Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt.ZP Einspruch der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und Meneses Vogl gegen den am 26. April 1990 erfolgten Sitzungsausschluß4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Vertrag über die polnische Westgrenze — Drucksache 11/6951 —5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat am Prozeß der deutschen Einigung — Drucksache 11/6952 —ZP Eidesleistung des Wehrbeauftragten6. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und Ausnahmezustand in den kurdischen ProvinzenSind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Herr Abgeordneter Wüppesahl hat sich zur Geschäftsordnung gemeldet, aber er ist nicht anwesend.
Er hat sich die Sache etwas erleichtert und bittet den amtierenden Präsidenten, für ihn das zu verlesen, was er in der Geschäftsordnungsdebatte sagen wollte.
Aber ich denke, man sollte dem Wunsch eines einzelnen Abgeordneten im Einzelfall nachkommen.
Der Abgeordnete Wüppesahl verfolgt im Rahmen der heutigen Tagesordnung einen Antrag zur parlamentarischen Beteiligung am Prozeß der deutschen Einigung. Dieser Antrag hat nicht die nach der Geschäftsordnung vorgesehene Unterstützung von 26 Mitgliedern. Insoweit beantragt er eine Abweichung von der Geschäftsordnung, da der Antrag nur seine Unterschrift trägt. Das ist ein Antrag nach § 126 der Geschäftsordnung.Wir kommen zur Abstimmung, ob dieser Antrag des Herrn Abgeordneten Wüppesahl zulässig ist. Wer für die Abweichung von der Geschäftsordnung zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Keine Stimme dafür. Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Eine Enthaltung. Dieser Geschäftsordnungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.Damit entfällt auch die Abstimmung über den vom Abgeordneten Wüppesahl weiter gestellten Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung.
Aber es hätte nichts geschadet, wenn er wenigstens anwesend gewesen wäre.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 29. September 1988 zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, Regierungen von Mitgliedstaaten der Europäischen Weltraumorganisation, der Regierung Japans und der Regierung Kanadas über Zusammenarbeit bei Detailentwurf, Entwicklung, Betrieb und Nutzung der ständig bemannten zivilen Raumstation— Drucksache 11/4576 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
— Drucksache 11/6858 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Rüttgers Fischer
Dr.-Ing. Laermann
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16388 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Vizepräsident Stücklenb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung von Verwaltungsaufgaben auf dem Gebiet der Raumfahrt
— Drucksache 11/5994 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
— Drucksache 11/6859 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Rüttgers Fischer
Dr.-Ing. Laermann
Im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung 30 Minuten vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keine gegenteilige Meinung. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Rüttgers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob es in Zukunft üblich ist, daß ich vielleicht irgend jemanden in der Bundestagsverwaltung bitten kann, meine Rede hier zu verlesen, so daß ich mich inzwischen mit wichtigeren Fragen beschäftigen kann.
Ich glaube, es wird Zeit, daß wir einmal darüber nachdenken, ob so etwas in Zukunft abgestellt werden kann. Ich meine, das ist der Würde des Hauses nicht angemessen.
Meine werten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung zwei Gesetzentwürfe, die einen zentralen Bereich unserer Raumfahrtpolitik zum Gegenstand haben. Die Beteiligung an der internationalen Raumstation entspricht unserem langfristigen Interesse an einer internationalen Kooperation auf diesem Gebiet. Sie ist so etwas wie unsere Eintrittskarte in die weltweit beginnende zweite Phase der Weltraumnutzung.Ich halte es für wichtig, darauf hinzuweisen, daß durch dieses Abkommen Optionen geschaffen und neue Wege eröffnet werden — dies sowohl in der Technologieentwicklung wie in den Weltraumwissenschaften, aber auch und nicht zuletzt gerade auch im Hinblick auf Friedenssicherung durch Erdbeobachtung. Nachdem man dieses Dokument genau studiert hat, kann man — so meine ich — , wirklich sagen, daß es sich um ein gutes Dokument handelt, weil es fair in den Mitbestimmungsrechten, ausgewogen bei der Kostenverteilung und partnerschaftlich bei der Nutzung ist. Ich meine weiter, man kann sagen, daß bei diesem Abkommen deutlich wird, daß sich der europäische Kompetenzzuwachs, der in den letzten Jahren auch mit viel Geld und mit viel Arbeit und mit viel Know-how erst erarbeitet werden mußte, jetzt niederschlägt und wir als gleichberechtigte Partner anerkannt werden.Aber ich will eines hier heute morgen sehr deutlich machen: Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden diesem Vertragsgesetz zustimmen, aber es ist kein Blankoscheck für Columbus, und es wird keine Raumstation um jeden Preis mit uns geben. Das unterscheidet uns ja, verehrter Herr Kollege Vosen: Wir wollen zuerst die Ergebnisse der zur Zeit laufenden Überprüfung haben.
Wir wollen wissen, was im nächsten Jahr an Ergebnissen vorgelegt werden wird. Das Projekt steht Mitte nächsten Jahres erneut auf dem Prüfstand. Dann werden wir mehr über Zeitpläne und über den Kostenrahmen wissen. Wir haben — das ist ja auch im Ausschuß diskutiert worden — auf Grund des Vertragstextes nach Artikel 15 — etwa durch den Haushaltsvorbehalt — die Möglichkeit,
dann die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Das Parlament wird auf jeden Fall durch diesen Vertrag in seinen Rechten nicht präjudiziert. Um so wichtiger ist es dann, festzuhalten, daß die politischen Gründe für eine Ratifizierung zum jetzigen Zeitpunkt sprechen.Würden wir heute dieser Ratifizierung nicht zustimmen, wären die europäischen Staaten — nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch alle anderen kleineren europäischen Staaten — nicht in der Lage, die notwendigen Prozentzahlen der Beteiligung zu erbringen, um dem Vertrag dann auch in den Vereinigten Staaten zu einer Ratifikation zu verhelfen. Das heißt, wer hier heute nein sagt, muß wissen, daß er diese internationale Kooperation schwerstens belastet — sowohl innerhalb Europas wie im internationalen Bereich.
Das zweite ist das Raumfahrtaufgabenübertragungsgesetz, das wir hier behandeln. Unser Ziel war von Anfang an klar. Wir wollten keine klassische Projektträgerschaft, wir wollten keinen verlängerten Arm des Ministeriums, sondern wir wollten eine eigenverantwortliche und flexible Organisation. Ich finde es sehr gut, daß dieses Gesetz die deutliche Handschrift des Parlamentes trägt. Wir wollten eine möglichst umfassende Aufgabenübertragung durch die Ressorts erreichen, und durch die entsprechenden Änderungen, die im Forschungsausschuß gefunden wurden, Kollege Laermann, ist es uns gelungen, dies auch in aller Deutlichkeit klarzustellen.
In Zukunft sind alle Ressorts durch diese Formulierung, die hier heute sicherlich eine Mehrheit finden wird, verpflichtet, ihre Raumfahrtaktivitäten bei der DARA zu bündeln.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16389
Dr. RüttgersIch bin dankbar dafür, verehrter Herr Vosen, daß es bei diesem Gesetz möglich war, auch mit der SPD-Opposition konstruktiv zu einem Ergebnis zu kommen. Es wäre schön — das wäre eigentlich mein Wunsch — , wenn dies nicht nur bei einem solchen Organisationsgesetz möglich wäre, sondern wenn Sie auch bei anderen Fragen der Weltraumpolitik zu einer realistischen Basis zurückkommen könnten. Wenn wir allen Empfehlungen der SPD in der letzten Zeit gefolgt wären, dann hätten wir uns zwar von diesem Podium aus für internationale Kooperation ausgesprochen, hätten gleichzeitig aber alle Kooperationsprojekte verlassen, oder wir hätten uns für die Raumstation ausgesprochen und gleichzeitig unter Hinweis auf eine mögliche militärische Nutzung gesagt,
mit der Sowjetunion wollen wir dann engstens zusammenarbeiten. Das paßt eben nicht zusammen.Ich meine — das haben wir in verschiedenen Debatten schon gefordert —, es wird Zeit, daß die SPD-Opposition
gerade in ihrer Raumfahrtpolitik wieder mehr Stringenz zeigt, daß die endlich dazu zurückkommt, daß wir als Bundesrepublik Deutschland die Schritte, die wir gemeinsam angegangen sind, nun auch zu Ende führen. Das ist ein schwieriger Weg. Darin sind wir ja einer Meinung. Das wird auch im Hinblick auf die Finanzen noch einige harte Schnitte erfordern. Aber ich glaube, es gibt gerade im Hinblick auf die internationale Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit den europäischen Partnern — insbesondere mit Frankreich, aber auch mit den Vereinigten Staaten — keine Alternative zu einer solchen Raumfahrtpolitik mit Augenmaß.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Durch Zufall, der uns trotzdem nachdenklich stimmen sollte, werden wir heute, fast genau vier Jahre nach Tschernobyl, über die bundesdeutsche Weltraumpolitik und speziell über die ständig bemannte Raumstation sprechen und zu entscheiden haben.
Vor vier Jahren, am 26. April 1986 um 1.23 Uhr, ist Tschernobyl, eine kleine Stadt in der Ukraine, in die Geschichte eingetreten. Ereignet hatte sich dieser GAU trotz aller Sicherheitsversprechen, und Tausende von Menschen müssen jetzt für sehr lange Zeit mit den Auswirkungen der Katastrophe und der vergifteten Umwelt leben.Diese schwere Katastrophe, deren gesamte Folgen heute noch nicht annähernd abzusehen sind, hat zu einem Umdenken bei großen Teilen der Forscher und Politiker über die Chancen und Risiken gegenüber den Großtechnologien geführt. Nach Tschernobyl mißtraut man zu Recht den vollmundigen Versprechungen angeblich weltbeglückender Großtechnologien. Zu diesen Großtechnologien gehört neben der Atom- und der Gentechnologie sicher auch die Raumfahrt. Ihren Stellenwert für diese Regierung kann man u. a. an ihrem Anteil am gesamten Forschungsetat ablesen. Die Bundesregierung hat 1987 die Zustimmung zum Langzeitprogramm der ESA, der Europäischen Weltraumbehörde, gegeben, obwohl es schon damals große Bedenken zu den hohen Kosten und dem zu erwartenden Nutzen gab. Für die drei ESA-Großprojekte Columbus, Hermes und Ariane V stehen nach den Berechnungen des BMFT im Zeitraum 1988 bis zum Jahre 2000 knapp 22 Milliarden DM zur Verfügung. Inzwischen beträgt aber schon das Defizit bei diesen drei Weltraumprojekten bis zum Jahre 2000 8 Milliarden DM, und dies bei steigender Tendenz. Wenn Sie jetzt noch den aktuellen Bericht der Forscher des Johnson Space Center in Houston vom März dieses Jahres zur Raumstation lesen, kommen Sie selbst bei minimalen Rechenkünsten auf ein Vielfaches der ursprünglichen Kosten. Die genaue Höhe der Betriebskosten und die Kosten der Bodeninfrastruktur sind noch nicht einmal errechnet worden.
Es bleibt also festzuhalten: Die genauen Kosten sind unbekannt. Unbekannt ist bisher auch der forschungs- und wirtschaftspolitische Nutzen. Unbekannt ist auch das oft angekündigte und immer noch nicht vorliegende bundesdeutsche Weltraumprogramm, das 5. Weltraumprogramm, für die 90er Jahre. Auf dieser Grundlage wird hier Weltraumpolitik betrieben. Der Bundesforschungsminister, der zum großen Erstaunen auch noch beim Marsflug mitmachen will,
versteht die Raumfahrt „als einen Qualitätssprung ins Unerwartete".Das ist uns Sozialdemokraten und breiten Kreisen der Forschung und der Wirtschaft entschieden zu wenig. Wenn man das Plenarprotokoll unserer letzten parlamentarischen Auseinandersetzung zu diesem Thema im Dezember letzten Jahres, die Pressemitteilung der Kollegen Rüttgers und Lenzer und die des Kollegen Karl-Hans Laermann sorgfältig liest, gewinnt man schnell den Eindruck, daß der Minister bald alleine springen muß. Selbst der Bundesfinanzminister hat keine Lust, zusätzliche Mittel für diese Projekte auszugeben, und hat angesichts der hohen Kosten im Haushaltsausschuß erklärt, daß „eine erneute Überprüfung und Bewertung der deutschen Raumfahrtaktivitäten unter forschungs- und finanzpolitischen Gesichtspunkten vorzunehmen sein" wird.
Gab es schon bei Columbus und Hermes seit ihrer Planung genügend Schwierigkeiten, so sollte doch
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16390 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Fischer
wenigstens eine leistungsfähige Deutsche Raumfahrtagentur schnell gegründet werden. Dazu stehen wir auch heute noch. Das war das Ziel einer breiten Mehrheit hier im Parlament. Der ursprüngliche Sinn und Zweck der DARA war die Konzentration der deutschen Raumfahrtaktivitäten im Hinblick auf eine besser Interessenwahrnehmung gegenüber den europäischen Partnern und den USA. Schon frühzeitig haben wir diese Bemühungen unterstützt, siehe Drucksache 11/1641. Die DARA, die Deutsche Weltraumagentur, wurde aber erst 1989 nach großen Schwierigkeiten, Kompetenzgerangel der verschiedenen Ministerien und unklarer Aufgabenverteilung und Organisationsstruktur gegründet.Zusätzlich zu diesen teilweise noch immer nicht ausgeräumten Problemen ist die rechtliche Grundlage für die Tätigkeit der DARA, das hier vorliegende Raumfahrtübertragungsgesetz, recht schlampig konzipiert.Bemängelt werden in erster Linie zwei Punkte.Erstens. Kritisiert wird an diesem Gesetzentwurf, daß die im Weltraum engagierten Ministerien nicht verpflichtet werden, Kompetenzen an die DARA abzugeben. Wie ich mir inzwischen von Juristen habe erklären lassen müssen, geht auch unsere zweite in den Ausschußberatungen teilweise gemeinsam verfaßte Version zu diesem Gesetzentwurf nicht weit genug.
— Herr Weng, Sie haben vielleicht Ahnung vom Haushalt; aber hier geht es um Weltraumpolitik.Unsere Forderung, daß das Gesetz ein wirkliches Übertragungsgesetz wird, ist noch nicht erreicht worden.Zweitens. Der zweite strittige Punkt waren die verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Rechtsausschuß hat einstimmig, Herr Weng, rechtliche und verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Gesetzentwurf erhoben, weil eine gebotene Aufsicht trotz Kabinetts- und Staatssekretärsausschusses über die DARA nicht sichergestellt ist.Angesichts dieser umfangreichen Raumfahrtaktivitäten der Bundesrepublik halten wir es aber nach wie vor für richtig, eine Raumfahrtagentur zu gründen. Wir werden jedoch dem Raumfahrtaufgabenübertragungsgesetz nicht zustimmen, solange die beiden Punkte nicht genügend geklärt sind.
Auch an diesem Punkt zeigt sich wieder, daß sich die bundesdeutsche Raumfahrtpolitik unter der Verantwortung des Bundesforschungsministers in den letzten Jahren zunehmend zu einem Ärgernis entwikkelt hat
und daß daher selbst Fachleute, die sich für ein vernünftiges Raumfahrtengagement einsetzen, durch diese wiederholten Schlampereien vor den Kopf gestoßen werden.Der Gesetzentwurf zur Raumstation wird von uns aus mehrfachen Gründen abgelehnt. Ich möchte mich jetzt aber nur auf die beiden wichtigsten beschränken:Erstens. Eine ausschließlich friedliche Nutzung der Elemente des ESA-Projektes Columbus ist nicht gegeben, da jeder Partner, der ein Element bereitgestellt hat, bestimmt, ob eine geplante Benutzung des betreffenden Elements friedlichen Zwecken dient.Zweitens. Bis heute liegen keine auch nur annähernd genauen Kosten des Projektes vor. Bekannt ist nur, daß die Kosten trotz der Budgetkürzungen in den USA und der Tatsache, daß Teile des Projekts über Bord gegangen sind, steigen. Diese Änderungen wurden übrigens von den Amerikanern vorgenommen, ohne die europäischen Partner zu konsultieren.Vor dem Hintergrund dieser Aussagen und überprüfbaren Angaben halte ich es schlichtweg für eine große forschungspolitische Dummheit, einem Projekt zuzustimmen, dessen Nutzen, Kosten und Folgekosten unbekannt sind. Wenn Sie Ihre mehrfach geäußerte Kritik an der Raumstation ernst meinen und zu Ihrer Erklärung vom 7. März 1990 stehen, eben keinen Blankoscheck für die Raumstation zu unterschreiben, dann müssen Sie diesen Entwurf ablehnen.
Niemand wird verstehen, daß wir ausgerechnet jetzt trotz der neuen internationalen Lage mit den Veränderungen in Mittel- und Osteuropa einem Gesetz zustimmen, das weitere militärische Forschung im Weltraum erlaubt.
Wenn wir jetzt alle begrüßen, daß sich die internationale Sicherheitslage entspannt und damit weiterreichende Abrüstungsverhandlungen und -vereinbarungen ermöglicht werden, wenn die Menschheit den Weltraum nicht mehr als Ort zur Austragung ihrer Konflikte auf der Erde benutzt, dann müßte jetzt eine völlig neue internationale Arbeitsteilung und Kooperation möglich werden.
Wir Sozialdemokraten plädieren deshalb für eine neue Weichenstellung in der nationalen und internationalen Raumfahrtpolitik. Wir sollten die Chance ergreifen und die nationalen Finanznöte als positiven Anreiz zu mehr Kooperation und zur endgültigen Beseitigung von strategischen Weltraumprojekten benutzen.In Zukunft sollten daher nur noch die programmatisch und wirtschaftlich sinnreichsten Projekte mit einem überschaubaren finanziellen Rahmen und einem erkennbaren Nutzen von uns realisiert werden. Die Ablehnung des Raumstationsabkommens und ein an den oben genannten Zielen ausgerichtetes fünftes Weltraumprogramm könnten uns auf diesem Wege ein beträchtliches Stück weiterbringen.Schönen Dank.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16391
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Raumfahrtaufgabenübertragungsgesetzes wird eine weitere Voraussetzung erfüllt, die Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten zu einer wirkungsvollen Organisation zu machen, um in sich schlüssige Konzepte der deutschen Raumfahrtaktivitäten zu entwickeln, um alle deutschen Raumfahrtaktivitäten zu koordinieren und um die deutschen Interessen in den internationalen Organisationen und gegenüber den Organisationen der Partnerländer wirkungsvoll zu vertreten. Für die DARA müssen dazu die notwendigen Handlungsräume geschaffen werden. Sie muß mit den dazu notwendigen Kompetenzen ausgestattet werden.
Nach der zur Verabschiedung anstehenden Fassung von § 1 Abs. 1 des Raumfahrtaufgabenübertragungsgesetzes geht die FDP-Fraktion davon aus, daß tatsächlich alle Weltraumaktivitäten — ich betone ausdrücklich: alle Aktivitäten — im konzeptionellen und Managementbereich der Bundesregierung, also allen beteiligten Ressorts, übertragen werden. Wir werden sehr sorgfältig verfolgen, ob dies auch geschieht. Wir stellen hohe Anforderungen an die DARA. Unsere Erwartungen an die Leistungen der DARA sind sehr hoch; aber dann müssen auch die Bedingungen für eine erfolgreiche Arbeit stimmen. Deswegen bedarf es des Raumfahrtaufgabenübertragungsgesetzes.
Es wird gewiß keine leichte Arbeit sein, wie ich mit Bezug auf das zweite heute zur Verabschiedung anstehende Gesetz zu dem Übereinkommen zwischen den Regierungen der USA, den Mitgliedstaaten der europäischen Weltraumorganisationen, Japans und Kanadas über die Zusammenarbeit bei Entwurf, Entwicklung, Betrieb und Nutzung der ständig bemannten zivilen Raumstation feststellen möchte.
Erstens. Welche technischen Schwierigkeiten werden bei der Entwicklung der amerikanischen „Freedom" und in der Folge für Columbus auftreten?
Zweitens. Wie werden sich die Kosten des Projektes Columbus entwickeln?
Drittens. Wir fragen erneut, nicht erst durch jüngste Nachrichten aus Kreisen der NASA veranlaßt, nach den Folgekosten, den Betriebs-, den Wartungs-, den Nutzungskosten des Columbus-Projektes einschließlich der übrigen europäischen Langzeitprojekte.
Wenn der Direktor der Europäischen Weltraumorganisation, Herr Engström, eine rasche Entwicklung anmahnt und dazu aufruft, jetzt müßten sich staatliche und private Nutzer für das Projekt interessieren, dann müssen doch zunächst einigermaßen verläßliche Angaben über Nutzerkosten vorliegen, abgesehen davon, daß allmählich Nutzerprojekte konkretisiert sein sollten.
Also, es müssen noch eine Vielzahl von Fragen beantwortet werden.
Ich darf feststellen: Die FDP-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf unter der Prämisse zu, daß mit der Zustimmung das Recht von Regierung und Parlament zur Überprüfung der Entwicklungsergebnisse zu Columbus und die Freiheit der Entscheidung über weitere Entwicklungsschritte in den verschiedenen Phasen nicht beeinträchtigt wird. Ich stelle ausdrücklich, ich glaube, auch im Einvernehmen mit den Koalitionspartnern, fest: Mit der Zustimmung zum Gesetz ist kein Blankoscheck für den weiteren automatisierten Ablauf des Projektes Columbus ausgestellt.
Es mag auch sein, daß die eine oder andere Festlegung im Übereinkommen nicht den Erwartungen entspricht. Aber wer die Verhandlungen darüber verfolgt hat, der muß zugeben, daß die meisten und wichtigsten Positionen im Interesse der europäischen Partnerstaaten verhandelt worden sind. Dafür danken wir dem Verhandlungsführer.
Wenn die FDP dem Gesetz heute zustimmt, dann tut sie dies auch und besonders in der Erkenntnis und in der Würdigung der Bedeutung des Übereinkommens für die internationale Zusammenarbeit, für die friedliche wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit im Weltraum. Sie tut das in der Erwartung, daß die derzeitigen politischen Entwicklungen der Überwindung des Ost-West-Konfliktes dazu führen, daß über bilaterale Beziehungen hinaus in diese Zusammenarbeit auch die Sowjetunion und andere Staaten zukünftig einbezogen werden.
Hier liegt eine ungeheure Chance, über eine friedlichen Zwecken dienende wissenschaftliche Kooperation die Gefahr eines Krieges der Sterne zu überwinden und das friedliche Zusammenleben der Menschen auf der Welt zu fördern. Ich denke, daß dies eine wichtige Aufgabe ist, die wir unter außenpolitischen internationalen Aspekten zu betrachten haben. Deswegen sind wir der Auffassung, daß wir in der Solidarität der europäischen Partnerstaaten diesem Gesetzentwurf heute zustimmen sollten.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Karl Kraus hat einmal gesagt, sein Land sei ein Land, in dem man durch Erfahrung dumm werde. Er hat nicht das BMFT dieser Bundesregierung gekannt. Vielleicht hätte er sonst dieses spöttische Wort dem Bundesministerium für Forschung und Technologie des derzeitigen Bundeskabinetts zugedacht.Nicht lernen will das BMFT nämlich insbesondere, daß die Weltraumfahrt und ihre Förderung wie die Förderung sonstiger sogenannter Schlüsseltechnologien uns nicht aus der technologischen Sackgasse herausführen, sondern noch tiefer hineinführen werden. Auch die DDR ist übrigens nicht zuletzt an der Konzentration auf die Förderung von Schlüsseltechnologien politisch gescheitert. Schöne Grüße von
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16392 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Dr. BriefsHerrn Mittag an Herrn Bundesminister Riesenhuber!
ökologisch scheitern, sozial scheitern und bei den Entspannungsbemühungen scheitern. Sie strangulieren nämlich mit dem Wachstum der Raumfahrtförderung nicht nur Ihren eigenen Etat, sondern auch die notwendige sozialorientierte und umweltverbessernde Forschungs- und Entwicklungspolitik.
Weltraumforschung hat einen Anteil von 10 % an den Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung und von fast 20 % am BMFT-Haushalt, Umweltforschung dagegen nur 3 bzw. 6 %. Das allein ist schon ein Skandal.
Die Weltraumforschung hat von 1987 bis 1990 um 38 v. H. zugenommen, die gesamten Forschungs- und Entwicklungsausgaben des Bundes dagegen nur um 13 v. H. Von 1979 bis 1988 hat die Raumfahrtförderung um 95 v. H. zugenommen, die Förderung der Umweltforschung dagegen nur um 73 v. H.
Für sozialorientierte Forschung geben Sie übrigens eh nur Kleckerbeträge aus: Für TFA, für Technologiefolgenabschätzung, ganze 0,04 v. H., für Friedensforschung nur ganze 0,02 v. H. Sie klotzen bei der Forschungsförderung zugunsten der Industrie. Sie klekkern dagegen, wenn es um unsere Umwelt und um soziale Forschung geht.
Unübersehbare weitere Milliarden Ausgaben für die Folgeprojekte, die Gefahr einer Kostenexplosion für die Raumfahrt insgesamt kommen auf die Bundeshaushalte der Zukunft zu. — Das ist die erste Gefahr.
Die zweite Gefahr: Weder bei Trägerraketen noch bei Raumstationen ist die militärische Nutzung auszuschließen. Sie weigern sich also, aus dem deutschdeutschen Umbruch, der dramatischen Veränderung der militärischen Konfrontationsbedingungen und dem Abbau von Spannungsfeldern in Europa und in der Welt zu lernen.
Dagegen profitiert die Wirtschaft von der Weltraumfahrt und ihrer Förderung, insbesondere die kleine Zahl aggressiver High-Tech-Konzerne wie Daimler-Benz. Ihre Forschungs- und Entwicklungspolitik macht die Industrie und die Wirtschaftslandschaft in der Bundesrepublik immer High-Tech-lastiger.
Sie betreiben damit zudem industriepolitische Inzucht, abseits vom Bedarf der Bevölkerung und abseits von den Notwendigkeiten des Umweltschutzes. Nur 3 v. H. der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen der bundesdeutschen Industrie werden von den Raumfahrtkonzernen aufgebracht. Sie erhalten aber 30 v. H. der Fördermittel.
Die Weltraumfahrt ist eines der Paradepferde der FuT-Politik dieser Bundesregierung. Nur, gespannt werden diese Pferde ausschließlich vor den Karren der
Industrie, die damit zu weiteren Profiten losrast. Ihre Forschungs- und Technologiepolitik und die Förderung der Weltraumfahrt sind undemokratisch, weil sie zudem in kleinen Zirkeln von Wirtschaftsbossen, industrieorientierten Wissenschaftlern und Staatsbeamten ausgekocht werden. Vielleicht brauchen wir auch bei uns in der BRD Bürgerkomitees, die sich einmal Zugang zu den Akten, Tresoren und Computeranlagen von Konzernen wie Daimler-Benz oder auch des BMFT verschaffen, so wie es in der DDR die Bürgerkomitees gemacht haben.
Der Rechtsausschuß befürchtet im übrigen zu Recht, daß die DARA nicht recht transparent und kontrollierbar sein wird. Also tatsächlich teilweise Verhältnisse wie in der DDR?
Wir lehnen daher aus diesen und grundsätzlichen Gründen das Raumfahrtaufgabenübertragungsgesetz ab. Die DARA scheint uns im übrigen vor allem auch Prestigegesichtspunkten Rechnung tragen zu sollen. Wir lehnen ebenso das Übereinkommen vom 29. September 1988 zur bemenschten Raumstation ab, insbesondere da hier trotz der derzeitigen Entspannung und des Abbaus von Konfliktpotentialen technische Systeme, die für militärische Angriffszwecke und für Spionage nutzbar sind, entwickelt und gefördert werden. Eine Umkehr in der Forschungs- und Technologiepolitik tut dringend not. Die Bundesregierung muß sich endlich um die vordringlichen Aufgaben, insbesondere im Umweltschutz, kümmern, statt riesige Mittel für riskante großtechnologische Schauprojekte wie die Raumfahrt zu vergeuden.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Briefs, ich möchte eingangs nur zwei Punkte klarstellen. Sie sagen, wir haben hier eine Förderung der Großprojekte zu Lasten der Projekte, die Sie als prioritär ansehen. Sie sprechen von Umweltforschung. Wir haben heute ein Umweltforschungsprogramm, das größer ist als alle Umweltforschungsprogramme unserer europäischen Partnerstaaten gemeinsam. Wir geben mit über 700 Millionen DM im Jahr zwei Drittel von dem aus, was die Vereinigten Staaten ausgeben. Wir haben Umweltforschung in jedem der vergangenen Jahre um das Zwei- bis Drei-, manchmal bis um das Vierfache des Haushalts steigen lassen. Wir haben Klimaforschung in einer Zeit versiebenfacht, als mein Haushalt um 25 % gesteigert wurde.
Wir wissen um die Verantwortung für die Prioritäten, die wir setzen. Wir reden nicht nur in großartigen Worten über irgend etwas, was sein sollte. Wir fassen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16393
Bundesminister Dr. Riesenhuberdie Entscheidungen so, daß die Probleme rechtzeitig erkannt und beherrscht werden.
Sie sprechen hier über Technikfolgenabschätzung. Wir haben Technikfolgenabschätzung unterstützt wie nie zuvor. Wie Sie auf Ihre Prozentbruchteile kommen, weiß ich nicht. Wir liegen weit über 100 Millionen DM.Sie sprechen über die Geistes- und Sozialwissenschaften. Wir haben unsere Ansätze dazu um 100 % gesteigert, in einer Zeit, als der Haushalt um 25 % gesteigert wurde. Wir setzen die Prioritäten so, wie es der Sache angemessen ist. Aber wir machen auch große Projekte, an denen sich eine große Industrienation in der Gemeinschaft der Völker beteiligen muß. Dazu gehört die internationale Raumstation Freiheit, und dazu gehört Columbus.
Was wir hier in den Verträgen erreicht haben, geht weit über das hinaus, was Skeptiker ursprünglich für möglich gehalten haben: eine faire Partnerschaft im Management, die freie Verfügung über das Wissen, die Möglichkeit des Technologietransfers, die garantierten Zusagen des Transfers von Material und Menschen und von Informationen von der Raumstation zur Erde, die kommerzielle Nutzung. Wir haben hier einen Vertrag erreicht, der in Fairneß und Partnerschaft Möglichkeiten nutzt — von der Erdbeobachtung bis zur Schwerelosigkeit, von dem Start interplanetarischer Missionen bis zu der Kooperation beim Blick in die Tiefe des Raums.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Herr Minister, könnten Sie freundlicherweise einmal sagen, wie Sie das alles, von dem Sie da schwärmen, bezahlen wollen?
