismusein. Genau das war das Problem.Ich behaupte hier und heute, dass die damalige Bun-desregierung nie ernsthaft daran interessiert war, dieNPD zu verbieten. Sie wollte lediglich Aktivitäten vor-täuschen. Herr Schily war von der großen Sorge erfasst,dass sein Kontrahent, Herr Beckstein, bei diesem Themadie Meinungsführerschaft erhält. Deshalb wurden in derHektik elementare Fehler bei der Erstellung des Verbots-antrags gemacht.Die Öffentlichkeit hatte den Eindruck, dass man nichtmehr wusste, ob die NPD von V-Männern oder von ihreneigenen Leuten geführt wird. Jeder siebte NPD-Funktio-när stellte sich als bezahlter staatlicher Verfassungs-schutzmann heraus.
– Doch, das ist wohl wahr.Die schlampige Arbeit des Bundesinnenministeriumsist umso bedauerlicher, als es im Bundestag von Ende2000 bis 2001 eine breite politische Übereinstimmunggab. Im Kern waren sich alle Parteien einig, dass es derStaat nicht hinnehmen dürfe, dass „unter dem Schutz desParteienprivilegs neonazistisches Gedankengut geför-dert“ werde. In einem Antrag aller Parteien sprach mansich im März 2001 gegen Rechtsextremismus, Fremden-feindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt aus. In einerDrucksache vom 1. März 2002 sprach sich auch dieFraktion der CDU/CSU für ein Verbot der NPD aus.Heute macht die Bundesregierung einen großen Bogenum das Thema NPD-Verbot.Die NPD provoziert im Landtag von Sachsen einenSkandal nach dem anderen. Ein NPD-Abgeordneter gingin Mecklenburg-Vorpommern mit einem „Totschläger“in den Landtag. Ich fordere Frau BundeskanzlerinMerkel auf, das NPD-Verbot zur Chefinsache zu ma-chen. – Leider ist sie nicht hier. Das ist schade. Mansieht allerdings, dass die Regierungsbank sowieso relativschwach besetzt ist.Das Bundesverfassungsgericht hat einen klaren Wegaufgezeigt, wie es zu einem Verbot kommen kann. V-Leutein der NPD müssen abgezogen werden; denn sie sind fürnichts notwendig. Entscheidende Erkenntnisse werdenüber sie nicht erlangt. Das wird durch die Antworten derBundesregierung auf die Große Anfrage der Linksfrak-tion bewiesen. Es ist ein Armutszeugnis, dass auf vieleFragen an die Regierung mit einem lapidaren „Dazu lie-gen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor.“ geant-wortet wird.Man kann grundsätzlich nicht mit Agentenmethodengegen Parteien vorgehen. Parteien sind öffentlich. Des-halb muss eine nichtstaatliche Organisation Rechtsextre-mismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beobach-ten. Durch eine Analyse der NPD-Beweise wirddeutlich, dass ausreichend Anlass besteht, ihre Verfas-sungstreue zutiefst zu bezweifeln.Wir sind uns sicherlich einig, dass durch ein Verbot al-lein rechtsextremes und fremdenfeindliches Gedanken-gut nicht aus den Köpfen der Menschen getrieben wird.Das muss politisch gelöst werden. Wir müssen uns aufden Leitsatz „Faschismus ist keine Meinung, sondern einVerbrechen“ einigen. Mit dem NPD-Verbot bekämen wirein Instrument in die Hand, um die menschenfeindlichenTheorien und Zielsetzungen des Faschismus aus denKöpfen zu bekommen.
Für die NPD und ihre Anhänger darf nicht das demo-kratische Gebot der Meinungsfreiheit gelten. Die NPDist nicht gestärkt aus dem gescheiterten Verbotsverfahrenhervorgegangen; sie nutzt einfach ihre Möglichkeitenund kann mit öffentlichen Geldern weiter ihr Unwesentreiben.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
Mein Appell an die Bundesregierung lautet: Wenn Sie
es mit dem Verbot im Jahre 2000 wirklich ernst meinten,
dann handeln Sie jetzt rechtsstaatlich. Schaffen Sie die
Voraussetzungen für ein zweites NPD-Verbotsverfahren!
Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man als letzter Debattenredner das Wort ergreifendarf, dann hat man zwei Vorteile: Erstens kann einemanschließend nicht widersprochen werden – wozu es,wie ich annehme, wahrscheinlich auch keinen Grund ge-ben wird. Zweitens hatte man Gelegenheit, die ganzeDebatte zu verfolgen. Somit muss ich mich nicht mit ei-nem fertigen Manuskript hier hinstellen, sondern kannvielleicht das eine oder andere, was heute ausgeführtworden ist, aufgreifen.
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Sebastian EdathyIch glaube, dass wir alle miteinander eindeutig fest-stellen müssen: Rechtsextremismus ist organisierte Men-schenfeindlichkeit. Deshalb ist Rechtsextremismus im-mer eine latente Herausforderung und Gefahr für dieDemokratie, der wir unsere volle Aufmerksamkeit wid-men müssen.
Das heißt nicht zuletzt: Wenn wir uns mit der Fragebeschäftigen, welche Strategien es gegen Rechtsextre-mismus – seine Erscheinungsformen, aber auch seinEntstehen – gibt, dann kommt es auf drei Komponentenan. Eine Komponente besteht unzweifelhaft darin, dasswir den Konsens zwischen den Demokratinnen und De-mokraten brauchen, dass rechtsextremistisches Verhal-ten und das Wählen rechtsextremistischer Parteien völliginakzeptabel sind.Ich habe manche Äußerungen mit einem etwas un-guten Gefühl vernommen, die darauf hindeuteten, dassLinksextremismus gegen Rechtsextremismus aufgewo-gen werden soll; die Fraktionen machen sich gegenseitigVorwürfe. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Wirmüssen vielmehr den demokratischen Grundkonsens,der seit Ende des Zweiten Weltkrieges besteht, auch im21. Jahrhundert bewahren. Dazu gehört auch, das Themanicht parteipolitisch zu instrumentalisieren. Das solltenwir auch in diesem Haus berücksichtigen.
Mir macht beim Thema Rechtsextremismus ein Phä-nomen am meisten Sorge, das auch in der Antwort derBundesregierung auf die Große Anfrage erheblichenRaum einnimmt. Rechtsextremismus in Deutschland istseit zehn bis 15 Jahren davon geprägt, dass zunehmendjunge Menschen damit in Erscheinung treten. In der Mit-gliederstruktur der NPD als radikalste rechtsextremisti-sche Partei in Deutschland liegt das Durchschnittsalterbei Anfang 30. Wir müssen also davon ausgehen, dassuns das Thema weiter beschäftigen wird.Vor allen Dingen müssen wir berücksichtigen, dass esRechtsextremisten in der Vergangenheit zunehmend ge-lungen ist, ihren Nachwuchs aus den heranwachsendenGenerationen zu rekrutieren. Wenn wir keine gemeinsa-men Ansätze formulieren können, um dem Rechtsextre-mismus zum Beispiel dort mit Alternativangeboten ent-gegenzuwirken, wo es an Jugendarbeit fehlt oder sienicht funktioniert oder wo möglicherweise in der Ver-gangenheit Entscheidungen von einer falschen Prioritä-tensetzung in den Kommunen geprägt waren, dann per-petuieren wir das Problem, und dann wird es nochstärker an Bedeutung gewinnen.Was heißt das im Hinblick auf Gegenstrategien? Eswar viel von Verboten die Rede, worauf ich auch nocheingehen werde; aber das ist für mich nicht der entschei-dende Punkt. Vielmehr ist neben der Intervention dieFrage der Vorbeugung von entscheidender Bedeutung.Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns in diesemLand gemeinsam an eines erinnern müssen – das habenwir aus der deutschen Geschichte gelernt –: Demokratielässt sich nicht vererben, und sie ist auch keine Errun-genschaft, die für ewige Zeiten als garantiert betrachtetwerden kann. Vielmehr muss Demokratie nicht nur be-wahrt, sondern auch weitergegeben werden. Sie mussvon jeder Generation aufs Neue gelernt werden.Wenn wir es schaffen, Kindern und Jugendlichen aufdem Weg zum Staatsbürger so viel stabilisierende Hilfezu gewähren, dass sie irgendwann die Werte verinnerli-chen und es nicht nötig haben, die Würde anderer in denDreck zu ziehen, um sich des eigenen Selbstbewusst-seins zu vergewissern, dann haben wir den entscheiden-den Schritt gegen jede Art von Extremismus, insbeson-dere aber gegen den Rechtsextremismus, geleistet.
In der Hinsicht sind wir auf Bundesebene in der Tatein Akteur, aber nicht der einzige. Wir brauchen die an-deren staatlichen Ebenen – die Länder und die Kommu-nen –, aber auch die Zivilgesellschaft: die Gewerkschaf-ten, die Arbeitgeberverbände, die Kirchen, dieSozialverbände und die vielen Initiativen und Projekte,die sich in diesem Bereich vorbildlich engagieren unddie man mit ihrer Arbeit nicht alleinlassen darf. Wirbrauchen ein Bündnis gegen Rechtsextremismus, das so-wohl die staatlichen als auch die privaten Akteure in un-serem Lande umfasst.Ich bin stolz darauf, dass wir es in der Großen Koali-tion geschafft haben, die Mittel des Bundesprogrammssignifikant – von 19 Millionen Euro auf mittlerweile24 Millionen Euro pro Jahr – zu erhöhen. Ich gebe zu,dass das nicht leicht war, aber eine Große Koalition hatauch gelegentlich den einen oder anderen pädagogischenEffekt. Ich freue mich sehr darüber, dass auch die Uni-onsfraktion letzten Endes die Vorschläge der Sozialde-mokraten als vernünftig anerkannt und ihnen zuge-stimmt hat.Wir müssen sehen, wie sich dieses Programm be-währt. Es ist kritisiert worden, dass die Mittel nur dannverausgabt werden können, wenn die Kommunen zuge-stimmt haben. Es wurde die Frage aufgeworfen, wie manmit Kommunen verfahren soll, in denen das Problembe-wusstsein nicht hinreichend ausgeprägt ist. Wir müssenbei der Umsetzung des Programms darauf achten, ob imEinzelfall nachgesteuert werden muss. Grundsätzlichhalte ich es aber für ausgesprochen sinnvoll, darauf zuachten, dass die Initiativen und Projekte, die vom Bundunterstützt werden, auf Dauer auch kommunal verankertsind, akzeptiert und mitgetragen werden. Dort, wo esKommunikationsschwierigkeiten gibt, sollten wir behilf-lich sein, und zwar nicht zuletzt über das Familienminis-terium.
Ich will noch etwas – weil das in der Debatte eine ge-wisse Rolle gespielt hat – zum Thema Intervention sa-gen, also dazu, was wir dort tun, wo Rechtsextremismus
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Sebastian Edathybereits entstanden ist. Priorität hat für mich, das Entste-hen einer Gesinnung zu verhindern. Das ist neben derÄchtung einer Gesinnung das Beste, was wir machenkönnen, wenn es um die rechtsextremistische Ideologiegeht. Ich bin der Auffassung, dass wir in der Vergangen-heit einen guten Weg gegangen sind, eine vernünftigeBalance gefunden haben. In Zukunft wird es vermehrtdarauf ankommen, sicherzustellen, dass Straftaten zügigaufgeklärt werden, dass Prozesse zügig stattfinden, dasses keine Toleranz gegenüber Rechtsextremisten gibt.Wir müssen darauf achten, dass die Behörden, wenn eineDemonstration nicht verboten werden kann, den Veran-staltern Auflagen machen, um ihnen das Agieren zu er-schweren und den Aktionsradius, den sie in Anspruchnehmen wollen, einzuengen.Wir sollten zu gegebener Zeit überlegen, ob wir Kon-sequenzen aus dem ziehen, was dankenswerterweise dieJustizministerin im April auf europäischer Ebene ausge-handelt hat. Es gibt einen Rahmenbeschluss der Justiz-minister der Europäischen Union, wonach der Richterden Strafrahmen bei einer fremdenfeindlichen bzw. ras-sistisch motivierten Straftat höher ansetzen kann als ur-sprünglich im Gesetz vorgesehen. Ich gebe zu bedenken,dass wir sehr sorgfältig prüfen sollten, ob der Staat insolchen Straftatbereichen, in denen ein besonderer Un-rechtsgehalt zu erkennen ist, im Hinblick auf die Präven-tivwirkung ein höheres Strafmaß als bisher einräumt.Zum Thema NPD-Verbot. Ich will ganz freimütig sa-gen: Wenn ein NPD-Verbot erreicht werden könnte, gäbees, glaube ich, nur wenige Menschen in diesem Land,die sich nicht darüber freuten. Die NPD hat in den letz-ten Jahren zunehmend die Kooperation mit der rechts-extremistischen Szene systematisch ausgebaut. Sie istsozusagen Schirmherrin für viele Demonstrationen undVeranstaltungen. Ich bin sehr dafür, dass wir uns damitintensiv beschäftigen. Aber wir sollten den Weg einesNPD-Verbots nur gehen, wenn er absehbar von Erfolggekrönt ist. Wir sollten nicht mit dem Kopf gegen dieWand rennen. Das Prüfungsverfahren ist noch nicht ab-geschlossen. Aber so gut es wäre, die Infrastruktur derRechtsextremisten durch ein NPD-Verbot ein Stück weitzu zerschlagen: Wir können eine Partei verbieten, nichtaber eine Gesinnung. Wir können eine Gesinnung ächtenund ihre Entstehung vielleicht präventiv verhindern; dasmüssen wir Demokraten gemeinsam machen. Das mussunser vorderster Ansatz bei der Bekämpfung des Rechts-extremismus sein.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4631 mit dem
Titel „V-Leute in der NPD abschalten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP und des frak-
tionslosen Abgeordneten gegen die Stimmen der Linken
und gegen die Stimme von Herrn Winkelmeier abge-
lehnt.
Tagesordnungspunkt 23 c: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 16/4807 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen
zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zu-
teilungsperiode 2008 bis 2012
– Drucksache 16/5240 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir sprechen nun über den von den Fraktionender CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf einesZuteilungsgesetzes für die Periode 2008 bis 2012 als Teildes Emissionshandels, der ein Instrument des Klima-schutzes in Deutschland ist. Die gute Nachricht vorweg:Wenn wir an den Grundzügen des Zuteilungsgesetzesfesthalten, dann erreichen wir, dass Deutschland seinKlimaschutzziel 2012 übertreffen wird. Wir werdenalso mehr als 21 Prozent der Treibhausgasemissionen imVergleich zu 1990 reduzieren können. Das ist gut so. Wirhaben uns vorgenommen, den CO2-Ausstoß bis 2020 um40 Prozent zu reduzieren. Das ist ein anspruchsvollesZiel. Es ist gut, wenn wir bereits jetzt Schwung holen,um das höhere Ziel – Reduzierung um 40 Prozent – zuerreichen, das von den Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftlern vorgeschlagen worden ist, damit der Kli-mawandel einen akzeptablen Umfang einnimmt.
Die Reaktion darauf ist, dass wir an den Grundzügenfesthalten werden: Mit der SPD wird es keine Aufwei-chung der Grundzüge des Zuteilungsgesetzes für die Pe-riode von 2008 bis 2012 geben.Es gibt eine Reihe von Fragen, die zu regeln sind. Soist das immer, wenn man Gesetzentwürfe ins Parlamenteinbringt: Nie kommt ein Gesetzentwurf so aus dem Par-
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Ulrich Kelberlament heraus, wie eine Regierung ihn eingebracht hat.Das ist auch gut so. Die Hauptfrage, die wir stellen müs-sen, lautet: Werden wir die CO2-Emissionsrechte weiter-hin kostenlos an die Unternehmen vergeben, oder wer-den wir die europäische Rahmenrichtlinie, nach derwir bis zu 10 Prozent der Zertifikate verkaufen oder ver-steigern können, nutzen?Die SPD will diesen Spielraum nutzen: Wir wollenZertifikate verkaufen oder versteigern. Dafür gibt es ei-nen Grund: Wir haben feststellen müssen, dass eineReihe von Unternehmen insbesondere aus der Energie-branche zwar kostenlos die Zertifikate erhalten haben,aber den Verkaufspreis gegenüber den Kundinnen undKunden so gestaltet haben, als hätten sie sie bezahlt. Siesagen nämlich: Wir hätten die Zertifikate auch zumMarktpreis verkaufen können. Dann ist es aber nur ge-rechtfertigt, dass wir den Unternehmen einerseits weni-ger Zertifikate zuteilen – auch dafür sorgen wir mit demZuteilungsgesetz – und dass die Unternehmen anderer-seits für möglichst viele der restlichen Zertifikate, die sieerhalten, den Preis bezahlen, den sie den Kundinnen undKunden in Rechnung stellen.Mit diesem Geld können wir etwas sehr Sinnvollesmachen: Wir können den Menschen helfen, ihren Ener-gieverbrauch zu reduzieren und damit ihre Energierech-nung nachhaltig zu senken. Davon profitieren die Privat-haushalte und die kleinen und mittleren Unternehmen,die im Augenblick hohe Kosten haben.So erreicht man mit dem Emissionshandel mehrereZiele: Erstens. Er hilft uns, unsere Klimaschutzziele zuerreichen. Zweitens. Wir finanzieren damit weitere Kli-maschutzinstrumente. Drittens. Er schafft Arbeitsplätze.Es ist sinnvoller, in Jobs zu investieren als in Brenn-stoffe. Viertens. Er hilft, die Volkswirtschaft zu entlas-ten; denn mit einer solchen Reduzierung des Energiever-brauchs senken wir dauerhaft die Rechnungen.Deswegen sollten wir das Zuteilungsgesetz 2012stringent durchsetzen. Wenn es möglich ist, sollten wires im Zuge der Parlamentsberatungen noch verbessernund bereits jetzt sagen, was wir ab 2013 tun wollen. Wirmöchten, dass dann EU-weit alle Zertifikate versteigertund verkauft werden. Wir wollen ein nachhaltiges Finan-zierungsinstrument für Klimaschutzmaßnahmen und fürdie Steigerung der Energieeffizienz bei der Einführungneuer Technologien bei uns und in den Ländern, dieschon heute am meisten unter dem Klimawandel leiden,nämlich in den Ländern des Südens. Sie hatten nur einengeringen Anteil an der Emission der Treibhausgase;heute haben sie aber bereits die größten Probleme. Wirsollten schon heute ein Signal setzen und sagen: Inves-tiert so, dass ihr euch mit eurer Technologie auch nach2012 mit weniger Treibhausgasemissionsrechten gut amMarkt behaupten könnt. Dieses Signal sollte heute vondieser Debatte an die Unternehmen gehen.
Der Emissionshandel ist ein wichtiges Instrument imKlimaschutz; aber er ist nicht das einzige Instrument.Wir werden über die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes – eine der Erfolgsstorys deutscher Gesetzge-bung – sprechen. Wir müssen über ein Erneuerbare-Ener-gien-Wärmegesetz und über die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung sprechen. Wichtig ist natürlich der ge-samte Bereich der Energieeffizienz.In den letzten Wochen gab es einen Wettlauf um diehehrsten Ziele im Klimaschutz. Ich fand spannend, waszum Beispiel im Strombereich gefordert wurde: Der Mi-nister sagte, er wolle bis 2020 einen Anteil der erneuer-baren Energien von 27 Prozent erreichen. Dann habendie Grünen gesagt, dass ein Anteil von mindestens30 Prozent möglich sei. Ein Entwurf der Grundsatzpro-grammkommission der CDU enthielt die Forderungnach einem Anteil von 35 Prozent. Wahrscheinlich hatdie FDP gesagt: Wenn wir unsere Art der Förderung um-setzen würden, könnte auch ein Anteil von 40 Prozenterreicht werden, weil der Markt viel stärker agierenwürde. Ich finde all das gut; ich habe mich als Umwelt-politiker über diesen Wettlauf gefreut. Ich möchte jetztbitten, dass wir einen zweiten Wettlauf beginnen: einenWettlauf um die Umsetzung der entsprechenden Klima-schutzinstrumente. Der hehre Wettlauf um Prozente liegtnun nämlich hinter uns.
Da muss man etwas öffentlich sagen, was die SPD abjetzt immer wieder öffentlich sagen wird – es bleibt nichtmehr hinter verschlossenen Türen –: Der Wettlauf umdie Instrumente hat nicht begonnen; wir warten seit18 Monaten darauf, dass unser Koalitionspartner mit unsüber ein Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz verhandelt.
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, obwohlwir nicht diejenigen sind, die das tun sollten. Nicht ein-mal über diesen Gesetzentwurf wird verhandelt. Wirwarten seit sechs Monaten auf die Reaktion auf unsereVorschläge zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz.Ich höre die Reden, dass man das auch wolle. Warumkönnen wir nicht darüber verhandeln?Wir werden das ab jetzt bei jeder Gelegenheit erwäh-nen, bis Sie von der Union die Verhandlungen mit unsbeginnen.
Wir werden bis zur Sommerpause weitere Gesetzent-würfe zu Klimaschutzinstrumenten vorlegen. Wir ver-langen eine Verhandlung in der Großen Koalition da-rüber.Es kann nicht sein, dass die Kanzlerin auf den EU-Gip-feln mit Überzeugung unsere Klimaschutzziele vertritt,während die Fraktion der Kanzlerin die Verhandlungenüber entsprechende Instrumente verweigert. DiesenMissstand werden wir – auch wenn wir gemeinsam eineKoalition bilden – ab jetzt immer öffentlich erwähnen.
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Ulrich KelberDas tun wir vor allem deswegen, weil die Instrumenteso klar auf dem Tisch liegen.Für den Energiegipfel im Juli sind drei Szenariendurchgerechnet worden. Bei allen Szenarien steht dieEnergieeffizienz im Mittelpunkt. Dann lassen Sie unsan der Energieeffizienz arbeiten! In allen Szenarien istder Ausbau der erneuerbaren Energien der nächste großeSchritt. Also lassen Sie uns über ein Erneuerbares-Ener-gien-Wärmegesetz sprechen! In allen Szenarien hat dieErneuerung des Kraftwerksparks einen hohen Stellen-wert. Deswegen muss man im Emissionshandel Druckmachen, damit die alten Kraftwerke durch neue ersetztwerden. Mit diesen Szenarien ist auch regierungsamt-lich, dass die Atomkraft für den Klimaschutz keineRolle spielt. Es wurde immer gesagt, man möge erklä-ren, wie der Klimaschutz ohne Atomkraft zu schaffensei. Jetzt zeigen zwei Szenarien, dass eine CO2-Reduzie-rung um 40 Prozent ohne Atomenergie möglich ist. Esist jetzt regierungsamtlich, dass es geht, mit der Unter-schrift des Kanzleramtes und mit der Unterschrift desWirtschaftsministers. Das ist gut. Es gibt keinen Kosten-vorteil, und es gibt keinen Klimaschutzvorteil. Es gibtnur ein größeres Risiko für die Menschen in diesemLand. Ich bin nicht bereit, Schrottreaktoren wie Biblis Abis 2020 laufen zu lassen,
die man nicht gegen Terrorangriffe schützen kann. Wirwissen jetzt, dass es anders geht. Keiner kann mehr be-haupten, er wisse nicht, wie man es machen kann. AlleFakten liegen auf dem Tisch. Jetzt brauchen wir denWettlauf in der Koalition und im Parlament, um die bes-ten Klimaschutzinstrumente einzuführen.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Kauch,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binHerrn Kelber ausgesprochen dankbar dafür, dass er deut-lich gemacht hat, welch ein Chaos in dieser Koalitionherrscht, wenn es darum geht, nicht nur Überschriften zuproduzieren, sondern zu handeln und Klimaschutz tat-sächlich im Parlament umzusetzen.
Ich finde es auch ausgesprochen interessant, dass Sie,Herr Kollege, Biblis A als Schrottreaktor bezeichnen.Ich frage mich, warum Ihr Umweltminister, der für dieSicherheit der Reaktoren zuständig ist, einen Schrottre-aktor nicht abschaltet. Oder ist das, was Sie angespro-chen haben, vielleicht nur Rhetorik?
Ich möchte jetzt über das Zuteilungsgesetz reden,über das wir heute debattieren sollen. Ich frage mich,wie ernst die Bundesregierung eigentlich ihre eigenenKlimaschutzziele nimmt; denn wir haben einen Wider-spruch zwischen dem, was medial verkündet wird, unddem, was wir tatsächlich hier auf dem Tisch liegen ha-ben. Wie will diese Koalition eigentlich eine Minderungdes CO2-Ausstoßes von 40 Prozent oder auf lange Sichtgar 80 Prozent erreichen, wenn sie den Brennstoff Kohleweiter so bevorzugt, wie sie das mit diesem Gesetzent-wurf tut?
Auch bei der Gesamtmenge stellen sich einige Fragen.Der Minister hat mehrfach festgestellt, dass in der ver-gangenen Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 zu viele Zer-tifikate ausgegeben wurden. Er hat gesagt, was passiertist, nämlich dass der Börsenpreis so tief in den Keller ge-gangen ist, dass keine Investitionsanreize mehr vorhan-den sind. Das ist eine richtige Analyse, aber ich fragemich, wer denn in diesem Land regiert hat, als der Ent-wurf für dieses Gesetz vorgelegt wurde. Das war dieSPD, und deshalb ist es jetzt scheinheilig, wenn Sie sichauf den Standpunkt zurückziehen, dass das wohl einFehler gewesen ist, wenn nicht gleichzeitig entspre-chende Konsequenzen gezogen werden. Diese Konse-quenzen hat der Minister nicht selbst ziehen wollen.Das Emissionsbudget, das die Bundesregierung zu-nächst bei der EU-Kommission angemeldet hat, war zuhoch. Die Kommission hat der Koalition die Rote Kartegezeigt. Dass wir jetzt ein Emissionsbudget haben, dasden Klimaschutzzielen der Europäischen Union ent-spricht, ist einzig und allein das Verdienst der Europäi-schen Kommission und nicht dieser Bundesregierung.
Kommen wir zum Stichwort Kohleprivilegierung.Auch hier musste die EU-Kommission eingreifen, damitdie Bundesregierung nicht ein Klimaschutzverhinde-rungsprogramm beschließt. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte zunächst einmal vorgesehen, dassneue Kohlekraftwerke 14 Jahre lang von weiteren Min-derungsverpflichtungen ausgenommen werden sollten.Allein dem Einspruch der EU-Kommission gegen diesenNationalen Allokationsplan ist es zu verdanken, dassdiese unglaubliche Privilegierung der Kohle beendetwurde.Wenn wir uns anschauen, was die Bundesregierunguns hier vorlegt, dann sehen wir, dass das, was der Mi-nister als großen Erfolg verkauft – dass es kein Sonder-Benchmark für die Braunkohle gibt –, zwar tatsächlichim Gesetz verankert wird, dass es aber gleichzeitig eineRegelung gibt, nach der die Stundenzahl für die Braun-kohlekraftwerke höher angesetzt ist als die für die Stein-kohlekraftwerke. Das Ganze ist eine Mogelpackung. DieBraunkohleprivilegierung soll durch die Hintertür wie-der eingeführt werden. Sie verstecken das allerdings ge-schickt, damit der Minister sein Gesicht wahren kann.
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Michael KauchWie ernst nimmt es eigentlich eine Bundesregierungmit dem Klimaschutz, wenn ein Kohlekraftwerk mehrals doppelt so viele Zertifikate wie ein Gaskraftwerk ge-schenkt bekommt? Die Bevorzugung der Kohle gegen-über dem Gas hat nichts mit Klimaschutz zu tun,sondern ausschließlich mit der Bedienung von Lobby-interessen, in diesem Fall mit der Bedienung der Interes-sen bestimmter Stromkonzerne.
Der Lobbyismus, der den Emissionshandel in Miss-kredit bringt, muss beendet werden. Wir müssen soschnell wie möglich zur Versteigerung der Emissionszer-tifikate kommen, damit nicht der Staat, sondern derMarkt entscheidet, wer wie viele Zertifikate bekommt.Um Erfahrungen zu sammeln, müssen wir ab 2008 damitbeginnen, das zu tun, was EU-rechtlich zulässig ist,nämlich 10 Prozent zu versteigern.Hier gibt es eine paradoxe Lage. Jetzt plötzlichspricht sich auch der Umweltminister für eine Versteige-rung aus. Monatelang hat er uns hier im Parlament dasMärchen erzählt, dass die Strompreise bei einer Verstei-gerung steigen. Alle Volkswirte sagen ganz klar: DieZertifikate, ob geschenkt oder versteigert, sind und wer-den in die Strompreise eingepreist. Wenn sich der Um-weltminister endlich nicht mehr gegen den geballtenSachverstand sperrt, dann könnte man sagen: Die Ein-sicht kam – besser spät als nie!
Aber welche Konsequenz zieht das Kabinett? HerrGabriel hat im Kabinett Hand in Hand mit dem Wirt-schaftsminister Glos einen Plan verabschiedet, der kos-tenlose Zertifikate, also Geschenke für die Industrie,vorsieht. Statt in der Regierung für die Position, dassman versteigern muss, zu kämpfen, geht der Minister lie-ber in den Zoo, streichelt für das Klima einen kleinenEisbären und überlässt die Arbeit den Abgeordneten die-ses Deutschen Bundestages. Das ist ein Armutszeugnisfür einen Umweltminister.
Da der Minister offensichtlich nicht in der Lage ist,etwas zu bewegen, freue ich mich, dass Herr Kelber hierankündigt, dass die Kolleginnen und Kollegen derKoalition die Angelegenheit in die Hand nehmen. Ichhoffe, dass es nicht bei Ankündigungen bleibt. Die Bun-desregierung hat einen Plan vorgelegt, der keine Verstei-gerungen vorsieht. Jetzt oder nie haben Sie die Chance,Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Der Deutsche Bun-destag und nicht die Bundesregierung ist der Gesetzge-ber in diesem Land. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Siemit uns dafür, dass es zur Versteigerung kommt, und be-enden Sie die milliardenschweren Geschenke für dieEnergieversorger in diesem Land!
Bemerkenswert finde ich es aber, dass Herr Kelbergesagt hat, das sei ein neues Instrument zur Finanzie-rung vieler schöner Projekte, die die SPD sich so vor-stellt.
– Das haben Sie hier gerade vorgeschlagen. – Ich kannIhnen nur sagen: Die FDP möchte mit dem Geld, das wirdurch die Versteigerung einnehmen, die Strompreisesenken. Das ist dadurch möglich, dass wir die Strom-steuer ebenfalls senken. Mit anderen Worten: Wenn dieStromsteuer gesenkt wird, dann werden die Strompreisenicht steigen, wie uns Herr Gabriel monatelang erzählthat, sondern sinken. Das Geld gehört den Bürgerinnenund Bürgern in diesem Land und nicht dem Finanz-minister Peer Steinbrück.Anstatt den Emissionshandel kostengünstig und ge-recht zu gestalten, ist dieses Instrument mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf der Bundesregierung geprägt vonSonderregelungen und Verteilungskämpfen. Der von derBundesregierung vorgelegte Nationale Allokationsplanist ein Paradebeispiel für eine Politik der verpasstenChancen: zu wenig Markt, zu viel Lobbyismus.Zu wenig Markt, zu viel Lobbyismus, das ist der Weg,den Sie mit dem Emissionshandel in Deutschland weitereinschlagen. Wir werden diesen Entwurf ablehnen, so-lange er keine Versteigerung vorsieht und solange Siedie Braunkohle in Deutschland gegen jede ökologischeVernunft durch die Vergabe der Zertifikate quersubven-tionieren.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte eingangs auf die Debatte zurückkommen, diewir vor zwei Wochen zu der Regierungserklärung vonHerrn Minister Gabriel zum Klimaschutz geführt haben.Ich persönlich – ich weiß, dass diese Einschätzung vonvielen in diesem Haus geteilt wurde – empfand diese De-batte als sehr wohltuend.Insbesondere habe ich es als positiv empfunden, dasssich ein sehr großer Konsens darüber abgezeichnet hat,dass der Klimaschutz die globale Herausforderung in un-serem Jahrhundert ist, dass wir als Europäische Unionund als Bundesrepublik eine Vorreiterrolle dabei spielenwollen und die Bundeskanzlerin in diesem Bemühen un-terstützen und dass wir diese Vorreiterrolle auch im na-tionalen Rahmen nicht nur in Worten, Ankündigungenund der Übernahme von Verpflichtungen zum Ausdruckbringen, sondern auch durch ganz konkretes Handeln.
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Andreas Jung
Ich bin der Überzeugung, dass die Große Koalition sichmit dem, was sie geleistet und schon auf den Weg ge-bracht hat, überhaupt nicht zu verstecken braucht.
