Rede von
Gertrud
Unruh
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(GRÜNE)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Was Herr Minister Blüm so von sich gegeben hat, damit mag er selig sterben.
— Damit kann er selig sterben, letztlich entscheiden nämlich Wähler und Wählerinnen, was mit dieser CDU wird. Die Bürger und Bürgerinnen in der DDR haben gesagt: Wir wollen die D-Mark! Wir wollen Wohlstand! Das ist auch deren Recht.
In dem, was Graf Lambsdorff vorhin gesagt hat, hat auch er recht: Wir sind in einem Gesamtdeutschland doch wohl in der Lage, ein Land — die DDR — so wie Nordrhein-Westfalen zur Wirtschaftsblüte zu bringen, aber selbstverständlich! Dann aber haben Sie gesagt: Wir haben bewiesen, daß es möglich ist, aus den Trümmern heraus alles ganz schnell wieder aufzubauen usw. Nur, der Großteil der Menschen, der alten Menschen, die das vollbracht haben, haben nun keinen Anteil an diesem Wirtschaftswunder. Das ist der Punkt, wo ich Herrn Minister Blüm eigentlich bedaure, wo ich aber auch wieder sagen muß, Herr Kollege Dreßler: Wunderbar, was Sie hier vorgetragen haben!
Ich bin mit Ihnen voll d'accord. Da brauche ich nicht nachzufassen. Aber daß Sie sich haben verleiten lassen, keine Lobby für die Pflichtversicherten in dieser Bundesrepublik Deutschland zu bleiben und den Rentendeal mit der CDU, der CSU und der FDP zu machen, das ist das große Versagen, ich möchte sagen: das geschichtliche Versagen dieser Sozialdemokraten. Ich weiß von vielen von Ihnen, daß Sie das heute bereuen. Die von der CDU/CSU und der FDP wissen sich daran hochzuranken. Aber Sie haben dann dadurch — letztlich als Mosaikstein — den Verlust in der DDR erlitten.
Eines steht fest: Wir selbstbewußten Alten in der Bundesrepublik Deutschland haben uns genauso wie die selbstbewußten Alten in der DDR zusammengetan. Wir haben uns unter der Organisation Graue Panther oder Die Grauen organisiert. Und Sie werden schon merken: Auch zum Schutz unserer Kinder und Kindeskinder werden wir das eisern beibehalten. Der Wohlstand ist wunderbar, aber die soziale Umverteilung bei uns in eine Zwei-Drittel- und eine Ein-DrittelGesellschaft kann doch wohl nicht alles gewesen sein.
Deshalb sage ich es an dieser Stelle wieder. Sie schwingen Ihre Wahl- oder sonstwelche Reden. Aber wir brauchen ein neues Regulativ, was den Aufbau dieses Gesamtdeutschlands überhaupt angeht. Es darf eben nicht wieder passieren, daß wir in eine Klassengesellschaft mit Berufsbeamtentum, mit hochbezahlten Ministern usw. ausarten, die für Ihre Altersversorgung überhaupt nichts zu bezahlen haben, und die Pflichtversicherten, die ständig bluten müssen, nach 45 Jahren mit einer Rente in Ruhestand gehen müssen, für die wir uns, da wir ja auch nichts zahlen, eigentlich in Grund und Boden schämen müssen.
Sie hätten die große, neue soziale Ordnung bringen können, und vielleicht schaffen wir es ja auch noch. Warum schaffen wir kein Volksversicherungssystem, wo alle einzahlen müssen? Das war der große Ansatz der Sozialdemokraten, der in dieser Bundesrepublik Deutschland ja einmal gelaufen ist. Warum wird das alles nichtachtend besehen?
Warum schaffen wir keine Mindestrente? Die Bürger und Bürgerinnen der DDR hatten sie. Aber Sie lassen 2,5 Millionen alte Menschen in dieser Bundesrepublik Deutschland mit Renten unter 900 DM leben — in einem Land, in dem die Mieten hochgeschossen sind, daß man nur fassungslos davorsteht. Deshalb kann die Rente in der DDR nicht stimmen, wenn übermorgen aus einer Miete von 70 Mark eine Miete von 250 Mark wird. Die Rentner der DDR fordern mit Recht: Der Teuerungsausgleich muß sofort aufgeschlagen werden, damit sich die Menschen dann Essen kaufen können, damit die Menschen ihre Heizung bezahlen können. Das sind doch die ganz primitiven Bedürfnisse eines menschlichen Lebens.
Sie sagen, die Betriebe haben die Nichtsnutze oder die, die sonst eigentlich arbeitslos gewesen wären, bisher mitgeschleppt. Dazu kann ich nur feststellen: Ja, wir schleppen auch ein Berufsbeamtentum mit. Das bitte ich doch auch einmal zu bedenken. Ich habe nichts gegen die kleinen Beamten, aber die mittleren und die hohen und die politischen Beamten sind genau die Parasiten, die wir in diesem Staat nicht ertragen können.