Herr Vosen, seit ich die Freude habe, dieses Amt zu führen — in einer Erbschaft, die ich von anderen übernommen habe —,
bekomme ich hier diese Frage mit schöner Regelmäßigkeit vorgelegt.Ich erinnere mich an eine faszinierende Haushaltsdebatte, bei der mir die Kollegen aus Ihrer Fraktion gesagt haben: Der Riesenhuber faßt die Großprojekte an. Sie werden ihm außer Kontrolle laufen, wie uns, den Sozialdemokraten, der Brüter und der Hochtemperaturreaktor aus der Kontrolle gelaufen sind. Inzwischen laufen die Projekte.Hera in Hamburg ist mit 1,34 Milliarden DM im Haushalt, im Kostenplan und im Zeitplan auf den Punkt gebracht worden. GSI in Darmstadt wurde mit 287 Millionen DM veranschlagt; 287 Millionen DM hat es gekostet. Wir haben hier die Schiffe gebaut; sie sind im Zeit- und Kostenplan. Es hängt nicht nur da von ab, daß man hier großartig über die Großprojekte redet; ein bißchen handwerkliche Vernunft beim Management gehört dazu. Und bis jetzt haben wir es geschafft.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, insofern haben wir hier ein Abkommen, das tragfähig ist. Wir sind uns darüber klar — und das ist in den Beschlüssen von Den Haag enthalten —, daß wir in der ersten Hälfte nächsten Jahres Columbus und Hermes neu überprüfen müssen, daß wir feststellen müssen, wie sich die Daten zu den Investitionskosten und Betriebskosten verhalten. Karl-Hans Laermann hat das angesprochen.In beiden Verträgen — sowohl bei ESA als auch im Intergovernment Agreement — sind die Möglichkeiten eines Rücktritts — formal — drin. Aber ich sage ausdrücklich: Wir wollen diese Zusammenarbeit. Wir wollen diese internationale Kooperation gerade in einer Zeit, in der die gemeinsamen Aufgaben zusammenwachsen.Die SPD mahnt an, daß wir hier auch mit dem Osten wieder stärker zusammenarbeiten sollen. Sie sprechen darüber. Wir aber machen die Verträge mit der DDR. Herr Jähn wird einer unserer Ausbilder sein. Wir machen die Verträge mit der Sowjetunion. Einer unserer Astronauten wird zur Raumstation mitfliegen. Wir arbeiten die Sache konsequent durch. Wenn Sie die Grundsätze zum Maßstab Ihrer Entscheidungen nehmen, dann können Sie dieser Sache nur zustimmen. Ich lade Sie herzlich dazu ein.
Was die Position der Bundesrepublik betrifft: Mit 38 %, Karl-Hans Laermann, haben wir eine Position, in der wir bei einer doppelten Zweidrittelmehrheit, die die Verträge verlangen, eine besondere Verantwortung dafür haben, daß sie unter vernünftigen und kontrollierbaren Kriterien entschieden werden. So werden wir auch die Kosten unter Kontrolle halten.Das Raumfahrtaufgaben-Übertragungsgesetz wird DARA zu dem flexiblen Instrument machen, das wir brauchen. Sie wird zügig aufgebaut. Wir werden Mitte des Jahres 160 Mitarbeiter haben. Wir werden ihr hoheitliche Aufgaben übertragen. Der Forschungsminister hat alle Voraussetzungen geschaffen, aus den Projektträgern und den Ministerien die entsprechenden Managementaufgaben an die DARA zu übergeben. Wir wollen eine starke und energische DARA. Wir freuen uns, daß sie uns schon jetzt in der ESA vertritt.Wenn wir dies alles zusammenfassen, dann haben wir eine Strategie, die stimmt, eine verantwortliche Haushaltsplanung, internationale Verträge, die tragfähig sind, eine wachsende Zusammenarbeit auch über die Grenzen der Blöcke hinweg und großartige Ziele, die uns helfen, in Zukunft die Probleme zu lösen, auch die Probleme auf der Erde. Daran wollen wir zusammen arbeiten. Wir werden im Rahmen dessen, was wir im Haushalt darstellen können, einen verantwortbaren Beitrag der Bundesrepublik zur friedlichen Nutzung des Weltraums in der Gemeinschaft der Völker leisten — eine friedliche Nutzung,
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16394 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Bundesminister Dr. Riesenhuberdie in den Verträgen festgeschrieben ist und zu der wir fest und entschieden stehen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf des Gesetzes über die Zusammenarbeit bei Detailentwurf, Entwicklung, Betrieb und Nutzung der ständig bemannten zivilen Raumstation auf den Drucksachen 11/4576 und 11/6858.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift, auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Damit ist dieses Gesetz angenommen.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zum Raumfahrtaufgabenübertragungsgesetz auf den Drucksachen 11/5994 und 11/6859.
Ich rufe die §§ 1 bis 5, Einleitung und Überschrift, mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Diese Vorschriften sind mit Mehrheit angenommen. Damit ist diese Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dieses Gesetz ist in dritter Lesung mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt auf:
Einspruch der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und Meneses Vogl gegen den am 26. April 1990 erfolgten Sitzungsausschluß *)
Der Einspruch ist fristgerecht vorgelegt worden. Über diesen Einspruch entscheidet der Bundestag gemäß § 89 unserer Geschäftsordnung ohne Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einspruch der Abgeordneten Oesterle-Schwerin und des Abgeordneten Meneses Vogl stattgeben möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Anzahl von Enthaltungen wurde der Einspruch mit Mehrheit abgelehnt, zurückgewiesen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Wahl des Wehrbeauftragten
Die Fraktion der CDU/CSU hat für die Wahl den Abgeordneten Alfred Biehle, die Fraktion der SPD den Abgeordneten Horst Jungmann vorgeschlagen.
*) Anlage 2
Ich darf Ihnen mitteilen, daß die Vorgeschlagenen die in § 14 Abs. 1 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages genannten Voraussetzungen für die Wahl erfüllen. Diese Vorschläge entsprechen den Erfordernissen des § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages.
Meine Damen und Herren, ist ein Mitglied des Hauses anwesend, bei dem über den Wahlmodus Unklarheiten bestehen.
— Ich sehe, alle sind bestens informiert. Damit eröffne ich die Wahl. —
Meine Damen und Herren, ich frage die Mitglieder des Hauses, ob die, die sich an der Wahl beteiligen wollen, ihre Stimme abgegeben haben? — Dies scheint der Fall zu sein. Ich schließe die Wahlhandlung. *)
Wir fahren in der Tagesordnung fort.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 der Tagesordnung auf:
21. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Bericht über den Stand der Verhandlungen mit der DDR
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Vertrag über die polnische Westgrenze
— Drucksache 11/6951 —
Überweisungsvorschlag: Ältestenrat
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat am Prozeß der deutschen Einigung
— Drucksache 11/6952 —Überweisungsvorschlag: Ältestenrat
Zur Regierungserklärung liegen Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/7016, 11/7025 und 11/7026 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich erteile das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung dem Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den zurückliegenden Wochen und Monaten haben wir auf dem Weg zu Freiheit, Menschenrechten und Selbstbestimmung für alle Deutschen Fortschritte gemacht, wie sie noch vor einem halben Jahr kaum jemand für möglich gehalten hätte. Niemand kann zweifeln: Wir sind der Einheit unseres Vaterlandes ein weiteres, großes Stück näher-*) Ergebnis Seite 16399
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16395
Bundesminister Seitersgerückt, so nahe wie niemals zuvor seit der Teilung unseres Landes.
Mit den Wahlen vom 18. März 1990 haben unsere Landsleute in der DDR ein klares und überzeugendes Bekenntnis abgelegt zur freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie, zur Einheit unseres Vaterlandes, zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Verankerung Deutschlands in der Gemeinschaft freier Völker. Dieses Votum bestätigt gleichzeitig alle diejenigen, die immer davon überzeugt waren — und dies auch immer als ihre Überzeugung gesagt haben —, daß die Menschen in der DDR nicht nur die Freiheit, sondern auch die Einheit wählen würden, wenn sie denn die Gelegenheit dazu bekämen.
Mit der Konstituierung der ersten frei gewählten Volkskammer erfüllt sich auch der Ruf „Wir sind das Volk", mit dem die Menschen im Herbst vergangenen Jahres ihr Recht auf Selbstbestimmung einforderten. Zum erstenmal nach 57 Jahren konnten in diesem Teil unseres Vaterlandes wieder frei gewählte Abgeordnete ins Parlament einziehen. Darauf können wir Deutschen in Ost und West mit Recht stolz und froh sein.
Die Volkskammer hat gleich zu Beginn ihrer Arbeit eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die in der ganzen Welt große Beachtung fand. Darin bekennen sich die Abgeordneten der Volkskammer in eindrucksvoller Weise zur gemeinsamen historischen Verantwortung aller Deutschen. Dies ist ein Dokument der Einheit und der Gemeinsamkeit.Noch vor Ostern konnte eine neue Regierung gebildet werden, die von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen wird. Diese Regierung unter Führung von Ministerpräsident Lothar de Maizière ist die erste demokratisch legitimierte Regierung in der DDR. Sie steht jetzt vor einer außerordentlich schwierigen Aufgabe und trägt eine große Verantwortung. Sie verdient unser volles Vertrauen und unsere volle Unterstützung.
Mit der Regierungserklärung vom 12. April 1990 hat sich die Regierung der DDR zur staatlichen Einheit Deutschlands, zu Freiheit, zu Rechtsstaatlichkeit, zu Föderalismus und zur Sozialen Marktwirtschaft bekannt. Damit ist auch zwischen Elbe und Oder die Zeit der totalitären Einparteienherrschaft zu Ende.Für die Bundesregierung bedeutet dies, daß wir nun endlich gemeinsam mit einem gleichberechtigten, demokratisch legitimierten Partner den Weg zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gestalten können. Wir sind fest entschlossen, diese große Chance für ganz Deutschland in nationaler Verantwortung, in Solidarität und auch im Bewußtsein unserer Verantwortung gegenüber unseren Nachbarn in West und Ost zu nutzen.Wir haben unser Angebot — ein weitreichendes und mutiges Angebot — unterbreitet: die rasche Verwirklichung der Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur deutschen Einheit und eine der größten politischen Gestaltungsaufgaben der Nachkriegsgeschichte. Wir haben dieses Angebot gemacht, weil wir überzeugt sind, nur auf diesem Wege — der Einführung der D-Mark auch in der DDR — den Menschen eine überzeugende Perspektive für eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lebensverhältnisse zu geben.Es sollte ein Signal sein, den Strom von Übersiedlern zu stoppen: 360 000 Übersiedler von Anfang November 1989 bis Ende März 1990. Die Zahlen sind jetzt rückläufig: Statt rund 74 000 Übersiedler im Januar und 64 000 im Februar kamen im März noch 46 000; im April wurden bis heute knapp 16 000 Übersiedler registriert.Wir verkennen nicht, daß wir bei der Verwirklichung dieser Aufgabe viele schwierige Probleme lösen müssen. Mit dem Übergang von der maroden sozialistischen Mißwirtschaft nach über 40 Jahren zur Sozialen Marktwirtschaft betreten wir in vieler Hinsicht Neuland. Im Grunde ist dieses Unternehmen überhaupt nicht vergleichbar: die Umwandlung einer gescheiterten, über 40 Jahre gewachsenen sozialistischen, zentralistischen Planwirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft innerhalb von wenigen Wochen und Monaten. Das macht die ungewöhnliche Dimension dieses Unternehmens deutlich, für die es bisher kein historisches Vorbild gibt.Eine solche Aufgabe erfordert von uns allen viel Mut und Energie, Phantasie und politischen Gestaltungswillen. Aber wir können sie lösen, wenn wir uns in der Bundesrepublik und in der DDR etwas zutrauen und diese große Aufgabe beherzt anpacken. Wir sagen unseren Bürgern, daß von dem dynamischen wirtschaftlichen Aufholprozeß, den wir in dem Gebiet der DDR durch den Übergang zur Marktwirtschaft erleben werden, alle profitieren, nicht nur die Bürger im anderen Teil Deutschlands, sondern auch wir.
Ich sage aus tiefer Überzeugung: Zukunftspessimismus, Kleinmut, Skepsis und Distanz gegenüber den notwendigen Veränderungen sind keine Basis für einen erfolgreichen Neuanfang. Ich kann nur an alle Beteiligten, an uns alle appellieren, den sicherlich schwierigen Neubeginn nicht durch polemische Verzerrungen und das Schüren von Angst oder Neidgefühlen zu erschweren.
Es sollte auch niemand die Verantwortung auf sich nehmen, die Verwirklichung der Währungsunion zu verzögern. Der Übersiedlerstrom würde wieder anschwellen, und die Hoffnungen vieler Menschen würden entäuscht. Dies kann niemand von uns wollen. Diese Bundesregierung und diese Koalition wollen es jedenfalls nicht.
Die Bundesregierung hält deshalb an ihrem Zeitplan fest. Das heißt konkret: Einigung über die wesentlichen Punkte der Währungsumstellung bis An-
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16396 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Bundesminister Seitersfang Mai und Verwirklichung der Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft bis zum 2. Juli 1990.Die Bundesregierung hat in dieser Woche mit der Regierung der DDR die Gespräche über einen Staatsvertrag zur Verwirklichung der Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft aufgenommen, unmittelbar nach dem umfassenden Meinungsaustausch zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident de Maizière am vergangenen Dienstag in Bonn. Bei diesem Treffen ist dem Ministerpräsidenten der DDR das Arbeitspapier über die Gespräche für einen Staatsvertrag überreicht worden.Am gleichen Tage bzw. am nächsten Morgen sind diese Unterlagen dem Oppositionsführer, allen Fraktionen des Deutschen Bundestages und allen Bundesländern zugeleitet worden. Die Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder wurden von mir am gestrigen Tage in einer Konferenz in Bonn unterrichtet, ebenso die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der besonders befaßten Ausschüsse des Deutschen Bundestages.Ich sage dies mit Blick auf die Kritik, die Bundesregierung würde parlamentarische Gremien, würde die Opposition oder die Länder nicht genügend unterrichten und ihnen Unterlagen vorenthalten. Ich halte diese Kritik nicht für berechtigt. Wenn wir von gleichberechtigter Partnerschaft mit der DDR sprechen, dann muß der Regierungschef der DDR auch der erste sein, der die Vorschläge der Bundesregierung in die Hand bekommt.
Alles andere wäre nun wirklich kein akzeptables Verfahren.Nach unseren Vorstellungen soll der Vertragstext ein klares Bekenntnis beider Seiten zur freiheitlichen demokratischen und sozialen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes enthalten. Das bedeutet auch, daß entgegenstehende Vorschriften der DDR-Verfassung nicht mehr angewendet werden. Ich brauche ja nur Stichworte über einzelne Vorschriften zu nennen: die staatliche Leitung und Planung der Volkswirtschaft und aller anderen gesellschaftlichen Bereiche, das Währungs- und Finanzsystem als Sache des sozialistischen Staates, das sozialistische Eigentum, sozialistische Betriebe und Produktionsgenossenschaften mit der damit verbundenen Einschränkung wirtschaftlicher Handlungsfreiheit, Gewerkschaften als umfassende Klassenorganisation einer sozialistischen Gesellschaft oder die staatliche Monopolisierung der Außenwirtschaft.In der Präambel des Vertrages soll auch ausdrücklich festgehalten werden, daß die Schaffung der Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft die Herstellung der staatlichen Einheit nach Art. 23 des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Tatsache vorbereiten soll, daß die äußeren Aspekte der Einheit Gegenstand der Gespräche im Rahmen Zwei plus Vier sind.Der Hinweis auf Art. 23 ist besonders wichtig. Das Grundgesetz ist anerkannt als Basis für die erste stabile Demokratie auf deutschem Boden. Es ist die beste Verfassung, die Deutsche jemals hatten.
Das Wahlergebnis vom 18. März 1990, aber auch die öffentlichen politischen Erklärungen der überwiegenden demokratischen Kräfte in der DDR zeigen doch: Auch die Menschen in der DDR wollen die Einheit auf dem Boden des Grundgesetzes.
Meine Damen und Herren, ein gemeinsamer Regierungsausschuß soll bei der Durchführung des Vertrages das notwendige Einvernehmen gewährleisten. Über die parlamentarischen Fragen und über den Parlamentsausschuß werden wir ja noch miteinander — ich denke, gemeinsam — reden.Darüber hinaus beinhalten unsere Vorschläge jeweils ein Kapitel mit Bestimmungen über die Währungsunion, die Wirtschaftsgemeinschaft, die Sozialgemeinschaft sowie über Staatshaushalt und Finanzen.Kernpunkt der Ausführungen zur Währungsunion sind zweifellos die Grundsätze der Umstellungsmodalitäten. Hierzu hat die Bundesregierung zu Beginn dieser Woche ihr Angebot an die DDR im einzelnen dargelegt. Es ist ein faires und großzügiges Angebot.
Es ist kein taktisches Angebot. Es wird von der Verantwortung gegenüber der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands getragen. Es wird getragen von der Verantwortung gegenüber unseren Landsleuten in der DDR, die ein schweres Schicksal zu tragen hatten, wie auch gegenüber den Bürgern und Steuerzahlern der Bundesrepublik Deutschland, denen wir Rechenschaft schulden. Es steht schließlich in der Verantwortung auch gegenüber der Stabilität der D-Mark, an der die Menschen in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen ein ganz elementares Interesse haben müssen.
Wir wissen, daß wirtschaftliche Instabilität immer auch den Keim politischer Instabilität in sich trägt. Deshalb werden wir die Stabilität der D-Mark nicht gefährden, sondern wahren.
Ich füge hinzu: Unser Angebot geht über das hinaus, was der Bundeskanzler vor den Wahlen am 18. März 1990 versprochen hat. Deshalb nur ein Satz: Ich weise auch an dieser Stelle die in den letzten Wochen aus den Reihen der Opposition erhobenen falschen und unwahren Vorwürfe mit allem Nachdruck zurück.
Ich verweise darauf, daß Löhne und Gehälter grundsätzlich im Verhältnis 1 : 1 gegenüber dem jetzigen Stand — ohne Ausgleichszahlung für Subventionsabbau und bei Verwirklichung der Preisreform in der DDR — umgestellt werden sollen. Bundesregie-
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Bundesminister Seitersrung und Koalition sind sich darüber einig, daß der künftigen Lohnpolitik in der DDR eine große und entscheidende Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe in der DDR zukommt.Ich verweise auch darauf, daß nach dem Vorschlag pro Person ein Betrag bis zu 4 000 Mark der DDR im Verhältnis 1 : 1 umgetauscht werden soll. Für eine vierköpfige Familie bedeutet das die Möglichkeit eines Umtauschs von 16 000 Mark der DDR im Verhältnis 1: 1 in D-Mark und eines darüber hinausgehenden Guthabens in Höhe von 2 : 1.All das ist vor dem Hintergrund der Angaben der DDR-Staatsbank zu sehen, wonach von rund 23 Millionen Sparkonten rund 16 Millionen über Guthaben von weniger als 5 000 Mark der DDR verfügen. Deshalb wiederhole ich: Dies ist ein großzügiges und auch faires Angebot an unsere Landsleute in der DDR.Ich habe manchmal den Eindruck, daß in der DDR wie vor den Wahlen so auch jetzt ganz bewußt unter parteipolitischen Gesichtspunkten Ängste geschürt und Mißverständnisse gestreut werden. Ich kann mich über die Töne aus den Reihen der PDS nur wundern, also der Partei SED-PDS, die diesen Staat und insbesondere unsere Landsleute in der DDR über viele Jahre ins Unglück gestürzt haben. Darüber gibt es doch wohl keine Meinungsverschiedenheiten.
— Meine Damen und Herren, ich kann mich wirklich nur wundern. Ich habe von der breiten parlamentarischen Mehrheit in der DDR gesprochen, von dem Bündnis der Kräfte der Mitte, die sich dort unter Führung von de Maizière zusammengefunden haben. Und der Außenminister ist Herr Meckel von der SPD. Ich setze mich ausschließlich mit denen der SED und PDS auseinander, die jetzt wieder Ängste schüren. Ich kritisiere das. Ich denke, in dieser Frage gibt es zwischen uns keine Meinungsverschiedenheiten.
Bei den Bestimmungen zur Wirtschaftsgemeinschaft geht es entscheidend um die Sicherung der notwendigen Rahmenbedingungen für die Funktionsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft in der DDR. Bei der Sozialgemeinschaft geht es insbesondere um die Absicht der DDR, ein gegliedertes System der Sozialversicherung analog zum System der Bundesrepublik Deutschland einzuführen.Ich will besonders hervorheben, daß für die Rentner nach Auffassung der Bundesregierung mit Inkrafttreten des Vertrages die sofortige Anhebung des Rentenniveaus von derzeit etwa 50 % auf 70 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsverdienstes vorgesehen werden soll, so wie dies unseren Regelungen entspricht. Das bedeutet, daß die meisten Renten in D-Mark höher liegen werden als heute in Mark der DDR. Soweit sich in Einzelfällen ein niedrigerer Betrag in D-Mark gegenüber der bisherigen Höhe in Mark der DDR ergibt, wird sichergestellt, daß die bisherige Rentenhöhe in D-Mark gezahlt wird.Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Unser Angebot zur Anschubfinanzierung bei der Renten- und Arbeitslosenversicherung besteht unverändert und soll auch im Vertragstext festgehalten werden.Hieraus wird mehr als deutlich: Wir sind bereit, Vorsorge für die Schwierigkeiten zu treffen, die sich beim notwendigen Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft nicht vermeiden lassen.Der Bundeskanzler hat immer wieder betont, daß gerade die älteren Menschen, die den Krieg und über 40 Jahre sozialistische Mißwirtschaft ertragen mußten, heute in besonderer Weise unser Verständnis, unseren Respekt und unsere Zuneigung verdienen. Diesen Menschen fühlt sich die Bundesregierung in besonderer Weise verpflichtet.
Von besonderer Bedeutung ist für die Bundesregierung schließlich, die notwendigen strukturellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Dem dient unser Vorschlag, ein System der Arbeitsförderung mit den Schwerpunkten berufliche Qualifizierung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einzuführen.Meine Damen und Herren, das Thema Staatshaushalt und Finanzen muß im Blick auf den Staatsvertrag sicher in einem besonders engen Zusammenhang mit den Währungsfragen gesehen werden. Denn das oberste Ziel ist es, in jedem Fall die Stabilität der D-Mark zu gewährleisten. Von daher kommt den Verabredungen über Kreditaufnahme und Finanzzuweisungen naturgemäß besondere Bedeutung zu.Ich betone in diesem Zusammenhang noch einmal: Die Bundesrepublik Deutschland ist — ich denke, das gilt nicht nur für den Bund — zur finanziellen Unterstützung der DDR bereit. Gleichzeitig besteht aber auch im Rahmen der Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft die eigenständige finanz und haushaltspolitische Verantwortung der DDR fort. Ebenso wie in der Bundesrepublik Deutschland muß daher auch in der DDR sorgfältig abgewogen werden, was finanziell machbar ist und was nicht.
Aus der dargestellten Grundstruktur unserer Vorschläge wird deutlich, daß es im Blick auf den Staatsvertrag um zweierlei geht, zum einen um die notwendige rechtliche Grundlage für die Verwirklichung der angestrebten Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, zum anderen aber auch um die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Bereichen Währung, Wirtschaft, Haushalt, Finanzen und Soziales.Unser Hauptziel muß darin bestehen, in der DDR eine grundlegende wirtschaftliche Neuorientierung, d. h. den Wechsel zur Sozialen Marktwirtschaft zu vollziehen; denn nur dieser Wechsel setzt jene Kräfte
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16398 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Bundesminister Seitersfrei, die bisher durch das sozialistische Wirtschaftssystem verschüttet waren.Wenn die DDR in diesem zentralen Punkt, also bei der Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft, konsequent handelt, dann kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß dies der wirtschaftlichen Entwicklung eine positive Wendung geben und vor allem das dringend notwendige private Kapital in die DDR fließen lassen wird.
Daß der Wirtschaftsraum zwischen Oder und Elbe — ich wiederhole — unter marktwirtschaftlichen Bedingungen attraktive Zukunftsperspektiven bietet, sehen deutsche und internationale Investoren offensichtlich viel klarer als manche Angstpropheten hierzulande.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Richtig ist, daß in der vor uns liegenden Zeit erhebliche Finanzierungsanstrengungen notwendig sein werden. Alle öffentlichen Haushalte, also die von Bund, Ländern und Gemeinden, werden hierzu ihren Beitrag leisten müssen und auch können. Dabei ist klar: Die zentrale Finanzierungsquelle ist und bleibt das Wirtschaftswachstum. Ich füge hinzu: Jede Unterstützung, die wir jetzt der DDR zukommen lassen, ist zugleich eine Investition in unsere eigenen Wachstumsmöglichkeiten. Denn von einem Wirtschaftswunder in der DDR profitieren alle, auch die Unternehmen und Beschäftigten hierzulande.So wird das reale Wirtschaftswachstum nach dem neuesten Konjunkturgutachten der Forschungsinstitute schon in diesem Jahr mit plus 4 % deutlich höher als erwartet ausfallen. Dies kann für 1990 und 1991 allein bei den Steuern zu einem Plus von rund 30 Milliarden DM führen.Wenn man, wie etwa die EG-Kommission, davon ausgeht, daß 1 Prozentpunkt mehr Wachstum bei den öffentlichen Haushalten insgesamt rund 10 Milliarden DM pro Jahr an Mehreinnahmen erbringt, dann sind die Belastungen für die Bundesrepublik Deutschland durchaus verkraftbar.Natürlich müssen wir bei unseren Investitionen in die deutsche Einigung zugleich neue Prioritäten bei den Aufgaben setzen. Wir werden bei den Ausgaben einsparen und umschichten müssen. Kurzfristig entfallen etwa Zahlungen für die Transitpauschale, längerfristig auch für Berlin-Hilfen. Nicht zuletzt ergeben sich Einsparungen und Umschichtungen im Zuge der Neuorientierung der Bundeswehr.Ein Weiteres kommt hinzu: Weil wir nach 1982 den Haushalt erfolgreich konsolidiert und eine solide Finanzpolitik betrieben haben, ist jetzt auch eine vorübergehende und begrenzte Erhöhung der Nettokreditaufnahme zur Finanzierung der Ausgaben für die DDR vertretbar.
Sie ist vor allem deswegen unbedenklich, weil es sich auch hierbei letztlich um die Vorfinanzierung zusätzlichen Wachstums und damit künftiger Einnahmen handelt.Deshalb lassen Sie mich vor diesem Hintergrund klar sagen: Steuererhöhungen sind nicht notwendig und von dieser Bundesregierung nicht beabsichtigt.
Wir wissen jedenfalls aus eigener Erfahrung zu gut, daß immer höhere Steuern und Abgaben die Leistungsfähigkeit der Bürger und der Wirtschaft insgesamt nicht stärken, sondern nachhaltig schwächen.Wir sind 1982 angetreten mit dem Ziel, der Sozialen Marktwirtschaft wieder umfassend Geltung zu verschaffen, die Staatsfinanzen zu sanieren, den Leistungswillen der Menschen zu stärken und unseren Unternehmen angemessene und verläßliche Rahmenbedingungen zu bieten.Die Bundesregierung hat damals unter schwierigen Bedingungen die notwendigen Weichenstellungen konsequent und beharrlich vollzogen. Heute ist der Erfolg bei uns und im Vergleich zum Ausland für jedermann offensichtlich. Es ist eine wirtschaftspolitische Erfolgsbilanz, die ihresgleichen sucht.
Sicher stehen wir jetzt in Deutschland vor anderen Problemen als 1982. Aber fest steht: Unsere Politik zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft hat zu Ergebnissen geführt, die sich sehen lassen können. Sie bieten eine klare und bewährte Orientierung für den vor uns liegenden Weg.Gefragt ist daher jetzt mehr denn je eine Wirtschaftspolitik, die Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative der Bürger und Unternehmen weiten Raum schafft. Dies ist — ich will es noch einmal sagen — dann zugleich eine sichere Quelle für wachsende Steuereinnahmen. Ein Anziehen der Steuerschraube wäre dagegen mit Sicherheit der falsche Weg. Die von uns verfolgte Politik versetzt uns in die Lage, das Notwendige zu tun.
Die Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft soll die Herstellung der staatlichen Einheit vorbereiten. Die deutsche Einheit betrifft aber die Deutschen nicht allein. Die innere Entwicklung muß deshalb mit Regelungen für die äußeren Aspekte zeitlich und sachlich verzahnt werden.Wir haben von Anfang an darauf geachtet, daß sich der Prozeß der deutschen Vereinigung in einem stabilen europäischen Rahmen vollzieht. Es ist immer unser Ziel gewesen, als Europäer mit unseren Nachbarn und nicht gegen sie die Teilung Deutschlands zu überwinden. Ein politisch und wirtschaftlich in der Europäischen Gemeinschaft integriertes geeintes Deutschland ist der unerläßliche Stabilitätsfaktor, den Europa gerade in seiner Mitte braucht.
Die Bundesregierung hält an der Leitlinie Konrad Adenauers fest, daß die deutsche Frage nur unter einem europäischen Dach gelöst werden kann. Das heißt für uns Deutsche: Wir achten die berechtigten
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16399
Bundesminister SeitersSicherheitsinteressen aller betroffenen Länder, gerade auch der Sowjetunion.
Die äußeren Aspekte betreffen nicht zuletzt die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes, die Grenzfragen wie auch die Sicherheitsstrukturen.Die ersten Gespräche auf Ministerebene gemäß der in Ottawa vereinbarten Formel Zwei plus Vier werden am 5. Mai in Bonn aufgenommen. Wir haben als Deutsche ein Interesse daran, daß diese Gespräche zügig vorangehen. Sie sollten bis zum KSZE-Gipfel Ende dieses Jahres zum Abschluß gebracht werden.Morgen findet in Dublin ein EG-Sondergipfel statt, der insbesondere dem Thema der deutschen Einheit gewidmet sein wird. Die Staats- und Regierungschefs werden sich intensiv mit der Frage der Einbeziehung der DDR in die Europäische Gemeinschaft befassen.Wir begrüßen es nachdrücklich, daß unsere Partner, die EG-Kommission und das Europäische Parlament uns in unseren Bemühungen um die Herstellung der staatlichen Einheit unterstützen und dies als europäische Aufgabe auch zu ihrer eigenen Sache machen. Unsere Mitbürger in der DDR sollen wissen, daß sie in der Gemeinschaft freier Völker willkommen sind.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal sagen: Wir wollen die Einheit Deutschlands in Übereinstimmung mit unseren Nachbarn. Das künftige vereinte Deutschland wird ein verantwortungsvoller und solidarischer Partner in einem Europa des Friedens und der Freiheit sein.
Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages bekannt. Mitglieder des Bundestages: 519, abgegebene Stimmen: 492, davon gültig: 491, Enthaltungen: 16, ungültige Stimmen: 1. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Biehle 275 Stimmen
und auf den Abgeordneten Jungmann 200 Stimmen.
Ich stelle fest, daß damit der Abgeordnete Biehle die nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages erforderliche Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Hauses erhalten hat. Er ist damit zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gewählt worden.
Ich frage den Abgeordneten Biehle, ob er die Wahl annimmt.
Herr Präsident, ich nehme die Wahl an, bedanke mich für das Vertrauen und wünsche eine gute Zusammenarbeit mit allen Fraktionen dieses Hauses.
Ich darf Herrn Abgeordneten Biehle im Namen des ganzen Hauses sehr herzliche Glückwünsche aussprechen und ihm eine erfolgreiche Amtsführung wünschen.
Meine Damen und Herren, die Eidesleistung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ist nach Schluß der Beratung zur Regierungserklärung, ungefähr um 13 Uhr, vorgesehen.
Wir beginnen mit der Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Das Ja zur deutschen Einheit ist gesprochen. Jetzt geht es darum, das Deutschland zu bauen, in dem wir leben wollen. Unseren freiheitlichen Traditionen als Sozialdemokraten entspricht es, daß wir für ein föderal verfaßtes, ein europäisches einiges Deutschland, für ein international offenes und solidarisches Deutschland und für ein Deutschland der sozialen Gerechtigkeit und der ökologischen Reformen eintreten.
Darf ich bitten, daß die Glückwünsche, die durchaus berechtigt sind, außerhalb des Plenarsaals fortgesetzt werden? Herr Abgeordneter und Wehrbeauftragter, wenn Sie sich draußen für die Glückwünsche zur Verfügung stellten, wäre ich Ihnen dankbar.
Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin, bitte, fahren Sie fort.