Wir haben das Gebäudesanierungsprogramm derrot-grünen Regierung nicht nur übernommen, nicht nurverdoppelt oder verdreifacht, sondern mehr als vervier-facht und leisten damit einen unglaublichen Beitrag zurReduktion von CO2 und damit zum Klimaschutz.
Wir haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht in-frage gestellt. Wir machen bei den regenerativen Ener-gien nicht nur genauso viel wie die vorherige Regierung,wir haben schon jetzt die Förderung für regenerativeWärme aufgestockt. Wir befinden uns jetzt – darauf hatHerr Kelber hingewiesen – in der Diskussion, wie wirdabei noch weiter vorankommen können. Beide Koali-tionspartner und alle Beteiligten haben den erklärtenWunsch, voranzukommen und noch mehr zu tun als inder Vergangenheit.
Deshalb, lieber Herr Kelber, rate ich zur Gelassenheit indieser Diskussion. Wir müssen uns nicht verstecken.Wir verfolgen – damit bin ich bei unserem Thema –auch beim Emissionshandel ambitionierte Ziele. Es istwahr, worauf Herr Kauch hingewiesen hat. Das Zwi-schenergebnis, über das wir heute diskutieren, ist dasResultat von Diskussionen und Verhandlungen, auch mitder Europäischen Union. Minister Gabriel hat gesagt,alle Beteiligten – ich glaube, da kann sich keine Fraktionausnehmen – hätten einen Lernprozess durchgemacht.Wenn wir uns das Ergebnis ansehen, können wir aber sa-gen: Wir nehmen die Herausforderung an! Ich will dasan drei konkreten Punkten belegen.Erstens. Entscheidend ist die Menge an CO2, die inDeutschland ausgestoßen werden darf, und die Zahl derZertifikate, die verteilt werden. Da gibt es eine ganz er-hebliche Reduktion gegenüber der letzten Emissionshan-delsperiode. Wir haben ein Ergebnis, bei dem niemandbestreitet, dass wir damit unsere Kiotoverpflichtungenerfüllen werden. Herr Kelber sagt sogar, wir gingen da-mit über unsere Kiotoverpflichtungen hinaus und leistenmehr als die 21 Prozent Reduktion, die wir leisten müs-sen. Gerade das belegt doch, dass wir unserer Vorreiter-rolle gerecht werden und am Ende dieser Emissionshan-delsperiode im Jahre 2012 Vollzug melden können inBezug auf unsere Verpflichtungen.
Zweitens. In der letzten Periode gab es in dem vonMinister Trittin verantworteten Entwurf – um das auchdazuzusagen – die Regelung, dass Neuanlagen über14 Jahre und länger von jeglichen Reduktionspflichtenausgenommen würden. Da kann man die Frage stellen,ob es richtig ist, damit einen Status quo zu zementierenbis ins Jahr 2020, für das wir uns als Koalition ambitio-nierte Ziele gesetzt haben. Wir haben nämlich gesagt,dass wir bereit sind, unsere Emissionen bis dahin um biszu 40 Prozent zu reduzieren. Es stellt sich die Frage, obdas gelingen kann.In dem Entwurf findet sich jetzt eine andere Rege-lung. Man hat – auch nach den Diskussionen mit der Eu-ropäischen Union – daran nicht festgehalten. Wir habenjetzt ein Benchmark-System. Das Benchmark-Systemist ein intelligentes System, weil es nicht einen Statusquo zementiert, sondern jeden Betreiber und jede Anlagedazu zwingt, immer auf dem aktuellen Stand der bestenTechnik zu sein.Dadurch entsteht der Zwang, alte Kraftwerke durchneue zu ersetzen. Dadurch entsteht der Zwang, mit derTechnik zu gehen. Dadurch wiederum können wir dasherbeiführen, was wir in Deutschland brauchen, um un-sere Klimaschutzziele zu erreichen: eine Innovationsof-fensive.Eine WWF-Studie kam zu dem Ergebnis, dass sechsder zehn schmutzigsten Kohlekraftwerke, die es inEuropa gibt, in Deutschland stehen. Ich bin überzeugt,der Nationale Allokationsplan wird dazu beitragen, dasssich diese Situation ändert.
Insbesondere das Benchmarksystem hat zur Folge, dassman darüber nachdenkt: Wie kann man besser werden?Wie kann man mehr als bisher mit dem technischenFortschritt gehen? Ist es nicht richtig, alte Anlagen durchneue zu ersetzen? Diese Entwicklung wird durch dieEinführung eines Effizienzfaktors zusätzlich verstärkt,da dieser dazu führt, dass alte Anlagen bei der Zuteilungschlechter als neue Anlagen ausgestattet werden. Da-durch werden Anreize für Innovationen und neue Tech-nologien geschaffen.
Als dritten Punkt möchte ich die Möglichkeit anspre-chen, die Projekte CDM und JI im Rahmen des Emis-sionshandels viel stärker zum Einsatz zu bringen, als esbislang der Fall war. Wir haben in unserem Gesetzent-wurf die Möglichkeit vorgesehen, dass bis zu 20 Prozentder Reduktionsverpflichtungen eines Unternehmensdurch Maßnahmen in Entwicklungsländern erbrachtwerden können. Ich finde, dieser Schritt ist richtig. Denndadurch leisten wir einen großen Beitrag zu effizientemKlimaschutz. Es geht um die Frage, durch welche Maß-nahmen man mit möglichst geringem Einsatz möglichstviel für die Umwelt und das Klima tun kann. Das istauch ein Beitrag zur Entwicklungshilfe und zum Exporterneuerbarer Technologien sowie erneuerbarer Energien.Damit kommen wir unserem gemeinsamen Ziel, einweltweites Klimaschutzsystem zu errichten, einenSchritt näher.Ich habe drei Gründe angesprochen, weshalb ichschon jetzt der Überzeugung bin, dass dieser Gesetzent-wurf eine gute Grundlage ist. Nun möchte ich noch ei-nen weiteren Punkt ansprechen, der mir wichtig ist. Ichbin der Meinung, dass wir als Parlament so selbstbe-
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Andreas Jung
wusst und mutig sein sollten, noch einen Schritt weiterzu gehen und uns der Frage der Auktionierung nicht zuverschließen. Es kann nicht richtig sein, dass die großenEnergieversorger einerseits die Profiteure des Emissions-handels sind, weil sie Zertifikate geschenkt bekommen,und dass sie andererseits die potenziellen Kosten denVerbraucherinnen und Verbrauchern und der Industrie inRechnung stellen. Genau das ist in der letzten Emissions-handelsperiode allerdings geschehen. Dem müssen wirso weit wie möglich entgegenwirken. Minister Glos tutdies mit seinen Vorschlägen zur Schaffung von mehrWettbewerb auf dem Energiesektor. Denn nur aufgrunddes fehlenden Wettbewerbs konnte es in Deutschland zurEinpreisung durch die vier großen Energiekonzernekommen.
Im Rahmen unserer Möglichkeiten sollten wir auchim Emissionshandel eine Auktionierung in Betracht zie-hen. Von der Europäischen Union wurde die Möglich-keit geschaffen, bis zu 10 Prozent der Zertifikate zu ver-steigern. Diese Chance sollten wir nutzen und in eineAuktionierung einsteigen. Dies sollte dann in der nächs-ten Emissionshandelsperiode dazu führen – hier stimmeich Herrn Kelber zu –, dass wir die Zertifikate zu100 Prozent versteigern, was wir heute noch nicht dür-fen.Wir könnten also auch durch das Emissionshandels-system einen Beitrag zu mehr Klimaschutz leisten, weildie Zertifikate dadurch einen realen Wert bekommenwürden. Das könnte uns, was die Verwendung der Mittelbetrifft, die Möglichkeit eröffnen, weitere Maßnahmenim Bereich des Klimaschutzes zu finanzieren. Diese Ideesollten wir im Gesetzgebungsverfahren weiter verfolgen.Das ist auch die Meinung meiner Kollegen. Ich schließemich Herrn Kelber an, der vorhin gesagt hat: Kein Ge-setzentwurf verlässt den Bundestag so, wie er einge-bracht worden ist. Meine Meinung jedenfalls ist, dasswir diese Veränderung vornehmen sollten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, indem ichmeinen Wunsch zum Ausdruck gebracht habe, dass dieZertifikate in der nächsten Handelsperiode zu 100 Pro-zent versteigert werden, habe ich schon einen erstenAusblick über die gegenwärtige Handelsperiode hinausgegeben. Diesen Ausblick möchte ich noch etwas aus-weiten. Es gibt immer noch große Bereiche, in denenkein Emissionshandel stattfindet. Einer dieser Bereichemuss in der nächsten Emissionshandelsperiode unbe-dingt integriert werden: der Flugverkehr. Auf diesemSektor ist ein rasanter Anstieg der CO2-Emissionen zuverzeichnen. Wir wissen, dass CO2-Emissionen in dieserHöhe sehr klimaschädlich sind. Außerdem ist eine Un-gleichbehandlung der ökologisch sinnvollen Verkehrs-mittel wie der Bahn und der ökologisch weniger sinnvol-len Verkehrsmittel wie dem Flugzeug festzustellen.Deshalb muss der Flugverkehr ab der nächsten Handels-periode mit einbezogen werden. Das ist der erklärteWille unserer Fraktion und auch der Union in anderenParlamenten. Dieses Ziel verfolgt die EuropäischeUnion jetzt mit ganz konkreten Vorschlägen und Maß-nahmen.
Ich will ein Weiteres und Letztes ansprechen. Wir tra-gen für alles, was wir hier tun, die Verantwortung. Wirhaben aber auch eine Verantwortung, die weit darüberhinausgeht, eine globale Verantwortung. StaatssekretärMüller hat in der Ausschusssitzung in dieser Woche vonder Sitzung des UN-Weltklimarats berichtet. Er hat ge-sagt, das Bemühen, andere Länder, auch Schwellenlän-der, in den Klimaschutzprozess einzubeziehen, würdeunter anderem an der Skepsis dieser Staaten scheitern.Sie fragen sich: Ist das möglicherweise ein Mittel, unsereEntwicklung zu behindern, ist es möglicherweise ein In-strument, das den Status quo zementieren wird – nämlichdass es anderen wirtschaftlich besser geht als uns –, istes ein Mittel, das unser wirtschaftliches Fortkommen,unseren wirtschaftlichen Aufschwung verhindert?Unser Ziel hier muss sein, zu beweisen, dass wir esschaffen, ökologisch ambitionierte Ziele umzusetzen,dabei aber wirtschaftlichen Aufschwung nicht zu gefähr-den, sondern durch neue Technologien gerade auch Ar-beitsplätze zu schaffen und zu sichern. Deshalb bin ichder Auffassung, dass wir das Emissionshandelssystemhier mit guten Regelungen vorleben und dafür werbensollten.In einem nächsten Schritt sollten wir dann dieses euro-päische System für alle, die mitmachen wollen, öffnen –und zwar so bald wie möglich. Es gibt ja Bestrebungenin den US-Bundesstaaten und Überlegungen in anderenStaaten, auch in Schwellenländern, solche Emissions-handelssysteme zu etablieren. Ein Schuh wird erst danndaraus, wirklich Sinn macht es erst dann, wenn wir dienationalen Systeme zu einem weltumspannenden Emis-sionshandelssystem als dem wichtigsten Instrument desKiotoprotokolls zusammenführen. Ich denke, dafür soll-ten wir uns einsetzen und darauf sollten wir uns im Rin-gen um die Sache konzentrieren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerEmissionshandel wurde von Ihnen hier im Hause stetsals marktgerechtes Instrument gepriesen, die Klima-schutzziele preiswert und zielgenau zu erreichen. Ichdenke, wir wurden eines Besseren belehrt. Er ist als um-weltpolitisches Instrument bislang gescheitert.Die Lage wird immer absurder, je genauer die Daten-lage. Einschließlich dessen, was sich der Staat über denKfW-Mechanismus an zusätzlichen Zuteilungen aus derZukunft borgt, gibt die Bundesregierung in jedem Jahrdieser Handelsperiode Zertifikate über 507 Millionen
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Eva Bulling-SchröterTonnen an die Anlagenbetreiber aus. Ursprünglichwurde angenommen, die Emissionen der Basisperiode2000 bis 2002 hätten im Schnitt rund 501 MillionenTonnen pro Jahr betragen. Schon unter Rot-Grün wurdenalso von vornherein Zertifikate über 5 Millionen Tonnenmehr zugeteilt, als damals überhaupt CO2 ausgestoßenwurde. Heute wissen wir, dass die tatsächlichen Emissio-nen der Basisperiode lediglich bei 474 Millionen Tonnenpro Jahr lagen. Daraus ergibt sich eine Überausstattungin der ersten Handelsperiode von ganzen 7 Prozent. Dasist das Gegenteil von ambitionierter Klimapolitik.
Unter dem Strich ist es kein Wunder, dass die Emis-sionen des Emissionshandelsbereichs der Bundesrepu-blik in 2006 im Vergleich zur Basisperiode um 3 Mil-lionen Tonnen angestiegen sind. So lief das ebeneuropaweit: Die EU-Kommission berichtet von einerÜberausstattung von 118 Millionen Tonnen. Logisch,dass der Preis für das Recht, eine Tonne CO2 auszusto-ßen, nach den Datenveröffentlichungen auf unter einenEuro sank.Ähnlich verhängnisvoll wie das zu niedrige Cap wa-ren die vielen Sonderregelungen im Zuteilungsgesetz.Ich erinnere nur an die Regelung, bereits gebaute Kohle-kraftwerke für 14 Jahre mit der vollen Zuteilung auszu-statten. Dass Rot-Grün nicht ein einziges Zertifikat zurVersteigerung vorgesehen hatte, ist dann nur noch derGipfel des Versagens.
Die leistungslos erzielten Extraprofite in Milliarden-höhe, die sich die Konzerne dadurch in die Tasche ste-cken konnten, haben das Instrument vollständig, aberwirklich vollständig, diskreditiert. Glauben Sie nicht,dass sich daran wesentlich etwas ändert, wenn das Parla-ment nun wenigstens die Versteigerung von 10 Prozentder Zertifikate beschließt, die nach EU-Recht möglichwären! Immerhin 90 Prozent werden ja mindestens bis2012 wiederum verschenkt.
In diesem Zusammenhang wundert es mich schonsehr, dass die Abgeordneten der Linken offensichtlichdie einzigen sind, die so etwas wie eine Windfall-Profit-Tax fordern.
Die Bundesregierung – das wissen wir aus Recherchen –hat noch nicht einmal geprüft, wie diese Extragewinneabzuschöpfen wären. Schade!
– Sie können ja nachher dazu etwas sagen.
Um Hartz-IV-Empfänger zu schröpfen, entwickeln Siemehr Fantasie. Da sind Sie wesentlich schneller. HerrGabriel meint, die Extragewinne würden irgendwieschon dadurch beschnitten, dass die Emissionsgrenzediesmal niedriger liegt als der tatsächliche Ausstoß.
Dazu sind zwei Dinge zu sagen: Erstens. Die1,5 Prozent weniger CO2 jährlich, die Sie dem emissions-handelspflichtigen Sektor abverlangen, stellen sicherlichkeine Revolution dar; zweitens ist es auch nicht logisch,dass die Energieversorger die künftigen Zertifikatspreisevon vielleicht 20 Euro nun nicht mehr als Opportunitäts-kosten auf den Strompreis umlegen werden. Das wider-spricht allen Theorien, die es dazu gerade auch aus kon-servativen Denkstuben gibt. Dieser Mechanismus hatnoch nicht einmal etwas mit der Oligopolstellung vonRWE, Eon und Vattenfall zu tun. Der Selbstbedienungs-laden auf Kosten der Stromkunden kann nur durch eine100-prozentige Versteigerung geschlossen werden. Daswissen Sie auch alle in diesem Haus.
Blicken wir jetzt nach vorn: Wie wir wissen, musstedie Bundesregierung auf Druck der EU-Kommissionihre Pläne für die nächste Handelsperiode zurückziehen.Der neue Plan hat ein deutlich niedrigeres Cap. Das ha-ben wir gefordert; wir begrüßen das. Statt des lächerli-chen halben Prozents werden 2008 bis 2012 insgesamtrund 6,5 Prozent CO2 im Vergleich zur Basisperiode ein-zusparen sein.Auch dass die verhängnisvolle Neuanlagen- undÜbertragungsregel weggefallen ist, begrüßen wir.Schließlich können wir die Signale, die von den Ur-sprungsplänen der Bundesregierung an die Wirtschaftausgesandt wurden, in den Investitionsplänen der Kraft-werksbetreiber betrachten. Über 40 geplante neue Koh-lekraftwerke sind dort zu finden. Das wollen wir ändern.
– Die Pläne liegen vor, Herr Kelber.
– Gut, ich habe es registriert. Ich habe nur wenig Rede-zeit. Sie können später dazu Stellung nehmen. – Wirwollen zum Beispiel, dass Vattenfall von seinem irrsin-nigen Plan ablässt, mitten in Berlin ein 800-Megawatt-Steinkohlekraftwerk zu errichten. Wir wollen einen an-deren Energiemix.
Hier gibt es intelligentere Wege. Schweden und Großbri-tannien haben zum Beispiel einen einheitlichen Bench-mark; auch das wissen Sie. Wir wollen, dass das auchbei uns geändert wird. Auf den 10-Prozent-Zuschlag, derden Betreibern von Braunkohlekraftwerken gewährtwerden soll, wurde schon eingegangen. Auch hier wol-len wir eine Änderung.Zum Schluss noch zwei Anmerkungen zum Regie-rungsentwurf:Erstens können sich nun die Anlagenbetreiber einganzes Jahresbudget zusätzlicher Emissionen aus dem
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Eva Bulling-SchröterAusland kaufen. Das Limit haben Sie deutlich erhöht.Sie wissen um die Problematik CDM bzw. JI. Wir müs-sen darüber noch einmal diskutieren. Das kann auch einegefährliche Sache werden; denn hier kann einiges ausdem Ruder laufen.Zweitens ist im neuen Zuteilungsgesetz kein Mecha-nismus mehr vorgesehen, der Stilllegungsprämien undScheinbetrieb verhindert. Wer nächstes Jahr eine Anlagestilllegt, der erhält noch für fünf Jahre Emissionsrechte,kassiert also gutes Geld.Das heißt, der Entwurf muss überarbeitet werden. Wirwollen so gut wie möglich sein. Insbesondere über dieDreckschleudern in Form von Braunkohlekraftwerken– darauf wurde schon verwiesen – muss diskutiert wer-den. Es gibt auch von Greenpeace eine Studie über die30 größten Dreckschleudern. Bei denen sind auch deut-sche Braunkohlekraftwerke vertreten. Wir sollten sehen,dass diese in den nächsten Publikationen nicht mehr ge-nannt werden. Deutschland sollte hier eine Vorreiterrolleeinnehmen.
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Loske, Frak-tion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alsdie Bundesregierung damals den Entwurf des NationalenAllokationsplans beschlossen und nach Brüssel ge-schickt hat, hatten wir vor allen Dringen drei Kritik-punkte. Erster Punkt: Die Ziele sind zu lasch. ZweiterPunkt: Die Regelungen sind zu kohlefreundlich. DritterPunkt: Von der Möglichkeit, 10 Prozent der Zertifikatezu versteigern, wird kein Gebrauch gemacht werden.Das waren, neben vielen kleinen Punkten, unsere Haupt-kritikpunkte. An dieser Kritik möchte ich nun den heuteeingebrachten Gesetzentwurf messen.Als Erstes kann man sagen: Die Ziele sind verschärftworden. Allerdings muss man auch festhalten: Die Re-gierung musste von Brüssel zum Jagen getragen werden.
Das ist nicht aus eigener Kraft geschehen. Im Gegenteil:Ihr Minister Glos hat der Regierung sogar empfohlen,sie solle dagegen klagen. Von Ihrer Seite hat man das er-wartet. Aber auch der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hatsich öffentlich zu der Äußerung verstiegen, man müsseernsthaft erwägen, gegen die Vorschläge der Europäi-schen Kommission vor den Europäischen Gerichtshof zuziehen. Da kann ich nur sagen: peinlich, peinlich, pein-lich.
– Doch, das hat er gesagt. Lesen Sie die Korrespondenzzwischen den Umweltverbänden und dem Ministerpräsi-denten des Landes Rheinland-Pfalz nach. Dann werdenSie feststellen, dass er das gesagt hat.Schließen wir den ersten Punkt aber ab und stellenwir fest: Die Ziele sind angepasst. Das ist gut so.Zweitens zu der Kritik, die Regelungen seien zu koh-lefreundlich. Gut ist, dass die vorgesehene Regelung, dieKohlekraftwerke für 14 Jahre von jeglicher Minde-rungsverpflichtung zu befreien, wenn sie einmal gebautsind, von Brüssel kassiert worden ist. Auch das habenSie nicht aus eigener Kraft beschlossen, sondern das hatdie Kommission Ihnen vorgeschrieben. Ich will michdeswegen bei der Europäischen Kommission ausdrück-lich für ihre Beharrlichkeit in dieser Sache bedanken.
Jetzt kommen wir zu dem, was Sie stattdessen vor-schlagen, dem Benchmarksystem. Die Kohleprivile-gien bleiben, und zwar auf mehrerlei Weise. Zum einensoll es zwei Benchmarks geben, einen für Gas und einenfür Kohle. Das heißt, durch das Benchmarksystem gebenSie keinerlei Anreiz zum Brennstoffwechsel, weg vonkohlenstoffreichen hin zu kohlenstoffarmen oder koh-lenstofffreien Energieträgern. Das ist vollkommenfalsch.
Im Gegenteil: Es ist sogar so, dass Sie der Kohle, alsoderjenigen fossilen Energieform, die besonders klima-schädlich ist, zweimal so viel Emissionsrechte einräu-men wie dem Erdgas. Was das mit Klimaschutz zu tunhaben soll, ist mir absolut schleierhaft.
Wir fordern deshalb den gleichen Benchmark für alle.Strom ist Strom; deswegen muss der Benchmark gleichsein. Durch das, was Sie jetzt machen, schalten Sie dasPreissignal praktisch aus. Das muss man ganz klar sa-gen.Das ist für sich genommen schon schlimm genug. IhrMinister hat gesagt, er habe es geschafft, sozusagen ge-gen das Begehren des Wirtschaftsministers die geforder-ten Braunkohleprivilegien zu verhindern. Wenn mansich aber den Gesetzestext einmal genau anschaut unddas Kleingedruckte liest, dann wird man feststellen, dassSie Braunkohleprivilegien durch die Hintertür einführen,also faktisch noch einen dritten Benchmark, und zwar inForm der Betriebsstunden, Sonderbehandlungen im Rah-men der sogenannten anteiligen Kürzung usw.; ich willdem Publikum eine Beschreibung der Details ersparen.Das ist noch schlimmer, da Sie auf diese Weise der kli-maschädlichsten Form, nämlich der Braunkohle, sogareinen Zuschlag geben. Wie das mit Klimaschutz zusam-menpassen soll, verstehen wir nicht.
Jetzt hören wir sogar von einigen SPD-Abgeordneten– diese sind relativ zurückhaltend –, aber vor allen Din-
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Dr. Reinhard Loskegen von Unionsabgeordneten wie zum Beispiel demKollegen Vaatz, der hier in der ersten Reihe sitzt, odervon der Kollegin Reiche aus Brandenburg, das wolleman so nicht akzeptieren, man wolle für die Braunkohlenoch ein bisschen mehr herausholen. Das ist mir wirk-lich vollkommen schleierhaft. Wir machen hier einenKlimaschutzplan und nicht einen Förderplan zum Neu-bau von Braunkohlekraftwerken. Das müssen Sie end-lich begreifen; das halte ich für sehr wichtig.
Laut Liste der Bundesnetzagentur sind über 40 neueKraftwerke geplant, für Braunkohle, Steinkohle undErdgas. Ein kleines Gedankenexperiment: Wenn dieseKraftwerke alle gebaut würden, dann hätten wir alleindurch diesen Kraftwerkspark im Jahr 2050 einen CO2-Ausstoß von 170 Millionen Tonnen. Wir haben uns abervorgenommen – im Wesentlichen alle gemeinsam –, denCO2-Ausstoß bis zum Jahr 2050 von der 1 MilliardeTonnen, die wir 1990 hatten, auf 200 Millionen Tonnenzu senken. Das heißt: Fast 90 Prozent des gesamtenEmissionsvolumens, das im Jahre 2050 noch verfügbarwäre, würde durch Kraftwerke absorbiert. Auf den Be-reich Verkehr, Haushalte und Dienstleistungen würdeder kleine Rest entfallen. Das ist doch absolut unver-ständlich. Das müssen Sie selber einsehen.
Herr Kelber, bei Ihnen finde ich eines ein bisschenproblematisch: Mit einem Augenzwinkern geben Sie zu,dass es diese Kraftwerksplanung bei der Bundesnetz-agentur gibt. Aber Sie fügen hinzu, dass diese Kraft-werke sowieso nicht gebaut werden.
Ich halte mich an das, was vorliegt. Ich weiß, was aufder RWE-Aktionärsversammlung besprochen wordenist. Diese Investmentpläne liegen tatsächlich vor; es han-delt sich nicht um Fiktion.
Sie müssen sich schon entscheiden, Herr Kelber. Aufder einen Seite treten Sie für den Klimaschutz ein, undauf der anderen Seite machen Sie bei der Kohle die Tü-ren ganz weit auf. Das passt nicht zusammen.
Ich möchte noch auf folgende Ungereimtheit einge-hen; leider haben wir heute nicht die Zeit, darüber aus-führlich zu diskutieren. Es geht um CO2-freie Kohle-kraftwerke und die CCS-Technologie. Viele glauben,diese Technologie sei vielversprechend. Ich gebe zu,dass ich da skeptisch bin; denn ich glaube, dass wir bes-sere Technologien haben. Wenn aber diese Technologieangeblich so vielversprechend ist, dann sollten keineneuen Kohlekraftwerke ohne diese Technologie gebautwerden. Das halten wir für einen vernünftigen Vor-schlag.
Man kann aber nicht so vorgehen, dass man erst ein-mal die neuen Kohlekraftwerke baut und sie dann späternachrüstet, einmal ganz abgesehen davon, dass das sehrteuer und volkswirtschaftlich die schlechteste Lösungwäre. Ich möchte den sehen, der dann sagt: Wir schaltendiese Kraftwerke ab. Die Konzerne müssen wissen, dasswir mit dem Klimaschutz ernst machen und dass sierichtig viel Geld in den Sand setzen, wenn sie in Kohle-kraftwerke massiv investieren. Das kann nicht in derenInteresse liegen.
Ich komme zum letzten Punkt. Alle sind einvernehm-lich dafür, 10 Prozent der Zertifikate zu versteigern. Dasist sehr gut; wir sind hundertprozentig dafür. Sie, lieberKollege Kauch, haben in Richtung SPD gesagt, sie wolledas Geld für die Finanzierung vielerlei Dinge ausgeben.Aber Ihr Vorschlag, die Einnahmen aus der Versteige-rung von 10 Prozent der Zertifikate für die Senkung derStromsteuer für die Industrie aufzuwenden, bringt über-haupt nichts. Es wäre zum einen eine sehr geringe Sen-kung, und zum anderen ist die Industrie bei der Öko-steuer schon massiv entlastet worden. Sie braucht nichtnoch zusätzliches Geld aus dieser Versteigerung. Das isteinfach nicht notwendig.
Wofür wir aber sehr viel Geld brauchen, ist die Inves-tition in Energieeinsparung und Stromeinsparung. Icherinnere mich noch sehr gut, wie Minister Gabriel michin der Vergangenheit durch den Kakao gezogen hat. Ersagte, die Grünen wollten nur zusätzliches Geld eintrei-ben. Ich sehe mit einer gewissen Freude, dass er das jetztselber vorschlägt. Dazu kann ich nur sagen: Gut so!Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Ers-tens. Wir müssen klare Ziele haben: bis zum Jahr 2020minus 40 Prozent. Zweitens. Wir wollen, dass die Koh-leprivilegien verschwinden und werden entsprechendeVorschläge machen. Drittens. Lassen Sie uns gemeinsamdie Versteigerung von 10 Prozent der Zertifikate durch-führen, damit wir 2013 Richtung 100 Prozent gehenkönnen.Danke schön.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich demKollegen Arnold Vaatz.
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Herr Kollege Loske, ich möchte mich kurz zu Ihrer
Bemerkung äußern, wonach ich bestrebt sei, für die
Braunkohle noch etwas mehr herauszuholen.
Die CO2-Einsparungen, die es zwischen 1990 und
heute gab, entfielen zu etwa 80 bis 90 Prozent auf Ost-
deutschland.
Die Zahl der ehemals 135 000 Beschäftigten im Bereich
der Braunkohle und der Energieversorgung wurde inner-
halb von fünf Jahren um rund 90 Prozent reduziert. Das
ist die Realität. Es gibt in diesem Bereich jetzt noch
15 000 Beschäftigte.
Gegenüber diesem Personalabbau hält, was die Ge-
schwindigkeit angeht, der Personalabbau in den Stein-
kohleregionen Westdeutschlands keinem Vergleich
stand. Ich weigere mich daher, zuzustimmen, dass die
letzten Braunkohleregionen in Ostdeutschland – der
Großraum Leipzig und die Oberlausitz –, die teilweise
mit nagelneuen Kraftwerken ausgerüstet sind bzw. mit
Kraftwerken, die Mitte der 90er-Jahre mit enormen Mit-
teln durch Rauchgasentschwefelungsanlagen nachgerüs-
tet worden sind, mittelfristig keine Perspektive mehr ha-
ben sollen.
Allein darum geht es mir.
Weiterhin halte ich Ihre Vorstellung, man könne aus
der CO2-erzeugenden Energieherstellung ganz und gar
aussteigen, für Demagogie. Ich halte diese Auffassung
für nicht ehrlich, weil Sie die Hauptschrittmacher beim
Ausstieg aus der Kernenergie waren.
Vielen Dank.
Bitte, Kollege Loske.
Danke, Herr Präsident. – Meine Erwiderung bezieht
sich auf zwei Punkte. Es ist richtig, dass der Erfolg bei
der deutschen CO2-Minderungspolitik im Wesentlichen
auf CO2-Einsparungen in den neuen Bundesländern
zurückzuführen ist, und zwar vor allem aufgrund der
Modernisierung der Gebäude und des Zusammenbruchs
der Industrie.
– Moment, jetzt bin ich an der Reihe.
Im Jahre 1990 wurden – das weiß ich zufällig, weil
ich diese Zahlen schon einmal herausgesucht habe – in
den neuen Bundesländern ungefähr 300 Millionen Ton-
nen Rohbraunkohle gefördert. Sie wurden zu einem
Drittel in den Kraftwerken und zu zwei Dritteln für den
Hausbrand eingesetzt. Der Löwenanteil der Reduktion
der CO2-Emissionen ist durch die Substitution des Haus-
brandes in Form von Braunkohle durch andere Energie-
träger, nämlich Öl und Gas, erreicht worden. Das heißt,
da ist am meisten eingespart worden. Die zweitgrößte
Menge ist durch den Kollaps der Industrie zusammenge-
kommen und die drittgrößte Menge durch die Erneue-
rung des Kraftwerkparks. – Das sind die Zahlen. Da soll-
ten Sie schon sauber bleiben.
Ich erkenne ausdrücklich an, dass im Osten eine
Menge gemacht worden ist. Wir alle in diesem Haus wa-
ren daran beteiligt; denn wir haben die Mittel bewilligt.
Aber diese Einsparungen sind nicht auf die Sonderleis-
tungen der Elektrizitätswirtschaft zurückzuführen. Das
muss man als Erstes festhalten.
Mein zweiter Punkt betrifft die Braunkohle. Wir
müssen den Realitäten ins Auge schauen. Wenn wir den
Klimaschutz ernst nehmen, dann müssen wir festhalten,
dass die Braunkohle der CO2-intensivste Energieträger
ist; das wissen auch Sie. Pro erzeugte Kilowattstunde
stößt Gas 365, Steinkohle 750 und Braunkohle ungefähr
950 Gramm CO2 aus.
Letzteres ist praktisch zweieinhalbmal so viel wie beim
Erdgas. Sollen wir da die Braunkohle privilegieren? Es
geht hier darum, ob sie privilegiert werden soll oder
nicht. Wir sagen, es soll eine Gleichbehandlung geben.
Lieber Herr Vaatz, wenn ich für eines nicht bekannt
bin, dann dafür, dass ich Demagogie betreiben würde.
Ich argumentiere Ihnen gegenüber gern und akzeptiere
Ihre Argumente. Aber wenn ich mir vorstelle, dass wir
bis Mitte des Jahrhunderts eine CO2-freie Energiewirt-
schaft hinbekommen können, dann hat das nichts mit
Demagogie zu tun, sondern mit der Überzeugung, dass
das möglich ist. Ich lege allergrößten Wert darauf, dass
das mit Demagogie wirklich nichts zu tun hat.
Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Marco Bülow, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Damen und Herren! In der letz-ten Woche gab es eine sehr gute Nachricht vom Welt-klimarat, der uns bestätigt hat: Wir können den Klima-wandel begrenzen. Die zweite gute Nachricht ist: Wirkönnen dies mit den heutigen Technologien und zu ak-zeptablen Kosten tun, aber natürlich nur dann – auchdieses Aber steht in dem entsprechenden Bericht; diesmuss man auf jeden Fall hinzufügen –, wenn wir uns än-
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Marco Bülowdern, wenn wir ambitionierter vorgehen und unsere In-strumente geschärft werden und wirksamer sind.
Der Emissionshandel, so wie er bisher funktioniert,trägt nicht dazu bei – so ehrlich und selbstkritisch mussman sein –, dass wir unsere Klimaschutzziele erreichen.Er wird auch nicht dazu beitragen, den Klimawandel zubegrenzen. Deswegen ist das, was wir jetzt vorgelegt ha-ben, deutlich ambitionierter. Ich glaube, wir sind aufdem richtigen Weg, wenn wir unsere Ziele ernst nehmen.Herr Kauch, Sie haben es als scheinheilig bezeichnet,dass die SPD Fehler in Bezug auf den Emissionshandelin der vergangen Zuteilungsperiode zugegeben hat. Ichnenne das einen Lernprozess; Sie bezeichnen es alsScheinheiligkeit. Es wäre eher fair, zu sagen, dass wirdazulernen und uns verbessern.Aber nun zur FDP. Ich kann mich nicht daran erin-nern, dass die FDP in Nordrhein-Westfalen – aus die-sem schönen Land stammen ja auch Sie – große Plänehat, den Kohleeinsatz zu begrenzen bzw. zu beenden.Dazu kenne ich keinen Antrag der FDP, nur dazu, wasdie heimische Steinkohle angeht. Ich freue mich schondarauf – Sie sind ja Chef der Dortmunder FDP –, dassdie Dortmunder FDP demnächst im Landtag Nordrhein-Westfalen einen Antrag einbringt, in dem sie fordert, denKohleeinsatz zu begrenzen, um dem Klimawandel zubegegnen.
Das noch einmal zur Scheinheiligkeit.Wir müssen zusehen, dass wir die ambitioniertenPläne, die wir vorgelegt haben, auch wirklich durchzie-hen und nichts mehr verwässert wird und auch nichtshinzukommt. Es gibt Sonderregelungen – viele sind an-gesprochen worden –, bei denen auch ich der Meinungbin, dass sie nicht unbedingt notwendig sind. Ich glaubejedoch, dass sich das Gesamtwerk sehen lassen kann.Aber das ist das Ende der Fahnenstange; das muss mansagen. Ansonsten werden wir die Ziele, die wir uns ge-steckt haben, nicht erreichen.Zur Versteigerung ist schon vieles gesagt worden.Ich will nur noch eines ergänzen: Ich glaube, dass esrichtig ist, jetzt eine Versteigerung auf kleinem Niveau,also 10 Prozent, einzuführen, um Erkenntnisse für dienächste Handelsperiode – für diese zeichnet sich schoneine Einigkeit ab, 100 Prozent zu versteigern – zu sam-meln, um zu üben und um Kinderkrankheiten auszuräu-men. Dann können wir bei der nächsten Versteigerungzielgenau sein. Auch deswegen ist es wichtig, jetzt damitzu beginnen und ein Signal an die Europäer zu geben,dass dies möglichst überall passiert.Bei allem Ehrgeiz und allen Ambitionen, die wir ha-ben, muss man, weil es leider immer wieder konterka-riert wird, immer wieder betonen, dass das Klima alleinedurch den Emissionshandel nicht gerettet werden kann.Wir brauchen eine weitere Förderung der erneuerbarenEnergien.
Wir brauchen eine deutliche Steigerung der Energieeffi-zienz. Wir müssen darauf achten, dass die vorhandenenWälder nicht weiter abgeholzt werden, sondern dass eseinen verträglichen, nachhaltigen Umgang mit diesenWäldern gibt. Ansonsten werden wir unsere Ziele nichterreichen. Man sollte diese Instrumente nicht gegenei-nander aufrechnen. Wir brauchen alle Instrumente, umdie Klimaschutzziele zu erreichen.
Sowohl die Politik und die Verbraucher als auch dieWirtschaft müssen mithelfen, dies zu erreichen.Ich glaube, dass schon eine Menge geschafft wurde.Herr Kelber hat recht, wenn er sagt, dass wir jetzt einenWettbewerb der Instrumente gestalten müssen. Ichmöchte auf nur einen Punkt eingehen. Ich bin froh, dasses in der Union immer mehr Kolleginnen und Kollegengibt, die den Klimaschutz ernst nehmen und voranbrin-gen wollen. Ich bitte diese Kolleginnen und Kollegen inder Union noch einmal eindringlich, auf das Wirtschafts-ministerium zuzugehen. Denn zu den Vorschlägen, wiedas Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz geändert werden soll– die habe ich gestern gehört –, kann ich nur sagen: Dasist eine Lachnummer. Dann ändert sich leider nichts.Kraft-Wärme-Kopplung ist die beste und wichtigsteEffizienztechnologie, die wir haben. Wir werden siebrauchen, um unsere gemeinsamen Ziele zu erreichen.Deswegen appelliere ich noch einmal: Sprechen Sie mitIhrem Ministerium, damit sich dort etwas tut.
Ich glaube, dann kommen wir einen großen Schritt wei-ter. Dann wird auch die Opposition anerkennen, dass wirunsere Ziele ernst meinen und die Instrumente besitzen,um sie zu erreichen.Ich möchte noch einmal auf unsere Verantwortungeingehen. Denn ab und zu wird gefragt, ob wir überhaupteine Verantwortung haben, wie wir sie wahrnehmenkönnen und warum wir überhaupt noch etwas tun sollen,wenn die Schwellenländer aufholen. Ich möchte nocheinmal deutlich machen: In Deutschland haben wir un-gefähr einen Pro-Kopf-Ausstoß in Höhe von über10 Tonnen CO2; manche gehen sogar schon von12 Tonnen pro Kopf aus. In Afrika liegt der CO2-Aus-stoß bei ungefähr 0,5 Tonnen pro Kopf pro Jahr.Deutschland – Herr Kelber hat die Zahl schon einmal ge-nannt – stößt mehr CO2 aus als alle Afrikaner zusam-men. Da soll mir noch einer sagen, wir hätten keine be-sondere Verantwortung.Die Afrikaner sagen natürlich zu recht: Wir wolleneuren Standard. Keiner von uns kann guten Gewissens
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Marco Bülowsagen, dass sie ihn nicht haben dürfen. Das Einzige, waswir machen können, ist, mit gutem Beispiel voranzuge-hen, damit wir ihnen sagen können, dass es bei ihnen garnicht so weit kommen darf. Ich meine jetzt natürlichnicht nur Afrika, sondern auch China und alle anderenLänder, gerade diejenigen mit hohen Wachstumsraten.Aber um dies zu verhindern, müssen wir Vorbild seinund ihnen neue Technologien anbieten.
Ich möchte noch einmal erläutern, wie dramatisch dieSituation gerade in Afrika ist. Gerade die Afrikanerwerden nämlich die Leidtragenden sein. Hinsichtlich un-seres 2-Grad-Zieles hat man manchmal das Gefühl, dasseine Erwärmung um 2 Grad nicht viel ausmacht. Dasstimmt aber nicht. Schon das wird dramatische Verände-rungen mit sich bringen. Das betrifft nicht nur den Kili-mandscharo, auf dem dann kein Eis mehr sein wird. Daswäre vom Aussehen des Berges her vielleicht noch zuertragen, aber das Eis und das Schmelzwasser werdenden Menschen in der Gegend, die davon leben, fehlen.Aber es geht noch weiter: Die Menschen in Afrikawerden große Ernährungsprobleme bekommen. Im letz-ten Klimabericht wird noch einmal deutlich gemacht,dass eine Erwärmung um 2 Grad dazu führen kann, dassdie landwirtschaftliche Produktion um 50 Prozent zu-rückgehen und die Ernährungsproblematik in Afrika zu-nehmen wird. Das ist eine große Herausforderung. Des-halb haben wir als Europäer und auch als Deutsche dieVerantwortung voranzugehen. Deswegen ist der Emis-sionshandel dringend notwendig und als wichtiges undscharfes Instrument unabdingbar für den Klimaschutz.Als Letztes lassen Sie mich auf etwas eingehen, überdas ich mich in dieser Woche sehr geärgert habe. Ichmeine den unsäglichen „Spiegel“-Bericht, in dem ver-sucht wird, die letzten Menschen, die den Klimawandelnoch anzweifeln, hervorzuholen. Da erdreistet sich einBiologe, zu sagen: „Je wärmer ein Lebensraum ist, destoartenreicher ist er“, und der Spiegel greift das auch nochauf. Komisch ist nur, dass dieser Biologe es versäumthat, zu erwähnen, dass die Sahara um ein Vielfaches hei-ßer als die Regenwälder ist. Komisch, dass es dort vielweniger Arten gibt. Nein, der Artenreichtum hat zwarauch mit der Temperatur zu tun, er hat aber vor allenDingen mit Niederschlag zu tun. Und der Niederschlagwird im Zuge des Klimawandels zurückgehen, gerade inRegionen wie dem Regenwald. Deswegen möchte ichdiese Verballhornung in den Medien nicht mehr hörenund lesen. Die Medien haben ebenso wie wir Politikereine Verantwortung dafür, die Wahrheit zu sagen undnicht alles kleinzureden.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Georg Nüßlein, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Esist in der Tat so, dass wir uns in den vergangenen Wo-chen und Monaten auf die Ziele geeinigt haben, undzwar nicht nur auf nationaler, sondern auch – das halteich für besonders wichtig – auf europäischer Ebene.Herr Kelber, wir begeben uns gerne in einen Wett-streit um die besten Instrumente, weil wir wissen, dassden Worten nun auch Taten folgen müssen. In vielen Be-reichen befinden wir uns, wie ich meine, auf einem sehrguten Weg. Der Kollege Jung hat es bereits skizziert.Das gilt im Übrigen auch für das lange umstritteneThema Wärmegesetz. Ich persönlich freue mich sehrdarüber.
– Das ist nicht der Platz, um Termine auszumachen, HerrKollege.
Herr Kelber, da Sie die Diskussion so offensiv eröff-net haben, kann ich mir eine Bemerkung leider nicht ver-kneifen: Wenn Sie so ideologiefrei mit uns über dasThema Kernenergie reden würden, wie man bei uns inder Mehrheit mittlerweile über das Thema erneuerbareEnergien diskutiert,
dann würden wir in Sachen Klimaschutz einen ganz ent-scheidenden Schritt vorankommen und könnten im Er-gebnis sehr viel mehr bewegen.
Ich möchte an dieser Stelle keine Kernenergiedebatteführen, sondern mit Ihnen über den europäischen Emis-sionshandel reden. Ich meine, dass das ein sehr wichti-ges Instrument ist, weil es im Unterschied zu dem, washeute schon mehrfach angesprochen worden ist, das ein-zige internationale Instrument ist. Wir brauchen ein sol-ches internationales Instrument aus folgendem Grund:Deutschland hat im Jahr 2004 848,6 Millionen TonnenCO2 emittiert. Von 2003 bis 2004 sind die Emissionen inChina um 1 Milliarde Tonnen gewachsen. Der Anstiegwar also höher als die gesamten Emissionen in Deutsch-land.
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Dr. Georg Nüßlein– Ja. – Deshalb ist dieses Problem nicht auf nationalerEbene zu lösen, im Übrigen auch nicht auf europäischerEbene. Der Anteil Europas an den Gesamtemissionenaus fossilen Brennstoffen beträgt nämlich nur15,2 Prozent.Die Frage wird sein, wie wir die Schwellenländer mitins Boot bekommen. Das geht meiner festen Überzeu-gung nach nur, wenn wir zeigen können, dass Wohlstandund Wachstum vorangebracht werden können undgleichzeitig Klimaschutz möglich ist.
Deshalb sind die Erwägungen und Abwägungen derUnion in diesem Zusammenhang richtig. Wir müssenzeigen, dass Ökonomie und Ökologie in Zukunft keineGegensätze mehr sein werden, dass wir die Dinge zuei-nander bringen. Auf diese Art und Weise können wir an-dere Länder auf unsere Seite ziehen.
Wir werden damit aber nur Erfolg haben, wennWachstum möglich ist und der Emissionshandel sinnvollgestaltet wird. Weil der Emissionshandel ein komplexesInstrument ist, ist das gar nicht so einfach. Eine zentraleVoraussetzung dafür ist, dass wir das Energieoligopol indiesem Land aufbrechen, an dieser Stelle Wettbewerbschaffen. Sonst wird weiter eingepreist.
Deshalb sind die Bemühungen von Michel Glos so ent-scheidend.Lassen Sie mich etwas zu einem Thema sagen, daswir in diesem Gesetz noch nicht wiederfinden: zu denAuktionen. Ich meine, die kostenlose Zuteilung derEmissionsrechte war ein Sündenfall: Wir implementie-ren ein marktorientiertes System, sind aber nicht willens,uns in Richtung Auktion zu bewegen. Das ist system-widrig.
Wir müssen dem Beispiel anderer Länder folgen – wirstehen da nicht an der Spitze der Bewegung –: In Ungarnund Irland gibt es bereits Auktionen, in Litauen und Dä-nemark hat man sich immerhin bereit erklärt, solchedurchzuführen. Ich sage, gerichtet an die Kolleginnenund Kollegen, die an dieser Stelle noch skeptisch sind,die fürchten, dass bei uns die Preise steigen: Die Interna-lisierung externer Kosten bewirkt natürlich einen Preis-druck; aber unsere großen Vier haben bereits eingepreist.Deshalb finde ich es provokant, wenn die jetzt drohen,diese Opportunitätskosten ein zweites Mal einzupreisen.Wenn dem so wäre, dann wäre es vollkommen wurscht,ob wir auktionieren oder nicht:
Die werden die Preise erhöhen, solange das geht. Aufdiese Herrschaften sollte man deshalb nicht hören.
Einige sagen, eine Auktionierung könnte wieder dieFalschen treffen. Doch erstens berücksichtigen wir dieKlein-Emittenten bei der Zuteilung schon jetzt: Ihnenwird ohne Minderung zugeteilt. Das heißt, man kann sieohne Probleme außen vor halten. Zweitens können wirdarüber diskutieren, wie man die KWK bei der Auktio-nierung berücksichtigt, Herr Bülow. Deshalb macht esdurchaus Sinn, wie wir das tun wollen, die ganzen Maß-nahmen integriert zu sehen. Drittens möchten wir allestun, um Dezentralität und erneuerbare Energien zu för-dern. Deshalb sollte man insbesondere den Mittelstandund die Stadtwerke in diese Richtung bewegen.Nun gibt es eine Diskussion über die Verwendung derErlöse. – Es ist bei uns üblich, dass das Fell des Bärenverteilt wird, bevor er erlegt ist. – Dazu möchte ich nursagen: Wenn man optimistisch ist und bei einer Verstei-gerung von 10 Prozent der Emissionsrechte von einemErlös von 600 Millionen Euro ausgeht, dann kommt man– wir haben einen Verbrauch von 547 Milliarden Kilo-wattstunden im Jahr – auf einen tausendstel Euro pro Ki-lowattstunde, den manche von uns an die Verbraucherin-nen und Verbraucher zurückgeben wollen. Für denDreipersonenmusterhaushalt, der 3 500 Kilowattstundenim Jahr verbraucht, sind das 3,50 Euro pro Jahr. Ich sagedas in dieser Deutlichkeit, um zu zeigen, wie scheinhei-lig diese Forderungen sind.
Die Stromsteuer und die Mehrwertsteuer machen dage-gen 15,45 Euro aus; wenn man die Konzessionsabgabehinzunimmt, kommt man auf 20,70 Euro. Wer für denStandort Deutschland etwas tun will, muss an dieserStelle ansetzen und nicht immer bei den erneuerbarenEnergien, bei KWK oder beim Emissionshandel.
Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wieman dieses Geld so verwendet, dass man damit unser ge-meinsames Ziel, den Klimaschutz, fördert und dem Ver-braucher vielleicht durch Energieeffizienz etwas zurück-gibt. Wir haben in den nächsten Wochen noch Zeit, dieseDiskussion miteinander zu führen.
Wir sollten nicht so tun, als ob die eine Seite wolle unddie andere Seite nicht – sonst kommt die Replik beimThema Kernkraftwerke.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das warendoch ermutigende Worte am Schluss. Insofern war esvielleicht nicht ganz verkehrt, dass einige Kollegen derSPD-Fraktion neben vielen Zeichen der Gemeinsamkeiteinmal deutlich gemacht haben, dass wir, was das Errei-chen der Ziele durch entsprechende Instrumente angeht,ein bisschen ungeduldiger als manche beim Koalitions-partner sind.Ich habe zumindest in dieser Debatte über das Zutei-lungsgesetz im Emissionshandel sozusagen das letzteWort – endlich einmal.Wir haben in den letzten Jahren viele Instrumente ge-schaffen – schon unter Rot-Grün, aber auch in der Gro-ßen Koalition –, um Klimaeffekte zu erzielen und insbe-sondere CO2 einzusparen. Einige haben großen Erfolg,wie das EEG. Mit dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzhatten wir immerhin Teilerfolge. Daneben sind auch ver-schiedene Marktanreizprogramme – zuletzt das Gebäu-desanierungsprogramm – und die Entscheidungen zuden Biokraftstoffen zu nennen.Das Instrument, das bisher nicht so erfolgreich war– auch das ist deutlich geworden –, ist der Emissions-handel. Nun lassen wir die Kirche aber im Dorf: Dasdarf eigentlich auch niemanden wirklich wundern. Wirhaben damit etwas völlig Neues angepackt.In der ersten Handelsperiode haben wir, bezogen aufGesamteuropa, sehr bewusst gesagt, dass wir kostenloszuteilen müssen, weil man ansonsten ein solch neues In-strument überhaupt nicht durchsetzen kann. Es war auchklar, dass dies sozusagen eine Übungs- und Lernphasesein würde.Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir mit der zweitenHandelsperiode sehr viel erfolgreicher sein werden. Da-bei ist mir ehrlich gesagt ziemlich gleichgültig, wermehr dazu beigetragen hat, dass wir jetzt einen sehr am-bitionierten Cap von 453 Millionen Tonnen haben. Esgibt erhebliche Vereinfachungen und weniger Ausnah-meregelungen in diesem neuen System. Daneben wurdein der Tat eine Umstellung von Übertragungsregelungenauf ein Benchmarksystem vorgenommen; das ist ange-sprochen worden.Man muss sagen, dass sich die Kritik der Europäi-schen Union nicht darauf bezog, dass durch diese Über-tragungsregelungen etwa ein Energieträger bevorzugtwird. Das war überhaupt nicht der Kritikpunkt. Die Kri-tik lautete, dass hier Regelungen getroffen wurden, de-ren Bindungswirkung viele Jahre über eine Handels-periode des Emissionshandels hinausreicht. Deswegenmussten hier Veränderungen vorgenommen werden.Ich stehe ausdrücklich dazu und habe auch Sympa-thien für das, was der Herr Kollege Vaatz hier vorgetra-gen hat,
dass wir nämlich immer mehreren Zielen verpflichtetsind. Ein wichtiges Ziel ist der Klimaschutz bzw. die Re-duzierung von CO2-Emissionen. Wir müssen aber auchandere Ziele im Auge behalten. Wir wollen mit demEmissionshandel kein Deindustrialisierungsprogramm inDeutschland,
und wir wollen in Deutschland auch keinen Vollausstiegaus der Nutzung von fossilen Energieträgern.Das hat einen ganz simplen Grund, der nicht alleinDeutschland betrifft; vielmehr ist er global. Wir inDeutschland müssen zum globalen Klimaschutz einenanderen Beitrag leisten als zum Beispiel Frankreich.Deswegen müssen wir beweisen, dass man auch in In-dustrieländern Klimaschutz so betreiben kann, dass dasGanze ökonomisch interessant ist. Ich glaube, mit dem,was wir auf den Tisch gelegt haben, gelingt uns das.Wir werden nachweisen, dass wir in den nächstenJahren ganz alte „Mühlen“ vom Netz nehmen können.Wir werden ja keine neuen bauen, um die alten am Netzzu lassen, sondern mit dem von uns vorgelegten Systemwird es uns gelingen, neue Braunkohle-, Steinkohle- undGaskraftwerke zu installieren und gleichzeitig alte vomNetz zu nehmen, wodurch unsere Klimabilanz verbes-sert wird. Deswegen ist das, was hier auf den Tisch ge-legt worden ist, ein guter Weg.Damit werden wir auch die Chinesen und Inder moti-vieren, bei diesem System des Emissionshandels mitzu-machen – das ist doch unser eigentliches Ziel –, undauch dafür sorgen, dass sie, wenn sie fossile Energieträ-ger verstromen, dies mit der neuesten und effizientestenTechnik tun.
Unser Ziel ist natürlich, dass diese Technik so baldwie möglich CO2-frei sein wird. Wir wissen nicht hun-dertprozentig, wie schnell wir das erreichen werden.
Es gibt da noch einige technische und rechtliche Restrik-tionen. Daneben müssen wir sicherlich auch das Pro-blem der Lagerung gemeinsam lösen. Eines ist klar: Wirmüssen diese Option ernsthaft verfolgen, gleichzeitigdürfen wir aber andere Pfade nicht aus den Augen verlie-ren.KWK ist hier genannt worden. Gerade deswegen istes so wichtig, dass wir sehr bald zusammenkommen undnoch einmal prüfen, ob wir innerhalb des Emissionshan-dels alles ausreizen. Außerhalb des Emissionshandelsmüssen wir mit einem vernünftigen Kraft-Wärme-Kopp-lungsgesetz versuchen, das für die Kraft-Wärme-Kopp-lung zu tun, was möglich ist.
Wenn wir diesen Weg gehen, dann ist viel gewonnen.Dann schaffen wir in ökonomischer und ökologischerHinsicht ein Modell, das auch exportfähig ist. Nichts an-deres wird von Deutschland erwartet.Vielen Dank.
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Rolf Hempelmann
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/5240 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union
– zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Hans-Michael Goldmann, Michael
Link , weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Europäische Transparenzinitiative aktiv un-
terstützen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Rainder Steenblock, Matthias
Berninger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderung der EU nach Transparenz bei
Subventionen im Agrarbereich vollständig
umsetzen und die Neuausrichtung der För-
derung vorbereiten
– Drucksachen 16/2203, 16/2518, 16/5287 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth
Markus Löning
Dr. Diether Dehm
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union zu dem
Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger,
Ulrike Höfken, Rainder Steenblock, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Forderung der EU nach Transparenz bei Sub-
ventionen für die Wirtschaft vollständig um-
setzen und die Neuausrichtung der Förderung
vorbereiten
– Drucksachen 16/2517, 16/5288 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth
Markus Löning
Dr. Diether Dehm
Ulrike Höfken
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan
Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Agrarbeihilfeempfänger offenlegen
– Drucksachen 16/1962, 16/3039 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Dr. Sascha Raabe
Hellmut Königshaus
Hüseyin-Kenan Aydin
Ute Koczy
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.
Guten Tag, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Denjenigen, die jetzt den Raum verlassen,wünsche ich ein wunderbares Wochenende. Bei denjeni-gen, die hierbleiben, bedanke ich mich ganz besonders.Es gibt sicherlich viel anderes zu tun, aber die Transpa-renzinitiative der Europäischen Union hat es durchausverdient, dass wir uns noch 30 Minuten im Plenarsaalaufhalten; denn wir haben eine ganze Menge erreicht.
– Einige Kolleginnen und Kollegen müssen aus gutem,nachvollziehbarem Grunde nachsitzen. Aber sehen Siees den Europapolitikerinnen und -politikern und denLandwirtschaftspolitikern unter uns nach, wenn wir unsnach diesem Tagesordnungspunkt von dannen machen,weil es im Wahlkreis noch einiges zu erledigen gibt.Wir haben als Parlament in den vergangenen Wochenund Monaten für die Bürgerinnen und Bürger und dieEuropäische Union eine ganze Menge erreicht; dennTransparenz schafft Vertrauen. Auf Vertrauen sind wiralle angewiesen, vor allem die Europäische Union. Nie-mand muss sich schämen, wenn er für sinnvolle ProjekteFördermittel der Europäischen Union erhält.
In der vergangenen Woche hatte ich die Gelegenheit,mit unserem Staatsminister für Europa meinen Wahl-kreis zu besuchen. Wir haben sogenannte Mikroprojektebesichtigt. Dabei handelt es sich um kleine Projekte imUmweltsektor, im Tourismusbereich oder in der Land-wirtschaft, die nicht unbedingt viel Geld kosten, aber mitdenen mit LEADER- und LEADER-plus-Mitteln derEuropäischen Union sehr viel für einen eher struktur-schwachen Raum erreicht wurde. Das kann man denBürgerinnen und Bürgern gegenüber auch durchaus of-fensiv und selbstbewusst vertreten.
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Michael Roth
Transparenz schafft auch den notwendigen Raum fürReformen. Denn wir alle wissen, dass es gerade imAgrarbereich noch viel zu tun gibt. Es kann nicht in un-serem Sinn sein, dass viele Subventionen zu den großen,multinational agierenden Agrokonzernen fließen. Wirsollten darauf achten, dass vor allem die mittelständischgeprägte, familienorientierte Landwirtschaft in Deutsch-land und in den Mitgliedstaaten von der EU-Förderungprofitiert.
Vor diesem Hintergrund war die Debatte um die Trans-parenz sicherlich hilfreich.Es gab Bedenken, vor allem vonseiten der Bundesre-gierung. Es gab im Landwirtschaftsministerium Beden-ken,
aber auch im Wirtschaftsministerium. Ich freue mich,dass unsere Überzeugungsarbeit Früchte trägt. Zwi-schenzeitlich sind wir alle auf einem guten Weg. Ein be-sonderes Dankeschön spreche ich dem Auswärtigen Amtaus, das sich an die Spitze der Bewegung gestellt hat.
Denn auf europäischer Ebene haben wir im Sinne desDeutschen Bundestages die Haushaltsverordnung undStrukturfondsverordnung geändert. Meines Wissenswird auch die Agrarfinanzordnung in unserem Sinne ge-regelt,
sodass es keinen Anlass mehr gibt, Kritik zu üben. Inso-fern verstehe ich nicht, dass die Kolleginnen und Kolle-gen der Opposition an ihren Anträgen festhalten. Dennwir haben das erreicht, was wir von Beginn an wollten.Lassen Sie mich noch einige Erwartungen formulie-ren. Erstens. Wir müssen darauf achten, dass sich dieLänder kooperativ verhalten. Denn ein Großteil vor al-lem der Strukturfondsmittel wird nicht vom Bund, son-dern von den Ländern verwaltet. Wir erwarten, dass dieLänder umgehend und den Vereinbarungen auf EU-Ebene gemäß die entsprechenden Informationen der Öf-fentlichkeit zugänglich machen.Ich bedaure, dass die Agrarfördermittel offensichtlicherst im Jahr 2009 der Öffentlichkeit zugänglich gemachtwerden können. Ich erwarte für meine Fraktion auch ein-heitliche und nutzerfreundliche Standards für die Veröf-fentlichung. Daher unterstütze ich ausdrücklich die Bun-desregierung, die fordert, dass die Informationen bei derEU-Kommission gesammelt werden; denn aus meinerSicht liegt es im Interesse der Bürgerinnen und Bürger,dass es ein Angebot im Internet gibt, bei dem man ent-sprechende Informationen gebündelt erhalten kann.Ich bedaure – das sage ich in aller Offenheit –, dass esneben den vielen Anträgen der Opposition keinen Koali-tionsantrag gibt. Wir haben uns seitens der SPD-Fraktionsehr darum bemüht. Aber die Debatten haben uns gehol-fen, alle unsere Ziele zu erreichen. Deswegen haben wirkein Problem damit, die Anträge der Opposition abzu-lehnen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schö-nes Wochenende.
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn esnicht so kurz vor dem Wochenende wäre! Das ist an Zy-nismus kaum zu überbieten, lieber Kollege Roth, wasSie gerade gesagt haben: Alles ist richtig, was die Oppo-sition fordert. Deswegen müssen wir es ablehnen.
Eines will ich klarstellen: Hier wird die Autorenschaftdes Parlamentes reklamiert und gesagt, wir, das Parla-ment, hätten sehr viel erreicht. Nein, es ist der liberaleVizepräsident Siim Kallas, der etwas erreicht hat, weil erdiese Transparenzinitiative auf den Weg gebracht hat. Esist die FDP gewesen, die dieses Thema auf die Tagesord-nung dieses Hauses gesetzt hat.
Lieber Michael Roth, ihr hättet euch weiter hinter euremKoalitionspartner versteckt. Du hast es nicht ausgespro-chen, aber es war die CSU, die das blockiert hat undweiterhin versucht, es zu blockieren.
Es wurde gesagt, es könne erst 2009 veröffentlichtwerden. Das ist doch eine Lachnummer. Wenn die Ver-waltungen in der Lage sind, Geld auszuzahlen, dann wis-sen sie, wer das Geld bekommt und wie viel der Betref-fende bekommt. Dann zu sagen: „Aus technischenGründen ist es nicht möglich, vor 2009 diese Zahlen unddiese Listen zu veröffentlichen“, ist, mit Verlaub, eineVerarschung der deutschen Öffentlichkeit und des Parla-mentes.
Diese Rede wird mitgeschrieben, abgeschrieben undKorrektur gelesen. Sie steht morgen früh im Netz, ge-nauso wie die anderen Reden, inklusive Video. Da sollmir einer erzählen, es sei nicht möglich, existierende
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Markus LöningListen vor 2009 zu veröffentlichen! Das ist schlichtwegeine Lachnummer. Der Bundesregierung geht es offen-sichtlich darum, eine vernünftige und fundierte Debatteüber das Thema Revision der Finanzen der EU zu ver-hindern, die wir im nächsten Jahr zu führen haben. Dasist der wahre Grund, warum versucht wird, die Veröf-fentlichung zu verschieben.
Ich will sagen, worum es bei dieser Transparenzinitia-tive geht. Gerade wir Liberale setzen uns immer sehr da-für ein, dass Betriebsgeheimnisse und die Privatsphäregeschützt werden. Aber man muss eines sehr klar sehen:In den letzten Jahren hat sich der Anspruch der Bürgeran die Transparenz staatlichen Handelns deutlich verän-dert, genauso wie die Einstellung der Bürger zum Staatund speziell zur EU. Dem müssen wir nachkommen, in-dem wir unser Handeln transparenter gestalten. Zu oftbeklagen wir, dass die Öffentlichkeit zu viel Misstrauengegenüber dem Handeln der EU hat. Diese Initiative willdem Misstrauen dadurch entgegenwirken, dass sie EU-Handeln öffentlich und nachvollziehbar macht. Es gehtnicht nur um die Zahlung von Subventionen, sondernauch darum, nachvollziehbar zu machen, welche Organi-sationen und welche Lobbyorganisationen in Verbin-dung zur Kommission stehen und welchen Einfluss aus-üben. Wir sind der Meinung, dass es außerordentlichunterstützenswert ist, was die Kommission vorgeschla-gen hat. Ich halte es für nicht richtig und für Feigheit derRegierungsfraktionen, dass sie die Anträge der Opposi-tion ablehnen. Das ist Heuchelei. Anders kann man dasnicht nennen.
Gerade angesichts der Agrarzahlungen, die – das wirdoft beklagt – einen Großteil der Zahlungen des EU-Haushaltes ausmachen, ist es für uns als politische Ent-scheider, aber auch für die Öffentlichkeit außerordent-lich wichtig, nachzuvollziehen, wer wie viel Geld be-kommt und in welche Strukturen es fließt. Hier wurdegeäußert, die Mittel flössen nur in großindustrielleStrukturen. Darauf kommt es nicht an. Vielmehr kommtes darauf an, dass wir nachvollziehen können: Wer be-kommt das Geld? Wie hoch sind die Summen? Erhaltendie kleinen landwirtschaftlichen Betriebe die Mittel oderdie mittleren und großen Betriebe? Wie können wir dieMittelvergabe reformieren?Wir können den Bereich der Agrarunterstützung nurdann sinnvoll reformieren, wenn wir wissen, wie dieAusgaben genau strukturiert sind. Deswegen ist es sowichtig, dass die Zahlen veröffentlicht werden, und zwarpronto. Es darf nicht weiter versucht werden, der deut-schen Öffentlichkeit und dem Parlament vorzugaukeln,es gäbe da technische Probleme. Im Übrigen haben dieLandwirtschaftsminister der Länder einen Bericht ange-fordert. Sie sagen, es sei technisch kein Problem, ihn zuerstellen. Woran es fehlt, ist nicht Technik, sondern poli-tischer Wille. Wir erwarten von der Bundesregierungden politischen Willen. Die Zahlen müssen auf denTisch des Hauses.Vielen Dank.
Kollege Löning, Sie haben darauf hingewiesen, dass
die Reden, die hier gehalten werden, sehr schnell publi-
ziert werden, also auch Ihr unparlamentarischer Aus-
druck, für den ich Sie ausdrücklich kritisiere.
Ich erteile das Wort Kollegin Veronika Bellmann,
CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Herr Löning, ich bin schon etwasüber die unnötige Schärfe verwundert, die Sie in die De-batte gebracht haben, vor allem vor dem Hintergrund,dass es bei diesem Thema im Grunde genommen eine in-haltliche Übereinkunft gibt. Wir sind der Meinung:Wenn die inhaltlichen Forderungen der Oppositionschon in die Stellungnahme der Bundesregierung einge-flossen sind, kann man die entsprechenden Anträge ausdem Vorjahr, die hier vorliegen, getrost ablehnen.Der Deutsche Bundestag befasst sich heute mit demThema Transparenzinitiative. Vor fast einem Jahr hat dieEuropäische Kommission ein Grünbuch veröffentlicht,um die europäische Transparenzinitiative vom Novem-ber 2005 voranzubringen. Es wird eine umfassende In-formation über die Verwaltung und Verwendung vonEU-Geldern angestrebt. Dabei geht es um berufsethischeRegeln bzw. um die Festlegung eines Rahmens für dieTätigkeit von Interessenvertretern und den viel gerühm-ten europäischen Lobbyisten, aber auch um das ThemaAgrarbeihilfen und das Thema der Offenlegung der Ver-gabe von Strukturmitteln. Transparenz ist wichtig, ge-rade im Hinblick darauf, dass die Bürger unseres Landeswenig bis gar kein Vertrauen in die Europäische Unionhaben und dass es beim Verständnis in Sachen EUdurchaus noch Nachholbedarf gibt.Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, seheich viele Bauvorhaben, vor denen große Schilder mit dereuropäischen Flagge mit den zwölf Sternen stehen. Aberwer weiß schon, was dahintersteckt? Insofern ist Trans-parenz auch ein Mittel zur Stärkung der Akzeptanz derEU. Sie ist auch eine Garantie für den verantwortlichenUmgang mit dem Geld der Steuerzahler aus den Mit-gliedstaaten. Transparenz ist ein wirksames Mittel derKontrolle sowohl der Fördermittelgeber als auch derFördermittelverwalter und -empfänger. Natürlich ist sieauch eine effektive Barriere gegen Missbrauch.Von den gesamten Mitteln der Europäischen Unionwerden 20 Prozent von der Europäischen Kommissiondirekt verwaltet; diese 20 Prozent unterstehen bisherschon einer Publizitätspflicht. Doch für jene 80 Prozent,die von Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten ausge-zahlt werden, besteht bisher noch keine Publizitäts-pflicht. Nach den Darstellungen der Kommission legenbereits jetzt elf Mitgliedstaaten die notwendigen Infor-mationen offen. Nicht immer wird aber ein vollständigerZugang gewährt; teilweise geschieht dies nur auf An-
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Veronika Bellmannfrage. Hier gibt es viele Variationen. Dieser Varianten-reichtum führt zu unserer berechtigten Forderung – HerrRoth hat es vorhin schon anklingen lassen –, hierfür ei-nen für alle Mitgliedstaaten anwendbaren einheitlichenRechtsrahmen zu schaffen. Dadurch wäre auch ein ein-heitlicher Umgang mit allen Empfängern garantiert unddie Vergleichbarkeit hergestellt. Das ist ebenfalls ein we-sentliches Element der Transparenz.Der Sinn und Zweck des Grünbuchs der EU ist auch,Meinungen aus den Mitgliedstaaten über die Verpflich-tung zur Offenlegung und die Modalitäten einer Infor-mationsweitergabe an die Öffentlichkeit einzuholen. DieBundesregierung hat ihre Meinung mit ihrer Stellung-nahme kundgetan. Darin steht die Forderung, allen Mit-gliedstaaten einen einheitlich anwendbaren Rechtsrah-men durch die EU-Kommission zu übertragen.Zurück zum Thema Transparenz. Transparenz heißtfür mich, dass nicht nur die Angaben offengelegt wer-den, sondern dass auch klar ist, wer für die Offenlegungder Angaben verantwortlich ist. Einzelne Mitgliedstaa-ten haben verschiedene Definitionen zur Ausgestaltungeiner Übersicht, verschiedene Definitionen des Zeit-punktes usw. Meines Erachtens muss die EuropäischeKommission als oberste Behörde für die Offenlegungverantwortlich sein.
Das heißt, es muss eine Stelle geben, bei der alle Mittel-empfänger der Mitgliedstaaten ihre Meldung machen,und es muss eine Seite im Internetbereich der Europäi-schen Kommission geben, auf der die Daten anschlie-ßend zu finden sind, und zwar nach einem einheitlichenMuster. Selbstverständlich muss es eine Frist geben, in-nerhalb welcher die Daten der bereits genehmigten Pro-jekte vorgelegt werden müssen. Es darf also kein zwi-schenstaatliches Hickhack geben, sondern es muss einAnsprechpartner vorhanden sein. Nur dann kann einewirkliche Transparenz gewährleistet sein. Die Übersich-ten sollten auch keine sprachlichen Barrieren aufweisen.Auch diese sind hin und wieder ein Hinderungsgrund fürechte Transparenz.Eine Frage, die mich in diesem Zusammenhang be-schäftigt, ist das Problem der Folgen und der Haftung.Ich spreche hier nicht von Datenschutzbedenken. Das istim Übrigen auch in Ihrem Antrag angeklungen, HerrLöning, wo Sie von verantwortlicher Abwägung des öf-fentlichen Interesses gegenüber dem Schutz von perso-nenbezogenen Daten und Geschäftsgeheimnissen spre-chen. Das können wir eins zu eins mittragen.
– Das ist in der Stellungnahme der Bundesregierungschon enthalten. Deswegen brauchen wir über die An-träge nicht abzustimmen. Das ist doch vollkommen klar.
Ich spreche nicht von Datenschutzbedenken, sondernschlichtweg davon, dass es im Zusammenhang mit derOffenlegung dieser Informationen durchaus zu einer ge-wissen Neiddiskussion und zu Konkurrenzdenken kom-men kann. Man muss bedenken, dass bei der Auswer-tung der veröffentlichten Daten nicht nur der Erfolg unddie Effektivität der Gemeinsamen Agrarpolitik – auf diestelle ich hier hauptsächlich ab – geprüft werden, son-dern dass die Kritiker der Gemeinsamen Agrarpolitik,die bemängeln, dass 40 Prozent des EU-Haushalts in dieAgrarsubventionen gehen,
diese Informationen gegen Agrarsubventionen instru-mentalisieren könnten. Da müssen wir sehr vorsichtigsein. Auch das ist eine Begründung für die Forderung ei-nes einheitlichen Rechtsrahmens.
Die Fördermittelempfänger können auch fragen, wenman dafür haftbar machen kann, wenn der Nachbar fürein ähnliches Projekt unter gleichen Voraussetzungenmehr Fördermittel bekommen hat. Wer ist der Ansprech-partner bei diesen Beschwerden und der Adressatsolcher Anfragen? Welche Auswirkungen hat eine voll-kommene Transparenz auf Ermessensspielräume derVerwaltung? Das sind alles Fragen, die noch geklärtwerden müssen.Die Verfahren müssen allerdings so ausgeprägt sein,dass sie nicht mehr Bürokratie bedeuten.
Es ist ja zu befürchten, dass immer dann, wenn die EUeine neue Aufgabe übernimmt, eine zusätzliche Agentureingerichtet wird.
Ich möchte nicht, dass anschließend eine „Transparenz-agentur“ ins Leben gerufen wird.
Ich möchte noch die Bagatellgrenze erwähnen, zuder es Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregie-rung gegeben hat. Deshalb ist es auch zu den Verzöge-rungen gekommen, die wir hier beklagen. Ich glaube,wir sind uns einig: Wenn wir veröffentlichen, veröffent-lichen wir alles. Dann brauchen wir auch keine Bagatell-grenze. Wenn wir Transparenz wollen,
dann muss sie vom ersten Euro bis zum millionsten Eurogelten.
Ich fasse zusammen: Wir plädieren für eine Offenle-gung aller Fonds, auch im Bereich der Agrarsubventio-nen. Wir sind gegen die Einführung von Bagatellgren-zen. Wir plädieren dafür, dass die Veröffentlichung nichtnach individuellen Festlegungen der Mitgliedstaaten im
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Veronika BellmannEinzelnen, sondern nach einheitlichen, allgemeingülti-gen Kriterien und Maßstäben der EU-Kommission zu er-folgen hat.
– Wir brauchen Ihrem Antrag nicht zuzustimmen, ob-wohl wir ihn inhaltlich durchaus mittragen, weil seineInhalte in der Stellungnahme der Bundesregierung schonenthalten sind.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin Aydin, Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Besitzer von Aldi und Lidl gehören zu den reichsten
Menschen in Deutschland. Sie haben ihr Vermögen auf
dem Rücken der Beschäftigten gemacht. Sie sind auch
deshalb so reich, weil sie die bäuerlichen Betriebe im-
mer mehr an die Wand drücken. Die Einzelhandelsketten
zahlen für 1 Liter Milch nicht mehr als vor 20 Jahren.
Ein Milchbauer mit 50 Kühen verdient heute deshalb so
wenig, dass er seine Familie davon nicht mehr ernähren
kann. Ich betone: Es ist absolut berechtigt, dass die
Milchbauern vom Staat unterstützt werden. Nur: Wir
von der Linken wollen Transparenz; denn bei den gro-
ßen Beihilfeempfängern handelt es sich nicht allein um
die kleinen Bauern. Es geht um Konzerne, es geht um
Minister, und es geht sogar um Königshäuser.
Ich nenne Ihnen Beispiele: 2005 kam heraus, dass in
Holland die Nahrungsmittelkonzerne Nestlé und Campina
in fünf Jahren 900 Millionen Euro an EU-Ausfuhrbeihil-
fen geschenkt bekamen. Landwirtschaftsminister Veerman
selbst strich 150 000 Euro an Beihilfen ein. Königin
Elisabeth und Prinz Charles von England erhalten pro
Jahr 1,5 Millionen Euro aus Brüssel. Wir wissen das,
weil in 13 europäischen Ländern Namen und Zahlen of-
fengelegt wurden.
Doch was ist mit Deutschland? Allein zur Unterstüt-
zung des Agrarexports werden bei uns jährlich über
500 Millionen Euro ausgezahlt. Wer erhält dieses Geld?
Sind es Bauern? Sind es Minister? Sind es Konzerne?
Sind es Abgeordnete? Das habe ich im Februar 2006 von
der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage wissen
wollen. Doch in der Antwort wurde jede konkrete Aus-
kunft verweigert. Wenn eine Regierung in der Dritten
Welt vertuscht, wohin EU-Entwicklungshilfegelder flie-
ßen, dann nennt die Bundesregierung das „schlechte Re-
gierungsführung“. Aber wenn sie selbst die Namen der
EU-Subventionsmillionäre offenlegen soll, dann beruft
sie sich auf den Datenschutz. Ich sage Ihnen: Das ist
eine Heuchelei.
Die Wahrheit muss der Bundesregierung regelrecht
abgerungen werden. Das ganze letzte Jahr hindurch ha-
ben Nichtregierungsorganisationen und Opposition für
mehr Transparenz bei den Agrarsubventionen gekämpft.
Im November einigten sich die EU-Kommission und das
EU-Parlament endlich darauf, alle Länder auf die Veröf-
fentlichung der Daten zu verpflichten. Das ist ein großer
Erfolg. Doch seitdem versucht Wirtschaftsminister Glos
mit immer neuen Tricks, die Transparenzpflicht hinten-
herum zu verwässern. Wir von der Linken sagen: Hören
Sie endlich auf mit dieser Trickserei!
Subvention ist nicht gleich Subvention. Stützungszah-
lungen für bäuerliche Familien sind eine soziale Maß-
nahme. Ausfuhrbeihilfen an Nahrungsmittelkonzerne
aber zerstören die Grundlage der Landwirtschaft in den
Entwicklungsländern. Wir von der Linken sind dagegen,
dass EU-Milchpulver zu Dumpingpreisen die Viehzüch-
ter in Schwarzafrika ruiniert. Die Offenlegung der
Agrarsubventionen ist deshalb überfällig. Sie muss
schnellstmöglich auf europäischer Ebene geregelt wer-
den.
Die Veröffentlichung muss sich an den realen gesell-
schaftlichen und ökologischen Leistungen der landwirt-
schaftlichen Betriebe orientieren. Es muss klar sein, ob
die Gelder in die Massentierhaltung, in den Öko-Land-
bau oder in den Vorruhestand fließen. Es muss klar sein,
ob der Konzern Südzucker Geld für den Export erhält
oder für den Anbau von Pflanzen, aus denen man Ener-
gie erzeugen kann. Die Menschen im Lande haben ein
Recht darauf, zu wissen, wohin ihre Steuergelder flie-
ßen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegin Bärbel Höhn, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfreue mich, dass diese Debatte durch die Redebeiträgesowohl der FDP als auch der Linken konkretisiert wor-den ist. Denn wir reden nicht nur abstrakt über eineTransparenzrichtlinie, sondern wir reden ganz konkretdarüber, was das für die Menschen bedeutet.Es geht darum, dass wir wissen wollen, wohin45 Prozent des EU-Haushalts fließen. Sind die Geldergut angelegt, sind sie effizient angelegt? Bekommen siewirklich die Kleinbauern, die dafür jeden Tag harte Ar-beit leisten, oder bekommen sie solche, bei denen wiruns fragen, ob das wirklich angebracht ist? Ich würdezum Beispiel gern wissen wollen, wie viel Geld RWE inDeutschland für die Rheinbraun-Abbaugebiete, also dieGebiete, in denen die Braunkohle abgebaut wird, ausdem Agrarhaushalt bekommt. Das würde mich interes-sieren. Die Frage ist, ob es sinnvoll ist, RWE dafür Geldzu geben, oder ob dieses Geld nicht besser an die Bauernfließen sollte, die mit harter Arbeit die landwirtschaftli-chen Produkte erzeugen. Genau um diese Fragen geht es.
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Bärbel HöhnDie Bürgerinnen und Bürger von Großbritannienkönnen im Internet nachsehen, was das Königshaus anSubventionen bekommt. Da, liebe Kollegen von derCDU und der CSU, gibt es keine Neiddebatte. Warumnicht? – Weil das transparent ist. Eine Neiddebatte gibtes nur dort, wo die Daten nicht veröffentlicht werdenund die Leute deshalb anfangen zu spekulieren, wer wasbekommen könnte. Das ist doch der Ausgangspunkt füreine Neiddebatte.
Wir wissen, dass 20 Prozent der Betriebe 80 Prozentder Subventionen bekommen. Darüber wollen wir mehrerfahren: Woran liegt das? Ist das immer gerechtfer-tigt? – Jedes Programm der Bundesregierung und jedesProgramm der Landesregierungen wird evaluiert, indemgeprüft wird, ob das Geld wirklich sinnvoll eingesetztist. Wir haben doch nicht so viel Geld, dass wir es, egalwas damit passiert, einfach so ausgeben können. Wirmüssen das doch überprüfen; das sagen auch die Bürge-rinnen und Bürger. Es sind doch Steuergelder, die da ver-wendet werden, und zwar nicht zu knapp.
Gerade deshalb ist es wichtig, zu sagen, an wen die Sub-ventionen gehen und für was sie gezahlt werden. Geradedann, wenn man die Öffentlichkeit scheut, werdenAgrarsubventionen infrage gestellt. So erreichen Sie dasGegenteil von dem, was Sie erreichen wollen. Deshalbist es wichtig, auf Transparenz zu bestehen.
Wie sehr die Bundesregierung in diesem Punkt mau-ert, habe ich in einer Fragestunde vor gut einem Jahr,nämlich am 5. April 2006, gemerkt. Da habe ich Staats-sekretär Paziorek nämlich danach gefragt. Er hat sich da-mals zu der Auffassung verstiegen, die Bundesregierungsei der Meinung, diese Subventionen seien Betriebsge-heimnisse und dürften deshalb nach deutschem Rechtnicht veröffentlicht werden.
Ich habe ihn gefragt, wie das politisch zu bewerten sei.Darauf hat er gesagt, die Veröffentlichung sei nicht sinn-voll. – Das ist das eigentliche Motiv, das dahintersteckt.Nun müssen Sie dem Druck der Öffentlichkeit nach-geben und peu à peu veröffentlichen. Aber was tun Sie?Sie versuchen nicht, die Veröffentlichung aktiv zu beför-dern, wie dies in Großbritannien und 13 anderen Län-dern schon vor längerer Zeit geschehen ist. Nein, Siewollen das erst im Jahr 2009 machen. Das ist wieder eingroßer Fehler; denn wir brauchen die Daten doch schonim Jahr 2008, weil wir dann darüber diskutieren, was wirin der nächsten Förderperiode der Landwirtschaft ma-chen.
Die Verschleppung der Veröffentlichung führt dazu,dass wir in Deutschland keine Vorschläge machen kön-nen, wie wir die Agrarsubventionen in der nächsten Pe-riode effizient einsetzen. Das ist nicht in Ordnung. Dasmüssen wir Ihnen als Vorwurf entgegenhalten.
Setzen Sie sich an die Spitze der Bewegung in derBundesregierung. Es wäre sinnvoll, das zu tun. LassenSie die Verzögerungstaktik. Legen Sie die Zahlen aufden Tisch. Ich bin sicher, dass ein hart arbeitender Bauersehr gut erklären kann, warum er welche Subventionenbekommt.Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegin Waltraud Wolff, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! An dieser Debatte wird deutlich, dass sich alles umeine zentrale Frage dreht: Wollen wir wirklich, dass dieMenschen in Europa nachvollziehen können, welcheWirkungen die gemeinsame Politik entfaltet? DieseFrage ist in dieser Debatte entscheidend.Sicherlich ist richtig, dass Transparenz ihre Grenzenhat. Persönlichkeitsrechte und Geschäftsgeheimnissemüssen geschützt werden. Klar ist aber, dass wir dieseRechte nicht missbrauchen und berechtigte Bedürfnissenach Information nicht verweigern dürfen. Das schadetletztlich allen: denjenigen, die ein Recht auf den Schutzhaben, vor allem aber den Bürgerinnen und Bürgern, vondenen wir wollen, dass sie der Politik vertrauen, was siehoffentlich auch tun.Die Diskussion über Transparenz ist für uns Politikernicht einfach; das wird auch an der heutigen Debattedeutlich. In den Medien wird es zu großen Schlagzeilenkommen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.Wir müssen erklären, warum bestimmte UnternehmenSubventionen erhalten. Da die EU-AgrarkommissarinFischer Boel die Transparenzinitiative explizit mit derAusrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik verbundenhat, spreche ich als Landwirtschaftspolitikerin zu diesemThema.Warum hat die EU-Kommissarin das getan? Insbe-sondere in der Agrarpolitik lässt sich beobachten, wel-che Folgen mangelnde Offenheit hat. Für die meistenMenschen bedeutet die EU-Agrarpolitik noch immer diesuperteure Förderung von Überproduktion. Wir Fachpo-litiker wissen, dass das schon lange nicht mehr der Fallist.
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Waltraud Wolff
Aber die Logik der Menschen ist: Wer nicht bereit ist, et-was offenzulegen, hat etwas zu verbergen.
Genau dieser Auffassung müssen wir offensiv entgegen-treten.Natürlich wird die Diskussion aufkommen, welche Wir-kungen unsere Agrarexportsubventionen haben. Wirwerden uns die Frage stellen lassen müssen, warum dieIndustrieländer 349 Milliarden Dollar für Produktions-und Exportsubventionen ausgeben. Wir werden uns auchfragen lassen müssen, warum wir damit niedrige Export-preise fördern und so die lokale Produktion in den Ent-wicklungsländern verhindern.Mit den Vorschlägen, die wir im Rahmen der Doha-runde gemacht haben, haben wir diese Fragen bereitsaufgegriffen. Nun müssen wir deutlich machen, dass wirdiese Politik ernsthaft fortführen werden. Die Transpa-renzrichtlinie bietet uns die große Chance, zu erklären,warum landwirtschaftliche Betriebe finanzielle Unter-stützung brauchen. Das Ziel der Agrarpolitik ist, Leistun-gen in der Landwirtschaft für besonders hohe Qualität,für die Umwelt und für die Gesellschaft zu honorieren.Fest steht: Diese Leistungen werden am Markt nicht be-zahlt, jedenfalls nicht mit der deutschen Geiz-ist-geil-Mentalität.Für mich als Abgeordnete aus den neuen Bundeslän-dern ist es besonders wichtig, aufzuzeigen, warum großeBetriebe Ausgleichszahlungen bekommen und warumsie notwendig sind. Wenn wir zum Beispiel die durch dieExtensivierung entstehenden höheren Kosten ausglei-chen, dann fallen diese Kosten für alle an: für die kleinenBetriebe genauso wie für die großen Betriebe. Wennman sich dann noch vor Augen führt, wie viele Arbeit-nehmer in den großen Betrieben in Ostdeutschland be-schäftigt sind, und zwar sozialversicherungspflichtig,
und dass das Dorfleben sehr oft von einer einzigenAgrargenossenschaft am Ort abhängig ist, dann ist esfolgerichtig, dass Obergrenzen für Direktzahlungen ausdeutscher Sicht abzulehnen sind.
Über eine lineare Degression kann man reden. AberObergrenzen sind abzulehnen. An dieser Stelle danke ichder Bundesregierung, die dazu eindeutig Stellung ge-nommen hat.
Die Offenlegung der Fördersummen muss aber – auchdas sage ich in Richtung Bundesregierung – mit Be-triebsdaten wie der Anzahl der sozialversicherungs-pflichtig beschäftigten Arbeitnehmer unterlegt werden.Die Zahlen allein dokumentieren überhaupt nichts. Wasfür die Agrarförderung gilt, gilt natürlich auch für dieStrukturfonds.Ich sage Ihnen eines: Lassen Sie uns alle gemeinsamendlich etwas mutiger werden. Das hilft den Menschen,Politik zu verstehen, und es hilft auch, Schwachstellen,die vielleicht gerade nicht in der Landwirtschaft liegen,aufzuzeigen.Zwei Bitten habe ich zum Schluss. Erstens. Es ist hierschon angesprochen worden: Die Bundesregierung sollteim Interesse der Betriebe und auch einer sachlichen Dis-kussion ihren Zeitplan überdenken und in 2008 alle Da-ten veröffentlichen – und sie sollte sie selbst veröffentli-chen und dies nicht an die Kommission abgeben. Wirselbst haben es in der Hand. Wir können einen gemein-samen Rahmen beschließen, aber die Mitgliedstaatensollten selber veröffentlichen.
Die zweite Bitte – das ist hier heute überhaupt nochnicht angesprochen worden – richte ich an die Landes-parlamente. Ich fordere die Landesparlamente von hieraus auf, sich zu positionieren und konstruktiv an der Da-tenerfassung mitzuarbeiten. Das ist gar nicht so schwie-rig, aber die Kolleginnen und Kollegen in den Landtagenmüssen sich damit auseinandersetzen.Ich bitte Sie, lassen Sie uns gemeinsam die knappeZeit und auch die inhaltlichen Chancen, die in diesemThema stecken, nutzen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Ti-tel „Europäische Transparenzinitiative aktiv unterstüt-zen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/5287, den Antragder Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2203 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPDbei Enthaltung von Linken und Grünen und Ablehnungder FDP angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/5287 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnungdes Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenauf Drucksache 16/2518 mit dem Titel „Forderung derEU nach Transparenz bei Subventionen im Agrarbereichvollständig umsetzen und die Neuausrichtung der Förde-rung vorbereiten“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Linken und Ab-lehnung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang ThierseBeschlussempfehlung des Ausschusses für die Ange-legenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel„Forderung der EU nach Transparenz bei Subventionenfür die Wirtschaft vollständig umsetzen und die Neuaus-richtung der Förderung vorbereiten“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/5288, den Antrag der Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2517 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissenwie zuvor angenommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antragder Fraktion Die Linke mit dem Titel „Agrarbeihilfeemp-fänger offenlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/3039, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1962 ab-zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU,SPD und FDP bei Enthaltung der Grünen und Ablehnungder Linken angenommen.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 27 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MartinZeil, Paul K. Friedhoff, Frank Schäffler, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPEigenkapitalbildung fördern – DeutschlandsMittelstand fit machen– Drucksache 16/3841 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenMartin Zeil, FDP, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deritalienische Politiker Pella hat einmal den schönen Satzgeprägt:Das Kapital hat das Herz eines Hasen, die Beine ei-nes Rennpferdes und das Gedächtnis eines Elefan-ten.Man könnte in Versuchung kommen, dieses Bild auf dieRegierungkoalition zu übertragen: Der Mut bei Refor-men entspricht dem eines Hasen, und das Weglaufen vorden Problemen des Landes geschieht mit der Geschwin-digkeit eines Rennpferdes.
Nur das Gedächtnis eines Elefanten kann man bei derRegierung nun überhaupt nicht erkennen; denn da wer-den Reformversprechen vergessen: An die versprocheneSteuervereinfachung und auch an die Vorschläge vonProfessor Kirchhof will sich niemand mehr so recht erin-nern.
Ganz im Gegenteil: Man feiert fette Steuererhöhungen,greift bei der Unternehmensteuerreform erneut auf dieSubstanzbesteuerung zurück und entzieht so gerade demMittelstand das dringend benötigte Kapital.Hohe Bürokratiedichte, ungünstige steuerliche Rah-menbedingungen, schleppende Genehmigungs- und Zu-lassungsverfahren, ein überregulierter Arbeitsmarkt undauch der Fachkräftemangel behindern die Umsetzungvon neuen Ideen und ihre wirtschaftliche Verwertung inDeutschland. Viele kreative Menschen – das muss unsbesorgt machen – verlassen unser Land.Eines der Haupthemmnisse für Innovationen und Ex-pansionen – deshalb haben wir Ihnen diesen Antrag vor-gelegt – ist die Knappheit von Kapital, insbesondere vonEigenkapital beim Mittelstand. Gute Ideen brauchen Zeitund Geld zur Reife. Auf der einen Seite ist die Finanzie-rung junger, risikoanfälliger Technologieunternehmenwegen der langen und kostenintensiven Forschungs- undEntwicklungszeiten besonders in der Anfangszeit schwie-rig. Wegen fehlender Sicherheiten und angesichts derdünnen Eigenkapitaldecke scheidet eine Fremdfinanzie-rung durch Bankkredite oft aus. Auf der anderen Seite ha-ben auch etablierte kleine und mittelständische Betriebeim internationalen Vergleich eine zu geringe Eigenkapi-talausstattung.Nur mit einer gesunden Eigenkapitalquote könnensich die kleinen und mittelständischen Unternehmen inDeutschland im globalen Wettbewerb behaupten undauch zukünftig einen wesentlichen Motor für Wachstumund Beschäftigung darstellen.
Der Vergleich der Eigenkapitalausstattung des indus-triellen Mittelstandes in Deutschland mit der von ver-gleichbaren Unternehmen in anderen Ländern zeigt dieSchwächen deutlich. So wiesen deutsche Unternehmen2005 einen durchschnittlichen EK-Anteil von circa17 Prozent der Bilanzsumme auf, während Unternehmenin fast allen anderen Industrieländern deutlich höhereWerte aufweisen, vielfach sogar Werte von 30 bis40 Prozent.Nicht unproblematisch für den Mittelstand sind in die-sem Zusammenhang auch die neuen Basel-II-Regelun-gen, die die Banken zur Neubewertung ihrer Kreditrisikenzwingen. Dadurch wird die traditionelle Kreditfinanzie-rung stärker limitiert als bisher. Der Sachverständigenratstellt fest, dass sich das wandelnde Finanzierungsumfeldvor allem von mittelständischen Unternehmen als Be-drohung empfunden wird, da die geänderte Geschäfts-politik der Banken den traditionellen Zugang zu Finan-zierungsmitteln in Form von Bankkrediten tendenziellverschlechtert hat.
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Martin ZeilNeben der Verbesserung der allgemeinen Rahmenbe-dingungen zur Erhöhung des Wachstums und damit derGewinnthesaurierungsmöglichkeiten sollte sich eine ge-zielte und marktkonforme Förderung vor allem auf eineVerbesserung der Möglichkeiten für kleine und mittel-ständische Unternehmen konzentrieren, an Beteili-gungskapital zu kommen. Umfragen unter Unterneh-men haben zudem ergeben, dass es nicht unbedingt anInformationen über alternative Finanzierungsinstru-mente mangelt. Viele Unternehmer fürchten vielmehrden Einfluss von fremdem Eigenkapital auf die eigeneEntscheidungsfreiheit. Deswegen reichen die staatli-chen Maßnahmen zur Gründer- und Frühphasenförde-rung und andere erfolgreiche Fördermaßnahmen nichtaus. Ich erwähne hier ausdrücklich die ERP-Förderung,die Sie leider mit Ihrem Neuordnungsgesetz kannabili-sieren wollen.
– Kannibalisieren, habe ich doch gesagt.
Ich habe vielleicht, Herr Kollege, für einen Oberpfälzerein bisschen zu schnell gesprochen.
Sie betreiben hiermit auch Raubbau an den Gelderndes Mittelstandes. Die Politik muss ihr Augenmerk vorallen Dingen auf die Mobilisierung privaten Kapitals fürdie Stärkung des Eigenkapitals richten. Die Bedingun-gen für Beteiligungskapitalgeber, aber auch für die Mit-arbeiterbeteiligung müssen endlich auf einen internatio-nalen Standard gebracht werden.
Die Kommunikation zwischen Kreditinstituten undkleinen Unternehmen zum Thema Rating muss durchgeeignete Maßnahmen aktiv belebt werden. Wir habenin unserem Antrag weitere Vorschläge zu diesem Themagemacht.Entscheidend ist – da möchte ich die Große Koalitionan ihre Koalitionsvereinbarung erinnern, in der Sie sehrschöne Ankündigungen zu dem Thema gemacht haben –,dass die Ankündigungen jetzt mit Inhalt gefüllt werdenund ihnen auch wirklich Taten folgen, Herr KollegeStiegler.
– Sie regieren ja nun schon eine Weile, möglicherweiselänger, als Sie von jetzt ab noch regieren werden.
Jetzt ist Zeit zum Handeln.Ich möchte mit einem Zitat von Henry Ford schlie-ßen:Der oberste Zweck des Kapitals ist nicht, mehrGeld zu schaffen, sondern zu bewirken, dass dasGeld sich in den Dienst der Verbesserung des Le-bens stellt.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Kai Wegner, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber HerrZeil, die Bilder, die Sie zu Beginn Ihrer Rede gezeichnethaben, fand ich interessant. Ich habe mich nur gefragt,welche Bundesregierung Sie da meinen.
Denn spätestens mit der gestrigen Debatte in der Aktuel-len Stunde muss selbst Ihnen bewusst geworden sein,dass die Bilanz dieser Großen Koalition sehr positiv ist.
Dass wir gestern im Rahmen der Aktuellen Stundedie gute wirtschaftliche Entwicklung in unserem Landmit den daraus resultierenden positiven Folgen am Ar-beitsmarkt debattieren konnten, lieber Herr Zeil, liegtvor allem an den kleinen und mittleren Unternehmenin Deutschland. Mit 99,7 Prozent aller Unternehmen und70,5 Prozent aller Arbeitsplätze bildet der Mittelstandweiterhin das Rückgrat unserer Wirtschaft.Nicht nur die sogenannten Global Player haben esverstanden, erfolgreich die dynamische Entwicklung deseuropäischen Binnenmarkts und die Chancen der Globa-lisierung für sich zu nutzen. Zahlreiche Unternehmenaus den Reihen des Mittelstands, die sich teilweise sogarals Europa- oder Weltmarktführer behaupten, beweisendie herausragende Bedeutung kleiner und mittlerer Un-ternehmen für unser Land.Diese beeindruckende Bilanz ist allerdings nicht na-turgegeben. Dass sie fortgeführt werden kann, setzt vo-raus, dass den mittelständischen Unternehmen auch inZukunft das notwendige Kapital für die Umsetzung ih-rer Ziele zur Verfügung gestellt wird. Bis heute finan-ziert die überwiegende Zahl der kleinen und mittlerenUnternehmen ihren Kapitalbedarf mit traditionellen
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Kai WegnerBankkrediten. Den Ausschlag zugunsten von Fremd-finanzierung gegenüber Eigenkapitalbildung geben vorallem die Spezifika des deutschen Steuersystems und diehiesigen günstigen Kreditbedingungen. Es ist deshalbnicht verwunderlich, dass die Eigenkapitalquote deut-scher Unternehmen im internationalen Vergleich gerin-ger ist.Im Zuge der Umsetzung des Basel-II-Abkommenswird es den Banken wieder ermöglicht, Kredite von we-niger als 1 Million Euro mit weitaus geringeren Eigen-kapitalanforderungen als bisher zu vergeben. Das betrifftetwa 90 Prozent aller vergebenen Kredite zurzeit, undauch das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,ist ein Verdienst und ein großer Erfolg von unseremWirtschaftsminister Michael Glos und der Großen Ko-alition.