Danke, Herr Präsident. — Auch ich darf Ihnen ganz herzlich gratulieren, Herr Wehrbeauftragter, und jetzt in meiner Rede fortfahren.Herr Präsident, meine Damen und Herren, Oskar Lafontaine, der Ministerpräsident des Saarlandes, der heute hier reden wollte, hätte den Gegenstand unserer Debatte so oder ähnlich umschrieben. Genau darum geht es. Er kann das heute wegen des mörderischen Anschlages auf ihn vor zwei Tagen nicht tun. Ich wünsche ihm auch von dieser Stelle aus weiterhin gute Genesung, sicherlich auch in Ihrem Namen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die heutige Debatte ist nötig. Klarheit muß her — Klarheit, wie es weitergehen soll in Deutschland; denn diese Frage wird überall gestellt. Sie beschäftigt das Denken und das Fühlen der Menschen bei uns wie auch in der DDR.Aber, meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist eine ganze Menge überflüssiger Unsicherheit dazugekommen.
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16400 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Frau Dr. Däubler-GmelinManche fühlen sich vom Tempo überfahren. Viele Menschen, meine Damen und Herren, verstehen nicht mehr,
was sich zwischen Bonn und Ost-Berlin eigentlich tut. Viele von ihnen können die widersprüchlichen Meldungen und Stellungnahmen aus Bonn, die da jeden Tag über ihre Bildschirme ins Wohnzimmer kommen, einfach nicht mehr in Einklang bringen: der Streit um die Umtauschkurse und ihre Bedeutung, die Diskussion um die Auflösung des Bundestages, die Diskussion um die Entsendung oder um Neuwahlen zum ersten gesamtdeutschen Parlament gleich nach der ersten Bundestagswahl und was da noch alles behauptet wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Verwirrung geht auf Ihr Konto.
— Nein, ich muß nur lachen, wenn ich sehe, mit welcher Ahnungslosigkeit Sie hier sitzen.
Sie scheinen nicht mehr viel Kontakt zu den Menschen im Land zu haben.
Meine Damen und Herren, in Ihrer Regierung ist in den letzten Wochen alles durcheinandergegangen. Auch heute bei den einzelnen Punkten sagt der eine dieses und der andere jenes, ganz egal, ob Sie das jetzt bestreiten oder nicht, Frau Kollegin. Wir sagen: Hier muß Klarheit und Offenheit her. Die deutsche Einheit, meine Damen und Herren, ist nämlich nicht die Privatsache eines Bundeskanzlers.
Sie ist auch nicht eine Angelegenheit, die Sie als CDU und CSU als Ihre Parteiangelegenheit betrachten können. Die deutsche Einheit ist auch nicht die Angelegenheit von Regierungen und Regierungskommissionen, sondern sie ist die Sache des gesamten Volkes.
„Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden." Mit diesem bemerkenswerten und auch bemerkenswert richtigen Satz des Ministerpräsidenten der DDR, den er in seiner Regierungserklärung gesagt hat, macht er deutlich, daß es Einheit zum Nulltarif nicht gibt, daß Solidarität gefordert ist — auch von uns. Viele Menschen in der Bundesrepublik sind dazu bereit. Das wissen wir alle. Aber, meine Damen und Herren, Solidarität ist in praktisches Handeln gegossene soziale Gerechtigkeit. Wer Solidarität will, wer an Opferbereitschaft appelliert, muß Vertrauen schaffen, muß die Menschen überzeugen, daß es gerechtfertigt und gerecht ist, was ihnen abverlangt wird.Deshalb ist Offenheit und Klarheit nötig — nötigenfalls durch Streit hier in diesem Hohen Hause.Herr Seiters, Sie haben mit Ihren Informationen einen Anfang gemacht. Erwartet — das muß ich allerdings sagen — hätten wir, daß der Bundeskanzler das heute selber tut. Herr Bundeskanzler, die deutsche Einheit ist doch eine große, sie ist eine faszinierende, wenn auch eine ungemein schwierige Gestaltungsaufgabe. Herr Seiters sprach von einer der größten Herausforderungen an die Politik in der Nachkriegszeit. Sie haben von einer historischen Aufgabe gesprochen, Herr Bundeskanzler; und ich gebe Ihnen in dieser Frage recht. Wäre es da nicht angemessen gewesen, Sie selbst hätten sich die Ehre gegeben, den Deutschen Bundestag zu informieren?
Meine Damen und Herren, wir alle finden es gut — angesichts der Verstimmungen und Versäumnisse der letzten Monate übrigens auch dringend erforderlich — , daß Sie, Herr Bundeskanzler, gestern persönlich zu Präsident Mitterrand gefahren sind. Aber ist der Deutsche Bundestag, ist die Volksvertretung dieses Landes in Ihren Augen wirklich weniger wert als unsere Freunde jenseits des Rheins?
Sie können vielleicht lachen, meine Damen und Herren, aber dieses Parlamentsverständnis übersteigt das Fassungsvermögen sämtlicher Bürger in unserem Land.
— Ja, regen Sie sich nur auf. Das wird noch viel schlimmer, keine Sorge.
Herr Seiters, das, was Sie hier sagten, reicht nicht. Es geht nämlich heute nicht nur um die Verhandlungen mit der DDR, wir müssen vielmehr zugleich deutlich machen, was passiert. Mit jedem Schritt, den wir jetzt vollziehen, gestalten wir unsere eigene Zukunft.
Wir gestalten die Zukunft unseres geeinten Deutschlands. Dieses Deutschland müssen wir bei allem, was wir tun, vor Augen haben.Ich hatte eingangs schon angedeutet, wie es aussehen soll. Ich halte es für wichtig und will es deswegen ergänzen. „Wir sind das Volk", dieser Satz muß im geeinten Deutschland seine Bedeutung behalten. Damit haben nämlich die Reformer in der DDR im Herbst des letzten Jahres den Staatskommunismus der SED zu Fall gebracht, die doch in den letzten 40 Jahren die ganze Misere mit ihren Blockparteien verschuldet hat, um einen Satz von Herrn Staatsminister Seiters aufzunehmen.
Die Reformer waren es, die mit dieser Parole das Torzur deutschen Einheit aufgestoßen haben. „Wir sind
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16401
Frau Dr. Däubler-Gmelindas Volk" — das muß so bleiben. Es darf nicht nur die Parole gelten: Wir sind ein Volk.Schon deshalb muß die deutsche Einheit partnerschaftlich gebaut werden. Deshalb müssen die deutsche Einheit und die gesamtdeutsche Verfassung, die auch meiner Meinung nach auf der Grundlage des Grundgesetzes errichtet werden sollte, in einer Volksabstimmung durch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gebilligt werden.
Meine Damen und Herren, international offen, europäisch und solidarisch soll das Deutschland sein. Es soll einen eigenständigen Beitrag zur Überwindung der Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd in unserer Zweidrittelwelt und zur Verhinderung der drohenden globalen Umweltkatastrophen leisten. Es soll, kurz gesagt, zukunftsfähig sein.Meine Damen und Herren, wir sind Deutsche und Europäer. Deshalb wollen wir — das sage ich mit allem Nachdruck — nicht nur die deutsche, sondern zugleich auch die europäische Einigung.
Deshalb fordern wir Sie auf, mit derselben Entschlossenheit, mit der Sie die Vereinigung Deutschlands betreiben, auch die Vereinigung Europas anzugehen. Wir Deutschen dürfen nicht in den Verdacht kommen, uns sei bei der Schaffung der Währungsunion mit der DDR kein Risiko zu hoch, während wir bei der Errichtung einer europäischen Währungsunion jedes Risiko scheuen.
Wir bringen heute einen weiteren Antrag zur vertraglichen Anerkennung der polnischen Westgrenze ein. Das hat seinen guten Grund. Wir wollen, daß die Absicht der vertraglichen Anerkennung der OderNeiße-Grenze durch eine Bleichlautende Erklärung in Bundestag und Volkskammer bekräftigt wird. Das ist jetzt möglich geworden. Es geht uns um Klarheit und Sicherheit für Polen, auch in diesem Fall. Es geht uns um die gesamteuropäische Einbettung des deutschen Einigungsprozesses. Wir wollen gute kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen. Wir wollen Offenheit und Vertrauen gerade auch im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn.Meine Damen und Herren, der polnische Außenminister Skubiszewski und der Solidarnosc-Vorsitzende im polnischen Sejm, Geremek, haben uns gestern nochmals die Hand zur Versöhnung, zur Schaffung einer besseren Zukunft hingestreckt. Sie haben auch ausdrücklich auf das schreckliche Elend der deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen, dafür sogar um Vergebung gebeten. Das ist eine wahrhaft große Geste. Wir sollten sie ebenso würdig beantworten.
Wir wollen als nächsten Punkt ein ökologisches und ein sozial gerechtes Deutschland bauen. Davon sind wir weit entfernt. Wir hören jeden Tag, wie es in der DDR aussieht. Dort hat sich jetzt die frei gewählteRegierung auf den Weg gemacht, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, und dafür braucht sie unsere Hilfe.Manche bei uns tun aber so, als sei der Zusammenbruch der Kommandowirtschaft in der DDR bei offenen Grenzen geradezu die Rechtfertigung für unsere Lebens- und Wirtschaftsweise. Sie tun so, als hätten wir in der Bundesrepublik auf einmal keine sozialen Probleme mehr, keine Krisenregionen und keine bedrohlich geschädigte Umwelt. Ich sage Ihnen: Diesen Verdrängungsprozeß machen wir nicht mit.
Er drängt die Menschen und ihre Probleme an den Rand. Wir haben zwei Millionen Arbeitslose. Wir haben Wohnungsnot. Wir haben nach so vielen Jahren Ihrer Regierung immer mehr Frauen und Männer, alte Menschen und Familien, die von Sozialhilfe leben müssen. Das sind annähernd drei Millionen Menschen. Wir haben Armut. Der Paritätische Wohlfahrtsverband spricht von sechs Millionen armen Menschen. Deshalb ist erstens klar: Auch bei uns sind Änderungen nötig.
Zweitens: Jeder unserer Schritte zur deutschen Einheit muß darauf Rücksicht nehmen.Das Ziel der Schritte muß hier wie in der DDR dasselbe sein: soziale Gerechtigkeit und ökologische Umgestaltung unserer Lebensverhältnisse. Das schreibt übrigens die Koalitionsvereinbarung der DDR-Regierung in sehr lesenswerter Weise fest.Aber, meine Damen und Herren, wir sagen auch: Unsere Politik der Einigung darf niemanden überfordern, weder die Menschen hier noch die Bevölkerung in der DDR.
Dafür braucht man Augenmaß und Zeit. Das ist für beide Teile nötig. Herr Bundeskanzler, für den Fall, daß Sie Zeit haben zuzuhören: Hier setzt unsere Sorge an und auch unsere Kritik an dem, was Sie hier als Pläne für einen Staatsvertrag vorgetragen haben.Ich sage nochmals: Wir wollen die Einheit, und wir werden selbstverständlich Lasten mitverantworten, die auf die Bundesrepublik zukommen; aber nur dann, meine Damen und Herren, wenn diese Lasten offen und ehrlich auf dem Tisch liegen und wenn sie gerecht verteilt werden, bei uns und in der DDR.
Das erfordert nicht nur die Solidarität mit denen, die schlechtergestellt sind, sondern ist auch ein Gebot der politischen Klugheit.Kommen wir zur Währungsunion. Jetzt besteht Klarheit über den Termin und über die Umtauschkurse. Es ist gut, daß Sie nicht bei Ihren ursprünglichen Plänen geblieben sind,
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16402 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Frau Dr. Däubler-Gmelinauch wenn das Unsicherheit verursachte. Das wäre nämlich einem Wortbruch gleichgekommen,
nach all dem, was da versprochen und suggeriert wurde. Ein Wortbruch hätte die denkbar schlechtesten Startbedingungen für unsere neue deutsche Gemeinsamkeit geschaffen.
Deswegen ist es gut, daß Ihre Pläne vom Tisch sind. Wir waren dagegen. Die Proteste in der DDR und bei uns haben das bewirkt.
Jetzt komme ich zu den weiteren Risiken, von denen die Abgeordneten der Union offensichtlich nichts hören wollen, zu den Risiken für die Menschen in der DDR. Dort werden viele Betriebe zumachen. Das zu sagen ist nicht eine Frage des Neids oder der Panik. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Damit ist Arbeitslosigkeit vorprogrammiert,
in Millionenhöhe, unbestritten.Zum anderen kommen auf Grund Ihres Weges Gefahren für die Stabilität der D-Mark auf uns alle zu. Darauf hat neulich die Bundesbank und erst gestern besorgt der französische Staatspräsident hingewiesen.Wir erwarten Ihre Vorschläge, Herr Bundeskanzler, wie diese Risiken bis zum Eintritt der Währungsunion verhindert, abgemildert und abgefangen werden können.Daß Sie im Vertragstext festhalten, die Umstellungsmodalitäten seien so gewählt, daß Inflationsgefahr vermieden und sogar die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe gestärkt würde, ist nicht mehr als eine Beschwörungsformel. Ich sage Ihnen: Die Menschen werden merken, wie zynisch das ist, wenn Sie nichts dagegen tun.Aber unsere Fragen setzen auch bei anderen Regelungen an. Sie wollen Geld auf Konten und Bargeld über 4 000 DM für DDR-Bürger zum Kurs von 2 : 1 und für Bundesbürger zum Kurs von 3 : 1 umtauschen, und zwar ohne Rücksicht auf die Höhe und die Herkunft dieser Gelder.
Wir fragen: Ist das vernünftig, ist das gerecht, ist das den Steuerzahlern in der Bundesrepublik zuzumuten?
Wie können Sie eigentlich sicherstellen, daß mit dem Geld der bundesrepublikanischen Steuerzahler nicht Stasi- und SED-Großverdiener begünstigt werden?
Wie wollen Sie eigentlich gewährleisten, Herr Bundeskanzler, daß Spekulanten der Bundesrepublik hiernicht auch noch eine schnelle Mark einstreichen? Das werden wir nicht zulassen.
Meine Damen und Herren, wir fragen auch: Ist die Umstellung der Betriebsschulden zum Kurs von 2 : 1 statt einer Streichung wirklich so vernünftig, wie Sie sagen, Herr Seiters? Was kommt eigentlich den bundesrepublikanischen Steuerzahler teurer, und was ist die bessere Investition in unsere gemeinsame Zukunft: wenn diese Betriebe wegen ihrer Schuldenlast geschlossen werden mit der Folge von Arbeitslosigkeit oder wenn Sie generell oder nach einer Prüfung im Einzelfall — sofern Sie dazu noch Zeit haben — die Streichung der Schulden beschließen? So könnte Arbeitslosigkeit verhindert werden.Für eine sozial gerechte und ökologische Gesellschaft reicht das nicht aus, was Sie bisher zur Sozialunion vorgesehen haben. Die Sozialunion reicht nicht aus, und von einer Umweltunion ist kaum eine Rede. Herr Blüm hat zwar von einem „guten Tag für den Sozialstaat Deutschland" gesprochen, aber ich frage hier: Ist das eigentlich Ihr Ernst, Herr Blüm: Marktwirtschaft ohne vernünftige Kündigungsschutzbestimmungen im Arbeitsleben, Marktwirtschaft ohne wirksamen und angemessenen Mieterschutz, ohne Sozialpläne im Betriebsverfassungsgesetz? Da werden die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bundesrepublik aber ganz große Ohren machen. Das sage ich Ihnen.
Wir sagen: Einheit darf nicht zur sozialen Spaltung führen. Deshalb sind hier Änderungen nötig.Das gilt auch in der Umweltpolitik. Wirtschaftswachstum darf Umweltschutz nicht mehr den Rang ablaufen; auch nicht in der DDR. Es gibt heute keine Rechtfertigung mehr für die Maxime: Hauptsache, der Schornstein raucht, egal, was er auspustet. Aber von diesem Gedanken geht bisher Ihr Vertragsentwurf aus.Sie werden in der Zeit, die Sie noch haben, das Tempo der Sozialunion und der Umweltschutzmaßnahmen stark forcieren müssen.Ihr Problem ist klar: Es liegt an der Finanzierung. Sie kommen nämlich jetzt nicht darum herum, zu sagen, was die Einheit kostet und wer die Kosten tragen soll.
Das fragen die Menschen schon seit langem. Heute hat Herr Seiters Steuererhöhungen dementiert. Herr Wallmann spricht davon. Andere führende Persönlichkeiten Ihrer Partei sprechen davon.Sie werden aber auch Schwierigkeiten haben, den Menschen in der Bundesrepublik klarzumachen, daß es sinnvoll und gerecht sei, die Verschuldung hochzutreiben oder den Griff in die Rentenkassen zu wagen oder Ländern und Gemeinden unzumutbare Belastungen aufzubürden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16403
Frau Dr. Däubler-GmelinDas ist nicht zu verstehen. Wir haben ja noch den höchsten Verteidigungsetat der Nachkriegsgeschichte,
obwohl die Bedrohung aus dem Osten auch für CDU-Bundestagsabgeordnete nicht mehr besteht. Das ist auch nicht sinnvoll, solange Sie immer noch an den Steuerentlastungen für Unternehmen und Spitzenverdiener in Höhe von mehr als 25 Milliarden DM festhalten.
Wir wissen: Die Herstellung der Einheit ist schwierig. Da kommen viele Fragen auf uns zu. Sie soll der gemeinsame Ausschuß aufgreifen, den wir Ihnen vorschlagen. Hans-Jochen Vogel hat Ihnen, Herr Bundeskanzler, sogar die Zusammenarbeit der Sozialdemokraten schon im letzten Herbst angeboten.
Sie haben das, offensichtlich mit Zustimmung Ihrer politischen Freunde, ausgeschlagen. Wir sagen Ihnen: Wir sind zur Mitarbeit im Interesse der Menschen bei uns und in der DDR bereit.
Aber wir sind nicht bereit, uns immer nur vor vollendete Tatsachen stellen zu lassen. So geht das nicht.
Ich wiederhole : Unsere Deutschlandpolitik, unsere Schritte zur Einheit
messen sich an den Zielen soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung in einem modernen, in einem solidarischen, in einem offenen und in einem europäischen einigen Deutschland.
Für diese Politik setzen wir uns ein.
Das Wort hat der Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Däubler-Gmelin, angesichts Ihrer Vorwürfe gegen die Koalition bezüglich Unklarheit und Verwirrung — so nannten Sie es — muß ich doch sagen: Das war ja der erfolglose Versuch, von Ihrer Verunsicherungskampagne in der Osterpause abzulenken.
Es ist doch ganz offenkundig, daß Sie in der Osterpause von dem angeblichen Wortbruch gesprochen haben. Das können Sie nun nicht mehr.
Nicht unser Wort ist zusammengebrochen, sondern Ihre falschen Prophezeiungen sind zusammengebrochen.
Was haben Sie nun hier wieder gesagt: Wir täten so, als wäre bei uns alles gelöst; hier sei eine Verdrängung; wir hätten hier Armut. Das war ja wieder ein übles, düsteres Bild. Ich bin ganz sicher, daß die Menschen in der DDR dafür nur ein Hohnlachen übrig haben. Und die Zahl der Übersiedler straft doch Ihre Aussagen über das Bild der Bundesrepublik Deutschland schlicht und einfach Lügen. Das ist doch die Wirklichkeit.
Ich will ganz offen sagen: Was mich am meisten an Ihrer Rede geärgert und irritiert hat, liebe Frau Däubler-Gmelin, ist die Tatsache, daß ich befürchte, daß viele Zuschauer am Fernsehschirm nach Ihrer Rede abgeschaltet haben und meine Rede nicht mehr hören können.
Meine Damen und Herren, ich möchte für die Regierungserklärung herzlich Dank sagen. Insbesondere möchte ich Herrn Bundesminister Seiters für seine klaren Aussagen und auch für die umsichtige Führung der Gespräche und Verhandlungen mit der DDR danken. Sie können unserer Unterstützung sicher sein.
Das Angebot der Bundesregierung an die DDR zur Gründung einer Währungsunion mit einer Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft ist finanzpolitisch verantwortungsvoll, marktwirtschaftlich fundiert
und geprägt von Solidarität gegenüber unseren Landsleuten in der DDR.
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16404 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
BohlNach seinem Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit beweist der Bundeskanzler damit erneut, daß er den Weg der Wiedervereinigung konsequent, mit Mut, aber auch mit dem notwendigen Augenmaß beschreitet.
Herr Bundeskanzler, wir unterstützen Sie dabei geschlossen und entschieden
und freuen uns, daß Sie in dieser, wie wir finden, vorbildlichen Weise Verantwortung für Deutschland tragen.
Wir begrüßen auch, daß Sie mit dem neuen Ministerpräsidenten der DDR so schnell ein gutes persönliches Verhältnis gefunden haben. Das dient der gemeinsamen Sache. Herzlichen Dank, Herr Bundeskanzler!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten auch Lothar de Maizière Anerkennung aussprechen. Er hat sein Amt in einer äußerst schwierigen Situation übernommen und die Koalitionsbildung in der DDR in einer sehr kurzen Zeitspanne ermöglicht, obwohl von der West-SPD zunächst versucht wurde, die DDR-SPD von der Mitarbeit in der Regierung abzuhalten.
Dort war man aber Gott sei Dank klüger.Die Bundesregierung hat erklärt, sie werde der DDR ihr Angebot nach der Osterpause vorlegen, damit bis Anfang Mai grundsätzliche Übereinkunft erzielt werden kann.
Der Termin 2. Juli für das Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion steht. Die Bundesregierung hat Wort gehalten und ihren gradlinigen Kurs in Richtung deutsche Einheit fortgesetzt.
Damit, Herr Kollege Vogel — ich verstehe ja, daß Sie sich da aufregen — , ist der Unterschied zum Verhalten der SPD augenfällig. Das gilt für Ihre gesamte Deutschlandpolitik.
Erst waren Sie gegen die Wiedervereinigung, jetzt scheinen Sie dafür zu sein. Erst waren Sie für den Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers, am nächsten Tag waren Sie dagegen. Erst forderten Sie für die altesozialistische Regierung in der DDR Wirtschaftshilfen ohne jede Vorbedingung,
jetzt begleiten Sie unser Angebot an die neue, demokratisch gewählte Regierung mit Zögern und Zaudern. Das macht doch keinen Sinn, das ist widersprüchlich.
Der Abgeordnete Penner hat in diesen Tagen eine Verschiebung des Termins der Währungsunion gefordert. Sie, Herr Vogel, streuen schon Zweifel aus, ob es denn bis zum 1. Juli gelingen könne.
Herr Bahr prognostiziert gesamtdeutsche Wahlen erst im Jahre 1992. Sie, Herr Kollege Vogel, prognostizieren laut „taz" von heute Wahlen erst 1994.
— Also, Herr Kollege Vogel, es liegt vielleicht an Ihrer falschen Brille. Ich gebe es Ihnen nachher;
Sie können es nachlesen.
— Also, Herr Kollege Vogel, die „taz" von heute, vom 27. April 1990, bringt das so. Aber Sie können das nachher ja korrigieren.
— Also, es heißt da:„Wann das ist, darüber will ich nicht spekulieren. Das wird in der nächsten Legislaturperiode sein, 1992 wäre ein vernünftiges Jahr,
es könnte auch 1993 sein."Antje Vollmer: „... Es kann auch 1994 sein. " Hans-Jochen Vogel: „Na gut. "Vielen Dank!
Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, da Zögern und Angstmachen Ihre Politik zu sein scheinen, sich ein Beispiel an der DDR-SPD zu nehmen. Der Vorsitzende der Volkskammerfraktion dort hat in Ihrer Fraktionssitzung von „Interessendivergrenzen" zwischen West- und Ost-SPD gesprochen. Er hat dankenswerterweise festgehalten, daß bei der Währungsunion Eile geboten sei. „Wir brauchen die D-Mark", so waren seine Worte. Wenn sie komme, dann würden
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16405
BohlZutrauen, Risikobereitschaft und Initiative wachsen. Genau darauf setzen auch wir.Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, ängstlich zu zögern. Wir stehen in einer historischen Verantwortung, und zukünftige Generationen würden es nicht verstehen, wenn wir unserer Verantwortung und der Chance zur Einheit jetzt nicht gerecht werden würden.Liebe Freunde, meine Damen und Herren, die Überwindung der Teilung Deutschlands in einem vereinigten Europa ist die Erfüllung einer 40jährigen Vision und Ergebnis einer konsequenten und gradlinigen Politik, die von CDU und CSU auf dieses Ziel gerichtet wurde und unter der Führung dieses Bundeskanzlers immer wieder angestrebt wurde. Die Wirtschaftsunion ist die große Chance für alle Deutschen. Jetzt ist Gemeinsamkeit gefragt. Für diesen Konsens gibt es als notwendige Voraussetzung Verständnis, glaube ich, in beiden Teilen Deutschlands. Wir müssen lernen: Fehler, die wir ab jetzt machen, werden uns nach dem 2. Juli gemeinsam treffen. Sie treffen dann nicht mehr nur die Deutschen in der DDR oder nur die Deutschen in der Bundesrepublik, sie treffen alle Deutschen. Ab sofort sitzen wir in einem Boot.Für unsere Mitbürger im anderen Teil Deutschlands bedeutet dies: Die Hilfe, die wir geben, kann nur eine Starthilfe sein, sie wird Hilfe zur Selbsthilfe sein. Unsere Vorstellung ist nicht, daß unsere Landsleute über viele Jahre am Subventionstropf hängen; damit wäre niemandem geholfen. Ich bin auch sicher, daß die Menschen in der DDR dies nicht wollen. Unsere Landsleute sind in einer freiheitlichen Ordnung genauso fleißig, motiviert und ideenreich wie wir.Meine Damen und Herren, wir setzen auf Optimismus und Vertrauen und die Motivation unserer Landsleute, so wie wir dies 1949 bei der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft getan haben. Wären wir damals so zögerlich gewesen wie heute die SPD, dann würden wir heute immer noch Essensmarken verteilen.
Wir haben Verständnis dafür, daß die Menschen in der DDR einen möglichst kräftigen Anschub aus der Bundesrepublik wünschen. Aber ich bitte die Mitbürger in der DDR, auch die Situation in der Bundesrepublik zu berücksichtigen. Wir haben unser Juwel in Sachen Wirtschaft, nämlich unsere D-Mark, zum gemeinsamen Aufbau in Deutschland angeboten.
Aber es hat sicherlich auch keinen Sinn, daß dieser Juwel durch Inflationsschübe zu einem wertlosen Klunker würde. Wir wollen die D-Mark in die DDR bringen, damit wir gemeinsam Deutschland aufbauen können.An dieser Stelle sollte man darauf hinweisen: Hätte es die Wende in der DDR 1982, am Ende Ihrer 13jährigen Regierungszeit, gegeben, dann hätten wir unseren Landsleuten in der DDR, wenn überhaupt, höchstens ein laues Lüftchen als Rückenwind geben können. Jetzt können wir dank der erfolgreichen Wirtschaftspolitik kräftigen Anschub geben.
Wir haben einen ausgewogenen Mittelweg eingeschlagen. Einerseits wird die Wirtschaft der Bundesrepublik nicht über Gebühr belastet, andererseits kommt die Verbesserung unseren Mitbürgern in der DDR sofort zugute. Wer in der DDR über ein Sparguthaben z. B. von 8 000 Ost-Mark verfügt, der konnte sich bisher gerade einen großen Farbfernseher kaufen. Nach dem Angebot der Bundesregierung würde er dafür am 2. Juli 6 000 DM erhalten. Das reicht für einen Farbfernseher und für einen guten Gebrauchtwagen.
Ich glaube, auch das muß man den Menschen drüben in der DDR mit Deutlichkeit sagen.
Es ist gut, daß neben dem Bund auch die Bundesländer bereits Wirtschaftshilfe für die DDR in Gang gesetzt haben. Bedauerlich ist aber, wie ungleich diese Wirtschaftshilfe verteilt ist. Allein das von der CDU — zusammen mit der FDP — regierte Bundesland Hessen hilft mehr als alle SPD-regierten Bundesländer zusammen.
Meine Damen und Herren, alle unionsregierten Bundesländer leisten der DDR dreizehnmal soviel Aufbauhilfe wie die SPD-regierten Bundesländer. Das ist die Wirklichkeit.
— Dreizehnmal soviel. Die SPD zögert nicht nur mit Hilfe für die DDR, sie knausert auch noch.
Wir haben, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, klar gesagt, daß wir keine Steuererhöhungen wollen. Der Herr Finanzminister hat es gesagt. „Daß das der Finanzminister von vornherein ausgeschlossen hat, ist meiner Meinung nach ein Fehler ... hätte eine Ergänzungsabgabe oder ... auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für einen Zeitraum für vernünftiger gehalten" — so Ihre Finanzministerin in Schleswig-Holstein, Heide Simonis. Landauf, landab warnen Sie vor Steuererhöhungen, obwohl wir sie ja ausgeschlossen haben. Und siehe da, die SPD ist es, die tatsächlich Steuererhöhungen, Ergänzungsabgaben und sonstige Werkzeuge zur Malträtierung der Bürger bereithält. Das ist die Wirklichkeit.
Meine Damen und Herren, Sie sind wieder dabei, der Bundesregierung düstere Prophezeiungen anzuhängen: Nach dem schlechten Umtauschkurs, den Sie angekündigt haben, sollen jetzt belastende Steuererhöhungen kommen. Dieses Konzept haben Sie schon zuhäufig angewandt, es ist schon zu häufig als falsch
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16406 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Bohlentlarvt worden. Es ist zu durchsichtig, und es wird auch diesmal nicht aufgehen.
Wir appellieren an die SPD: Machen Sie endlich mit bei der deutschen Einigung! Stehen Sie nicht beiseite! Hören Sie auf zu zögern, zu knausern und zu nörgeln! Das war bisher Ihr Beitrag zur Deutschlandpolitik.
Die Deutschen sind kein egoistisches Volk. Sie lassen sich nicht spalten. Die Mehrheit der Deutschen denkt nach vorn und will helfen. Wir sind aufgefordert, diese Bereitschaft zur Mithilfe und zur Solidarität zum Nutzen eines vereinten Deutschlands gemeinsam umzusetzen.Die Bundesregierung mit dem Bundeskanzler darf sich bei den wichtigen Verhandlungen und Gesprächen mit der DDR, die im Geist der Einheit geführt werden, der Unterstützung und des Vertrauens der Fraktion der CDU/CSU sicher sein.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte wollte Oskar Lafontaine reden. Nun, da er nicht reden kann, fehlt er schon, bleibt eine Leerstelle in dieser Debatte. Ich wünsche ihm — auch im Namen meiner Fraktion — daß er sich die Zeit nimmt, richtig gesund zu werden. Es heißt ja, daß er schon wieder so weit bei sich ist, daß er bereits wieder freche Bemerkungen macht. Das ist beruhigend. Aber er wird noch mehr Mut brauchen. Er wird ja nicht nur im Saarland gebraucht, sondern eigentlich für einen Machtwechsel hier in Bonn, und das ist noch ein schweres Stück Arbeit.
Ich wünsche ihm, daß er nach diesem Attentat keinen Knacks in seiner Seele behält, wenn er nämlich verarbeiten muß, was wir alle wissen und immer verdrängen: daß Politik auch ein existentiell gefährlicher Beruf ist.