Es wäre aber falsch, von einer generellen Eigenkapi-tallücke des deutschen Mittelstandes zu sprechen. Trotz-dem bin auch ich der Meinung, dass der deutsche Mittel-stand langfristig mehr Eigenkapital benötigt, um zumBeispiel die Chancen, die sich im Zuge der Globalisie-rung bieten, so erfolgreich wie bisher zu nutzen.Bereits seit vielen Jahren sind Private-Equity-Inves-toren in Deutschland sehr aktiv. Mittlerweile werdenüber 800 000 Arbeitsplätze in Deutschland mit ihrerHilfe gesichert. Diese Unternehmen tragen rund 7 Pro-zent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Durch dieses Enga-gement wird den Unternehmen ermöglicht, ihre Ziele– sei es die Entwicklung eines neuen Produktes oder garder Börsengang – auch mit geringerer Eigenkapitalquotezu verwirklichen.Insbesondere junge und technologieorientierte Unter-nehmen profitieren von dieser Finanzierungsform. Mitihnen steht und fällt die technologische Leistungsfähig-keit unseres Landes. Deshalb freut es mich ganz beson-ders, lieber Herr Zeil, dass sich auch die FDP diesesThemas annimmt
und die Bundesregierung in ihrem Bestreben unterstüt-zen will, damit Deutschland wettbewerbsfähige Rah-menbedingungen für Beteiligungskapital erhält.
– Ich sagte doch, dass ich mich über Ihre Unterstützungdabei freue.Die Fortentwicklung der bestehenden Rechtslage inein Private-Equity-Gesetz wird ein wichtiger Bausteinsein, dieses Ziel zu erreichen. Meine Fraktion, dieUnion, hat hierzu bereits einen detaillierten Katalog zursteuerlichen Förderung vorgelegt. Vor allem über einetransparentere und erleichterte Besteuerung der Anlegersowie Eigenkapitalnehmer wird hierbei zu reden sein.
Neben den Hightechgründern und jungen Technolo-gieunternehmen dürfen wir aber nicht den klassischenMittelständler der sogenannten Old Economy aus denAugen verlieren.
Die Aufnahme von Beteiligungskapital bleibt für vielevon ihnen nur schwer realisierbar. Das liegt primär abernicht am geringen Bekanntheitsgrad dieser Finanzie-rungsform, sondern am Markt für Beteiligungskapital.Bisher konzentrierten sich Private-Equity-Gesellschaf-ten eher auf ausgewählte Unternehmen sowie auf dasangesprochene Segment der innovativen Jungunterneh-men. Aber am breiten Mittelstand geht das Beteiligungs-kapital immer noch vorbei. Die Bundesregierung tutdeshalb gut daran, Herr Zeil, gemeinsam mit der Kredit-anstalt für Wiederaufbau unter anderem durch das Deut-sche Eigenkapitalforum und durch ERP-Beteiligungs-programme diese Startschwierigkeiten für interessierteMittelständler zu überwinden.
Der Mittelstand ist und bleibt das Rückgrat unsererWirtschaft und globaler Akteur.
Um sein Potenzial auch in Zukunft voll auszuschöpfen,bedarf es neuer Finanzierungsinstrumente. Die GroßeKoalition hat bereits in ihrem Koalitionsvertrag die Wei-chen für bessere Rahmenbedingungen für Beteiligungs-kapital gestellt. Im Sinne der deutschen Wettbewerbsfä-higkeit gilt es, mit dem geplanten Private-Equity-Gesetzgezielt Anreize zu setzen, damit zukünftig die Unterneh-merinnen und Unternehmer aufgrund ihrer Bedürfnisseund nicht aufgrund der Empfehlung ihrer Steuerberaterzwischen Fremdfinanzierung und Beteiligungskapitalentscheiden können.
In diesem Sinne freue ich mich auf eine lebhafte Dis-kussion. Ich freue mich auch, dass die FDP-Fraktion dieBemühungen der Großen Koalition, die wir auch in die-sem Punkt zum Erfolg führen werden, unterstützt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, derKollege Zeil und der Kollege Wegner haben sich nicht
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Sabine Zimmermannrichtig verstanden. Falls Bedarf besteht, würde ich ganzgern vermitteln und dafür sorgen, dass sie sich verste-hen.
– Herr Tauss, rufen Sie nicht immer dazwischen. HörenSie doch einfach mal zu!
Geld regiert die Welt. Das wusste schon HerzogFriedrich von Sachsen im 17. Jahrhundert. Bis heute istdieser Spruch für zahlreiche kleine und mittlere Unter-nehmen bittere Realität. Viele leiden an einer zu gerin-gen Eigenkapitalbasis und sind deswegen auf einen ein-fachen Zugang zu langfristigen Krediten angewiesen.Hier aber beginnt das Problem. Die FDP macht heutezu Recht auf diese Frage aufmerksam; allerdings habenwir – so muss ich sagen, Herr Zeil – einen etwas anderenAnsatz.
Kleinstunternehmen werden von den Banken Krediteverweigert. Größere, gewinnträchtige Mittelständler ge-raten nicht selten in die Fänge windiger Finanzinvesto-ren.Sicher, die Eigenkapitalquote des Mittelstandes hatsich etwas verbessert. Der Druck internationaler Finanz-abkommen wie Basel II hat dazu gezwungen. HabenFirmen nicht genügend Eigenkapital, erhalten sie Kre-dite allenfalls zu horrenden Zinsen. Für zahlreicheKleinstunternehmen stellt sich dieses Problem oft garnicht. Ihnen verweigern Banken oftmals notwendigeKredite; Herr Zeil, Sie haben dies betont. Jedes dritteUnternehmen mit weniger als fünf Beschäftigten erhältvon seiner Bank einen Ablehnungsbescheid.Es geht hier nicht nur um mögliche verschenkte Ar-beitsplätze. Die Bundesregierung hat auf eine Anfrageder Linken eingeräumt – ich zitiere –:Als Folge unterbliebener Investitionen könnte dieSchaffung von bis zu 44 000 Arbeitsplätzen verhin-dert worden sein.Nein, es geht hier auch um eine systematische Benach-teiligung kleiner und mittlerer Unternehmen.
Das Risiko eines kleinen Unternehmens mit einemJahresumsatz von weniger als 1 Million Euro, von sei-nem Kreditberater ein Nein zu hören, ist fünfmal größerals bei einem Unternehmen mit einem Umsatz von mehrals 50 Millionen Euro. Manager großer Konzerne setzenMillionenbeträge in den Sand. Aber dem kleinen Hand-werker oder Dienstleister vor Ort wird der Kredit einfachverweigert.Stichwort „Zahlungsmoral“. Viele mittelständischeUnternehmen leiden darunter, dass sie ihre Aufträge zuspät oder teilweise gar nicht bezahlt bekommen. In mei-nem Wahlkreis gibt es eine große Klinik, die im Wertvon 56 000 Euro bauen lässt und dem kleinen Handwer-ker nur 31 000 Euro zahlt. Ich frage Sie: Ist das gerecht?Sie nutzt die Räume, und im Endeffekt hat der kleineHandwerker gar nicht die Möglichkeit zu klagen.Stichwort „ERP-Programm“. Hier ist die Bundesre-gierung dabei, ein originär mittelstandspolitisches För-dermittel für die Haushaltslöcher des Finanzministers zuverscherbeln.
Da sind wir mit der FDP einer Meinung. Diese Regie-rung verfolgt eine fatale Wirtschaftspolitik gegen denkleinen Mittelstand. Aber so ist es eben mit dieser Gro-ßen Koalition; wir sind da schon einiges gewöhnt. IhrePolitik für mehr Markt und weniger Staat ist Gift undführt zum Sterben von kleinen und mittleren Unterneh-men.Ich komme zum Schluss. Mittelständische Unterneh-men empfinden das sich wandelnde Finanzierungs-umfeld als Bedrohung und fürchten den Einfluss frem-den Eigenkapitals auf die eigene Entscheidungsfreiheit;Herr Zeil, Sie sagten es bereits. Dies empfinden sie zuRecht, wie die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt ha-ben. Die Regierung muss auf solche Finanzierungsins-trumente, mit denen man nur darauf aus ist, hohe Rendi-ten zu erzielen und die Unternehmen mit horrendenZinsen zu belasten, verzichten, statt sie zu fördern.In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wo-chenende. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Christian Lange hat seineRede zu Protokoll gegeben.1)
Damit kann ich dem Kollegen Gerhard Schick, Frak-tion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! In einer Phase guter Konjunktur besteht nicht nurfür den öffentlichen Bereich die Gefahr, dass man ver-gisst, welche Schwierigkeiten es im nächsten Ab-schwung wieder geben wird. Dies gilt genauso für dieUnternehmensfinanzierung.Ich finde es deswegen richtig, dass wir uns jetzt, in ei-nem Moment, in dem die meisten Unternehmen im Hin-blick auf den Kapitalzugang eigentlich nicht massiv kla-gen, trotzdem mit diesem Thema beschäftigen. Denn1) Anlage 2
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Dr. Gerhard Schickzum einen gibt es ganz spezifische Bereiche – Herr Zeil,Sie haben ein paar angesprochen –, in denen es immernoch Zugangsschwierigkeiten gibt. Das gilt insbeson-dere für den Bereich sehr innovativer und forschungs-intensiver Unternehmen. Zum anderen geht es um eineArt Vorsorge, also darum, was mit kleinen und mittlerenUnternehmen passiert, wenn die Innenfinanzierung nichtso gut abläuft wie jetzt in einem konjunkturellen Auf-schwung.Wir können vielem, was Sie in der Analyse feststel-len, auf jeden Fall zustimmen. Gerade für uns Grüne istdie Finanzierung von Innovationen vor dem Hintergrundder großen Herausforderungen, vor denen wir angesichtsdes ökologischen Umbaus unserer Wirtschaft stehen, einextrem wichtiges Thema.Ich fand vor allem den Punkt Rating interessant. Es istgut, sich genauer anzuschauen, was aus Basel II folgte.Da besteht, glaube ich, großer Beratungsbedarf bei denUnternehmen; die Kommunikation müsste anders lau-fen. Da stimme ich Ihnen auf jeden Fall zu. Ihre Forde-rungen beziehen sich in einer Reihe von Punkten im We-sentlichen auf steuerliche Förderungsmöglichkeiten.Man hat ein wenig den Eindruck, dass Sie es wie folgtsehen: Da ist ein Problem, also müssen wir die Steuernsenken. – Ich glaube, so allgemein können wir das nichtsehen.
Gerade bei der Abgeltungsteuer, die Sie ansprechen,merken wir im Moment, dass es, wenn man eine Steuer-senkung im Bereich Kapital nicht richtig justiert, nachhinten losgehen kann.Ich möchte diese Debatte nutzen, um noch einmal zuschauen, was im Moment passiert. Herr Wegner, Sie sa-gen, die Weichen seien im Koalitionsvertrag gestellt.Dazu muss ich sagen: Ein Unternehmer hat von dem,was im Koalitionsvertrag steht, erst einmal gar nichts.
Er hat etwas davon, wenn Geld fließt und wenn Gesetzeverändert werden.
Sie sollten sich nicht auf ein paar Phrasen im Koalitions-vertrag ausruhen.
Es kommt darauf an – ich hoffe, dass die Wirtschafts-politiker in der Unionsfraktion und in der SPD-Fraktionunser Ansinnen unterstützen –, zwei wichtige Korrektu-ren bei der Unternehmensteuerreform vorzunehmen.Die eine Korrektur betrifft die Frage: Was passiert denndurch die Kombination aus Unternehmensteuerreformund Abgeltungsteuer hinsichtlich der Fremdkapital- undEigenkapitalfinanzierung? Finanzierungsneutralität wirdnicht erreicht. Vielmehr begünstigen wir die Fremd-finanzierung. Das heißt, dass das Ganze nicht genauaufeinander abgestimmt ist. Wir haben Sie deswegen inunserem Antrag zum Wagniskapital aufgefordert, Justie-rungen vorzunehmen. Sie wissen, dass es da auch um dieBeibehaltung des Halbeinkünfteverfahrens geht. Auswirtschaftspolitischer Perspektive muss man, wenn manIhre Analyse ernst nimmt, da noch etwas tun.
Der zweite Punkt – auch das haben wir in unseremAntrag zum Wagniskapital geschrieben – betrifft fol-gende Frage: Wie schaffen wir es, dass innovative Inves-titionen gefördert werden? Mit den jetzigen Regelungenbeim Mantelkauf sind wir nicht zufrieden. Ich weiß, dassbei Ihnen allgemein darüber diskutiert wird. Sorgen Siejetzt dafür, dass es nicht bei Reden und Weichenstellun-gen des Koalitionsvertrages bleibt, sondern dass Sie beidieser Unternehmensteuerreform etwas Konkretes füreine bessere Finanzierung der Innovationen in Deutsch-land tun.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/3841 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 28 a und28 b sowie Zusatzpunkt 8 auf:28 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KristaSager, Kai Gehring, Priska Hinz , wei-terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNENDen Bologna-Prozess voranbringen – Qualitätverbessern, Mobilität erleichtern und sozialeHürden abbauen– Drucksache 16/5256 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
tion der LINKENFür einen sozialen Europäischen Hochschul-raum– Drucksache 16/5246 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang ThierseRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 8 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungZweiter Bericht zur Realisierung der Ziele desBologna-Prozesses– Drucksache 16/5252 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minutenerhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.Damit eröffne ich die Aussprache und erteile KolleginKrista Sager, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen,das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wis-senschaftspolitiker sind sich sicher einig, dass wir dieZiele des Bolognaprozesses unterstützen. Förderung derMobilität, internationale Vergleichbarkeit und Anerken-nung von Abschlüssen – das sind gute Ziele. Diese un-terstützen wir alle.
Die Ministerkonferenz, die nächste Woche in Londonstattfindet, ist aus unserer Sicht ein guter Ansatz, umauch die Probleme ins Visier zu nehmen und zu schauen,wo es stockt und nicht gut funktioniert. Denn dieUmstellung der Studienstruktur ist ein riesiges Re-formprojekt. Wir müssen aufpassen, dass wir die Akzep-tanz für dieses große Reformprojekt nicht verlieren. Beiden Zeitzielen und den quantitativen Zielen ist Deutsch-land sicher gut dabei; das kann man nicht anders sagen.Wir müssen jetzt aber aufpassen, dass die Qualität desStudiums und die Lernprozesse im Studium diesen ehr-geizigen Zeitzielen nicht zum Opfer fallen.
In den Ländern besteht durchaus Anlass zur Sorge.Wir können feststellen, dass die Qualität des Studiumsbei der Reform nicht überall gewahrt worden ist unddass es nicht überall gelungen ist, Qualitätssicherungund Akkreditierung zusammenzuführen. Bei der Akkre-ditierung gibt es einen Stau, und Sammelakkreditierun-gen sind keine Qualitätslösung. Oft sind Zwischenprü-fungen einfach in Bachelorabschlüsse umgewandeltworden. Oft hat eine Verschulung stattgefunden, und dieSpezialisierung erfolgte zu früh. Das darf so nicht wei-tergehen.
Ich sehe mit großer Sorge, dass der erhöhte Betreu-ungsaufwand im Bachelorstudium oft dazu führt, dassStudienanfängerplätze abgebaut werden. Auch damit ge-fährden wir die Akzeptanz dieser großen Reform. Wenndie Betreuung in den Studiengängen, die noch nicht um-gestellt sind, verschlechtert wird, dann gefährdet auchdas die Akzeptanz dieser Reform.Wenn Landesregierungen im Windschatten dieser Re-form eine Sparpolitik betreiben, die dazu beiträgt, dassdie Möglichkeit zum Übergang vom Bachelor zumMaster zum Teil nur noch bei 30 Prozent liegt,
dann ist das sicher nicht im Sinne des Erfinders und derErfinderin. Da können wir nicht ruhig zuschauen.
Diese Sparpolitik untergräbt die Reform. Deswegenmuss gegengesteuert werden.Genauso problematisch ist es, dass viele Studierendeimmer noch keine Klarheit darüber haben, wie es mit derAkzeptanz der neuen Abschlüsse in der Wirtschaftaussieht. Es gab durchaus entsprechende Kampagnen:„Bachelor welcome“, „More Bachelors welcome“. Aberdas reicht nicht. Wir müssen auch von den Sozialpart-nern fordern, dass sie Klarheit darüber schaffen, was dieStudierenden mit diesen Abschlüssen von der Wirtschafterwarten können. Wir brauchen mehr Daten und mehrInformationen. Die Londoner Konferenz muss einenBeitrag dazu leisten.Besonders schwierig wird es aber, wenn das eigentli-che Hauptziel, Mobilität, geradezu konterkariert wird.Wenn zum Beispiel die Leistungspunktsysteme, dieneu eingeführt worden sind, am Ende gar nicht ECTS-kompatibel sind oder deutsche Hochschulen dazu über-gehen, bilaterale Verträge zur Anerkennung deutscherAbschlüsse abzuschließen, dann sind das Indikatoren fürUmstellungsdefizite. Diese Umstellungsdefizite müssenangegangen werden. Wir dürfen nicht länger abwarten.
Die Mobilität wird auch eingeschränkt, wenn Pro-bleme in der sozialen Dimension hinzukommen, wennman sich aufgrund der Verengung und Verschulung desBachelorstudiums nicht für Mobilität entscheidet, son-dern dafür, zu Hause zu bleiben. Auch das entsprichtnicht der Intention dieser Reform.
Ein wichtiges Thema in London wird die Promotionsein. Wir begrüßen grundsätzlich, dass die Promotion inden Bolognaprozess einbezogen wird. Wir erwarten aberauch, dass Sie, Frau Ministerin, sich dafür einsetzen,dass der Zugang zur Promotion vielfältig bleibt, dass es
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Krista Sagerein freier Weg bleibt und der Weg nicht verschult wird.Ich glaube, auch darin sind wir uns einig.
Ich appelliere weiter an Sie: Sorgen Sie dafür, dassdas Bolognakompetenzzentrum bei der Hochschulrekto-renkonferenz erhalten bleibt. Ich appelliere ausdrücklichan alle nationalen Bolognaakteure, an die Teilnehmerder nationalen AG: Gehen Sie die Defizite gemeinsam,koordinierter und sehr viel entschiedener an. Die Akzep-tanz dieses großen Reformvorhabens darf an den Hoch-schulen nicht verloren gehen. Das wäre ein großer Scha-den.
Für die Bundesregierung hat die BundesministerinDr. Annette Schavan das Wort.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! In der Tat ist die Konferenz,die in der nächsten Woche in London stattfindet, einegute Gelegenheit für eine Zwischenbilanz. Denn derZeithorizont, der vor einigen Jahren beschlossen wordenist, ist ungewöhnlich ehrgeizig. Deshalb stimme ich al-len zu, die sagen, in London kann es nicht darum gehen,den Bolognaprozess zu feiern, sondern wir müssenselbstkritisch fragen, wo man angesichts der Erfahrun-gen der mittlerweile 45 beteiligten Länder von Problem-punkten sprechen muss.Dabei muss klar sein: Der Bolognaprozess bedeutetnicht die Harmonisierung von Studiengängen. Er bedeu-tet vielmehr Transparenz und damit verbunden Über-setzung, um in den 45 Ländern zu einer wechselseitigenAnerkennung der erbrachten Studienleistungen zu kom-men. Dieses wiederum ist die Voraussetzung für Mobili-tät.Das Kabinett hat Anfang Mai den Zweiten Berichtzur Realisierung der Ziele des Bolognaprozesses vorge-legt bekommen und hat ihm zugestimmt. Es gibt die po-sitive Nachricht, dass 48 Prozent der Studiengänge inDeutschland umgestellt sind. Allerdings sind davon erst12 000 Studierende betroffen. Das hat damit zu tun, dasswir in den großen Fachbereichen – Jura und den Heilbe-rufen – noch nicht so weit sind. Bei den Juristen gibt esklare Schulen und klare Fronten.
Die Frau Kollegin Justizministerin ist ganz anderer Mei-nung als diejenigen, die diesen Prozess vorantreibenwollen. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Die Schweiz bei-spielsweise hat umgestellt.
Sie haben die Mobilität angesprochen. Da muss manganz realistisch fragen: Welches werden künftig dieklassischen Zeitpunkte für Mobilität sein? Das wird sichimmer mehr in die Zeit zwischen Bachelor und Masterverlagern. Um hier mehr Internationalisierung zu er-möglichen, muss in Gesprächen unter den Mitgliedslän-dern im Hinblick auf die Struktur Klarheit geschaffenwerden. Meine Prognose ist: Die Mobilität wird alleinmit den bisherigen Schritten nicht erreicht werden. Daswird nur gehen, wenn mehr Hochschulen an diesem Pro-zess beteiligt sind und wenn es konkrete Vereinbarungengibt – europäische Angebote oder sogar internationaleAngebote für Studierende –, damit man zwischen dendrei Jahren dieses Bachelorstudiums unterscheiden kann.Zu Ihrer konkreten Frage nach dem Servicezentrumfür diesen Prozess: Es steht fest, dass es ab 1. Juli diesesJahres ein Nachfolgeprojekt für dieses Servicezentrumgeben wird, das wie bislang der Hochschulrektorenkon-ferenz angegliedert und bis 2010 weiter vom Bund ge-fördert wird.
Das halte ich für notwendig; denn wir sind mitten imProzess.Natürlich werden Fragen nach der Weiterentwicklungdes Akkreditierungssystems gestellt. Es gibt großeUniversitäten, die sagen: Das könnten wir eigentlichselbst machen. Ferner gibt es die Frage der Systemak-kreditierung. Um all dies wird es in London gehen.Schließlich werden wir auch in Deutschland Fragenklären müssen. Wir müssen zum Beispiel wegkommenvon der rigiden Festlegung, dass ein Bachelorstudiumdrei Jahre umfasst. Hier braucht es Spielraum; darüberwerde ich mit den Ländern sprechen.
Nur „Drei Jahre plus zwei Jahre“ ist falsch.
Auch das muss unter den 16 Ländern rasch geklärt wer-den, damit man nicht Probleme bei der Anerkennung be-kommt.
Zum Thema Betreuung kann ich nur sagen: Wir brau-chen nicht weniger Studienplätze in Deutschland, wirbrauchen mehr Studienplätze in Deutschland.
Dafür tut der Bund mit Ihrer aller Unterstützung viel.Man muss aber auch sagen: Der Wettbewerb derUniversitäten wird auch ein Wettbewerb um Qualitätsein.
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Bundesministerin Dr. Annette SchavanWer die schlechtere Qualität hat, fällt irgendwann hintenherunter.So gehe ich auf die Konferenz nach London. Ich bingerne bereit, das Parlament im Anschluss an die Konfe-renz über die Ergebnisse zu unterrichten.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Cornelia
Pieper das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen –ganz besonders an Herrn Tauss gerichtet!
Frau Ministerin, ich gebe Ihnen recht: Die Kriterien fürden Bolognaprozess sind Qualität, Wettbewerb und Mo-bilität.Wenn ich den Antrag der Linken „Für einen sozialenEuropäischen Hochschulraum“ lese, dann bekomme ichBedenken, ob sie unsere Meinung hinsichtlich dieserKriterien für den Bolognaprozess mit uns teilen; denn siewollen verhindern, dass die Universitäten, die Hoch-schulen zukünftig aus eigenem Willen – wenn sie dennautonom gestellt sind – Studiengebühren bzw. Studien-entgelte erheben können.
Ich sage ganz klar: Das wollen wir Liberale nicht. Füruns ist das ein Kriterium des Wettbewerbs. Um das klar-zustellen: Die Universitäten, die Hochschulen könnendie Studienentgelte selbst einfordern, müssen das abernicht. Wenn sie das tun, dann geschieht das natürlich,um die Qualität der Lehre und insbesondere auch dieStudienbedingungen für die Studierenden zu verbessern.Deswegen lehnen wir den Antrag der Linken ab, mitdem sie eben nicht auf Wettbewerb zwischen autono-men Hochschulen in Europa setzen.
Meine Damen und Herren, in der vergangenen Wochehat sich das Bundeskabinett mit den Ergebnissen des Bo-lognaprozesses auf der Grundlage des NationalenBerichts 2005 bis 2007 für Deutschland befasst. Es zeigtsich beim genauen Hinsehen, dass wir die eigenen Inte-ressen gegenüber einer scheinbar unausweichlichen Glo-balisierung der Hochschullandschaft über Jahre hinweghintangestellt haben.Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Das Ziel, ei-nen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zuschaffen, teile ich. Ein erster Schritt war die imMai 1998 in Paris unterzeichnete sogenannte Sorbonne-Erklärung zur Schaffung eines gemeinsamen Rahmensfür die europäischen Bildungssysteme. Es war der ge-meinsame Wille, bestehende Schranken abzubauen undallgemeine Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Ab-sicht, ein gemeinsames System der gegenseitigen Aner-kennung von akademischen Abschlüssen und Leistun-gen zu schaffen, war und ist richtig.Konkret wurde es, als die europäischen Bildungsmi-nister im Juni 1999 die Bolognaerklärung zur Schaffungeines Europäischen Hochschulraums bis zum Jahr 2010und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas alsBildungsstandort unterzeichneten. Jetzt, im Jahre 2007,müssen wir darüber nachdenken, wie weit wir von derZiellinie entfernt sind und ob wir das Kernanliegen vonBologna wirklich umgesetzt haben.Rufen wir uns die zentralen Punkte noch einmal insBewusstsein. Es ging um die Schaffung eines Systemsleicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse. Dassollte uns leiten. Darin eingebunden war die Absicht, einzweistufiges System von Studienabschlüssen zu entwi-ckeln, ein Leistungspunktesystem einzuführen, die Mo-bilität durch die Beseitigung von Mobilitätshemmnissenzu fördern und Qualitätssicherungssysteme zu schaffen.Im sogenannten Prager Kommuniqué wurde 1999 diePrioritätenliste für die kommenden Jahre festgelegt. Nunfanden auch Überlegungen zum lebenslangen Lernenund zur Steigerung der Attraktivität und Wettbewerbsfä-higkeit des europäischen Hochschulraums Aufnahme.Deutschland muss jetzt im Rahmen seiner europäi-schen Ratspräsidentschaft Zeichen setzen. Das wirdnicht leicht sein. Gemeinsam mit Großbritannien werdenwir in der nächsten Woche den Vorsitz der Ministerkon-ferenz in London, einer entscheidenden Bolognanachfol-gekonferenz, innehaben.Meine Vorrednerinnen haben schon gesagt, dass ausLondon Ungemach droht. Der Bildungsausschuss desbritischen Unterhauses hat grundlegende Veränderungender Bolognavereinbarungen gefordert. Kernpunkte derKritik waren eben jene Prozesse, die zu einer nicht ge-wollten Uniformierung des europäischen Hochschul-raums und zu einer bürokratischen Überregulierung füh-ren werden.Wir müssen die Kritik aus London durchaus ernst neh-men; denn auch wir verfolgen das Ziel, die Selbstständig-keit oder auch Autonomie der einzelnen Hochschule zustärken, so, wie wir das im Hochschulfreiheitsgesetz inNordrhein-Westfalen zum Ausdruck bringen.
– Herr Tauss, die Botschaft, die auch wir teilen, lautet:kein Bologna von oben. – Ich möchte noch einmal beto-nen: Niemals war die Rede von Vereinheitlichung desSystems, sondern immer von Vergleichbarkeit undVereinbarkeit.
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Cornelia PieperWas spricht eigentlich gegen traditionelle und regionalgeprägte Ausbildungswege, wenn die Vereinbarkeit derAbschlüsse gesichert ist?
Ist das europäische Kreditpunktesystem wirklich derSchlüssel zur Vergleichbarkeit von Studienleistungen,oder wird dadurch nicht eher nur die Anwesenheit inVorlesungen und Seminaren ausgedrückt? Die Europäi-sche Kommission hat offensichtlich auch Zweifel; dennsie hat zugestimmt, das Kreditpunktesystem zu bear-beiten. Ob und inwieweit das System des nationalenQualifikationsrahmens, der sich an den Lernergebnis-sen vergleichbarer Hochschulabschlüsse orientiert, dasWohlwollen der anderen Europäer findet, wird sich zei-gen.Eine Position der Briten sollten wir in London aberunbedingt unterstützen: Die Promotionsphase darf kei-nesfalls – darin gebe ich Ihnen recht, Frau Sager – durchdie Anwendung des Kreditpunktesystems verschult wer-den. Das würde dem Sinn der Promotionsphase als eineswichtigen Schritts in eine Wissenschaftslaufbahn zuwi-derlaufen.
An einem Doktorandenstudium kann wirklich niemandin Europa interessiert sein. Wir sollten die mahnendenWorte aus den Technik- und Ingenieurwissenschaftenernst nehmen.Überzeugungsarbeit muss aus meiner Sicht in Londonauch geleistet werden, wenn es darum geht, die Forde-rung der deutschen Hochschulrektorenkonferenz zu un-terstützen, ein europäisches Register für Akkreditie-rungsagenturen einzuführen.
Kollegin Pieper, wir schließen die Debatte heute nicht
ab. Ich bitte Sie deshalb, zum Schluss zu kommen.
Gut, Frau Präsidentin. – Das unterstützen wir, und wir
wünschen der Ministerin bei den Verhandlungen in Lon-
don viel Glück.
Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann für
die SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte FrauPräsidentin, Sie haben eben darauf hingewiesen, dasswir die Debatte heute nicht abschließen. Wir haben sieheute aber auch nicht begonnen. Der Bolognaprozessläuft seit 1999. Wir haben schon 2003 und 2005 Debat-ten geführt. 2007 debattieren wir jetzt erneut, und zwarendlich wieder vor der Konferenz statt hinterher. Daslässt darauf hoffen, dass wir noch Einfluss nehmen kön-nen, wenn Frau Schavan und Frau Erdsiek-RaveDeutschland auf der Konferenz vertreten.
Im Übrigen ist festzustellen, dass diese Debatten im-mer stärker konsensorientiert verlaufen. Ich will nichtkleinlich sein; man soll schließlich mit einem Lobschließen. Wenn man bedenkt, dass es bei der ersten Dis-kussion zum Hochschulrahmengesetz eine große Kraftgab, die nicht einmal die Verpflichtung zur Bachelor-Master-Struktur im Hochschulrahmengesetz verankernwollte, sind wir inzwischen sehr weit gekommen. Dennjetzt geht es schon manchen nicht mehr schnell genug.Die Oberkritiker von damals – Baden-Württemberg undBayern – wollen jetzt die Weiterentwicklung als beson-ders dringlich schnell und zwingend vorantreiben.Ich erinnere mich auch an Debatten, in denen ein Mi-nisterpräsident aus Hessen gegen das, was wir alle heutebegrüßen – nämlich dass der Bund ein solches Service-kompetenzzentrum fördert –, beim Bundesverfassungs-gericht geklagt hat.
Wir haben hier eine Debatte geführt, in der Herr Rachel,der jetzt als Staatssekretär neben unserer Ministerin sitzt,vehement in die Tonlage des hessischen Ministerpräsi-denten mit eingestimmt hat. Inzwischen ist wieder allesgut, weil jetzt auf der Regierungsbank das Sein das Be-wusstsein bestimmt und neue Einsicht gedeiht.
Ich erinnere mich auch daran, dass es seinerzeit bei-nahe infrage gestellt worden wäre, dass eine Bundesmi-nisterin Deutschland auf der Konferenz in Bergen mitvertreten könnte. Daran haben wir nie gezweifelt. Des-wegen freuen wir uns auch, Frau Schavan, dass Sie jetztzusammen mit Frau Erdsiek-Rave Deutschland vertre-ten.