Dieses Attentat auf Oskar Lafontaine war nicht nur ein unmenschlicher, ein wahnsinniger und ein absurder Zufall — das war es auch —; wir sollten es aber auch zum Anlaß nehmen, über die Stimmung in unserem Land nachzudenken. Wir sollten uns alle fragen, ob denn dieser politische und soziale Hochdruck noch lange verkraftbar ist.Ich frage mich schon seit längerem, warum der Prozeß der deutschen Einigung so wenig das ist, was er eigentlich sein könnte. Die deutsche Einheit, das Entstehen eines neuen Deutschlands war lange ein Traum der politischen Linken in diesem Land, und darauf bestehe ich auch. Das Zusammenwachsen zweier Gesellschaften mit teils unterschiedlichen und teils gemeinsamen Mentalitäten und Kulturen hätte eine große kreative Phase in der Geschichte dieser Republik sein können.Warum ist das nicht so? Warum müssen wir soviel kritisieren? Warum erleben wir einen fast unmenschlichen Druck und eine so große Beklemmung? Warum gehen wir in diese deutsche Einheit wie in die Fabrik am Montagmorgen?Ich sehe dafür zwei Gründe: Erstens die Unterwerfung und damit die faktische Leugnung eines eigenständigen DDR-Beitrags in diesem kulturellen Großexperiment des Zusammenwachsens zweier Gesellschaften — von der DDR soll nicht viel bleiben, nur so etwas wie ein Phantomschmerz — und zweitens die Tatsache, daß die Politik in dieser Phase einfach nicht zum ehrlichen Reden kommt. Es wird so sehr gelogen, daß sich die Balken biegen, und es wird so sehr geglaubt, daß man sich nur wundern kann.
Niemand traut sich in diesem Haus und in der Öffentlichkeit, die Kosten der Einheit und des Aufbaus der DDR wirklich zu nennen. Für die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung in der DDR greift die Regierung einfach in die Kasse der Bundesanstalt für Arbeit. Die Reserven der Bundesanstalt für Arbeit gehören aber nicht Norbert Blüm, sondern den Beitragszahlern.
Was jetzt geschieht, ist ein verdeckter Beitragsklau auf Raten. Es wird gleichzeitig nie und an keiner Stelle zugegeben, daß die DDR auch mit dem Umtauschkurs von 1 : 1 am 2. Juli in ein gewaltiges soziales Sommerloch fallen wird. Niemand weiß bisher, wie es zu stopfen sein wird, aber die Wahrheit ist: Die DDR bekommt mit der D-Mark eben nicht den BRD-Wohlstand, sie wird ihn auch auf Jahre nicht bekommen, sie bekommt zunächst Massenarbeitslosigkeit.Den Umtauschkurs von 1 : 1 begrüßen wir durchaus, aber er löst nicht im mindesten die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, und das muß man auch sagen. Und warum sagt niemand in der Regierung den Westdeutschen, daß sie mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer, mit einem Anstieg der Zinssätze und mit der Gefahr der Inflation zu rechnen haben?Es wird nicht offen darüber geredet, daß die Länder über den Länderfinanzausgleich auf Jahre zur Kasse gebeten werden und damit die Bürger über diese Länderebene auf der zweiten und dritten Ebene belastet werden.Immer wieder werden die Ökonomen von den Politikern zum Schweigen gebracht, bis sie dann endlich in ihrer ironischen Sprache, wie Herr Pöhl sie benutzt, zugeben, daß die entsprechenden Entscheidungen eben „politisch" vernünftig seien. Das heißt im Klartext: Ökonomisch gehen wir so in dieser Eile den allerteuersten der möglichen Wege. Gerade bei der schnellen Einheit werden viele Betriebe der DDR als konkurrenzunfähig ruiniert, die bei langsamem Vorgehen durchaus hätten reformiert werden können.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16407
Frau Dr. VollmerIch habe mich lange gefragt, warum die Analyse von Herrn Pöhl, die ja irgendwo säuberlich in schriftlicher Form vorliegen muß, eigentlich noch nicht im „Spiegel" erschienen ist. Der „Spiegel" ist ja eine Zeitschrift, die an die geheimsten Stasi-Akten herankommt, ebenso wie an die Regierungspapiere, lange bevor die Parlamentarier sie erhalten. Wieso ist eigentlich die Analyse der Bundesbank noch nirgendwo öffentlich gemacht worden?Öffentlich werden dagegen Debatten über lauter Zahlen geführt: 2: 1 oder 1: 1, Art. 23 oder Art. 146. Den Menschen in beiden Teilen Deutschlands wird bei diesen Zahlenspielen und bei dieser Berg- und Talfahrt von Hoffnung und Ohnmacht schwindelig, und das ist, glaube ich, auch der Sinn der Übung. Sie werden unmündig gehalten, damit sie alles den Bürokraten und Experten in den Regierungsetagen überlassen.Die Absicht der Regierung bei diesem Versteckspiel ist klar: Sie will bei ihrem Tun möglichst wenig vom Parlament und von der Öffentlichkeit gestört werden; deswegen schaltet sie beides auch möglichst weitgehend aus. Funktionieren kann es aber bloß, wenn eine Opposition in der DDR und in der BRD kaum noch stattfindet oder kaum noch stattfinden kann. Deswegen kritisieren wir zusammen mit dem Bündnis 90, daß sich die SPD in der DDR als Juniorpartner in die Regierung eingereiht hat. Wir kritisieren es auch deswegen, weil wir meinen, daß damit auch die SPD-Opposition hier gebunden ist. Statt einer großen öffentlichen Debatte, die einen Konsens in der Gesellschaft sucht, geht es immer mehr um einen Konsens zwischen den großen Machtzentralen, und wir fürchten ein bißchen, daß unter der Heussallee schon an einem Geheimgang zwischen Baracke und Kanzleramt gebaut wird.
Die Menschen in Deutschland werden unruhig, sie werden mißtrauisch, sie fragen immer wieder bohrend zurück, wenn ein und dieselbe Milliarde gleich dreimal verteilt wird. Schließlich wird ihnen die Antwort gegeben, die alle denkbaren Interessengegensätze und Zielkonflikte geradezu klassisch bereinigen soll: Es wird eben ein riesiges Wachstum in Großdeutschland geben. „Wachstum", das ist das Zauberwort, Wachstum in der BRD und Wachstum in der DDR.Da bin ich denn beim Hauptgrund der beklommenen Stimmung im Land. Bei diesem magischen Wort Wachstum wird eben nicht mehr vorbehaltlos in die Hände geklatscht oder gespuckt. Alle wissen nämlich, daß in derselben Zeit, in der dieses neue, große, ökonomisch potente Deutschland entsteht, ganz andere, größere Probleme wachsen, die unser Leben in Zukunft mehr bestimmen werden als jede staatliche Verfaßtheit irgendeines Landes.Die Klimakatastrophe hat in diesem selben Jahr mit der Deutlichkeit von Orkanen laut und mehrmals an unsere Tür geklopft. Sie hat uns klargemacht, daß es mit dem Wachstum eben nicht mehr weitergeht. Auf diese große Zukunftsfrage aber hat die Regierung nicht den Hauch einer Antwort. Zwar hat der Umweltminister auf einer Konferenz irgendwo weitab in den USA sagen dürfen, daß die Klimakatastrophe eigentlich nur zu verhindern wäre, wenn die Industriestaaten mindestens eine Generation lang ohne Wachstum auskämen
— das sagt sich schön auf einer Konferenz in der USA — , aber im Staatsvertrag steht gerade dazu nichts.
Dem bedauernswürdigen Herrn Töpfer hat der ganze Staatsvertrag keinen Platz für eine ökologische Rahmenplanung gelassen.
In diesem Wirtschaftswunder-Vertrag stehen dazu nur ein paar harmlose Floskeln, die gerade ein ganzes Drittel auf der allerletzten Seite einnehmen dürfen, unter dem schönen verräterischen Titel: „Regelungen, die im weiteren Verlauf noch anzustreben sind".
Es besteht also ein fundamentaler Widerspruch zwischen dem Wachstum für das Vaterland und der Schrumpfung für das Klima und die Überlebenschancen der Erde. Darüber hilft auch die gekünstelte nationale Euphorie des Kanzlers in seiner leibhaftigen Größe nicht hinweg,
die ohnehin weniger vom Herzen als von der Gesäßtasche kommt.Dieser D-Mark-Nationalismus kennt, wie Jürgen Habermas sagt, nur eine Rechnungseinheit für alle Themen: D-Mark-Wachstum und Wirtschaftswunder. Alle merken es: Diese Wachstumsmilitanz, dieser Wirtschaftswunder-Glaube erinnern an die 50er Jahre. Auch die Atmosphäre in der DDR erinnert an die 50er Jahre, in vielen kulturellen Einzelheiten. Auch die soziale Stimmung hier im Land erinnert an die 50er Jahre, und auch der Trotz und die mürrische Stummheit der Jugendlichen in diesem Land erinnern an die 50er Jahre.
Aber da lag doch etwas dazwischen, zwischen 1955 und 1990, nämlich die Emanzipation der Westdeutschen seit 1968 und die Revolution der Ostdeutschen im Herbst 1989. Was jetzt versucht wird, ist gerade die Umgehung dieser beiden zentralen Marksteine deutscher Geschichte.
Aber gerade in diesen beiden demokratischen Bewegungen, hier und drüben, liegt doch die Chance, gleichzuziehen mit den demokratischen Herausforderungen der Revolutionen in den osteuropäischen
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16408 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Frau Dr. VollmerStaaten und mit den ökologischen Herausforderungen des neu entstehenden Europas.
Statt dessen liegt uns nun dieser Staatsvertrag vor. Eine solche Ungleichheit von Verteilung von Rechten und Pflichten ist, glaube ich, völkerrechtlich einmalig. Dieser Vertrag ähnelt einem Kolonialvertrag, geschrieben in Manchester 1890.
Das Budgetrecht gibt die DDR ab, und alle Gesetze der Bundesrepublik sollen denen der DDR übergeordnet sein. Nach diesem Vertrag ist der Beitritt der DDR nach Art. 23 nur noch eine hohle Geste. Die DDR ist nämlich schon einverleibt.Aber dieser Staatsvertrag markiert auch noch etwas anderes. Darauf möchte ich Sie hinweisen. Er markiert auch das Ende der Bundesrepublik, wie wir sie kannten. Wir tragen heute damit auch die uns bekannte Republik zu Grabe. Das sage ich auch mit Blick auf meine eigene Partei. Die Geschichte der Bundesrepublik ist vorbei.
Deutschland ist nun beinahe eine Supermacht. In einer solchen Supermacht, wie wir sie werden, entstehen auch für die Opposition ganz neue Aufgaben. Das ist kein Grund zur Trauer, aber es ist ein Grund zum Innehalten, zum Nach- und Vorausdenken.
Das Ethos der Politik ist es, die Wahrheit zu den Problemen zu sagen und auf der Basis eines solch ehrlichen Redens Lösungen vorzuschlagen.
Aber das geht nur mit einem demokratischen Ablauf. Das geht nur, wenn man die Menschen mitentscheiden läßt. Das geht nur, wenn man ihnen reinen Wein über die Kosten des Prozesses und seine Chancen einschenkt. Das geht nur mit einem Volksentscheid nach ausführlicher Debatte.
Diese Diskussion wollen wir. Wir werden uns auch die notwendige Zeit dafür nehmen.In diesem Land herrscht zur Zeit wirklich ein prima Klima. Ein Jahr lang Wahlkampf à la DDR: Das überstehen wirklich nur die Dümmsten und die Härtesten. Aber — da bin ich ganz sicher — es wird auch hier bald wieder ein ganz frischer Wind oder auch ein Orkan vom Berge her wehen. Der Geist des Staatsvertrages war davon geprägt, daß Vater Staat die Probleme der Einheit schon irgendwie regeln wird, daß die Bürger schlafen können und daß man ihnen nicht allzusehr wehtun will.
Wir setzen darauf, daß die Gesellschaft stärker und emanzipierter ist und daß sie die beiden demokratischen Traditionen wachhalten will. Deswegen setzen wir auch darauf, daß die Gesellschaft auch Wahrheiten ertragen kann, wenn man sie wirklich mit den entscheidenden Fragen unserer Zeit konfrontiert.Das Konzept der Regierung ist es, den Wahlkampf unter der Parole zu führen: Wir machen das große Deutschland zur Nummer eins in der Welt. — Aus der großen Wachstumswundertüte soll für alle etwas abfallen. Unser Gegenkonzept heißt: Wir machen die Zukunft dieser Erde zum Wahlkampfthema Nummer eins. Wir holen die Zukunft an den Kabinettstisch. Wir verschweigen durchaus nicht, daß die Zukunft, wenn sie denn eine sein soll, allen auch etwas an Verzicht und Lebensveränderung zumutet. Ich bin wirklich sehr gespannt, welchen Parolen und welchen Politikern die Menschen in diesem Land dann eher folgen werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Otto Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Gerade weil wir dieses Land nicht zur Nummer eins der Welt und auch nicht zur Nummer eins in Europa machen wollen, sind wir in diesem Punkte mit der sozialdemokratischen Opposition einig, nämlich daß wir dieses Deutschland in Europa integrieren wollen, daß wir den europäischen Weg und keinen nationalen Weg gehen wollen.
Ich habe am letzten Sonntag in Washington einen Vortrag vor einem internationalen Gremium gehalten. Zum Schluß forderte der Vorsitzende dieser Veranstaltung den anwesenden Vorsitzenden der Solidarność-Fraktion im polnischen Parlament auf, sich doch mit einer Frage in der Diskussion an mich zu wenden. Herr Professor Geremek stand auf und sagte: Nun, wenn ein Pole einen Deutschen in diesen Tagen etwas zu fragen hat, dann ist das Thema klar, dann ist es nämlich die Frage nach der Oder-Neiße-Grenze. Ich werde Graf Lambsdorff nicht danach fragen, denn ich kenne seine Antwort.In dieser Frage war uns, was Ihren Antrag, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion anlangt, von Anfang an klar: Wir haben mit Ihrem Antrag betreffend Deutschland und Polen keine inhaltlichen Probleme. Wir halten es aber für richtig, jetzt den Weg zu gehen, den der französische Staatspräsident und der Bundeskanzler nach Presse-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16409
Dr. Graf Lambsdorffberichten gestern besprochen oder in Angriff genommen haben, also eine Entschließung der beiden deutschen Parlamente zustande zu bringen. Wir werden der Überweisung Ihres Antrages an den Ausschuß zustimmen.Wir werden ebenso mit Ihrem Antrag auf Einsetzung eines beratenden Ausschusses verfahren. Wir sind für die stärkere Beteiligung des Parlaments, wir sind aber nicht, Herr Vogel, für die Vermischung der Zuständigkeiten zwischen Bundestag und Bundesrat. Dazu werden wir im Ausschuß nein sagen.
Der Staatsvertrag, der jetzt vorliegt, ist der Gegenstand der heutigen Debatte. Er soll die Grundlagen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion liefern.Meine Damen und Herren, in der Frage einer Volksabstimmung sind wir, wie Sie wissen, nicht Ihrer Meinung. Ich glaube, Robert Leicht hat die Frage gestern in der „Zeit " sehr richtig formuliert. Warum soll denn überhaupt abgestimmt werden, wenn ein Nein gar nicht möglich ist? Was soll denn der Sinn einer solchen Veranstaltung sein?
Dieser Staatsvertrag ist ein faires Angebot. Die Bundesregierung ist bis an die Grenze des wirtschaftlich Möglichen und des wirtschaftlich Vertretbaren gegangen. Sie wissen, daß ich von der ersten Materialsammlung gesagt habe — etwas spontan , wie ich zugebe — : Das liest sich wie ein Dokument der Unterwerfung. Dies ist nicht mehr der Fall.
Dieser Staatsvertrag jetzt verdient eine solche Charakterisierung nicht.Natürlich ist es richtig, daß die notwendige und angestrebte Rechtseinheit in so weiten Bereichen des politischen und wirtschaftlichen Lebens Souveränitätseinbußen der Regierung der DDR mit sich bringt. Das ist ganz unvermeidlich, wenn Sie die D-Mark als Währung in die DDR einführen wollen. Darüber streitet auch niemand. Die Sprache, in der das geschehen muß, muß aber vernünftig und angemessen sein. Ich denke, das ist im Staatsvertrag der Fall. Das zeigt ja auch die Reaktion der Regierung der DDR.Im einzelnen: Der 1. Juli muß bleiben — im Gegensatz zu einigen Anregungen aus Ihrer Fraktion. Jeder Tag Verzögerung macht die Sache nur teurer. Es läuft auch nichts mehr in der DDR.Zweitens. Das Angebot 70 % Renten — gemessen am Niveau der Einkommen in der DDR — ist angemessen und vernünftig. Gleichzeitig ist die Einführung unseres Systems der Altersversorgung notwendig; also ist es auch notwendig, den Krankenversicherungsbeitrag für Rentner einzuführen.
Ebenso muß darangegangen werden, den schnellen Aufbau der gegliederten Krankenversicherung zustande zu bringen. Im übrigen wird das Thema Rentenversicherung und ihre Finanzierung dann, wenn esmit der Arbeitslosigkeit einigermaßen glimpflich geht, bei dem sehr hohen Anteil von arbeitenden Menschen in der DDR nicht so schwierig sein.
— Den brauchen wir wohl. Wir brauchen dasselbe System wie hier, und zwar von Anfang an das gleiche und nicht erst später mit verzögerter Einführung.
Drittens. Meine Damen und Herren, ich habe seit Wochen gesagt, daß die Diskussion über Löhne und Gehälter 1: 1 oder 1 : 2 eine ökonomisch irreführende und falsche Diskussion ist. Der jetzige Einstieg ist eine Meßgröße. Es müssen unverzüglich Löhne und Gehälter ausgehandelt werden. Wenn die Preise freigegeben werden, dann werden auch die Preise für Arbeit freigegeben, und das sind nun einmal Löhne und Gehälter. Diese Verhandlungen müssen in der Situation der DDR betriebsnah geführt werden. Deswegen ist die Wahl von Betriebsräten eine der dringendsten Notwendigkeiten in der DDR, damit es Gesprächspartner für die Betriebsleiter gibt.
— Ich nehme ja gern den Zwischenruf „keine Ahnung" entgegen, meine Damen und Herren. Ich habe überhaupt von nichts Ahnung; ich weiß.Meine Damen und Herren, es wäre ein grober Fehler, der DDR in der jetzigen Situation flächendekkende Tarifverträge zu empfehlen, flächendeckende Tarifverträge, die die Flexibilität zwischen den einzelnen Betrieben ja nicht ausgleichen können und die auf die Gegebenheiten aus regionaler und vor allen Dingen aus branchenmäßiger und ertragsmäßiger Sicht keine Rücksicht nehmen können. Diese Rücksichtnahme muß aber sein.Wenn wir glauben, meine Damen und Herren, wir können den Zustand der Regulierung oder — wie ich sage — der Überregulierung, den sich die Bundesrepublik Deutschland nach 40 Jahren erfolgreichen Wirtschaftens leistet, der DDR heute zumuten, dann müssen wir wissen, daß die dann nie aus den Startlöchern kämen. Wenn wir 1948 mit dem Regelnetzwerk angefangen hätten, das wir heute haben, dann säßen wir noch in derselben Situation wie 1948.
Natürlich entscheiden die Lohnhöhe, die Höhe der Personalkosten auch über die Höhe der Arbeitslosigkeit. Das hat übrigens etwas mit 1 : 1 und 1 : 2 zu tun. Bei 1: 1 kriegen Sie verhältnismäßig schnell eine hohe Arbeitslosigkeit und einen massiven Druck auf die Verbesserung der Produktivität. Aber dies ist ein ziemlich unbarmherziges Verfahren, während mir das bei 1 : 2 oder bei der Regelung, die wir jetzt gefunden haben, vernünftiger zu sein scheint.Die Anschubfinanzierung der Arbeitslosenversicherung und der Renten muß aus der Bundesrepublik geschehen. Dabei sollte die Anschubfinanzierung
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16410 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Dr. Graf Lambsdorffnicht aus Beiträgen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zu unserem Sozialversicherungssystem erfolgen.
Viertens. Der Umtauschsatz war doch nur bei der Frage der Bestände von Anfang an von wirklich entscheidender Bedeutung, und er ist es bei den Schulden. Die Schulden sollen 1 : 2 umgestellt werden. Ich frage auch hier — das muß die Bundesregierung mit Herrn de Maizière und seinen Kollegen verhandeln — , ob die DDR-Wirtschaft diese Schulden eigentlich verzinsen und tilgen kann. Da muß man seine Zweifel haben. Natürlich darf man das auch nicht mit dem groben Raster machen. Die Hersteller von Meißner Porzellan können das natürlich, aber die Hersteller des Trabant können es nicht. Das ist die Situation. Hier haben Sie die weiten Spannbreiten.Die Umtauschfrage ist von entscheidender Bedeutung bei Sparkonten und Bargeld. Ich denke: 4 000 Mark Ost 1: 1, darüber hinaus 1 :2, aber — das ist ein ganz entscheidender Punkt — sofort verfügbar und marktmäßig verzinst. Wenn man das bankmäßig rechnet, kommen Sie nämlich beinahe auf dasselbe, wie wenn Sie 1 : 1 mit Verfügungssperre und niedrigem Zinssatz ansetzen. Das ist ein Angebot, das sich auch nach unserer Überzeugung sehen lassen kann. Wir wissen, daß es noch Zusatzwünsche gibt. Darüber wird zu sprechen sein.Eine Inflationsgefahr besteht nach unserer Überzeugung bei dieser Handhabung nicht. Die Inflationsgefahr wird vermieden werden. Sie muß auch vermieden werden, und zwar nicht nur wegen der Bürger der Bundesrepublik — das ist wahrlich wichtig genug, das sind unsere Wähler — , sondern auch wegen der Bürger in der DDR, die stabiles Geld haben wollen. Die wollen ihre Aluchips, ihr Spielgeld loswerden und endlich stabiles Geld bekommen und nicht damit anfangen, daß wir die D-Mark instabil machen.
Frau Däubler-Gmelin hat gefragt: Wie macht man das denn? Das machen wir genauso, wie wir es hier gemacht haben: mit einer soliden Haushalts- und Steuerpolitik der Bundesregierung
und mit einer vernünftigen Geld-, Zins- und Währungspolitik der Bundesbank. Wir haben doch die Inflation heruntergebracht, und zwar ganz erheblich.
Das wird auch dort geschehen.
Wenn Frau Vollmer meint, die Ökonomen seien alle beiseite geschoben, dann muß ich sagen: Bei Ihrem partiellen Wahrnehmungsvermögen lesen Sie offenbar das, was die Ökonomen in ihrem Frühjahrsgutachten geschrieben haben, gar nicht. Die haben nämlich alle diese Fragen so beantwortet, wie wir sie beantworten. Aber davon nehmen Sie keine Kenntnis. Das paßt nicht in Ihr Weltbild.
Das war auch ein zuversichtliches Gutachten und nicht so weinerlich; das paßt Ihnen nicht.Meine Damen und Herren, ein paar Anmerkungen der FDP zu diesem Staatsvertrag. Wir sind der Meinung, daß ein Stichtag möglichst weit zurückliegend eingeführt werden muß, damit jeder Versuch von Spekulation seit dem Anfang der Entwicklung in der DDR unterbunden wird.
Dabei muß man etwas vorsichtig sein. Es gibt auch Leute, die aus Angst ihre Sparkonten aufgeteilt haben, weil sie befürchtet haben, von ihrem Staat wieder gerupft zu werden. Wenn die das nachweisen können, muß man ihnen helfen. Man darf also nicht mit der großen Sense über alles hergehen.Zweitens. Im Staatsvertrag steht, daß Mißbrauch verhindert werden soll. Ich frage mich bei näherem Nachdenken ein wenig, ob das bei einem generellen Umtausch von Bargeld eigentlich wirklich sicherzustellen ist
oder man darüber nicht noch einmal reden und nachdenken muß.Ich frage mich auch, ob man Konten aller und jeder Höhe 1 : 2 umstellen kann. Aber machen Sie es sich auch da nicht so leicht und sagen Sie nicht einfach, das seien Stasi- oder SED-Konten. Da haben Leute viel Geld verdient, die gleichzeitig in der SED waren, weil sie in ihrem Beruf tüchtige Leute waren. Herr Vogel, Marita Koch ist nicht 200 Meter in Weltrekordzeit gelaufen, weil sie in der SED war,
sondern sie war in der SED, weil sie Weltrekord laufen konnte. So geht das.
Eine weitere Anmerkung zur Frage der Herstellung der Rechtseinheit und der Übernahme fast aller Gesetze der Bundesrepublik schon zum 1. Januar 1991. Ich fürchte, das kann nicht gehen. Das kann die DDR nicht schaffen. Wir müssen hier noch sortieren und sagen, was wirklich ganz wichtig ist. Sonst überfordern wir die DDR.
Wir empfehlen, meine Damen und Herren, den DDR-Bürgern gewissermaßen ein Vorkaufsrecht einzuräumen, wenn es darum geht, an dem bisherigen Staatsbesitz Beteiligungen zu erwerben, auch am Grundbesitz.
Aber das wirft Probleme der Eigentumsbehandlung in der DDR auf. Hier, Herr Bundeskanzler, bitten wir darum, daß Sie dem Ministerpräsidenten sagen, daß seine Regierungserklärung in diesem Punkt unbefriedigend ist. Im Staatsvertrag ist es kaum angesprochen worden. Das muß im Entwurf ja auch nicht sein. Aber
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Dr. Graf Lambsdorffnach den Vorstellungen von Herrn de Maizière soll der Erwerb von Eigentum an Grund und Boden in der DDR nicht möglich sein, lediglich Erbpacht und Erbbaurecht. Auf dieser Basis werden Sie keine Investitionsfinanzierung zustande bekommen, weil Sie keine Sicherheiten bekommen. Das kann nicht gehen.
Ich habe eine weitere Bitte an den Ministerpräsidenten der DDR, dessen Zähigkeit beim Verhandeln von Koalitionen ich übrigens durchaus bewundere. Sie müssen das nicht unbedingt nachahmen, Herr Bundeskanzler. Aber ich fand das schon ganz ordentlich.
Heute morgen hat Herr de Maizière nach Pressemeldungen gesagt: Kein Abbau von Subventionen bei Energie und Wohnungen! Ich empfehle sehr, bei Neubauten die Zwangswirtschaft in der Wohnungswirtschaft sofort aufhören zu lassen. Sonst geschieht nämlich überhaupt nichts. Er will die Energiepreise erst freigeben, so hat er nach diesen Meldungen gesagt, wenn die Produktivität gestiegen ist. Das ist nun schlicht falsch. Der sparsame Einsatz von Energie folgt höheren Preisen, und das trägt zur Verbesserung der Produktivität bei. Sehen Sie sich einmal den Energieverbrauch in der DDR an. In der Bundesrepublik haben wir 6 Tonnen SKE je Einwohner und Jahr, in der DDR 7,5 Tonnen SKE je Einwohner und Jahr. Bei bedeutend höherer Produktion in der Bundesrepublik heißt das zu deutsch: eine maßlose Energieverschwendung in der DDR.Das hat natürlich auch etwas mit Umweltproblemen zu tun.
— Wir kommen noch auf Fortschritt 90 zurück, keine Sorge. Sie werden doch nicht glauben, daß ich das ausließe.
Frau Däubler-Gmelin, Sie haben zum Thema Umwelt gesprochen. Wir kommen hier vor ernsthafte und für die Bundesbürger nicht immer ganz bequeme Fragen: Lohnt sich eigentlich ein massiver finanzieller Einsatz, um noch die letzten 2 % eines Schadstoffes aus unserer Produktion herauszuquetschen, oder lohnt es sich, das Geld dort drüben einzusetzen, um da 40 % des gleichen Schadstoffs zu beseitigen? Das werden wir uns wohl fragen müssen.
Frau Matthäus-Maier, ich will Sie gleich zitieren, aber natürlich freundlich. Laut „Express" haben Sie am 25. April gesagt:Ich rechne nach einer kurzen Phase des Übergangs in der DDR mit einem zweiten Wirtschaftswunder, das auch zu einem Wachstumsschub bei uns beiträgt. Nach der Einheit werden wir einer der besten Investitionsstandorte in der ganzen Welt sein.Das ist vollständig richtig, aber nicht mit der Wirtschaftspolitik der SPD, meine Damen und Herren.
Sie müßten im übrigen Ihre freundlichen Aufforderungen einmal an Ihre eigenen Reihen richten. Ich darf zitieren, was sich auf dem Bundeskongreß der Jusos entwickelt:Die Wiedervereinigung ist ein konservatives Projekt und mit dem internationalistischen Ansatz der Arbeiterbewegung unvereinbar.
Führende Repräsentanten des Großkapitals der CDU/CSU und FDP geben sich bereits in Kolonialherrenmanier und erheben in immer aggressiverer Form die Forderung nach Privateigentum an Produktionsmitteln und freier Betätigungsmöglichkeit für das bundesdeutsche Kapital in der DDR und setzen dies für die wirtschaftliche Unterstützung der DDR voraus.Nun, meine Damen und Herren, wie sagte Frau Däubler-Gmelin: Wir wollen die Einheit. Da haben Sie aber noch einigen Missionsbedarf in Ihren eigenen Reihen, vor allen Dingen bei Ihren jüngeren Leuten.
Das Berliner Programm — Sie haben es ja eben erwähnt — beruft sich im Gegensatz zu dem, was die SPD in der DDR tut, ausdrücklich auf Karl Marx. Aber nicht einmal mit der Mund-zu-Mund-Beatmung durch die deutschen Sozialdemokraten wird marxistische Wirtschaftspolitik wieder lebendig, meine Damen und Herren.
Manchmal — da wird es dann etwas ernster — frage ich mich, ob einige von Ihnen — ich will Sie nicht alle meinen — der DDR überhaupt helfen wollen.
— Sie dürfen doch nicht glauben, daß ich einen solchen Satz so stehen lasse. Nun schreien Sie doch nicht zu früh. Ich werde ihn begründen.Wenn Herr Schröder in Niedersachsen sagt, die Leute in der DDR sollten sich jetzt selber krummlegen, was ist das dann für eine Formulierung? Sie ist herzlos und kalt.
— Gleich kommt noch ein anderer Punkt, der mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun hat.Wenn die sozialdemokratische Neuakquisition — Peter Glotz sei Dank — , Herr Otto Schily, am Abend des 18. März im Palast der Republik auf die Frage, wie dieses Wahlergebnis zustande komme, vor die Fernsehkameras geht und eine Banane dahin hält,
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16412 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Dr. Graf Lambsdorffkalt spekulierend und kalt kalkuliert, dann ist das eine menschenverachtende Beschimpfung der Wähler in der DDR.
Meine Damen und Herren, ich freue mich über Ihren Beifall, Frau Matthäus-Maier. Aber es hat keine Kritik aus der SPD-Spitze an diesem unglaublichen Verhalten gegeben. Keine!
— Ja, aber sie hat den Mut, das zu tun, und dafür hat sie meinen Respekt.Meine Damen und Herren, es ist im übrigen schon eine merkwürdige Situation. In der Bundesrepublik hört man ja gelegentlich weinerliche Untertöne, das werde alles zu teuer, das sei ja alles so schwierig, die Inflation komme, und die Zinsen und die Steuern würden steigen.
Es verbreitet sich langsam — glücklicherweise nicht überall — Mißmut. Von Ihnen wird er natürlich auch noch geschürt.Wenn man ins Ausland geht, hört man, daß die Leute dort alle sagen: Die Deutschen werden noch stärker; jetzt packen sie noch die DDR dazu, also noch 16 Millionen fleißige und einfallsreiche Leute; die Deutschen werden noch stärker. Das kommt ja dann am Ende; dann werden wir doch die Nummer eins. Wenn es Ihnen ins Schema paßt, Frau Vollmer, werden wir wieder die Nummer eins.Die Ausländer haben natürlich recht: Das wird eine Erfolgsstory. Die DDR-Wirtschaft ist gemessen am Volumen der Bundesrepublik 10 % von dem, was wir darstellen.
Die Einwohnerzahl ist so groß wie die von Nordrhein-Westfalen. Und das, meine Damen und Herren, sollten wir nicht schaffen?Die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik ist blendend, übrigens nicht zuletzt, weil wir 1982/1983 diesen wirtschaftspolitischen Weg ermöglicht haben.
Sie ist blendend!
Ich sage sehr wohlüberlegt, weil ich das auch draußen im Ausland sage und keinen Widerspruch finde: Es gibt zur Zeit kein Land auf der Welt mit besseren Wirtschaftsdaten als die Bundesrepublik Deutschland.
Das brauchen wir genau jetzt. Wir haben ein ungeheures Glück. Aber es ist auch unsere Leistung, daßwir diese wirtschaftliche Situation in diesem Augenblick haben, wo wir unsere Wirtschaftskraft für die Aufgaben in der DDR brauchen. Das ist gut so.Was wir 1948 geschafft haben, das schafft auch die DDR 1990. Ihre Ausgangssituation ist doch viel besser, als es unsere damals war. Die DDR erhält ganz zu Beginn dieses Prozesses eine hochangesehene, international vertrauenbildende, stabile, konvertible Währung auf dem silbernen Tablett angeboten. Das hätten wir einmal 1948 haben sollen; wieviel leichter wäre alles gewesen! Also, das muß doch gehen!
Voraussetzung für den Erfolg der DDR ist Mut zu marktwirtschaftlichen Entscheidungen, ist Optimismus. Werden diese Entscheidungen richtig getroffen, dann werden wir das erwartete Aufbauwunder in der DDR erleben, allerdings, Frau Vollmer — das muß ich Ihnen doch sagen — , nicht mit Ihrer weinerlichen, larmoyanten Grundhaltung; damit wäre gar nichts zu erreichen.Unseren Landsleuten in der DDR sage ich: Habt Selbstvertrauen! Packt an! Ihr werdet Licht am Ende des Tunnels sehen! Ihr müßt durch diesen Tunnel noch hindurch; darum herumgehen ist nicht möglich; eigene Anstrengungen sind notwendig! Jeder in der DDR, mit dem man darüber spricht, akzeptiert das auch.Aber sie wollen Hoffnungen haben. Sie wollen für ihre Leistungen ein anständiges Stück Geld in die Hand bekommen und nicht diese Unsinnswährung. Sie wollen eine Aussicht sehen, daß sie für sich, ihre Kinder und ihre Familien etwas aufbauen können. Wir werden ihnen helfen, daß sie so etwas sehen können.Lassen Sie mich zwei persönliche Bemerkungen machen. Wenn ich 25 Jahre jünger wäre, etwas erspart hätte und mich selbständig machen wollte, glauben Sie, daß ich dann nach Köln oder Hamburg ginge? Ich ginge nach Leipzig oder Greifswald. Man muß sich doch nur umgucken; das Land schreit doch nach Arbeit.
Eine zweite Bemerkung. In meiner Studentenzeit im Jahre 1949, also kurz nach der Einführung der Währungsreform, habe ich mir in einem Reisebüro in Köln ein bißchen Geld verdient und mußte amerikanische Touristen betreuen. Sie kamen über ein Reisebüro in Chicago hierher, das mit dem Werbespruch annonciert hatte: „If you want to see the ruins, go to Germany now" — wenn ihr die Ruinen sehen wollt, dann fahrt jetzt nach Deutschland. Ich sage den Touristen aus aller Welt: Wenn ihr die Ergebnisse sozialistischer Mißwirtschaft in der DDR in Augenschein nehmen wollt, dann kommt bald; in wenigen Jahren haben wir sie dank sozialer Marktwirtschaft beseitigt, dann werdet ihr davon nichts mehr sehen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16413
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Diese Reaktion ist ein Ausdruck des Parlamentarismus, wie er real in der Bundesrepublik existiert.
Herr Abgeordneter, Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. Ich wäre dankbar, wenn im Hause die notwendige Ruhe hergestellt würde. Wer den Saal verlassen möchte, sollte das bitte sofort tun. Dann erwarte ich aber die notwendige Ruhe. — Bitte, Herr Abgeordneter.
Danke, Herr Präsident. — Das Thema lautet: Stand der Verhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Der einzige, der dazu bisher etwas gesagt hat, war mein Vorredner Graf Lambsdorff. Weder der Sprecher der Regierung, Herr Seiters, noch die nachfolgenden Rednerinnen und Redner haben tatsächlich dazu gesprochen, sondern im wesentlichen ihren Wunsch- und Zielkatalog, was am Ende dieser Verhandlungen herauskommen soll, formuliert.Ich möchte nicht in diese Diskussion einsteigen; denn — wie die meisten hier im Hause wissen, auch wenn in der Öffentlichkeit immer noch ein anderes Bild vermittelt wird — es ist alles bereits gelaufen und weitestgehend entschieden. Selbst sehr konkrete Fragen sind schon vorgefiltert, so daß kaum noch etwas zu ändern ist. Vielmehr möchte ich meinen Redebeitrag darauf verwenden, was im grundsätzlichen Bereich mit uns als Parlamentariern gemacht worden ist und was wir als Parlamentarier zu einem guten Stück — das geht vor allen Dingen an die Fraktionen von den GRÜNEN und der SPD — mit uns haben machen lassen.Seit vielen Monaten trifft die Bundesregierung eine Entscheidung nach der anderen und informiert in der Regel erst im nachhinein die parlamentarischen Gremien. Zu einem guten Teil findet eine Information des Parlaments nicht statt und muß geradezu erzwungen werden. — Wir haben gerade diese Woche einen solchen kleinen Kraftakt erlebt.Gleichzeitig hat sich das Parlament nicht um eine aktive Rolle bemüht. Diese Tatsache ist sicherlich aus dem Rollenverständnis insbesondere der Regierungsfraktionen nachvollziehbar. Das bisherige Versagen der Oppositionsfraktionen hingegen ist aber kaum noch zu verstehen.So soll auch der im Bundeskanzleramt geborene und von der Bundesregierung selbst eingebrachte Vorschlag — jetzt jedoch durch die Unterzeichnung der SPD-Fraktion geradezu als besonderer Erfolg der Opposition darzustellende Antrag — , daß Bundestag und Bundesrat einen beratenden Ausschuß mit je elf Personen aus ihren Reihen zur Begleitung des deutschen Einigungsprozesses bilden sollen, nichts anderes bedeuten als einen schlechten Parlamentsersatz.Als Vorsitzende fungiert die Präsidentin des Deutschen Bundestages, eine aktive Wahlkämpferin.
Das Parlament wird tatsächlich nicht beteiligt. Der Ausschuß wird informiert. Mit einer solchen Zusammensetzung kann er überhaupt nicht handlungsfähig koordinieren oder gar delegieren.
Mit dieser Form der Einbeziehung des Parlaments kann kein Abgeordneter des Deutschen Bundestages zufrieden sein. Vom Parlament gehören genauso wie von der Regierung die zuständigen Fachgremien eingeschaltet. Dies, meine Damen und Herren, war genau der Antrag, den Sie heute morgen als Geschäftsordnungsantrag abgelehnt haben.Warum beschäftigt sich nicht jeder der Fachausschüsse des Deutschen Bundestages genauso wie zur Zeit sämtliche Fachministerien in Bonn mit den Fragen, die seine Zuständigkeit tangieren?
Warum werden nicht zumindest, wenn sich der Ausschuß als solcher aus dem „business as usual" nicht herauslösen will, Arbeitsgruppen in den Ausschüssen gebildet?
Die Meinungsbildung der Parlamentarier gehört organisiert und nicht diffus und hilflos einer gut vorbereiteten Regierung entgegengestellt. Die parlamentarischen Gremien müssen überhaupt erst einmal in den Stand gesetzt werden, mit eigenen Vorstellungen und Positionen den täglichen Entscheidungsserien im deutschen Einigungsprozeß ihre von der Verfassungssystematik bestimmte Rolle gegenüberzustellen.Im Augenblick, meine Damen und Herren, taumeln wir in den parlamentarischen Gremien bei diesen seit der Existenz der Bundesrepublik Deutschland entscheidendsten Fragen wie nie zuvor.
Das ist eine Form von Ohnmacht, die mich wirklich zum Schreien veranlassen könnte.Vorgestern im Innenausschuß — das macht sicherlich auch der interessierten und zuhörenden Öffentlichkeit deutlich, wie zur Zeit tatsächlich entschieden wird — ist folgendes passiert: Der Innenausschuß als Ausschuß des Ministers, der nicht ganz zu Unrecht als Verfassungsminister bezeichnet und charakterisiert wird, hat sich bis heute noch nicht ein einziges Mal ernsthaft mit den verfassungsrechtlichen Fragen des deutsch-deutschen Einigungsprozesses befaßt.Auf einen Antrag von mir als einem fraktionslosen — ich sage lieber: unabhängigen — Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit dem Inhalt, einen solchen Bericht von der Bundesregierung zu bekommen, erfolgten auch Ausführungen von 25 Minuten Länge des Staatssekretärs Neusel. Während seiner Ausfüh-
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16414 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Wüppesahlrungen, die hochinteressant waren und viele Neuigkeiten in sich bargen — zu polizeilichen Fragen, zu Ausländer- und Asylfragen, zu Wahlrechtsfragen etc., zu allem, was in die Zuständigkeit des Innenausschusses gehört — , flogen spontan acht bis elf Finger von Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD hoch, weil natürlich Beratungs- und Nachfragebedarf existierte und weil viele von uns diese Dinge noch nie gehört haben.Nachdem der Staatssekretär geendet hatte, meldete sich ein Abgeordneter aus den Koalitionsfraktionen und fragte, warum solche Ausführungen des Staatssekretärs überhaupt erfolgten, wenn dieser Tagesordnungspunkt nicht aufgesetzt sei. Daß dann mein und auch anderer Kollegen Wunsch zur Aussprache über diesen Bericht des Staatssekretärs, für den die meisten sehr dankbar waren, nicht mehr möglich war, versteht sich von selbst.Der Innenausschuß wird sich erst wieder in zwölf Tagen mit dieser Materie befassen. In diesen zwölf Tagen werden aber wiederum die wesentlichen Entscheidungen zur Währungsunion getroffen sein. Die ganzen Währungs- und Wirtschaftsfragen präjudizieren verfassungsrechtliche Entscheidungen.Das ist nur ein Beispiel, ein sehr konkretes Beispiel, dafür, wie am Parlament zur Zeit permanent vorbeigearbeitet wird, und zwar ganz bewußt.
— Richtig, Frau Cornelie Sonntag, die Parlamentarier schlafen. Ich habe das vorhin gesagt.
— Nicht alle, richtig, aber im wesentlichen die Fraktionen der GRÜNEN und der SPD, die die Einmischung aktiv fordern und auch betreiben könnten.Wir haben gestern abend — jetzt kommt noch ein zweites, kürzeres Beispiel — die Debatte über die Volksabstimmung gehabt. Das ist keine Kleinigkeit, sondern vom Procedere des Grundgesetzes nach Art. 146 und der Präambel zu weiten Teilen sogar gefordert. Es war der letzte Tagesordnungspunkt des gestrigen Sitzungstages. Wir erlebten bei einer mit Redebeiträgen von viermal zehn Minuten angesetzten Runde der Fraktionen, daß der Vertreter der GRÜNEN siebeneinhalb Minuten sprach, die Vertreterin der SPD, Frau Däubler-Gmelin, zwei Minuten 20 Sekunden,
Herr Kleinert sechs Minuten, der auch noch süffisant darauf hinwies, daß eine Wette zwischen Ihnen beiden existiert, wer den kürzeren Redebeitrag hält, und nur der Vertreter der CDU/CSU knapp zehn Minuten. Das ist eine grobe Mißachtung, ein Nichternstnehmen einer Frage, die auch seitens der Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit relativ hochgehalten wird, nämlich der Frage, daß eine neue Verfassung formuliert werden und eine Abstimmung der Bevölkerung darüber herbeigeführt werden müßte.Ich zitiere abschließend den Bundeskanzler, der am 11. Februar 1990 — das ist also noch nicht sehr lange her — vor der internationalen Presse geäußert hat:Wir werden eine neue Verfassung zu schaffen haben. Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat — und zwar auf beiden Seiten —, von uns übernommen werden sollte. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen vierzig Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluß hinausgeht.Meine Damen und Herren, das ist auch meine Position. Ich weiß auch, daß das die Position von vielen Kollegen und Kolleginnen hier im Hause ist. Ich weiß, daß sich viele Kolleginnen und Kollegen sehr intensiv mit den Verfassungsfragen beschäftigt haben und sehr gerne ihre Kompetenz in den Entscheidungsfluß einbringen möchten. Das ist ihnen nicht möglich, weil in den parlamentarischen Gremien solche Entscheidungsflüsse zur Zeit nicht entwickelt werden.Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Ich denke, daß wir als Parlamentarier ebenso, wie das Bundeskabinett eine Arbeitsgemeinschaft „Verfassungsrechtliche Fragen" gegründet hat — und deshalb natürlich auch gut vorbereitet in die Diskussion hier im Plenum eintreten kann — , schon längst eine solche Arbeitsgruppe hätten einrichten müssen.Mein Entsetzen habe ich zum Ausdruck gebracht. Ich habe meine Redezeit wirklich ausschließlich dieser verfassungsrechtlichen Frage der Nichtbeteiligung des Parlamentes gewidmet
und bedaure, daß ich auf Grund des relativ geringen Redekontingentes nicht mehr auf Sachfragen eingehen konnte.
Ich glaube aber, daß diese Grundsatzfragen sehr viele der Sachfragen in einem solchen Maße determinieren, daß diese Schwerpunktsetzung mehr als gerechtfertigt war.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, jetzt hat Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem Weg zur deutschen Einheit stehen wir jetzt vor einem historischen Termin: Anfang Juli beginnt die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Es hat in den letzten Monaten kontroverse Diskussionen über die Frage gegeben, ob die Währungsunion rasch eingeführt werden soll oder nicht. Dabei bestand in einem Punkt weitgehend Übereinstimmung: Wenn für den wirtschaftlichen Aufbau in der DDR ausreichend Zeit
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Frau Matthäus-Maierzur Verfügung gestanden hätte, hätte man ein schrittweises Zusammenwachsen der beiden deutschen Währungsgebiete aus wirtschafts- und währungstheoretischer Sicht vorgezogen.
Tatsächlich hat die DDR aber diese Zeit nicht. Das unaufhörliche Ausbluten der DDR durch den Massenexodus ihrer Bürger hat gezeigt, daß die theoretisch denkbaren Alternativen in der Praxis nicht existieren. Die Menschen in der DDR brauchen jetzt durch die rasche Einführung der D-Mark ein überzeugendes Signal, daß es sich lohnt, zu bleiben und beim wirtschaftlichen Aufbau der DDR mitzuarbeiten.
Frau Vollmer, Sie sagen, das sei der teuerste Weg. Das ist nicht der teuerste Weg, das ist der billigste Weg, weil es auf Grund der Situation in der DDR überhaupt keinen anderen Weg gibt. Zum Teil wird gesagt, dies sei der politisch richtige Weg, aber ökonimisch sei er falsch. Dazu kann ich nur sagen: Ein Weg, den es überhaupt nicht gibt, kann nicht ökonomisch richtiger sein als ein anderer. Deshalb ist unser Weg ökonomisch und politisch richtig.
Außerdem ist der Eigenbeitrag der DDR bei der raschen Einführung der Währungsunion am größten. Diese schafft nämlich den heilsamen Zwang, auch die notwendigen Wirtschaftsreformen zügig zu verwirklichen und nicht in quälenden, monatelangen Prozessen über 48, 49 oder 51 % bei einer Joint-VentureVerordnung zu diskutieren.Meine Damen und Herren, leider hat die Bundesregierung bisher bei der Durchführung des Ganzen schwere Fehler gemacht:Erstens. Der Prozeß der Abstimmung mit der Bundesbank war offensichtlich unzureichend.Zweitens. Wochenlang wurden von Mitgliedern der Bundesregierung Umstellungskurse auf offenem Markt gehandelt. Karl Schiller hat dies zu Recht als äußerst unprofessionell kritisiert.
Drittens. Indem Herr Waigel und Herr Haussmann den 2 : 1-Vorschlag wochenlang als durchaus in Ordnung haben im Raume stehen lassen, haben sie aktiv dazu beigetragen, daß die Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern schwer angeschlagen worden ist; denn wäre es bei 2 : 1 geblieben, wäre selbstverständlich ein zentrales Wahlversprechen gebrochen worden. Das ist nun Gott sei Dank — auch durch den Protest der SPD in beiden Ländern — vom Tisch.
Daß der Herr Bundeskanzler diese Fehler entweder selber mit gemacht oder zugelassen hat, hat dazu geführt, daß das hervorragende Angebot einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zerredet, ja, in Teilen der Öffentlichkeit sogar diskreditiert worden ist. Ich halte das für einen schweren politischen Führungsfehler. Dies hat Schaden angerichtet, und die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland haben von Tag zu Tag mehr den Eindruck gewonnen, daß die Einheit ohne ihre Beteiligung und über ihre Köpfe hinweg stattfindet. Dies hat eine größere Distanz der Menschen hier zur deutschen Einheit hervorgerufen. Das ist nicht gut so.
Wir halten also den neuen Vorschlag der Bundesregierung für eine diskussionswürdige Grundlage. Mehrere Probleme sind aber offensichtlich noch nicht gelöst. Ich möchte fünf nennen:Erstens. Wir sind uns sicher darüber einig, daß durch die Umstellung der DDR-Sparguthaben die Stabilität unserer D-Mark auf keinen Fall gefährdet werden darf. Der Vorschlag der Bundesregierung ist aber, glaube ich, stabilitätspolitisch nicht unbedenklich. Ich bin sehr erstaunt, daß man mit Rücksicht auf die Preisstabilität, die ja im Interesse der Menschen sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland liegt, nicht den Weg gewählt hat, Sparguthaben oberhalb einer bestimmten Grenze zeitlich nur gestaffelt freizugeben, zumal übrigens die meisten Bürger in der DDR damit gerechnet haben.
Ich nehme an, Sie sind gerne bereit, eine Frage des Abgeordneten Dr. Graf Lambsdorff zu beantworten.
Ja.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir ähnliche Bedenken hatten, daß uns die Bundesbank aber ausdrücklich erklärt hat — Herr Pöhl hat dies gestern noch einmal in seiner Rede vor dem Bankentag wiederholt —, daß die Verfügungssperre für ihn und für die Bundesbank nicht in Frage gekommen sei und daß die jetzige Regelung, was die Geldmengensteuerung und die Inflationsgefahr angehe, unbedenklich sei?
Das nehme ich gerne zur Kenntnis. Ich hoffe, daß es zutrifft,
aber ich habe natürlich auch die Äußerung von Herrn Schlesinger vor wenigen Tagen im Kopf. Deshalb hätte ich den anderen Weg — wie ich sehe, offensichtlich mit Ihrem Einverständnis — für besser gehalten.Zweitens. Ich meine auch, daß die Einführung der D-Mark in der DDR den normalen Bürgern dienen soll, nicht den Spekulanten. Daher vermisse ich bisher geeignete Vorkehrungen, mit denen verhindert wird, daß im Zusammenhang mit der Währungsumstellung Spekulationsgewinne erzielt werden. Hier muß — z. B. durch die Einführung von Stichtagen — noch nachgearbeitet werden.
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Frau Matthäus-MaierDrittens. Was ist mit den hohen und höchsten Stasi- und SED-Funktionären? Diese dürfen doch wohl nicht Profiteure der Währungsumstellung sein. Wer 40 Jahre lang die Bürger gepiesackt hat und dafür hohe und höchste Sparvermögen ergattert hat, darf doch nicht durch die Währungsunion Summen erhalten,
die die Sparguthaben der Durchschnittsbürger in der DDR weit übersteigen.
Ich glaube aber, daß dieses Problem nicht mit der Umstellung und mit Kursen zu lösen ist. Dieses Problem muß die DDR lösen.
Ich denke, es ist von der DDR nicht zuviel verlangt, diesen Akt der Vergangenheitsbewältigung zu leisten und diese Vermögen durch ein geeignetes rechtsstaatliches Verfahren aus der Währungsumstellung herauszuhalten.
Viertens. Die Regelung der Betriebsschulden ist schlecht gelöst. Wir alle wissen, daß die Betriebe in der DDR über die Höhe ihrer Kreditaufnahme nicht frei nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten entscheiden konnten, sondern daß ihnen die Schulden vom Staat einfach zugeteilt wurden. Das ist das Ergebnis von 40 Jahren Kommandowirtschaft.Auch wenn jetzt die Betriebsschulden halbiert werden, besteht die Gefahr, daß viele Betriebe, die eigentlich wettbewerbsfähig wären, nur deshalb dichtmachen müssen, und daß nur deshalb Arbeitsplätze verloren gehen, weil die Betriebe die ihnen von der SED-Planungsbürokratie zugewiesenen Schulden nicht bedienen können. Das darf wegen der Arbeitsplätze nicht passieren; es würde aber auch Kosten für die Bundesrepublik Deutschland verursachen, die ja dann die Arbeitslosigkeit in der DDR mitfinanzieren müßte.Wir schlagen deshalb vor, über diesen Punkt gemeinsam noch einmal nachzudenken. Wir schlagen vor, daß die DDR die Schulden der Betriebe, die fast alle dem Staat DDR gehören, als Eigentümer ganz oder teilweise übernimmt und die Betriebe dann privatisiert. Mit dem Privatisierungserlös kann man dann die Schulden begleichen, und dieser Erlös ist auch selbstverständlich höher, wenn vorher die Betriebe entschuldet worden sind. Dieses Problem muß unserer Ansicht nach die DDR lösen; sie darf das nicht Umstellungskursen überlassen.
Fünftens. Das Thema Arbeitsförderung kommt bisher bei der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zu kurz. In der DDR steht ein wichtiger Strukturwandel bevor. Unproduktive Arbeitsplätze, die es dort zuhauf gibt, gehen verloren. Neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsgewerbe, im Handel, bei Banken und Versicherungen, in der Gastronomie und auch im Baugewerbe und im Handwerk werden entstehen.Die Menschen müssen für diesen Strukturwandel qualifiziert werden. Deswegen ist es wichtiger, sich um Arbeitsförderung, Umschulung, Qualifizierung und Weiterbildung zu kümmern, statt Arbeitslosengeld zu zahlen. Dazu gibt Ihr Staatsvertragsentwurf leider zu wenig her.
Meine Damen und Herren, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland fragen sich seit Wochen: Was kostet uns die deutsche Einheit? Ich finde es nicht redlich, wenn die Bundesregierung diesen Menschen vorwirft, eine derartige Frage sei so etwas wie unmoralisch, sie sei Ausdruck von Neid oder sogar ein Beweis dafür, daß diese Menschen die deutsche Einheit nicht wollten. Diese Vorwürfe zeigen, wie weit sich diese Kritiker von den Alltagssorgen und -nöten unserer Bürger entfernt haben.
Wer die Frage nach den Kosten der deutschen Einheit als unmoralisch bezeichnet, der weiß nicht, wie schwer es vielen Bürgern auch in unserem Lande fällt, mit ihren Familien finanziell über die Runden zu kommen.
Wer wochenlang so tut, als sei die deutsche Einheit quasi aus der Portokasse zu bezahlen, der darf sich nicht wundern, daß nunmehr nach den Horrorzahlen des Finanzministers Verunsicherung und Distanz der Bürger zum Einigungsprozeß zunehmen.Ich sage: Die Bundesbürger sind zu solidarischer Hilfe bereit. Sie sind bereit, den Bürgern der DDR beim Aufbau ihres Landes zu helfen. Aber diese zur Solidarität bereiten Bundesbürger haben einen Anspruch darauf, endlich zu erfahren, was auf uns alle zukommt. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, endlich die Größenordnung der Kosten der Einheit zu benennen, die einzelnen Kosten zu spezifizieren und zu sagen, wie die Bundesregierung sie finanzieren will. Wir erwarten von Ihnen schnellstmöglich die Vorlage einer neuen mittelfristigen Finanzplanung und ein konkretes Finanzierungskonzept.
Uns geht es darum, daß bei der deutschen Einheit die soziale Gerechtigkeit nicht unter die Räder kommt. Hierzu gehört übrigens auch, daß sich die Bundesregierung mehr als bisher um die Nöte und Probleme der Menschen hier kümmert, als sie es bisher getan hat. Nach wie vor gibt es doch in der Bundesrepublik Deutschland soziale Ungerechtigkeiten wie z. B. Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, die ungerechte Gesundheitsreform und die ungerechte Steuerreform. Dies darf nicht wegen der deutschen Einheit von der Tagesordnung der westdeutschen Politik verschwinden!
Wenn die Bundesregierung hoffen sollte, daß die Menschen dies vergessen, so wird sie sich irren. Mehr Aktivität im sozialen Wohnungsbau, Zinsbeihilfen für
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990 16417
Frau Matthäus-Maierdie von den hohen Zinsen gebeutelten Häuslebauer, die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages noch in diesem Jahr, wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Langzeitarbeitslosigkeit — dies alles werden wir Sozialdemokraten von Ihnen einfordern und hier im Deutschen Bundestag zur Abstimmung stellen.
Und wenn Sie die Zahlen auf den Tisch legen, dann legen Sie gleich ein konkretes Finanzierungskonzept dazu. Verstehen Sie doch endlich: Sie müssen sparen, Herr Waigel. Sie müssen endlich Subventionen abbauen, was Sie uns seit Jahren versprochen haben. Sie müssen endlich umschichten.
Sie haben leider sehr viel Zeit verstreichen lassen. Das ist verlorene Zeit, die das Ganze nur teurer macht. Verlorene Zeit, die alles teurer macht — das war übrigens schon das Motiv für Oskar Lafontaines Vorschlag,
alle finanziellen Anreize für Übersiedler zu stoppen. Diesen Vorschlag haben Sie heftig bekämpft, und das ist den deutschen Steuerzahler sehr teuer zu stehen gekommen; denn 100 000 Übersiedler mehr kosten 1,8 Milliarden DM, und indem Sie das Übersiedeln so massiv gefördert haben, haben Sie Milliardenkosten zusätzlich verursacht.
Daß verlorene Zeit verlorenes Geld bedeutet, zeigt sich auch bei Ihrer bisherigen Weigerung, ernsthaft beim Verteidigungshaushalt einzusparen.
Die Milliarden, die Sie deshalb ausgegeben haben, weil Sie hier nicht gespart haben, sind endgültig verloren.
Unsere Forderungen für die Zukunft sind Ihnen bekannt: Stopp des „Jäger 90", Einstellung der Tiefflüge, Verkürzung des Wehrdienstes auf zwölf Monate, Schluß mit neuen milliardenschweren Rüstungsvorhaben. Auch das bringt uns Geld für die deutsche Einheit.
Der Bundesfinanzminister tut bisher von all dem nichts. Statt dessen zieht er durchs Land und guckt, wo er anderen Leuten in die Tasche greifen kann, insbesondere Ländern, Gemeinden und der Rentenversicherung.
Ohne Zweifel ist die deutsche Einheit eine gesamtstaatliche Aufgabe.
Aber daß Länder und Gemeinden zur Finanzierung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zur Kasse gebeten werden, bevor der Bund überhaupt nur einen einzigen konkreten Einsparvorschlag in diesem Bereich gemacht hat, ist für die Länder nicht zumutbar.
Die Rentenkassen haben wir doch nicht im Herbst gemeinsam konsolidiert, damit die Bundesregierung sich jetzt daraus bedienen kann. Dagegen werden wir als SPD stehen!
Zu einer verantwortungsvollen Finanzpolitik gehört auch, daß die Bundesregierung endlich ihre Pläne aufgibt, in der nächsten Legislaturperiode die Steuern für Spitzenverdiener und Unternehmen um 25 Milliarden DM im Jahr zu senken. Derartige Steuersenkungen sind sachlich nicht zu rechtfertigen.
— Sie rufen dankenswerterweise „Doch!" dazwischen. Es wird ja manchmal bestritten, daß es so ist. Sie wollen das in der Tat: 25 Milliarden DM für Unternehmen und Spitzenverdiener.Wenn ich das Wort „Spitzenverdiener" benutze, dann sagt der Herr Waigel immer, da sei ein Neidkomplex. Sie wollen erneut den Spitzensteuersatz senken.
Für die Bürger, die das vielleicht nicht so wissen, sage ich: Der Spitzensteuersatz setzt nach Ihrer famosen Steuerreform, bei der Sie ihn schon einmal gesenkt haben,
bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 240 000 DM ein.
Es kommt jetzt nicht darauf an, für Menschen mit 240 000 DM Jahresgehalt die Steuern zu senken, sondern darauf, dieses Geld zu benutzen, um die deutsche Einheit zu finanzieren.
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16418 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
Frau Matthäus-MaierIch bin davon überzeugt, daß wir zur Finanzierung der deutschen Einheit Steuererhöhungen nicht brauchen.
Wenn Sie hier einzelne Kollegen zitieren, dann kannich nur sagen: Graf von Schwerin, Herr Rommel, HerrWallmann, Herr Fink, Herr Blüm, Herr Haussmann— alles Vertreter Ihrer Koalition — haben von solchen Steuererhöhungen gesprochen.
— Es war der Herr Haussmann, der von einer Mehrwertsteuererhöhung um zwei Punkte gesprochen hat; selbstverständlich, Herr Lambsdorff.
Das wollen Sie nicht gern hören, weil Sie verstecken wollen, das Sie, wenn Sie nach der Wahl die Unternehmenssteuern um 25 Milliarden DM senken, dafür die kleinen Leute und die Masse der Verbraucher über die Mehrwertsteuer zur Kasse bitten wollen.
Aber ich sage den Menschen: Lassen Sie sich nicht verschaukeln! Diese Mehrwertsteueranhebung wäre dann nicht für die deutsche Einheit; sie wäre dafür da, um reichen Leuten die Steuern zu senken. Und das wird es mit uns nicht geben.
Das Wort hat der Abgeordnete Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Matthäus-Maier, eigentlich kann man Ihnen zu Teilen Ihrer Rede durchaus gratulieren, weil sie immerhin von Einsichten zeugen,
die jedenfalls nicht bei allen Ihren Kollegen vorhanden sind.
Aber Sie sind dann in ein Sammelsurium von Scheinargumenten und unseriösen Vorwürfen zurückgefallen.
Um gleich den letzten Vorwurf aufzugreifen: die Sache mit der Steuererhöhung. Warum fragen Sie eigentlich nicht nach den kompetenten Leuten und nach deren Äußerungen, nach denen des Bundesfinanzministers, des Herrn Bundeskanzlers,
— auch des Herrn Haussmann, der ja in einem ganz anderen Zusammenhang von der Mehrwertsteuer gesprochen hat?
Warum also halten Sie sich nicht an die Leute und deren Äußerungen, die verbindlich für dieses Sachgebiet sprechen? Warum zitieren Sie immer irgendwelche Stimmen, die da keine Kompetenz vorzuweisen haben?
Ich bin auch der Meinung, daß Ihre Behauptung, die Bundesbank werde diesen Kurs nicht mittragen, natürlich nicht stimmt. Aber möglicherweise lesen Sie andere Zeitungen als ich. Ich jedenfalls habe erst gestern wieder beispielsweise die letzte Äußerung von Herrn Pöhl gelesen,
wonach er — im Grunde genommen ohne Wenn und Aber — zu diesem Kurs der Bundesregierung steht.Das Gerede von der Nicht-Information, Herr Dr. Vogel, das im Grunde genommen, wenn man die Wahrheit und die Realität kennt, eher ein bißchen peinlich als wahr ist,
müßte jetzt eigentlich beendet sein, da ja ein Ausschuß mit der Bezeichnung „Deutsche Einheit" geschaffen wird, der sich mit der Materie ausführlich befassen kann.
Im übrigen: Sie haben immer angekündigt, der Haushaltsausschuß könne sich nur eine halbe Stunde mit der Materie befassen. Herr Staatssekretär Köhler und auch andere haben mehr als drei Stunden zur Verfügung gestanden. Aber das wird hier dann nicht mehr erwähnt, sondern es bleibt der alte, unwahre Vorwurf einfach in der Öffentlichkeit stehen.Was die Spekulanten angeht, die Sie hier angesprochen haben: Natürlich ist jeder gegen spekulative Gewinne. Aber wenn Sie sich die Realität ansehen, Frau Matthäus-Maier, dann stellen Sie fest, daß diese Leute ihre Gewinne am Geldmarkt, bei der Bank längst haben realisieren können. Die haben ihre Gelder im Verhältnis von 1: 10 eingetauscht und können sie jetzt bei jeder Bank zum Kurs von 1 : 4,5 umtauschen. Das heißt also, sie haben den Reibach längst gemacht, sie brauchen dabei gar nicht auf die staatliche Festlegung zu warten.Noch eines: Sie werfen uns hier vor oder halten der Bundesregierung vor, sie habe die Kosten der Einheit nicht beziffert. Nun, sie wissen doch genausogut wie
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Lintnerwir — im übrigen könnte Ihnen ein Anruf bei Ihren SPD-Kollegen in Ost-Berlin die nötige Information verschaffen — : Es gibt Dinge, die im Moment nicht bezifferbar sind, weil die notwendigen Zahlen, auch in der DDR, noch gar nicht verfügbar sind,
weil noch nicht einmal die drüben wissen, wie ihre Bilanz tatsächlich aussieht. Wieso könnte also die Bundesregierung in der Lage sein, im Moment eine seriöse Antwort auf diese Frage zu geben?
Im übrigen kann ich Sie beruhigen: Es bleibt trotz der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit genügend Zeit, um all die positiven Anregungen aufzugreifen, die in Ihrer Rede ja durchaus vorhanden waren.Unsinnig, meine Damen und Herren, finde ich den Vorwurf, daß wir uns etwa bei der Rentenkasse bedienen würden. Denn es kann doch wohl nicht sinnvoll sein, daß der Bund womöglich teures Geld am Kapitalmarkt aufnimmt, während andererseits öffentliche Kassen Festgelder anlegen und dafür wiederum hohe Zinsen kassieren.
Das heißt also, es ist durchaus sinnvoll, wenn die öffentlichen Kassen hier herangezogen werden.
Entscheidend ist doch, daß der Bund dann zur Verfügung steht, wenn das Geld wieder benötigt wird.
Nun, meine Damen und Herren, der Bundeskanzler, der Bundesfinanzminister und die ganze Bundesregierung haben, glaube ich, durch ihren Beschluß bewiesen, daß sie in der Lage sind, entschlossen, rasch und auch sachgerecht zu handeln, wenn es darum geht, den deutschen Einheitsprozeß zielstrebig vorwärtszubringen. Das schafft Vertrauen. Das war nötig; denn die Hängepartie in Sachen Währungsumstellung in den letzten Wochen hat an den Nerven der Bevölkerung hier und auch in der DDR zunehmend gezehrt. Die Ungewißheit mußte zwingend beendet und eine für alle kalkulierbare Basis mußte geschaffen werden; das ist geschehen. Und es dient sicher auch dem Umgang miteinander, daß es sich bei dem Beschluß des Bundeskabinetts um ein ehrliches, d. h., nicht um ein durch Verhandlungstaktik bestimmtes Angebot handelt. Im Klartext bedeutet dies aber in der Konsequenz natürlich auch: Die Eckdaten sind nicht veränderbar; das sollte vom Verhandlungspartner in der DDR realistisch gesehen werden.Die Bundesregierung war aber — und darauf möchte ich mich konzentrieren — auch gut beraten, bei ihren Vorschlägen auf Erwartungen und Empfindlichkeiten der Bevölkerung hier in der Bundesrepublik Rücksicht zu nehmen. Meine Damen und Herren, dieser Aspekt ist außerordentlich wichtig; denn alle deutschlandpolitischen Maßnahmen — jetzt und in der Zukunft — müssen ja nicht nur von der Bevölkerung in der DDR akzeptiert werden, sondern vor allem auch hier im Lande mehrheitsfähig bleiben. Ohne diese Akzeptanz bei unserer Bevölkerung läßt sich der Einigungsprozeß nicht durchstehen. Das ist ein Aspekt, der mir in der DDR selbst zu wenig gesehen zu werden scheint. Dabei will ich anerkennen, daß gerade Ministerpräsident de Maizière selbst das mittlerweile realistisch einzuschätzen scheint. Das heißt, das Fingerspitzengefühl, das von der Bundesregierung verlangt wird, ist nicht nur hier im Land verlangt, sondern gilt genauso als Forderung an die Partner in der DDR.Dabei gibt es dann in der DDR auch noch Phänomene, die nicht einfach hingenommen werden können und zu denen man deshalb auch öffentlich kritisch Stellung nehmen muß. In erster Linie gilt das für die Haltung der früheren SED und jetzigen PDS, auch des FDGB und ähnlicher Organisationen in der DDR. Ich halte es für schlechterdings unzumutbar, wenn die PDS etwa im „Neuen Deutschland" schreiben läßt, daß in der Bevölkerung der DDR ein Aufschrei wegen der 4 000-Mark-Limitierung des Umtauschs bei Sparguthaben zu registrieren sei. Nicht nur die PDS- und SED-Funktionäre selbst, sondern auch Staatsfunktionäre sonstiger Art haben sich in der Vergangenheit in der DDR schamlos zu Lasten der Bevölkerung bereichert,
und die PDS will nun den Deutschen in beiden Staaten zumuten, diese Bereicherung auch noch mit 1 : 1 zu vergolden.
Das können wir nicht mitmachen! Diese Art von schamloser Heuchelei ist perfide. Mit dem Präsidenten des Industrie- und Handelstages, Herrn Stiehl, möchte ich erklären, daß ein Umtausch von 2 : 1 bei den hohen Sparvermögen solcher Leute während der Verhandlungen noch einmal überdacht werden sollte; da sind wir uns einig. Dabei geht es eben nicht um die Spargroschen der Arbeitnehmer oder der Rentner oder der hochbesteuerten Selbständigen, sondern um die unverdienten Vermögen von Staatsfunktionären. Wir müssen um des inneren Friedens Willen vermeiden, daß aus den Unterdrückern von gestern die Neureichen der ersten gesamtdeutschen Republik werden,
und dazu müssen die Verhandlungen führen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, kann beispielsweise den selbständigen Handwerkern und den wenigen privaten Firmen, die jetzt Kapital zum Investieren brauchen, eine staatliche Förderung auf andere Weise zuteil werden. Modelle dafür gibt es in den Mittelstandsförderungsprogrammen des Bundes und der Länder in der Bundesrepublik Deutschland in Hülle und Fülle.
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16420 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. April 1990
LintnerAuch eine Diktion, die ich in der „Berliner Zeitung" gelesen habe, es dürfe nicht eine Entwertung des jahrelangen Sparmühens in der DDR zugelassen werden, ist, gelinde gesagt, irreführend. Die Entwertung der Währung, der Spargroschen in der DDR, hat durch die Mißwirtschaft des früheren Regimes lange vor der Währungsunion stattgefunden. Die Entwertung wird sozusagen jetzt erst sichtbar gemacht und aufgedeckt. Heute ist die Ost-Mark für den Bürger in der DDR praktisch bereits ein Vielfaches dessen wert, was sie beispielsweise noch im Herbst letzten Jahres wert war. Damals waren Bankkurse für die Ost-Mark von 1: 10 und schlechter auf dem freien Markt keine Seltenheit. Mittlerweile nähert sich der Kurs dem Verhältnis 1 :4.Auch die Formulierung eines führenden DDR-Politikers, die DDR gebe nun bewußt ein Stück Souveränität auf, aber zugunsten der Bundesbank, nicht der Bundesregierung, muß zurechtgerückt werden. Tatsache ist nämlich, daß es zur unverrückbaren Geschäftsgrundlage der gesamten Währungsunion gehört, daß die DDR-Regierung nicht einseitig neue Belastungen für die Bundesrepublik Deutschland schaffen darf. Das bedeutet eben nicht nur, daß die Bundesbank das finanz-, wirtschafts- und sozialpolitische Verhalten der DDR zu bewerten hat; vielmehr muß auch die Bundesregierung von Anfang an ein entscheidendes Wort mitreden können.Ich hege, auch aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen im Kommunalwahlkampf in der DDR, eigentlich keinen Zweifel daran, daß für alle diese Maßnahmen und Bedingungen bei der großen Mehrheit der Bevölkerung in der DDR viel Verständnis vorhanden ist. Auch bei uns haben wir ja einen Beleg dafür, denn trotz der heftigen Diskussion der Risiken der Währungsunion sind nach einer Umfrage des ZDF-Politbarometers 81 % der Bundesbürger unverändert für die Wiedervereinigung und 91 % der DDR-Bürger für die D-Mark als Währung in der DDR. Meine Damen und Herren, ich meine, das sind Umfrageergebnisse, die beiden Teilen unseres Volkes ein gutes Zeugnis im Hinblick auf die politische Mündigkeit und das Verantwortungsbewußtsein ausstellen.Es gibt im übrigen aber natürlich auch in der DDR Realitäten, die das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen in beiden Teilen Deutschlands kraß verletzen. Dazu zähle ich beispielsweise die unglaublichen Rentenprivilegien, die sich SED-Kader und andere mit Hilfe sogenannter Sonderversorgungssysteme zugeschanzt haben.
Nach Zeitungsmeldungen handelt es sich dabei immerhin um etwa 900 000 Personen. Darunter finden sich Fälle, in denen die Rente höher ist als der letzte Bruttolohn.
: Und das war die angeblich klassenlose Gesellschaft!)
Hier besteht, meine ich, ein dringender Handlungsbedarf der Volkskammer, denn wir sind gebrannte Kinder im Zusammenhang mit anderen Dingen. Ein einziger Fall exemplarischer Ungerechtigkeit ist geeignet, mehr politisches Porzellan zu zerschlagen, als unser gemeinsames großes Anliegen verträgt.Meine Damen und Herren, man muß sich auch große Mühe geben mit dem Sortieren der deutschlandpolitischen Stellungnahmen der SPD. Dazu haben ja der Kollege Bohl und der Herr Kollege Lambsdorff bereits einiges gesagt. Was da an Einerseits und Andererseits geliefert wird, kann nicht mehr unter einen logischen Hut gebracht werden.Herr Kollege Dreßler, weil ich Sie gerade sehe: Sie haben gestern, glaube ich, die Bundesregierung gerügt und erklärt, das Zögern sei nicht nötig gewesen. Die SPD-Fraktion insgesamt hat etwa zur gleichen Zeit eine Presseerklärung herausgegeben, in der sie vor ultimativen Zeitvorgaben gewarnt hat. Den einen bei Ihnen geht es also zu langsam, den anderen zu schnell. Ich glaube, die SPD wäre in der Tat gut beraten, zunächst einmal Ordnung in ihre eigenen deutschlandpolitischen Vorstellungen zu bringen, um uns dann zu helfen, daß die schwierigen Dinge, die da auf uns zukommen, gemeinsam bewältigt werden können. Wir haben gar nichts dagegen, wenn Sie dabei ein kritischer, aber konstruktiver Begleiter sind.Ich danke Ihnen.
Bevor ich dem Abgeordneten Häfner das Wort gebe, erteile ich dem Abgeordneten Pfeffermann im Zusammenhang mit der Rede der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer einen Ordnungsruf.
Herr Abgeordneter Häfner, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nicht Parteien, nicht Regierungen waren es, die die demokratische Revolution in der DDR und in den Ländern Mittel- und Osteuropas erkämpft haben. Es waren der Mut und die Kraft der Menschen, der einzelnen, der Basisinitiativen, der Bürgerbewegungen, des Volkes selbst, die das alte Denken, den vormundschaftlichen Staat und die totalitäre Herrschaft in die Knie gezwungen haben. Eine Revolution von unten hat das geschafft, nicht Politiker, nicht Beamte und nicht Juristen — das sage ich gerade als Rechtspolitiker auch mit einer gewissen Beschämung —, die gerade am allerwenigsten.Doch die Menschen haben diesen vormundschaftlichen Staat bestimmt nicht abgeschafft, um einen neuen Vormund zu erhalten. Schon im Wahlkampf erlebte die DDR eine ziemlich unerträgliche Invasion westdeutscher Parteien, verbunden mit all dem, was die Bürger bei den Wahlkämpfen hier ebenfalls nur noch mit Widerwillen über sich ergehen lassen. Das alles aber war noch nichts im Verhältnis zu dem, was jetzt passiert.Da bekommt die neu gewählte Volkskammer der DDR, noch bevor sie überhaupt richtig arbeiten kann, von der Bundesregierung bereits ihre Kapitulationsurkunde aufgedrückt. Geht es nach der Bundesregierung, kommt den Parlamenten in beiden deutschen Staaten überhaupt nur noch eine Statistenrolle zu. Der Kanzler — barock auch hier — betrachtet Parlamentarismus und Demokratie offenbar als eine zu ver-
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Häfnernachlässigende Größe, als eine Einrichtung, mit der man nach Belieben umspringen kann.
Monatelang hat die Bundesregierung das Parlament nicht oder — wie heute — absolut ungenügend informiert und ihre Politik gänzlich an der Volksvertretung vorbei betrieben. Dabei geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern es geht um die wichtigsten und tiefgreifensten Weichenstellungen in der Geschichte unseres Landes.Es ist nicht nur eine Frage der Selbstachtung, sondern auf seines eigenen demokratischen Auftrags und seiner Verantwortung vor den Betroffenen, vor den Wählerinnen und Wählern, daß sich das Parlament eine solche Behandlung nicht gefallen läßt. Denn es ist im demokratischen Staat nicht Zuschauer, nicht Claqueur, nicht nachgeschaltetes Notariat der Regierung, sondern es ist — oder sollte sein — die erste Gewalt im Staat. Das Parlament wird deshalb diesen Staatsvertrag sehr gründlich und mit ausreichender Zeit in seinen Fachausschüssen — und nicht nur in dem in Rede stehenden Vereinigungsausschuß! — beraten.Zu diesem Staatsvertrag darf man, so wie er vorliegt, nicht ja sagen. Es ist ein Knebelungsvertrag nach dem Motto: „Friß, Vogel, oder stirb! "
bzw. nach dem Leitsatz: „Wer zahlt, schafft an."Hier haben die Päpste des Wirtschaftsliberalismus am grauen Tisch ein Schlaraffenland der Wirtschaftsfreiheit aufgestellt, in dem Menschen, Umwelt, Demokratie und soziale Belange praktisch nichts mehr zu melden haben. Der Staatsvertrag liest sich wie ein Wunschzettel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie: Aussperrungen sind fast grenzenlos zulässig, Streiks aber kann es auf absehbare Zeit nicht geben, einfach weil es den Bestimmungen des Staatsvertrages genügende Gewerkschaften nicht gibt.Die Leitsätze II, 6 und 7, die laut Art. 4 Abs. 1 des Vertrages unmittelbar und einseitig die Organe der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung in der DDR binden, erlauben dieser keinerlei Einschränkung des Erwerbs von Grund und Boden, noch nicht einmal zu Naturschutzzwecken. Übrigens ist das Naturschutzgesetz selbst unter den lieblos im Anhang aufgeführten Umweltbestimmungen die unter „ferner liefen" vielleicht am Sankt-NimmerleinsTag verwirklicht werden könnten, nicht einmal erwähnt.Art. 7 erlaubt im Grundstücksverkehr als einziges Ziel die Förderung der Wirtschaftsinvestitionen und fordert keinerlei Abwägung mit ökologischen und sozialen Zielen. Autohaus statt Streuwiese also. Man kann Daimler Benz und der Hoechst AG bei solchen Gesetzen nur empfehlen, ihre Teststrecken oder ihre Freilandversuche in die DDR zu verlagern. Dort nämlich herrscht, geht es nach der Bundesregierung, bald Goldgräberstimmung.Dieser Staatsvertrag steht nach Art. 30, also der Schlußbestimmung, über Recht und Gesetz, ja sogar über der Verfassung der DDR. Das ist die Ersetzung der Politik durch Diktate. So, lieber Herr Bundeskanzler, meine sehr verehrten Damen und Herren, entwickelt man keine Demokratie. Deshalb macht das Wort von der „Kohlonie" DDR, immer öfter mit einem „h" vor dem „1" geschriebenen, zu Recht in der DDR die Runde.Ich habe keine Angst vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Welch ungeheure Chancen könnten in einem freiheitlichen und demokratischen Prozeß der Neukonstitution eines Landes liegen, in dem dann Freiheit für alle gilt und kein Mensch mehr überwacht und bespitzelt wird, eines Landes, das sich seiner schon lange obsolet gewordenen Waffen entledigt und sich statt dessen auf seine weltweite Verantwortung für eine gerechte Wirtschaftsordnung und die Linderung von Hunger und Armut besinnt, eines Landes, das im Einklang mit seiner Mit-, Um- und Nachwelt und mit allen seinen Nachbarn lebt und das endlich Ernst macht mit einer lebendigen Demokratie und der unmittelbaren Beteiligung der Menschen an politischen Sachentscheidungen! Doch diese historische Aufgabe, die sich für die Natur und für die Menschen hier und in der Dritten Welt bald schon als eine Lebensnotwendigkeit erweisen wird, wird uns nicht gelingen, nicht mit dieser Regierung und nicht mit diesem Parlament.Was wir brauchen, ist keine Vereinigung von oben, sondern eine Vereinigung von unten, die von den Menschen selbst gestaltet und gesteuert werden kann. Wir brauchen deshalb eine Volksabstimmung zur Einheit, wir brauchen eine neue Verfassung, und wir brauchen — auch dies sei hier gesagt — keine Verschiebung der Bundestagswahl — so etwas wäre verfassungswidrig — , wir brauchen Zeit, um lieber gut und demokratisch als schlecht, per Diktat und im Widerspruch zu unserer Verfassung zu handeln. Alles andere wird sich rächen.Lassen Sie mich noch eines zum Abschluß sagen. Sollten Bundestag und Volkskammer am 17. Juni zusammenkommen, so kann dort nach unserer Auffassung nur ein einziger Punkt gemeinsam befaßt und beschlossen werden — damit stehen wir im Wort, und da müssen wir die Schuld unseres Kanzlers abtragen —,
nämlich die endgültige und jede Zweideutigkeit auslassende Garantie der polnischen Westgrenze.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Holzschnittartig muß ich Stellung nehmen, denn fünf Minuten sind wenig Zeit. Das, was Sie hier gesagt haben, Herr Kollege Häfner — Kapitulationsurkunde, Knebelungs-
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Mischnickvertrag — , ist so unqualifiziert, daß es keinen Sinn hat, sich darüber auseinanderzusetzen.
Dazu, daß die Diskussion über die Verrechnung 1: 2 verunsichert hat, darf ich feststellen, daß der Bundeskanzler dazu über Wochen nichts gesagt hat, daß andere die Diskussion geführt haben.
Zum Stichtag: Ich bin für die Festlegung eines Stichtages möglichst im September des vergangenen Jahres, damit die Gesamtentwicklung, Prag, Budapest, nicht dazu führt, daß ungerechtfertigte Bereicherungen drüben stattfinden können. Das alles müssen wir mit der DDR absprechen.Zur Mißbrauchsklausel teile ich selbstverständlich Ihre Meinung, daß das von der DDR formuliert werden muß. Da können wir nichts vorgeben.Eine Umwandlung der Betriebe in der DDR ist notwendig, ein Strukturwandel ist erforderlich. Deshalb ist eine entsprechende Umschulung vorrangig vor Zahlung von Arbeitslosengeld. Absolut einverstanden.Sie sehen, wir haben eine ganze Menge Dinge, die sehr miteinander übereinstimmen.Zu einem weiteren Punkt will ich nur feststellen: Wir wollen keine Steuern erhöhen, wir werden keine Steuern erhöhen, auch nicht die Mehrwertsteuer. Wenn Sie von der Opposition immer davon sprechen, muß man langsam auf den Verdacht kommen, daß Sie es selber wollen. Aber ich gehe davon aus, daß auch Sie es nicht wollen. Wir wollen sie nicht haben.Es ist mit Recht gesagt worden: Übersiedler sind teurer, als wenn man direkt handelt. Was ist die Quintessenz daraus? Alle Verunsicherung, die auf Verzögerungen hinausläuft, erhöht die Übersiedlerzahl. Alles, was auf Tempo drückt, hält sie niedriger. Deshalb komme ich zu dem Ergebnis:Erstens. Gesamtdeutsche Wahlen müssen so schnell wie möglich stattfinden.
Zweitens. Voraussetzung dafür ist, daß die DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland erklärt. Ich bin überzeugt, das wird relativ schnell geschehen.Drittens. Wenn dies schnell geschieht, müssen wir hier eine entsprechend schnelle Reaktion haben. Deshalb ist für mich das Günstigste, wenn die Bundestagswahl eine gesamtdeutsche Wahl wird, um zu vermeiden, daß das, was an Vertrauen bisher drüben investiert worden ist, nicht verschwindet, daß das Mißtrauen wieder größer wird und daß man Sorge hat, die Entwicklung wäre doch nicht unumkehrbar. Deshalb muß versucht werden, hier so schnell wie möglich zu handeln.
International muß das alles abgesichert sein. Es ist spürbar, daß man international eine schnelle Lösung durchaus für sinnvoll hält, nicht zuletzt deshalb, weil man weiß, daß man sich, je schneller die Lösung kommt, wieder den gemeinsamen europäischen Problemen zuwenden kann; denn ein kurzer Zeitraum zwischen einer gesamtdeutschen Wahl und dem 1. Januar 1993, dem Stichtag des Gemeinsamen Marktes, wäre schlecht, ein längerer Zeitraum ließe die Übergangsfristen auch für die DDR leichter werden. Deshalb auch im Interesse der europäischen Zusammenarbeit so schnell wie möglich gesamtdeutsche Wahlen! Das alles bedingt natürlich eine Entscheidung der DDR, das ist selbstverständlich. Daß aber auch wir darauf vorbereitet sein müssen, in diesem Tempo mitzugehen, halte ich für notwendig. Ich wehre mich gegen alle Überlegungen, die eine solche schnelle Lösung erschweren, weil sie in Wahrheit die Dinge nicht nur teurer machen, nicht nur politisch schwerer machen, sondern auch im Gegensatz zum Willen der Menschen stehen, die wir am 9. November nach der Entscheidung in der DDR so herzlich begrüßt haben. Die Menschen wollen die schnelle Einheit, die schnelle gesamtdeutsche Wahl. Tun wir alles, damit das auch eintritt!
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem waren wir uns in diesem Hause am 9. November alle einig: daß den Menschen in der DDR unser ganzer Respekt gilt. Was aus dieser Einigkeit über den Respekt vor den Menschen jetzt geworden ist, wo der Zug zur Einheit rollt, ist es wert, ein wenig hinterfragt zu werden.Ministerpräsident de Maizière hat wohl zu recht darauf hingeweisen, daß die Menschen in der DDR etwas einzubringen haben in das gemeinsame Deutschland.
Aber er hatte auch Anlaß, auf diese Tatsache hinzuweisen; denn überdeutlich waren die Versuche von bundesdeutscher Seite, überheblich zu bevormunden.Wir sind uns doch, zumindest den verbalen Bekundungen nach, einig: Wirtschaftliche und finanzielle Macht darf nicht zu politischer Macht umgemünzt, ja mißbraucht werden. Das ist das Wesen sozialer Demokratie. Gilt dies etwa nicht für unser Verhältnis gegenüber der DDR und ihren Bürgern?In vielen Maßnahmen der Bundesregierung gegenüber der DDR erkenne ich die Anwendung der Prinzipien einer Politik des goldenen Zügels. Entspricht das dem Respekt vor den Menschen in der DDR, oder ist der Respekt des November 1989 hier nicht der Respektlosigkeit des April 1990 gewichen?Wir sind doch stolz darauf, daß die Deutschen in der DDR ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrgenommen haben. Sollen sie das etwa jetzt bei der Bundesregierung abliefern? Weder der Deutsche Bundestag noch die Bundesregierung haben ein Mandat, für die Menschen in der DDR zu sprechen und zu handeln. Der Ministerpräsident der DDR heißt nicht mehr Stoph oder Modrow, er hat ein demokratisches Man-
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Dreßlerdat. Die Volkskammer spricht jetzt wirklich für die DDR. Es ist mehr als notwendig, die Bundesregierung eindringlich zu ermahnen, daß sie sich daran hält.CDU und CSU haben der DDR-Bevölkerung suggeriert, sie brauche nur die Allianz zu wählen; dann seien alle Probleme gelöst; dann könne jeder so leben, wie es im Werbefernsehen von ARD und ZDF zu sehen ist. Nur stürmische Proteste im Osten wie im Westen haben die Bundesregierung daran gehindert, einen Wahlbetrug zu begehen und den Menschen in der DDR die in Aussicht gestellte Währungsumstellung von 1 : 1 zu verweigern.Ich denke, hier wird ein gefährliches Spiel gespielt. Der CDU/CSU muß doch klar sein, daß mit dieser Politik in der DDR genau jener Partei in die Hände gespielt wird, die Verursacherin der dortigen Misere ist, der SED-Nachfolgeorganisation PDS.
Daß Sie ausgerechnet dieser Organisation die Möglichkeit bieten, sich in der Maske des Biedermannes zu präsentieren und die Chance zu dem Argument zu liefern: Wir haben doch immer gesagt, daß die euch das Fell über die Ohren ziehen, ist für mich besonders bedrückend.Nach Schätzungen aus dem Arbeitsministerium Bonn beträgt der durchschnittliche Bruttolohn in der DDR im Jahre 1990 1 142 Mark. Das ergibt Netto — ebenfalls nach Schätzungen des Ministeriums —962 Mark. Es muß aber berücksichtigt werden: Durch den Abbau von Subventionen für Lebensmittel, Wohnungen etc. entsteht ein Realeinkommensverlust von mindestens 150 Mark im Monat.
Die Regierung will ferner, daß die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer von zur Zeit 10 % auf 17,9 % erhöht werden. Der durchschnittliche Nettolohn nach der Währungsunion beträgt also 720 DM und nicht mehr 960 DDR-Mark. Der Reallohn wird um ein glattes Viertel gekürzt. Das wahre Umtauschverhältnis für Arbeitnehmer, so wie es dem Entwurf des Staatsvertrages zugrunde liegt, beträgt demnach i : 1,33 oder — klarer ausgedrückt — etwa 3 : 4.Wissen Sie eigentlich, wie es dann für die Rentner aussieht? Weder ein Ausgleich für die bisherigen Subventionen noch eine angemessene Fortführung der dort bestehenden und bewährten Mindestrenten ist vorgesehen. Was die Bundesregierung hier vorhat, wird das Thema Altersarmut in der DDR auf die Tagesordnung setzen.
Ein einfaches Zahlenbeispiel illustriert das Manöver, das die Bundesregierung mit den Rentnern in der DDR vorhat. Ein Durchschnittsverdiener mit 45 Versicherungsjahren, der 1990 Rentner wird, erhält heute 480 Mark Rente und, wenn entsprechende freiwillige Beiträge gezahlt wurden, 120 Mark Zusatzrente, zusammen also 600 Mark. Nach der Systemumstellung, wie sie die Bundesregierung will, bekommt er 70 % des durchschnittlichen Nettolohnes. Das wären rund 670 DM. Gleichzeitig jedoch sollen die Subventionen für den täglichen Grundbedarf ohne Ausgleich wegfallen.
Das macht pro Kopf 150 bis 200 DM Realeinkommensverlust aus. Der Rentner, der vorher 600 Mark erhielt, bekommt dann wirklich nur noch rund 470 bis 520 DM. Sozialunion à la Kohl heißt also für die Rentner nach Entwurfstext: Realeinkommenskürzung um 20%.Was die DDR-Rentenregelung für die Bundesrepublik bedeuten wird, hat die Bundesregierung bis heute morgen verschwiegen. Sie weigert sich, die Kosten zu nennen, vor allem aber, wer dafür geradestehen soll. Es fehlt die klare Aussage, daß die Stützung der Rentenversicherung der DDR nicht Sache der Beitragszahler der Bundesrepublik, sondern des Bundeshaushalts ist.
In diesem Zusammenhang will ich für die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich die unmißverständliche Stellungnahme des FDP-Vorsitzenden Graf Lambsdorff von heute morgen begrüßen,
weise aber darauf hin, Herr Kollege Vogel, daß ausgerechnet Ihr Fraktionskollege Lintner hier just vor wenigen Minuten für die CDU/CSU freimütig zugegeben hat, daß sie beabsichtigt, in die Rentenkasse zu greifen.
Es wird also noch ein hartes Stück Arbeit sein, mit der FDP und der SPD zusammen Herrn Waigel und die CDU/CSU an diesem Griff in die Rentenkasse und damit in die Taschen der Beitragszahler zu hindern.
Natürlich hat das Schweigen Gründe gehabt. Es ist ja mittlerweile in vielen Gazetten zu lesen gewesen, womit wir da rechnen müssen. Wenn das so liefe, käme — Herr Lintner, das sage ich Ihnen — zum Betrug an den DDR-Rentnern in dem von mir aufgezeigten Zusammenhang der Rentenbetrug in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 hinzu.
Wer den gesundheitspolitischen Teil Ihres Arbeitspapiers zu einem Staatsvertrag prüft, stößt auf Erstaunliches. Das Motto möchte ich so überschreiben: Bevormundung, präjudizieren, überstülpen. Statt in diesen Tagen, in dieser Stunde einmal innezuhalten und zusammen mit den Verantwortlichen in der DDR zu überlegen, wie wir zu einem vernünftigen gemeinsamen Ganzen im Gesundheitswesen kommen können, wollen Sie unser System einfach exportieren.
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DreßlerNatürlich verkenne ich nicht den Druck, den die unübersichtliche und interessenverfilzte Verb ands-landschaft des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik auf die Politik ausübt, wenn es um die Neugestaltung des Gesundheitswesens in der DDR geht. Da trappeln schon viele mit den Hufen, es herrscht so etwas wie Goldgräberstimmung; jeder war schon da, und jeder hat seine Claims abgesteckt.
Aber diesem Druck gilt es zu widerstehen, und zwar — wenn das vernünftig liefe — gemeinsam. Es ist nämlich nicht Klientelpolitik gefordert, sondern die zügige Erarbeitung und Umsetzung eines in sich geschlossenen Gesamtkonzeptes, das die Menschen überzeugt und das die sich bietende Chance nutzt, beim Aufbau eines gemeinsamen gesamtdeutschen Gesundheitswesens die Fehler und Mängel unseres Systems zu überwinden.
Ich habe nicht den Eindruck, daß die Bundesregierung mit ihrem Arbeitspapier dem Druck der Verbände standhält. Im Gegenteil, sie hat dort textlich bereits nachgegeben. Sie ist insoweit drauf und dran, den politischen Verstand in dieser Frage an der Garderob e von Interessenverbänden abzugeben.Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Vereinbarung der Partner der DDR-Regierungskoalition. Hier ist der vernünftige Weg vorgezeichnet. Es ist richtig, beim Aufbau einer Krankenversicherungsorganisation in der DDR mit einem Krankenversicherungsträger in jeder Region zu beginnen, und zwar mit einem Träger, der kassenneutral ist. Mit einer solchen Regelung würde nichts präjudiziert oder vorweggenommen. Sie schafft aber Zeit und Raum für Überlegungen. Sie vertagt die Entscheidung darüber, ob in der DDR das sogenannte gegliederte System bundesdeutscher Art übernommen werden soll, auf jenen Zeitpunkt, an dem sie sinnvollerweise ohnehin erst getroffen werden kann, nämlich wenn ein Grundgerüst der Krankenversicherung steht und die entsprechende Betreuung für die Menschen erst einmal sichergestellt ist.Warum gehen Sie diesen vernünftigen Weg nicht? Frühere Entwurfsfassungen zum Staatsvertrag sahen dies ja vor. Was hat Sie eigentlich dazu veranlaßt, davon abzurücken? Aber vor allem interessiert uns die Frage: Wer steckt dahinter?In früheren Entwurfsfassungen zum Staatsvertrag war auch für die Krankenversicherung in der DDR eine Anschubfinanzierung aus Bundesmitteln vorgesehen, wenn die Beitragseinnahmen die Leistungsausgaben nicht abdecken. Im jetzt präsentierten Entwurf ist die Anschubfinanzierung weggefallen. Auch der Bundesregierung muß doch klar sein: Ohne Anschubfinanzierung ist die Krankenversicherung in der DDR nicht auf die Beine zu stellen. Wenn die Bundesregierung sie verweigert, hat dies für die Menschen in der DDR entweder den Preis einer schlechten Gesundheitsversorgung oder den Preis einer kaum tragbaren Beitragslast. Sie zwingen die DDR also in eine verhängnisvolle, sozial unverantwortbare Alternative. Ich füge hinzu: Sie wollen der DDR einerseits einKrankenversicherungssystem aufzwingen, das sie jetzt und so gar nicht will, und als Belohnung dafür streichen Sie die ihr in Aussicht gestellte Anschubfinanzierung mit der Folge extremer Beitragsbelastungen für die Menschen. Das ist eine politische Provokation.Da wir gerade beim Thema der Provokation sind: Unter dieses Rubrum fallen auch die Vorschläge zur Finanzierung der in der DDR neu aufzubauenden Unfallversicherung. Jeder weiß, daß in der Bundesrepublik die Beiträge zur Unfallversicherung ausschließlich vom Arbeitgeber getragen werden. Wie kommt die Bundesregierung eigentlich dazu, der DDR eine Regelung zuzumuten, nach der sich die Arbeitnehmer zur Hälfte an den Beiträgen zur Unfallversicherung zu beteiligen haben? Krasser als hier kann man die Ungleichbehandlung und Benachteiligung doch kaum zum Ausdruck bringen. Sollte allerdings hinter dieser Ungleichbehandlung die Absicht stecken, über den Umweg DDR auch in der Bundesrepublik die Beteiligung der Arbeitnehmer zur Hälfte an den Beiträgen zur Unfallversicherung herbeizutricksen,
dann sage ich der Bundesregierung: Ich warne Neugierige. Wir würden diesen unanständigen Versuch der Fortsetzung Ihrer Umverteilungspolitik zum Scheitern bringen. Sie haben also noch Zeit, Klarheit zu schaffen.Meine Damen und Herren, die DDR braucht starke Gewerkschaften. Koalitionsfreiheit muß gewährt und Tarifautonomie muß gesichert werden. Die DDR braucht ein Tarifvertrags- und ein Betriebsverfassungsgesetz, aber ein Betriebsverfassungsgesetz mit Zähnen und nicht eines, das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der DDR schutzlos werden läßt, wenn es zum Schlimmsten, nämlich dem Verlust des Arbeitsplatzes, kommt. Die Beschäftigten in der Bundesrepublik haben nicht vergessen, daß Herr Blüm die Bestimmungen für Sozialpläne bei Konkursen und Vergleichen verschlechtert hat. Aber daß Sie jetzt der DDR eine Betriebsverfassung zumuten wollen, in der die Bestimmungen über den Sozialplan ganz gestrichen werden, das nenne ich wirklich ungeheuerlich und inakzeptabel.In der DDR gibt es keine offene Arbeitslosigkeit. Die ersten Erfahrungen der Menschen in der DDR mit Arbeitsämtern dürfen nicht Verwaltung von Arbeitslosigkeit heißen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet mit dem Verlust von 1 Million Arbeitsplätzen. Andere Einschätzungen gehen weit darüber hinaus. Es ist notwendig, mit Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sofort zu beginnen, und zwar noch vor dem angekündigten Stichtag der Währungsunion. Ich erinnere erneut daran: Seit Mitte Dezember letzten Jahres steht das Angebot der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, bei Umschulungsmaßnahmen in der DDR zu helfen. Die Bun-
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Dreßlerdesregierung muß dieses Angebot endlich nutzen. Zuviel wertvolle Zeit ist verloren.
Wenn ich das Papier für den Staatsvertrag abschließend bewerte, so komme ich bei dem Kapitel Sozialunion unabhängig von vielen im Detail richtigen Regelungen zu folgendem Urteil. Es atmet den Geist der Allwissenheit und Unfehlbarkeit. Es dominiert die DDR, wo Partnerschaft gefragt ist. Es ist zumindest vom Text her in der Gefahr, die DDR als Hebel zu mißbrauchen, um die Politik des Sozialabbaus in der Bundesrepublik fortzusetzen.
Daß die DDR-Regierung diesen Entwurf eines Staatsvertrages so nicht akzeptiert, ist wohl verständlich. Dieser Entwurf ist, Herr Blüm, was Ihre Handschrift betrifft, kein guter Anfang für ein einiges Deutschland.
Das Wort hat der Bundesminister Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen doch darin überein: Wir wollen den Sozialstaat Deutschland, und zwar den einen Sozialstaat Deutschland, nicht ein Vorderhaus und ein Hinterhaus. Deshalb bietet das, was wir in die Verhandlungen einbringen, die Voraussetzung, daß dieser Sozialstaat Deutschland einheitlich ist, daß er nach gleichen Prinzipien gebaut ist.
Wenn wir uns zu dieser Sozialgemeinschaft bekennen, muß es einen einheitlichen Sozialstaat geben und nicht unterschiedliche Prinzipien. Deshalb will ich das an den einzelnen Sozialversicherungsinstitutionen deutlich machen.
Rente. Daß die Rente in der DDR nach dem gleichen Muster gebaut wird wie hier, bedeutet für die Rentner in der DDR zwei große Vorteile. Endlich kommt die Rente von der Staatskasse weg und bildet eine eigene Kasse. Damit sind die Rentner weg von den jährlichen Verteilungskämpfen im Haushalt und müssen sich nicht ihr Geld neben Wohnungsbau, Straßenbau oder Bildungspolitik holen. Eine eigenständige Rentenkasse wie bei uns ist ein Stück rentenpolitischer Sicherheit.
Zweiter Vorteil: Daß die Rente an die Löhne angebunden wird, das ist die Perspektive der Besserung. Denn wir gehen doch davon aus, daß der Lebensstandard steigen wird, daß die Löhne steigen. Wenn die Löhne steigen, steigen dann auch die Renten. Die Rentner müssen nicht jedes Jahr zittern, ob für sie noch etwas übrig ist, sondern sie sind an die Löhne angekoppelt. Das ist eine große Sicherheit gegenüber dem jetzigen Zustand in der DDR.
Sie brauchen nicht mehr beim Staat zu betteln, ob er etwas für sie übrig hat, sondern Alt und Jung sitzen in einem Boot.
Jetzt stellen wir 1 : 1 um. Lieber Herr Kollege Dreßler, bereits das ist das größte Angebot, das man für Arbeitnehmer wie für Rentner machen kann. Denn 1 : 1, das ist auch unsere Hilfe. Die D-Mark ist doch eine anständige Währung. Dafür kann man sich etwas kaufen. Insofern sehe ich in der Umstellung 1 : 1 auch eine starke soziale Komponente. Nun zum Rentenniveau selber. Lassen wir dies einmal neben allen fachlichen Aspekten weg. Die Renten in der DDR werden auf das Niveau der Renten bei uns angehoben. Nach 45 Beitragsjahren erreicht man 70 % des vergleichbaren Nettoeinkommens.
Herr Kollege Dreßler, wenn ich das Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen darf: Das geht selbst über die Koalitionsvereinbarung hinaus. Die Koalitionsvereinbarung der Parteien in der DDR hatte die schrittweise Annäherung an das Niveau von 70 % zum Ziel. Ich finde, es ist ein Fortschritt, daß wir nicht mehr ein langes Hin und Her, sondern sofort 70 To anbieten.
— Aber sehen Sie das nicht als einen Fortschritt? Stellen Sie sich einmal vor, wir wären schrittweise vorgegangen. Wir hätten doch pausenlos diskutiert, wann von 60 auf 70 % umgestellt wird usw.
— Bitte, Herr Kollege Dreßler.
Bitte sehr, Herr Dreßler, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Minister Blüm, um der DDR-Regierung nun wirklich gerecht zu werden: Innerhalb der Koalitionsvereinbarungen war der erste Schritt eine Kompensation, also ein Ausgleich, für Subventionen, die abgebaut werden, und Preisreform, und der zweite Schritt die Rentenreform, wie gerade von Ihnen richtigerweise skizziert. Diese Zusammenhänge haben also ein anderes zeitliches Tempo gehabt.
Wenn Sie jetzt der DDR-Regierung anbieten, daß Sie die Preisreform und die Subventionshöhe überhaupt nicht berücksichtigen, dann wird natürlich der Koalitionsvereinbarung dieser elementare Bestandteil weggenommen, und dann können Sie doch nur sofort in einem Zug eine Rentenreform von knapp 50 auf 70 % machen. Würden Sie mir da zustimmen, daß das logisch ist?
Ich finde, daß wir, wenn wir uns darauf einigen — ich sehe auch überhaupt keinen Grund, warum wir uns nicht darauf einigen — , sofort auf 70 % zu gehen, ein großes Unruhemoment aus der weiteren Entwick-
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Bundesminister Dr. Blümlung herausnehmen. Denn ein schrittweises Anheben hätte bedeutet, daß man sozusagen Monat für Monat gefragt hätte: Wann kommt der nächste Schritt?Wir gehen sofort auf 70 % bei einem Umtauschkurs von eins zu eins. Herr Dreßler, ein Kurs von zwei zu eins mit Kaufkraftausgleich wäre mit Sicherheit ungünstiger gewesen
— ich sage es ja nur; ich will ein Modell nennen — , als die Klarheit eines Umtauschkurses von eins zu eins
und dann ebenso die Klarheit von 70 % für die Rentner.
Das versteht jeder.
Jetzt zu den Zahlen, auch für unsere Zuhörer. Wenn das Nettodurchschnittseinkommen der Arbeitnehmer 1 000 DM beträgt — ich nenne jetzt eine runde Zahl —, dann beträgt die Rente bei 70 To nach 45 Jahren 700 DM. Das ist mit der Einführung des Rentensystems eine Rentenerhöhung von etwas über 100 DM, die die Rentner sofort erhalten. Mit der Einführung des Rentensystems wird die Rente also nicht nur im Verhältnis von eins zu eins umgestellt, sondern ein Großteil der Rentner wird eine sofortige Rentenanhebung bekommen.Dem Teil — das werden besonders diejenigen mit wenigen Beitragsjahren sein — , die selbst bei dieser Umstellung ihre jetzige Rentenhöhe nicht erreichen würden, garantieren wir den Besitzstand. Ich denke, daß wir in der Rentenversicherung ein anständiges Angebot bringen; ich finde es wirklich anständig, auch im Sinne der Solidarität, zu der wir verpflichtet sind.Sie brauchen da nicht besondere Brücken zu Graf Lambsdorff zu schlagen. Ich bin mit von der Partie, wenn es darum geht, daß aus der Rentenkasse nicht die deutsche Einheit finanziert werden soll.
— Sie können in Ihrer Begeisterung ruhig noch lauter werden.
Ich bleibe allerdings dabei — auch das will ich sagen — : Ich will, daß keine Mischsysteme der Finanzierung entstehen. Denn solange das Lohngefälle so ist, wie es jetzt ist, können wir keine einheitliche Rentenkasse haben. Aber sie wachsen zusammen. Natürlich kann man dann, wenn die Lohnverhältnisse ausgewogen sind, die Rentenkassen vereinigen. Aber solange eine Sozialgemeinschaft mit unterschiedlichen Löhnen herrscht, brauchen wir auch eine getrennte Rentenkasse.Ich sage deshalb mit großem Nachdruck und geradezu auch mit der Bitte, daß dies an unsere Rentner weitergegeben wird: Kein Rentner und keine Rentnerin hier bei uns braucht zu befürchten, daß nur eine müde Mark ihrer Rente durch die deutsche Einheit gefährdet wird. Das wollen wir einmal festhalten.
Es kann auf beiden Seiten nur besser werden. Ich glaube nämlich, daß an der deutschen Einheit auch große wirtschaftliche Chancen hängen. Da die Rentenversicherung von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig ist, sind für beide Seiten, für beide Teile Deutschlands mit der Perspektive der deutschen Sozialeinheit nur Verbesserungen verbunden.Also halten wir fest: Kein Rentner in der DDR braucht zu befürchten, daß das, was er jetzt ausgezahlt bekommt, absinkt. Die übergroße Mehrheit wird eine sofortige Anhebung ihrer Rente haben und in den Genuß der dann beginnenden Automatik kommen.Nun zur Krankenversicherung. Ich will doch einmal festhalten, daß wir jetzt schon 500 Millionen DM in das Gesundheitssystem der DDR investiert haben, damit es nicht zusammenbricht. Was das System selber anbelangt, bin ich kein Anhänger der Rosinentheorie, wobei jeder seine Lieblingsvorstellungen, die er hier nicht durchgesetzt hat, in der DDR durchzusetzen versucht. So wird eine soziale Einheit nicht funktionieren; jeder hat seine Lieblingskinder. Deshalb bin ich für die Übernahme unseres gesamten Systems einschließlich — Herr Kollege Dreßler, was Sie begrüßen sollten — der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung in der DDR. Wie Sie wissen, gibt es dort nur die versicherungsrechtliche Lösung.
Was die Arbeitslosenversicherung anbelangt, so stimmen wir hoffentlich darin überein — ich brauche nicht „hoffentlich" zu sagen; das halte ich für selbstverständlich — , daß wir alles tun, um Arbeitslosigkeit nicht als Dauermassenschicksal entstehen zu lassen. Ich sehe auch hierbei: A und O sind wirtschaftliche Besserungen, sind neue Arbeitsplätze. Deshalb sind wir alle aufgefordert, bei Investitionen, bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zu helfen.Für diejenigen, die in Arbeitslosigkeit kommen werden, muß ein sozialer Schutz aufgebaut werden. Frau Matthäus-Maier, Sie haben sich offenbar gefragt, wie dieser soziale Schutz bei Arbeitsförderung aussehen soll: gestaltet nach unseren Mustern, also nicht nur Arbeitslosengeld, sondern auch das ganze Programm der Arbeitsförderung, Umschulung und Weiterbildung. Denn auch ich bin der Meinung: Die passive Form, nur Arbeitslosengeld zu zahlen, ist weitaus schlechter, als Umschulung und Fortbildung zu finanzieren. Es kostet fast dasselbe; nur ist das andere sinnvoller. Unser Konzept lautet also: Arbeitsförderung zusammen mit Umschulung und Fortbildung.Ich füge den Appell hinzu, daß Unternehmer, die sich in der DDR niederlassen, aus meiner Sicht nicht nur die Verpflichtung haben, dort Maschinen aufzustellen. Modernisierung kann nicht nur Austausch des Maschinenparks heißen, sondern muß auch Qualifizierung durch den Staat heißen. Hier wie dort gilt, daß Qualifizierung nicht nur eine staatliche Aufgabe, sondern auch eine Aufgabe der Unternehmer ist.
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Bundesminister Dr. BlümWir werden in Übereinstimmung mit unserer Kollegin in der DDR einen Kongreß „Ausbildung, Weiterbildung, Qualifizierung" noch im ersten Halbjahr 1990 durchführen; denn auch ich glaube, daß das ein wichtiges Mittel ist.Zur Unfallversicherung kann ich Sie beruhigen, Herr Kollege Dreßler — vielleicht können wir dieses Mißverständnis am Ende des Vormittags noch ausräumen — : Kein Mensch denkt daran, die Unfallversicherung in der DDR anders als bei uns aufzubauen, also auch nicht daran, andere Beitragsaufkommen vorzusehen. Eine entsprechende Passage zählt alle Sozialversicherungseinrichtungen auf und sagt, daß sie grundsätzlich aus den Beiträgen finanziert wird. Das „grundsätzlich" schließt ein, daß auch die Unfallversicherung nach den gleichen Mustern wie bei uns finanziert wird. Das jedenfalls ist unsere Vorstellung, und das muß freilich in die Verhandlungen eingebracht werden.Über die Finanzierungsfrage hinaus ist aus meiner Sicht lebenswichtig — wir müssen ja solidarisch denken —, daß ordentliche Betriebsräte gebildet werden, daß dort eine Betriebsverfassung geschaffen wird. Denn auch ich fürchte, daß der FDGB nicht beanspruchen kann, die Arbeitnehmer zu vertreten; dazu war er viel zu sehr der verlängerte Arm eines sozialistischen Unterdrückungssystems. Aber wir können nicht warten, bis freie Gewerkschaften, die diesen Namen verdienen, aufgebaut sind. Man wird also ordentliche Betriebsräte brauchen, die von den Arbeitnehmern gewählt sind und deren Vertrauen besitzen. Die Betriebsräte kümmern sich in den wichtigen Verhandlungen dort, wo es noch keine Tarifverträge gibt, um die Lohnfindung. — Also eine Betriebsverfassung nach unserem Grundmodell — auch hier vertreten wir keine Rosinentheorie — einschließlich der Montanmitbestimmung.
Natürlich brauchen wir ebenfalls einen ordentlichen Kündigungsschutz. Es ist immer ein Mißverständnis gewesen, wenn jemand glaubte, die Soziale Marktwirtschaft wäre eine Marktwirtschaft ohne sozialen Schutz; sie wäre so etwas wie die kapitalistische Wirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft trägt das Wort „Sozial" nicht nur als schmückendes Beiwort. Deshalb muß auch Kündigungsschutz in der Sozialen Marktwirtschaft enthalten sein.
Sind Sie bereit, Herr Bundesminister, eine Frage von Dr. Briefs zu beantworten?
Bitte sehr.
Danke, Herr Minister. — Herr Minister Blüm, habe ich Sie richtig verstanden, daß in der DDR in Zukunft Betriebsräte Lohn- und Tarifverhandlungen durchführen und Verträge aushandeln können? Wie halten Sie es dann mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung? Heißt das nicht, daß Sie praktisch zwei unterschiedliche Gewerkschaftssysteme und Systeme von Beziehungen zwischen Unternehmern und demokratisch gewählten Vertretungen der Beschäftigten schaffen? Wie stellen Sie sich das Nebeneinander dieser beiden Systeme vor?
Wir wollen ja auch unser Tarif- und Koalitionssystem anbieten, so daß in der Tat die Tarifpartner die Hauptträger der Lohnfindung sind. Nur, die Situation ist doch so, daß derzeit eine flächendeckende, vereinbarungsfähige Sozialpartnerschaft noch gar nicht vorhanden ist. Jetzt kann man die in den Betrieben arbeitenden Arbeitnehmer doch nicht ins Nichts stürzen lassen. Insofern wird für die Übergangszeit die Hauptlast der Lohnfindung im Betrieb zu tragen sein, freilich mit der Perspektive, daß das von der Sozialpartnerschaft, der Tarifpartnerschaft, abgelöst werden kann. Ich meine also nicht ein balkanisiertes Lohnfindungssystem. Aber auch bei uns haben Betriebsräte Rechte bei der Lohnfindung. Nur, solange keine Tarifpartner da sind, werden Sie die Arbeitnehmer in Sachen Lohnfindung nicht schutzlos lassen können. Deshalb stimmen Sie mir sicherlich zu, daß viel von dem, was die Gewerkschaften in normalen Zeiten machen, in der Übergangszeit von den Betriebsräten erledigt werden muß.
Haben Sie Vorstellungen darüber, über welchen Zeitraum sich eine solche Übergangszeit erstrecken soll?
Nein, freie Gewerkschaften werden frei gebildet und nicht vom Staat verordnet. Es ist auch eine Frage an den Deutschen Gewerkschaftsbund, in welchem Maße er dazu beiträgt, daß sich solche Gewerkschaften schnell bilden. Da kann man keinen Termin nennen. Das ist eine Sache der Selbstorganisation der Arbeitnehmerschaft. Gott sei Dank ist das der Unterschied zum FDGB. Sie dürfen ausnahmsweise einmal klatschen!
Ich bin eigentlich am Ende dieser Debatte noch einmal auf dieses Thema gekommen, um in der Tat einen Beitrag gegen Angst hier und dort zu leisten. Ich sehe große Chancen in der deutschen Einheit, auch für unseren Sozialstaat. Es kann für die Bürger der DDR doch nur besser werden, wenn sie jene sozialstaatlichen Prizipien übernehmen, die sich seit über 40 Jahren bei uns bewährt haben. Jetzt wollen wir auch die Mauer im Kopf wegnehmen und an diesem Sozialstaat bauen.Ich will entgegen meiner bisherigen friedlichen Absicht am Schluß doch noch ein Wort sagen, Herr Dreßler, das weniger friedlich ist: Wenn Sie bemängeln, wir hätten es an Respekt gegenüber den Bürgern der DDR fehlen lassen, dann kann ich nur sagen: Sie hätten sich eigentlich einmal an Ihren Neuzugang Schily wenden müssen.
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Bundesminister Dr. Blüm— Ja, ich sage das noch einmal. Aber stimmen Sie mir wenigstens zu, Herr Vogel, daß das repektlos war. Das Volk hat nicht gerufen: Wir wollen Bananen! Es hat gerufen: Wir wollen ein einig Volk sein! Es war der Hunger nach Freiheit.Wenn wir darin übereinstimmen, dann kann ich mit diesem Satz und der Beruhigung sogar noch friedlich schließen, daß wir für unsere Rentner in der DDR mitsorgen, weil wir solidarisch sein wollen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Was Herr Minister Blüm so von sich gegeben hat, damit mag er selig sterben.
— Damit kann er selig sterben, letztlich entscheiden nämlich Wähler und Wählerinnen, was mit dieser CDU wird. Die Bürger und Bürgerinnen in der DDR haben gesagt: Wir wollen die D-Mark! Wir wollen Wohlstand! Das ist auch deren Recht.
In dem, was Graf Lambsdorff vorhin gesagt hat, hat auch er recht: Wir sind in einem Gesamtdeutschland doch wohl in der Lage, ein Land — die DDR — so wie Nordrhein-Westfalen zur Wirtschaftsblüte zu bringen, aber selbstverständlich! Dann aber haben Sie gesagt: Wir haben bewiesen, daß es möglich ist, aus den Trümmern heraus alles ganz schnell wieder aufzubauen usw. Nur, der Großteil der Menschen, der alten Menschen, die das vollbracht haben, haben nun keinen Anteil an diesem Wirtschaftswunder. Das ist der Punkt, wo ich Herrn Minister Blüm eigentlich bedaure, wo ich aber auch wieder sagen muß, Herr Kollege Dreßler: Wunderbar, was Sie hier vorgetragen haben!
Ich bin mit Ihnen voll d'accord. Da brauche ich nicht nachzufassen. Aber daß Sie sich haben verleiten lassen, keine Lobby für die Pflichtversicherten in dieser Bundesrepublik Deutschland zu bleiben und den Rentendeal mit der CDU, der CSU und der FDP zu machen, das ist das große Versagen, ich möchte sagen: das geschichtliche Versagen dieser Sozialdemokraten. Ich weiß von vielen von Ihnen, daß Sie das heute bereuen. Die von der CDU/CSU und der FDP wissen sich daran hochzuranken. Aber Sie haben dann dadurch — letztlich als Mosaikstein — den Verlust in der DDR erlitten.
Eines steht fest: Wir selbstbewußten Alten in der Bundesrepublik Deutschland haben uns genauso wie die selbstbewußten Alten in der DDR zusammengetan. Wir haben uns unter der Organisation Graue Panther oder Die Grauen organisiert. Und Sie werden schon merken: Auch zum Schutz unserer Kinder und Kindeskinder werden wir das eisern beibehalten. Der Wohlstand ist wunderbar, aber die soziale Umverteilung bei uns in eine Zwei-Drittel- und eine Ein-DrittelGesellschaft kann doch wohl nicht alles gewesen sein.
Deshalb sage ich es an dieser Stelle wieder. Sie schwingen Ihre Wahl- oder sonstwelche Reden. Aber wir brauchen ein neues Regulativ, was den Aufbau dieses Gesamtdeutschlands überhaupt angeht. Es darf eben nicht wieder passieren, daß wir in eine Klassengesellschaft mit Berufsbeamtentum, mit hochbezahlten Ministern usw. ausarten, die für Ihre Altersversorgung überhaupt nichts zu bezahlen haben, und die Pflichtversicherten, die ständig bluten müssen, nach 45 Jahren mit einer Rente in Ruhestand gehen müssen, für die wir uns, da wir ja auch nichts zahlen, eigentlich in Grund und Boden schämen müssen.
Sie hätten die große, neue soziale Ordnung bringen können, und vielleicht schaffen wir es ja auch noch. Warum schaffen wir kein Volksversicherungssystem, wo alle einzahlen müssen? Das war der große Ansatz der Sozialdemokraten, der in dieser Bundesrepublik Deutschland ja einmal gelaufen ist. Warum wird das alles nichtachtend besehen?
Warum schaffen wir keine Mindestrente? Die Bürger und Bürgerinnen der DDR hatten sie. Aber Sie lassen 2,5 Millionen alte Menschen in dieser Bundesrepublik Deutschland mit Renten unter 900 DM leben — in einem Land, in dem die Mieten hochgeschossen sind, daß man nur fassungslos davorsteht. Deshalb kann die Rente in der DDR nicht stimmen, wenn übermorgen aus einer Miete von 70 Mark eine Miete von 250 Mark wird. Die Rentner der DDR fordern mit Recht: Der Teuerungsausgleich muß sofort aufgeschlagen werden, damit sich die Menschen dann Essen kaufen können, damit die Menschen ihre Heizung bezahlen können. Das sind doch die ganz primitiven Bedürfnisse eines menschlichen Lebens.
Sie sagen, die Betriebe haben die Nichtsnutze oder die, die sonst eigentlich arbeitslos gewesen wären, bisher mitgeschleppt. Dazu kann ich nur feststellen: Ja, wir schleppen auch ein Berufsbeamtentum mit. Das bitte ich doch auch einmal zu bedenken. Ich habe nichts gegen die kleinen Beamten, aber die mittleren und die hohen und die politischen Beamten sind genau die Parasiten, die wir in diesem Staat nicht ertragen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Stobbe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Prozeß zur Sicherung der Freiheit in der DDR ist noch keineswegs abgeschlossen, und der Aufbau der Rechtsstaatlichkeit in der DDR beginnt gerade erst. Die DDR-Bürger, aber auch wir, stehen vor einer wirklich großen und bedeutenden Aufgabe. Diese Aufgabe, die Freiheit in der DDR dauerhaft zu sichern, ist mit dem Thema, über das wir hier heute reden, untrennbar verknüpft. Denn wir reden, wenn wir den Staatsvertragsentwurf diskutieren, über den Kern der inneren Einheit Deutschlands. Auch das ist für sich selbst genommen schon eine große und schwere Aufgabe. Es ist klar, daß beide Aufgaben in ihrer Verkoppelung Ängste und Sorgen, aber auch Hoffnung hervorrufen.Ich bin jemand, der glaubt, daß wir trotz aller Schwierigkeiten, die wir haben, niemals die Freude vergessen dürfen, welche die Gestaltung der Freiheit und Einheit für die Deutschen prinzipiell bedeutet.
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StobbeDas macht es dennoch notwendig, meine Damen und Herren, sich über die Ängste und Sorgen und den Umgang damit etwas genauer zu verständigen, als das hier heute der Fall war.Herr Seiters hat aus meiner Sicht zu Recht darauf hingewiesen, daß es in Deutschland eine politische Kraft gibt, nämlich die PDS, die in geradezu zynischer Weise den Prozeß der Einigung, der jetzt auf uns zukommt, und die sozialen Fragen, die dabei aufgeworfen werden, in Verdrehung der geschichtlichen Wahrheit ausnutzt; denn sie ist für das, was in der DDR jetzt aufgearbeitet werden muß, verantwortlich.
Ich will ja einräumen, daß die Verbissenheit, mit der Sozialdemokraten in der DDR und auch hier bei uns um die richtige Gewichtung der drei großen Themen untereinander — Währungsunion, Wirtschaftsgemeinschaft, Sozialgemeinschaft — kämpfen, von politischen Gegnern ausgenutzt werden kann, als sei die Sozialdemokratie in bezug auf das Ziel selbst zögerlich. Das sind wir nicht. Ich glaube, das ist auch in der heutigen Debatte klargeworden. Wir haben eigentlich als erste zur Währungsunion ja gesagt. Wir haben gesagt, daß man eine Währungsunion in der Tat nicht durchführen kann, wenn das große Gebiet des Wirtschafts- und Sozialrechts in der DDR nicht entsprechend verändert wird. Diesem Grundgedanken verschließen wir uns in keiner Weise.Wenden möchten wir und gegen ein gewisses selbstgerechtes Pathos und eine gewisse satte Überheblichkeit, die häufig genug die Debatte in den vergangenen Wochen zu diesem Thema dominiert haben. Da wurde ein meines Erachtens unangemessenes Überlegenheitsdenken geradezu demonstriert. Welch verheerende Folgen das bei den jungen demokratischen Kräften in der DDR anrichten kann, das sollten wir auch nicht übersehen.
Ein Wort zu der Art und Weise, wie die Verhandlungen in den nächsten 14 Tagen oder drei Wochen geführt werden. Ich sehe das so: Der Gedanke der Einheit fordert von beiden deutschen Regierungen, die gesamtdeutsche Verantwortbarkeit für das, was beschlossen wird, höherzustellen als Einzelinteressen der beiden deutschen Staaten. Das wirkt nach beiden Seiten, meine Damen und Herren. Es ist klar: Die Bundesrepublik ist, was das Materielle angeht, in der Position des Gebers. Aber auch sie darf selbstverständlich nicht überfordert werden. Das setzt Grenzen für das, was verlangt wird.
Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus. Es wäre nicht richtig, wenn wir den Deutschen den Eindruck erweckten, als gäbe es die Einheit kostenlos. Bei der Finanzdebatte ist ja deutlich geworden, wie unklar hierbei noch die Vorstellungen der Bundesregierung sind. Wir stehen auch in der Verpflichtung, den Deutschen in der Bundesrepublik zu sagen, daß die Menschen in der DDR einen historischen Anspruch darauf haben, daß ihnen von uns anständig geholfen wird. Das ist durch die Demokratiebewegung, nicht nur durch die 40 Jahre, noch einmal verstärkt worden. Es kommt also auf einen fairen Interessenausgleich an.Ich fand es gut, Herr Seiters, daß Sie gestern nach Ihrer Besprechung in Ost-Berlin gesagt haben: Der Entwurf, der jetzt vorliegt, ist noch nicht das Endprodukt. Das läßt auf echte Verhandlungen schließen.
Ich hoffe, daß die Argumente der Sozialdemokratie, die in dieser Debatte genannt worden sind und auch weiterhin genannt werden, Eingang finden. Ich hoffe auch, daß sich das, was in der Koalitionsvereinbarung in der DDR steht und durch eine Sozialdemokratie, die den Weg zur deutschen Einheit mittragen will, wesentlich mitgeprägt ist, in positiven Veränderungen gegenüber dem Entwurf, wie wir ihn jetzt haben, niederschlägt.
Dann möchte ich gerne etwas zu Frau Vollmer und zur Debatte über Souveränitätsverluste der DDR sagen. Ich finde, es gibt einen Unterschied zwischen Souveränität und Identität. Für mich wäre es ein Widerspruch, die Einheit zu wollen und gleichzeitig die Souveränität der DDR bewahren zu wollen. Das geht nicht. Wenn man die Währungsunion will, dann muß die DDR ihre Verfügungsgewalt über den gesamten Bereich der Währung, der Finanzen und der finanzpolitischen Maßnahmen aufgeben. Das ist dann der Weg zur Einheit. Die politische Frage ist, in welcher Weise das dann ebenfalls für das neuzuschaffende Recht auf dem Gebiet der Wirtschaft und im Sozialbereich gilt.Ich finde, da gibt es in dem Vertrag einen richtigen Ansatz: Das Recht, das in der DDR neu entstehen muß, muß im Prinzip grundgesetznahe sein. Es muß nicht in jedem Punkt identisch sein, kann es auch nicht wegen der unterschiedlichen Lebensverhältnisse. Aber es muß sich auf das Grundgesetz hinbewegen, das schließlich über Artikel 23 in Anspruch genommen werden soll; das wollen die Menschen in der DDR. Wenn das geschieht, dann bedeutet das, daß das Recht, das dort entsteht, sich dem angleichen wird, das wir haben.Meine Damen und Herren, das ist die Souveränitätsfrage. Die Identität der DDR aber, welche aus der erkämpften Demokratie erwächst, muß in der Einheit bewahrt und für die zukünftige deutsche Gesellschaft in eine Verstärkung ihrer freiheitlichen und liberalen Grundlagen einmünden. Das ist entscheidend. Wir dürfen den Deutschen in der DDR nicht das Gefühl geben, daß jetzt der Überstülp-Vorgang kommt, sondern daß, wie Herr de Maizière es gesagt hat — aus der Demokratiebewegung der DDR eine Kraft entsteht, die zu einer Verstärkung der freiheitlichen Tendenzen in unserer deutschen Gesellschaft und im zukünftigen Einheitsstaat führt.
Noch ein Satz mit Bezug auf die Verhandlungen und ausdrücklich an Herrn Seiters gerichtet: Die Art und Weise, wie die deutschen Regierungen in den anstehenden Verhandlungen miteinander umgehen, wird auch das Maß des Vertrauens bestimmen, wel-
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StobbeI ches andere Regierungen in Europa dem deutschen Einigungsprozeß entgegenbringen.
Ich finde, das ist ein wichtiger Gedanke. Er schließt aus, daß in — wie hier heute fälschlicherweise, wie ich meine, gesagt wurde — Diktatkategorien gedacht wird. Es geht vielmehr um echte Partnerschaft, denn diese Partnerschaft ist in Zukunft von Deutschland nach West und Ost gefordert. Wir müssen beim Kern der deutschen Einigung unter uns selbst beweisen, daß wir zu dieser Partnerschaft wirklich fähig sind. Das wird ein wichtiger Punkt zur EG hin sein, aber das ist genauso wichtig — darauf will ich hier ausdrücklich hinweisen, weil das heute noch nicht gesagt worden ist — nach Osteuropa hin. Die jungen Demokratien dort dürfen nicht den Eindruck bekommen, daß unser Kampf um die Ausgestaltung der inneren Einheit mit einem derart egoistischen — sage ich jetzt mal — Blick auf deutsche Belange geführt wird, daß das Wohlstandsgefälle sozusagen von der Elbe an die Oder verschoben wird, und die anderen von dem Prozeß ausgeschlossen bleiben.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich kann die Regierung nur dazu auffordern, das immer wieder deutlich zu machen.Nun noch ein anderer Gedanke. Sicherlich ist die Diskussion über die Chancen und die Risiken der finanzpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten nach dem Staatsvertrag der Kern der Sache. Aber mir geht es um ein anderes Problem, worüber ich mir Sorgen mache, und das will ich hier aussprechen: Ich glaube, daß die eigentlichen Probleme des Staatsvertrages erst beginnen werden, wenn er unterschrieben ist. Die Probleme liegen in der administrativen und rechtsstaatlichen Ausgestaltung der Leitsätze, wie sie im Staatsvertrag stehen und hoffentlich in einigen Punkten noch durch die DDR verändert werden. Es kann zu einer Art Gesetzgebungsstau in der Volkskammer kommen. Es kann zu einer mangelhaften verwaltungstechnischen Durchführung dieser Gesetze, die die Volkskammer beschließen muß, kommen. Die DDR könnte in große Schwierigkeiten geraten, eine rechtsstaatliche Verwaltung aufzubauen für alles das, was neu gemacht werden muß.Ich möchte deshalb der Bundesregierung hier schon sagen: Wenn der Staatsvertrag eines Tages unterschrieben ist, dann können Sie die Hände nicht in den Schoß legen. Dann fängt die ganze Arbeit eigentlich erst an. Wir müssen der DDR beim Aufbau eines rechtsstaatlichen Systems helfen, das dann mit dem Neuen auch wirklich fertig wird, und zwar so fertig wird, daß die Menschen die deutsche Einheit als etwas Positives erleben und nicht als etwas Bedrückendes.
— Das muß ich nach diesem Zwischenruf hinzufügen: Der Entwurf des Staatsvertrags ist in dieser Frage äußerst unbefriedigend, weil die Abfolge der Entscheidungen, die in der DDR zu treffen sind, zwar enumeriert ist, aber nichts darüber darin steht, wer wemdann in der DDR konkret dabei helfen soll, beispielsweise die Länder beim Aufbau bestimmter Verwaltungssysteme. Ich weise darauf hin, daß das ein großes Problem wird.
Ich komme zum Schluß. Die Verantwortung der Sozialdemokratie gegenüber diesem Vertrag zeigt sich in dem Dringen auf eine soziale Ausgestaltung der deutschen Einheit und das Durchsetzen der Freiheitsrechte gegen die immer noch vorhandenen Strukturen des SED-Staates. Sie zeigt sich letztlich auch in einer Bejahung der sozialen Marktwirtschaft, wenn bestimmte Konditionen erfüllt sind, in der Einführung unserer Währung in der DDR und natürlich in der Bejahung einer vernünftigen Sozialordnung in der DDR.Aber unsere Zustimmung kann kein Automatismus sein. Ich verweise auf die harten Verhandlungen über die Koalitionsvereinbarungen in der DDR. Sie haben schon gezeigt, daß Sozialdemokraten mittragen wollen, aber dann auch wollen, daß Wesentliches von dem, was sie sagen, sich in den Beschlußpapieren wiederfindet.Natürlich wäre ein Konsens in der Frage des Staatsvertrags aus gesamtdeutscher Verantwortung heraus wünschenswert. Er ist allerdings nur dann zu erreichen, wenn die Argumente der Sozialdemokratie dort in der DDR wie hier in Bonn ausreichend Berücksichtigung finden.Deshalb wäre es das wichtigste Ergebnis dieser Debatte, wenn die Bundesregierung von einer Fortsetzung des Alleingangs, wie sie ihn in den letzten Wochen praktiziert hat, Abstand nähme.
— Sie hat das getan. Es gab keine parlamentarische Begleitung der gesamten Prozesse.
Sie muß jetzt kommen.
Ich kann vor einer Fortsetzung des Alleingang-Denkens nur warnen.
Damit sind wir am Ende dieser Debatte.Ich komme auf die Zusatztagesordnungspunkte 4 und 5 und den Entschließungsantrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/7016 zurück.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen der Fraktion der SPD sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5951, 11/5952, 11/7025, 11/7026 und den soeben erwähnten Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7016 an den Ältestenrat zu überweisen. Der Ältestenrat wird ermächtigt, die Vorlagen nach Einsetzung des Ausschusses für die deutsche Einheit an diesen und die übrigen betroffenen Ausschüsse zu überweisen.
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Vizepräsident CronenbergIch frage das Haus, ob es mit dieser Regelung einverstanden ist. — Das ist offensichtlich der Fall. Ich darf dies als beschlossen feststellen.Ich rufe den Zusatzstagesordnungpunkt Eidesleistung des Wehrbeauftragten auf.Heute vormittag ist Herr Alfred Biehle zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gewählt worden.Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages leistet dieser vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid.Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir zu kommen. —Herr Wehrbeauftragter, ich bitte, jetzt den Eid zu sprechen.Biehle, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben entsprechend dem Gesetz den Eid gesprochen. Ich beglückwünsche Sie dazu und wünsche Ihnen Gottes Segen, Glück und Erfolg und hoffe, daß Sie Ihre Arbeit vertrauensvoll zusammen mit dem Deutschen Bundestag im Interesse der Soldaten leisten können.
Biehle, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Ich bedanke mich für die guten Wünsche.
Meine Damen und Herren, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir noch eine Aktuelle Stunde vor uns haben, und wäre dankbar, wenn wir so langsam damit beginnen könnten.
— Frau Abgeordnete, wenn es freundlich geht — warum nicht?
Dann komme ich jetzt, meine Damen und Herren, zum Zusatztagesordnungspunkt 6:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung die vorgenannte Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst einmal hat die Abgeordnete Frau Beer das Wort.
Herr Präsident! Verehrte — wenn auch in geringer Zahl anwesende — Kollegen und Kolleginnen! Seit Jahren berichten Organisationen wie amnesty international über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Fast schon ist es zur Gewohnheit auch für den Zeitungsleser hier geworden.Dabei gerät meistens in den Hintergrund, daß Menschenrechtsverletzungen in der Mehrzahl nicht Einzelschicksale sind, sondern Bevölkerungsminderheiten davon betroffen sind, die in Ländern mit diktatorischen Strukturen unterdrückt werden.Kaum Beachtung finden hier Minderheiten wie das kurdische Volk, das, obwohl sich seine Geschichte nachweislich bis in die Bibel hinein zurückverfolgen läßt, nie das Recht, auf einen eigenen Staat durchsetzen konnte. Die, die einem Vernichtungskampf schon immer am härtesten widerstehen mußten, werden nun auch noch mit Mißachtung gestraft; ihre Existenz wird geleugnet.Die 15 Millionen in der Türkei lebenden Kurden sind aller elementaren Rechte, z. B. der eigenen Kultur und Sprache, beraubt. Die türkische Regierung Özal zieht es vor, die Existenz dieses Volkes zu leugnen, zu bestreiten.Gewalt erzeugt Gegengewalt; Terror erzeugt Gegenterror. Dies ist zu verurteilen, egal, ob er von einer Einzelperson oder von einem Staat ausgeht.Dem Terror der Sondereinsatzkommandos, des türkischen Militärs und den sogenannten Rambos steht die kurdische Bevölkerung gegenüber, deren Mehrheit die PKK als Teil des Widerstandes gegen den täglichen Terror anerkennt und unterstützt.Das Widerstandsrecht zur Wahrung der eigenen Identität ist international anerkanntes Recht. Seit einem Jahr werden Unterdrückung und Repression gegen das kurdische Volk verschärft. Dorfbewohner wurden massakriert, zwangsumgesiedelt. Diese Vernichtungs- und Unterdrückungspolitik löste einen Massenwiderstand unter dem kurdischen Volk aus, der sich im Frühling des Jahres in ganz Kurdistan ausbreitete. Läden wurden geschlossen, Streiks und Demonstrationen überall durchgeführt, z. B. Hungerstreiks von Kutlu und Sargin. Sie waren gegen die Gesetzgebung gerichtet, die diese Notstandsmaßnahmen erst ermöglicht. Die Bundesregierung hat die Pflicht, hierzu Stellung zu nehmen, und ich möchte später auch erklären, warum.Das, was von der Regierung Özal als terroristische Aktion einzelner Separatisten und Terroristen dargestellt wurde, ist ein Volksaufstand, den selbst die „FAZ" „Intifada in Kurdistan" nennt.Beantwortet wurde diese Bewegung mit Notstandsgesetzen, massivster Einschränkung der Pressefreiheit und aller anderen grundlegenden Rechte. Es wird davon gesprochen, daß die Todesstrafe praktiziert werden soll — in einem Land, das sich demokratisch nennt. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, im letzten Jahr gab es bereits Tote durch militärische Übergriffe. Wir befürchten, daß auf Grund der Massierung von Sondereinheiten gerade in Kurdistan in diesen Tagen vor dem 1. Mai und damit das Recht, den Tag der Arbeit
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Frau Beerzu begehen, mit massiven Übergriffen des türkischen Regimes zu rechnen ist.Die Türkei zählt sich als NATO-Mitgliedsland, als Europaratsmitglied und EG-Anwärterin zu den demokratischen Staaten. Daß sich die angeblich demokratische Türkei immer noch darauf berufen kann, in einem demokratischen Völkerbund zu sein, ist für uns eine besondere gegenseitige Verpflichtung. Aus dieser Verantwortung heraus fordern wir die Bundesregierung auf, aktiv auf die Türkei einzuwirken, die Notstandserlasse rückgängig zu machen. Dies wird nur durch massiven Druck und nicht durch schleichende Diplomatie zu erreichen sein.
Wir fordern die sofortige Beendigung der Rüstungssonderhilfe für diesen NATO-Partner, die sofortige Einstellung der militärischen und polizeilichen Ausbildungen, ein Verbot türkischer Geheimdiensttätigkeiten in der BRD und wirtschaftliche Sanktionen.Diese Schritte klingen massiv, aber sie haben ihre Begründung. Bundesdeutsche Ausbildung durch die GSG 9 für die Sondereinheiten, die im Moment die kurdische Bevölkerung terrorisieren, stellt die Verantwortung dar, die wir hier heute zu diskutieren haben. Diese Ausbildung durch militärische Sondereinheiten, die Lieferung von Leopard-Panzern, von MBB-Hubschraubern, die im Kampf gegen das kurdische Volk eingesetzt werden, sind Punkte, zu denen die Bundesregierung hier heute leider auch nicht Stellung nehmen wird, sie aber zu verantworten und sich dazu zu äußern hat.Es geht nicht nur darum, daß irgendwelche Minderheiten als Terroristen dargestellt werden, sondern es geht auch darum, daß hier in der Bundesrepublik Menschen unter Verwendung der Argumentation eines Regimes wie dem der Türkei angeklagt werden, z. B. unter dem Verdacht der Mitgliedschaft einer angeblich terroristischen Vereinigung, der PKK, und gerade dadurch die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, die heute passieren, legitimiert und weitergeführt werden können.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich folgende Erklärung ab:
Die CDU/CSU sieht in dieser wieder von den GRÜNEN inszenierten Aktuellen Stunde kein geeignetes Mittel, ein zugegebenermaßen schwieriges und heikles innenpolitisches Problem der Türkei angemessen zu behandeln und ihm gerecht zu werden. Deshalb möchte ich nur einige wenige Anmerkungen machen und Ihnen gleichzeitig mitteilen, daß wir uns an dieser
Aktuellen Stunde nicht mit weiteren Redebeiträgen beteiligen werden.
Auch wir kritisieren die Art und Weise, wie in der Türkei die berechtigten Anliegen des kurdischen Bevölkerungsteils behandelt werden. Wir werden das auch immer wieder gegenüber der Türkei zum Ausdruck bringen. Wir fordern die türkische Regierung zu einem sensibleren Umgang mit der Pressefreiheit auf.
Andererseits können und dürfen wir nicht übersehen, daß seit langer Zeit die innere Sicherheit in der Türkei durch organisierte radikale und separatistische kurdische Gruppen erheblich gefährdet ist und daß das für die Türkei eine große Herausforderung darstellt. Wir möchten klarstellen, daß separatistische Bestrebungen, die die territoriale Integrität der Türkei in Frage stellen, von uns in keiner Weise unterstützt werden und daß wir jeden Eindruck einer solchen Unterstützung vermeiden möchten.
Eine Bemerkung zum Schluß: Sie beklagen eine Eskalation in der südöstlichen Türkei.
Nach unserer Auffassung tragen Sie mit Ihrer Art und Weise, in der Sie dieses Thema behandeln, zu dieser Eskalation bei.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Glotz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Bemerkungen am Anfang. Die erste: Daß wir hier im kleinen Kreis versammelt sind, finde ich verständlich. Daß das Auswärtige Amt nicht vertreten ist, bringt mich zu der Anregung, weitere Staatsministerstellen zu schaffen; denn wenn jemand etwas konkret tun kann, dann ist es die Regierung. Die sollte dabei wenigstens zuhören.
Zweite Bemerkung. Ich finde die Grundtendenz Ihrer Intervention, Frau Kollegin Beer, im Unterschied zu Herrn Vogel richtig. Ich zitiere ein paar Sätze von Günter Wallraff zur PKK:Die PKK ist eine der entsetzlichsten Guerillatruppen, die es gibt. Sie basiert auf Individualterror und einer autoritären Führerpolitik. Als wir dort waren, haben z. B. Anhänger dieser Organisation einen Bus angehalten, diejenigen, die eine Krawatte trugen, erschossen und diejenigen, die keine trugen, am Leben gelassen. So schaukelt sich der Terror gegenseitig hoch.Das sollte man auch deutlich machen, meine Damen und Herren.
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Dr. GlotzIch füge hinzu: Das, worüber wir hier reden, ist kein Spezialproblem im Südosten der Türkei, sondern meiner Meinung nach ein zentrales Problem der Außenpolitik der 90er Jahre, nämlich wiederaufbrechender Nationalismus,
das Hochschaukeln von Gewalt von der einen auf die andere Seite und die Unfähigkeit der nationalstaatlichen Ideologie, mit diesem Problem fertigzuwerden.
Meine erste Feststellung ist: Das, was mit den kurdischen Minderheiten in der Türkei, aber zum Teil ja auch im Iran und im Irak, passiert, ist strukturell vergleichbar mit vielen anderen Konflikten, beispielsweise mit Konflikten im Kosovo oder in Siebenbürgen oder auch in den baltischen Staaten oder mit dem, was im Süden Bulgariens stattfindet.Wenn die Nationalstaaten ihre nationale Minderheitenpolitik nicht so ausrichten, daß wirklich kulturelle und politische Autonomie gegeben wird, dann wird es Mord und Totschlag an allen Ecken und Enden Europas geben. Das ist es, was wir verhindern müssen, meine Damen und Herren.Zweite Feststellung: Die Kurden haben nie in einem eigenen Staat zusammengelebt. Ich glaube auch nicht, daß irgend jemand erreichen kann, daß sie in Zukunft in einem eigenen Staat zusammenleben. Da wir über diese Verhältnisse im Südosten der Türkei sprechen: Im osmanischen Reich ist das Problem in einem Nationalitätenstaat früher besser geregelt gewesen als im Nationalstaat seit Atatürk und seit Anfang der 20er Jahre.Ich füge hinzu, ganz praktisch, und da stimme ich der Kollegin Beer zu: Daß die ihre eigene Sprache nicht sprechen dürfen, daß beispielsweise in einer Schule der Lehrer, wenn er die kurdische Sprache benutzt, um sich mit kurdischen Kindern überhaupt verständigen zu können, Gefahr läuft, im Gefängnis zu landen und gefoltert zu werden, ist unerträglich, und das können wir nicht hinnehmen, auch wenn es ein NATO-Partner ist. Dagegen müssen wir uns in der Tat wenden.
Meine dritte und letzte Feststellung lautet: Es könnte leicht sein, daß sich eine türkische Intifada bildet. Die PKK hatte viele Jahre keineswegs die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung. Diese Unterstützung wächst jedenfalls, so bedauerlich wir das finden mögen.Wir mißbilligen die Methoden der PKK. Gleichzeitig mißbilligen wir die Minderheitenpolitik der Türkei. Damit das nicht bloß eine moralische Feststellung bleibt, füge ich hinzu: Wer Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaft werden will, muß seine Minderheiten anders behandeln, als die Türkei sie derzeit behandelt.
Das muß man so deutlich sagen.Lassen Sie mich am Schluß sagen: Europa darf nicht bloß eine Wirtschaftsgemeinschaft sein. Es muß eine Gemeinschaft von Völkern sein, in der es selbstverständlich ist, daß sprachliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Rechte von Völkern respektiert werden. Die Kurden werden vielleicht keinen eigenen Staat bekommen. Aber sie sind selbstverständlich ein eigenes Volk. Das gilt für die Ungarn in Siebenbürgen, das gilt für die Albaner im Kosovo, und das Prinzip gilt genauso für die Kurden, ob in der Türkei oder im Iran, im Irak oder in Armenien.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Schäfer, hat mich gebeten, dem Hause mitzuteilen, daß er sich bei mir entschuldigt hat. Bedingt durch die Verlängerung der Debatte um die Vereinigung Deutschlands kann er nicht an der Sitzung teilnehmen, weil er einen anderen, unaufschiebbaren Termin hat.
— Herr Abgeordneter, ich habe die mir vorgetragene Entschuldigung weitergegeben.
Ich bitte nun den Abgeordneten Hirsch, das Wort zu ergreifen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Glotz — der Präsident hat das eben schon zu einem Teil gesagt — , Herr Staatsminister Schäfer — das war mein Versäumnis — hat mich gebeten, ihn bei den Fraktionen zu entschuldigen und ein Einverständnis dazu herbeizuführen. Ich habe Sie leider nicht angesprochen. Er mußte zur Einweihung der syrischen Botschaft. Ich habe hier das Manuskript der Rede, die er gehalten hätte. Ich stelle es Ihnen und jedem Mitglied des Hauses, das es haben will, gern zur Verfügung. Das Auswärtige Amt ist auf Beamtenebene vertreten. Ich bitte, das zu verstehen, da in der Tat diese Verschiebung durch die Verlängerung der Tagesordnung, nicht vorauszusehen war.Wir begrüßen jede Unterstützung menschenrechtlichen Engagements, und ich sehe diese Debatte oder diese Aktuelle Stunde als einen Teil von Bemühungen, den Einsatz der Bundesregierung für Menschenrechte überall in der Welt zu unterstützen. Zu Goethes Zeiten hat es einmal geheißen: Wenn hinten fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen ... Das war ein Synonym dafür, daß das etwas ist, was uns nichts angeht. Ich glaube, da hat sich unser Weltbild verändert. Menschenrechtsverletzungen gehen uns überall an, wo sie stattfinden, und es ist hier von verschiedener Seite ja in beredter Weise dargestellt worden, wie die Verhältnisse in der Türkei sind, einem Land, für das wir auch sonst eine nicht unwesentliche Verantwortung haben, nicht nur wegen der vielen menschlichen Verbindungen, die zur Türkei bestehen, sondern weil die Türkei in vieler Hinsicht für uns auch ein wichtiger Partner ist und weil die Art, wie wir uns der Türkei gegenüber einstellen, für die Zukunft dieses Landes von großer Bedeutung ist, das sich an einem Scheideweg zwischen einem modernen demo-
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Dr. Hirschkratischen Staat auf der einen Seite und Tendenzen fundamentalistischer oder anderer Art auf der anderen Seite befindet.Nun muß man aber sehen, daß bei aller berechtigten Kritik an der Art, wie die türkische Regierung Minderheiten in ihrem Land gegenübertritt, die Tätigkeit der PKK die Verhältnisse außerordentlich verschärft hat. Wenn man sich die Zahlen ansieht, muß man feststellen, daß im Laufe der letzten zwei Jahre über 1 000 Menschen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sind, Soldaten, unbeteiligte Zivilisten und natürlich auch Mitglieder der PKK. Über 1 000 Menschen!Ich frage mich manchmal bei aller Kritik, die man von hier aus üben kann, wie wir uns eigentlich verhalten würden, in welche politische Situation wir in der Bundesrepublik geraten würden, wenn sich terroristische Aktivitäten in einem solchen Umfang in der Bundesrepublik abspielen würden. Darum muß man bei dem, was man tun will, darauf achten, daß man der Türkei auch Bewegungsmöglichkeit gibt. Wer am Pranger steht, kann sich nicht bewegen.Wir haben im Deutschen Bundestag vier Aktuelle Stunden diesem Thema gewidmet, wir haben in der letzten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses über eine Stunde über dieses Thema geredet,
wir haben im Unterausschuß „Menschenrechte und humanitäre Hilfe" über dieses Thema gesprochen. Es wird in Kürze eine Plenardebatte zu vorliegenden Anträgen in diesem Hause stattfinden. Ich glaube, wir tun gut daran, dieses schwierige Thema nicht in der Art einer Aktuellen Stunde abzuhandeln, sondern darauf Wert zu legen, in einer Sachdebatte in aller Ruhe das differenzierte Bild, aber auch die Möglichkeiten und den bisherigen Einsatz der Bundesregierung gerade um das Schicksal kurdischer Flüchtlinge aus dem Irak, wo die Bundesrepublik eines der wenigen europäischen Länder ist, die sich dort finanziell massiv beteiligt hat, um das Schicksal dieser Menschen zu verbessern, darzustellen und an die Türkei in einer Weise zu appellieren, zu einer vernünftigen Menschenrechtspolitik zu kommen, die eine Chance auf Aussicht bietet. Das ist der Grund, warum wir uns so wie die CDU/CSU-Fraktion an dieser Debatte mit keinem weiteren Redner beteiligen werden.
Das Wort hat die Abgeordnete Luuk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich meine, daß es aber doch angeraten ist, auf die besonders schwierige Situation der Flüchtlinge, der Kurden, die aus dem Irak in die Türkei geflohen sind, hinzuweisen, weil ihre Situation durch die Verschärfung der Lage in dem Südostteil des Landes beeinflußt wird. Auch wenn bei einem Besuch, den der Abgeordnete Hirsch und ich in der letzten Woche durchgeführt haben, die Verbindung geleugnet wurde, die zwischen den Vorfällen in diesem Teil der Türkei und den Menschen in den Lagern bestehen soll, so kann man sagen, daß die Lage dieser Menschen negativ beeinflußt wird.Ich meine auch, daß man einen Punkt, der von allen Rednern angesprochen worden ist, der Verlust der kulturellen Identität, des Rechts, sich in der eigenen Sprache überhaupt äußern zu können, wie es auch Herr Glotz hier gesagt hat, besonders hervorheben sollte. So können z. B. die Kinder in diesen Flüchtlingslagern keinen Schulunterrricht erfahren, nicht einmal dann, wenn er selbst organisiert und selbst auf den Weg gebracht wird. Er wird verboten. Das heißt, die Flüchtlingskinder, die sich seit zwei Jahren in diesen Lagern aufhalten, in denen 30 000 Flüchtlinge zusammengebracht sind, haben keine Möglichkeit, überhaupt eine Ausbildung oder eine Ansprache zu erfahren — und das deswegen, weil man sich in dieser Sprache nicht äußern darf.Es gibt für diese Flüchtlinge nicht die Möglichkeit, sich als de facto vorhanden registrieren zu lassen. Es wäre doch aber wichtig, daß man eine Liste der Namen derer, die sich in diesen Lagern befinden, hätte, damit sie überhaupt einen gewissen Schutz haben.Die Möglichkeit, das Lager zu verlassen, ist auch aufgehoben worden. Statt dessen müssen die Flüchtlinge eng an eng auf der Größe eines Fußballfeldes in Zelten untergebracht den ganzen Tag und die Nacht verbringen. Die Flüchtlinge sind also nicht mehr in der Lage, das Lager zu verlassen, oder wenn, dürfen sie sich nur in Diyarbakir und sehr eingeschränkt bewegen.Ich muß sagen, daß es kritikwürdig ist und hier auch angemerkt werden muß, daß die Bundesrepublik, die sich an den humanitären Hilfsleistungen für diese Flüchtlinge beteiligt hat, nicht in der Lage war, zu erreichen, daß Mitglieder des Bundestages, die extra dort hingefahren waren, hineingehen konnten. Wir konnten um diese Lager herumschleichen und haben es auch geschafft, mit Vertretern aus diesen Flüchtlingslagern zu sprechen. Aber es war uns wegen der schwierigen Sicherheitslage nicht möglich, in diese Lager hineinzugehen. Ich meine schon, daß man das hier kritisieren und anmerken muß.
Aus eigener Anschauung kann ich auch sagen, daß die Präsenz des Militärs und die Präsenz von Sicherheitskräften in diesem Teil des Landes fühlbar ist. Das trägt sicher nicht dazu bei, daß es die Versöhnung einer Minderheit mit der türkischen Republik geben kann. Ich meine, daß sich diese besonders schwierige Situation im Ostteil des Landes sehr erschwerend auf das Leben der Flüchtlinge, das ohne jede Perspektive ist, auswirkt. Es ist nur darauf hinzuweisen, daß 400 Dörfer evakuiert wurden, daß sehr viele Menschen, Kurden zumal, aus diesem Teil des Landes umgesiedelt wurden, daß ein 30 km breiter Streifen diesseits und jenseits der Grenze sowohl im Irak als auch auf der türkischen Seite völlig geräumt worden ist, daß die Menschen ihre Dörfer verlassen mußten, daß sie ihr Vieh, ihre Felder nicht mehr versorgen können.Ich denke, daß dieser Ausnahmezustand zumindest Erwähnung finden muß, daß wir uns damit auseinandersetzen müssen. Ich erwähne noch einmal, daß von
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Frau Luukdiesen fürchterlichen Maßnahmen ganz besonders die Flüchtlinge in diesem Lager betroffen sind, denen es jetzt noch schlechter geht. Das kann nicht so weitergehen. Wir sind aufgerufen, uns aus humanitären, aus menschenrechtlichen Gründen darum zu kümmern. Ich denke, daß wir das auch in den Beratungen der nächsten Zeit unbedingt tun müssen.
Das Wort hat die Abgeordnete Beer.
Wer angesichts der aktuellen Lage in der Türkei von Einmischung in innere Angelegenheiten spricht, versucht, sich vor der eigenen Verantwortung zu drücken.
Notstandsgesetze sind die Instrumente der Regierenden und Instrumente der Unterdrückenden. Das ist schon immer so gewesen. Das wird auch in der Türkei deutlich.
Ich gebe Ihnen durchaus recht, Herr Glotz. Aber Sie müssen auch dazusagen, daß die Pressefreiheit gerade deswegen auch gegenüber bürgerlichen Zeitungen eingeschränkt worden ist, weil diese Zeitungen berichtet haben, daß angebliche Mordanschläge nicht von der PKK, sondern von türkischen Militärs verübt worden sind. Das war der eigentliche Anlaß dafür.
Ich möchte noch einmal sagen: Die türkische Regierung kann ihre Menschenrechtsverletzungen, die Unterdrückung oder auch gar die Vernichtung von Minderheiten so lange ungestört fortsetzen, wie die westeuropäischen Länder ihre Kritik auf einige Demarchen beschränken. Hier wird der Konsens der Demokraten zur Beihilfe zum Mord.
Schweigen wird zur Mittäterschaft.
Eine demokratische Regierung läßt der offenen Androhung türkischer Militärs, C-Waffen gegen den Aufstand oder den Unwillen des kurdischen Volkes einzusetzen, keine offizielle Verurteilung folgen. Wir haben es im Irak schon erlebt, daß die kurdische Bevölkerung vergast worden ist, übrigens unter Beihilfe deutscher Firmen zur Herstellung dieses Giftgases. Diese Verantwortung muß hier eigentlich das Thema sein. Denn was wollen Sie hinterher sagen? Diese Frage richte ich gerade auch an Herrn Hirsch.
Wer hofft, daß diese Menschenrechtsverletzungen und die Vernichtung lautlos geschehen, muß sich vorwerfen lassen, daß militärisch-strategische und wirtschaftliche Interessen über die Wahrung der Menschenrechte gestellt werden. Das war für uns der Anlaß, diese notwendige Aktuelle Stunde zu beantragen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Mai 1990, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.