Insoweit sind wir auf einem guten Weg zum Konsens.Wir sind gleichzeitig auf dem Weg zur Normalität. Icherinnere an die Feststellung von Frau Selg in einer frühe-ren Debatte, je mehr Länder beteiligt seien, destoschwieriger werde es, den Prozess konsequent fortzuset-zen. Sie dachte vor allem daran, dass Länder wie Arme-nien und Aserbeidschan diesen Prozess stören könnten,was die Gemeinsamkeit angeht.In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wird überdas berichtet, was im englischen Bildungsausschuss ak-tuell dazu beschlossen wurde. Die Gegensätze zwischenEngland und Armenien – das eine ist ein Kernland; dasandere wird eher abschätzig betrachtet – zeigen, dass derBolognaprozess an Flexibilität gewinnen kann. Wir un-terstützen deshalb ausdrücklich Ihre Absicht, Frau Mi-nisterin, die strenge Regelung, den Bachelor nach dreiJahren und den Master nach einem weiteren Jahr oderspätestens nach zwei weiteren Jahren vorzusehen, auch
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Dr. Ernst Dieter Rossmannim Interesse der Unterschiede zwischen den Ländern zulockern. Wir meinen, das ist eine gute Weiterentwick-lung,
weil sie auch berücksichtigt, dass mit dem Bolognaab-kommen von Anfang an ein Prozess verabredet wordenwar, der zu einer Verbesserung der Strukturen, derLehre, zu mehr Berufsorientierung, Kooperation und In-ternationalität führen sollte.Sie haben in dem vorgelegten Bericht vier Schwer-punkte für Ihre Einwirkung in diesen Prozess, der inLondon fortgesetzt wird, genannt: die Struktur, dieQualität, die Doktorandenausbildung und die soziale Di-mension. Aus sozialdemokratischer Sicht will ich gerneanmerken, dass die Fraktion der Grünen dankenswerter-weise einen sehr profunden Antrag eingebracht hat. Vonder Analyse bis zur Vielfalt der Ideen schließen wir unsdem im Grundsatz gerne an. Das sage ich ausdrücklichan die Adresse dieser Fraktion, die in diesem Fall eigent-lich gar nicht Opposition ist.Frau Ministerin, Sie möchten gerne an einer Vertie-fung der Strukturdebatte mitwirken und haben selberdie Frage aufgeworfen, wie es in Deutschland um dieStudiengänge bestellt ist, die mit dem Staatsexamen ab-geschlossen werden. Wir stimmen Ihrer mutigen Ankün-digung zu, dass man auch an die Juristenausbildung– diese ist im Koalitionsvertrag noch ausdrücklich aus-geschlossen – denken müsse. Wir freuen uns, dass wirhier mit Ihnen über den Koalitionsvertrag – er ist ja nichtsakrosankt – hinausgehen können. Aber ist das eigentli-che Problem nicht die Lehrerausbildung in Deutsch-land? In Deutschland gibt es 90 000 Jurastudenten, aber200 000 Lehramtsstudenten. Eine konzertierte, abge-stimmte Gestaltung des Lehramtes hätte eine gewaltigeSignalwirkung, gerade was die Attraktivität dieses Beru-fes angeht. Wenn Sie zusammen mit uns in der Kultus-ministerkonferenz das hinbekämen, dann wäre das eineGroßtat für über 200 000 junge Menschen, die auf einsolch schönes Ausbildungsziel hinstudieren.
Sie haben des Weiteren mehr Akzeptanz in der Wirt-schaft gefordert. Die Akzeptanz in der Wirtschaftwächst, wenn wir dokumentieren können, dass dieAkzeptanz im öffentlichen Dienst zunimmt.
Meine Bitte ist: Lassen Sie Bund und Länder dokumen-tieren, welches positive Einstellungsverhalten die öffent-liche Hand in Bezug auf Bachelor- und Masterab-schlüsse hat. Mit einer solchen positiven Dokumentationkönnen wir der Wirtschaft zeigen, was wir von einemguten Bachelor- und Masterabschluss halten.
Sie haben zudem die Qualitätssicherung angespro-chen. Es kursieren mehrere Begriffe wie Programmak-kreditierung, institutionelle Akkreditierung und – neuer-dings – Prozessakkreditierung. Wir sollten einesfesthalten: Entscheidend muss bleiben, dass es sich umeine neue Qualität und nicht nur um einen Wechsel derLeitbegriffe handelt. Der Grundsatz „Qualität geht vorSchnelligkeit“ bedeutet in einer Politik, in der sich kon-servative und fortschrittliche Elemente auf ein gemein-sames Ziel einigen, einen gemeinsamen Rückhalt. DieseOrientierung mag sich – genauso wie es die Hochschul-rektorenkonferenz angeregt hat – auf die Qualität einerHochschule in den verschiedenen Evaluationen und Ver-gleichbarkeiten beziehen. Aber Ihr Vorschlag, meine Da-men und Herren von der Fraktion der Grünen, dass dasvor allem fachbereichsbezogen ernst genommen werdenmüsse, ist bedenkenswert. Eine Hochschule ist gewaltiggroß. Daher wäre etwas gewonnen, wenn sich der Pro-zess auf Fachbereiche bezöge.Sie haben des Weiteren die Intensivierung der inter-nationalen Vernetzung angesprochen. Wir von der SPDmöchten hier auf einen Vorschlag zurückkommen, denwir 2005 zusammen mit den Grünen in die Debatte ein-gebracht hatten. Kann eine Verbesserung der Akkreditie-rung nicht auch durch einen Austausch internationalerAkkreditierungsexperten erreicht werden, um über denpersonellen Austausch Homogenität bzw. Annäherungim Verständnis zu erzielen? Frau Ministerin, diese Ideemöchten wir Ihnen gerne auf den Weg mitgeben. DerPool, den der Zusammenschluss der Studierenden ge-schaffen hat, die sich am Akkreditierungsprozess beteili-gen, mag dafür ein kleines deutsches Vorbild sein.
Eine weitere Zielrichtung, die die Bundesregierungfür London vorgibt, ist die Strukturierung der Doktoran-denausbildung. Wir teilen das voll und ganz, und zwarauch unter dem Gesichtspunkt, dass der Lissabonprozessmit dem großen Ziel, den wissensbasierten Wirtschafts-raum in Europa zum Blühen zu bringen, daran scheiternkönnte, dass uns 500 000 Wissenschaftler – das steckteigentlich hinter dem Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlands-produkts für Forschung und Entwicklung auszugeben –fehlen. So viele Wissenschaftler kann man allerdings nurgewinnen, wenn man nicht nur Bachelor- und Masterstu-diengänge einrichtet, sondern auch die Exzellenz und dieDoktorandenausbildung weiterentwickelt. Es ist extremwichtig, dass das miteinander verbunden wird.Sie kennen es schon: Die soziale Dimension kommtbei uns Sozialdemokraten immer zum Schluss, weil sievon zentraler Bedeutung ist. Sie kommt freudvoll, wennes um die Perspektiven geht, die wir in Sachen BAföGschaffen konnten. Sie grenzt uns an einer Stelle aller-dings von der Fraktion Die Linke ab. Wir sind genau wieSie gegen Studiengebühren; aber wir würden Studien-gebühren nicht zum Ausschlusskriterium machen, wennes um die Teilhabe am Bolognaprozess geht.
Deshalb ist Ihr Antrag an der Stelle zu kurz gedacht,oberflächlich und in der Sache nicht zu akzeptieren.
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Dr. Ernst Dieter RossmannIch komme abschließend zu zwei Punkten aus demKonzept der Grünen, die wir gerne aufnehmen.Erstens. Wir finden es gut, dass Sie die Frauenförde-rung – vom Bachelor bis zum Doktoranden- und Habili-tationsstadium – noch einmal thematisiert haben. Kön-nen wir nicht das Versprechen, einen großen Schritt inSachen Krippen – Vereinbarkeit von Beruf und Familie –zu machen, als Erstes ganz konkret im Hinblick auf dieVereinbarkeit von Studium und Familie einlösen?Kann auch das Teil eines Bund-Länder-Programmessein? Wir wollen nicht allein ein Frauenförderprogrammin Bezug auf Professorinnen auflegen – wir haben zurKenntnis genommen, dass Sie an einem solchen Pro-gramm arbeiten –, sondern wir wollen auch ein gezieltesAusbauprogramm mit dem Ziel der Vereinbarkeit vonStudium und Kindern entwickeln. Unseres Erachtens istdie Umsetzung Ihrer Idee wünschenswert.Zweitens. Unter Ziffer 18 sprechen Sie die „europäi-sche Dimension“ an. Vielleicht knüpfen Sie damit an dieFrage an, über die etwa an der Reformuniversität Lüne-burg oder anderswo nachgedacht wird: Könnte es so et-was wie eine Einstiegsphase, eine Kollegphase geben?Darüber muss man nachdenken. Wir finden es aber auchwichtig, die europäische Dimension inhaltlich zu be-schreiben, weil Bologna nicht zu einem Synonym für einSystem verkommen darf; Bologna muss als Synonymfür eine positive Haltung zu einem europäischen und in-ternationalen Hochschullebensweg stehen.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit.Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Konferenz in Lon-don, bei der Sie Ihre Anliegen voranbringen.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Hirsch das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben es gehört: Das zentrale Ziel im Bolognapro-zess war und ist europaweite Vergleichbarkeit im Stu-dium. Das Ganze ist natürlich nicht als Selbstzweck ver-folgt worden, sondern war mit dem Versprechen anStudierende, an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-ler verbunden, europaweite Mobilität zu ermöglichen.Wir können uns jetzt anschauen, was einige Jahrenachdem der erste Anstoß gegeben wurde, daraus ge-worden ist. Frau Sager hat richtigerweise darauf hinge-wiesen, dass das mit der Mobilität noch nicht ganz sofunktioniert, wie man sich das vorgestellt hat. Ganz imGegenteil!Man hat den Studierenden versprochen: Wenn du bei-spielsweise in Berlin angefangen hast, zu studieren, kannes klappen, dass du ein Auslandssemester in Warschaumachst und danach vielleicht dein Studium in London,Mailand oder anderswo beendest. Mittlerweile ist es soweit gekommen, dass die Studierenden feststellen: Ichkann nicht einmal mehr zwischen Berlin und Konstanzoder zwischen Berlin und Rostock oder zwischen Ham-burg und Tübingen wechseln, weil die Studiengänge inkeiner Form mehr zusammenpassen.Das Studium ist nicht nur unübersichtlicher geworden– es gibt einfach in jedem Bundesland und fast an jederHochschule unterschiedliche Konzepte –, sondern dieStudienverläufe sind auch extrem unflexibel geworden.Wenn Studierende beispielsweise in Jena anfangen, Poli-tikwissenschaft zu studieren, und dann versuchen, aufeine andere Hochschule zu wechseln und dort wiederreinzukommen, dann passiert es unglaublich oft, dass ih-nen gesagt wird: Im zweiten Semester fehlt dir aber ir-gendein Modul XY. Obwohl du im sechsten Semesterbist, kannst du dann im Prinzip wieder ganz von vorneanfangen.Das halten wir für komplett verkehrt. Frau MinisterinSchavan, wir sehen aber nicht, dass Sie an dieser Logikin irgendeiner Form etwas ändern wollen. Ganz im Ge-genteil: Wir haben am Mittwoch von Ihnen gehört, dassdas Bundeskabinett beschlossen hat, den Entwurf einesGesetzes zur Abschaffung des Hochschulrahmenge-setzes vorzulegen. Wir haben auch festgestellt, dass esdann einzelnen Bundesländern möglich ist, aus dem jetztexistierenden System der Qualitätssicherung auszustei-gen, wenn sie das wollen. Es hat mit Mobilität, die maneuropaweit erreichen will, wirklich überhaupt nichtsmehr zu tun, wenn man dieses Ziel schon im eigenenLand über den Haufen wirft.Wir können also feststellen: Das zentrale Versprechenin Verbindung mit dem Bolognaprozess ist gebrochen;das Gegenteil des Versprechens ist eingetreten. Das hal-ten wir für falsch.
Der zentrale Grund dafür, dass wir, Die Linke, heuteden Antrag vorgelegt haben, den Bolognaprozess aufeine neue Grundlage zu stellen und einen neuen Auf-schlag zu machen, ist aber nicht, dass die europaweiteMobilität offensichtlich nicht funktioniert. Aus unsererSicht fehlt bei dieser ganzen Thematik bisher die sozialeFrage. Frau Sager und Herr Rossmann haben zwar da-rauf hingewiesen, dass dieser Prozess durchaus eine so-ziale Dimension beinhalte, aber was steht dort dahinter?Frau Sager, ich kann an Ihrem Antrag konkret deut-lich machen, was uns fehlt. Sie führen in einem von19 Punkten aus, dass Sie ein bisschen mehr Wohnheime,ein bisschen mehr Beratung wollen. Sie freuen sich überdie Verbesserung bei der Mitnahme von Auslands-BAföG. Ganz davon abgesehen, dass sich das Auslands-BAföG nach dem, was die Bundesregierung gerade vor-gelegt hat, verschlechtert, ist der zentrale Fehler, dassSie in Ihrem Antrag gleichzeitig den Bolognaprozess alseinen wesentlichen Bestandteil der Lissabonstrategie se-
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Cornelia Hirschhen. Zur Lissabonstrategie gehören aber auch die Emp-fehlungen der EU-Kommission zur Einführung von Stu-diengebühren
und zu mehr Public Private Partnership im Hochschul-bereich. Das hat mit einer sozialen Grundlage für einensolchen Prozess überhaupt nichts mehr zu tun. Das istnur soziales Beiwerk, das hinzugefügt wurde.
Ich frage Sie nun: Was bringt es den Studierendenoder den an einem Studium Interessierten, wenn so et-was gemacht wird? Man sagt ihnen: Ihr dürft jetzt Stu-diengebühren bezahlen, und wir versuchen es irgendwiehinzukriegen, dass das Geld tatsächlich in die Hochschu-len fließt, was wahrscheinlich nicht eintreten wird. Dafürhabt ihr eine tolle Studienberatung.Soziale Ungleichheit werden Sie auf diese Weisenicht abbauen können.
Deshalb sagen wir als Linke: Dieser Prozess brauchteine neue Grundlage. Das könnte der UN-Sozialpaktsein, in dem unter anderem Gebührenfreiheit festgelegtwird. Das ist dann kein Ausschlusskriterium, sondern einVersuch, gerade im Hochschulbereich einen sozialenRaum zu schaffen. Das könnte der Anstoß sein, um ins-gesamt für ein soziales Europa zu streiten. Darummüsste es uns allen gemeinsam gehen. Die Frau Ministe-rin hätte die Möglichkeit, das in London einzubringenund darauf hinzuwirken. Wir wünschen uns stark, dassSie das tun. Dazu hätten Sie unsere volle Unterstützung.Danke schön.
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anette
Hübinger das Wort.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Da-men und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt aus-drücklich den voranschreitenden Bolognaprozess, dersich, wie im vorgelegten Bericht nachzulesen ist, auf ei-nem guten Weg befindet. Der Bericht zeigt, dass wir unsim europäischen Vergleich nicht zu verstecken brauchen.Der Bolognaprozess bedeutet tiefgreifende Veränderun-gen und große Herausforderungen für das deutscheHochschulsystem. Darauf wurde heute schon mehrfachhingewiesen. Er bedeutet aber auch – das ist das Wich-tige für mich – große Chancen. An diesen Chancen soll-ten wir uns orientieren.Die Probleme, die sich bei der Umsetzung eines ge-meinsamen europäischen Hochschulraumes ergeben,sind erkannt und werden im vorgelegten Bericht be-nannt. Die an diesem Prozess beteiligten Akteure wer-den ihn auch in der Zukunft kritisch begleiten; denn wirwissen, wie wichtig für die Entwicklung und Wettbe-werbsfähigkeit unseres Landes eine vielseitige, qualita-tiv hochwertige und auch berufsorientierte Ausbildungunserer jungen Menschen ist. Die globalisierte Welt for-dert eine verstärkte Mobilität und die Bereitschaft dazu.Hier eröffnen die Bachelor- und Masterstudiengängeim europäischen Hochschulraum Chancen, die nochmehr gefördert werden müssen.
Der vorgelegte Bericht zeigt Wege hierfür auf, wie dieEinbindung von Auslandsaufenthalten in die Curricula.Weitere Wege hat Frau Ministerin heute angesprochen.Verehrte Kollegen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Sie benennen in Ihrem Antrag bestehendeProbleme bei der Umsetzung des Bolognaprozesses undwiederholen damit lediglich die bereits im vorgelegtenBericht dargestellten Herausforderungen. Ferner spre-chen Sie von einer verschlechterten Ausgangsbedingungdurch die Föderalismusreform I. Sie verkennen meinesErachtens damit die Chancen, die sich aus der Kompe-tenzverlagerung auf die einzelnen Bundesländer erge-ben.
Durch den Bolognaprozess soll das Hochschulstudiuminternationalisiert werden. Die Internationalisierung sollgerade nicht mit einer Uniformität der neuen Studien-gänge einhergehen. Vielfalt an neuen und unterschiedli-chen Studiengängen ist gewollt.
Wettbewerb der Hochschulen, national wie auch inter-national, bringt uns nach vorne.
Die Bundesregierung nimmt mit dem Hochschulpaktzwischen Bund und Ländern und der anstehenden No-velle des BAföGs Verantwortung im Rahmen ihrerKompetenzen wahr und leistet einen wichtigen Beitragzur erfolgreichen Umsetzung dieses Prozesses. Die Ak-zeptanz der Bachelor- und Masterabschlüsse in derGesellschaft und in der Wirtschaft muss jedoch weiterzunehmen; auch das wurde heute schon festgestellt. Die-ses Ziel wird in dem vorgelegten Bericht klar zum Aus-druck gebracht. Die Erklärungen führender deutscherUnternehmen unter dem Motto „Bachelor welcome!“und „More Bachelors and Masters welcome!“ sind– Frau Sager hat darauf hingewiesen – daher zwar erste,aber keine ausreichenden Schritte.Meine Damen und Herren von der Fraktion DieLinke, Sie verkennen in Ihrem Antrag, dass der gleich-berechtigte Zugang zu den Hochschulen in unseremLand gesetzlich garantiert ist.
Ferner wird den sozialen Bedürfnissen der Studierendendurch unterschiedliche finanzielle Unterstützungenheute weitgehend Rechnung getragen: sei es das BAföG,das durch die anstehende Novelle den neuen Herausfor-
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Anette Hübingerderungen angepasst wird, sei es die indirekte Studienfi-nanzierung durch die Studentenwerke oder seien es dieunterschiedlichen Stipendien, die an die Studierendenvergeben werden.Die Mobilität, die ein zentrales Ziel des Bolognapro-zesses ist, wird zum Beispiel durch Stipendien des Deut-schen Akademischen Austausch-Dienstes und das Eras-mus-Programm gefördert.
Weiterhin verkennen Sie, Kollegen der FraktionDie Linke, dass weite Bereiche der Hochschulpolitik – soauch die Studienfinanzbeiträge von Studierenden – heutein die Kompetenz der Länder fallen.Abschließend ist zu sagen: Die Verwirklichung derZiele des Bolognaprozesses ist nicht durch staatliche Re-gulierung, sondern nur durch eine Erweiterung der Auto-nomie der einzelnen Hochschulen zu erreichen.
Diesen Weg wird die CDU/CSU-Fraktion gemeinsammit unserer Ministerin auch in der Zukunft verfolgen.Wir wünschen der Ministerin in London viel Erfolg.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5256, 16/5246 und 16/5252 zu
überweisen: zur federführenden Beratung an den Aus-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss,
an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales, an den Aus-
schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, an den
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Eu-
ropäischen Union. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der FDP und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Finanzie-
rung des geplanten Ausbaus von Kinderkrip-
pen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Ina Lenke für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am19. März las ich in der „FAZ“ die Überschrift: „Von derLeyen kündigt eigene Finanzierungsvorschläge für Krip-pen an“. Zwei Monate später liegt immer noch keinKrippenkonzept vor. Als die Opposition dieses Thema inder letzten Sitzungswoche auf die Tagesordnung desBundestages setzte, fehlte die Ministerin und schwiegder Staatssekretär. Jeden Tag ein neues Interview, und je-des Mal macht die Ministerin einen neuen Finanzie-rungsvorschlag für die Betreuung von Kindern unter dreiJahren.Von der Leyen versprach zuerst Zuschüsse des Bun-des in Höhe von 3 Milliarden Euro. Dann sollten es600 Millionen Euro nur für Investitionen sein. Nebenbeigefragt: Was ist eigentlich mit den Tagesmüttern und Ta-geseltern? Danach war die Rede von 4 Milliarden Euroaus dem Bundeshaushalt. Gestern kündigte die Ministe-rin beim Deutschen Landkreistag an, der Bund werdesich nicht nur an den Investitionen beteiligen, sondernauch an den Betriebskosten für Krippen.
– Frau Kressl, ich finde es sehr schön, dass Sie mit dem,was die Ministerin macht, einverstanden sind.Von Tagesmüttern, die in die Planung bereits zu ei-nem Drittel eingebunden sind, ist nicht die Rede. Investi-tionen in Krippenplätze helfen Tagesmüttern und -väternüberhaupt nicht.
So ein Chaos wie in dieser Großen Koalition habe ichin meiner Zeit im Deutschen Bundestag seit 1998 bishernoch nie erlebt.
– Herr Tauss, wir beide kennen uns ja. Hören Sie lieberzu, dann können Sie noch etwas lernen.
– Das war nicht ernst gemeint.Der Gipfel ist der Vorschlag, eine Krippenstiftung zugründen. Sollen es künftig Stiftungsbeiräte oder andereGremien in dieser Stiftung sein, die entscheiden, wie dasGeld ausgegeben wird? Die Kommunen sollen auchGeld in diese Stiftung geben. Damit entmündigt man dieverantwortlichen Kommunalpolitiker, die vor Ort indivi-duelle Lösungen finden sollen.
Unserer Meinung ist auch der Deutsche Landkreistag.Dieser hat sich – genau wie die FDP – für eine Finanzie-rung der Krippenplätze über die Mehrwertsteuer ausge-sprochen, denn das ist verfassungsrechtlich einwandfreiund kollidiert nicht mit der Föderalismusreform. Heuteerwarten wir – insbesondere die Opposition – eine Aus-
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Ina Lenkesage der Bundesregierung dazu, wie sie die Finanzierungder Krippenplätze, der Tagesmütter usw. handhabenwird.Die Menschen sind es leid – ich habe das wirklichselbst gehört –, dass sich die Große Koalition Tag fürTag unproduktiv streitet und auf dem Rücken von Elternund Alleinerziehenden parteipolitische Süppchen ge-kocht werden.
– Das ist so; seit Wochen geht das so.
Das FDP-Konzept für eine bessere Betreuung fürKinder unter drei Jahren will mehr Wahlfreiheit und Fle-xibilität für Eltern. Dringend benötigen wir mehr ge-werbliche Anbieter, Elterninitiativen und Betriebskitas.Meinen Kollegen aus den neuen Bundesländern, in de-nen ich auch oft bin, möchte ich sagen: Es gibt dort im-mer weniger kommunale Kitas, denn diese werden im-mer öfter auch von anderen Anbietern übernommen.
Ein Blick in das Sozialgesetzbuch VIII zeigt, dass derGesetzgeber gar keine Wahl mehr hat, Frau Marks. DerGesetzgeber hat die Pluralität der Einrichtungen gefor-dert und sichergestellt.
Die SPD zeigt gerade im Ausschuss – aus den Aus-schusssitzungen darf ich ja nicht zitieren –, dass sie diesegesetzliche Bestimmung ignoriert und allem misstraut,was der Staat nicht selbst organisiert. Unser Finanzie-rungskonzept ist einfach und klar. Mit unserem Sofort-programm wollen wir den Kommunen vorab aus demMehrwertsteuertopf 1 Prozent mehr geben; das sindjährlich 1,5 Milliarden Euro.Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, NorbertWalter, warnt Sie vor Fehlinvestitionen. Auf Effizienzmüsse geachtet werden. Ich zitiere Herrn Walter:Hier sollte der Staat auf Privatisierung setzen.Das ist ein Teil unseres Lösungsvorschlags. Das be-stehende Organisationssystem der Kinderbetreuung vorOrt hat derzeit ein Übermaß an staatlicher Versorgungs-mentalität und grenzt kommerzielle Anbieter aus. Esfehlt an echtem Wettbewerb.Zum Finanzierungskonzept der FDP gehören auchBildungsgutscheine: Jedes Kind nimmt sozusagen imRucksack die staatliche Subvention für eine Tagesmut-ter, eine kommunale Einrichtung usw. mit. Die Betriebs-erlaubnis, durch die geprüft wird, ob das Personal ausge-bildet ist und ausreichend Räumlichkeiten vorhandensind, wird erst erteilt, wenn alles stimmt.Kinder und junge Familien erfordern Investitionen,und zwar in unser aller Zukunft. Konsolidierung desBundeshaushalts, notwendige Investitionen für Bildungund Betreuung und Steuerentlastung der Bürger, das istein notwendiger Dreiklang. Das hat diese Regierung zuleisten, und zwar jetzt bald.
Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministe-rin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr.Ursula von der Leyen, das Wort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirwollen den Ausbau der Kinderbetreuung. Egal welchesUmfrageergebnis der letzten Monate man sich ansieht:Der Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jah-ren findet in der Bevölkerung breite Zustimmung. Sieliegt immer bei mehr als 70 Prozent.
Das gibt uns Rückenwind. Aus diesem Grunde wird dieBundesregierung den Weg, den sie seit Jahresanfang be-schritten hat, beharrlich und zielorientiert weitergehen.
Am 2. April dieses Jahres ist es zum allerersten Malgelungen – das hat es vorher noch nie gegeben –, dasssich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbändedarauf verständigt haben, die Betreuungsangebote bis2013 auf 750 000 Plätze zu erhöhen.
Das entspricht einem Betreuungsangebot für jedes dritteKind. Dies umfasst Tagesmütternetze, altersgemischteGruppen und reine Krippenplätze.
Die Betriebs- und Investitionskosten betragen bis zumJahr 2013 zusammen 12 Milliarden Euro. Das ist einegewaltige Summe, die wir in den nächsten sechs Jahrenstemmen müssen. Aber wir wollen sie stemmen.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
Wenn sich drei Partner auf ein gemeinsames Ziel ver-ständigt haben, dann muss es fair zugehen: Jeder mussein Drittel der Last tragen, nicht weniger, aber auch nichtmehr.Ich möchte außerdem, dass das Geld vor Ort an-kommt und dass es für die Kinderbetreuung eingesetztwird.
Wir wollen nicht noch einmal eine so verschlungene Fi-nanzierung, dass das Geld beim Bund abgebucht wird,dass aber vor Ort nichts ankommt und niemand mehrüberprüfen kann, in welchem Haushaltstitel es aufgegan-gen ist.Der sauberste, direkteste und verfassungskonformsteWeg ist die Investitionskostenhilfe des Bundes. Wennaber Länder und Kommunen sagen, dass sie wenigerdurch die Investitionskosten als vielmehr durch die Be-triebskosten belastet werden, dann suchen wir auch hier-für einen Weg.
Mir ist die Drittelfinanzierung wichtig.Wir denken über eine Stiftungslösung nach; das warzu lesen.
Bedingung ist: Eine solche Lösung muss praktikabel undzielgerichtet sein.Woher soll das Geld kommen? Erstens kommt es ausder demografischen Ersparnis. Für Kinder, die in denvergangenen 25 Jahren nicht geboren wurden, wird derFinanzminister in den kommenden 25 Jahren bzw. Kin-dergeldjahrgängen kein Geld ausgeben müssen. Dass esweniger Kinder gibt, ist zu beklagen. Aber das ist eineTatsache, die sich ganz solide vorausberechnen lässt.Das entspricht bis zum Jahre 2013 3,2 Milliarden Euro.Das wird übrigens auch vom Bundesfinanzministerium,vom Fraunhofer-Institut und vom Bundesamt für Statis-tik so gesehen.Selbst wenn jetzt wieder mehr Kinder geboren wer-den sollten, was wir uns erhoffen und begrüßen würden,dann betrifft das in den nächsten sechs Jahren bis 2013gerade einmal sechs Jahrgänge. Es bleiben also nachAdam Riese 19 Jahrgänge darüber, von denen wir wis-sen, wie klein sie sind.Diese 3,2 Milliarden Euro sollen nicht in die allge-meinen Haushalte fließen, sondern zielgerichtet in dieKinderbetreuung investiert werden, damit sie den Fami-lien und den Kindern zugute kommen können. Ich binder festen Überzeugung: Der Bund soll nicht an den Kin-dern sparen.
Zur zweiten Finanzierungssäule. Derzeit gibt es75 000 Alleinerziehende, die Kinder unter drei Jahrenhaben und Hartz IV beziehen. Diejenigen von ihnen, diearbeiten wollen und eine Arbeitsstelle angeboten bekom-men, sodass sie aus dem Bezug von Hartz IV herauskä-men, haben aber keine Chance auf Arbeit, wenn siekeine Betreuung für ihre Kinder haben. Auch das sollsich ändern. Wenn wir vorsichtig rechnen und davonausgehen, dass lediglich ein Drittel der Alleinerziehen-den wieder in Arbeit kommt, weil die Kinder betreutwerden, dann könnten dadurch bis zum Jahre 2013900 Millionen Euro gespart werden.Der Chef der Bundesagentur für Arbeit – immerhinder größte Experte, wenn es um dieses Thema geht – hatam Wochenende bestätigt, dass viele Alleinerziehendevor allem deshalb arbeitslos sind, weil die Kinderbetreu-ung vor Ort nicht gesichert ist.
Herr Weise geht übrigens nicht, wie wir es tun, davonaus, dass ein Drittel der Alleinerziehenden arbeitenmöchte und eine Arbeitsstelle finden könnte, wenn sieein Betreuungsangebot für ihr Kind hätten. Er spricht so-gar von 50 000 bis 60 000 Alleinerziehenden. Deshalbsage ich auch ganz deutlich: Das Geld für diese Familienist besser investiert in Kinderbetreuung und selbststän-dige Arbeit als in Hartz IV.
– Dies sind ganz klare Finanzierungsvorschläge für ex-akt die Summe, liebe Frau Lenke, die wir brauchen: für4 Milliarden Euro bis 2013.
– Falls Sie den Plan des Bundestages nicht kennen: Wirstellen zurzeit den Haushalt auf.
– Mit Herrn Steinbrück haben wir genau darüber gespro-chen.Zu guter Letzt. Wenn wir dieses Fundament bis 2013geschaffen haben, dann ist ein Rechtsanspruch danachdenkbar, weil unschädlich. Unser Ziel ist es doch, dassein Rechtsanspruch gar nicht greifen muss, weil Kinder-betreuung dem Bedarf entsprechend da ist. Unser Ziel istes doch, dass die Eltern nicht vor Gericht ziehen müssen,weil sie gute, kindgerechte Angebote finden, wenn siesie brauchen. Unser Ziel ist nicht zu sagen, was nichtgeht, sondern unser Ziel ist – daran arbeiten wir mitHochdruck und in einer Geschwindigkeit, die Sie wahr-scheinlich verwirrt, aber die bei diesem Thema notwen-dig ist –
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10060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 98. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. Mai 2007
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
zu sagen, wie wir die Eltern mit ihren berechtigten Hoff-nungen und Erwartungen in ihrem Alltag mit Kindernunterstützen können.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Frau Ministerin, die Art und Weise, wie Sie in Sa-chen Kinderbetreuung den Ewiggestrigen – nicht nur inden eigenen Reihen, sondern auch anderswo – Paroli ge-boten haben, hat sehr vielen Menschen sehr gut gefallen.Ich glaube, dass vor allen Dingen sehr viele Frauen da-ran ihren Spaß hatten.
Aber die Art und Weise, wie bei diesem Thema jetzt wo-chenlang ergebnislos rumgewurstelt wird, ist nicht mehrbesonders spaßig.
Da muss ich Ihnen leider sagen: Gut gemeint ist auf dieDauer kein Ersatz für gut gemacht – das ist einfach so.
Kinder sind ziemlich real. Sie brauchen ganz realePlätze. Da ist es mit gutem Willen nicht getan, da geht esum die Wirklichkeit.Die Fragen, ob es einen Rechtsanspruch gibt, ob eseine solide, dauerhafte, zuverlässige Finanzierung gibtund ob der Bund auch Betriebskosten mitfinanziert, sindnicht die Randthemen bei diesem Problem, sind nicht dieFransen am Teppich, sondern daran entscheidet sichletztlich, ob der Ausbau tatsächlich kommt oder ob ertatsächlich nicht kommt.
Wir brauchen den Rechtsanspruch. Warum? – Weil inZukunft die Eltern in diesem Land darüber entscheiden,wie viele Plätze es letztlich gibt. Es darf nicht so weiter-gehen, dass je nach Bundesland und je nach KommunePolitiker die Mangelverwaltung bei der Kinderbetreuungsozusagen als ideologisches Volkserziehungsmittel ein-setzen. Damit muss Schluss sein. Das geht nur mit demRechtsanspruch.
Wir brauchen eine solide, dauerhafte, konjunkturun-abhängige Finanzierung, und wir brauchen keine Luft-nummern. Wir haben vorgeschlagen, 5 Milliarden Euroaus dem Ehegattensplitting zu verwenden.
Das ist gerechtfertigt. Das ist auch solide.
Frau Ministerin, es ist doch einfach peinlich, wennSie uns ständig erklären, welche Erwartungen Sie haben,was man beim Kindergeld einsparen kann, Ihre eigeneBundesregierung dann aber auf unsere Fragen antwortet,dass sie Ihre Erwartungen schlichtweg nicht bestätigenkann, weil sie glaubt, dass bei den über 18-Jährigenmehr Kindergeld gezahlt wird. Das ist doch nicht solide.
Wir brauchen eine verfassungskonforme, zuverlässigeBeteiligung des Bundes auch bei den Betriebskosten,nicht nur bei den Investitionen; denn es geht nicht umdie Unterbringung von Kindern in Gebäuden. Es gehtum gute Startchancen, es geht um gute Förderung. Dasgeht nur mit gutem, ausreichendem Personal.
Das können die Kommunen nicht alleine stemmen. Damuss ich Ihnen leider sagen, dass Sie als Familienminis-terin die erste gewesen sind, die das Thema „ausschließ-lich Investitionen“ in die Debatte gebracht hat. Das warnicht gerade ein Heldinnenstück, auch wenn Sie jetzt da-von Abstand nehmen.
Es wäre auch nicht richtig, wenn ausgerechnet dieLänder hauptsächlich davon profitieren würden, die ihrKrippenplatzangebot bisher am wenigsten ausgebaut ha-ben. Das liegt ja nicht daran, dass sie die ärmsten Länderwaren, sondern daran, dass sie sich besonders lange derRealität verweigert haben.
Wir brauchen eine verfassungskonforme Lösung. Wirhaben einen Vorschlag gemacht, wie man die Umset-zung des Rechtsanspruchs auf einen Platz und die Förde-rung der Kinderbetreuung so miteinander kombiniert,dass das Geld auch tatsächlich bei den Kinderbetreu-ungseinrichtungen in den Kommunen ankommt. Ich be-haupte gar nicht, dass das verfassungskonform nur sogeht, aber es geht verfassungskonform, wenn man will.Deswegen sollte man aufhören, das Gegenteil zu be-haupten.
Jetzt fragen sich doch die Menschen in diesem Lande:Wenn man sich über den Ausbau der Kinderbetreuungs-möglichkeiten einig ist, warum wird da so lange herum-
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Krista Sagergewurschtelt, und warum macht man nicht endlich Nä-gel mit Köpfen?
Langsam fragen sich die Menschen in diesem Landedoch auch: Wo bleibt eigentlich die Bundeskanzlerin?Wenn die Koalitionsfraktionen nicht zusammenfinden,wenn jeden Tag ein neuer Vorschlag auf den Tischkommt,
und jeder eine andere Idee in die Welt setzt, warum gibtes dann keine Führung, die aus der Einsicht, dass mandas den Leuten in diesem Lande langsam nicht mehr zu-muten kann, auf den Tisch haut?
Wir müssen endlich einmal den Knoten durchschlagenund Nägel mit Köpfen machen.Ich lese immer in der Zeitung, Sie, Frau Ministerin,hätten ein besonders gutes Verhältnis zur Bundeskanzle-rin. Ich schlage vor: Setzen Sie sich mit Frau Merkel inVerbindung, und zwar schnell, verwirklichen Sie denRechtsanspruch, sorgen Sie für eine solide Gegenfinan-zierung, und stellen Sie eine dauerhafte zuverlässige Be-teiligung des Bundes an den Betriebskosten sicher. Abervor allen Dingen: Machen Sie es jetzt ganz schnell,
damit dieses Theater endlich einen guten Abschluss fin-det. Wenn das hier nicht bald zu einem guten Ende ge-bracht wird, wird es heißen: Sie sind tapfer gestartet, alsTigerin aufgesprungen und am Ende als Bettvorlegeringelandet.
Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich denke, vor allen Finanzierungsfragensollte man zunächst einmal festhalten: Die Koalitions-fraktionen haben, und zwar just in dieser Woche, ein ge-meinsames Ziel formuliert.
Das ist deshalb nicht unwichtig, weil der Umgang mitdiesem Thema in unseren Reihen ja nicht unumstrittenwar. Das sollten wir hier nicht vergessen.Dass wir ein gemeinsames Ziel formuliert haben, ist,wie ich glaube, erstens ein ganz wichtiges Signal für dieVereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein zweiter wich-tiger Punkt, der nicht unterschlagen werden darf: Das istauch ganz wichtig für die Förderung von Kleinkindern.Im Zusammenhang mit diesem zweiseitigen Papiermöchte ich noch eine Bemerkung zu der manchmal auf-kommenden Forderung nach Betreuungsgeld machen.Diese Forderungen stehen ja unter dem Motto: Wir be-zahlen die Frauen dafür, wenn sie ihre Kinder nicht indie Förderung geben, sondern zu Hause behalten. Das istkontraproduktiv für die beiden genannten Ziele, nämlichfür die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für dieFörderung von Kindern. Das wird ja manchmal von den-selben gefordert, die sich fünf Minuten später über man-gelnde Sprachkenntnisse von Kindern beim Eintritt indie Grundschule beklagen. Beides geht nun wirklichnicht zusammen.
Bei der Umsetzung dieser gesamtgesellschaftlichenAufgabe sind Gesetzgebungskompetenzen auf allen dreiföderalen Ebenen zu berücksichtigen. Deshalb müssenauch alle drei föderalen Ebenen beteiligt werden. Dasind wir ja auch schon ein Stück weitergekommen; dasbitte ich nicht zu vergessen. Es ist nämlich inzwischenklar – das haben wir gemeinsam so formuliert –, dasssich der Bund an dieser Aufgabe beteiligen wird. AlsSPD-Fraktion sagen wir aber ganz eindeutig: Diese Be-teiligung darf sich nicht allein auf die Investitionskostenerstrecken. Das wäre keine flexible Regelung. Davonwürden viele Kommunen, die bei dieser Aufgabe schonweit vorangekommen sind, nichts haben. Diese braucheneine Unterstützung bei den Betriebskosten; dass diesegewährt werden muss, daran halten wir fest. Das ist füruns eine der entscheidenden Bedingungen bei der Frageder Finanzierung.
Weil wir für eine Beteiligung an den Betriebskostensind, ist für uns – das haben wir lange und gut durch-dacht – ein Rechtsanspruch die logische Schlussfolge-rung. Der Rechtsanspruch ist keine Frage von höher,weiter, schneller, sondern eine gute Möglichkeit, eineBetriebskostenbeteiligung des Bundes ohne verfassungs-rechtliche Schwierigkeiten sicherzustellen.Das will ich heute mit einem Appell verbinden. Ichappelliere, dass beim Thema Rechtsanspruch nichtreflexartig Ablehnung signalisiert wird. Die Länder– das haben wir in den letzten Tagen gelesen – wollenalle eine Betriebskostenbeteiligung des Bundes. Dannmüssen sie aber auch über einen Rechtsanspruch nach-denken, statt diesen reflexartig abzulehnen. Die Kom-munen – das habe ich ebenfalls gelesen – wollen Flexibi-lität; sie wollen so viel anbieten, wie vor Ort gebrauchtwird. Dann dürfen aber auch sie nicht reflexartig denRechtsanspruch ablehnen. Außerdem wollen die Kom-munen weitergeleitetes Geld – von den Ländern. Auchdann dürfen sie den Rechtsanspruch nicht reflexartig ab-lehnen; denn inzwischen ist in den Länderverfassungengeregelt, dass das Geld, wenn es eine rechtliche Ver-pflichtung gibt, aufgrund des Konnexitätsprinzips wei-tergeleitet werden muss. Insofern tun sich die Kommu-
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Nicolette Kresslnen mittel- und langfristig einen Gefallen, wenn sie denRechtsanspruch mit uns gemeinsam mittragen.
Zwischen den Koalitionsfraktionen gab es in dieserWoche – damit verrate ich ja kein Geheimnis – ein paarunterschiedliche Vorstellungen
in Bezug darauf, wo wir hinwollen, wie schnell wir da-hin wollen und wie wir dahin kommen. Aber wir habenuns ein Hausaufgabenpaket vorgenommen. Wir haben– ich habe es vorhin beschrieben – fest vereinbart, wowir hinwollen. Es ist so, wie es bei solchen Aufgabenimmer ist: Wenn sie gut strukturiert sind, wenn klar ist,was zu tun ist, dann ist es einfacher, die Aufgaben zu er-ledigen.
Da haben wir diese Woche einiges erreicht. Deshalb binich sicher, dass wir das hinbekommen. Ich weiß, es mussschnell gehen. Aber ich glaube, wir haben gute Voraus-setzungen dafür geschaffen, unsere Vorhaben beschleu-nigt auf den Weg bringen können.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Diana Golze das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! „Kinder sind Zukunft“, so hieß dieThemenwoche der ARD, die vor kurzem im Hauptstadt-studio mit einer Talkrunde zu Kinderbetreuung in derBundesrepublik beendet wurde. In den letzten Wochenschien es, als wäre die Debatte um Kindertagesbetreu-ung im Jahr 2007 etwas effektiver als in der Vergangen-heit. Es ist inzwischen allgemein anerkannte Tatsache,dass wir es der fehlenden Weitsicht der Politik in denvergangenen Jahren und Jahrzehnten zu verdanken ha-ben, dass die Bundesrepublik im Vergleich zu ihrenwesteuropäischen Nachbarn ein Kinderbetreuungsent-wicklungsland ist.Es wird deutlich, dass es eine Erwartungshaltung ge-genüber der Politik gibt. Die Mehrheit der Elternwünscht sich eine Kinderbetreuung, die quantitativ aus-reichend, weil flächendeckend ausgebaut, und vor allemqualitativ hochwertig ist.Unsere Ankündigungsministerin – Entschuldigung:Familienministerin –
– ich verstehe die Aufregung gar nicht – trägt den erklär-ten Willen dazu auch erfolgreich durch jede sich bie-tende Talkshow unserer Fernsehprogramme. Doch alleinvon einer Gesprächsrunde in der ARD, im ZDF oder ineinem der privaten Programme wird wohl kein Kitanetzentstehen.Nun wird in beiden Koalitionsfraktionen über einenRechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung diskutiert.Doch die kurz aufkeimende Freude darüber vergeht ganzschnell wieder, wenn die CDU von einem unschädlichenRechtsanspruch spricht und die SPD sich nur so weitüber eine Ausgestaltung auslässt, als es für die Verein-barkeit von Familie und Beruf wichtig ist. Ich frage Sie:Wird das wieder nur ein Rechtsanspruch für Kinder er-werbstätiger Eltern? Dann würde er am eigentlichen underklärten politischen Ziel vorbeigehen.
Betreuung, Bildung und Erziehung sind wichtig fürdie psychosoziale, emotionale Entwicklung und die kog-nitive Förderung von Kindern. Dieses Ziel sollte im Mit-telpunkt stehen. Wenn das das Ziel ist, muss der Rechts-anspruch ein Anspruch des Kindes sein. Er muss klardefiniert sein und in Abstimmung mit den Ländern ver-bindlich ausgearbeitet werden, inklusive eines gemein-samen Finanzkonzeptes aller beteiligten politischen Ebe-nen.Frau Ministerin, schaffen Sie eine Betreuungsland-schaft, die auch für die Kinder da ist, die auf der – wieSie es immer sagen – Schattenseite des Lebens stehen!Mit einem Rechtsanspruch des Kindes wäre dies mög-lich.Herr Steinbrück – ich hoffe, er hört uns zu –, bleibenSie bei Ihrem Angebot, sich dauerhaft an der Finanzie-rung der Kitas zu beteiligen! Lassen Sie Länder undKommunen dabei nicht im Stich!Wir reden über die Zukunft von Kindern und darüber,wie wir als Politikerinnen und Politiker es schaffen, je-dem Kind die gleichen Startchancen zu geben. DiePISA- und OECD-Studien, die Studien des DeutschenJugendinstituts, der Bericht des UN-BeauftragtenMuñoz haben einen gemeinsamen Nenner: In keinemanderen westeuropäischen Land entscheidet die sozialeHerkunft von Kindern so sehr über den weiteren Lebens-weg wie in der Bundesrepublik Deutschland. DieserWeg könnte mit einer für alle Kinder zugänglichen– hoffentlich bald beitragsfreien – Kinderbetreuung be-ginnen und einigen den schweren Start leichter machen:durch gute frühkindliche Bildung, Betreuung und Erzie-hung. Deshalb sollte endlich ein Schlusspunkt in der De-batte um die Finanzierung der Kindertagesbetreuungoder, besser gesagt, um die Verschiebung von einer fa-milienpolitischen Leistung zu einer anderen familien-politischen Leistung gesetzt werden.
Ich bin sehr gespannt, ob Herr Steinbrück und Frauvon der Leyen bei ihrer bunten Zusammenstellung blei-
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Diana Golzeben, die sie herangezogen haben, um den Bürgerinnenund Bürgern vorzugaukeln, dass man für Familien ohne-hin schon zu viel Geld ausgebe. Von den immer wiedergenannten 184 Milliarden Euro für Familienleistungenbleiben nämlich nach einer Expertise des ParitätischenWohlfahrtsverbandes gerade einmal 38,6 MilliardenEuro übrig, die wirklich in familienfördernde Maßnah-men fließen.
Ich bin auch gespannt, wie die Kinderbetreuung aus-sieht, mit der die Familienministerin die Bundesrepublikendlich an europäische Standards angleichen will. Esbleibt zu hoffen, dass hier bestimmte qualitative Ansprü-che geltend gemacht werden. Das hieße nämlich, manmacht Kitas allen Kindern zugänglich und nicht nur de-nen, deren Eltern eine Erwerbstätigkeit vorweisen kön-nen.
Das hieße weiterhin, dass man dafür sorgt, dass derErzieherinnen- und Erzieherberuf endlich auf die Basiseines Hochschulabschlusses gestellt wird und dass mangewährleistet, dass Erzieherinnen und Erzieher von demGehalt, das sie für ihre Arbeit bekommen, auch lebenkönnen. Das hieße schließlich, man sorgt dafür, dass dieArbeit von Tagesmüttern und Tagesvätern auf einer qua-litativ hochwertigen Aus- und Weiterbildungsgrundlagesteht und nicht zum Billiglohnkinderbetreuungssektormutiert.Frau von der Leyen und Herr Steinbrück, ich hoffe,dass bei Ihren laufenden Verhandlungen trotz der an-scheinend schwierigen Geburt schnell eine Kindertages-betreuung herauskommt, die diese Ansprüche erfüllt. Ichhoffe auch, dass Sie Ihrem gemeinsamen Spross dannnicht nur die Erstausstattung finanzieren, sondern sichim Interesse aller Kinder langfristig an den Unterhalts-verpflichtungen beteiligen.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Johannes
Singhammer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Im Schnellzugtempo werden 750 000 Plätze fürunsere Kleinsten in Deutschland geschaffen.
Vor fast exakt drei Monaten, am 9. Februar, habenSie, Frau Ministerin, erstmals den Ausbauplan vorge-stellt. Bereits am 2. April haben Sie sich mit den Län-dern, mit den Städten und Gemeinden über den Bedarfan Kinderbetreuung, über den Zeitplan und über denFinanzrahmen geeinigt.Heute liegen die neuesten Ergebnisse der Steuerschät-zung vor. Hier und heute haben Sie einen Überblick überdie Finanzierung gegeben. Am kommenden Montagwird der Koalitionsausschuss über die Richtung und dieEinzelheiten entscheiden.
Es gab in den letzten Jahren kein vergleichbar großesVorhaben, das so rasch auf den Weg gebracht worden ist.
Dafür möchte ich Ihnen, Frau Ministerin, danken.
Frau Scheel, ich kann verstehen, dass der grünenSchneckenpost angesichts des Jettempos der Ministerinetwas schwindlig wird.
Aber das ist noch lange kein Grund, eine AktuelleStunde mit dem Hintergedanken zu beantragen, Unsi-cherheit dahin gehend zu schüren,
dass das, was in Aussicht gestellt worden ist, nicht ein-gelöst wird. Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Die Elternkönnen sich darauf verlassen,
dass das Konzept, das vorgelegt worden ist, umgesetztund dessen Finanzierung auch geregelt wird.
Ich sage Ihnen eines: Sorgfältige Finanzberatungenhelfen den Eltern mehr als panikartige Überholmanöver,wie Sie sie jetzt starten. Die Grünen haben im Zusam-menhang mit der Finanzierung des Ausbaus der Kinder-krippen vorgeschlagen – das muss hier noch einmal ge-sagt werden, Frau Sager –, an das Ehegattensplitting mitder Abrissbirne heranzugehen. Damit schädigen Sie90 Prozent der Ehen mit Kindern. Ich sage Ihnen ganzklar: Wir werden es nicht zulassen, dass die grünen Ab-rissbagger das Fundament des Ehegattensplittings be-schädigen.
Es macht keinen Sinn, Ehe und Familie finanziell auszu-trocknen, um Kinder angeblich besser zu fördern. In derKonsequenz ist die Umschichtung, die Sie vornehmenwollen, ein Kinderschädigungs- und kein Förderpro-gramm.
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Johannes SinghammerWir sind entschieden gegen jede Art der Selbstfinan-zierung des Ausbaus der Kinderkrippen durch die Fami-lien, egal mit welcher Konzeption.
Wir sind auch dagegen, dass die älteren Geschwisterdurch Verzicht auf Kindergeld die Kinderkrippenplätzeihrer jüngeren Geschwister finanzieren.
Richtig ist, dass ein Kinderkrippenausbau zum Null-tarif nicht möglich ist; eine Summe von 12 MilliardenEuro ist genannt worden. Die Ministerin hat eben einKonzept vorgestellt. Es gibt eine Möglichkeit der Ge-genfinanzierung dadurch, dass bei uns leider immer we-niger Babys geboren werden. Das Deutsche Jugendinsti-tut hat Zahlen genannt: In allen öffentlichen Haushaltenwerden bis zum Jahr 2010 allein im Bereich der Null-bis Sechsjährigen 3,6 Milliarden Euro eingespart – unddies deshalb, weil es immer weniger Kinder gibt unddeshalb leider auch weniger Aufwand nötig ist.
An dieser Stelle sage ich Ihnen aber auch: Wir sindzwar für mehr Kinderkrippen, wollen aber auch denGrundsatz der Wahlfreiheit immer realisiert haben.
Wenn ich die Linken höre
– in diesem Fall die Linken –, dann fällt mir auf, dass indiesem Zusammenhang bei Ihnen logischerweise einWort nie auftaucht: Das ist der Begriff der Wahlfreiheit.Sie sind immer noch Vertreter dessen, was ich einmal alsLufthoheit über die Kinderbetten bezeichnen würde.
Diese streben Sie in Form einer Rundumversorgung an,wobei ich zu der Überlegung, ob eher Oskar Lafontaineoder seine Frau Christa Müller für die Koordinierung derLufthoheit zuständig sein sollte, sagen muss: Aufgrundihrer letzten Äußerungen neige ich dazu, dass die Ehe-frau Christa Müller besser dazu geeignet ist.
Für uns stehen Elternrecht und Kindeswohl als un-trennbare Einheit an erster Stelle. Wir wollen keinenStaat in Allzuständigkeit, der die Eltern ersetzt. Wir wol-len auch nicht, dass mit finanziellen Leistungen ein Gän-gelband, eine Schubserei und ein Drängen in eine be-stimmte Richtung verbunden werden.
Wir wollen nicht, dass diejenigen Mütter und Väter,die sich entscheiden, zu Hause zu bleiben, um ihre Kin-der zu betreuen und zu erziehen, an den Rand der Gesell-schaft gedrängt und als die letzten Trottel dargestelltwerden. Ich sage aber auch: Anerkennung und Respektgenügen nicht; Schulterklopfen allein reicht nicht. Auchda bedarf es finanzieller Gerechtigkeit. Wir müssen sehrgenau darauf achten, dass für diejenigen, die auf einErwerbseinkommen verzichten, weil nur ein Partner er-werbstätig ist und der andere Partner für die Kinderbe-treuung zu Hause bleibt, nicht eine neue finanzielle Un-gerechtigkeit entsteht.
Deshalb brauchen wir Symmetrie und Balance auchbei der finanziellen Ausgestaltung.
Sie können sicher sein: Wir werden das erreichen.
Bevor wir in der Rednerliste fortfahren, der Hinweis
an den Kollegen Küster: Es gibt vom Architekten vorge-
sehene Einrichtungen, die es mir nicht ermöglichen, zu
sehen, dass Sie im Plenarsaal mit dem Handy telefonie-
ren. Ansonsten haben Sie, soweit ich das überblicke, alle
Möglichkeiten, mit den Telefonen, die der parlamentari-
schen Geschäftsführung Ihrer Fraktion zur Verfügung
stehen, die notwendigen Dinge zu regeln.
Vielleicht kann die Kollegin Kressl oder jemand an-
ders ihm das ausrichten. Er kann mich offensichtlich
nicht hören.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnenund Kollegen! Ein bisschen komme ich mir heute schonvor wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmel-tier“. Es ist wieder einmal Freitag,
und wieder einmal haben wir uns vorgenommen, überdas Thema Kinderbetreuung zu sprechen.
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Miriam Gruß
Wieder einmal wurde dieses Thema an den Rand desZeitplans gedrängt, und das, obwohl neben der Wahl inFrankreich kaum ein Thema diese Woche so sehr be-stimmte und die Politikteile der Zeitungen so gefüllt hatwie die Finanzierung der Kinderbetreuung.Apropos Frankreich: Sie alle haben in den vergange-nen Wochen von der Allensbachstudie gehört. Es ist eindeutsch-französischer Vergleich über die Einflussfakto-ren auf die Geburtenrate angestellt worden. Deutschlandschneidet dabei zum Beispiel in puncto Kinderfreund-lichkeit schlecht ab. Nur 25 Prozent der Deutschen glau-ben, in einem kinderfreundlichen Land zu leben. InFrankreich glauben dies 80 Prozent der Bevölkerung.Ähnlich stark ist die Diskrepanz bei der Einschätzungder Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Nur 22 Prozentder deutschen Frauen und Männer glauben, dass sich Fa-milie und Beruf gut kombinieren lassen. In Frankreichmeinen dies fast 62 Prozent. Damit sind wir genau beidem Thema, dessentwegen wir hier heute sitzen: derKinderbetreuung. In Frankreich ist beinahe die Hälfteder Eltern davon überzeugt, dass sowohl Mutter als auchVater arbeiten und sich die Hausarbeit teilen sollten. InDeutschland glauben dies nur 15 Prozent.Wie sich eine Familie intern organisiert, wollen wirLiberale den Familien selbst überlassen. Wir erkennenjedes Modell an und wollen Eltern und Kinder dort un-terstützen, wo sie Hilfe benötigen. Das haben wir vonden Franzosen gelernt.Über eines besteht unter uns Fachpolitikern Konsens:dass wir mehr Kinderbetreuungsplätze brauchen, umDeutschland familienfreundlicher zu machen. Die Fragescheint lediglich zu sein, wie dieser Ausbau finanziertwerden soll. Dazu hat die FDP-Fraktion als erste Frak-tion im Deutschen Bundestag ein fundiertes Konzeptvorgelegt, welches Ihnen meine Kollegin Ina Lenke be-reits vorgestellt hat.
Mir ist darüber hinaus noch ein Punkt besonderswichtig. Wir müssen nicht nur in den Ausbau investie-ren, sondern auch in die Qualität der Kinderbetreuungund damit in die Ausbildung der Erzieherinnen und Er-zieher. Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass es eineentsprechende Personalstärke in den Kindertagesstättengibt. Dazu noch eine letzte Zahl aus der Allensbachstu-die: 62 Prozent der französischen Frauen, aber nur7 Prozent der deutschen Frauen halten es ohne Problemefür möglich, Kinder unter einem Jahr – auch nur stun-denweise – extern betreuen zu lassen. Sie sehen, welcheSkepsis hierzulande gegenüber Krippen oder Tagesmüt-tern besteht. Dies können wir nur ändern, indem wirmassiv in die Qualität der Einrichtungen und der Betreu-ung investieren. Nur so können Eltern beruhigt sein, dassihre Kinder gut aufgehoben sind.Gleichzeitig müssen wir auf die Bindungs- und Bil-dungsforschung hören und sie besser vorantreiben, da-mit wir in Deutschland mehr darüber erfahren, wie Kin-der sich entwickeln und was sie dafür benötigen.Kinderkrippen und Kindertagesstätten müssen Orte derBildung und des Wohlfühlens für unsere Kinder sein.Wir brauchen verbindliche Bildungsprogramme für Kin-dergärten. Wir brauchen auch einheitliche Qualitätsstan-dards oder Gütesiegel. Wir müssen das Niveau der Er-zieherinnen- und Erzieherausbildung anheben. Wirbenötigen pädagogische Konzepte, die die Kinder bereitsin den ersten Lebensjahren – natürlich altersgemäß – för-dern und fordern. Wir brauchen auch – das ist ganzwichtig; das hat hier im Plenum noch niemand gesagt –mehr männliche Erzieherinnen
– mehr männliche Erzieher – in den Betreuungseinrich-tungen. Denn Kinder brauchen beides: weibliche undmännliche Erzieher.Ich meine, dass uns das Wohl unserer Kinder – das istdas Leitbild – mehr wert sein sollte als eine AktuelleStunde am Ende einer Sitzungswoche. Dass dies bereitszum zweiten Mal der Fall ist und die Debatte beim ers-ten Mal noch nicht einmal zu Ende geführt wurde, istmeiner Ansicht nach ein Armutszeugnis für die Fami-lienpolitik in Deutschland. Uns Liberalen sind Familienwichtiger als ein freier Freitagnachmittag. Wir wollenden Familien in unserem Land etwas anderes signalisie-ren, nämlich Verlässlichkeit, Qualität und Zukunftspers-pektiven.
Das Wort hat die Kollegin Caren Marks für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Zuerst einmal möchteich sagen, dass ich mich darüber freue, dass die Ministe-rin bei der heutigen Debatte anwesend ist.
Die Debatte über den Ausbau und die Finanzierungder frühkindlichen Betreuung unterstreicht den akutenHandlungsbedarf. Auch die aktuelle Bertelsmann-Studiebestätigt die Notwendigkeit des Betreuungsausbaus undkonstatiert die Rückständigkeit Deutschlands in punctoVereinbarkeit von Familie und Beruf.
Die Studie untermauert im Übrigen das Familienkon-zept der SPD. So fordern die Autoren den Ausbau derBetreuungsangebote, mehr Erwerbsanreize für Müttersowie, Herr Singhammer, eine Abschmelzung des Ehe-gattensplittings. Eine Absage erteilt die Studie den di-versen Vorschlägen der Union. Die Autoren sprechensich gegen das sozial ungerechte Familiensplitting aus.
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Caren MarksSie fordern Zurückhaltung beim Ausbau von direktenGeldleistungen für Familien. Damit wird der von derCSU geforderten Herdprämie – das war gestern nachzu-lesen –, einem Betreuungsgeld für die häusliche Erzie-hung, eine ganz klare Absage erteilt.
Die SPD steht für eine moderne Familienpolitik. Das2004 von Rot-Grün verabschiedete Tagesbetreuungsaus-baugesetz war die entscheidende Weichenstellung füreine bessere Betreuung und frühkindliche Bildung.
Das Gesetz hat den Familien Mut gemacht, ihren Betreu-ungsbedarf zu artikulieren. Die regional unterschiedlichstarke Zunahme der Zahl der Krippenplätze erfolgt je-doch viel zu zögerlich. Der Ausbau hinkt dem wachsen-den Bedarf deutlich hinterher. Nur mit einem gesetzlichverankerten Rechtsanspruch vom ersten Geburtstag ankönnen wir den notwendigen Durchbruch beim Ausbauder Kinderbetreuung erzielen. Nur der Rechtsanspruchsichert, dass der Bund die laufenden Betriebskosten, denLöwenanteil beim Betreuungsausbau, mitfinanzierenkann.Mit den bisherigen Ankündigungen der Familienmi-nisterin, sich lediglich an den Bau- und Umbaukosten zubeteiligen, wäre der zu Recht geforderte Betreuungsaus-bau nicht mehr als eine PR-Kampagne. Bei einer aus-schließlichen Beteiligung an den Investitionskosten blie-ben die Länder und Kommunen auf dem größten Anteilder Kosten sitzen. Der finanzielle Engpass besteht beiden Betriebs-, vor allem den Personalkosten. Das habenauch die Länder und Kommunen deutlich gemacht.Ich begrüße das erste Einlenken der Ministerin bezüg-lich der Beteiligung an den Betriebskosten sowie derAusweitung des Rechtsanspruchs. Entgegen vieler Be-hauptungen gibt es diesbezüglich keinerlei verfassungs-rechtliche Probleme.Für uns wird es keinen anderen Weg als den Rechts-anspruch geben. Der Rechtsanspruch gibt den Kommu-nen erst die Möglichkeit, auf den unterschiedlichen Be-treuungsbedarf flexibel zu reagieren. Vor allem aberbietet er den Eltern die notwendige Sicherheit, einen Be-treuungsplatz für ihr Kind zu erhalten. Der Rechtsan-spruch ist für eine bessere Vereinbarkeit von Familie undBeruf unabdingbar. Er trägt den Lebenswünschen der El-tern Rechnung. Betreuungsplätze ermöglichen Erwerbs-tätigkeit. Das senkt das Armutsrisiko von Familien.Ein Rechtsanspruch auf frühkindliche Betreuungheißt aber auch, dass Kinder in dieser wichtigen Ent-wicklungsphase ein hochwertiges Bildungsangebot er-halten müssen. Kinder sind gern mit Kindern zusammen.Andere Kinder sind Vorbilder und gleichzeitig Freunde.Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, lernenDeutsch in der Krippe im wahrsten Sinne des Wortesspielend.Wem es mit dem zügigen Ausbau der Kinderbetreu-ung ernst ist, muss Worten Taten folgen lassen. Wir, dieSPD, haben vor gut zwei Monaten ein solides Finanzie-rungskonzept vorgelegt, mit dem wir den Rechtsan-spruch auf einen ganztägigen, hochwertigen Platz vomersten Geburtstag des Kindes an realisieren wollen. Diebisher kursierenden Vorschläge der Ministerin enthaltenkein ausreichendes Finanzierungskonzept.Die Familien – das ist heute mehrfach gesagt worden –erwarten zu Recht einen beschleunigten und sichtbarenAusbau der Betreuungsplätze. Für die SPD steht dieKinderbetreuung familienpolitisch an erster Stelle. Las-sen Sie uns diese Aufgabe gemeinsam bewältigen!Grundlage dafür ist ein gesetzlich verankerter Rechtsan-spruch und eine solide, verlässliche finanzielle Beteili-gung des Bundes. An der SPD wird es jedenfalls nichtscheitern.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat
nun die Kollege Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der hessische Ministerpräsident hat kürzlich darauf hin-gewiesen, dass Ursula von der Leyen für die CDU einriesiges Glück sei.
Ich finde das auch, weil Sie, Frau Ministerin, die Debatteangestoßen haben. Er hat aber weiter ausgeführt: „Wassie will, steht seit langem im CDU-Programm; aber mitihr an der Spitze wird es gelebt und wahrgenommen.“Viele Mütter und Väter können das nicht so sehen,weil sie den Krippenplatz für ihr Kind, den sie dringendbrauchen, nicht bekommen. Sie haben das Gezerre, dasinnerhalb der Union, aber auch zwischen den Koalitions-partnern sowie in den Ländern stattfindet, satt. Es hilftihnen nämlich keinen Schritt weiter.
Es wird darauf hingewiesen, dass es in der Familien-politik der CDU/CSU „tektonische Verschiebungen“gebe. Als ich Herrn Singhammer gehört habe, musste ichfeststellen, dass es in Teilen der Union noch nicht ange-kommen ist, dass es notwendig ist, jetzt schnell dieFinanzierung sicherzustellen. Wenn Sie sich hier alsChefideologe hinstellen, Herr Singhammer, und dieThese vertreten, die Mütter sollten zu Hause bleiben,kann man nur den Kopf schütteln.
Die CSU ist anscheinend noch nicht angekommen, woFrau von der Leyen schon eine ganze Weile ist.
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Christine ScheelWir wissen, dass die Auseinandersetzung darüber, obwir einen Rechtsanspruch brauchen, richtig ist. Selbst-verständlich hat sie etwas mit der Verfassung zu tun. DerVerweis darauf, wir bräuchten keinen Rechtsanspruch,weil wir den Leuten nicht den Weg zum Gericht bereitensollten, geht von einem falschen Verständnis aus. DerRechtsanspruch ist notwendig, damit Dampf in die De-batte kommt, damit gehandelt werden kann, damit wireine gemeinsame Finanzierung auf den Weg bringenkönnen. Es geht nicht um gerichtliche Auseinanderset-zungen, Frau von der Leyen.
Die nachhaltige Finanzierung muss sichergestelltwerden; da müssen wir die Bedenken der Kommunenernst nehmen. Die Grünen haben hierfür mit dem Modellder Kinderkarte ein Finanzierungskonzept vorgestellt,das auf soliden Füßen steht. Dieses Konzept ist durchfi-nanziert, dieses Konzept ist verfassungskonform, unddieses Konzept hilft von Anfang an – nicht erst in eini-gen Jahren, wie es bei Ihren Vorschlägen der Fall wäre.
Um es deutlich zu sagen, Herr Singhammer: Wir ha-ben nicht vor, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Wirwissen, dass das aus verfassungsrechtlichen Gründennicht geht.
Wir wissen, dass auch die gegenseitigen Unterhaltsan-sprüche der in Ehe lebenden Partner und Partnerinnenberücksichtigt werden müssen. Deswegen haben wir einModell vorgeschlagen, bei dem der steuerliche Vorteilvon heute, der in der Größenordnung von 20 Mil-liarden Euro liegt, um 5 Milliarden Euro reduziert wird.Das heißt, das Ehegattensplitting, der Vorteil, der damit– übrigens auch kinderlosen Ehen – gewährt wird, bleibtim Umfang von 15 Milliarden Euro erhalten. Deswegenist Ihr Vorwurf, die Grünen hätten für die Finanzierungdes Ausbaus der Krippenplätze einen Vorschlag vorge-legt, mit dem den Familien letztendlich das Geld aus derTasche gezogen würde, falsch. Wir begrenzen einenSteuervorteil für die Bezieher oberer Einkommen. Ichdenke, das ist auch legitim so.
Dies hätte auch den Charme, dass alle, die hohe Ein-kommen erzielen, zur Finanzierung der Kinderbetreuungbeitrügen und dass, wie gesagt, sowohl der Bund alsauch die Länder und die Kommunen aufgrund des Ver-teilungsschlüssels etwas von der Abschmelzung diesesSteuervorteils – der Begrenzung eines, wie man wirklichsagen muss, ziemlich überholten Steuervorteils, der im-mer noch im Gesetz steht – hätten. Deswegen würde beider Finanzverteilung ein positiver Effekt erzielt, der hö-her als bei der Umsatzsteuer wäre, über die jetzt nachge-dacht wird.Ich denke, es wäre gut, wenn Sie sich noch einmalGedanken darüber machen würden, ob man die Finan-zierung nicht an die Einkommensteuer koppelt, weil sieeben nicht so konjunkturabhängig ist, wie das bei derUmsatzsteuer der Fall ist. Wir können die nachhaltigeFinanzierung der Kosten für Personal und Infrastrukturnicht an konjunkturelle Entwicklungen koppeln nachdem Motto: Ist die Konjunktur gut, dann gibt es vieleLeute, die in diesem Bereich arbeiten und die Betreu-ungsmöglichkeiten wahrnehmen können; ist die Kon-junktur schlecht, dann muss am Personal gespart wer-den.Das darf es nicht geben. Vielmehr brauchen wir einesolide Finanzierung. Der Vorschlag der Grünen enthälteine solche.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Ich sitze hier, höre zu und habe das große Vergnü-gen, das nicht erst seit einem Jahr, sondern seit 1998 zutun.
Ich muss feststellen, dass 1998 andere die Regierungs-verantwortung hatten. Heute haben sie Gott sei Dankwieder andere.
Deshalb habe ich mit besonderer Freude zugehört,was die beiden Kolleginnen der Grünen zum Besten ge-geben haben. Als Erstes ist hängen geblieben: Frau Mi-nisterin, machen Sie mal, machen Sie jetzt! Ich sage Ih-nen einmal, was wir jetzt getan haben – die FrauMinisterin hat es deutlich gemacht –: In eineinhalb Jah-ren Regierungszeit haben wir die steuerliche Absetzbar-keit von Kinderbetreuungskosten durchgesetzt. Sie hat-ten sieben Jahre lang Zeit, und es ist nichts passiert.Das TAG ist weiterentwickelt worden. Das haben Sieganz zum Schluss noch eingeräumt.
– Wer das erfunden hat? Sie. Passen Sie auf, warum wirdas verhindern wollten – das ist genau der Punkt; Sie ge-ben mir die Stichworte besser, als ich sie mir selbst ge-ben kann –: Wir haben damals gesagt, dass es bei demTAG, dem Tagesbetreuungsausbaugesetz, und bei derGanztagsschule und der Ganztagsbetreuung nur umreine Investitionskosten geht. Sie haben hier lamentiert,
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Ingrid Fischbachdie Länder würden die Mittel nicht abrufen. Dies tatensie nicht, weil die Mittel für die Betriebskosten fehlten.
Das war immer unser Argument.
– Nein, gucken wir einmal zusammen: Das eine gehtin das andere über. Sie hatten die Verantwortung und ha-ben nur auf Investitionen gesetzt, weil das für die Regie-rung preiswerter war.
Was passiert? Wir tätigen jetzt Investitionen, an denendrei Ebenen beteiligt sind. Zum ersten Mal, seit es dieseMöglichkeit gibt, sitzen diese drei Beteiligten an einemTisch und reden. Sie können sich vorstellen, dass es un-terschiedliche Sichtweisen gibt und jeder etwas einspa-ren möchte, wenn es um Milliardenbeträge geht. Deswe-gen wird der eine dies sagen und der andere jenes. Dasist wie in der Familie.Ich halte es für richtig und klug von der Ministerin, zusagen, dass wir uns intern zusammensetzen. Wenn wirdann Möglichkeiten sehen, wie alle drei ihren Beitragleisten können – das ist nämlich keine reine Bundes-,sondern auch eine Landes- und kommunale Aufgabe –,dann kommen wir wieder ins Plenum und berichten.Dies ist richtig und vernünftig und kein Schnellschuss.
Ich möchte jetzt einmal etwas zu Schnellschüssen sa-gen. Sie sagen: Machen Sie jetzt, machen Sie einmal!Sie waren in Nordrhein-Westfalen ja zehn Jahre lang inder Regierungsverantwortung – fast parallel zur Bundes-verantwortung. Ich habe einmal gedacht: Wenn die Kin-derbetreuungsangebote so wichtig sind, dann werden dieGrünen diese Angebote im Eilverfahren ausgebaut ha-ben, zumal eine Parallelität hinsichtlich der Verantwor-tung für die Landes- und die Bundespolitik gegeben war;das war eine Linie.Jetzt gucken wir einmal, was Sie erreicht haben. 1995hatten Sie knapp 8 000 Betreuungsplätze für unter Drei-jährige.
2002, also sieben Jahre später – jetzt überlegen Sie ein-mal, was die Ministerin in eineinhalb Jahren getan hat –,kamen Sie auf ein Plus von 2 500 Plätzen.
Wenn das Ihr Eiltempo ist, dann ist es gut, dass wir in-zwischen Ihre Regierung abgelöst haben, damit es etwasschneller vorangeht und wir Änderungen vornehmenkönnen.
Wir haben allein in Nordrhein-Westfalen das institu-tionelle Angebot für unter Dreijährige von 11 000 Plät-zen im Mai 2005 bis zum Februar 2007 auf 16 000 er-weitert. Das zeigt, dass wir dort, wo wir in der Regie-rung sind, handeln.
Wir verändern etwas, und zwar im Gegensatz zu Ihnenim Eiltempo.
– Sie müssen uns nicht immer sagen, wo wir was ge-macht haben. Es kommt auf die Zahlen an, Frau Sager.Warum erwähnen Sie nicht Bayern? Sie kommenschließlich aus Bayern.
– Entschuldigung, Frau Scheel kommt aus Bayern. Siekommen aus Hamburg. Sie könnten aber auch ausfüh-ren, welche positive Entwicklung in Hamburg zu ver-zeichnen ist, seitdem die CDU dort regiert.Es gibt sehr gute Entwicklungen beim Bund. Darüberlasse ich nicht mit mir diskutieren, weil unsere Zahleneindeutig sind. Sie können das nicht vom Tisch wischen.Ich möchte noch auf die Linken eingehen, die auchimmer wieder vehement Verbesserungen fordern. Sie ha-ben sich in den Ländern, in denen Sie Regierungsverant-wortung tragen, auch nicht mit den Forderungen hervor-getan, die Sie jetzt erheben, beispielsweise zurKostenfreiheit eines Kindergartenplatzes.
– Was ist denn mit Brandenburg?
– In Berlin sind Sie aber an der Regierung beteiligt.
Weder die Linken noch die Grünen haben sich mitRuhm bekleckert, wenn es darum geht, ihre Forderun-gen, die sie hier erheben, umzusetzen. Sie fordern vielund schaffen wenig.
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Ingrid FischbachDie Bundesregierung ist mit unserer Ministerin aufdem richtigen Weg. Die Familienministerin der vergan-genen Legislaturperiode hat den Anfang gemacht.
Frau von der Leyen macht jetzt weiter, und zwar mitdem richtigen Tempo. Ich bin froh, dass wir sie haben.Ich bin sicher, dass das Ganze nicht an der SPD scheiternwird; schließlich ist die CDU/CSU-Fraktion beteiligt,die nicht nur redet, sondern handelt.
Uns ist es lieber, Zahlen vorzuweisen, als uns auflaute Forderungen zu beschränken. Insofern bin ich frohund dankbar; denn wir sind auf dem richtigen Weg. Wirlassen uns von Ihnen nicht beirren. Denn wir wissen,dass nicht nur die Familien wichtig sind; im Vordergrundsteht das Wohl der Kinder. Deshalb ist die Wahlfreiheitdas oberste Gebot.
– Aber nur, wenn er finanzierbar und sinnvoll ist. Daranwerden wir arbeiten. Darauf können Sie Gift nehmen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von
der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Als Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen reiztes mich, auf die letzten Bemerkungen unserer Kollegineinzugehen. Es gab zwar in NRW bisher in der Tat we-nig Krippenplätze – das ist richtig –, aber ich denke, dieDarstellung, SPD und Grüne hätten es verschlafen, jetztstarte die CDU durch, ist nicht ganz zutreffend. Dennauch Sie brauchten sehr viel gesellschaftlichen Druck,um sich so weit zu bewegen, wie Sie es bisher getan ha-ben. Sie brauchten eine mutige Ministerin, die auch gele-gentlich vorgeprescht ist. Das alles ist richtig.Ich denke, in NRW sieht es deshalb noch ziemlichtraurig aus, weil wir dort zu wenig Druck und keinen somutigen Minister haben. Insofern bin ich nicht sehr opti-mistisch.
Ansonsten freue ich mich als Finanzpolitikerin beson-ders darüber, dass noch keiner gefordert hat, einen Teilder sprudelnden Steuereinnahmen zur Finanzierung vonKinderkrippen zu verwenden. Denn es ist sicherlich unsallen klar, dass die Finanzierung nicht durch Verschul-dung erfolgen kann. Die sprudelnden Steuereinnahmenbedeuten nämlich im Grunde nur, dass wir wenigerSchulden machen müssen.
Nachhaltige Finanzpolitik bedeutet insofern, dass wiruns an anderer Stelle um das notwendige Geld bemühenmüssen.
Es ist richtig, dass alle drei Ebenen – Kommunen,Länder und der Bund – beteiligt werden müssen. Ob esexakt eine Drittelbeteiligung sein muss, kann noch dis-kutiert werden. Grundsätzlich sind aber alle drei Ebenenin der Verantwortung. Ich nehme die Länder ausdrück-lich nicht aus; denn über sie ärgere ich mich am meisten.Ich habe im Zusammenhang mit der Föderalismus-reform I die Länderchefs erlebt. Sie haben zum Aus-druck gebracht, dass wir ihnen bloß mit irgendwelchenIdeen wegbleiben sollten; sie bräuchten auch kein Geldfür Ganztagsschulen. Sie haben das Geld dann aber ge-nommen und das Programm mit Mühe und Not – in eini-gen Ländern auch sehr gemächlich – umgesetzt. Der thü-ringische Ministerpräsident beispielsweise sagt nun: Wirbrauchen keinen Rechtsanspruch. – Man braucht in Thü-ringen keinen Rechtsanspruch, weil es dort ein flächen-deckendes Angebot gibt. Wenn wir überall flächen-deckende Angebote hätten, bräuchten wir keinenRechtsanspruch. Wir brauchen einen Rechtsanspruchaber, um denjenigen ein Druckmittel zu geben, bei denenes eine Nachfrage nach Betreuungsangeboten gibt. Diesekönnen nur dann Druck ausüben, wenn sie sagen kön-nen: Hier ist mein Rechtsanspruch. Wo ist mein Betreu-ungsplatz? – Wir müssen aber den Rechtsanspruch sodefinieren, dass man einen Anspruch auf eine zeitlichund qualitativ ausreichende Betreuung hat. Ich hatte ein-mal einen Betreuungsanspruch auf einen Kindergarten-platz in Bayern. Das waren drei Stunden Nachmittagbe-treuung. Das hat weder meinem Kind noch mir geholfen.So etwas darf es nicht geben.Berlin ist ein gutes Beispiel. Dort gibt es – genausowie in Hamburg – etwas Innovatives; darüber sollte maneinmal nachdenken. Ich meine die Betreuungsgut-scheine. Ich bin mir nicht sicher, ob die von den Grünenvorgeschlagene Kinderkarte etwas Ähnliches ist. AberBetreuungsgutscheine führten dazu, dass man den Men-schen das Geld vom Bund geben könnte, ähnlich wieeine BAföG-Leistung.
– Das ist nicht Ihre Idee. Die Idee des Betreuungsgut-scheins kommt aus dem wissenschaftlichen Bereich.Solche Gutscheine gibt es in den USA schon seit20 Jahren. Sie können die Idee gerne aufgreifen. Ichhalte sie jedenfalls für bedenkenswert.Über einen finanziellen Ausgleich für Eltern, die ihreKinder zu Hause betreuen, müssen wir nicht ernsthaftnachdenken; denn Sie unterstellen damit – das finde ichganz schrecklich –, dass Eltern, die ihre Kinder in dieKrippe oder zu einer Tagesmutter geben, gar keine Be-
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Ingrid Arndt-Brauertreuung mehr leisten. Sie tun so, als ob diese ihre Kinderabholten und sie gleich ins Bett legten, um sie am nächs-ten Morgen aus dem Bett zu nehmen und sie wiederwegzubringen. Das ist doch völliger Blödsinn.
– Das stimmt. Aber Sie haben hier mit aller Kraft dasEhegattensplitting verteidigt. Solange Sie das tun, müs-sen Sie sich um das Einkommen dieser Familien keineGedanken machen; denn diese profitieren vom Splitting-vorteil. Sie sollten sich schon für eine Argumentationsli-nie entscheiden.
Wenn Sie das geschafft haben, gibt es Finanzierungs-möglichkeiten. Dann können wir mit Ihnen über andereSachen reden.Ich habe schon vor ein paar Wochen gesagt, dass ichdie Vorschläge der SPD nicht unbedingt toll finde. Aberdas sind zumindest belastbare Vorschläge. Darüber soll-ten wir noch einmal nachdenken. Ich habe ein paarBauchschmerzen, wenn ich an die Finanzierung überHartz IV denke; denn ich weiß nicht, ob sie gleich greift,ob die Eltern gleich Arbeit bekommen. Die alleinerzie-henden Mütter, von denen Sie gesprochen haben, warenschließlich eine Zeit lang zu Hause. Ich weiß nicht, obdas gleich funktioniert und 900 Millionen Euro bringt.Deswegen bin ich ein bisschen skeptisch. Die demogra-fische Reserve ist sicherlich ein Finanzierungsaspekt.Wir dürfen aber nicht vergessen: Unsere guten Maß-nahmen, die meine Vorrednerin teilweise angedeutet hat,führen natürlich dazu, dass wir in Zukunft wesentlichmehr Kinder haben. Dann brauchen wir erheblich mehrGeld. Ich denke, dann sind alle dabei, das aufzutreiben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Möllring für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist offenbar eine unerlässliche deutscheÜbung, dass alle, kaum dass eine gute Idee ausgespro-chen wurde, nach Kräften darüber herfallen, sie zerrei-ßen und zerreden, bis kaum noch jemand die gute Ab-sicht und die Fortschritte, die man gemacht hat,erkennen kann. Der Kollege Singhammer hat eben sehreindrucksvoll darauf hingewiesen, in welch kurzen Zeit-abläufen hier eine Planung eingesetzt hat, die nicht ein-fach gewesen ist. Niemand wird bestreiten, dass wir nungemeinsam mit allen Akteuren auf Landesebene und inden Kommunen einen guten Schritt vorangekommensind.
So viel Einigkeit und Erfolg ist mittelfristig nurschwer zu ertragen. Die deutsche politische Seele wittertdie Chance, sich in einen zermürbenden Kleinkrieg zustürzen.
Sehr verehrter Koalitionspartner, lassen Sie uns docheinfach gemeinsam unseren Job machen! Fangen Siebitte die Mitglieder Ihrer Partei ein, die sagen, wir wür-den Geld verplanen, das wir noch gar nicht hätten! Fan-gen Sie auch die ein, die sagen, wir müssten noch vielmehr Geld einsetzen, um einen Rechtsanspruch zu er-möglichen!
Sie haben doch selber mit Ihrem Finanzminister denDaumen drauf. Sie brauchen also solche Leuchtraketengar nicht abzuschießen.Inzwischen ist die Dringlichkeit des Themas offen-sichtlich bei allen, auch bei diesem Finanzpolitiker, an-gekommen.
Wir wollen Familien helfen, ihren Alltag mit Kindernund Beruf so zu organisieren, wie es für sie am bestenpasst. Ich habe hier schon das letzte Mal in meiner Rededeutlich ausgeführt, dass die Bedürfnisse hier so unter-schiedlich sind, dass wir sie nicht mit einer holzschnitt-artigen Antwort befriedigen können.
Deswegen finde ich es nicht okay, wenn Sie hier – dasgilt auch für die Damen von den Grünen – gebetsmüh-lenartig das Wort „Rechtsanspruch“ wiederholen; dennmit der Einführung eines Rechtsanspruchs allein ist dasProblem noch nicht gelöst. Frau Arndt-Brauer hat dan-kenswerterweise eben selber darauf hingewiesen.Was soll denn die Mutter machen, die im Schicht-dienst arbeitet, zum Beispiel als Krankenschwester, undeinen Betriebskindergarten braucht, der andere Öff-nungszeiten hat? Was soll denn die Frau machen, dieeine flexible Kinderbetreuung braucht, zum Beispiel fürdrei Stunden am Nachmittag? Was ist mit der Angestell-ten am Flughafen, die wiederum völlig andere Dienstzei-ten hat? Welchen Rechtsanspruch wollen Sie denn fürdiese Familien statuieren?Die Familien brauchen konkret einen Platz; sie brau-chen ein vielschichtiges Angebot.
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Dr. Eva MöllringSie haben in der letzten Wahlperiode versucht, solch einAngebot durchzusetzen; das hat aber leider nicht ge-klappt, weil Sie es mit ALG-II-Leistungen gekoppelt ha-ben. Wir alle haben erlebt, welche Auswirkungen das fürdie Kommunen hatte. Ich habe in einer Kommune Ver-antwortung getragen und musste immer auf das Geldwarten, das Sie uns versprochen haben.
– Wenn Sie einen Termin mit meinem Mann haben wol-len, werde ich ihn sofort ausmachen; dann können Siesich gern mit ihm über das Thema unterhalten. Das ma-che ich am allerliebsten.
Liebe Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker,wenn wir mit einem vernünftigen Kinderbetreuungssys-tem, das auf die Bedürfnisse dieser Familien Rücksichtnimmt, erreichen könnten, dass die Mütter und auch dieVäter nicht mehr auf ALG II angewiesen sind, dann wä-ren wir doch mit dem Klammeraffen gepudert, wenn wirdieses Geld im großen Topf ließen und nicht sagten, esmüsse für genau diesen Zweck eingesetzt werden. DasGleiche gilt für die Kindergeldzahlungen.Herr Beck, ich kann nicht verstehen, dass Sie dieseMittel einfach locker in den Raum werfen wollen. Nein,diese Zahlungen müssen weiter den Familien zugutekommen, und zwar in Form von konkreten Angebotenvor Ort. Ich will Ihnen sagen: Die Bevölkerung hat die-ses Gezerre und Gezeter um die einzelnen Vorschlägelängst satt.Die Familien erwarten eine Lösung für ihren Alltag.Ich bin froh über jeden vernünftigen Vorschlag, der hiergemacht wird, damit wir ein abgestimmtes System ausdem Boden stampfen können. Das wird sicherlich nichtvon heute auf morgen gehen; aber in den nächsten Jah-ren können wir Schritt für Schritt vernünftige Angeboteeinführen, die den Familien vor Ort helfen, ihre Pro-bleme zu lösen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Clemens Bollen für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Eigentlich herrscht hier imHause große Einigkeit – das ist ein Riesenfortschritt –über die Notwendigkeit des Ausbaus der Kinderbetreu-ung; es geht hier eigentlich nicht um das Ob, sondern nurum das Wie. Wir alle wissen, dass Deutschland im euro-päischen Vergleich weit zurückliegt. Ich erinnere an dieWorte der früheren Familienministerin Renate Schmidt,die einmal gesagt hat, Westdeutschland sei in SachenKinderbetreuung ein Entwicklungsland.Sie hat dabei eine Rechnung aufgemacht, die ich sehrinteressant fand. Von 1994 bis 2002, also in einem Zeit-raum von acht Jahren, hat sich die Versorgung mit Krip-penplätzen nur um 1,5 Prozent verbessert. Wenn es indiesem Tempo weitergegangen wäre, hätte es 120 Jahregedauert, um die französische Betreuungsquote zu errei-chen, 160 Jahre, um die Betreuungsquote Ostdeutsch-lands zu erreichen, und über 200 Jahre, um Dänemarkeinzuholen. Dass hier großer Reformbedarf bestand, istnun wirklich deutlich. Deshalb haben wir in der GroßenKoalition eine neue Dynamik angestoßen. Ich glaube,500 000 zusätzliche Betreuungsplätze für ein- bis drei-jährige Kinder sind eine völlig neue Qualität in derFamilienpolitik. Deshalb werden wir das Versprecheneinlösen, dass alle, die für ihre Kinder einen Betreuungs-platz wünschen, diesen auch bekommen.Derzeit ist jede zweite Mutter in Deutschland nicht er-werbstätig, meist unfreiwillig. Nach Angaben der Bun-desagentur für Arbeit – Frau Ministerin hat die Zahl ebenzitiert – könnten 50 000 Alleinerziehende sofort Arbeitaufnehmen, wenn die Kinderbetreuung geklärt wäre. Daszeigt die Notwendigkeit, schnellstens zu handeln. Mütterund Väter wollen heute beides, Familie und Beruf. Aufdieses veränderte Familienbild muss reagiert werden,und es wird reagiert. Alle Versuche, Frauen an Heim undHerd zu halten, was in der Diskussion ist, gehen eindeu-tig an der Realität vorbei. Elternpaare und Alleinerzie-hende brauchen verlässliche Rahmenbedingungen.
Dazu brauchen wir – das müssen wir mit aller Deut-lichkeit sagen – den gesetzlich verankerten Rechts-anspruch. Gerade in dem Rechtsanspruch auf eine ganz-tägige Betreuung ab dem ersten Geburtstag liegt derSchlüssel zu einem flächendeckenden und bedarfsge-rechten Betreuungsangebot. Besonders wichtig erscheintmir aber, dass wir bei der Debatte über die Krippenplätzedie Kinder selbst in den Mittelpunkt stellen. Eine Förde-rung der frühkindlichen Entwicklung ist von zentralerBedeutung. Wichtige Stichworte sind hier die Unterstüt-zung beim Spracherwerb, die Begleitung beim Entde-cken der Umwelt, die Förderung der frühkindlichen Bil-dung und die Entwicklung von sozialer Kompetenz.Studien belegen die Vorteile der frühkindlichen Betreu-ung. Dies gilt nicht nur für Kinder aus benachteiligtenFamilien, sondern für alle Kinder.
Ein- und Zweijährige brauchen eine spezielle Betreu-ung und intensive Zuwendung. Dafür brauchen wir Er-zieherinnen und Erzieher, die eine besondere Ausbil-dung haben. Dies gilt natürlich entsprechend auch fürdie Tagesmütter und -väter, die eine wichtige Rolle imKonzept der Kinderbetreuung spielen; denn was in die-sem frühen Alter der Kinder falsch gemacht wird, lässtsich später schwer korrigieren.
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Clemens BollenDie lebhafte gesellschaftliche Debatte, die in den letz-ten Monaten über die Krippenplätze geführt wurde,zeigt, wie sich das Familienbild in unserem Land verän-dert hat. Ein Zitat, Frau Ministerin, lautet: Kinder sindnicht nur eine Privatangelegenheit. – Das ist ein Satz, derso vor einigen Jahren noch nicht gefallen wäre. Der Aus-bau der Kinderbetreuung ist eine gesamtgesellschaftli-che Aufgabe. Deshalb war es ein wichtiger Schritt, dasssich Bund, Länder und Kommunen verpflichtet haben,bis 2013 750 000 Betreuungsplätze bereitzustellen. Jetztmüssen wir zu einer gerechten Aufteilung der Kostenzwischen Bund, Ländern und Kommunen kommen. DieKommunen brauchen Planungssicherheit. Der Bundkann sich hierbei nicht auf eine Beteiligung allein an denInvestitionskosten zurückziehen.
Wenn wir wirklich mehr und bessere Kinderbetreuungwollen, dann müssen wir für eine dauerhafte und ausrei-chend hohe Beteiligung des Bundes sorgen.Für die SPD geht der Weg über die gesetzliche Veran-kerung des Rechtsanspruchs auf eine ganztägige Betreu-ung ab dem ersten Geburtstag. Deshalb sind Bund, Län-der und Kommunen gleichermaßen in der Pflicht. Hierdarf es keine Blockaden der Länder geben. Die SPD hateinen Finanzierungsvorschlag vorgelegt. Ich bin sicher,dass in den nächsten Tagen konkrete, tragfähige Ergeb-nisse für die Finanzierung der zusätzlichen Krippen-plätze vorliegen werden. Kinder sind unsere Zukunft.Deshalb muss jetzt gehandelt werden.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich danke Ihnen, Frau Ministerin, dafür, dass Siees geschafft haben, das Thema Kinderbetreuung in dasZentrum der Diskussion zu rücken. Sie haben es ge-schafft, Bund, Länder und Kommunen an einen Tisch zubringen und ein gemeinsames Ziel festzulegen. Das warnoch nie da.
Im Mittelpunkt steht der Ausbau der Kinderbetreuungauf 750 000 Plätze. Trotz der vielstimmigen Diskussion,insbesondere um die Finanzierung dieses Ziels, sind wiruns fraktionsübergreifend einig: Eltern, die dies wün-schen, sollen eine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kindab dem ersten Lebensjahr erhalten. Wir sind uns auch ei-nig darüber, dass die Qualität der Kinderbetreuung inDeutschland verbessert werden kann und in vielen Be-reichen verbessert werden muss.Für die weitere Konzeption möchte ich als Haushalts-politiker auf drei Dinge hinweisen:Erstens. Neben der wichtigen Aufgabe, die Kinderbe-treuung auszubauen, dürfen wir nicht das Ziel aus denAugen verlieren, die über 50 unterschiedlichen familien-politischen Leistungen zu bündeln. Hieran arbeiten zur-zeit Kommissionen im Familienministerium und inner-halb der CDU/CSU-Fraktion.In diesem Zusammenhang ist an Folgendes zu erin-nern: Für die Finanzierung der Kinderbetreuung ist derBund eigentlich nicht zuständig.
Die Föderalismusreform hat noch einmal deutlich ge-macht, dass die Kinderbetreuung vor allen Dingen vonden Ländern und den Kommunen zu organisieren ist. Ichmeine, dass diese Aufgabe dort, insbesondere bei denKommunen, zu Recht angesiedelt ist. Kinderbetreuungin ländlichen Räumen ist natürlich anders als in urbangeprägten Räumen zu organisieren. Kinderbetreuungmuss dort organisiert werden, wo die Eltern Mitsprache-möglichkeiten haben, wo sie sich einbringen und beein-flussen können, wie die Kinderbetreuung vor Ort organi-siert wird. Entscheidend ist also, dass die Kommunenausreichende finanzielle Möglichkeiten hierzu erhalten.Ebenso richtig ist, dass es ein nationales Ziel ist, dieGeburtenrate zu erhöhen. Der Ausbau der Kinderbetreu-ung ist ein wesentliches Mittel, um dieses Ziel zu errei-chen. Ich stimme der Familienministerin ausdrücklichzu, dass der Bund sich hier engagieren muss. Frau vonder Leyen hat diese notwendige Impulsfunktion – so willich das nennen – erkannt und entsprechend ausgefüllt.Ich möchte zweitens auf einen weiteren in der Dis-kussion über Kinderbetreuung wichtigen Punkt hinwei-sen. Wir sollten bei der Erfüllung der notwendigen Auf-gabe, Kinderbetreuung zu organisieren, nicht den Fehlermachen, die Haushaltskonsolidierung aus den Augen zuverlieren. Haushaltskonsolidierung ist genauso wie derAusbau der Kinderbetreuung im Interesse unserer Kin-der. Der Bund ist von den Gebietskörperschaften amhöchsten verschuldet. Trotz der Mehreinnahmen, diejetzt geschätzt werden, haben wir keine Überschüsse,sondern weiterhin ein deutliches Haushaltsdefizit zu ver-zeichnen.Wir müssen begreifen, dass wir nicht dauerhaft mehrGeld ausgeben dürfen, als wir einnehmen. Die gegen-über den bisherigen Prognosen erfreulichen Steuerein-nahmen dürfen nicht zu dauerhaften Ausgabensteigerun-gen führen. Denn: Keiner weiß, wie lange die gutekonjunkturelle Lage anhält und wie lange wir mit denMehreinnahmen rechnen können. Eventuelle Mehraus-gaben für Kinderbetreuung sollten daher woanders ein-gespart werden. Ein konsequenter Sparkurs ist im Inte-resse der nachfolgenden Generationen.
Ich möchte auf einen dritten Punkt hinweisen, der mirin dieser Debatte wichtig ist: die Wahlfreiheit. Wir dür-fen diejenigen Eltern nicht vergessen, die ihr Kind selbst
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Dr. Ole Schröderbetreuen und dafür vorübergehend auf eine Berufstätig-keit verzichten wollen.
Die Familienpolitik hat wie bisher die Aufgabe, dieseEltern zu fördern. Zur Wahlfreiheit gehört auch, dass wirden Eltern keine bestimmte Betreuungsform vorschrei-ben dürfen.
Die Diskussion der letzten Wochen war aus meinerSicht zu sehr auf staatliche Angebote fixiert. Statt unsnur auf eine Objektförderung zu konzentrieren, solltenwir auch andere Förderungsarten – vielleicht eine stär-kere Subjektförderung – ins Auge fassen. Ich denke aneine bessere finanzielle Förderung der Familien. Ob dieEltern eine Tagesmutter, eine private, eine staatliche Kitaoder eine private Elterninitiative in Anspruch nehmen,sollte ihnen überlassen bleiben.
Wir müssen die Familienpolitik effektiver und unbü-rokratischer organisieren. Wichtig ist, dass das Geld amEnde bei den Eltern und Kindern ankommt und nicht inder Förderbürokratie versickert. Das gilt erst recht fürdie Kinderbetreuung.Im Rahmen der Aufstellung des nächsten Haushalts-und Finanzplanes werden wir entscheiden, wie wir diekonkrete finanzielle Beteiligung des Bundes gestaltenwerden. Ich bin mir sicher, dass wir zu einer überzeu-genden Lösung kommen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde
ist beendet. Wir hier im Präsidium haben neben dem leb-
haften Austausch der Argumente zur Kinderbetreuung
und zur Finanzierung der Kinderbetreuung mindestens
drei sprachliche Innovationen gezählt: Der Bettvorleger
hat eine Partnerin, die Bettvorlegerin, bekommen. Es
wird nicht mehr mit dem Klammerbeutel, sondern mit
dem Klammeraffen gepudert. Und es gibt die männliche
Erzieherin. Man muss am Ende eines solchen Tages ja
auch einmal seinen Erkenntnisfortschritt resümieren.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destags auf Mittwoch, den 23. Mai 2007, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute!