Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat fristgerecht eine Erweiterung der heutigen Tagesordnung beantragt. Diese Anträge werden wir im Anschluß an die Aktuelle Stunde behandeln.
Die Fraktion der CDU/CSU hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde verlangt. Ich rufe den Zusatz-Tagesordnungspunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
Der Tod von Johann Dick und die Verletzung deutschen Hoheitsgebiets durch die CSSR
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Klein .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Parlament tritt für Menschenwürde und Menschenrechte in aller Welt ein. Wo immer sie verletzt oder verweigert werden — bei uns stehen sie auf der Tagesordnung. Meine Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt, den Tod von Johann Dick und die Verletzung deutschen Hoheitsgebiets durch die CSSR auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gebracht.Wir sorgen uns um das Schicksal der Menschen in Südafrika oder Chile, in Afghanistan oder Kambodscha. Hier geht es um ein Opfer der tödlichen Unbarmherzigkeit der gewaltsamen Teilung Europas, um das Schicksal einer Familie in unserem eigenen Land. Ihr hat unsere Sorge und unser Mitgefühl in besonderem Maße zu gelten.Die Regierung der ČSSR hat auf elf nachdrückliche Demarchen der Bundesregierung und auf zahlreiche scharfe öffentliche Reaktionen den Tod von Johann Dick bedauert, sich dafür entschuldigt, die Verantwortung dafür übernommen, sich zu Schadenersatz verpflichtet, rückhaltlose Aufklärung zugesagt und sogar unverlangt einen Befehl an die Grenztruppen vorgelegt, der ein striktes Verbot des Überschreitens der Grenze und des Schießens über die Grenze beinhaltet. Nach den bisherigen Ermittlungen der deutschen Seite und den Informationen der tschechischen Seite gibt es aber 14 Tage nach den tödlichen Schüssen auf Johann Dick mehr Fragen als Antworten.Doch selbst wenn wir erführen, ob der pensionierte Oberstleutnant um 13.30 Uhr in der Nähe des Fluchtwegs eines polnischen Flüchtlings oder um 16.30 Uhr viele Kilometer von dieser Stelle entfernt tödlich verletzt wurde, warum tschechische Ärzte den Leichnam seziert haben und wie tief die ČSSR- Grenzer auf deutsches Gebiet eingedrungen sind, die Hauptfrage bliebe unbeantwortet: Wie wenig gilt ein Mensch in einem System, das die Masse, das Kollektiv, in Wahrheit aber die herrschende Schicht zum Maß aller Moral macht?Tschechen und Slowaken sind europäische Völker wie ihre östlichen und unsere westlichen Nachbarn. Aber Europa ist mehr als ein geographischer Begriff. Es ist auch das Bekenntnis zu den Wertvorstellungen, die im Christentum wurzeln, und es ist die Summe aus über 2000 Jahren gemeinsamer kultureller Leistung und historischer Erfahrung. Die freien Demokratien des Westens haben Lehren gezogen, vor allem aus der jüngsten europäischen Geschichte. Sie haben Versöhnung an die Stelle von Haß, Verständnis an die Stelle von Mißtrauen, friedlichen Wettbewerb an die Stelle von feindseliger Gegnerschaft gesetzt. Nur wenn dieses Beispiel auch im kommunistischen Staatensystem Schule macht, eröffnet sich der Weg in eine friedliche Zukunft unseres Kontinents. Die Völker jenseits des Eisernen Vorhangs wollen Zusammenarbeit, die Regierungen brauchen sie. Solange sich aber die kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas an ihren Grenzen gebärden, als stünden sie mit all ihren Nachbarn im Kriege, und solange regierungsamtliche Schießbefehle sogar zum Mord jenseits der Grenzen führen können, muß die Beschwörung europäischer Gemeinsamkeit unredlich wirken.Der Tod von Johann Dick muß aufgeklärt, geahndet und — soweit dies möglich ist — wiedergutgemacht werden; das ist das mindeste.Vor dem Hintergrund dieses empörenden Vorgangs muß die Regierung der ČSSR aber auch zu Maßnahmen veranlaßt werden, die eine Wiederholung ausschließen. Das bedeutet: Achtung vor den Menschen, ihren Rechten und ihrer Würde.
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18130 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wernitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Donnerstag, dem 18. September, gegen 13 Uhr unternahmen zwei polnische Staatsangehörige einen Fluchtversuch im Abschnitt III der deutsch-tschechoslowakischen Grenze im Landkreis Tirschenreuth. Einem Flüchtling gelang es, das Bundesgebiet zu erreichen, der andere wurde von den dortigen Grenzsoldaten offensichtlich festgenommen. Den Fluchtversuch hatten die dortigen Grenzbeamten mit Schüssen beantwortet. Das auf die Flüchtlinge eröffnete Feuer traf den deutschen Staatsangehörigen Johann Dick auf deutschem Gebiet und verletzte ihn so schwer, daß er an den Folgen der Schußverletzung verstarb. Der Frau, der Familie des Toten gilt unsere tiefempfundene Anteilnahme.
Es handelt sich um einen besonders gravierenden Grenzzwischenfall, der in dieser Form seit 1969 nicht mehr vorgekommen ist. Nach den Todesschüssen an der Grenze stellen sich auch heute, 14 Tage später, in der Tat noch viele Fragen. Der völkerrechtswidrige Übergriff auf deutsches Hoheitsgebiet und der rücksichtslose Schußwaffengebrauch gegen Menschen können nicht hingenommen werden und haben auf unserer Seite mit Recht zu entschiedenen und scharfen Protesten geführt.
Die CSSR hat eingestanden, daß der Tod von Johann Dick eindeutig von ihren Sicherheitsorganen verschuldet wurde, und Bedauern und Entschuldigung ausgesprochen. Dies kann aber nur ein erster Schritt sein. Notwendig ist eine lückenlose, vollständige Aufklärung des Falles und eine Bestrafung der Täter.
Die Todesschüsse an der Grenze sind eine schwerwiegende Verletzung der nachbarschaftlichen Beziehungen. Wenige Tage später fielen an dieser Grenze erneut Schüsse tschechoslowakischer Grenzbeamter gegen Flüchtlinge aus der DDR, denen jedoch die Flucht glückte. Im Hinblick auf die vermehrte Anzahl von Flüchtlingen auch aus der DDR und Polen, die über die Grenze der ČSSR ins Bundesgebiet gekommen sind, stellt sich die Frage nach einer verschärften Praxis des dortigen Grenzregimes. Im Sinne einer Vorbeugung für die Zukunft sollte die Bundesregierung über dieses Grenzregime mit der ČSSR intensiv und nachdrücklich verhandeln.
Aber auch bei uns gilt es, die Situation im Grenzraum mit Umsicht zu überprüfen. Angesichts der Wanderwege bis an die Grenzmarkierungen, die dortigen Beeren- und Pilzsammlergebiete stellt sich wohl auch die Frage nach der angemessenen Präsenz der bayerischen Grenzpolizei, des Bundesgrenzschutzes und auch des Zolls. Hierin könnte eine zusätzliche Hilfe für unsere Mitbürger in diesem Raume liegen. Ich meine auch, daß man an die Bürger appellieren sollte, den unmittelbaren Grenzraum in der jetzigen Situation etwas zu meiden.
Meine Damen und Herren, wir werden die weitere Entwicklung der Grenzlage mit größter Aufmerksamkeit verfolgen. Es gilt, die eindeutige Verurteilung des Schußwaffengebrauchs gegen Flüchtlinge mit dem entschlossenen und besonnenen politischen Bemühen für die Zukunft so zu verbinden, daß an dieser Grenze nicht erneut Menschenleben zu beklagen sind.
Meine Damen und Herren, im „Bayernkurier" vom 27. September wurde u. a. darauf hingewiesen, daß Angehörige eines osteuropäischen Staates, die eines der höchsten Menschenrechtsgüter, die Freiheit, wahrnehmen wollen, beim Überschreiten der Grenze gnadenlos beschossen werden, wenn es den Machthabern nicht paßt. Gleichzeitig plädiert die gleiche Union in der Asyldebatte inzwischen für eine Rückführung von Flüchtlingen aus den Ostblockgebieten in ihre Heimatländer.
Meine Damen und Herren der Union, Sie haben Anlaß, diesen Widerspruch im Sinne der Menschlichkeit, der Menschenrechte und der Grundrechte glaubwürdig zu bereinigen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir schwer, im Fünf-Minuten-Stakkato einer Aktuellen Stunde zu diesem Vorgang zu sprechen. Ich finde, es ist der Sache überhaupt nicht angemessen, wenn wir den Vorgang dazu benutzen würden, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen oder sie zum Mittel des politischen Kampfes in der Bundesrepublik umzugestalten. Das ist nicht das Problem, über das wir reden. Sachverhalt ist vielmehr, daß ein Deutscher, ein friedlicher Spaziergänger, ein friedlicher Wanderer — ohne auch nur die geringste Ursache zu setzen — getötet, erschossen wird, noch dazu von den bewaffneten Kräften — von der Polizei oder Soldaten — eines anderen Staates auf deutschem Gebiet. Das ist der Punkt, über den wir uns zu unterhalten haben.Wenn man sich vorstellt, daß ein Beamter des Bundesgrenzschutzes etwas derartiges im Gebiet der Tschechoslowakei oder in irgendeinem anderen europäischen Staat machen würde, welche enormen Folgen politischer Art das nach sich zöge und welche Empörung sich überall in Europa äußern würde, dann weiß man, was hier im Grunde genommen geschehen ist. Es ist ein bedrückender Gedanke, daß wir die Grenze zur Tschechoslowakei in eine waffenstarrende Grenze verwandeln müßten, wenn wir die Vorstellung hätten, die Wiederholung eines solchen Vorganges mit polizeilichen Mitteln verhindern zu wollen.Es ist bedrückend, daß die restlose Aufklärung des Sachverhalts bisher nicht gelungen ist. Man muß an die Verantwortlichen in der Tschechoslowakei appellieren, alles, aber auch alles zu tun, um
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18131
Dr. Hirschjede Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt worden ist und gestellt wird, aufzuklären.
Wir nehmen zur Kenntnis, daß sich die Regierung der Tschechoslowakei entschuldigt hat, daß sie Schadenersatz zugesagt und die Verantwortung auf sich genommen hat. Ich glaube aber, daß es damit nicht getan ist. Man muß sich fragen, in welcher Weise der Täter bestraft wird. Es geht ja nicht nur um Schadenersatz — so wichtig das für die Familie ist —, sondern es kommt auch darauf an, was getan wird, um den Täter zu bestrafen.Schließlich muß man darauf hinweisen, daß die eigentliche Ursache des Vorgangs nicht nur im polizeilichen oder militärischen Bereich zu suchen ist. Die schlichte Wahrheit ist vielmehr, daß Millionen Menschen jenseits dieser Grenzen ein Grundrecht verweigert wird, die Freizügigkeit, das Recht, einen Staat auch zu verlassen — das ist das eigentlich politische Verbrechen; es ist ein politisches Verbrechen, das an Millionen von Menschen begangen wird —,
und daß versucht wird, dieses Verbrechen mit Waffengewalt durchzusetzen, daß auf Menschen — warum auch immer sie die Grenze überqueren — geschossen wird wie auf Wild, wie auf Tiere. Das ist der empörende Zustand, den man nicht hinnehmen kann. Jedem, der in die Tschechoslowakei, in die DDR und andere Länder des Ostblocks fährt, sagt die Bevölkerung dieser Länder immer wieder: Das ist das, was wir auf Dauer weder akzeptieren können noch akzeptieren wollen und was uns in unserer Menschenwürde beeinträchtigt. Die Menschen, die das sagen, haben recht.Ich hoffe, daß diejenigen, die uns zuhören können oder die dieser Debatte sonst folgen können, wissen, daß wir alles, aber auch alles tun werden, um die Fortsetzung dieses eigentlich politischen Verbrechens zu verhindern, dafür zu sorgen, daß es nicht mehr begangen wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Fraktion der GRÜNEN will ich an dieser Stelle zum Ausdruck bringen, daß auch wir die Erschießung von Johann Dick durch tschechoslowakische Grenzer scharf und nachdrücklich verurteilen. Ich möchte zugleich seine Witwe und die Kinder unserer aufrichtigen Anteilnahme versichern. Johann Dick wurde unter nach wie vor ungeklärten Umständen getötet, als tschechoslowakische Grenzer das Feuer auf zwei junge Polen eröffneten, die nichts und gar nichts gegen den tschechoslowakischen Staat verbrochen hatten, sondern einzig einen Weg in die Bundesrepublik suchten. Die Verfolgung und die Schüsse auf diese jungen Polen, von denen der eine, der 19jährige Majko Marek, inzwischen in der Bundesrepublik ist, der andere noch auf dem Gebiet der ČSSR verhaftet wurde, werden von uns ebenso mit aller Schärfe verurteilt. Kein Staat in der Welt hat nach unserer festen Überzeugung das Recht, Menschen mit Waffengewalt am Verlassen eines Landes zu hindern. Kein Staat hat das Recht, auf solche Menschen zu schießen, egal, ob es Bürger oder Bürgerinnen des eigenen oder eines fremden Landes sind, egal, ob dies auf dem eigenen Territorium und erst recht nicht, wenn dies auf einem anderen Territorium geschieht.
Wir GRÜNEN treten ein für ein Europa der offenen und durchlässigen Grenzen, ein Europa, in dem die Menschen frei reisen und miteinander leben können, wo immer sie wollen.
Die Rechte und Interessen der Menschen stehen für uns höher als die Ansprüche des Staates, unabhängig davon, ob es sich dabei um die Ansprüche eines bürgerlich-demokratischen Staates oder die eines sogenannten realsozialistischen Staates handelt. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl sind für uns Relikte eines Denkens, das die Belange des Nationalstaates zur absoluten Größe erklärt. Wir verurteilen die Tatsache, daß der Schießbefehl auch heute noch zur Praxis aller sozialistischen Länder an dieser Grenze quer durch Europa gehört.Nur wenige Tage nach diesem schweren Grenzzwischenfall wurde bereits wieder in derselben Gegend auf zwei Flüchtlinge aus der DDR geschossen.Wir lehnen es aber genauso ab, wenn unsere Regierung aktiv dazu beiträgt, diese Grenze, eben die da quer durch Europa, noch dichter zu machen und Menschen, die bei uns leben wollen, z. B. mit Hilfe der DDR die Aufnahme zu verweigern. Das gehört in diesem Zusammenhang heute einfach hier hin.So sehr wir die Erschießung von Johann Dick durch tschechoslowakische Grenzer verurteilen, so heuchlerisch empfinden wir doch das Verhalten der CDU und leider auch einiger andrerer Parteien, die heute in der Aktuellen Stunde Genzverletzungen der ČSSR und den Mangel an Freizügigkeit in Europa beklagen, gleichzeitig aber selbst dazu beigetragen haben, daß die Mauer in Berlin für Flüchtlinge undurchlässiger geworden ist, daß sich Bulgarien zu verschärften Visaauflagen bereitfand.
— Das gehört hier hin, meine Damen und Herren.
Wir schätzen den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung bei uns sehr hoch. Aber solche Politik schlägt den demokratischen Errungenschaften der Bundesrepublik ins Gesicht. Wir sollten stolz darauf sein, daß nicht nur Menschen aus Osteuropa, sondern auch aus allen anderen Ländern zu uns flüch-
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18132 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Fischer
ten wollen. Deshalb ist für uns dieses schmutzige Geschäft von Bürokraten in Ost- und Westeuropa um die Menschen, die bei uns politisches Asyl suchen, eine der schlimmsten Erfahrungen der letzten Tage. Man kann nicht glaubwürdig die Abschottung der Grenzen mit Waffen verurteilen, wie dies hier heute zu geschehen hat,
und gleichzeitig dazu beitragen, eben diese Grenzen noch undurchlässiger zu machen
und Menschen in Zukunft noch häufiger zu zwingen, den Weg zu uns über eben diese mörderischen Grenzsicherungsanlagen zu suchen. Dazu trägt die Bundesrepublik mit dieser Politik selber bei.
Wir würden es deshalb begrüßen, wenn auf der KSZE-Folgekonferenz in Wien die Vertreter der 35 Signatarstaaten der Helsinki-Schlußakte auch einen Schritt auf dem Weg zum Abbau der Grenzsperren tun und mithelfen würden, Europa zu einem Kontinent der durchlässigen Grenzen zu machen. Ich hoffe, daß wir das alle gemeinsam anstreben und daß wir auch gemeinsam in Wien für eine solche Politik eintreten.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herrn Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen namens der Bundesregierung den bislang ermittelten, von uns festgestellten Sachstand beschreiben und unsere Bewertung, soweit sie heute möglich ist, vortragen.Am Donnerstag, dem 18. September 1986, haben gegen 13 Uhr zwei 19jährige Polen bei Mähring versucht, die tschechoslowakische Grenze in Richtung Westen zu überschreiten. Tschechoslowakische Grenzorgane versuchten, diesen Grenzübertritt durch Schußwaffengebrauch zu verhindern. Einem der beiden Polen gelang die Flucht, der andere wurde offensichtlich von tschechoslowakischen Grenzorganen festgenommen.Am Freitag, dem 19. September wurde der Oberstleutnant a. D. Johann Dick, 1927 in Pfaffenhofen geboren, der zur Zeit der genannten Vorfälle im Grenzgebiet als Wanderer unterwegs war, von seinen Angehörigen als vermißt gemeldet. Bereits um 9 Uhr wurde sein Fahrzeug verschlossen auf einem Parkplatz bei Hermannsreuth gefunden. Weitere Nachforschungen blieben erfolglos. Wie in einem solchen Fall üblich, fragte unser örtlicher Grenzbeauftragter, ein hoher Beamter der bayerischen Grenzpolizei, bei seinem tschechoslowakischen Gegenüber an, ob Herr Dick etwa auf tschechoslowakischer Seite festgenommen worden sei. Die Antwort, eingegangen erst in den Abendstunden, lautete: Eine Besprechung sei gegen 22 Uhr möglich.Inzwischen wurde gegen 20 Uhr ein Vertreter unserer Botschaft in Prag in das tschechoslowakische Außenministerium einbestellt. Ihm wurde eine Erklärung verlesen, wonach im Zusammenhang mit dem Versuch einer illegalen Grenzüberschreitung eine unbekannte Person auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verletzt und — im Bestreben, ihr zu helfen — auf das Gebiet der Tschechoslowakei herübergetragen worden sei, wo die Person auf dem Transport in ein Krankenhaus verstorben sei. Dort habe man festgestellt, daß es sich um Johann Dick handele. Die tschechoslowakische Seite — so diese Erklärung weiter — drücke ihre Entschuldigung und ihr Bedauern aus und sichere zu, daß, falls tschechoslowakische Vorschriften verletzt worden seien, die verantwortlichen Personen zur Rechenschaft gezogen würden.An Hand derselben Erklärung wurde auch unser Grenzbeauftragter unterrichtet. Zu weiteren Erläuterungen, insbesondere zu Tatort, Tatzeit und Hergang, war sein Gegenüber nicht ermächtigt.Am Morgen des nächsten Tages, Samstag, dem 20. September 1986, wurde daraufhin der Gesandte der tschechoslowakischen Botschaft in Bonn ins Auswärtige Amt einbestellt und ihm gegenüber mit größtem Ernst und Nachdruck gegen diesen Vorfall, insbesondere den rücksichtslosen Schußwaffengebrauch an der Grenze, dem ein deutscher Staatsangehöriger zum Opfer gefallen sei, sowie gegen den völkerrechtswidrigen Übergriff tschechoslowakischer Grenzorgane auf deutsches Hoheitsgebiet protestiert. Die Bundesregierung fordere volle und rückhaltlose Aufklärung des Sachverhalts, Bestrafung der Schuldigen und umfassende Unterrichtung über das Geschehene. Sie behalte sich weitere Schritte, insbesondere Schadenersatzansprüche, vor.Ein gleichlautender Protest wurde am Nachmittag desselben Tages durch unseren Botschafter im Prager Außenministerium überbracht.In Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt wandte sich am gleichen Tag auch der deutsche Grenzbevollmächtigte mit einem Protestschreiben an sein tschechoslowakisches Gegenüber in Prag und forderte erneut volle tschechoslowakische Mitwirkung bei der Aufklärung des Sachverhalts.Am Montag, dem 22. September, hat unser Botschafter in Prag im tschechoslowakischen Außenministerium erneut protestiert. Am Nachmittag desselben Tages wurde am Grenzübergang Waidhaus der Leichnam von Herrn Dick überführt. Dabei zeigte sich, daß auf tschechoslowakischer Seite eine Obduktion durchgeführt worden war, bei der einzelne Leichenteile, die für die Rekonstruktion des Geschehens wichtig sind, entnommen und zurückbehalten waren.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18133
Staatsminister MöllemannDie Spurensicherung auf unserer Seite erbrachte Hinweise darauf, daß tschechoslowakische Grenzorgane nicht nur über die Grenze hinweggeschossen, sondern auch auf deutschem Hoheitsgebiet von ihren Schußwaffen Gebrauch gemacht hatten. Diese und weitere Fragen veranlaßten unseren Grenzbevollmächtigten zu einem weiteren Fernschreiben nach Prag, in dem er dringend die Aufklärung des Sachverhaltes anmahnte.Am Abend des 22. September kam es an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze zu einem weiteren Zwischenfall mit Schußwaffengebrauch, als Flüchtlinge aus der DDR die tschechoslowakischen Grenzanlagen überwanden. Daß hierbei tschechoslowakische Grenzorgane über die Grenze geschossen oder deutsches Hoheitsgebiet verletzt hätten, darauf gibt es nach gegenwärtigem Stand der Ermittlungen keine Hinweise.Das Bundeskabinett erörterte am 24. September 1986 die Lage an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze. Nach Vortrag durch Bundesminister Zimmermann wertete der Bundeskanzler die Vorgänge als ungewöhnlich ernst. Der zu diesem Zeitpunkt in New York weilende Bundesminister des Auswärtigen hat in seinem Gespräch mit dem tschechoslowakischen Außenminister Chnoupek diese Vorfälle mit aller Deutlichkeit und Schärfe angesprochen. Bundesaußenminister Genscher hat insbesondere mit größtem Nachdruck den rücksichtslosen Schußwaffengebrauch, der zur Tötung eines unbeteiligten Bundesbürgers geführt hat, verurteilt und gegen die schwerwiegenden Grenzverletzungen durch tschechoslowakische Grenzorgane protestiert. Er hat das Vorgehen der tschechoslowakischen Behörden bei der Obduktion der Leiche scharf kritisiert und die sofortige Übergabe der fehlenden Teile angemahnt. Er hat unverzügliche und umfassende Aufklärung über Tatort, Tatzeit, Tathergang, Namen der Verantwortlichen sowie Schadenersatz gefordert und die Herausgabe der für die Ermittlungen wichtigen Dokumente verlangt. Er hat den erneuten Schußwaffengebrauch an der Grenze zum Anlaß genommen, mit allem Nachdruck zu fordern, daß die tschechoslowakische Seite die Anweisungen an ihre Grenzbehörden in Einklang mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen und mit den Geboten gutnachbarlicher Beziehungen bringt.Außenminister Chnoupek hat Bedauern und Entschudigung der tschechoslowakischen Seite wiederholt und zugesichert, daß die Schuldigen bestraft würden.Noch vor dieser Begegnung war der tschechoslowakische Botschafter in Bonn ins Auswärtige Amt einbestellt worden, wo der Leiter der Rechtsabteilung im gleichen Sinne demarchierte. Die dabei erhobene Forderung, die tschechoslowakische Seite möge einem deutschen Gerichtsmediziner die Überprüfung der Autopsie ermöglichen, wurde am 25. September erfüllt.Am Nachmittag des 24. September bat der stellvertretende tschechoslowakische Außenminister Johanes unseren Botschafter in Prag zu sich und übermittelte ihm eine etwa dreiseitige Darstellung des Zwischenfalls aus tschechoslowakischer Sicht.Der gleiche Bericht wurde kurz darauf auf einer außerordentlichen Sitzung der Grenzbevollmächtigten beider Seiten am Grenzübergang bei Waidhaus von tschechoslowakischer Seite verlesen. Eine gemeinsame Ortsbesichtigung, um die unser Grenzbeauftragter gebeten hatte, kam nicht zustande.Die tschechoslowakische Darstellung wird zur Zeit an Hand unserer Ermittlungsergebnisse überprüft. Ich darf an dieser Stelle einfügen, daß selbstverständlich die zuständigen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden mit der Angelegenheit befaßt sind.Die offizielle tschechoslowakische Darstellung des Vorfalls bestätigt, daß tschechoslowakische Grenzorgane deutsches Hoheitsgebiet betreten haben — angeblich in der Absicht, Dick zu helfen — und auf deutschem Hoheitsgebiet von ihren Schußwaffen Gebrauch gemacht haben — angeblich in der Absicht, ihren Vorschriften entsprechend Hilfe herbeizurufen. Mit keinem Wort wird behauptet, Dick sei an der Flucht der beiden Polen in irgendeiner Weise beteiligt gewesen.Aus dem soeben zitierten Gespräch unseres Botschafters in Prag mit Vizeaußenminister Johanes möchte ich noch festhalten, daß die tschechoslowakische Seite zugesichert hat, sie übernehme die volle Verantwortung für den Zwischenfall, was in späteren amtlichen Äußerungen als Bereitschaft zu Schadenersatz präzisiert wurde.Da auch nach diesem Gespräch wichtige Tatfragen offenblieben und auf dem Weg über die Grenzbeauftragten und Bevollmächtigten eine Klärung nicht herbeizuführen war, hat unsere Delegation in New York der tschechoslowakischen Delegation eine Punktation unserer Petita zukommen lassen, die die Forderung enthielt, den Zwischenfall durch eine gemeinsame gemischte Kommission unter Beteiligung der Grenzbeauftragten klären zu lassen. Die tschechoslowakische Antwort auf diese Punktation hat am 29. September der tschechische Botschafter in Bonn wie folgt zusammengefaßt:Erstens. Die tschechoslowakische Regierung bekräftige, was sie bereits auf verschiedenen Ebenen geäußert habe: Bedauern, Entschuldigung, Übernahme der Verantwortung für den Vorfall einschließlich der Verpflichtung, die entstandenen Schäden zu decken.Zweitens. In Einklang mit tschechoslowakischer Rechtsordnung würden strafrechtliche Konsequenzen gegen die Verantwortlichen gezogen.Drittens. Deutsche Gerichtsmediziner seien über die Obduktion ausführlich unterrichtet.Viertens. Der deutsche Grenzbeauftragte sei über den Vorfall eingehend informiert, insbesondere auch über die für die tschechoslowakischen Grenztruppen bestehenden Befehle, die ein striktes Verbot des Grenzübertritts und des Schießens über die Grenze beinhalteten.Fünftens. Seit Jahrzehnten herrsche Ruhe an der Grenze. Ein unglücklicher Vorfall rechtfertige nicht die Schlußfolgerung, die Tschechoslowakei würde ihre internationalen Verpflichtungen mißachten.
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18134 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Staatsminister MöllemannSechstens. Die von deutschen Justizbehörden gewünschte technische Aufklärung werde zügig bearbeitet und den kompetenten Stellen übermittelt.Siebentens. Die tschechoslowakische Regierung unterstreiche ihr Interesse an guter Weiterentwicklung der Beziehungen.Bei einem weiteren Gespräch unseres Botschafters in Prag im tschechoslowakischen Außenministerium am 30. September 1986 wurde auch der Kommissionsgedanke positiv aufgegriffen. Die tschechoslowakische Seite schlägt eine Expertengruppe unter Leitung der beiderseitigen Grenzbevollmächtigten und unter Hinzuziehung von Vertretern der Innen- und Justizbehörden vor. Sie könnte nach tschechoslowakischer Vorstellung noch in dieser Woche zusammentreten. Der tschechische Botschafter erklärte am 1. Oktober im Auswärtigen Amt zusätzlich, die tschechische Seite sei zur Übergabe der fehlenden Leichenteile bereit.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung bedauert zutiefst, daß Oberstleutnant a. D. Johann Dick diesem Grenzzwischenfall zum Opfer gefallen ist; der Bundesminister des Auswärtigen hat den Angehörigen seine Betroffenheit und seine herzliche Anteilnahme ausgesprochen.Eine Bewertung des Zwischenfalls in tatsächlicher Hinsicht ist auf Grund unserer eigenen Ermittlungsergebnisse noch nicht möglich. Die tschechoslowakische Seite schuldet weiterhin wesentliche Elemente zu seiner Aufklärung. Diese Elemente sind ihr genannt worden.Politisch gesehen ist der Zwischenfall, wie der Herr Bundeskanzler im Kabinett festgestellt hat, ungewöhnlich ernst. Es ist der schwerwiegendste Zwischenfall nach über zehn Jahren insgesamt ruhiger und relativ entspannter Lage an der deutschtschechischen Grenze. Die Bundesregierung hat diese Einschätzung der tschechischen Seite wiederholt mit allem Nachdruck zur Kenntnis gebracht. Andererseits verfügt die Bundesregierung über keine Indizien, daß die kürzlichen Zwischenfälle durch Änderung der tschechischen Vorschriften über den Schußwaffengebrauch an der Grenze herbeigeführt wurden. Jedoch zeigen diese Fälle wie auch andere Fälle an der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze, daß die genannten Vorschriften und das Verhalten der Grenzorgane weder den internationalen Verpflichtungen der Tschechoslowakei noch den Geboten guter Nachbarschaft entsprechen. Auch dies haben wir der tschechischen Seite wiederholt deutlich gemacht. Wir haben damit die Forderung verbunden, hier Abhilfe zu schaffen. Dies ist auch die Forderung, die hier im ganzen Haus unterstützt wird. Darauf wird deswegen künftig unser Hauptaugenmerk gerichtet sein.Auf Grund der geführten Gespräche, insbesondere des Treffens der Außenminister am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York, ist die Bundesregierung der Überzeugung, daß die tschechoslowakische Führung den Vorfall bei Mähring aufrichtig bedauert und seine Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen begrenzen möchte. Sie ist offenkundig bereit, für die Folgen einzustehen, und am weiteren Ausbau der bilateralen Beziehungen in Richtung auf ein gutnachbarliches Verhältnis — das haben wir heute noch nicht — interessiert. Das ist auch unser Wille. Unser Wille ist es auch, dafür zu sorgen, das Unsere zu tun, daß die Grenze ihren schrecklichen Charakter verliert.Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich sagen, daß sich die Bundesregierung eine abschließende Bewertung ebenso vorbehält wie eine abschließende Entscheidung in der Frage, ob es noch Konsequenzen zu ziehen gibt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Unsere Aktuellen Stunden zeichnen sich dadurch aus — und dies soll keineswegs ein negatives und zu kritisches Urteil sein —, daß die Opposition meint, die Regierung zur Ordnung rufen zu müssen, und daß zum anderen die Regierungsparteien die Opposition von Fall zu Fall daran erinnern möchten, in welchem Widerspruch zueinander große Worte und die wahren Fakten stehen.Die heutige Aktuelle Stunde ist anders angelegt — darin dürften, so meine ich, alle Parteien einer Meinung sein —: Es ist eine Stunde der Trauer um den Tod eines Mitbürgers und eine Stunde unserer gemeinsamen Betroffenheit, aber auch eine Stunde der Empörung über eine Tat der Unmenschlichkeit, eine Stunde der Kenntnisnahme einer menschenverachtenden Nachbarschaft.Auch darin dürfte — sollte — Einmütigkeit vorherrschen: Wir verlangen die restlose Aufklärung und die Bestrafung der Schuldigen durch die Verantwortlichen in der Tschechoslowakei. Dazu haben wir j a eben letzte Informationen durch Herrn Staatsminister Möllemann erhalten.Wenn zugleich auch an die Wiedergutmachung erinnert wird, dann mit der Einschränkung, daß wir aus eigener bitterer Erfahrung wissen: Eine wirkliche Wiedergutmachung für das gewaltsam ausgelöschte Leben kann es gar nicht geben.Daß während dieser Aktuellen Stunde nun auch die Asylgewährung in die Diskussion eingeführt worden ist, ist dem Ernst dieser Stunde auf keinen Fall angemessen.
Der Hergang des Geschehens ist immer noch nicht geklärt, auch nicht nach Vorlage des soeben veröffentlichten offiziellen Berichts der tschechoslowakischen Grenztruppen, wie er heute in einer Tageszeitung nachzulesen ist, aber einige grausame Tatsachen stehen fest: Zwei Polen nutzen die Möglichkeit, daß die kommunistisch beherrschte Tschechoslowakei an die freie Bundesrepublik Deutschland grenzt, zur Flucht und werden bei diesem
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18135
Dr. HupkaVorhaben aufgespürt. Gleichzeitig stirbt der Deutsche Johannes Dick, 59 Jahre alt, ein pensionierter Oberstleutnant der Bundeswehr, in Amberg zu Hause, an jenem 18. September 1986 im Kreis Tirschenreuth zum Spaziergang aufgebrochen.Er wurde auf deutschem Boden von tschechoslowakischen Grenzsoldaten erschossen. Die Häscher wollen angenommen haben, in ihm den gesuchten und gejagten Flüchtling entdeckt und gefunden zu haben, weshalb es dann entsprechend einer — uns bis zur Stunde nicht bekannten — Instruktion nach kommunistischer Staatsräson die Pflicht gewesen sein soll, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Der Sachverhalt erschiene keineswegs in einem besseren Licht, wenn angenommen werden müßte, daß die Schüsse vom Boden der Tschechoslowakei aus den deutschen Spaziergänger getroffen haben.Aber nicht nur die Ausführung des Befehls, auf Flüchtlinge oder als Flüchtling Verdächtigte — von Prag offiziell „Grenzverletzer" genannt — gleich zu schießen, ist anzuklagen, sondern auch das weitere Verhalten dieser tschechoslowakischen Grenzsoldaten: Das noch lebende Opfer wird von deutschem Boden auf tschechoslowakisches Territorium verschleppt und in das Krankenhaus des nahegelegenen Städtchens Tachau, das bis 1945 nahezu 8000 deutsche Einwohner gezählt hat, transportiert. Auf diesem Transport sei Johannes Dick dann gestorben. Später wird die Leiche obduziert, und als sie endlich an die Bundesrepublik Deutschland übergeben wird, fehlen einige Körperteile.Warum hat man die Leiche überhaupt obduziert? Warum hat man, nachdem es sich doch um einen Deutschen gehandelt hat, keinen deutschen Zeugen hinzugezogen? Warum hat man sich derartig unmenschlich gegenüber der Leiche verhalten? Wer wollte was verdecken? Was soll nicht offenkundig werden?
Die Bundesregierung hat wiederholt demarchiert, in Bonn, in Prag, bei den Begegnungen in Waidhaus und in New York. Aber das alles ist zu wenig und trägt keineswegs zur Erhellung des ganzen Vorgangs und zur Verurteilung des Mordes an einem Deutschen durch tschechoslowakische Grenzsoldaten bei. In der Tschechoslowakei ist all das, was soeben skizzenhaft dargestellt worden ist, unbekannt geblieben. Von Schuld und Sühne ist in den offiziellen Äußerungen der Mächtigen und der ausführenden Organe mit keinem Wort die Rede. Es liegt Methode darin, Menschen, die keinen anderen Ausweg als den der Flucht sehen, wollen sie endlich in Freiheit gelangen, wie räudige Hunde, wie wilde Tiere — der Kollege Hirsch hat daran erinnert — zu jagen und gegebenenfalls auch zu erschießen. Wieder einmal wird uns allen bewußt, daß wir an der Trennungslinie zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen der freien Welt und dem sowjetischen Imperialismus leben.Auch und gerade gegenüber unseren östlichen Nachbarn, den Tschechen und Polen, suchen wir eine ebenso gute Nachbarschaft, wie wir sie bereits zu unseren Nachbarn im Norden, im Westen und im Süden pflegen. Mit guter Nachbarschaft hat all das, was wir angesichts des Todes von Johannes Dick zu beklagen haben, aber nichts gemein, und wir erheben Anklage. Der Satz ist richtig: „Solange an Grenzen gemordet wird, kann es keine gutnachbarlichen Beziehungen geben."
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mähring, Treppenstein, das sind idyllische Orte in unserem Wahlkreis — der Kollege Dr. Kunz von der CSU und ich vertreten ihn hier —, im Landkreis Tirschenreuth, und wer dort seine Ferien verbringt, erlebt normalerweise das, was man eine entspannte und eine ruhige Grenze nennt. Viele Urlauber, auch viele Einheimische, halten sich dort auf. Im Winter muß man immer wieder die Skifahrer, die Langlauffahrer, daran erinnern, daß sie sich an der Grenze zwischen Ost und West bewegen, weil eben der Grenzaufbau dort so ist, daß man den Drahtverhau und den Stacheldraht, der 1 km im Land drin ist, normalerweise nicht sieht und unter normalen Umständen den Eindruck bekommen könnte, als handle es sich hier um eine völlig ungefährliche Grenze. Es ist im Laufe der Jahre auch gelungen, insbesondere im Zuge des deutsch-tschechoslowakischen Vertrages, hier eine Entspannung an der Grenze herbeizuführen. Nicht ohne Grund ist noch vor Wochen — im Verhältnis etwa zur österreichisch-tschechoslowakischen Grenze — die deutsch-tschechoslowakische Grenze als vorbildlich dargestellt worden. Um so schlimmer ist es, daß durch die Kugeln, die Johann Dick getroffen haben, das Vertrauen in diese entspannte Grenze nachhaltig erschüttert worden ist.Unsere Konsequenz, die wir daraus ziehen, kann aber nicht sein, jetzt eine sich entwickelnde Beziehung verbal oder auch durch Rückfall in alte Positionen zu belasten, sondern muß sein, die Bereitschaft der tschechoslowakischen Regierung ernst zu nehmen, die Schuldigen zu bestrafen, den Sachverhalt aufzuklären, und alles zu nutzen, damit fürderhin unsere Leute dort in Ruhe und ohne Gefährdung leben können. Das ist das Entscheidende.Insofern ist es wichtig, daß es zu der gemeinsamen Kommission kommt, die die Sachverhaltsaufklärung betreibt, weil wir daraus dann ersehen werden, welche Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit nicht irgendwelche Soldaten in rechtswidriger Art und Weise handeln, weil sie ihre Grenzen nicht mehr kennen. Das ist das Entscheidende. Der tschechoslowakische Botschafter hat ja gestern noch deutlich gemacht, daß die Bereitschaft zur Bildung dieser gemeinsamen Kommission da ist.Herr Staatsminister, es ist auch notwendig, daß wir die Überlegungen zum deutsch-tschechoslowakischen Grenzvertrag wieder beleben. Diese Verhandlungen sind j a lange Zeit geführt und dann wegen der Berlin-Problematik etwas auf Eis gelegt worden. Wenn es aber jetzt gelingt, etwa im Zuge
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Stieglerder Umweltabkommen, zu einer einvernehmlichen Regelung auch über die Berlin-Fragen zu kommen, sollte man die Grenzvertragsregelung wieder aufgreifen, um auch mit der anderen Seite einen Anlaß zu haben, über das Grenzregime zu sprechen.Wir haben bisher keinen Grund, darüber zu klagen, daß die normale Arbeit zwischen den Grenzbeauftragten nicht geklappt hat. Sie hat in diesem schwerwiegenden Falle nicht so funktioniert, wie sie funktionieren sollte. Wir legen Wert darauf, daß man hier eine gemeinsame fact finding commission einrichtet, daß man den Sachverhalt beiderseitig klärt, daß man auch für die Zukunft eine ständige Inzidentkommission schafft, eine Kommission, die bei jedem Zwischenfall sofort zusammentrifft, eine Kommission, in der man eben ständig miteinander redet, um das Grenzregime, das auf beiden Seiten vorhanden ist, auf der anderen Seite mit dem Schießbefehl, was eine mögliche schwere Belastung der Beziehungen darstellt, zu erörtern.Wir müssen bei aller Forderung, die Vergangenheit aufzuklären, die Schuldigen zu bestrafen, in die Zukunft blicken. Wir wollen gerade als Einwohner an dieser Grenze eine ruhige und entspannte Grenze. Diese können wir nur mit einer vernünftigen, sehr konsequenten Zusammenarbeit, die auch unsere Interessen klar zum Ausdruck bringt, erreichen. Das ist unser Ziel, und damit dienen wir auch der guten Nachbarschaft, die wir auf allen Seiten wollen und die, wie die Tschechoslowakei erklärt, auch die ČSSR will.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kunz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann den Auffassungen meines Kollegen Ludwig Stiegler in ihrer milden und anpasserischen Art nicht beipflichten.
Ein Fernschuß der tschechoslowakischen Grenzer hat im Landkreis Tirschenreuth am Donnerstag, dem 18. September, den ahnungslosen Wanderer Hans Dick niedergestreckt. Zu dieser Zeit wußte auf deutscher Seite noch niemand von der schrecklichen Tat. Als sich die Einzelheiten herauskristallisierten und sich die Befürchtung vom Tode des Hans Dick zum Faktum verdichtete, ging die Nachricht mit Windeseile durch den Landkreis Tirschenreuth.Seit 1969 ist dies der am schwersten wiegende Zwischenfall an der Grenze zur ČSSR. Die Bevölkerung ist aufgewühlt und verunsichert. Sie ist tief beunruhigt und fühlt sich solchen Fernschüssen gegenüber hilflos. Es sind friedliche Menschen, deren Familien seit vielen Generationen dort leben. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, zumeist als Waldarbeiter und als Bauern. Sie erwirtschaften auf kargem Boden und auf den meist kleinen Höfen bei rauhem Klima mühsam dürftige Erträge.Deshalb wird jede Gelegenheit wahrgenommen, das Einkommen aufzubessern. Auf den Fremdenverkehr setzt man große Hoffnungen. Der Urlauber kann in den ausgedehnten Wäldern auf einsamen Forstwegen die herbe Schönheit dieser Landschaft genießen. Die Ruhe und die Einsamkeit ziehen die Menschen von weit her an. Gern suchen die Feriengäste Waldbeeren und Pilze. Die Einheimischen betrachten die Waldfrüchte als willkommenen Zuerwerb.Auf deutscher Seite ist die Grenze deutlich markiert. Der elektrische Grenzzaun auf tschechoslowakischer Seite verläuft meist unsichtbar mehrere hundert Meter tief im Hinterland. Zwar bemerkt man die Streifen der tschechoslowakischen Grenzwache, aber einen Kontakt mit ihnen gibt es nicht. Die Bevölkerung beklagt die Undurchlässigkeit der Grenze seit 1945. Aber man hat sich an die Kontaktlosigkeit gewöhnt und hat sich damit abgefunden.Die Menschen leben an der Grenze und mit der Grenze. Sie gingen ihrer Arbeit nach und vertrauten arglos auf die trügerische Ruhe, bis plötzlich die tödlichen Schüsse auf Hans Dick die vermeintliche Idylle zerrissen.Die Bevölkerung ist aufgeschreckt. Ratlos fragt der Landwirt, wie er künftig seinen Acker bestellen soll, an dessen Ende die Landesgrenze verläuft. Da genügt es nicht, zu sagen, die Menschen sollten nicht mehr an die Grenze gehen. Die friedlichen Wanderer fühlen sich auf Grund der Schüsse mit dem Tode bedroht, und der harmlose Beerensammler und Pilzsucher muß sich auf deutschem Hoheitsgebiet auf Schritt und Tritt von tschechoslowakischen Grenzsoldaten durch Ferngläser beobachtet und gefährdet fühlen.Nein, das kann und das darf nicht als Normalität im Verhältnis zwischen zwei zivilisierten Nachbarländern betrachtet werden. Es ist eine Schande, daß solches im Herzen Europas geschehen ist.
Die Familie Dick hat ihren Vater, die Gattin völlig sinnloserweise ihren Mann verloren. Ich bekunde der Familie Dick unsere aufrichtige Anteilnahme.Eine formale Entschuldigung der tschechoslowakischen Regierung genügt hier nicht. Sie kann für die Zusicherung, daß solches nicht wieder geschehen werde, nur dann Glaubwürdigkeit in Anspruch nehmen, wenn sie den tatsächlichen Verlauf des Vorfalles ehrlich und wahrheitsgetreu darlegt und nicht nur das einzugestehen bereit ist, was die deutsche Seite ihr nachweist. Das schüfe kein Vertrauen. Schließlich muß sie um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen bereit sein, einen angemessenen Schadenausgleich an die Familie und insbesondere an die zur Witwe gewordene Gattin des Offiziers Hans Dick zu zahlen. Die zuständigen Ministerien des Bundes sind aufgerufen, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Mögliche für die Familie Dick zu erreichen.
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Dr. Kunz
Zum Schluß fordere ich die tschechoslowakische Regierung eindringlich auf, ihren Anteil dazu beizutragen, daß diese schreckliche Tat am markierten geographischen Mittelpunkt Europas, dem Symbol einer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit, nicht zum Menetekel für das künftige Verhältnis zwischen den beiden Nachbarstaaten wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Sieler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der tragische Zwischenfall am 18. September an der deutschtschechoslowakischen Grenze, der hier zur Diskussion steht, ist meines Erachtens für verbale politische Rundumschläge nicht geeignet. Das Verhalten der anderen Seite, meine Damen und Herren, läßt j a offensichtlich erkennen, wie ratlos und unsicher man zum Teil ist. Es läßt auch Betroffenheit erkennen.
Es ist ja schlimm genug, wenn Menschen am Eisernen Vorhang Leben und Gesundheit deswegen verlieren, weil sie in dem Staat und in der Gesellschaftsform, in die sie hineingeboren wurden, nicht leben und nicht bleiben wollen. Genauso grausam ist es, wenn dabei Menschen ihr Leben lassen müssen, die völlig unbeteiligt und friedlich auf unserem Staatsgebiet leben und der Fluchtverhinderungsmaschine der anderen Seite begegnen.
Wir verurteilen entschieden jede Gefährdung menschlichen Lebens durch den Einsatz von Schußwaffen an unserer Grenze. Es wäre aber ebenso töricht, meine Damen und Herren, zu glauben, mit verbalen Kraftsprüchen oder gar Drohungen diesen Zustand an unseren östlichen Grenzen, den wir ja alle beklagen, ändern zu können.
Oberstleutnant a. D. Johann Dick ist das tragische Opfer dieser Trennungslinie zwischen Ost und West. Er wird auch dadurch nicht wieder lebendig, daß der „Bayernkurier" und andere versuchen, diesen Fall zum Wahlkampfthema bei uns in Bayern, vor allem in der Oberpfalz zu machen.
Wir Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, bedauern zutiefst den Tod dieses Menschen. Johann Dick, den ich als Standortältesten in meiner Heimatstadt Amberg kennen- und schätzengelernt habe, war ein guter Soldat und ein Demokrat. Für ihn war das Soldatsein der Pflichtbeitrag für eine wehrhafte Demokratie, für eine Demokratie, die fähig und willens ist, sich gegen jeden Angriff zu verteidigen. Er verstand seine Aufgabe als Friedensdienst.
Wenn wir seinen Vorstellungen und denen seiner Angehörigen politisch gerecht werden wollen, meine Damen und Herren, wenn wir es ernst meinen mit dem Frieden, dann sollten wir beharrlich weiter an konkreten Entspannungs- und Abrüstungsschritten arbeiten, bis schließlich diese unmenschliche Grenze verschwindet und überflüssig wird.
Johann Dick wäre — davon bin ich fest überzeugt —, sosehr uns sein Tod heute berührt und sosehr er seinen Angehörigen tiefe Schmerzen bereitet hat, nicht vergeblich gestorben.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Zeit des Bemühens, die gegenseitigen Beziehungen zwischen Ost und West auf eine neue Grundlage zu stellen, beleuchtet der Vorfall vom 18. September barbarische Praktiken, die nach Auffassung kultivierter Menschen der Vergangenheit angehören und, meine sehr geehrten Damen und Herren, die der Vergangenheit angehören müssen.Eine Grenze ist für uns kein Anlaß, Menschen zu töten.
Es ist nicht „im Sinne des Gesetzes" und kein „logisches Vorgehen, besonders in Zeiten internationaler Spannungen einen Menschen zu erschießen", wie tschechische Behörden noch behauptet haben, als im Jahre 1984, vor knapp zwei Jahren, ein Flüchtling verfolgt und auf österreichischem Boden erschossen wurde.Wer Vorfälle dieser Art nicht unterbinden kann, verliert für uns an Glaubwürdigkeit bezüglich seiner Fähigkeit und Bereitschaft, zu einem friedlichen Nebeneinander der Völker und Staaten in Europa beizutragen. Wir haben aus der Grenze zur ČSSR eine friedliche Grenze gemacht. Ich bin dem Kollegen Stiegler dankbar, daß er darauf hingewiesen hat. Wir halten nichts davon — da muß ich etwas zum Kollegen Wernitz sagen —, einen Großteil unseres Bruttosozialprodukts dafür einzusetzen, daß Grenzen gesperrt werden, daß man Schießbefehle ausführt.
Wir haben uns bemüht, trotz der immer wieder beschworenen Unterschiede in den wirtschaftlichen Systemen, keinen eisernen Vorhang aus dieser Grenze werden zu lassen. Das setzt aber auch ein Mindestmaß von Bereitschaft auf tschechischer Seite voraus, dies zu respektieren.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich versuche jetzt einmal, mir folgendes vorzustellen: Ein Trupp des BGS wäre auf tschechisches Gebiet vorgedrungen, hätte dort einen Tschechen erschossen, hätte ihn anschließend auf deutsches Gebiet geschleppt, um ihn dann dort, nachdem man festgestellt hat, daß er verstorben sei, sezieren zu lassen;
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Lowackman weigert sich 31 Stunden lang, die tschechische Seite in irgendeiner Form zu informieren und gibt dann die Leiche zurück, nachdem man die wichtigsten Teile, die zur Aufklärung des Tathergangs beitragen könnten, entfernt hat. — Ich versuche, mir das einmal vorzustellen, damit uns klar wird, was hier passiert ist und wie gemäßigt die Deutschen und auch die deutsche Öffentlichkeit auf diesen Vorfall reagiert haben. Man kann uns nicht Scharfmacherei vorwerfen oder vorhalten. daß man versucht hätte, den Vorfall in irgendeiner Art und Weise wahltaktisch auszunutzen.Was wäre los? Ich frage die Vertreter der GRÜNEN: Was würden Sie sagen? Ihre Forderung, daß man den Bundesgrenzschutz und die Bereitschaftspolizei abschaffen sollte, bekommt doch auf diesem Hintergrund eine besonders makabre Note.
Der BGS schützt — und erschießt nicht. Das ist der Unterschied.
Ich bin davon überzeugt, daß wir mit Drohungen und Forderungen, nicht nur nach einer Bestrafung der Schuldigen, überhäuft würden. Man würde möglicherweise Alarmbereitschaft mit allem, was dazugehört, inszeniert haben.Ich bin der Auffassung, daß das Völkerrecht nicht mit zweierlei Maß gemessen werden darf. Mord bleibt Mord. Wer auf wehrlose Menschen schießt, muß wissen, daß er sich nach jeder Rechtsordnung strafbar macht.Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbst wenn zutreffen sollte, was teilweise vermutet wird, daß mit Vorfällen dieser Art, auf Flüchtlinge zu schießen — in diesem Zusammenhang wird j a diese Diskussion oft gesehen —, ein Exempel statuiert werden soll, um andere davon abzuhalten, über diese Grenze zu kommen, müssen wir in aller Klarheit verlangen, daß zur Aufklärung der Sachverhalte beigetragen wird. Es ist unglaublich, daß die tschechische Seite die entscheidenden Leichenteile, die zur Aufklärung beitragen, bis heute zurückbehält. Da kann man soviel versprechen, wie man will: Hier zeigt sich, daß man eben nicht daran interessiert war, daß wir sehr schnell zur Sache entscheidend Stellung nehmen können. Ich halte es für lächerlich, wenn gesagt wird, man habe in die Luft geschossen, um einen anderen herbeizuholen, nachdem festgestellt wurde, daß auf deutscher Seite Magazin und Patronen gefunden wurden.Wir verlangen die Bestrafung des oder der schießwütigen Schützen ebenso wie der Schuldigen, die entsprechende Anordnungen erteilt haben oder — wie wir wissen — teilweise Prämien ausgesetzt haben für diejenigen, die Flüchtlinge treffen und erschießen. Wir fordern die Prager Regierung auf, offiziell zu erklären, daß per Dienstanweisung verboten wird, die Grenze zu überschreiten oder über die Grenze zu schießen.Sehr verehrter Kollege Sieler, es geht nicht darum, daß die andere Seite ratlos und unsicher ist, sondern es geht darum, daß sie klare Anweisungen erläßt, daß derartige Vorfälle in Zukunft ausgeschlossen werden. Hierauf haben wir Anspruch.
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grenzverletzung und der Tod von Johann Dick werden von allen Fraktionen dieses Hauses verurteilt. Wir stimmen in der politischen Beurteilung dieses Vorgangs überein. Ich denke, wir wollen uns nicht in einen Wettbewerb einlassen, wer das mit den schärfsten Worten tut. Ich glaube, daß der Kollege Stiegler es nicht verdient hat, daß das, was er hier gesagt hat, als anpasserisch bezeichnet wird. Er hat sich bemüht, es so darzustellen, wie es war und die Sorgen der Menschen, die in der Nähe der Grenze leben, hier zum Ausdruck zu bringen.
Herr Staatsminister Möllemann hat uns mitgeteilt, daß der genaue Tathergang immer noch nicht genau bekannt ist. Aus diesem Grunde können wir hier nichts anderes tun, als die dringende Aufforderung an die Regierung in Prag zu richten, mit mehr Nachdruck als bisher, mit mehr gutem Willen als bisher an der vollständigen Aufklärung dieses Vorgangs mitzuwirken und die Forderungen, die hier von allen Fraktionen des Hauses erhoben worden sind, zu erfüllen. Wenn es mit dem Willen zu gutnachbarlichen Beziehungen wirklich ernst gemeint sein sollte, dann muß es bewiesen werden.
Es muß durch äußerste Kooperation bewiesen werden.Ich sehe wohl, daß sich die Regierung der Tschechoslowakei erkennbar um eine politische Schadensbegrenzung bemüht hat. Das lag ja auch in ihrem eigenen Interesse. Wir müssen aber feststellen, daß der menschliche Schaden, der eingetreten ist, durch solche Bemühungen nicht wiedergutgemacht werden kann: Ein Mensch ist gestorben; das ist nicht ungeschehen und durch alle politischen Bemühungen nicht wiedergutzumachen. Wenn überhaupt politische Bemühungen einen Sinn haben, dann den, zu verhindern, daß so etwas in Zukunft noch einmal geschehen kann.
Ich möchte für die sozialdemokratische Fraktion sehr eindeutig feststellen, daß die Führung der ČSSR von der politischen Verantwortung für das, was am 18. September an der Grenze geschehen ist, nicht freigesprochen werden kann und nicht freigesprochen werden wird. Dieser Tod an der Grenze ist in einer Zeit geschehen, als wir in Europa über Vertrauensbildung gesprochen und uns gefreut haben, daß wir in der Politik der Zusammenarbeit und
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Verheugender Vertrauensbildung ein Stück weitergekommen sind. Um so enttäuschender ist das, was an diesem Tag geschehen ist: in Stockholm ein Papier über Vertrauensbildung zu unterzeichnen und gleichzeitig ein Grenzregime zuzulassen, das Menschen, die mit den politischen Auseinandersetzungen dort nichts zu tun haben, in Lebensgefahr bringt, in diesem Falle umbringt. Das ist eine Enttäuschung und kann uns eigentlich nur dazu bringen zu sagen: Wir müssen unsere Politik mit noch mehr Konsequenz, mit noch mehr Ernsthaftigkeit fortsetzen.In dieser Zeit der multilateralen Konferenzen, der Gipfeltreffen, der intensiven bilateralen Diplomatie, in einer Zeit, in der uns die Köpfe schwirren von Begriffen wir KSZE, MBFR, KVAE und die Menschen bei uns gar nicht mehr wissen, um was es eigentlich geht, hat dieser Tag, dieser 18. September, klargemacht, was eigentlich das Ziel unserer Politik ist. Er hat deutlich gemacht, daß es um Menschen geht, daß wir die Lebenssituation von Menschen in Europa verbessern wollen. Wenn eine politische Konsequenz auch aus dieser Debatte heute zu ziehen ist, dann lautet sie für mich so, daß wir den Weg zu einer europäischen Friedensordnung mit aller Entschiedenheit weitergehen müssen. Wir wissen, daß dies ein weiter und schwerer Weg ist. Wir wissen auch, wie lange es gedauert hat, um vom Eisernen Vorhang zu dem Zustand zu kommen, den wir heute haben. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um mit der Regierung der Tschechoslowakei in Verhandlungen zu treten und in diesen Verhandlungen zu erreichen, daß die Regeln, die für die tschechoslowakischen Grenztruppen gelten, so verändert werden, daß unseren Bürgern in diesem Grenzgebiet in Zukunft keine Gefahr mehr droht.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hoffmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deutsch-tschechoslowakische Verhältnis ist leider vielfältig belastet. Um die Verbesserung dieses nachbarlichen Zusammenlebens bemühen wir uns sehr, kommen aber nur langsam voran. Ereignisse wie der schreckliche Tod von Johann Dick werfen uns um Jahre zurück.
Bei unseren Bemühungen werden wir immer wieder an etwas erinnert, das bei allem Sinn für das praktisch Mögliche niemals vergessen werden sollte: Die Tschechoslowakei ist ein Land, in dem die Menschenrechte systematisch und umfassend verletzt werden.
Millionen Menschen leiden dort darunter, daß sie ganz klar entgegen dem von der Tschechoslowakei ratifizierten Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte ihre Meinung nicht frei äußern oder ihre Religion nicht frei praktizieren dürfen. Sehr viele vollkommen gewaltlose, rein politische Gefangene leiden oft unter brutalsten Bedingungen in Arbeitslagern. Nicht wenige werden auf Grund dieser unglaublich harten Haftbedingungen krank oder sterben. Prags Schießbefehl ist wie auch der in der DDR ein weiteres Zeichen dieser Menschenverachtung. Der tragische Tod von Johann Dick geschah sicherlich nicht absichtsvoll. Er ist jedoch sehr wohl Zeichen für die dortigen Verletzungen der Menschenrechte.
Menschenrechtsverachtende Teile des tschechoslowakischen Volkes treten, wie an diesem Fall besonders deutlich wird, internationales Recht leider immer wieder zynisch und arrogant mit Füßen. Millionen Menschen werden in der Tschechoslowakei völkerrechtswidrig unterdrückt.
Wenn wir ein friedliches Europa haben wollen, wenn wir in einem friedlichen Europa leben wollen, ist es dringend erforderlich, daß wir trotz der Teilung in zwei politisch gegensätzliche Blöcke offen miteinander sprechen, daß wir uns bemühen, von dem Nebeneinander zu einem erträglichen Miteinander zu kommen. Schwelende Probleme — unausgesprochen — machen dieses nachbarschaftliche Verhältnis unerträglich. Mühsame Anstrengungen werden dadurch torpediert.
Deshalb sollten wir Parlamentarier mit Nachdruck die Proteste der Bundesregierung unterstreichen. Auch wir sollten eine rasche und rückhaltlose Aufklärung des Vorfalls, Bestrafung der Schuldigen, vollständige Unterrichtung sowie Überprüfung der Vorschriften über Schußwaffengebrauch fordern.
Entgegen eindeutigen völkerrechtlichen Verpflichtungen wurden in der Tschechoslowakei das Menschenrecht auf Freizügigkeit, das Menschenrecht auf Leben und das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzt.
Diese tschechoslowakischen Menschenrechtsverletzungen sind leider keineswegs zum erstenmal mit dem Tod von Johann Dick auf deutschem Staatsgebiet geschehen. Grenzverletzungen sind deshalb weitere Verstöße gegen das Völkerrecht.
Ein Volk, dessen Freiheitssehnsucht im „Prager Frühling" für nur so kurze Zeit aufblühen durfte, darf nicht zum Haß und zur tödlichen Abgrenzung von seinen Nachbarn gezwungen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier ist heute morgen von der tiefen Betroffenheit, die uns alle erfüllt, die Rede gewesen. Hier ist von Protest und auch von der Bereitschaft der tschechoslowakischen Regierung, sich zu entschuldigen und Schadensersatz zu leisten, die Rede gewesen. Ich brauche über den Begriff „Schadensersatz" im Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen nach dem, was heute gesagt worden ist, kein Wort mehr zu verlieren.Aber eines müßte der Regierung der Tschechoslowakei heute von diesem Platz aus gesagt werden: Jede Bereitschaft, sich zu entschuldigen, jede Be-
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Ronneburgerreitschaft, in einem solchen Fall Schadensersatz zu leisten, wird nur dann glaubwürdig werden, wenn wir gleichzeitig die Mitteilung erhalten, daß der Schießbefehl an der Grenze aufgehoben worden ist.
Es geht hier nicht nur um die Rechte von Menschen, es geht auch um die Einhaltung von Verträgen. Ich erinnere an den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, in dem festgelegt ist, daß jeder Mensch auf dieser Welt jederzeit das Recht hat, jeden Staat einschließlich seines eigenen zu verlassen und auch — wenn er es will — in ihn zurückzukehren ohne Gefährdung seiner Person und ohne Lebensgefahr, wie es heute ist.Wenn ich denn diese Forderung nach Aufhebung des Schießbefehls erhebe, meine Damen und Herren, dann kann sie sich heute im Deutschen Bundestag nicht nur an die Regierung der Tschechoslowakei richten, sondern muß sich an jede Regierung richten, von der ein solcher Befehl noch aufrechterhalten wird und bis heute nicht zurückgenommen ist.
Auch an der Grenze zur DDR wird bis heute noch geschossen.Auch dies muß eine Konsequenz aus diesem Fall sein: Wir wollen Menschenrechte, wir wollen Menschenwürde, wir wollen Einhaltung von Verträgen, und wir wollen erreichen, daß Menschen von alledem Gebrauch machen können, was im freiheitlichen, im rechtlichen und im völkerrechtlich abgesicherten Sinne Selbstverständlichkeit sein sollte. Deswegen sage ich noch einmal: Wenn es eine notwendige Konsequenz gibt, dann ist es die Aufhebung des Schießbefehls an allen Grenzen.Danke.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, daß in der Ehrenloge der Volksanwalt der Republik Osterreich, Herr Helmut Josseck, Platz genommen hat.
Der Volksanwalt hat Aufgaben, die denen unseres Petitionsausschusses und des Wehrbeauftragten entsprechen. Ich darf Sie, Herr Volksanwalt Jos-seek, im Deutschen Bundestag herzlich begrüßen und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Bevor ich den nächsten Punkt der Tagesordnung aufrufe, darf ich noch einiger bedeutender Geburtstage gedenken. Am 28. September 1986 haben der Abgeordnete Lemmrich seinen 60. Geburtstag und am gleichen Tag auch der Abgeordnete Zeitler seinen 60. Geburtstag gefeiert. Am 29. September 1986 hatte der Abgeordnete Mischnick seinen 65. Geburtstag. Ich darf den Kollegen auch namens des Hauses alle guten Wünsche übermitteln.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um den Antrag der Fraktion der SPD betr. Fortschritte bei der KVAE und Unterstützung der Beschlüsse des US-Repräsentantenhauses zur Abrüstung — Drucksache 10/6092 — zu erweitern. Dieser Punkt soll zusammen mit Punkt 3 der Tagesordnung aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wie bereits heute morgen mitgeteilt, hat die Fraktion der SPD beantragt, die heutige Tagesordnung zu erweitern um die Beratung des Antrags Sicherung der Kriegswaffenkontrolle — Drucksache 10/6091—. Dieser Antrag soll zusammen mit Punkt 9 aufgerufen werden.
Außerdem hat die Fraktion der SPD beantragt, die Tagesordnung um den Antrag Asylrecht politisch Verfolgter — Drucksache 10/6047 — zu erweitern. Die Debattenzeit hierzu soll eine Stunde betragen.
Zur Geschäftsordnung hat sich der Kollege Wartenberg gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben von seiten der SPD- Fraktion für heute beantragt, die Tagesordnung zu erweitern um den Antrag für das Asylrecht politisch Verfolgter. Unser Antrag hat folgenden Wortlaut:Die Bundesregierung wird aufgefordert, von Plänen zur Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes Abstand zu nehmen und dahin gehenden Absichten Dritter entgegenzutreten.Wir halten eine derartige Debatte für dringend notwendig, weil die schäbige Diskussion seit der Sommerpause die Bundesrepublik Deutschland innenpolitisch vor schwere Belastungen gestellt hat. Diese Anheizung der Emotionen in der Bevölkerung um die Diskussion der Abschaffung oder Veränderung des Art. 16 muß beendet werden. Die Beendigung dieser Diskussion kann aber eigentlich nur dann stattfinden, wenn dieses Parlament über einen Antrag, wie ihn die SPD-Fraktion vorschlägt, abstimmt und sich damit selbst verpflichtet, diese Diskussion zu beenden, und gleichzeitig die Bundesregierung auffordert, alles dafür zu tun, daß in ihren Reihen diese Diskussion beendet wird.
Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern: Vor zwei Jahren ist dieser Artikel das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik öffentlich von Herrn Lummer zur Diskussion gestellt worden. Danach gab es eine Debatte hier im Bundestag. Damals hat die CDU/CSU das Ansinnen von Herrn Lummer zurückgewiesen und gesagt: Der Grundkonsens der Parteien im Deutschen Bundestag bleibt erhalten, daß Art. 16 nicht angetastet wird.
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Wartenberg
Diese Linie haben Sie im Sommer verlassen. Es ist besonders übel, daß die Öffentlichkeit über die Bedeutung dieses Artikels zum Schutze politisch Verfolgter in diesen Debatten nicht informiert wird, sondern desinformiert und emotionalisiert wird.
Das ist eine gefährliche Entwicklung. Die Verfassung kann nicht das Spielmaterial für den Wahlkampf sein; dies müßte auch Ihnen klar sein.
In der letzten Woche hat es ein Gespräch beim Bundeskanzler mit den Länderministerpräsidenten und den Parteivorsitzenden gegeben.
— Nicht mit allen. — Da sind maßvolle Töne angeschlagen worden.
Wir erwarten, daß diese maßvollen Töne zu Art. 16 durch einen Beschluß des Deutschen Bundestages auch als Linie des Hauses und als Linie der Regierung anerkannt werden.
Es ist sehr merkwürdig, daß Sie sich nach dieser Debatte, die Sie sich in der Öffentlichkeit zum Teil herausnehmen, weigern, dieses Thema auf die Tagesordnung des Hauses zu setzen. In der Öffentlichkeit darf jeder über Art. 16 schwadronieren,
in diesem Parlament aber darf offensichtlich keine Linie festgelegt werden. Meine Damen und Herren, offensichtlich ist Ihnen dieses Thema sehr unangenehm. Sie möchten weiterhin die Gelegenheit haben, dieses Thema im Wahlkampf dann zu benutzen, wenn Ihnen sonst nichts einfällt.Wir Sozialdemokraten wünschen, daß diese Diskussion um Art. 16 durch einen Beschluß des Deutschen Bundestages beendet wird. Deswegen bitten wir um Aufsetzung auf die Tagesordnung.Vielen Dank.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der SPD hat bei der Formulierung dieses Antrags natürlich nicht die Sorge um die Asylanten
oder die Sorge um das Asylrecht die Feder in dieHand gedrückt, sondern die etwas kindliche Vorstellung, sie könne aus den unterschiedlichen Vorstellungen von CDU/CSU und FDP hinsichtlich der Frage einer möglichen Grundgesetzergänzung Honig saugen.
Wir haben überhaupt nichts dagegen, daß über diese Fragen im Parlament ausgiebig debattiert wird.
Wir wollen nicht ein Ende der Diskussion, sondern wir wollen hier sprechen.
Nur, der Aufsetzung dieses Antrages auf die Tagesordnung, Herr Kollege Vogel, müssen wir schon deswegen widersprechen,
weil er — ich finde dafür keine andere Formulierung — für eine ernsthafte parlamentarische Beratung nun wirklich gänzlich ungeeignet ist.
Ich will dazu vier Bemerkungen machen.
Erstens. Im Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, „von Plänen zur Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes Abstand zu nehmen ...".
Es gibt keine von der Bundesregierung beschlossenen Pläne, von denen Abstand zu nehmen wäre.
Zweitens. Es ist auch nicht Sache der Bundesregierung, auf Dritte dahin gehend einzuwirken, eine Änderung des Grundgesetzes nicht zu befürworten.
Es wäre j a wohl auch noch schöner, wenn wir als Parlament die Bundesregierung auffordern würden, das Nachdenken zu verbieten und Denkverbote auszusprechen.
Also, Theodor Heuss würde gesagt haben: Ihr seid mir schöne Demokraten. Und ich sage: Es ist ein merkwürdiges Parlaments- und Demokratieverständnis, das Sie hier praktizieren, Herr Kollege Vogel.
Dritte Bemerkung: Ob das Grundgesetz geändert wird, ist allein Sache des Gesetzgebers. Das entscheiden wir hier in diesem Parlament.
Mit solchen Vorschlägen setzt sich das Parlamentan Hand von konkreten, ordnungsgemäß einge-
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Seitersbrachten Gesetzentwürfen auseinander, aber nicht in Form von Anträgen und Appellen zu möglichen Gesetzgebungsvorhaben und schon gar nicht an Hand von Appellen oder Forderungen, bestimmte Gesetzgebungsvorhaben nicht einzubringen.
Viertens. Die SPD-Fraktion, Herr Kollege Vogel, wird Gelegenheit haben, sich zunächst in den Ausschüssen und dann hier im Plenum mit den konkreten Änderungsvorschlägen zum Asylrecht und zum Ausländerrecht eingehend auseinanderzusetzen,
die die Koalition ausgearbeitet und vorgelegt hat. Dann wird sich ja zeigen, ob die SPD-Fraktion zu einer konstruktiven Mitarbeit in diesem schwierigen Problembereich in der Lage ist. Der Gegenstand, um den es hier geht, ist viel zu ernst, als daß er an Hand eines derart läppischen Antrages debattiert werden sollte, wie die SPD ihn heute vorgelegt hat.
Ich finde, Herr Vogel, das ist keine ordentliche Oppositionsarbeit.Wir lehnen den Antrag und seine Aufsetzung auf die Tagesordnung ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
— Schön der Reihe nach.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte von der Vorschrift unserer Geschäftsordnung Gebrauch machen, Herr Präsident, die es uns ermöglicht, auch vom Platz aus zu sprechen, vor allen Dingen in kurzen Geschäftsordnungsdebatten.
Herr Kollege Vogel, Sie haben j a an dem Spitzengespräch beim Bundeskanzler teilgenommen. Sie haben danach gesagt, Sie werteten es als Erfolg, daß die geplante Änderung des Grundgesetzes — so wie Sie sagen —, des Art. 16 nun nicht mehr weiterbetrieben werde. Sie haben hier in diesem Antrag vortragen lassen:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, von Plänen zur Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes Abstand zu nehmen ...
Es gibt überhaupt keine einzige Äußerung, keine einzige Erklärung der Bundesregierung, daß sie dies tun wolle. Sie tut das natürlich nicht zuletzt deswegen, weil wir Partner in dieser Regierung sind und weil sie genau weiß, daß die FDP erklärt hat, daß es mit ihr und mit ihren Ministern in dieser Bundesregierung keine Änderung des Art. 16, des
Asylrechts, geben wird. Deswegen ist Ihr Antrag absolut obsolet. Deswegen können wir ihn gar nicht auf die Tagesordnung setzen. Daher werden wir jetzt zur Tagesordnung übergehen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir unterstützen den Antrag der SPD-Fraktion auf Aufsetzung dieses Punktes auf die Tagesordnung. Es ist an der Zeit, daß sich auch der Deutsche Bundestag mit der Frage befaßt, ob Art. 16 des Grundgesetzes, ob das dort verbürgte Grundrecht auf Asyl unantastbar ist und bleiben soll oder nicht.Was ist das für ein Parlamentarismus, wenn seit Monaten im Lande über dieses Thema geredet und diskutiert wird und wenn Vorschläge zur Änderung des Grundrechts auf Asyl gemacht werden, wenn aber im Parlament nicht darüber gesprochen werden darf und das Parlament daran gehindert wird, dazu eine Entschließung zu fassen, dazu eine Meinung zu bilden? Es ist für die Leute draußen im Lande — nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für die deutsche Bevölkerung — von Bedeutung, festzustellen, wer im Deutschen Bundestag für eine Änderung des Asylrechts ist und wer nicht, was für eine Änderung des Asylrechts im Bundestag diskutiert wird und wie da die Mehrheitsverhältnisse sind.Sie können doch nicht daran vorbeigehen, daß sich der Bundeskanzler hinstellt und sagt: Es muß darüber nachgedacht werden, ob eine Änderung des Asylrechts erforderlich ist. Sie können doch auch nicht daran vorbeigehen, daß sich der Kollege Miltner von der CDU hinstellt und sagt, eine Änderung sei erforderlich, und daß sich der Kollege Fellner hinstellt und sagt, wir müßten das Asylrecht einschränken. Je näher man zur bayerischen Staatskanzlei kommt, um so deutlicher wird: Die CSU in Bayern hat den Vorschlag vorgelegt, das Grundrecht auf Asyl in wesentlichen Punkten einzuschränken; es soll in Zukunft nur noch eine Gnadenentscheidung der Regierung geben.Das alles sind doch Vorschläge, die auf dem Tisch liegen und die in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Warum darf man ausgerechnet im Deutschen Bundestag, im Parlament, darüber nicht diskutieren und einen Beschluß fassen?Uns interessiert natürlich nicht nur das, sondern uns interessiert auch: Was ist denn aus dem Grundrecht auf Asyl inzwischen geworden? Auch das muß im Deutschen Bundestag diskutiert werden. Auch darauf haben die Menschen draußen, hat die Bevölkerung einen Anspruch. Sie hat einen Anspruch darauf, von uns hier zu hören, was aus diesem Grundrecht geworden ist und ob man es in der Bundesrepublik faktisch noch in Anspruch nehmen kann. Was haben Sie gemacht, was hat die Bundesregierung in den letzten Wochen getan, um die
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StröbeleInanspruchnahme des Grundrechts auf Asyl zu verhindern?Letztlich: Was ist durch die Maßnahmen, die Sie — gemeinsam mit der SPD — mit der DDR-Regierung vereinbart haben, mit dem Grundrecht auf Asyl geschehen? Selbst dieses Grundrecht für politisch Verfolgte, das j a hier in der Diskussion von allen Parteien hochgehalten wird, wird damit ausgehöhlt. Den Leuten, die auch nach Auffassung der Gerichte in der Bundesrepublik wirklich politisch verfolgt sind, insbesondere den iranischen Flüchtlingen, die sich heute vorwiegend in der Türkei aufhalten, wird die Inanspruchnahme dieses Grundrechts unmöglich gemacht, weil sie gar nicht hierher kommen können.
— Dann machen Sie doch Vorschläge!Wir haben schon in der Debatte über den Haushaltsplan beantragt, daß hier im Deutschen Bundestag ausführlich über das Grundrecht auf Asyl, über ein Bleiberecht für die Menschen diskutiert wird, die aus Not- und Krisengebieten aus Angst um ihr Leben und aus Angst um ihre Gesundheit in die Bundesrepublik kommen, und daß darüber diskutiert wird, ob man solche Menschen zurückschikken kann und wie man mit der Sorge dieser Menschen hier in der Bundesrepublik umgeht.
Darum geht es.
Diese Diskussion muß auch im Bundestag geführt werden. Wir wollen von jedem einzelnen von Ihnen in einer namentlichen Abstimmung wissen, wie Sie zu diesen Problemen stehen, damit das nicht nur mit vagen Äußerungen im Wahlkampf, auf die sich nachher keiner mehr festlegen lassen will, festgelegt wird.
Deshalb ist es richtig, daß der Antrag der SPD hier auf die Tagesordnung kommt und der Bundestag sich in einer ausführlichen Debatte damit beschäftigt.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Wir kommen zur Abstimmung über die Anträge auf Erweiterung der Tagesordnung, und zwar zuerst über die Aufsetzung des Antrags Sicherung der Kriegswaffenkontrolle. Wer dieser Aufsetzung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.Wir stimmen jetzt über die Aufsetzung des Antrags Asylrecht politisch Verfolgter ab. Wer dieser Aufsetzung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen?— Der Antrag ist abgelehnt.Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf:a) Abgabe einer Erklärung der BundesregierungBericht über die Sonderkonferenz zur Reaktorsicherheit der Internationalen Atomenergie-Organisation in Wienb) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung
— Drucksache 10/6082 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOc) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungAußerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 15 apl. Titel 68106 — Erfüllung von Ausgleichsansprüchen nach § 38 Abs. 2 Atomgesetz infolge des Reaktorunfalls in Tschernobyl — im Haushaltsjahr 1986— Drucksache 10/5585 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschußd) Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner und der Fraktion DIE GRÜNENNotwendige Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor radioaktiver Belastung— Drucksache 10/5904 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Wirtschafte) Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner und der Fraktion DIE GRÜNENSchnellstmögliche exakte regionale Messung der radioaktiven Belastung im Rahmen landwirtschaftlicher und gärtnerischer Arbeiten und Verarbeitung— Drucksache 10/5905 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und GesundheitZu Punkt 2 a der Tagesordnung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6093 vor.Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zu den Tagesordnungspunkten 2 a bis 2 e
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18144 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Präsident Dr. Jenningerzwei Stunden vorgesehen. — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Hohe Haus befaßt sich heute mit zwei wesentlichen Elementen aus dem Arbeitsprogramm der Bundesregierung zu den Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl, erstens dem Ergebnis der Sondersitzung der IAEO-Generalkonferenz vom 24. bis zum 26. September 1986 in Wien und zweitens dem Entwurf eines Gesetzes zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastungen. Beides sind notwendige Initiativen. Sie sind in beiden Aufgabenfeldern, nämlich dem der internationalen Kooperation bei der Sicherheit der friedlichen Nutzung der Kernenergie und dem des vorsorgenden Schutzes der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung, nicht Abschluß, sondern Grundlage für weitere Initiativen und Maßnahmen.Zu den beiden Entschließungsanträgen der Fraktion DIE GRÜNEN nur so viel: Ich halte sie für überflüssige Initiativen.
Die Bundesregierung wird sich nicht zu dem hier empfohlenen Aktionismus verleiten lassen.
Eine Kontrolle jedes einzelnen Lebensmittels und jedes einzelnen Quadratmeters Boden ist nicht erforderlich und ist übrigens auch tatsächlich gar nicht möglich. Die gemessene und bekannte Verteilung der Radioaktivität in der Bundesrepublik Deutschland gibt im übrigen hierfür auch keinerlei Veranlassung.Erstens zur Wiener Konferenz. Die Initiative des Herrn Bundeskanzlers war ein bemerkenswerter Erfolg, den man bei realistischer Einschätzung so gar nicht erwarten konnte.
Es ist sehr, sehr viel erreicht worden, gewiß noch nicht alles.
Aber es ist sehr viel mehr erreicht worden, als zunächst vorausgesagt werden konnte.Mehr als 90 Staaten folgten der Einladung der Internationalen Atomenergie-Organisation nach Wien.
Schon im Vorfeld der Konferenz wurde ein Prozeß in Gang gesetzt, der eine neue Phase der internationalen Zusammenarbeit auf dem Felde der kerntechnischen und radiologischen Sicherheit einleitet. Die Bundesregierung begrüßt dies nachdrücklich.Sie wird in diesem Prozeß weiter als eine der treibenden Kräfte aktiv bleiben.Natürlich ging es bei dieser Sonderkonferenz zunächst und vor allem um die Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl, um Ursache und Hergang.Die eigentliche Bedeutung dieser Sonderkonferenz lag jedoch darin, meine Damen und Herren, daß sie eine Antwort auf die Frage suchte, wie wir angesichts einer ständig wachsenden Weltbevölkerung, eines unaufhaltsam steigenden Energieverbrauchs die Ressource Kernkraft in verantwortbarer Weise nutzen können. Diese Frage geht über nationale, sie geht über kontinentale Grenzen hinaus. Angesichts der gewaltigen Probleme, vor die uns der weltweit zunehmende Energieverbrauch stellt, erhalten nationale Szenarios für den Ausstieg aus der Kernenergie — verzeihen Sie — einen fast provinziellen Charakter.
Ich möchte damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht mißverstanden werden. Ich will unter gar keinen Umständen nach wie vor bestehende Ängste und Sorgen verharmlosen. Ich will damit auch nicht die ernsthaften Gegner der friedlichen Nutzung der Kernenergie persönlich herabsetzen. Darum geht es nicht. Ich will lediglich ausdrükken, daß in unserer Zeit die Folgen unseres politischen Tuns weiter reichen als jemals zuvor.
In der konkreten Frage geht es auch und vor allen Dingen um eine ethische Dimension. Wir sind verpflichtet, auch die weiträumigen, die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns zu bedenken. Das Bewußtsein hierfür ist durch die Sonderkonferenz geschärft worden. Ich habe das nicht nur durch die vielen offiziellen Redebeiträge erfahren, sondern auch bei einer Reihe bilateraler Gespräche mit Vertretern anderer Teilnehmerländer.Die 94 Teilnehmerstaaten haben am 26. September 1986 im Schlußdokument der Konferenz im Konsens, also einstimmig, ohne Gegenstimme, erklärt, „daß die Kernenergie für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung weiterhin eine wichtige Energiequelle bleiben wird". Sie haben zugleich hervorgehoben, „daß ein Höchstmaß an kerntechnischer Sicherheit bei der Nutzung dieser Energiequelle weiterhin von grundlegender Bedeutung sein wird". Es ist seit jeher die Überzeugung dieser Bundesregierung, daß beides untrennbar miteinander verbunden sein muß. So haben wir in der Vergangenheit gehandelt, und dabei wird es auch bleiben.Als weitere Ergebnisse der Sonderkonferenz halte ich fest:Erstens. Die Staaten sind sich einig, daß nationale Maßnahmen allein nicht genügen.
Der Wille zur Kooperation bei der Sicherheit derfriedlichen Nutzung der Kernenergie ist gewachsenund gekräftigt worden. — Wenn Sie das vorher ge-
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Bundesminister Dr. Wallmannwußt haben, warum haben Sie nicht eine Initiative wie Bundeskanzler Kohl ergriffen?
Zweitens. Die beiden Übereinkommen über die frühzeitige Unfallinformation und über Hilfeleistungen bei kerntechnischen Unfällen oder radiologischen Notfällen wurden in kürzester Zeit erarbeitet. Sie wurden am 26. September 1986 durch die Konferenz einstimmig verabschiedet und zur Zeichnung ausgelegt. Noch am selben Tage haben 51 Staaten unterzeichnet. Ich sage noch einmal: Die Resolution, in der auf diese Konvention Bezug genommen wird, ist einstimmig verabschiedet worden.
— Daß für Sie nichts drinsteht, ist interessant. Damit wird nur gezeigt, wie sehr sich diese SPD bereits im Abseits befindet, außerhalb von 94 Staaten, die dies alle als eine große Leistung anerkannt haben.
Unter den 51 Staaten, die gezeichnet haben, befinden sich alle europäischen Staaten, in denen Kernkraft genutzt wird.Frau Abgeordnete Hartenstein, ich habe erfahren, daß Sie gestern die Frage an mich gerichtet haben, ob auch Brasilien unterzeichnet habe. Auch Brasilien hat ad referendum unterzeichnet. Wir sind sicher, daß die anderen Regierungen die Zeichnung nachholen werden. Sie haben ihr bereits zugestimmt.Ich habe für die Bundesrepublik Deutschland gezeichnet und erklärt, daß wir diese Übereinkommen schon vor der Ratifizierung ab sofort im Rahmen des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts vorläufig anwenden werden.Die Kernwaffenstaaten haben darüber hinaus erklärt, daß sie bei Unfällen mit Atomwaffen freiwillig informieren werden. Die beiden Übereinkommen sind Grundlage dafür, den Schutz der Bevölkerung bei grenzüberschreitenden Auswirkungen eines kerntechnischen Unfalls wesentlich zu verbessern und auch in anderen Fällen die Folgen wirksamer zu bekämpfen. Wie wäre doch die Situation für uns besser gewesen, wenn wir unmittelbar nach dem schweren Unfall in Tschernobyl derartige Konventionen bereits gehabt hätten!Drittens. Die Verabschiedung beider Übereinkommen ist kein Abschluß, sie ist vielmehr Grundlage für einen Ausbau der internationalen Kooperation auf dem Felde der kerntechnischen und radiologischen Sicherheit. Ich habe daher in Übereinstimmung mit der Initiative des Bundeskanzlers in der Generaldebatte gefordert, daß folgende Ziele weiterverfolgt und auch erreicht werden:a) Die Festschreibung höchster Sicherheitsanforderungen bei allen kerntechnischen Anlagen. Der Sicherheit muß absolute Priorität eingeräumt werden, insbesondere Vorrang vor Wirtschaftlichkeitsüberlegungen.
b) Die Sicherheitsempfehlungen der IAEO müssen jeweils dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen und in geeigneter Form verbindlich gemacht werden.c) Alle Staaten sollen sich bereit erklären, ihre Nuklearanlagen von der IAEO im Rahmen des OSART-Programms regelmäßig überprüfen zu lassen.d) Beim Ausgleich von Schäden muß das Verursacherprinzip gelten. Ein weltweit wirksames Nuklearhaftungssystem ist unerläßlich.
Dieser Vorschlag hat bei vielen Delegationen Unterstützung gefunden. Ich werde gleich darlegen, daß es nicht bei allgemeinen Deklamationen geblieben ist, sondern daß auch hieraus Schlußfolgerungen gezogen worden sind. Es gibt ein Arbeitsprogramm der IAEO. Dieses Arbeitsprogramm wird während der 30. Ordentlichen Generalkonferenz, also in diesen Tagen, beschlossen. Wichtige Beratungen folgen auf dem nächsten Expertentreffen im November 1986. Dieses Expertentreffen ist bereits beschlossen worden.Was wir an Entscheidungen angestrebt haben, war das, was jetzt erreichbar war. Im übrigen setzen wir unsere Arbeit fort. Ich bin davon überzeugt, daß wir auch unsere weiteren Ziele erreichen werden. Das positive Ergebnis der Konferenz bestärkt die Bundesregierung darin, diese Ziele beharrlich weiterzuverfolgen. Das ist gewiß kein einfacher Weg, aber Maximalisten, die alles auf einmal fordern und nicht sehen wollen, daß damit die jetzt möglichen Fortschritte verfehlt würden, sind in einer solchen gemeinsamen Arbeit nicht hilfreich.
Das, meine Damen und Herren, was durch die Initiative von Bundeskanzler Kohl in Gang gesetzt wurde, mündet in klare Arbeitsprogramme ein. Ich will auch einmal sagen: 94 Staaten haben einstimmig erklärt, daß diese Konferenz ein bemerkenswerter Erfolg gewesen ist. Wir werden weiterhin an dieser Arbeit mitwirken.Ich will Ihnen nun einzelne Schwerpunkte des Arbeitsprogrammes, das beschlossen worden ist, vortragen: Zusammenstellung der grundlegenden Sicherheitsprinzipien für bestehende und geplante kerntechnische Anlagen, Sicherheitsüberprüfungen in allen Kernenergiestaaten durch internationale Expertenteams, und zwar als ständige Einrichtung, Programme zur Qualitätssicherung von sicherheitsrelevanten Bauteilen, Verbesserung der Qualifikation des Betriebspersonals und technischer Einrichtungen zu deren Unterstützung, Verbesserung und Vereinheitlichung der Meßverfahren und Richtlinien über Interventionswerte im Falle von Strahlenbelastung.
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18146 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Bundesminister Dr. WallmannMeine Damen und Herren, es handelt sich also auch in diesem Bereich nicht um allgemeine unverbindliche Deklamationen, sondern hier sind konkrete Arbeits- und Beratungsaufträge ergangen. Auch dies ist das Ergebnis der Initiative des Bundeskanzlers.Kernwaffen können Leben zerstören. Die friedliche Nutzung der Kernenergie kann mit dazu beitragen, den Menschen auf unserer Erde ein menschenwürdigeres Leben zu garantieren.
Wir, die Industriestaaten, tragen hier eine besondere Verantwortung. Die Weltbevölkerung wächst ständig: Im Jahre 2000 werden es sechs bis sieben Milliarden Menschen sein. Sie alle wollen eine menschenwürdige Existenz, und mehr und mehr orientieren sie sich an dem Lebensstandard der Industrienationen, etwas, was vielen — auch uns — viel zu selbstverständlich geworden ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kommt nicht darauf an, in welchem Maße der Energiebedarf bei uns wächst; viel entscheidender ist, daß er weltweit noch beträchtlich zunehmen wird.
Die fossilen Energieträger werden uns aus heutiger Sicht nur noch für die Dauer weniger Generationen zur Verfügung stehen. Auch unter diesem Gesichtspunkt hat diese Konferenz wesentliche Ergebnisse gebracht. Deswegen können die Beratungen und ihr Ergebnis gar nicht hoch genug veranschlagt werden, und deswegen sage ich: Wer über nationale Ausstiegsszenarien redet, begibt sich nicht nur ins Abseits, sondern angesichts der Lage in der Welt hat das auch in der Tat einen fast provinziellen Charakter.
„Der Energiebedarf der meisten Entwicklungsländer wird nur durch Kernenergie befriedigt werden können, und zwar — das läßt sich heute schon absehen — durch die sogenannten Schnellen Brüter." — Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Satz stammt nicht von mir. Er wurde im Juli 1968 im „Vorwärts" geschrieben. Der Autor war Erhard Eppler.
Anders als Herr Eppler habe ich schon immer erhebliche Zweifel daran gehabt, daß der Export Schneller Brüter eine sinnvolle Entwicklungspolitik ist.
— Wenn hier der Zwischenruf „Kardinal Höffner"kommt, darf ich Ihnen sagen, meine sehr verehrtenDamen und Herren, daß ich gestern ein langes, eineindrucksvolles Gespräch mit dem Herrn Kardinal gehabt habe.
In allen Fragen, die wir miteinander behandelt haben — und ich bin von diesem Gespräch tief berührt gewesen —,
haben wir volle Übereinstimmung feststellen können.
Die Anforderungen des Kardinals — moralische Anforderungen, seit vielen, vielen Jahren formuliert — sollten von uns allen sehr, sehr ernst genommen werden, und wir sollten dem Kardinal dafür dankbar sein, daß er mit uns dieses Gespräch führt.
Ich sage noch einmal: In allen Punkten hat es volle Übereinstimmung gegeben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will noch einmal auf die Dritte Welt eingehen und sagen, daß die Aufteilung der Energieressourcen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern von großer Bedeutung ist. Gerade unter diesem Blickwinkel wäre es ethisch nicht vertretbar, wenn wir wirtschaftlich so starken Nationen beim Verbrauch fossiler Energiereserven die Entwicklungsländer ins Abseits drängten und ihnen damit Chancen nähmen.Unvertretbar wäre es auch, einem forcierten Einsatz fossiler Brennstoffe Vorschub zu leisten und damit das Risiko weltweiter ökologischer Katastrophen — ich denke hier besonders an Kohlendioxid — beträchtlich zu erhöhen.
— Ja, so sind wohl manche Vertreter der SPD-Fraktion! Es ist ihr „sachlicher Beitrag", daß sie rufen: Sie haben doch keine Ahnung. Ich will Ihnen etwas sagen: Die ökonomischen Konsequenzen eines Ausstiegs sind beträchtlich — in ihrem Gefolge auch die sozialen Konsequenzen —,
und wir nehmen sie ernst.
Aber, meine Damen und Herren, sie stehen bei der Abwägung dieser Fragen nicht auf Platz eins der Liste, sondern zunächst geht es um Leben und Gesundheit der Menschen, und es geht um unsere Umwelt.
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Bundesminister Dr. WallmannIch füge hinzu: Der Anteil an Kohlendioxid ist in den vergangenen Jahrzehnten um 27 % gestiegen.
Er wächst pro Jahr um 2,3%. Die langwelligen Strahlen kommen nicht mehr durch. Treibhauseffekte entstehen. Klimatologen haben ausgerechnet, daß weltweit die Temperatur um 3 Grad ansteigen wird,
daß die Polkappen schmelzen, daß die Meeresspiegel ansteigen.
Deswegen darf es nicht eine weitere Inanspruchnahme natürlicher Vorkommen von Öl, Gas, Kohle und dergleichen geben,
sondern unter diesem Gesichtspunkt hat die friedliche Nutzung der Kernenergie unter Beachtung höchster Sicherheit eine ethische Dimension.
Nur dann, wenn wir den Menschen das Vertrauen in die friedliche Nutzung der Kernenergie zurückgeben, nur dann, wenn alle Staaten deutlich machen, daß sie in Fragen der Sicherheit nichts zu verbergen haben und daß sie sich am höchstmöglichen Sicherheitsniveau orientieren, wird es uns gelingen, Wohlstand und soziale Sicherheit auch für künftige Generationen zu bewahren.
Ich will zu dem zweiten Komplex kommen, Herr Präsident. Vor genau drei Wochen habe ich in der Haushaltsdebatte in meiner Rede über Bilanz und künftige Aufgaben meines Ministeriums gesagt, daß wir dieses Gesetz zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung haben müssen. Heute liegt es dem Hohen Hause als Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen von CDU/ CSU und FDP vor. Wer sich heute etwa aus den Ländern dagegen wehrt, den frage ich ganz schlicht: Warum haben Sie eigentlich bis jetzt nicht über den Bundesrat die Initiative ergriffen?Dieses Gesetz ist in kurzer Zeit erarbeitet worden, und zwar deswegen, weil wir der Überzeugung sind, daß es im Interesse unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger liegt, daß es noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Wir sind verpflichtet, so schnell wie möglich klare gesetzliche Regelungen zu schaffen, die bisher gefehlt haben. Der Entwurf ist die Konsequenz aus den Erfahrungen, die wir miteinander nach dem sowjetischen Reaktorunfall gemacht haben.
Er ist deswegen ein Prüfstein für die Ernsthaftigkeit aller an der parlamentarischen Beratung Beteiligten, ob sie sich der Verantwortung durch praktisches Handeln und Entscheiden stellen wollen. DieKoalitionsfraktionen und die von ihnen getragene Bundesregierung sind gewillt, dies zu tun.
Ich wünsche dem Gesetzentwurf eine ernsthafte, eine sachliche Beratung. Ich wünsche uns, daß in einer für das Wohl unserer Bürger so wichtigen Frage möglichst ein Konsens der demokratischen Parteien erreicht werde. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung wollen ihren Beitrag dazu leisten. Ich habe die Hoffnung, daß auch die sozialdemokratische Fraktion diesen Gesetzentwurf verantwortungsvoll, realitätsnah und sicherlich auch kritisch begleiten wird.Das Gesetz ist notwendig. Seine Grundlagen und Voraussetzungen sind hinreichend abgeklärt. Das nahe Ende der Legislaturperiode sollte uns nicht hindern, den Entwurf abschließend zu beraten, damit er alsbald in Kraft treten kann. Dieser Entwurf ist dem Bundesrat durch die Bundesregierung bereits zugeleitet worden.Zweitens. Dieses Gesetz soll den zuständigen Behörden in der Bundesrepublik das Instrumentarium in die Hand geben, gerade auch solchen Risiken wirksam begegnen zu können, die von Reaktorunfällen im Ausland, meine sehr verehrten Damen und Herren, ausgehen. Ich betone dieses nachdrücklich. Diese Aufgabe stellt sich also unabhängig von der hohen Sicherheit der Kernkraftanlagen in unserem eigenen Land, von ihrer ständigen, von ihrer strikten Überwachung; ich habe es oft gesagt.Weltweit werden zur Zeit 374 Kernkraftwerke betrieben, und 151 sind im Bau. Ich will jetzt an dieser Stelle nicht auf die schwerwiegenden und die meiner Überzeugung nach nicht verantwortbaren Folgen eines kurz- oder mittelfristigen Ausstiegs der Bundesrepublik Deutschland eingehen, sondern nur darauf hinweisen, daß selbst bei einem sofortigen Abschalten aller Kernkraftanlagen in der Bundesrepublik nachhaltige Gefahren für unsere Bevölkerung bei einem nuklearen Unglück in einem anderen Land gegeben sind. Wir wissen, um uns herum wird nicht nur weiterhin Kernkraft in Anspruch genommen, sondern die Kernkraftanlagen werden ausgebaut. Die Sowjetunion wird nach ihren eigenen Erklärungen den nuklear erzeugten Stromanteil bis zum Jahre 2000 um das Fünf- bis Siebenfache erhöhen; das ist die Wirklichkeit.
Deswegen geht es in diesem Gesetz nicht um ein Ja oder Nein zur Kernenergie; hier geht es um den Schutz der Bevölkerung vor einer potentiellen Strahlenbelastung, gleichgültig, in welchem Teil der Welt, in welchem Teil Europas sich ein solches Unglück ereignen sollte.
Ich bitte Sie nachdrücklich, meine Damen und Herren von der SPD, was immer uns in der Frage der friedlichen Nutzung der Kernenergie nun auch einmal trennen mag: In diesem Ziel sollten wir uns alle einig sein, jedenfalls solange unsere Nachbarn die
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18148 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Bundesminister Dr. WallmannKernenergie weiter nutzen und die Anlagen ausbauen.Mehr denn je bin ich nach Abschluß der IAEO- Sonderkonferenz der Überzeugung, daß unsere Nachbarn diesen Weg weiter gehen werden und sich von uns in gar keiner Weise beeindrucken lassen.Drittens. Ziel des Gesetzes ist der Schutz des Bürgers vor Gesundheitsrisiken bei einem kerntechnischen Unfall oder bei einem sonstigen Ereignis mit vergleichbaren radiologischen Auswirkungen. Dies entspricht den Schutzaufgaben des Staates und der Kompetenzregelung des Art. 74 Nr. 11 a des Grundgesetzes. Das Gesetz soll die notwendigen Voraussetzungen schaffen: a) die präzise Erkenntnis der tatsächlichen Situation, b) die zutreffende Bewertung der sich hieraus ergebenden Risiken und c) die diesen Risiken angemessenen Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge im Ereignisfall. Wir müssen besser als nach Tschernobyl für derartige Ereignisse gerüstet sein, wie unwahrscheinlich sie auch immer sein mögen.Die wesentlichen Eckpunkte dieses Gesetzes sind a) technische und organisatorische Verbesserungen der routinemäßigen Überwachung der Umweltradioaktivität in Bund und Ländern, b) bundeseinheitliche Regelungen für die Erhebung, Auswertung und Übermittlung von Meßdaten, c) die bundeseinheitliche Bewertung der Meßdaten und d) eine Rechtsgrundlage für die bundeseinheitliche Festsetzung von Dosiswerten und Kontaminationswerten in Lebensmitteln und Futtermitteln sowie sonstigen Gegenständen aus Gründen der Vorsorge, für Verbote und Beschränkungen hinsichtlich des Verkehrs mit diesen Gegenständen, für die entsprechende Kontrolle im grenzüberschreitenden Verkehr und für einheitliche Verhaltensempfehlungen an die Bevölkerung.Ich glaube, wenn man sich die Situation nach Tschernobyl noch einmal vor Augen führt, dann kann niemand daran zweifeln, daß dieses Gesetz erforderlich ist.
Das Gesetz erlaubt es uns auch, die Festsetzung von Dosiswerten in der EG, durch die Weltgesundheitsorganisation oder durch die IAEO zu berücksichtigen. Die EG-Kommission hat bereits solche Regelungen angekündigt. Wir wirken daran mit.Um allen Zweifeln entgegenzutreten, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich betonen: Wir bemühen uns nachdrücklich darum, so bald wie möglich zu solchen Festsetzungen zu kommen, also nicht ad hoc zu entscheiden. Wir haben uns darüber lange miteinander unterhalten. Ich glaube, ich kann sagen, es ist nicht nur meine Überzeugung, sondern unsere gemeinsame Überzeugung, daß wir das tun sollten. Ich werde voraussichtlich noch in diesem Jahr eine Kommission berufen, die hierzu Vorschläge erarbeiten soll.Viertens. Meine Damen und Herren, die Bundeszuständigkeit ist die notwendige und unverzichtbare Konsequenz aus der tiefgreifenden Verunsicherung der Bevölkerung, die vor allem auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß sehr stark von einander abweichende Grenzwerte und Empfehlungen gegeben worden sind. Ich will dazu noch einmal ein Beispiel nennen. Pro Liter Milch — ich habe darauf bei anderen Gelegenheiten hingewiesen — wurden für Jod 131 folgende Grenzwerte empfohlen: in Hessen 20 Becquerel, in der Bundesrepublik Deutschland 500, in Schweden 1000, in Frankreich 3 000 und in der Schweiz 3 700.Meine sehr verehrten Damen und Herren, so weit können doch Verantwortungsbewußtsein und Sachkenntnis nicht auseinander liegen.
— Entschuldigen Sie, ich bin dankbar dafür, daß das sozialistisch regierte Schweden auch dabei ist. Ich möchte dazu nichts weiter sagen.Niemand kann sich der Einsicht verschließen, meine Damen und Herren: Dies darf sich nicht wiederholen.
Eine weitgehende Zusammenfassung der Kompetenzen beim Bund ist daher geboten. Der Bundesrat hat die Notwendigkeit einer Einheitlichkeit der Bewertung der Meßdaten in seiner Sitzung am 11. Juli 1986 zum Ausdruck gebracht.Das Gesetz weist den Ländern wichtige Aufgaben bei der Ermittlung der Umweltradioaktivität als landeseigene Angelegenheiten zu. Rechtsverordnungen zur Bestimmung von Dosiswerten und Kontaminationswerten, zur Festlegung der hierfür notwendigen Berechnungsverfahren usw. bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Ausgenommen sind Regelungen, die im Falle eines drohenden oder eingetretenen kerntechnischen Unfalls unverzüglich in Kraft gesetzt werden müssen.Fünftens. Mit dem Gesetzentwurf wird eine schwierige Materie sachgerecht und, wie ich hoffe, so verständlich wie möglich geregelt. Ich hoffe, daß dieser Gesetzentwurf dazu beiträgt, das Vertrauen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger in die Verläßlichkeit staatlicher Information wiederherzustellen und auch selbsternannten Experten die Möglichkeit zur Verunsicherung der Bevölkerung zu nehmen.Mit der Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung haben die Koalitionsfraktionen an den Punkten Konsequenzen aus dem Reaktorunfall in der Sowjetunion gezogen, an denen es die Sache erfordert. Ich appelliere an uns alle, die Notwendigkeit dieses Gesetzes anzuerkennen, auch wenn im Einzelfall Korrekturen oder Ergänzungen für notwendig gehalten werden. Denn es kann — ich wiederhole es — unabhängig von den Positionen in der Ausstiegsdebatte nicht ernsthaft bestritten werden, daß die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen In-
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Bundesminister Dr. Wallmannstrumente zur Strahlenschutzvorsorge von energiepolitischen Entscheidungen im übrigen unabhängig sind. Ich hoffe deswegen auf eine fruchtbare Beratung in den Ausschüssen und auf eine baldige Verabschiedung des Gesetzentwurfs.Ich danke Ihnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gegenstand unserer Debatte ist der Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren der Radioaktivität. Der Hintergrund ist das chaotische Durcheinander nach dem Atomkraftunfall in Tschernobyl.
Das Ziel aller internationalen und nationalen Maßnahmen ist es, in einer ähnlichen Situation nicht ein ähnliches Totaldurcheinander in der Bundesrepublik Deutschland zu haben.
Dazu bedarf es der internationalen und der nationalen Voraussetzungen.Beginnen wir mit den internationalen Fragen. Herr Bundesminister Wallmann, Sie haben soeben den Versuch gemacht, dem Deutschen Bundestag die Sonderkonferenz der Internationalen Atomenergiekommission in Wien als großen Erfolg für die deutsche Politik darzustellen.
Herr Minister, Sie können uns in dieser Frage überhaupt nichts vormachen. In Wien wurde nichts beschlossen, was die Kernenergienutzung auch nur um ein Jota sicherer macht.
Der Hinweis darauf, daß 94 Länder zugestimmt haben, ist kein Beleg für das Gegenteil.
Meine Damen und Herren, die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist voll von Konferenzen, die Allgemeinplätze einstimmig verabschiedet haben.
Wie sieht das Ergebnis der Konferenz aus? Das „Handelsblatt", weiß Gott nicht das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, schreibt am 29. September — ich zitiere wörtlich:In der Schlußdeklaration, über die bis zuletzt debattiert wurde, findet sich nichts von Reaktorsicherheitsstandards, Haftung und Einigung über Grenzwerte.Dieser Aussage des „Handelsblatts" braucht man doch wohl nichts hinzuzufügen.Für Ihre Vorbereitung von Wien gilt wie auch für Ihre gesamte Amtstätigkeit: Sehr viel Talent zurShow, aber kein wirklicher Wille zur Verbesserung in der Sache, Herr Wallmann.
Im übrigen auch zu meiner Überraschung — denn das hatte ich nicht erwartet — haben Sie sich in Ihrer kurzen Amtszeit vom Minister für Reaktorsicherheit zum Atomminister entwickelt
Sehen wir uns das Ergebnis von Wien im einzelnen an, um diesen Vorwurf zu belegen! Ich lege die Kriterien der Bundesregierung zugrunde, die sie vorher für die Verhandlungen in Wien entworfen hat. Die Bundesregierung hatte gefordert, daß in Wien international verbindliche höchste Sicherheitsstandards vereinbart werden. Was ist geschehen? In Wien hat es keine verbindliche Konvention über verbesserte Standards gegeben.
Die beiden verabschiedeten Konventionen berühren die Sicherheitsstandards von Atomkraftwerken überhaupt nicht. Es geht lediglich um die Begrenzung von Schadensfolgen nach Reaktorunfällen und nicht um deren Vermeidung.Die Bundesregierung hat gefordert, daß ein umfassender Informationsaustausch über den Betrieb aller kerntechnischen Anlagen vereinbart wird. Was ist erreicht worden? Die unterzeichnete Konvention über die Frühinformation gibt den betroffenen Staaten einen großen Ermessensspielraum, ob sie informieren wollen und welche Vorfälle zu melden sind. Es ist den Staaten vorbehalten, selber darüber zu entscheiden, ob ein Störfall für ein Nachbarland oder für andere Staaten von Bedeutung ist oder nicht. Angesichts der Kernkraftkrise nach Tschernobyl halte ich dieses Ergebnis gerade bei den konkreten Erfahrungen für grotesk.
Die Bundesregierung hatte schließlich gefordert, daß eine verbesserte internationale Haftung bei einem Atomunfall vereinbart wird. Was ist dagegen geschehen? Die unterzeichnete Konvention über Hilfeleistungen enthält keine Verbesserung der Schadenshaftung. Kein Staat ist danach zu internationalen Hilfeleistungen bei Nuklearunfällen verpflichtet. Die Konvention besagt lediglich, daß die Staaten solche Hilfe anbieten oder auch erbitten können; das Verursacherprinzip ist jedoch nicht vereinbart worden.Unsere Einschätzung ist also: Hier ist eine inhaltsleere Konvention ausgearbeitet worden, die mehr Sicherheit vortäuscht, aber im Grunde alles beim alten, also beim Zustand vor Tschernobyl beläßt.Dies alles zeigt eines: Mangels exakter Vorbereitung sind die Ziele der Bundesregierung nicht erreicht worden. Der Bundeskanzler wollte ganz schnell eine große Konferenz, die mit seinem Namen verbunden ist. Sie sollte über das Fernsehen
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Rothschnell Aktivität vermitteln, und sie sollte auch beruhigen: Es geschieht ja etwas. Damit war der Mißerfolg in der Sache natürlich vorprogrammiert. Eine solche Konferenz, die — zugegeben — außerordentlich schwierig ist, mit substantiellen Ergebnissen hätte außerordentlich sorgfältig und vor allem professionell vorbereitet werden müssen.
Es zeigt sich, Herr Wallmann, daß man zu Wahlkampfzwecken eine internationale Aktivität mißbraucht hat.Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beste Sicherheitsmaßnahme ist natürlich der geordnete Ausstieg aus der Kernenergie. Dazu muß man auch im internationalen Bereich verhandeln.
Wir wissen, daß ein Verzicht auf Atomenergie im nationalen Bereich die Gefahr zwar verringert, aber nicht gänzlich aufhebt. Für derartige internationale Verhandlungen muß man sich sorgfältig vorbereiten. Das kann man nicht auf zwei- oder dreitägigen Sonderkonferenzen leisten, sondern nur dadurch, daß man hartnäckig auf allen Ebenen bi- und multilateral verhandelt. Wir haben Ihnen zu den Zielen derartiger Verhandlungen einen entsprechenden Entschließungsantrag vorgelegt, in dem wir unsere unverzichtbaren Positionen hinsichtlich einer internationalen Konvention darstellen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das Umweltradioaktivitätsgesetz, das Herr Wallmann heute eingebracht hat, ist für uns ein Beweis dafür, daß es Herrn Wallmann und der Bundesregierung nicht um die Lösung der Kernenergieprobleme geht, sondern um Scheinaktivitäten zur Absicherung der alten Atom-Politik.
Das tägliche Chaos, das sich in der Bundesrepublik Deutschland nach der Katastrophe von Tschernobyl abgespielt hat, darf sich nach unserer Auffassung nicht wiederholen. Erinnern wir uns: Die Bundesregierung hatte ihre politische Verantwortung, die Bürger, die Gemeinden, die Landesregierungen über die Auswirkungen und Konsequenzen der radioaktiven Strahlung zu informieren und aufzuklären, in nicht überbietbarer Weise vernachlässigt. Sie hat bei der Koordination mit den Ländern vollständig versagt. Sie hat keine verläßlichen und einheitlichen Empfehlungen und Grenzwerte festzulegen vermocht. Das für die Bevölkerung bedrohliche Durcheinander war primär auf diese kraftlose Bundesregierung zurückzuführen.
Wenn die Bundesregierung jetzt mit diesem Gesetzentwurf dafür sorgen will, daß dieses Durcheinander künftig nicht noch einmal passieren kann, so kritisieren wir Sozialdemokraten nicht das Ziel, aber wohl das Verfahren, das bisher zu diesem Gesetzentwurf geführt hat. Die Länder, meine Damen und Herren, sind bei der Formulierung des Gesetzentwurfs und bei der notwendigen Festlegung von Grenzwerten nicht beteiligt worden.
Der Grund ist natürlich klar: Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß die sozialdemokratisch geführten Bundesländer auf klaren Grenzwerten entsprechend den Grundlagen der Strahlenschutzverordnung bestanden hätten. Aber wie will man auch zu einem gemeinsamen Handeln kommen, wenn man die Grundlage des Handelns nicht gemeinsam erarbeitet?
Auch hier wird die schnelle Show der sorgfältigen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern vorgezogen.
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ströbele?
Ja, bitte.
Herr Kollege Roth, Sie beklagen das Durcheinander. Geben Sie mir nicht recht, daß dieses Durcheinander auch äußerst produktiv sein kann und auch gewesen ist, daß nämlich durch die unterschiedlichen Informationen die Bürger in der Bundesrepublik in die Lage versetzt worden sind, sich selber ein Bild über ihre Gesundheitsgefährdung zu machen und danach zu handeln, so daß vielleicht unterschiedliche Informationen auch einmal richtig sein können?
Ich glaube nicht, daß es die Verantwortung des Staates ist, den Bürger in kritischen Phasen hilflos alleinzulassen. Da sind wir prinzipiell anderer Auffassung.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir Sozialdemokraten kritisieren aber hauptsächlich den Inhalt Ihres Gesetzentwurfes. Dieses Gesetz wird den Minimalanforderungen überhaupt nicht gerecht. Solange keine rechtsverbindlichen Grenzwerte vorgeschlagen sind,
ist das kein Gesetz, sondern das ist eine Presseerklärung in Gesetzesform. Für mich ist deshalb klar, daß dieses Gesetz nicht wirklich dem Schutz der Bürger dient. Die Bundesregierung will uns auch mit dem Gesetzentwurf nur eine Scheinaktivität vorzeigen. Deshalb will sie sich das Recht vorbehalten, zu entscheiden, welche Grenzwerte der Bevölkerung im Ernstfall zugemutet werden sollen.
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RothSie will sich also nicht festlegen. Diese Absicht werden wir Sozialdemokraten im weiteren Gesetzgebungsprozeß nicht akzeptieren, Herr Wallmann.Auch mit diesem Gesetzentwurf haben Sie erneut unterstrichen, daß Sie zum Atomminister geworden sind.
Die Wahlkampfplakette der Bundesregierung mit der Überschrift „Weiter so!" gilt wohl ganz besonders für Ihren Atomkurs.
Wir werden also im weiteren Gesetzgebungsverfahren zusammen mit den Bundesländern versuchen, entsprechende Festlegungen zu erreichen.Ein letzter Punkt, der in diesen Zusammenhang gehört: Herr Wallmann, Sie sind als Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit angetreten. Ich vermisse bis heute von Ihnen — auch heute wieder — ein klares Wort zu den Risiken der Wiederaufbereitung und der SchnellbrüterTechnologie. Sie haben zwar etwas zum Export gesagt, aber nichts zur Sache. Sie erklären überall, daß die deutschen Kernkraftwerke die sichersten in der Welt seien. Beim Schnellen Brüter in Kalkar wüßte ich nicht, auf welcher Information dieses Sicherheitsempfinden beruht.
Im Gegenteil: Seit dem Bericht des Landes Nordrhein-Westfalen an den Bund über die Risiken und Bedenken gegen die Betriebsgenehmigung beim Schnellen Brüter in Kalkar haben wir Sozialdemokraten vom Bundesminister für Forschung und Technologie
und von Ihnen, Herr Wallmann, über eine Anweisung zur Genehmigung des Schnellen Brüters nichts mehr gehört. Was ist jetzt Ihre Meinung zur Position von Nordrhein-Westfalen? Ich schließe daraus — jedenfalls aus Ihrem Schweigen —, daß Sie die Bedenken und Risikoeinschätzung der nordrhein-westfälischen Landesregierung zum Schnellen Brüter teilen. Wenn das so ist, Herr Wallmann, dann verstehe ich nicht, was Ihre Aussage bedeuten soll, daß die deutschen Kernkraftwerke die sichersten in der Welt seien.
Dann verstehe ich überhaupt nicht, wie Sie dem unverantwortlichen Treiben der Bayerischen Staatsregierung beim Durchpeitschen der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf nur zusehen können.Die Unwirtschaftlichkeit der Wiederaufbereitung ist unter allen Experten unbestritten. Ich frage mich auch, warum das Bundeswirtschaftsministerium an einem unwirtschaftlichen Projekt festhält und nicht klar sagt, daß es keine Berechnung mehr gibt, die die Wiederaufbereitung als wirtschaftlich darstellt.
— Sie wissen, daß wir für Endlagerung sind.
Wenn der Brüter nicht in Betrieb geht, ist nicht der geringste Grund ersichtlich, warum wir eine Wiederaufbereitung in der Bundesrepublik Deutschland wollen. Ich frage mich schon seit langer Zeit, ob nicht mit dem Durchsetzen der Wiederaufbereitung in der Bundesrepublik Deutschland eine langfristige technische Option auf Kernwaffen erhalten werden soll. Der Plutoniumkreislauf ist nicht nur hoch gefährlich, er ist auch völlig unwirtschaftlich. Weshalb halten Sie dann an diesem unwirtschaftlichen Konzept ständig fest?Ich komme zum Schluß. Ein Minister für Reaktorsicherheit, der den Ausstieg aus der Kernenergie für moralisch nicht zu verantworten hält, was er heute erneut angedeutet hat,
muß sich natürlich fragen lassen, wie dieser christliche Politiker zur ethisch begründeten Ablehnung von Kardinal Höffner über die Nutzung der Kernenergie steht.
Man kann doch nicht durch Allgemeinplätze eine Position — und zumal eine ethische Position — beantworten.
Kardinal Höffner hat unmißverständlich erklärt, daß das sogenannte Restrisiko moralisch unvertretbar ist.
Damit ist eine ganz neue Dimension der Sicherheitsdiskussion eröffnet.Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, werden die geschäftigen Aktivitäten des neuen Ministers immer fadenscheiniger.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus der Katastrophe in Tschernobyl haben SPD und GRÜNE eine sehr simple, gefühlsbetonte Folgerung gezogen: Sie fordern die Abschaltung aller deutschen Reaktoren.
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Dr. LaufsIch glaube nicht, Herr Kollege Roth, daß man sich am besten vor Radioaktivität schützt, indem man den Kopf in den Sand steckt.
Die Abschlußresolution der Wiener Sonderkonferenz macht deutlich, daß bei den Konferenzteilnehmern ein breiter Konsens über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Notwendigkeit einer weiteren friedlichen Nutzung der Kernenergie besteht. SPD und GRÜNE stehen international isoliert da.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben andere Schlußfolgerungen aus Tschernobyl gezogen: Sie haben sich sofort um die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit und des Strahlenschutzes bemüht und ein nationales Gesetz zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung vorbereitet, das wir heute in erster Lesung hier beraten.
Die Initiative des Bundeskanzlers und unsere Vorschläge haben — auch wenn Sie von der SPD dies nicht zur Kenntnis nehmen wollen — große Beachtung und Anerkennung gefunden. Dies wurde in Wien ausdrücklich in verschiedenen offiziellen Statements gewürdigt und wurde insbesondere auch deutlich in zahlreichen bilateralen Gesprächen mit Vertretern aus den USA, aus China, Japan, den Niederlanden, Dänemark, der DDR und der UdSSR. Mit der Wiener Konferenz ist mehr erreicht worden, nämlich zwei Konventionen und die Abschlußresolution, als allgemein erwartet worden war.Darüber hinaus hat die Konferenz entscheidende Impulse für die internationale Kooperation in der Zukunft gegeben, namentlich die Bemühungen, die Internationale Atomenergie-Organisation als Instrument zur Erhöhung der kerntechnischen Sicherheit weltweit zu nutzen.Das Wiener Ergebnis ist ein erster wichtiger Erfolg, für den wir ganz besonders Bundesminister Dr. Wallmann unseren Dank sagen wollen.
Die kerntechnischen Sicherheitsstandards sind im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich. Die Kritik daran, daß wir uns um ein Höchstmaß an Sicherheit weltweit bemühen, ist völlig unbegreiflich. Die Risiken sind grenzüberschreitend, und die Frage vieler Menschen heute ist, ob sie nicht trotz aller Bemühungen unverantwortbar hoch sind.Diese Sorge nehmen wir sehr ernst. Sie beschäftigt den Gesetzgeber und die Rechtsprechung seit Beginn der friedlichen Kernenergienutzung. Das weiß vielleicht der neue Experte für Reaktorsicherheit und Strahlenschutz, der Kollege Roth von der SPD, noch nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat für das Atomrecht festgestellt, daß Genehmigungen für Kernkraftwerke nur zulässig sind, wenn Schäden an Leben, Gesundheit und Sachgütern nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheinen. Das Restrisiko besteht in den Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft. Die Ungewißheiten haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens.
So die Worte des Verfassungsgerichts.
Alle deutschen Kernkraftwerke entsprechen diesen strengen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Daher war bisher auch keine Klage gegen ein deutsches Kernkraftwerk unter dem Aspekt des Restrisikos erfolgreich.Die UdSSR hat inzwischen ihren Bericht zum Unfall im Kernkraftwerk von Tschernobyl und seine Folgen vorgelegt und die Ursachen mit unerwarteter Deutlichkeit offengelegt. Diesem Bericht entnehmen wir, daß es ganz enorme sicherheitstechnische Unterschiede im Vergleich zu deutschen Reaktoren gibt. Leistungsreaktoren westlicher Bauart haben ein hohes Maß an inhärenter Sicherheit. Dies beweist gerade auch das Unglück von Harrisburg, wo das physikalische Verhalten des Systems und die Sicherheitseinschlüsse verhinderten, daß dramatisch sich eskalierende Fehlhandlungen der Bedienungsmannschaft zu Schäden an Mensch und Umwelt geführt haben.
Der Reaktor von Tschernobyl dagegen kennt Betriebszustände, in denen er inhärent instabil ist, d. h. in der Folge von Störungen und Fehlbedienungen automatisch durchgeht und völlig außer Kontrolle geraten kann.Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige weitere Unterschiede verdeutlichen. Bei uns liegt der sicherheitstechnischen Auslegung eines Kernkraftwerks eine Reihe von denkbaren Störfällen zugrunde, deren sichere Beherrschung im Genehmigungsverfahren und bei den späteren Prüfungen während des Betriebs nachgewiesen werden muß. Das Spektrum der sogenannten Auslegungsstörfälle ist für die Kernkraftwerke der westlichen Länder im wesentlichen identisch, im einzelnen natürlich abhängig vom Reaktortyp. Die vernünftigerweise anzunehmenden Auslegungsstörfälle sind für den britischen gasgekühlten Graphitreaktor, den kanadischen Natururan-Schwerwasser-Druckröhrenreaktor, den deutschen Hochtemperaturreaktor, den Schnellen Brüter, oder die üblichen Druck- und Siedewasserreaktoren jeweils in den Einzelheiten unterschiedlich. Die Sicherheitsphilosophie, die Schutzziele und der Grundsatz der Mehrfachsicherung sind aber gleich.
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Dr. LaufsDie Sicherheitsmaßnahmen im Ostblock unterscheiden sich davon wesentlich. Dies gilt insbesondere auch für die Behandlung denkbarer Kühlmittelverluststörfälle.
In Tschernobyl z. B. wird um den zerstörten Reaktor der Sicherheitseinschluß, also das Containment, erst jetzt, nach dem Unfall und nach der Freisetzung riesiger Radioaktivitätsmengen, errichtet. Bei uns können Anlagen nicht genehmigt werden, wenn sie kein doppeltes Containment besitzen. Für unsere Kernkraftwerke gilt, daß alle sicherheitstechnischen Einrichtungen mehrfach vorhanden und soweit wie möglich völlig unabhängig und räumlich voneinander getrennt funktionsfähig sein müssen. Zur Beherrschung eines bestimmten Störfalles sind zwei Systeme mehr vorhanden als notwendig. Dieser hohe Grad an Redundanz wird international bei weitem nicht überall erreicht.Auch der hohe Grad der Automatisierung in deutschen Kernkraftwerken ist international noch nicht üblich. Wenn in einer deutsche Anlage ein Störfall eintritt, ist in den ersten 30 Minuten kein menschlicher Eingriff zur Gefahrenabwehr notwendig, weil vom Betriebspersonal nicht unter Streß und Zeitdruck entscheidende Handgriffe verlangt werden dürfen, obwohl diese natürlich möglich sind. Ein Schutz gegen Terroranschläge bis hin zum gänzlichen Ausfall des Personals und erheblicher Zerstörung ist wie bei deutschen Kernkraftwerken nicht allgemeiner internationaler Standard. Schließlich sind die deutschen Vorschriften für die ständige Überprüfung der sicherheitstechnischen Systeme während des Betriebs im internationalen Vergleich nicht sehr weit verbreitet.Meine Damen und Herren, es gibt also zur Verbesserung des internationalen Regelwerks der Reaktorsicherheit aus deutscher Sicht noch viel zu tun.In dieser Situation empfiehlt die Opposition den deutschen Ausstieg.
— Das hat nicht gerade den Charme der Logik, Herr Kollege Vosen. Wir begrüßen als großen Erfolg gerade auch der Bemühungen von Bundesminister Dr. Wallmann, daß schon im November eine wissenschaftliche Konferenz der IAEO zu Fragen des internationalen Sicherheitsstandards beginnen wird.Meine Damen und Herren, es ist unzutreffend und unredlich, wenn SPD und GRÜNE den Eindruck erwecken und ihrer Energiepolitik die Prämisse unterlegen, als sei das Risiko der Kernenergienutzung überall und auch in der Bundesrepublik so groß wie in Tschernobyl.
Es macht wenig Sinn, die Rheinschiffe gegen Eisberge zu schützen, weil die Titanic an einem zugrunde gegangen ist. Man muß sie gegen andere Gefahren sichern, und das haben wir auch mit bestmöglicher Sorgfalt bisher getan. Wir sind dabei, zu überprüfen, ob wir auch gewisse Vorkehrungen zurBeherrschung von Störfällen treffen können, die noch wesentlich über unsere Auslegungsstörfälle hinausgehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Strahlenschutz sagen. Die Strahlenschutzverordnung bestimmt, daß der Betreiber die technische Auslegung, den Betrieb seiner Anlagen so planen muß, daß die durch Ableitung radioaktiver Stoffe mit Luft und Wasser bedingte Strahlenexposition des Menschen 30 Millirem pro Jahr für den Ganzkörper nicht übersteigt. An dieser Philosophie, bereits über die Auslegung und den Bau der Anlage die Einhaltung der vorgeschriebenen Grenzwerte zu gewährleisten, ändert sich durch das neue Strahlenschutzvorsorgegesetz überhaupt nichts. Es muß jedoch, wie der Unfall in Tschernobyl gezeigt hat, Vorsorge gegen solche Fälle getroffen werden, in denen die Vorschriften der Strahlenschutzverordnung nicht greifen, d. h. vor allem, wenn die Strahlenbelastung aus dem Ausland oder von einem Transportunfall herrührt.Strahlenschutzverordnung und Strahlenschutzvorsorgegesetz haben verschiedene Adressaten und regeln unterschiedliche Situationen. Bei der Strahlenschutzvorsorge sind verschiedene Konstellationen zu berücksichtigen. So ist entscheidend, welche Witterung zur Zeit des Unfalls herrscht oder ob er im Frühjahr oder während der Erntezeit eintritt. Maßgeblichen Einfluß hat auch die Versorgungslage mit Lebensmitteln. Ein entsprechend flexibles und schnelles sowie angemessenes Reagieren auf besondere Lagen wäre beim Festschreiben aller schlechthin denkbaren Dosiswerte im Gesetz selbst oder auch in einer einzigen Verordnung kaum möglich. Eine solche gesetzliche Fixierung würde sich auf den vorsorgenden Schutz der Bevölkerung eher hemmend auswirken und zu Lasten der Bevölkerung gehen. Daher hat das Bundesverfassungsgericht die Bestimmung von Dosis-Grenzwerten durch Rechtsverordnung für das Atomrecht in seiner berühmten Kalkar-Entscheidung ausdrücklich gebilligt und als eine praktikable Lösung zur Gewährleistung eines umfassenden Grundrechtsschutzes angesehen.Diesen Weg gehen wir auch mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Herr Kollege Roth, die Länder werden, wie das Grundgesetz es vorsieht, am parlamentarischen Verfahren und bei der Festlegung der Grenzwerte beteiligt. Der Bundesrat wird im November Stellung nehmen, natürlich bevor der Gesetzentwurf hier in diesem Parlament abschließend beraten ist.
Die Verordnungen über Dosis-Grenzwerte sind zustimmungspflichtig. Es wäre gut gewesen, HerrKollege Roth, wenn Sie den Gesetzentwurf vor Ih-
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Dr. Laufsrer polemischen Kritik hier wenigstens einmal gelesen hätten.
Wir können die maßlose Kritik durch die Opposition nicht begreifen. Ich appelliere an die Vernunft der Kollegen von der SPD. Sie können im Bundesgebiet so viel gegen Kernkraftwerke demonstrieren, wie Sie wollen,
und Ausstiegspapiere beschließen, wie es Ihnen gefällt: Tatsache bleibt, daß die Bundesrepublik Deutschland von vielen Kernkraftwerken ihrer Nachbarstaaten umgeben bleibt.
Tatsache bleibt, daß unsere Grenzen nicht gegen Radioaktivität von außen schützen. Deshalb sollten Sie bei den Vorsorgemaßnahmen konstruktiv mitwirken, die wir jetzt eingebracht haben.Wäre es Ihnen mit dem Wohl und der Gesundheit der Bevölkerung wirklich so ernst, müßte dieses Gesetz vom Deutschen Bundestag einstimmig verabschiedet werden. Wir vertrauen der Bundesregierung und dem Bundesrat, daß sie die neuen Instrumente der Strahlenschutzvorsorge zum Wohle der Menschen und der Umwelt verantwortungsvoll nutzen werden.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hönes.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser neuer Umweltminister ist im Nadelstreifen nach Wien gereist und kam nackt zurück. Welch ein peinlicher Anblick, Herr Wallmann!
Die Propagandaschau-Konferenz der Bundesregierung ist kläglich gescheitert. Nicht der geringste Fortschritt bei der sogenannten Sicherheit der Atomreaktoren in der Welt wurde erzielt. Alles, was unser Atomminister mit nach Hause bringen konnte, war die bessere Vorbereitung auf die nächste Reaktorkatastrophe — nicht mehr und nicht weniger. „Frühzeitige Information und wechselseitige Hilfeleistung sollen von jetzt ab den Schutz vor grenzüberschreitenden Auswirkungen eines möglichen Reaktorunfalls wesentlich verbessern." — Angeblich.
So Wallmann wörtlich, Herr Kollege, wörtlich.Wen will die Bundesregierung nach der Erfahrung von Tschernobyl denn damit überzeugen?Doch die Bürger und Bürgerinnen nicht! Die sind wesentlich kritischer.
Wechselseitige Hilfeleistungen, Herr Dr. Wallmann? Wo doch die ganze Welt hilflos war, als die Dampfblase in Harrisburg zu explodieren drohte und der Reaktor in Tschernobyl brannte! Nein, Herr Wallmann, die Konventionen der Wiener Reaktorkonferenz haben nur eines bestätigt: Mit einer weiteren Reaktorkatastrophe, wie in Tschernobyl muß jederzeit gerechnet werden.
Die von Helmut Kohl initiierte Konferenz geriet zum kolossalen Reinfall.Herr Dr. Wallmann, bitterernst zu nehmen ist jedoch Ihr heute vorgelegter Gesetzentwurf mit dem harmlosen Titel „Strahlenschutzvorsorgegesetz". Der Inhalt dieses neuen Gesetzes läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Über die Verseuchung der Bevölkerung entscheidet der Umweltminister. Alles weitere regelt eine Rechtsverordnung. — Dieser Entwurf bedeutet ein Ermächtigungsgesetz für den Strahlennotstand.
Alles wird vorbereitet für den nächsten Super- GAU.Und wenn es soweit ist, haben wir folgende Situation: Wallmann ordnet an, ob eine radioaktive Gefahr besteht oder nicht. Wallmann verordnet den Grenzwert, der zu akzeptieren ist. Wallmann und niemand sonst gibt der Bevölkerung Empfehlungen oder nicht.Orwells „1987" könnte folgendermaßen aussehen, meine Damen und Herren: Der Bundesumweltminister mit seiner neuen Nachdenklichkeit, die in dieser Regierung inzwischen en vogue geworden ist, und sein Kanzler sitzen gemütlich im Atombunker an der Ahr, denn in Mülheim-Kärlich bei Koblenz hat sich ein Kernschmelzunfall ereignet. Eine Evakuierung ist ausgeschlossen, Panik ist unbedingt zu vermeiden. Über alle Bildschirme flackert in Direktübertragung die neueste Empfehlung: Wir nehmen die Ängste der Bevölkerung sehr ernst, aber zum jetzigen Zeitpunkt besteht kein Grund zur Beunruhigung. Es ist nicht erforderlich, besondere Schutzmaßnahmen zu treffen.Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist die bisher schlimmste Antwort der Bundesregierung auf Tschernobyl. Schamlos wird an dem Bedürfnis der Bevölkerung nach Übersicht und glaubwürdiger Information angeknüpft, um den Atomstaat weiter zu zentralisieren. Schamlos macht sich die Bundesregierung die widerwärtigste Eigenschaft der Radioaktivität zunutze: ihre Sauberkeit, ihre Unsichtbarkeit. Der Mensch hat nun einmal kein Organ, das die Radioaktivität erfaßt. Wenn der Mensch die Radioaktivität spürt, ist es bereits zu spät; dann ist er bereits halbtot. Gerade weil dies so ist, Herr Kollege Laufs, liegt das Leben von Tausenden von Menschen in den Händen derer, die über Grenzwerte und zulässige Dosen verfügen.
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Frau HönesWenn in irgendeinem Bereich unserer Gesellschaft Transparenz und öffentlicher Meinungsstreit zugelassen werden müssen, dann in diesem Bereich.
Die Bundesregierung aber will mit diesem Gesetzentwurf gerade das Gegenteil: Intransparenz und das Strahlendiktat von oben. Der Atomstaat liebt das Dunkel und scheut das Licht.Mit diesem Gesetz wird auf Dauer legalisiert, was diese Regierung im Umgang mit der Katastrophe von Tschernobyl ohnehin schon praktiziert hat. Zahlreiche Beispiele aus den ersten Wochen und Monaten nach der Katastrophe zeigen: Das Mißtrauen der Bevölkerung in die Bundesregierung war berechtigt und notwendig. Das Gespenst Atomstaat zeigt sich doch bereits an allen Ecken und Enden. So hat selbst der Bundesumweltminister bestätigt, daß die den regionalen Wetterämtern aus der Zentralstelle des Deutschen Wetteramtes in Offenbach übermittelten Werte ausschließlich als Verschlußsache „Nur für den Dienstgebrauch" ausgewiesen waren. Damit war ihre Weitergabe an die Öffentlichkeit ausdrücklich untersagt. So wurden Wissenschaftlern in Kiel, Ulm und Regensburg, die sich auf Grund eigener Radioaktivitätsmessungen an die Öffentlichkeit wandten, massiv unter Druck gesetzt, um sie zum Dementi ihrer Gefährdungseinschätzung und ihrer Forderungen zu bewegen, denn Ruhe ist natürlich die erste Bürgerpflicht.Meine Damen und Herren, die eigentliche Katastrophe war für diese Regierung doch gar nicht die freigesetzte Radioaktivität nach Tschernobyl, sondern die Unruhe in der Bevölkerung, die Gefahr, es könne da etwas aus dem Ruder laufen, das ehrgeizige Atomprogramm könne sich nicht mehr realisieren lassen. Damals mußte natürlich alles ausgeschaltet werden, was sich diesen Plänen in den Weg stellte — das ist doch ganz klar —: als allererstes die mündigen Bürgerinnen und Bürger, dann die verantwortungsvollen Wissenschaftler und auch eine Landesregierung, die auf Drängen des grünen Umweltministers Joschka Fischer die niedrigsten Grenzwerte in der Republik festsetzte, um wenigstens so für einen einigermaßen ausreichenden Gesundheitsschutz zu sorgen.Deshalb wird dieses Notstandsgesetz — und ich scheue mich nicht, dieses Wort noch einmal zu wiederholen: dieses Notstandsgesetz — am Bundesrat vorbei durchgesetzt.
Sie lassen zwar die Landesregierungen noch messen, aber das Informationsmonopol und das Bewertungsmonopol sichern Sie sich selbst. Ich kann mir nicht vorstellen, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß ein Joschka Fischer oder ein Jo Leinen so verantwortungslos sein könnten,
wenn sie Werte besäßen, die ihnen klarmachten, daß sie Bevölkerung voll und ganz informiert werden müßte, sich von Ihnen in irgendeiner Weise beeindrucken zu lassen. Oder wollen Sie ihnen den Kommissar für abweichende Meinungen auf den Hals schicken?
Nun sollen also die Menschen in der Bundesrepublik nach Ihrem Willen mit diesem neuen Gesetz wie mit einer großen Schlaftablette wieder in Ruhe und Sicherheit gewiegt werden.
Wer allerdings den Beipackzettel aufmerksam liest, wird schnell merken, daß die Bundesregierung die Nebenwirkungen dabei ebenso verharmlost wie ihre Freunde in der pharmazeutischen Industrie. Schon heute wird von der Strahlenschutzkommission ignoriert, daß Schwangere, Stillende, Säuglinge, Kleinkinder und Personen, die in Atomanlagen arbeiten, durch radioaktiv belastete Nahrungsmittel einem ungleich höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind als andere Bevölkerungsteile.Lassen Sie mich noch ein Wort an die Herren der CDU richten, die in bigotter Art und Weise in die Debatte um den § 218 eingegriffen und die GRÜNEN zu wahren Kindsmördern hochstilisiert haben. Diesen Herren
mag es zu denken geben, daß die Belastungen durch das radioaktive Jod aus der TschernobylWolke für Säuglinge und Ungeborene nur abgeschätzt werden konnte; denn — ich zitiere aus einer Stellungnahme der DWK zu derselben Kritik an den Berechnungen für die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf — „die Gruppe der Säuglinge und Ungeborenen ist in den einschlägigen Berechnungsgrundlagen des BMI zu § 45 der Strahlenschutzverordnung nicht als zu betrachtende Personengruppe ausgewiesen". Zynischer geht es überhaupt nicht. Und ich spreche Ihnen jedes Recht ab, in diese Debatte nur ein einziges Mal noch eingreifen zu wollen.
— Aber das moralische Recht haben Sie verwirkt.Statt diesen Gruppen möglichst unbelastete Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, wurden Lebensmittel mit hoher und niedriger Belastung gemischt. Auch hochbelastete Produkte wurden zu lagerfähigen Produkten wie Milchpulver und Tiefkühlkost verarbeitet. So kommt es dazu, daß Milchpulver von Voll- oder Magermilch Mitte September in einzelnen Proben mit bis zu knapp 360 Bq/kg Radioaktivität belastet war. Beide Maßnahmen sind das Gegenteil eines verantwortungsvollen Gesundheitsschutzes der Bevölkerung. Nach dem Motto „Wirtschaftlichkeit vor Gesundheit" sollen die Entschädigungskosten so gering wie möglich gehalten werden. Das ist doch das Problem.Das Institut für Energie und Umweltforschung in Heidelberg hat die Folgen dieser von der Bundesre-
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Frau Hönesgierung unterlassenen Maßnahmen berechnet: 15 000 bis 60 000 zusätzliche Krebstote in den nächsten 70 Jahren.Auch jetzt wieder müssen Schutzmaßnahmen getroffen werden. Sonst nehmen Sie, Herr Dr. Wallmann, billigend in Kauf, daß bis zu 4 000 Menschen an Krebs erkranken, wenn die vor allem in Bayern stark kontaminierten Futtermittel wie Heu und Silage im Winter an Kühe und Rinder verfüttert werden.
Wir fordern Sie auf, durch Bereitstellung von Ersatzfuttermitteln oder Maßnahmen zur gesonderten Verwertung bzw. Entsorgung zu verhindern, daß Milch oder Fleisch im nächsten Winter durch dieses Heu belastet werden. Aber es ist natürlich zu befürchten, daß Ihnen Ihre Freunde in der Strahlenschutzkommission näher sind als die Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung.
Alle Mitglieder dieser sogenannten Strahlenschutzkommission haben materielles Interesse an der weiteren Durchsetzung des bundesdeutschen Atomprogramms. Sollten diese Herren auch künftig die einzigen sein, die über die Festsetzung von Grenzwerten hinter verschlossenen Türen über das Krebsrisiko für Millionen entscheiden? So war es in dieser Kommission möglich, den Säuglingen durch ihren Grenzwert für Jod 131 in der Milch mit einem Liter Milch die zweifache Jahreshöchstdosis für die Schilddrüse eines Erwachsenen zuzumuten.Durch ihre zweifelhaften Empfehlungen und durch ihre fahrlässigen Grenzwerte hat sich die Strahlenschutzkommission als Schutzkommission disqualifiziert. Wir fordern deshalb als notwendige Sofortmaßnahme zum Schutz der Bevölkerung vor radioaktiver Belastung die sofortige Auflösung dieser Strahlenschutzkommission, außerdem die Neubesetzung der Strahlenschutzkommission durch ein Gremium von Wissenschaftlern, die sich nicht als Lobbyisten der Atomenergie unglaubwürdig gemacht haben,
das Recht für Umweltverbände auf Mitsprache bei der Neubesetzung, Erweiterung der Kommission durch Vertreter aus relevanten gesellschaftlichen Verbänden, Festlegung von Grenzwerten auf parlamentarischer Ebene, nicht hinter verschlossenen Türen, kein Informationsmonopol der Bundesregierung, sondern Transparenz von Informationen und Daten, Akteneinsichtsrecht für die Öffentlichkeit und keine Zentralisierung von Meßwerterfassung und -auswertung, —
Frau Kollegin, das war ein guter Schlußsatz.
— sondern Erhebung und Auswertung von Daten auf regionaler und kommunaler Ebene. Alle Daten sind unverzüglich und regelmäßig der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Ende kommen. Sie haben anderthalb Minuten überzogen.
Ich komme zum Schluß.
Das war doch ein Schlußsatz.
Wir fordern Sie dringend auf, darauf zu verzichten, noch kurz vor Torschluß und im Rekordtempo ein neues Gesetz durch den Bundestag zu peitschen, das mit Strahlenvorsorge nichts, aber auch gar nichts zu tun hat —
So, jetzt ist aber Schluß.
— dafür aber wesentlich mehr mit einer arglistigen Täuschung der Bevölkerung.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion akzeptiert das Gesetz. Wir halten das Gesetz für notwendig. Der Kompetenz- und Informationswirrwarr, der nach Tschernobyl bestanden hat, muß verhindert werden. Dieses Gesetz ist ein wirksamer Beitrag dazu. Wir sind offen für Anregungen und Verbesserungen. Aber wir wehren uns entschieden dagegen, dies als ein Notstands- oder Ermächtigungsgesetz zu bezeichnen.
Es ist in der gesamten Umweltgesetzgebung üblich, daß Grenzwerte — hier Dosis-Grenzwerte — in Verordnungen festgelegt werden; Beispiel: TA Luft. In solchen Fällen ist die Verwaltung flexibler. Der Gesetzgeber ist viel zu schwerfällig. Es gibt in diesem Fall auch noch keine europäischen Werte. Die sind in der Beratung.Somit ist es ein durchaus übliches Verfahren, diese Werte durch die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Bundesländern festlegen zu lassen. Wir erwarten allerdings, daß diese Festlegung — Herr Wallmann hat das heute zugesagt — nicht erst im Störfall erfolgt, sondern schon vorher,
damit die Bundesländer beteiligt sind. Das muß der Normalfall sein. die Tätigkeit des Umweltministers im Alleingang sollte wirklich die äußerste Ausnahme sein.
Wir werden es nicht zulassen — das ist auch keineswegs beabsichtigt —, den Strahlenschutz abzuschwächen. Wenn hier die Kollegin der Bundesregierung unterstellt, sie wolle die Gesundheit der
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BaumBürger nicht schützen, dann muß ich das strikt und entschieden zurückweisen.
Das kann sich keine Bundesregierung leisten.
Es wird in einem solchen Fall künftig natürlich auch einen öffentlichen Meinungsstreit geben. Wir sind doch nicht naiv.
Jede Bundesregierung wird versuchen, auf die sichere Seite zu kommen, um sich nicht den Vorwurf machen zu lassen, daß sie die Gesundheit der Bevölkerung mißachte.
Wir sind für diese wichtige Gesetzgebung. Es wird ein Meßstellennetz aufgebaut, das immerhin 150 bis 200 Millionen DM kostet. Das haben wir bisher nicht. Ich frage mich: Was können Sie eigentlich dagegen haben? Die Bürger erwarten von uns, daß sich Vorfälle wie beim letzten Mal nicht wiederholen.
Zweiter Punkt. Für uns hat die Kernenergie — das ist heute diskutiert worden — den Charakter einer Übergangsenergie. Wir sind nicht für Kernenergie ohne „Wenn und Aber". Wir können und wollen sie verantworten, solange sie nicht durch andere, umweltfreundlichere Energieformen ersetzt wird. Aber unser Ziel ist es, solche Energiegewinnungsformen mit allem Nachdruck zu entwikkeln, um die Kernenergie so schnell abzulösen, wie das umweltpolitisch und wirtschaftspolitisch vertretbar ist. Dazu sind Forschung und internationale Zusammenarbeit drastisch zu verstärken.Ich möchte anregen, Herr Kollege Wallmann, daß solche Konferenzen auch dazu benutzt werden, um einmal auszuloten, wie weit die anderen Staaten, die Kernenergie nutzen, bereit sind, mit uns zusammen alternative, regenerierbare Energieformen zu erforschen, damit es auf diesem Feld zu einer internationalen Arbeitsteilung kommt. Ich nenne z. B. das Stichwort Eureka.
Ich möchte also die Bundesregierung auffordern, hier initiativ zu werden.Wir sind angesichts des Restrisikos zu einem solchen Verhalten verpflichtet. Das hat Kardinal Höffner gesagt; das ist immer unsere Meinung gewesen. Ich stelle hier mit Nachdruck fest, die Nutzung der Kernenergie ist moralisch nicht geboten. Über Kernenergie hinauszudenken, ist notwendig. Sie darf nicht die letzte Antwort auf die Energieprobleme der Menschheit sein. Wer dies behauptet, ist fortschritts- und technologiefeindlich und nimmt seine Verantwortung für die jetzige und für künftige Generationen nicht wahr.
Wir sehen allerdings auch — das sage ich jetzt den Sozialdemokraten, die eben geklatscht haben — die Umweltprobleme, die bei einem nicht abgewogenen, nicht überdachten Ausstieg aus der Kernenergie, wie Sie ihn vorschlagen, auftreten. Es kann doch nicht wahr sein, daß wir hier über Buschhaus heftig diskutiert haben und das heute plötzlich keine Rolle mehr spielt.
Das Versprechen eines festen Datums für den Ausstieg ist keine verantwortliche Politik. Dafür haben Sie keine Grundlage, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie.
Wir stehen an einer Zäsur. Wir haben den letzten Konvoi der Kraftwerke jetzt im Schlußstadium des Baus; sie werden in Betrieb gehen. Ich habe sie im übrigen 1982 in Übereinstimmung mit der damaligen Regierung genehmigt. Für mich ist das aber ein vorläufiger Abschluß des Ausbaus der Kernenergie. Ich sehe keine Notwendigkeit für die Erhöhung des Kernenergieanteils in der Energieversorgung. Es gibt j a bisher auch keine Anträge; das müssen wir deutlich sehen und sagen.
Ich möchte Sie noch darauf hinweisen, daß meine Partei zum Schnellen Brüter beschlossen hat, daß wir seine kommerzielle Nutzung nach wie vor ablehnen und daß wir die forschungspolitische Konzeption des Brüters überdenken wollen. Das heißt, eine Entscheidung über die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters ist bei und noch nicht getroffen. Wir überdenken dies.
Lassen Sie mich — die Zeit ist ja sehr kurz — noch ein Wort zu Wien sagen.
— Ich zitiere die Beschlüsse des Parteitags meiner Partei. Das ist j a wohl eine verbindliche Aussage, die ich hier machen kann.
Ich möchte der Bundesregierung und dem Bundesminister Wallmann für das Ergebnis von Wien danken. Meine Damen und Herren, wenn Sie je auf internationalen Konferenzen gewesen sind, werden Sie wissen, daß man nicht alles erreichen kann. Hier ist ein wichtiger Schritt gemacht worden, ein
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18158 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
BaumSchritt, der vor Tschernobyl nicht möglich war. Wir haben einen Weg eingeschlagen, der fortgesetzt werden muß. Ich möchte Herrn Wallmann ermutigen, das mit Nachdruck zu tun. Wir brauchen internationale Sicherheitsstandards. Die müssen nachprüfbar sein. Wir müssen auch mit gutem Vorbild vorangehen. Ich begrüße es, daß die Bundesregierung gesagt hat: Unsere Kernenergieanlagen sind für die Kontrolle offen. Wir müssen durch Beispiel wirken und müssen die anderen mit uns ziehen.Ich möchte Sie auch auffordern, Herr Kollege Wallmann, bilaterale Abmachungen mit unseren Nachbarn nicht aus dem Auge zu verlieren. Da wird möglicherweise noch mehr zu erreichen sein als in den internationalen Vereinbarungen, die Sie hier getroffen haben.Das ist also ein Anfang, den wir begrüßen und auch als Erfolg der Bundesregierung ansehen. Wir möchten sie ermutigen, auf diesem Wege weiterzugehen.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann nicht glauben, Frau Kollegin Hönes, daß das wirklich Ihre Meinung ist, was Sie hier vorgetragen haben.
Ich glaube nicht, Frau Kollegin, daß sich die Welt so schlicht aufteilen läßt: Dort sitzen die guten und dort sitzen die bösen Politiker. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß wir natürlich miteinander unterschiedliche Meinungen auszutragen haben. Was die Frage der Festsetzung der Dosiswerte anlagt, werden wir dieses durch die Kommission wesentlich befördern. Ich halte Politiker nicht für kompetent und berechtigt, sozusagen schlank und freiweg zu sagen: Dies war es dann. Vielmehr findet gerade hier die Diskussion statt und muß stattfinden.
Zu Ihnen, Herr Kollege Roth, ein kurzes Wort. Im Zusammenhang mit dem Schnellen Brüter sind Tatsachen behauptet worden, Materialfehler und dergleichen. Diese Tatsachen werden untersucht. Vom Ergebnis wird selbstverständlich das Votum auch meines Hauses abhängen. So schlicht und einfach ist das.Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, zwei Bemerkungen dazu: Dieser Schnelle Brüter ist zu Ihrer Zeit in Auftrag gegeben, geplant und gebaut worden. 17 Teilerrichtungsgenehmigungen sind von Sozialdemokraten erteilt worden, 4 Milliarden DM sind seit 1972/73 bis zum Regierungswechsel in Bonn ausgegeben worden. Ich stimme dem Herrn Kollegen Baum völlig zu: Niemals — auch nicht in der Zeit, als Sie Minister waren, Herr Kollege Baum — ist es bei diesem Schnellen Brüter darum gegangen, wirtschaftliche Erwägungen anzustellen. Es ist vielmehr ein Forschungsprojekt, und deswegen ist die Frage von Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit völlig uninteressant.
— Entschuldigung, Wackersdorf ist das Ergebnis des Entsorgungskonzepts des Bundeskanzlers Schmidt vom 28. September 1979, einstimmig beschlossen!
Schließlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, habe ich Angst vor den schrecklichen Vereinfachern — das habe ich schon einmal gesagt —, vor den schrecklichen Vereinfachern,
vor denjenigen, die den vermeintlich bequemen Weg gehen wollen. Ich persönlich stehe auf dem Standpunkt: Es gibt keinen vernünftigen Menschen, der die Kernkraft anbetet, der kernkraftsüchtig ist.
— Nein, verzeihen Sie bitte, die gibt es nicht! Es geht vielmehr um die Frage, ob heute unter den Bedingungen, die ich genannt habe, nämlich: Dritte Welt, klimatische Verhältnisse, nächste Generationen, ein Ausstieg unter den Bedingungen höchster Sicherheitsanforderungen ethisch verantwortbar ist, und da ist meine Antwort: nein, nicht verantwortbar.Ich habe vorhin gesagt, daß mich das Gespräch mit dem Herrn Kardinal tief bewegt hat. Er hat davon gesprochen, daß es die Verpflichtung von Politik und Wissenschaft gibt, an jedem Tage nach weniger riskanten Energiearten zu suchen. Gibt es darüber einen Dissens? Doch wohl nicht! Wir sollten ihm dafür dankbar sein, daß er dies so ausgedrückt hat.
Er hat gesagt: In diesem Sinne ist die Kernenergie eine Übergangsenergie,
nämlich bis wir eine sicherere Energieart haben. Gibt es da zwischen vernünftigen Menschen Unterschiede? Doch wohl nicht!
Das ist ein Anspruch, der an uns formuliert wird, den wir doch nachdrücklich zu unterstreichen haben. Der Kardinal sagt ausdrücklich: Ich weiß nicht, wie lange diese Übergangszeit dauert.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Punkt war noch wichtig: In diesem langen Gespräch hat der Kardinal mir darin zugestimmt, daß
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Bundesminister Dr. Wallmannein isolierter nationaler Ausstieg ja überhaupt nicht die Lösung der Probleme bringen kann.
Er hat — genau wie ich es gesagt habe — hinzugefügt: Wenn diese friedliche Nutzung der Kernenergie also das Teufelszeug ist, das nicht verantwortbar ist, dann dürfen Sie das nicht einmal als Übergangslösung gestatten,
dann muß sofort abgeschaltet werden.
Da wird die Frage nach Ihrer Glaubwürdigkeit gestellt!
Meine Damen und Herren, darf ich eine Zwischenbemerkung machen, die sich an alle Seiten richtet. Dieser Saal hat es in sich, wenn es um das Aufnehmen von Zwischenrufen geht. Wenn Sie denn schon keine Rücksicht auf die Redner nehmen, dann doch bitte wenigstens auf die Stenographen; man kann hier noch aus der zehnten Reihe alles verstehen und muß das alles dann aufnehmen. Ein bißchen mehr Rücksicht — auch auf uns selbst — wäre da also angebracht.
Als nächster Redner hat Herr Lennartz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Wallmann, Herr Kardinal Höffner mußte es sich gefallen lassen, hier jetzt von Ihnen zitiert zu werden. Vielleicht werden wir heute mittag wieder ein Rundfunktinterview mit Herrn Kardinal Höffner hören, in dem das eine oder andere wieder richtiggestellt wird. Das hatten wir j a schon einmal. Ich will im Interesse Ihrer Glaubwürdigkeit hoffen, daß es dazu nicht kommt.Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf eines Strahlenschutzvorsorgegesetzes, das wir heute beraten, hat sich die Regierungskoalition auf eine Realität eingestellt. Realität ist, daß nach Tschernobyl die Katastrophe auch bei uns vorstellbar ist.
Realität ist, daß auch wir in der Bundesrepublik uns auf den GAU, den größten anzunehmenden Unfall in einem Kernkraftwerk, einzustellen beginnen. Noch vor einem Jahr wäre es unvorstellbar gewesen, daß ein solcher Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag zur Beratung kommt. Heute ist die nukleare Katastrophe Alltag, und Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und der Regierungskoalition, beginnen mit dem Strahlenschutzvorsorgegesetz, den Alltag nach einer nuklearen Katastrophe in der Bundesrepublik oder in der unmittelbaren Nachbarschaft unseres Landes vorzubereiten.
Niemand wirft Ihnen vor, daß Sie das tun. Nur, den Alltag der Strahlenverseuchung in der Bundesrepublik zu organisieren und sich gleichzeitig allenBemühungen, die Ursachen für eine derartige mögliche Strahlenverseuchung aus der Welt zu schaffen, zu widersetzen, das heißt, nicht am Ausstieg aus der Atomenergie mitzuarbeiten, bezeichnen wir als eine in ihrer Gesamtheit falsche Politik,
die versucht, die Wirkungen in den Griff zu bekommen, ohne die Ursachen verändern zu wollen.Aber selbst Ihre beschränkte Politik, d. h. die Art und Weise, wie Sie die Wirkungen angehen, ist falsch und kann nicht unsere Zustimmung finden. Die Hast und Eile, mit der dieser Gesetzentwurf durchgesetzt werden soll, ist hoffentlich nicht Ausdruck dafür, wie hoch Sie die Wahrscheinlichkeit eines kurz bevorstehenden nuklearen Unfalles in einem Kernkraftwerk einschätzen. Es sind wohl andere Gründe. Die bevorstehende Bundestagswahl und die Erkenntnis, daß sich die Menschen in der Bundesrepublik von der Atomenergie bedroht fühlen, sind wohl die Gründe für das überhastete und übereilte Verfahren. Nur mit einem Trick konnten Sie die so dringend notwendige Abstimmung in dieser Frage umgehen, mit dem Trick, daß dieser Gesetzentwurf, der eigentlich ein Gesetzentwurf der Bundesregierung ist, nun durch die Regierungsfraktionen eingebracht wird.Eine Abstimmung mit den Bundesländern hat nicht stattgefunden. Es mag sein, meine Damen und Herren, daß Sie sich in Bayern rückversichert haben, um sich nicht die Feier des durchgepeitschten Gesetzes mit einem Adrenalinstoß aus München verderben zu lassen. Vielleicht — wir wissen es nicht — haben Sie es wie bei der Technischen Anleitung Luft gemacht und das Gesetz nur mit den CDU-regierten Ländern abgesprochen. Es bleibt dabei, eine Abstimmung mit den Bundesländern hat nicht stattgefunden.Sie haben damit eine große Chance vertan, nämlich die Chance, daß Bund und Länder beim nächsten Nuklearunfall Hand in Hand arbeiten werden, so wie es der Zielsetzung Ihres Gesetzentwurfes entspricht. Sie wollten ja durch dieses Gesetz die rechtlichen Grundlagen für ein koordiniertes Vorgehen aller beteiligten Dienststellen in Bund und Ländern schaffen. In Wahrheit, Herr Wallmann, geht es Ihnen um eine bloße Ermächtigung zum alleinigen Handeln, um eine Ausschaltung der Bundesländer, die nur noch die Rolle der Meßinstrumente spielen sollen. Nach Ihrem Gesetzentwurf sind die Länder nicht mehr berechtigt, eigene Grenzwerte festzulegen. Sie versuchen sogar, die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland, die in unserem föderativen System eine große Rolle spielen, so zu knebeln, daß sie noch nicht einmal ohne Zustimmung des Bundesumweltministers eigene Empfehlungen abgeben dürfen.Glauben Sie im Ernst daran, daß bei einer nuklearen Katastrophe die betroffenen Landesregierungen schweigen werden, bis ihnen der Herr Umweltminister zu reden erlaubt? Glauben Sie im Ernst, daß die Länderregierungen darauf verzichten werden, den Menschen, die ihnen anvertraut sind, Empfehlungen auszusprechen, Hinweise zu
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Lennartzgeben und alle ihre Erkenntnisse auszubreiten, um die Gefahr von Leib und Leben der Bürger und ihrer Kinder so gering wie möglich zu halten? Selbstverständlich werden die Ministerpräsidenten im Ernstfall handeln und werden auch reden — mit oder ohne Ihre Erlaubnis, Herr Wallmann.Es wird eintreten, was durch dieses Gesetz eigentlich verhindert werden sollte, daß sich das Chaos der unterschiedlichen Empfehlungen und Verhaltensregeln nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl in der Bundesrepublik Deutschland wiederholt. Mit Ihrem bewußten Verzicht auf den Konsens zwischen dem Bund und den Ländern in dieser Frage werden Sie, Herr Wallmann, für die Wirren verantwortlich sein nach dem nächsten Nuklearunfall, von dem wir alle hoffen, daß er niemals eintreten wird. Dabei wäre es so einfach gewesen, sich mit den Ländern an einen Tisch zu setzen, die unterschiedlichen Erfahrungen auszuwerten, die unterschiedlichen Auffassungen über Grenzwerte und Gesundheitsbedrohungen auszudiskutieren und zu gemeinsamen Verhaltensregeln für den Schadensfall, für den Ernstfall zu kommen.Sie haben darauf verzichtet, Herr Wallmann, übrigens auch darauf verzichtet, die Vorschläge und Empfehlungen der Strahlenschutzkommission zum weiteren Vorgehen aufzunehmen. Die Strahlenschutzkommission hält es für dringend notwendig — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten Seite 77 —, daß die Bundesregierung und die Länderregierungen nur zuvor koordinierte Empfehlungen abgeben. Statt dessen versuchen Sie, die Länder auszuschalten, wo es eben geht. Sie werden die Quittung dafür dann erhalten, wenn einheitliches, koordiniertes, gemeinsames Vorgehen bitter nötig ist, nämlich im Falle eines nuklearen Unfalles.Es gibt bisher keine einheitliche Bewertung von Meßdaten durch Bund und Länder. Und Sie haben erst gar nicht versucht, eine solche einheitliche Bewertung herbeizuführen. Statt dessen lassen Sie sich ermächtigen, Herr Wallmann, bei einem eventuellen Reaktorunfall Grenzwerte festzulegen, wie es gerade politisch opportun erscheint.
— Lesen Sie bitte § 6 Abs. 3. Sie müssen es lesen und verstehen, Herr Kollege Laufs.Sie allein, Herr Wallmann, bestimmen Dosiswerte und Belastungsgrenzwerte durch Rechtsverordnung. Sie allein bestimmen das Berechnungsverfahren durch Rechtsverordnung.
Und das Gesetz sagt noch nicht einmal aus, ob die Länder bei der Erstellung der Verordnung zu beteiligen sind, ob sie daran mitwirken
und ob es einzig und allein bei der nachträglichen Debatte im Bundesrat bleibt, der Sie j a auch aus dem Wege gehen können, Herr Wallmann, indem Sie die Grenzwerte nach 6 Monaten wieder außerKraft setzen. Das ist der Gesetzentwurf, den Sie vorlegen.Sollte es zu einem Nuklearunfall kommen, von dem die Bundesrepublik betroffen ist, so ist das letzte, was wir brauchen, ein sogenannter Grenzwertguru, der auf diesem Gebiet über Sein oder Nichtsein entscheidet. Dann brauchen wir vielmehr eine gemeinsame, abgestimmte nationale Anstrengung, die nur von Bund und Ländern gemeinsam geleistet werden kann.
Sie haben bisher auch sorgfältig verschwiegen, ob Sie die Grenzwerte vor einem Ernstfall oder während des Ernstfalls festsetzen wollen
— das hat er nicht gesagt; Herr Kollege, lesen Sie es im Protokoll nach — oder ob Sie verschiedene Grenzwerte für verschiedene Schadenfälle festzulegen gedenken. Sie stellen sich hier hin und glauben auch noch, unsere Zustimmung und die Zustimmung der Menschen im Lande zu erreichen.
Welche Strahlenbelastung gesundheitsgefährdend ist, ist unabhängig von dem jeweiligen Unfall. Die Natur des Menschen und die Gefährdung seiner Gesundheit durch Strahlen ändern sich nicht, gleichgültig ob das Kernkraftwerk Brockdorf, Stade, Mülheim-Kärlich, Tschernobyl, Cattenom und wie sie alle heißen mögen in die Luft geht.Die Menschen in der Bundesrepublik wollen wissen, was in dem Spinat drin sein darf, den sie essen wollen, und was zur Zeit drin ist. Die Mütter wollen wissen — das betrifft Ihre Kollegin Süssmuth —, ob sie ihren Kindern Milch zu trinken geben dürfen, welche Milch und wieviel davon.Sie beantworten die bangen Fragen dieser Menschen nicht und lassen es mit einer umfassenden Handlungsvollmacht, mit einer umfassenden Ermächtigung gut sein. Hoffentlich, Herr Kollege Wallmann, ist Ihnen die Verantwortung bewußt, die Sie damit auf sich laden.Mit dem Entwurf des Strahlenschutzvorsorgegesetzes wird praktisch nichts erreicht. Er gewährleistet nicht, daß sich das Empfehlungschaos, das nach Tschernobyl bestand, nicht wiederholt, und er gewährleistet nicht, daß die Spätfolgen des Atomunfalls in Tschernobyl in der Bundesrepublik vernünftig bewältigt werden.Herr Wallmann, ich spreche Sie jetzt sehr persönlich an. Was passiert beispielsweise mit dem Heu, das, verseucht durch den Strahlenregen, der nach Tschernobyl auf die Bundesrepublik niederging, zur Zeit in den Heuschobern der Bauern in der Bundesrepublik Deutschland lagert? Was passiert damit? Sollen etwa dann, wenn der Umweltausschuß am 3. November 1986 in einer Sondersitzung eine Anhörung durchführt, die Bauern beginnen, dieses verseuchte Heu zu verfüttern?Die Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung in München — wahrhaftig keine Organisa-
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Lennartzton, Herr Wallmann, die sich dem Ausstieg aus der Atomenergie verschrieben hat —, hat ausgerechnet, daß die Belastung von Rindfleisch und Milch mit Cäsium-137 durch die Verfütterung des verseuchten Heus auf das Hundertfache ansteigen wird, Herr Wallmann, auf das Hundertfache,
und damit fast genauso hoch liegen wird wie kurz nach Tschernobyl.In einem Monat, Herr Wallmann, beginnt die Winterfütterung. Und dann bekommen die Kinder die Milch.
Sagen Sie mir, was antworten Sie hier und heute auf die Frage, was im Monat November passiert. Was sagen Sie den Betroffenen? Für diese Probleme, Herr Wallmann, erwarten die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland Lösungsvorschläge. Hier sind Sie gefordert, Herr Wallmann, Herr Kiechle und Frau Süssmuth. Ich hätte Sie gern heute morgen hier erlebt, um diese Frage zu beantworten, die hier gestellt worden ist.
Meine Damen und Herren, wir erleben hinsichtlich des Abstimmungssprozederes in der Bundesregierung genau das gleiche wie unmittelbar nach Tschernobyl, wenn es um diese Fragen geht.Fazit, meine Damen und Herren: Der Bundesumweltminister will sich mit diesem Gesetz einen Kompetenzrahmen schaffen, den nur er im Ernstfall ausfüllen kann, aber nicht ausfüllen muß. Den Kompetenzrahmen dürfen andere, sprich die Länder, nur ausfüllen, wenn der Umweltminister eingesteht, daß er ihn nicht ausfüllen kann oder will, was er aber nie tun wird.Die Länder wurden nicht beteiligt. Der Konsens wurde nicht gesucht. Die Länder wurden durch das Einbringungsverfahren ausgetrickst. Einheitliche Grenzwerte für ausgewählte Lebens- oder Futtermittel oder für Bodenbelastungen werden nicht vorgelegt; rechtsverbindliche Empfehlungen gibt es nicht.Meine Damen und Herren, wir werden der Überweisung in die Ausschüsse zustimmen und versuchen, dort unsere grundlegenden Bedenken einzubringen. Es wird keine Zustimmung der SPD-Bundestagsfraktion zu diesem Gesetzentwurf geben, wenn keine einheitlichen Grenzwerte aufgenommen werden und der Konsens mit den Ländern weiterhin verweigert wird. „Am Beginn muß die Sicherheit für die Menschen stehen", haben Sie, Herr Wallmann, am 19. September in der „Zeit" geschrieben. Herr Wallmann, dieser Gesetzentwurf bringt keine Sicherheit für die Menschen in der Bundesrepublik. Eines stellt er allerdings sicher: daß der Strahlenschutz und das Vorgehen nach Kernkraftunfällen in der Bundesrepublik Deutschland weiter im Streitgespräch bleiben.Wir werden diesen Gesetzentwurf mit allen parlamentarischen Mitteln bekämpfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Blens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will einige wenige Sätze zu dem sagen, was Herr Lennartz und Herr Roth hier ausgeführt haben. Zunächst zu Kardinal Höffner: Mich stimmt es hoffnungsfroh, daß Sozialdemokraten zur Zeit landauf, landab Kardinal Höffner zitieren und ihn fälschlicherweise zum Kronzeugen ihrer Politik machen.
— Ja, warten Sie mal. Das stimmt mich deswegen hoffnungsfroh, Herr Vogel, weil ich hoffe, daß Sie in Zukunft Kardinal Höffner auch in anderen politischen Fragen — hier ist § 218 als Beispiel genannt worden — zum Vorbild Ihrer Politik machen.
Ich hoffe das, und ich hoffe, daß Sie zu dieser Konsequenz bereit und in der Lage sind.
Zweiter Punkt, Herr Lennartz: Sie haben eben gesagt, vor einem Jahr sei der Gesetzentwurf, den der Herr Bundesumweltminister vorgelegt hat, unvorstellbar gewesen; der Gesetzentwurf bedeute die Vorbereitung des Alltags der Strahlenverseuchung. Herr Lennartz, ich habe selten solchen Unsinn gehört. Sie sind Landrat des Erftkreises. In dieser Funktion haben Sie etwas damit zu tun, daß im Erftkreis die Feuerwehr existiert.
Was würden Sie sagen, wenn Ihnen jemand vorwerfen würde, daß Sie mit der Einrichtung der Feuerwehr im Erftkreis den Alltag des Verbrennens der Gebäude in Ihrem Landkreis vorbereiten würden?
Sie können niemandem, der für einen denkbaren Unfall Vorsorge betreibt, vorwerfen, daß er genau den Unfall, dessen Folgen er vermeiden will, herbeiführen möchte. Das können Sie doch nicht ernsthaft sagen.
Ich meine, Herr Lennartz, daß Sie zu dieser Erkenntnis auch in der Lage sein sollten.Meine Damen und Herren, worum geht es bei diesem Gesetzentwurf? Wir wollen die Bevölkerung vor Strahlenbelastungen schützen, soweit das möglich ist, und zwar vor Strahlenbelastungen, die nicht
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Dr. Blensvon unseren Kernkraftwerken in der Bundesrepublik ausgehen,
sondern von denkbaren Unfällen in Kernkraftwerken im Ausland. Herr Wallmann hat das soeben gesagt. Erste Voraussetzung dafür ist, daß die Strahlenbelastung ständig gemessen und erhöhte Strahlenbelastung so früh wie möglich zuverlässig festgestellt wird. Beides soll durch den vorgelegten Gesetzentwurf sichergestellt werden.Der Bund erhält die Zuständigkeit für die flächendeckende und großräumige Ermittlung der Radioaktivität in Luft und Niederschlägen, in Bundeswasserstraßen und in der Nord- und Ostsee sowie für die Messung der Gamma-Ortsdosis-Leistung im Bundesgebiet. Diese Bundeszuständigkeit soll dazu benutzt werden — ich sage das noch einmal; es ist schon wiederholt gesagt worden —, das vorhandene Meßnetz auszubauen und zu verbessern. Gleichzeitig erhält der Bund die Zuständigkeit für die Zusammenfassung, Aufbereitung, Dokumentation und Bewertung der Daten der Umweltradioaktivität im Hinblick auf den Strahlenschutz und etwa erforderliche Maßnahmen mit überregionaler Bedeutung.Diese Aufgaben werden vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wahrgenommen, der dabei von einer neu einzurichtenden Zentralstelle des Bundes für die Überwachung durch sachverständigen Rat unterstützt wird. Mit diesen Maßnahmen wird sichergestellt, daß erhöhte Strahlenbelastungen frühestmöglich festgestellt und die Meßergebnisse zuverlässig, sachverständig und einheitlich bewertet werden. Dadurch werden einerseits die Voraussetzungen für rasches und bundeseinheitliches Handeln geschaffen, andererseits der Bevölkerung zuverlässige und vertrauenswürdige Informationen über den Grad der jeweiligen Gefährdung angeboten.Es hat j a nach dem Unglück von Tschernobyl kaum etwas so stark zur Verunsicherung und zur Angst der Bevölkerung beigetragen wie die unterschiedlichen und oft genug gegensätzlichen Informationen tatsächlicher und vermeintlicher Experten,
wobei dann der normale Laie außerstande war und außerstande ist, den tatsächlichen vom selbsternannten Wissenschaftler und Experten zu unterscheiden.Dieses ganze Durcheinander fing schon beim Messen an. Der „Spiegel" hat am 12. Mai 1986 ausnahmsweise einmal einen richtigen Satz geschrieben, nämlich den:Wer immer über geeichtes und geeignetes Meßgerät verfügte, fühlte sich berufen, an der Strahlenjagd teilzunehmen: Max-Planck-Physiker und Uni-Pharmakologen, Ärzte gegen den Atom-Krieg und Apotheker, Öko-Institute und Gemüsebauern.Meine Damen und Herren, nichts gegen ÖkoInstitute und Gemüsebauern! Aber wir wollen durch den Gesetzentwurf sicherstellen, daß die Bevölkerung weder auf die Angabe von Öko-Instituten noch auf die Meßergebnisse von Gemüsebauern angewiesen ist.
Wir wollen sicherstellen, daß die Bevölkerung zuverlässige, wissenschaftlich abgesicherte Informationen auf der Grundlage eines verbesserten Meßsystems erhält.Der zweite Schwerpunkt des Entwurfs ist die Schaffung einer Bundeszuständigkeit für die Bestimmung von Dosiswerten und Kontaminationswerten, die Anordnung von Verboten und Beschränkungen für das In-Verkehr-Bringen und die Ein-und Ausfuhr von Lebensmitteln, Futtermitteln und Arzneien und die alleinige Zuständigkeit des Bundes, bestimmte Verhaltensweisen zu empfehlen. Die Länder können nur dann Empfehlungen an die Bevölkerung richten, wenn der Bund solche Empfehlungen nicht ausspricht
und der Landesempfehlung ausdrücklich zustimmt.
— Dazu komme ich noch.Auch mit diesen Bestimmungen werden notwendige Konsequenzen aus den Erfahrungen der Zeit nach dem Unfall von Tschernobyl gezogen. Von den verschiedenen Landesregierungen und von der Bundesregierung wurden unterschiedliche Dosis- und Kontaminationswerte genannt. Stadtdirektoren, Bürgermeister, Minister verschiedenster Art und Zuständigkeit gaben die unterschiedlichsten Empfehlungen. Wiesbaden z. B. verfügte die Schließung aller Spiel-, Freizeit- und Sportstätten, während das benachbarte Mainz eine solche Maßnahme nicht für erforderlich hielt. Das eine Land hielt den Verzehr von Salat und Kirschen für gefährlich, während das Nachbarland ihn für ungefährlich hielt. Jeder, meine Damen und Herren, holte sich seinen Naturwissenschaftler, der die wissenschaftliche Richtigkeit der Empfehlung bezeugte.Für den normalen Bürger, der in der Schule einmal gehört hat, daß die Naturwissenschaften exakte Wissenschaften seien, ist das alles nicht mehr zu verstehen. Für ihn wird bei so viel gegensätzlichen Aussagen der Grad seiner Gesundheitsgefährdung zur Glaubenssache. Wer in solchen Fragen zum Glauben nicht fähig oder nicht bereit ist, der hat dann entweder Angst oder wird leichtsinnig nach dem Motto: Solange die sich nicht einig sind, esse ich meinen Salat weiter. Ich habe das von vielen Schrebergärtnern damals gehört.Weder die eine noch die andere Reaktion ist der Situation angemessen. Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf sicherstellen, daß die Betroffenen in Zukunft zuverlässige, wissenschaftlich abgesicherte und einheitliche Dosis- und Kontaminationswerte genannt bekommen und sich zuverlässigen Verboten, Beschränkungen und Empfehlungen gegenübersehen.
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Dr. BlensDie Dosiswerte, Herr Lennartz — jetzt komme ich auf Ihren Zwischenruf —, stehen aus den Gründen, die Herr Laufs hier eben genannt hat, nicht in dem Entwurf. Aber Sie können sicher sein — und wenn Sie den Entwurf gelesen hätten, dann wüßten Sie das —, daß die Dosiswerte in Übereinstimmung mit den Bundesländern festgesetzt werden. Denn in § 6 Abs. 3 Satz 1 des Entwurfs heißt es ausdrücklich, daß die Rechtsverordnungen zur Festsetzung der Dosiswerte usw. nach den Absätzen 1 und 2 der Zustimmung des Bundesrates bedürfen.
Nur wenn im Einzelfall in besonderen Notfällen, eine Situation da ist, in der so schnell gehandelt werden muß, daß der Bundesrat nicht mehr eingeschaltet werden kann, können andere Werte für die Dauer von sechs Monaten festgelegt werden. Es ist sichergestellt, daß außerhalb von Notfallsituationen in ruhigen Zeiten eine umfangreiche Diskussion mit den Ländern, mit Wissenschaftlern stattfindet, die der Festlegung dieser Werte in einer Verordnung vorausgeht.Der Bürger kann gerade in einer für ihn nicht zu übersehenden Gefahrensituation von den zuständigen Stellen des Staates erwarten, daß ihm Informationen und Empfehlungen gegeben werden, auf die Verlaß ist und denen er vertrauen kann.
Wir wollen und wir werden mit diesem Gesetzentwurf den Erwartungen gerecht werden. Wenn Sie eben gesagt haben, Sie würden diesen Gesetzentwurf bekämpfen, kann ich nur feststellen: Sie entziehen sich damit der Verantwortung für Notfälle, der wir uns zu stellen haben. Dazu sind wir alle verpflichtet. Ich bedaure es, daß sich Ihre Partei dieser Verantwortung entziehen will.
Meine Damen und Herren, wir haben Gäste, die ich gerne begrüßen möchte. In der Ehrenloge hat der Präsident der Nationanalversammlung der Ungarischen Volksrepublik, Herr István Sarlós, mit einer Delegation der Nationalversammlung aus Ungarn Platz genommen. Im Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik und erfolgreiche Gespräche.
Der nächste Redner ist Herr Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Freien Demokraten haben uns auf unserem Parteitag in Hannover im Mai dieses Jahres kurz nach der Katastrophe in Tschernobyl ausgiebig mit den neu geschaffenen Verhältnissen auseinandergesetzt. Für uns bedeutet Tschernobyl zwar keinen sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie, aber eine neue Habachtstellung in Energiefragen. Tschernobyl ist für uns alle eine unheimliche Lehre gewesen. Wir alle sind Betroffene, sind alle Verbraucher, und viele von uns werden wie ein großer Teil der Bevölkerung sogar die Verzehrs- undEßgewohnheiten nach diesem Unglück geändert haben. Es zeigte sich auch viel Angst bei den Bürgern, denn selbst Lebensmittel, die nachweisbar überhaupt nicht belastet waren, wurden nicht mehr gekauft.Landwirte sind außerdem im doppelten Sinne Leidtragende des Unglücks, sind sie doch Produzent und Konsument von Nahrungsmitteln zugleich. Ich gehöre auch zu denjenigen, die im Mai die Kühe im Stall behielten und unbelastetes Futter zukaufen mußten.Die Situation in den ersten Wochen nach Tschernobyl war rückblickend verwirrend: Zum einen herrschte ein wahres Becquerel- und Remchaos, zum anderen begannen die Länderregierungen in fieberhaften Vorsorgebemühungen, die ich nicht verkennen will, ihr eigenes Süppchen aus unterschiedlichen Grenzwerten zu kochen. Der gutgemeinte Wille, die Bevölkerung durch sachgerechte Aufklärung zu beruhigen, schlug um in Mißverständnisse, Widersprüchlichkeiten und Verunsicherung.Daß Minister Wallmann heute ein Gesetz vorlegt, welches die Vorsorgepolitik der Bundesregierung bei möglichen Strahlenbelastungen vorantreibt und dafür sorgt, daß bei ähnlichen Katastrophen — Gott behüte uns davor! — eher und effektiver zum Schutz der Bevölkerung gehandelt werden kann, ist notwendig.Der Strahlenschutzkommission, mit der die Bundesregierung eng zusammen arbeitet, ist nicht von vornherein jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen, wie dies Frau Hönes heute morgen darzustellen versucht hat. Auf welches Fachwissen sollen wir uns bei dieser schwerwiegenden Materie denn verlassen wenn nicht auf das von Radiologen, Biophysikern und Strahlenschutzmedizinern?Dem Kommissionsbericht, den Professor Oberhausen vor zwei Wochen vorgelegt hat, gebührt unser aller Aufmerksamkeit. Da wird nicht etwa das Gefahrenpotential von Atomkraftwerken heruntergespielt, sondern werden die Erfahrungen der letzten vier Monate wissenschaftlich zusammengetragen und Schlußfolgerungen gezogen, die wir Politiker jetzt umsetzen müssen, wie es heute bereits Minister Wallmann getan hat. Nach dem Unglück in Tschernobyl wurden in erster Linie die Landwirte, die nachgelagerten Verarbeitungsbereiche sowie der Handel geschädigt. Es war für uns als Regierungspartei eine Selbstverständlichkeit, sofort zu helfen, und das haben wir getan: unbürokratisch, schnell, bei einfachen Antragsverfahren.
Die Expreßhilfe der Bundesregierung ist von den Landwirten, Milcherzeugern und Gemüsebauern dankbar anerkannt worden. Die Landwirte haben spürbar gemerkt, daß wir sie bei einem so einschneidenden Ereignis nicht im Strahlungsregen stehenlassen.
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BredehornFinanzminister Stoltenberg hat sich sofort bereit erklärt, die für die Entschädigungszahlungen notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Bund und Länder haben sich darauf verständigt, daß unmittelbare Einkommensausfälle der Landwirte zu 100% nach den sogenannten Ausgleichsrichtlinien vom Bund entschädigt werden. Die Gemüseanbauer erhalten über die Billigkeitsrichtlinie „Gemüse", die vom Bund finanziert wird, ihre Schäden ersetzt. Die mittelbaren Schäden für die nachgelagerten Bereiche werden vom Bund zu zwei Dritteln und von den Ländern zu einem Drittel gemeinsam getragen. So sind von der Bundesregierung nach der sogenannten Ausgleichsrichtlinie 302 000 Anträge bewilligt worden, 206 Millionen DM. Die Gemüseproduzenten erhielten rund 68 Millionen DM. Die Auszahlungen nach der allgemeinen Billigkeitsrichtlinie an die Molkereien laufen an und werden z. B. in Niedersachsen Ende des Monats durchgeführt.Natürlich wird es sich nicht verhindern lassen, daß der eine oder andere Landwirt das Entschädigungsangebot großzügig für sich ausgelegt hat. Ich bin aber überzeugt, daß im großen und ganzen wenig Schindluder mit der unbürokratischen Hilfe getrieben worden ist.Nicht vollständig abgegolten werden können verständlicherweise die Ertragseinbußen, die die landwirtschaftlichen Erzeuger bzw. der Handel durch Vertrauensverlust bei den Verbrauchern zu beklagen haben. Das Kaufinteresse an einigen landwirtschaftlichen Produkten nahm nur sehr zögernd während der Sommermonate wieder zu. Ich weiß aus eigener Erfahrung in einem milchwirtschaftlichen Betrieb, der sehr viel Trinkmilch — auch Schulmilch — produziert, daß wir sofort unseren Landwirten gesagt haben: Haltet die Kühe im Stall! Das ist bis Ende Mai geschehen, und wir haben jedem dafür zusätzlich 5 Pfennig pro Liter gezahlt. Wir haben nachweisbar bei täglichen Untersuchungen in Cuxhaven und Oldenburg in dieser Trinkmilch Werte von 3 bis 4 Becquerel Jod gehabt. Das ist der natürliche Wert; trotzdem ist der Verbrauch um über 50 % zurückgegangen.
Diesen Rückgang haben wir teilweise noch nicht wieder voll aufgeholt.Meine Damen und Herren, Herr Lennartz hat das angesprochen: Eine nochmalige Verunsicherung der Bevölkerung keimt zur Zeit durch den höher strahlenbelasteten Bereich im Süden der Bundesrepublik auf. Das nach Tschernobyl eingefahrene Heu kommt als Winterfutter bald in den Rindviehstall. Ob die dann erzeugte Milch belastet sein wird, vermag jetzt mit absoluter Sicherheit noch niemand zu sagen.
— Ich komme darauf. Als Gefahrenquelle ist jetzt noch Cäsium auf Grund seiner langen Halbwertzeit von 30 Jahren zu nennen. Das Problem Jod hat sich ja inzwischen von selbst erledigt. Es gibt derzeit in der bayerischen Landestierzuchtanstalt Grub intensive Fütterungsversuche mit strahlenbelastetem Lagerfutter. Aus den bisherigen Ergebnissen —5 000 Proben sind genommen worden — schält sich heraus, daß von 100 % Cäsium 137, die ein Tier aufnimmt, 90 % ausgeschieden werden; 5% bleiben in der Milch, 5 % werden längerfristig nach und nach über den Stoffwechsel wieder abgegeben. Ich meine, es ist diesen Landwirten zu empfehlen, diese belasteten Futtermittel möglichst an Jungtiere, möglichst wenig an Milchkühe zu verfüttern.
— Selbstverständlich werden auch in Zukunft dort Untersuchungen notwendig sein; dazu dient auch dieses Gesetz. Nach den EG-Grenzwerten, die sehr viel höher sind, besteht sicherlich kein Sicherheitsrisiko für die Verbraucher. Wir sind natürlich daran interessiert — und das Gesetz ermöglicht es auch —, hier unseren Verbrauchern den größtmöglichen Schutz zu geben.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Diese Regierung hat, vor eine bisher völlig unbekannte Situation gestellt, große Anstrengungen unternommen, um die Auswirkungen des Reaktorunglücks auf die Bevölkerung und die wirtschaftlichen Einbußen der Landwirtschaft zu minimieren.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Catenhusen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Blens, die Feuerwehr ist sicherlich hilfreich, aber ihre Anwesenheit kann bekanntermaßen den Ausbruch von Feuer nicht verhindern, und der Gesetzentwurf trägt nichts zu der Frage bei, wie wir neue Unfälle in Kernkraftwerken verhindern können.
Die IAEO-Konferenz in Wien war eine geschickt inszenierte Werbeveranstaltung für die Kernenergie. Man hat sich in der entscheidenden Frage der Reaktorsicherheit nicht einigen können. Das heißt für Cattenom: Es wird nicht umgerüstet, und es ist für die Bevölkerung in Luxemburg sicherlich sehr tröstlich, daß sie zumindest weiß, daß sie bei einer Evakuierung auf Grund eines französischen Reaktorunfalls die Kosten für ihren Aufenthalt in Frankreich künftig selbst bezahlen müssen; denn viel weiter sind die Fortschritte in Wien ja nicht gegangen.Aber wen überrascht das eigentlich, versteht sich doch die IAEO in ihrer Zielsetzung seit Ende der 50er Jahre ausdrücklich als Organisation zur Förderung und Verbreitung der zivilen Nutzung der Kernenergie, möglichst in der ganzen Welt! Die Atomgemeinschaft war unter sich und sprach sich
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CatenhusenMut zum Durchhalten nach Tschernobyl zu. Ihre Rede, Herr Minister Wallmann,
war von der Devise geprägt: nachdenklich, vor allem in der Miene, aber unbeirrt in eine strahlende Zukunft für die Bundesrepublik Deutschland.Nun bemühen Sie zur Rettung Ihrer eigenen Moral, die Ihnen auch von kirchlicher Seite in Frage gestellt wird, ausgerechnet die Länder der Dritten Welt, die Ihre Regierung j a zur gleichen Zeit durch verstärkten Rüstungsexport beglücken möchte.
Kernenergie, meine Damen und Herren, ist keine Hilfe für die Dritte Welt.
Die Kerntechnik ist zu kapitalintensiv; kein Land der Dritten Welt kann sie sich leisten, und sie diente doch bisher den nuklearen Schwellenländern ungeniert vorrangig dazu, Machtambitionen zumindest durch das Spielen mit dem Gedanken an eigene Atomwaffen zu untermauern. Die IAEO hat versagt; denn Indien hat sich dadurch schon in den Besitz der Atomwaffe gesetzt.Tschernobyl kann sich auch nach den Besänftigungsreden in Wien wiederholen, und nicht nur in der Sowjetunion. Die Restrisiken der Kernenergie sind wegen ihres Ausmaßes nicht akzeptabel. Diese Position, Herr Wallmann, hat Kardinal Höffner seit Jahren, auch vor Tschernobyl, vertreten. Er hat gesagt: Diese Restrisiken sind angesichts ihrer Dimension nicht verantwortbar. Ich würde mich wundern, Herr Wallmann, wenn Sie dem zustimmen würden; denn dann hätten Sie heute eine andere Rede halten müssen, und ich würde mich wundern, wenn er ausgerechnet Ihnen zuliebe seine für mich respektable und sehr geschätzte Position geändert hätte.Es kommt etwas für mich Bestürzendes hinzu: daß wenige Wochen nach Tschernobyl das Schwerpunktforschungsprogramm „Nukleare Sicherheit" beim Bundesforschungsministerium beendet wurde. Dieses Programm hat dazu beigetragen, daß die Sicherheitsanforderungen an kerntechnische Anlagen, auf die die Industrie und die Bundesregierung jetzt so stolz sind, den Betreibern und Kernkraftwerken in den 70er Jahren durch den Staat aufgezwungen wurden, etwa die Sicherung gegen Flugzeugabsturz. Wie ist denn die Aufgabe eines solchen Forschungsschwerpunkts eigentlich zu vereinbaren mit dem vielbeschworenen Vorrang der Sicherheit?Meine Damen und Herren, was ist denn wirklich von der geplanten Sicherheitsüberprüfung des Reaktors in Biblis ausgerechnet durch Experten der IAEO zu halten, wie es Herr Wallmann listigerweise eingefädelt hat? Diese Experten haben doch noch nicht mal international festgelegte Sicherheitsstandards, nach denen sie urteilen können. Oder könnte es uns beruhigen, daß diese Experten sagen: Weil er so sicher ist wie Cattenom, kann er natürlich unbesorgt an das Netz gehen und unbesorgt weiter betrieben werden? Die Aufgabe der IAEO-Inspektoren bestand doch bisher nur darin, den in den Reaktoren gelagerten Brennstoff gegen militärischen Mißbrauch zu schützen, und ob man solche Inspektoren nun zu Experten für Reaktorsicherheit emporstilisieren sollte, da habe ich doch meine Zweifel.Beruhigungspillen drehen und mit ernster Miene verabreichen, Herr Wallmann, das ist Ihr Job, das ist auch Ihr Job in der heutigen Debatte. Ich denke, nur dazu hat man Sie auch nach Bonn geholt.Was brauchen wir eigentlich?
Ich denke, meine Damen und Herren, wir brauchen international verbindliche Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke, die durch eine internationale Behörde — ich denke schon: die IAEO — überwacht werden und deren Einhaltung auch durchgesetzt werden kann. Dieses ist keine Alternative zum Ausstieg aus der Kernenergie, sie ist aber notwendig, ergänzend zum Ausstieg aus der Kernenergie bei uns.Wir brauchen zweitens eine andere IAEO. Sie hat ihren Sinn als internationale Agentur zur Verbreitung der Nukleartechnologie verloren. Wir brauchen eine IAEO, die mit Kompetenz die Sicherheit kerntechnischer Anlagen überwacht und endlich auch wirksam den militärischen Mißbrauch von Nukleartechnologie verhindern hilft. Allerdings ist diese Aufgabe in vielen Staaten schon nicht mehr möglich.Drittens, meine Damen und Herren, brauchen wir eine Internationale Energie-Agentur, die weltweite Beratung und Hilfe für Länder anbietet, die eine ihrem Land angemessene Energiestrategie suchen, eine Agentur, die nicht mehr — in der Tradition der 50er Jahre — Weltbeglückung durch Atomspaltung betreiben möchte.Wer wie Sie, Herr Minister Wallmann, die Moral bemüht, muß sich die Frage gefallen lassen, ob seine Politik des Durchmarsches in den Atomstaat — leise, auf Samtpfoten —
nicht gerade den Fragen ausweicht, die die ethische Dimension des heute zu diskutierenden Problems ausmachen. Und da lassen Sie mich kurz einen letzten Satz sagen: Wer die Kernenergie zur Übergangstechnologie erklärt, gleichzeitig aber den Plutoniumstaat durch Wiederaufarbeitungsanlage, durch Schnelle Brüter auf Jahrhunderte hin festschreiben möchte, entlarvt sich in diesem Falle doch wirklich als Papiertiger und Beschwichtiger.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte heute morgen erinnert uns alle an die Tage nach dem Ereig-
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18166 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Reuternis von Tschernobyl. Ich erinnere mich noch gut an die Sondersitzung des Innenausschusses und sehe noch die ratlosen Gesichter des dort versammelten Sachverstandes, aber auch die administrative Hilflosigkeit der Ministerialbürokratie, insbesondere des Bundesinnenministers. Ich erinnere mich noch gut an die kontaminierten Lastzüge, die in Herleshausen an der Grenze standen. Niemand wußte so recht, was zu machen sei. Man hat sie mit Wasser abgespritzt, aber niemand wußte, ob es sehr gefährlich sei, dieses Wasser ins Grundwasser versickern zu lassen.
Ich frage Sie, Herr Dr. Laufs, und auch Herrn Dr. Wallmann: Glauben Sie denn im Ernst, daß das, was Sie uns hier als Gesetz vorlegen, die Voraussetzungen schaffen könnte, ähnliche Situationen wie die nach Tschernobyl zu meistern?
Glauben Sie allen Ernstes, daß dieser hier im Hauruckverfahren zusammengestoppelte Gesetzentwurf den Schutz der Bevölkerung auch nur andeutungsweise gewährleisten könnte?Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten diesen Entwurf nicht gelesen, dann will ich Ihnen einmal eines sagen: Ich habe manchmal den Eindruck, daß Sie im Auftrag von Herrn Dr. Wallmann hier etwas einbringen, was Sie nicht gelesen haben.
In § 3 — das ist auf Seite 2 — sind die Aufgaben der Länder umschrieben, das, was die Länder an Radioaktivität zu ermitteln haben: in Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, Arzneimitteln, Futtermitteln, im Trinkwasser, im Grundwasser und in den Binnengewässern. Das Erstaunliche in Ihrem Gesetzentwurf kommt nun in § 7, Verbote und Beschränkungen. Da führen Sie das Trinkwasser nicht mehr auf. Was ist denn, wenn in irgendeinem Land hochkontaminiertes Trinkwasser vorgefunden wird? Was haben Sie denn für Regelungen in Ihrem § 7? Fehlanzeige, meine Damen und Herren! Ich kann mich hier nur den Bewertungen des hessischen Gesundheitsministers anschließen, der gesagt hat: Bonn hat in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein Strahlenschutzgesetz ohne Grenzwerte gezimmert. Der Gesundheitsschutz bleibt auf der Strecke, die Länder wurden übergangen, und die parlamentarische Kontrolle wird ausgeschaltet.
Herr Minister Clauss bezeichnete das Vorhaben vom fachlichen Inhalt her als an Volksverdummung grenzende Zumutung und vom Verfahren her als empörende Nacht-und-Nebel-Aktion.
Dieser Bewertung, meine Damen und Herren, ist nichts hinzuzufügen.
— Meine Damen und Herren, die Qualität der Zwischenrufe beweist, wie ernst Sie die Sorgen der Bevölkerung nehmen.
Auch Sie, Herr Kollege Gerlach, sollten wissen, daß sich in Ihrer unmittelbaren Nähe Atomanlagen befinden. Sie sollten auch einmal mit den Bürgern Ihres Wahlkreises reden und hier keine dummen Zwischenrufe machen.
Meine Damen und Herren, nun zu dem, was Herr Dr. Wallmann uns hier als seine Ergebnisse von Wien vorgeführt hat. Ich habe einmal gelesen, was so in den Presseerzeugnissen nachlesbar war:
ein mit großem politischen Aufwand betriebenes Werbeforum für die Kernenergie, das sich in der entscheidenden Frage der Reaktorsicherheit nicht hat einigen können. Das ist die Bewertung von Leuten, die etwas davon verstehen. Ich werfe ja Herrn Dr. Wallmann nicht vor, daß er nicht viel erreicht hat. Aber er soll der deutschen Öffentlichkeit auch bitte nicht den Eindruck vermitteln, als hätte Wien hier einen Meilenstein für die Sicherheit der Bevölkerung gesetzt.
Meine Damen und Herren, ich muß wegen der fortgeschrittenen Zeit leider zum Schluß kommen.
— Herr Seiters, ich könnte Ihnen hier noch einiges von Ihrer Unzulänglichkeit vorführen. —
Man hat einen Minister Zimmermann in die Wüste geschickt, weil er so „erfolgreich" war. Dann haben die Menschen all ihre Hoffnungen in einen Minister gesetzt, der die Umwelt ernst nimmt, der ein Sachwalter des Umweltschutzes ist. Und was haben wir? Einen Minister, der starke Lobbyisteninteressen der Industrie wahrnimmt.
Er reiht sich nahtlos an Herrn Zimmermann an. Auch er wird eines Tages wegen seiner „hervorragenden Qualitäten" abgelöst werden.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18167
Vizepräsident WestphalWir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 2 a, und zwar zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6093. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist bei einer Reihe von Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.Zu den Tagesordnungspunkten 2 b bis 2 e wird interfraktionell und gemäß einer Vereinbarung im Ältestenrat vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 10/6082, 10/5585, 10/5904 und 10/5905 an die in der Tagesordnung ausgedruckten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung und Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der Stockholmer Konferenz für Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa und ihre Bedeutung für die West-Ost-BeziehungenBeratung des Antrags der Fraktion der SPD Fortschritte bei der KVAE und Unterstützung der Beschlüsse des US-Repräsentantenhauses zur Abrüstung— Drucksache 10/6092 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß VerteidigungsausschußMeine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Tagesordnungspunkte eine gemeinsame Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Bundesregierung sieht den erfolgreichen Abschluß der Stockholmer Konferenz und die sich abzeichnende Verbesserung im West-Ost-Verhältnis mit Befriedigung. Sie hat zu dieser Entwicklung wesentliche Beiträge geleistet; sie wird das auch in Zukunft tun. Dazu gehört auch die konsequente Verwirklichung des Harmel-Berichts des westlichen Bündnisses in allen seinen Elementen. Deshalb hat die Bundesregierung nicht gezögert, das für die gemeinsame Sicherheit Notwendige zu tun. Sie hat gewiß nicht leichten Herzens den NATO-Doppelbeschluß durchgeführt und sich für die Verlängerung der Wehrpflicht entschieden. Sie hat aber gleichzeitig durch die Mitgestaltung der westlichen Abrüstungspolitik nach der Einsicht gehandelt, daß neben Abschreckung und Verteidigung Rüstungskontrolle und Abrüstung integrale Bestandteile unserer Sicherheitspolitik sind. Und die Bundesregierung bemüht sich um Dialog und Zusammenarbeit mit den Staaten des WarschauerPakts. Sie bemüht sich um den Abbau von Spannungsursachen, sie bemüht sich um wirkliche Entspannung. Sie sieht sich in ihrer Politik der verläßlichen Mitgliedschaft im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft und auch in dem beharrlichen Bemühen um gute Nachbarschaft nach Osten bestätigt.Am 22. September 1986 ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Stabilität in Europa durch Rüstungskontrolle und Abrüstung gelungen. Die 35 Teilnehmer der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung haben nach zweieinhalb Verhandlungsjahren in Stockholm ein Schlußdokument verabschiedet. Entsprechend dem auf der KSZE-Folgekonferenz von Madrid vereinbarten Mandat wurde ein Satz neuer, wirksamer und konkreter Maßnahmen vereinbart, die darauf gerichtet sind, „Fortschritte bei der Festigung des Vertrauens und der Sicherheit und bei der Verwirklichung der Abrüstung zu erzielen".Der erfolgreiche Abschluß der Konferenz ist ein Ergebnis von Vernunft, von Verantwortung und auch von Augenmaß. Stockholm beweist, daß die Zeit reif ist für kooperative Lösungen im Bereich der Rüstungskontrolle. Mit Recht ist von allen Seiten das Ergebnis dieser Konferenz als ein wichtiger Schritt für die Rüstungskontrolle und die Beziehungen zwischen West und Ost gewürdigt worden. Deshalb ist das Dokument von Stockholm ein Signal der Hoffnung.Im Januar 1985, als die Außenminister der Teilnehmerstaaten die KVAE eröffneten, haben nicht wenige an deren Erfolg gezweifelt. Die Bundesregierung hat sich dadurch nicht beirren lassen. Mit dem Konzept der Vertrauensbildenden Maßnahmen verfolgen wir das Ziel, mehr Transparenz im militärischen Bereich zu schaffen und so Fehleinschätzungen militärischer Aktivitäten zu verhindern. Das Handeln der Staaten soll berechenbarer, das Risiko von Überraschungsangriffen und die Sorge vor Einschüchterungsversuchen sollen gemindert werden. Zugleich geht es darum, die Grundlagen für Fortschritte auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle zu verbessern.Schon 1975, im Rahmen der KSZE-Schlußakte, wurde ein erster richtungsweisender Schritt zur Schaffung von mehr Vertrauen in Europa unternommen. Im Sinne eines breiten und umfassenden Sicherheitskonzepts wurden durch die Vereinbarung von Vertrauensbildenden Maßnahmen auch militärische Aspekte der Sicherheit in den KSZE- Prozeß einbezogen. Im Schlußdokument von Stockholm ist es gelungen, die in Helsinki vereinbarten Maßnahmen wesentlich weiterzuentwickeln und substantiell zu verbessern. Die Dynamik des KSZE- Prozesses hat sich damit erneut erwiesen.Entscheidende Fortschritte sind: Die Einladung von Manöverbeobachtern ist jetzt Pflicht. Sie ist nicht mehr dem Belieben der Staaten überlassen. Alle Teilnehmer müssen Beobachter zu militärischen Aktivitäten ab 17 000 Mann einladen. Ins einzelne gehende Regeln legen die Rechte der Beobachter fest, damit sich diese ungehindert vom
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Bundesminister GenscherZweck der angekündigten Aktivität überzeugen können.Bedeutsam ist auch, daß militärische Aktivitäten jetzt ab einer Schwelle von 13 000 Mann oder 300 Panzern allen Teilnehmern 42 Tage vorher anzukündigen sind.Schließlich muß jeder Teilnehmer bis zum 15. November jeden Jahres alle im folgenden Jahr geplanten anmeldungspflichtigen Aktivitäten zusammengefaßt mitteilen.Manöver, an denen über 75 000 Mann teilnehmen, sind nur zulässig, wenn sie zwei Jahre im voraus angekündigt worden sind.Und was für uns von besonderer Bedeutung ist: Alle Maßnahmen sind in ganz Europa, vom Altantik bis zum Ural, anzuwenden. Damit wird, über den durch Helsinki einbezogenen 250-km-Streifen sowjetischen Gebietes hinausgehend, das gesamte europäische Territorium der Sowjetunion erfaßt.Wichtigster Aspekt ist die Vereinbarung von VorOrt-Inspektionen, zu Lande bzw. aus der Luft, und zwar ohne Ablehnungsrecht des zu inspizierenden Landes. Obligatorische Vor-Ort-Inspektionen als ein zentrales Element wirksamer Verifikationsregelungen bei Rüstungskontrollvereinbarungen sind damit anerkannt worden. Damit ist ein prinzipieller Durchbruch erreicht, dem für die gesamte Rüstungskontrolle Bedeutung zukommt.Auch wenn nicht alle westlichen Vorschläge in vollem Umfange verwirklicht werden konnten, sind die gegebenen Fortschritte doch unverkennbar. Sie ermöglichen zusätzliche Informationen über die Streitkräfte der Teilnehmer. Sie schaffen einen verbesserten Maßstab für die militärische Lagebeurteilung. Abweichungen von der Routine werden klarer erkennbar. Im Verdachtsfall kann eine Inspektion Aufklärung bringen. Insgesamt können sich erforderliche politische Entscheidungen auf eine breitere Grundlage stützen.Die in Stockholm getroffenen Vereinbarungen müssen sich jetzt in der konsequenten Anwendung nach Buchstaben und Geist bewähren. Wie das Mandat von Madrid verlangt, verleihen diese Maßnahmen der weltweit geltenden Verpflichtung der Staaten, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten, Wirkung und Ausdruck. Dementsprechend war es den Teilnehmern möglich, im Schlußdokument ihre Verpflichtung zum Gewaltverzicht in den internationalen Beziehungen zu bekräftigen.Die Politik, das jeweils Mögliche auf der Grundlage von Ausgewogenheit und Gegenseitigkeit zu tun, hat sich erneut als erfolgreicher erwiesen als eine Politik des Alles oder Nichts.
Zu diesem Ergebnis hat die Bundesregierung in engem Zusammenwirken mit ihren westeuropäischen und nordamerikanischen Partnern entscheidend beigetragen. Die Konferenzidee geht auf eine deutsch-französische Initiative zurück. Im Januar dieses Jahres habe ich in einer Phase der Stagnation der Konferenz gemeinsam mit meinem französischen Kollegen in Stockholm zu neuen Anstrengungen für ein erfolgsorientiertes Verhalten aller aufgerufen. Die immer enger werdende Zusammenarbeit mit Frankreich auch im sicherheitspolitischen Bereich hat sich auch dabei bewährt.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, an dieser Stelle den Dank der Bundesregierung an unsere Verhandlungsdelegation in Stockholm unter der Leitung von Botschafter Citron aussprechen.
Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium der Verteidigung hat dabei die Grundlage für eine erfolgreiche Verhandlungsführung geschaffen.Das Ergebnis von Stockholm ist eine wichtige Etappe. Jetzt gilt es, auch in anderen Rüstungskontrollforen weiterzukommen und jede Chance für substantielle Ergebnisse zu nutzen. Der in Stockholm erreichte Durchbruch bei der Verifikation muß insbesondere bei den Wiener MBFR-Verhandlungen und für die Verhandlungen der Genfer Abrüstungskonferenz über ein weltweites Verbot chemischer Waffen Folgen haben.Wenn die Sowjetunion bei den Genfer Verhandlungen den durch das Dokument von Stockholm vorgezeichneten Weg beschreitet, dann sollte ein Ergebnis möglich sein, das die Völkergemeinschaft endgültig von der Geißel der chemischen Waffen befreit.
Ermutigend sind die Fortschritte bei der Vertrauensbildung und der Verifikation, die in einem benachbarten Bereich, bei der letzten Woche zu Ende gegangenen Zweiten Konferenz zur Überprüfung des Abkommens über das Verbot biologischer Waffen, erzielt werden konnten. Auch in anderen Bereichen zeichnen sich Fortschritte ab. Für uns Europäer sind die Verhandlungen über die nuklearen Mittelstreckensysteme von größter Wichtigkeit. Wir halten daran fest, daß alle landgestützten amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenflugkörper größerer Reichweite weltweit beseitigt werden müssen. Wir fühlen uns aber gerade im Hinblick auf dieses Ziel verpflichtet, jede Chance für ein Zwischenergebnis zu nutzen, das möglichst wenig Raketen auf beiden Seiten übrigläßt und das gleiche Obergrenzen weltweit und für Europa festlegt. Der amerikanische Vorschlag, daß beide Seiten ihre Mittelstreckensysteme auf je 200 Gefechtsköpfe, davon 100 in Europa, reduzieren und daß für die Flugkörper zwischen 500 und 1 000 km Reichweite Begrenzungen vorgesehen werden, zielt auf eine solche Zwischenlösung. Damit würde unsere Bedrohung durch die sowjetischen SS-20-Raketen drastisch vermindert werden.Ein Ergebnis mit weitreichenden Reduzierungen wäre ein bislang einzigartiger Schritt nuklearer Abrüstung. Er würde der Welt eindrucksvoll vor Augen führen, daß es möglich ist, die Rüstungsschraube
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Bundesminister Genscherzurückzudrehen. Wir sind realistisch genug, meine 1 Damen und Herren, um zu wissen, daß es dafür noch erheblicher Anstrengungen auf beiden Seiten bedarf. Entsprechend dem NATO-Doppelbeschluß geht es der Bundesregierung darum, Mittelstrekkenraketen aller Reichweiten in einem amerikanisch-sowjetischen Verhandlungsprozeß rüstungskontrollpolitisch zu erfassen. Ziel muß es sein, auch die Systeme im Reichweitenband 150 bis 500 km auf ein niedriges Niveau mit gleichen Obergrenzen zu reduzieren. Die Bundesregierung hält es deshalb für unverzichtbar, für diesen Bereich die INF-Verhandlungen nach Abschluß eines Zwischenabkommens unverzüglich fortzuführen.
Deshalb muß bereits in das INF-Zwischenabkommen eine solche konkrete Weiterverhandlungsverpflichtung aufgenommen werden.
Dieses schrittweise Vorgehen folgt dem NATO-Doppelbeschluß, der vorsieht, die Rüstungskontrollbemühungen zunächst auf die besonders bedrohliche Waffenkategorie der landgestützten Mittelstreckenflugkörper größerer Reichweite zu konzentrieren.Auch bei den Verhandlungen über strategische Waffen weisen die Vorschläge beider Seiten wichtige Berührungspunkte auf. Das Verhältnis von Offensiv- zu Defensivwaffen muß im Zusammenhang behandelt werden, wie das schon am 8. Januar 1985 in Genf vereinbart wurde.Ein erster Schritt könnte die Vereinbarung eines Zeitrahmens sein, in dem für den Defensivbereich klare, berechenbare Schranken gelten. Deshalb muß der ABM-Vertrag erhalten bleiben, solange es keine andere kooperative Lösung gibt. Auch hier zeichnet sich eine Annäherung der amerikanischen und sowjetischen Positionen ab. Wir halten es auch für notwendig, daß die Bestimmungen des SALT-II-Vertrages weiter beachtet werden, um den Rahmen für weiterreichende Reduzierungen zu erhalten. Die Bundesrepublik bekennt sich unverändert zum Ziel eines umfassenden nuklearen Teststopps. Die Erklärung Präsident Reagans, die USA seien, ausgehend von Fortschritten in der Verifikationsfrage, zur schrittweisen Verwirklichung eines solchen Teststopps bereit, weisen in diese Richtung.Herr Präsident, meine Damen und Herren, das Ergebnis von Stockholm eröffnet den Weg zu neuen weiterführenden Verhandlungen über konventionelle Stabilität in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural. Die konventionelle Rüstung in Europa ist zu groß, und sie ist unausgewogen zu unseren Lasten.
Im Sicherheitsbereich richten wir an die Wiener KSZE-Folgekonferenz die Erwartung, daß ein Mandat über die Fortsetzung und Erweiterung der Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen und über Abrüstung in ganz Europa beschlossen wird.Ziel künftiger Verhandlungen über Rüstungskontrolle in ganz Europa muß im Sinne der Erklärung von Halifax sein, einen Zustand herzustellen, in dem die Streitkräfte beider Seiten allein am Erfordernis der Verteidigung ausgerichtet sind. Für den Westen gilt das schon heute.
Es ist und es bleibt das Ziel westlicher Sicherheitspolitik, jeden Krieg zu verhindern, einen atomaren Krieg ebenso wie einen konventionellen Krieg. Insgesamt geht es in Wien um eine ausgewogene Fortentwicklung aller KSZE-Bereiche. Es geht um neue Impulse für diesen weltweit einzigartigen Prozeß.Wir wollen die von Generalsekretär Gorbatschow verkündete Bereitschaft zum Neuanfang und zu neuer Offenheit beim Wort nehmen. Wir wollen konkret feststellen, was gemeint ist, wenn der Warschauer Pakt unsere langjährige Forderung übernimmt, die Spaltung Europas zu überwinden. In diesem Sinne wollen wir in Wien an die von den KSZE- Treffen in Hamburg, Ottawa, Budapest und Bern geleisteten Vorarbeiten anknüpfen und diese womöglich vollenden.Ein Maßstab ist für uns unverrückbar: Jede Regelung muß im Interesse der Menschen in Europa stehen. Wir können nicht hinnehmen, daß Menschen benachteiligt und verfolgt werden, weil sie sich auf Regelungen aus der KSZE-Schlußakte berufen.
Gerade bei den menschenrechtlichen Fragen muß sich die Glaubwürdigkeit des KSZE-Prozesses bewähren. Vor einem Jahr haben sich die Außenminister aller Teilnehmerstaaten in Helsinki zur Fortsetzung des KSZE-Prozesses bekannt. Diesen Worten müssen bei dem dritten Folgetreffen in Wien Taten folgen.Die Zeichen für einen positiven Start der KSZE- Folgekonferenz stehen gut. Im West-Ost-Verhältnis haben sich die Impulse in Richtung Fortschritt in verschiedenen Bereichen verstärkt. Beide Weltmächte sind entschlossen, ihrer besonderen Verantwortung gerecht zu werden. Wir begrüßen das Treffen von Reykjavik, so wie wir die Abhaltung des dann vorgesehenen amerikanisch-sowjetischen Gipfels für notwendig halten. Wir wissen, daß wir das amerikanisch-sowjetische Verhältnis nicht ersetzen können. Aber wir werden unseren Beitrag leisten, wenn sich beide Großmächte um die richtige Weichenstellung für die Zukunft bemühen.Als Freund und Verbündeter der USA bringen wir unsere Vorstellungen in die amerikanische Verhandlungsposition ein. Wir werben um Verständnis für die westlichen Auffassungen bei der Sowjetunion und bei ihren Verbündeten. Auch die kleinen und die mittleren Staaten müssen bei der Gestaltung von Frieden und Zusammenarbeit verantwortlich mitwirken. Wir wollen dabei im Bewußtsein der Geschichte die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit stetig fortentwickeln. Sie ist unabdingbar für eine Verbesserung der Lage in Europa. Eine neue sowjetische Führung, die sich erkennbar der Modernisierung des eigenen Landes verschrieben hat,
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18170 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Bundesminister Genscherdie vom ganzen Europa spricht und die realistisch anerkannt, was die Gemeinschaft der europäischen und nordamerikanischen Demokratien für Frieden, für Stabilität und für Fortschritt in Europa bedeutet, findet bei der Bundesrepublik Deutschland die Bereitschaft zu konstruktivem Dialog und zu konstruktiver Zusammenarbeit. Wir wollen ein friedliches Miteinander in ganz Europa, gegründet auf Zusammenarbeit und Vertrauen.Den beiden deutschen Staaten fällt dabei, gestützt auf den Grundlagenvertrag von 1972, eine entscheidende Rolle zu. Wir müssen den Grenzen in Europa ihre Schrecken und das Trennende nehmen. Dazu gehört zuallererst, daß an diesen Grenzen nicht mehr geschossen wird.
Wir wollen, daß Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme ihre gemeinsamen und komplementären Interessen und ihre Verantwortung für die gemeinsame Zukunft im friedlichen Wettbewerb wahrnehmen können. Wir wollen, daß die Menschen ohne Angst voreinander leben und sich begegnen können.West und Ost müssen in einem schrittweisen Prozeß des Abbaus von Spannungen und mit wachsender Kooperation zu neuen Formen ihrer Beziehungen kommen. Wir wollen eine europäische Friedensordnung auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller und des gleichen Rechts auf Sicherheit für alle.Die Bundesregierung ist entschlossen, das ihr Mögliche dazu beizutragen, damit die vor uns liegende Chance für eine Neugestaltung des West-OstVerhältnisses umfassend genutzt wird. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, können das um so wirkungsvoller, je fester unser Standort in der Gemeinschaft der westlichen Demokratien, im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft ist.Die Bundesregierung, die seit nunmehr vier Jahren im Amt ist, fühlt sich in ihrem klaren und berechenbaren Kurs eindrucksvoll bestätigt. Sie wird diesen Weg, auf dem sie von den Menschen in unserem Lande ermutigt wird, unbeirrt weitergehen.Wir wissen: Europa endet nicht an Elbe und Werra. Deshalb vergessen wir bei keiner unserer Entscheidungen, daß östlich von uns auch Deutsche und Europäer leben.
Als Volk in der Mitte Europas betrachten wir es als unsere Aufgabe, zum Abbau des West-Ost-Gegensatzes beizutragen. Das ist die geschichtliche Verantwortung, es ist aber auch die geschichtliche Chance der Deutschen. Wir wären schlechte Deutsche, und wir wären schlechte Europäer, wenn wir anders handeln würden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erfolgreiche Abschluß der Stockholmer Konferenz beweist, daß Ost und West gemeinsam in Europa Frieden stiften können, wenn sie aus dem Bewußtsein der gemeinsamen Gefährdung den Willen, zur Sicherheitspartnerschaft zu gelangen, ableiten. Wenn Ost und West wieder an die Erfahrungen der ersten Phase der Entspannungspolitik anknüpfen, wenn beide Seiten wieder zum Geist der KSZE-Schlußakte zurückfinden, eröffnet sich auch eine Chance für eine zweite Phase der Entspannungspolitik. Stockholm muß zum Zeichen für einen Neuanfang in den Ost-West-Beziehungen werden. Wir Sozialdemokraten wollen eine zweite Phase der Entspannungspolitik!
Das Ergebnis der Stockholmer Konferenz ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.Erstens. Es trifft Regelungen, die einerseits das Territorium der Sowjetunion berühren, ohne andererseits das Territorium der Vereinigten Staaten mit einzubeziehen. Militärische Aktivitäten in der Sowjetunion bis zum Ural unterliegen ab einer bestimmten Größenordnung der Ankündigung und der Kontrolle, während die Territorien der Vereinigten Staaten und Kanadas entsprechenden Regelungen nicht unterzogen werden. Dennoch ist es dabei geblieben — und das ist gut so —, daß die USA und Kanada an der KVAE wie europäische Mächte beteiligt sind.Beide Regelungen entsprechen eindeutig westlichen Sicherheitsinteressen. Um so unverständlicher ist es, daß der Kollege Todenhöfer in einer Presseerklärung noch unmittelbar im Anschluß an die Stockholmer Einigung wörtlich erklärt hat:Die KVAE-Vereinbarung trägt allerdings gleichzeitig alle Zeichen eines Kompromisses, bei dem der Westen dem Ostblock extrem weit entgegengekommen ist.Zweitens. Ein Angriff des Ostens aus dem Stand, der aus politischen Gründen sowieso nie sehr wahrscheinlich war, ist auf Grund der politischen und militärisch wirksamen vertrauensbildenden Maßnahmen noch unwahrscheinlicher geworden. Wir erwarten jetzt vom Minister der Verteidigung, daß er Auskunft darüber gibt, ob die Bestimmungen des KVAE-Schlußdokuments Folgen für die einkalkulierte Vorwarnzeit der NATO haben.Drittens. Die Regelungen, die die Einhaltung der KVAE-Verpflichtungen sicherstellen sollen, sind begrenzt; trotzdem sind sie im Prinzipiellen ein großer Schritt nach vorne. Daß diese Kontrollen obligatorisch gemacht worden sind, also verpflichtend sind und daß Verdachtskontrollen auch an Ort und Stelle durchgeführt werden, sehen wir ebenfalls als einen großen und wichtigen Schritt an. Die Bereitschaft, zu solchen Kontrollen zu gelangen, also auch zu Verdachtskontrollen an Ort und Stelle, hat sich bereits in dem Dokument abgezeichnet, das SPD und SED gemeinsam im Juni 1985 der Öffentlichkeit vorgelegt haben. Insofern hat unser Handeln,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18171
Voigt
unser Verhandeln, haben unsere Vorschläge in dieser Beziehung Regierungshandeln nicht nur angeregt, sondern auch wieder einmal erleichtert.
Mit dem Erfolg von Stockholm im Rücken sollte die Bundesregierung jetzt um so nachdrücklicher darauf drängen, daß das Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow endlich auch den Weg frei macht für den Abbau von Mittelstreckenwaffen in Ost und West.
Wir begrüßen, daß sich jetzt eine Einigung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten zumindest über den teilweisen Abbau von Mittelstreckenwaffen anbahnt. — Herr Rühe, im Unterschied zu Ihnen beurteilen wir solche Ergebnisse nicht nach parteitaktischen Interessen, sondern aus der Sicht unserer nationalen Interessen.
Wenn Ihnen solches Denken fremd ist, sollten Sie wenigstens zur Kenntnis nehmen, daß dies den sozialdemokratischen Traditionen seit dem vorigen Jahrhundert entspricht.
In den vergangenen Jahren sind Abrüstungsvereinbarungen am mangelnden Kompromißwillen beider Seiten gescheitert. Wir Sozialdemokraten sind bereit, gemeinsam mit der Bundesregierung darauf zu drängen, daß sowohl in Genf als auch in Wien alle Chancen zügig ausgelotet werden, um dort endlich zu Ergebnissen zu gelangen. Wir bieten unsere Unterstützung für jeden konkreten Schritt an, der wirklich zu einem Frieden mit immer weniger Waffen führt.Die SPD unterstützt im Unterschied zu Alfred Dregger jedes Zwischenabkommen, das mit dem darin vereinbarten teilweisen Abbau von Mittelstreckenwaffen einen Schritt zu ihrem völligen Abbau in Ost und West enthält. Wir halten im Rahmen eines solchen Abkommens als begleitende Maßnahme ein Moratorium oder auch eine andere Form der zahlenmäßigen Begrenzung von Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite für wünschenswert, aber auch für geboten. In früheren Entwürfen für ein Abkommen über das Problem der Mittelstreckenwaffen hatten sich die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten im Prinzip bereits auf eine solche begleitende Maßnahme geeinigt.Wir sind also der Meinung, daß im europäischen Interesse auch im Rahmen eines Zwischenabkommens eine kollaterale Maßnahme enthalten sein sollte, die einen neuen Rüstungswettlauf im Bereich der Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite verhindert.Im übrigen, als die SPD während der Auseinandersetzung über die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen auf das Problem der nuklearen Kurzstreckenraketen aufmerksam machte, ging die Bundesregierung Kohl auf Tauchstation. Die SPD warnte damals bereits eindringlich vor einem drohenden neuen Rüstungswettlauf im Bereich der Kurzstreckenraketen. Alfred Dregger schwieg damals.
Die SPD fordert auch weiterhin zusätzlich zum Abbau der Mittelstreckenraketen eine Vereinbarung über den Abbau der Kurzstreckenraketen in Ost und West. Ober Alfred Dregger hinausgehend fordern wir im deutschen Interesse auch Verhandlungen über nukleare Gefechtsfeldwaffen. Weil wir von deutschen Interessen nicht nur reden, sondern für deutsche Interessen auch handeln,
sprechen wir bereits heute mit der SED über einen von Atomwaffen freien nuklearen Korridor beiderseits der Grenzen von NATO und Warschauer Pakt von insgesamt ungefähr 300 km Ausdehnung.
Aber wir meinen, daß ein Zwischenabkommen über Mittelstreckenwaffen noch keine Endlösung über die Fragen der Kurzstreckenraketen und Gefechtsfeldwaffen enthalten kann. Wer jetzt wie Alfred Dregger zusätzliche Vorbedingungen stellt, wer draufsattelt, will in Wirklichkeit nicht mehr, sondern weniger Abrüstung.
Ein Fraktionsvorsitzender, der wie Alfred Dregger unmittelbar vor einem Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow neue Vorbedingungen an ein Abkommen über Mittelstreckenwaffen stellt, will in Wahrheit ein solches Abkommen verhindern, will es blockieren, will es torpedieren. Der Verbleib der Pershing II in der Bundesrepublik ist ihm wichtiger als der Abbau der SS-20.
Sein Motiv ist im übrigen nicht proamerikanisch, sondern antiamerikanisch.
Alfred Dreggers Antiamerikanismus — ich werde es gleich noch begründen — wird in Wirklichkeit nur noch durch seinen Antisowjetismus gezügelt. Alfred Dregger mißtraut nämlich der politischen Sicherheitsgarantie der Amerikaner.
Ich teile sein Mißtrauen gegenüber den Vereinigten Staaten in dieser Beziehung nicht. Ich halte es darüber hinaus für eine Illusion, wenn er glaubt, daß sich die Amerikaner durch die Stationierung von
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Pershing-II-Raketen bei uns, also durch Militärtechnologien auch gegen ihren Willen mit unseren sicherheitspolitischen Risiken verkoppeln ließen.Ich teile also die Analyse Alfred Dreggers über unsere nationale Interessenlage in dieser Beziehung überhaupt nicht. Aber ich konnte ihm bis gestern trotzdem in einer Beziehung meinen Respekt ausdrücken. Er sagte wenigstens, was andere in der CDU/CSU nur denken. Insofern war er ehrlicher als andere, die auch in Fragen unseres Überlebens ständig taktieren. Seitdem er aber seit gestern aus Koalitionsgründen, aus taktischen Erwägungen also, in dieser Sache den Rückzug angetreten hat, muß ich meinen Respekt vor ihm relativieren.
Denn er ist jetzt auch zu einem Taktierer in Grundfragen der Sicherheits- und Abrüstungspolitik, also in Fragen des Überlebens geworden.
Ich weiß nicht, ob sich Bundesaußenminister Genscher und Bundeskanzler Kohl wirklich der Tragweite bewußt waren, als Paul Nitze sie über den sogenannten Waldspaziergang informierte.
Sicher ist, daß der amerikanische Chefunterhändler damals diesen Kompromiß unterstützte. Er scheiterte auch an der Regierung in Washington. Dieser Vorschlag hätte nicht nur zu einer drastischen Reduzierung der Zahl der SS-20, sondern auch zum völligen Abzug der Pershing II geführt. Auch aus dem Grunde hätten wir Sozialdemokraten ihn unterstützt. Die gegenwärtige Bundesregierung beharrt auf der Stationierung zumindest einiger Pershing-II-Raketen. Wir sind hier anderer Meinung. Aber wer im Rahmen einer Zwischenlösung auf der Stationierung von Pershing II beharrt, der ist nicht ehrlich, wenn er behauptet, er wolle im Rahmen einer Endlösung auf die Stationierung aller Raketen, die bei uns heute stationiert sind, verzichten.
Alfred Dregger ist in dieser Frage ehrlich. Aber ich frage, was ist die ehrliche Meinung der Bundesregierung. Oder ist sie in dieser Frage — wie in anderen Fragen auch — wieder einmal heillos zerstritten?
Wir drängen nicht nur auf Fortschritte in der nuklearen Abrüstung. Denn auch ein längerer konventioneller Krieg würde Deutschland und Mitteleuropa völlig zerstören.
— Ja. — Daher liegt eine Verringerung der konventionellen Kriegsrisiken, also ein Abbau der konventionellen Rüstungen und Streitkräfte auch in unserem Interesse.Stockholm war auch in dieser Hinsicht ein Fortschritt. Jetzt sollte in Wien über konventionelle Stabilität über eine wirkliche konventionelle Abrüstung in Ost und West verhandelt werden. Wir sind deshalb der Meinung, daß dort oder im Gesamtdialog zwischen Ost und West NATO und Warschauer Pakt auch wechselseitig über eine Reform ihrer Militärstrategien diskutieren sollten.Wir wollen, daß sich der Warschauer Pakt endlich auf eine Vorneverteidigung beschränkt und auf die Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive verzichtet. Wir wollen, daß beide, NATO und Warschauer Pakt, ihre Strategien im Sinne einer strukturellen Nichtangriffsfähigkeit beider Seiten revidieren. Wir wollen die Verteidigungsfähigkeit beider Seiten erhalten, aber wir wollen sie mit einer Nichtangriffsfähigkeit beider Seiten verbinden.Der Macht- und Systemkonflikt zwischen Ost und West spaltet Europa, spaltet Deutschland und teilt Berlin.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Berger ?
Herr Berger, bitte. Vizepräsident Westphal: Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Voigt, sind Sie wirklich der Meinung, daß die NATO angriffsfähig sei?
Ich glaube, daß einige Ihrer Waffensysteme vom Warschauer Pakt so gedeutet werden können. Ich glaube nicht, daß die NATO die Absicht zur raumgreifenden Offensive oder die Fähigkeit dazu hat.
Sie hat aber die Fähigkeit zu einzelnen Angriffsoperationen, insbesondere per Luft, in die Tiefe des Warschauer Pakts hinein.
Dies hat der Warschauer Pakt auch. Er hat darüber hinaus die Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive. Ich glaube deshalb, daß wir nicht nur auf der einen Seite, wenn es wirklich um das Prinzip der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit geht, sondern auf beiden Seiten reformieren müssen, ohne der NATO etwas zu unterstellen, was ich ihr hier nicht unterstellt habe.
Der Macht- und Systemkonflikt zwischen Ost und West wird noch lange andauern. Aber wir wollen ihn entmilitarisieren. Wir wollen ebenso wie Bundesaußenminister Genscher das europäische Haus, das ganz Europa umschließt, ausbauen und lebenswürdig gestalten. Wer den Ost-West-Konflikt
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18173
Voigt
schrittweise entmilitarisieren will, muß sich auch zum Ziel der Sicherheitspartnerschaft bekennen;
denn Sicherheitspartnerschaft ist nichts anderes als ein politisches Konzept, das mit politischen Mitteln durch Zusammenarbeit und Interessenausgleich zur Bändigung des militärischen Faktors beiträgt.Ohne Sicherheitspartnerschaft wird Friedensordnung nicht möglich. Mit Sicherheitspartnerschaft wird Friedensordnung nicht garantiert, aber es öffnet den Weg in Richtung Friedensordnung. Nur mit einem Konzept der Sicherheitspartnerschaft kann in Europa auf Dauer Krieg verhindert, Frieden gestiftet und Friedensordnung gestaltet werden.
Deshalb halten wir am Ziel der gemeinsamen Sicherheit, am Ziel der Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West so lange fest, bis auch Sie sich zu diesem Konzept bekennen werden.Sie haben die KSZE-Schlußakte, die Sie ursprünglich als Christdemokraten abgelehnt haben, jetzt akzeptiert
und arbeiten heute auf ihrer Grundlage. Ich sehe voraus, daß Sie später einmal das Konzept der Sicherheitspartnerschaft, das Sie heute bekämpfen, als Ihr eigenes Konzept ausgeben werden. Auf diesen neuen Konsens in der Zukunft freue ich mich schon heute.
Herr Abgeordneter Rühe, Sie haben zum Vorredner den Zwischenruf gemacht „Verleumder". Ich rufe Sie deswegen zur Ordnung. Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie den Sozialdemokraten angesichts der Verdichtung der Ost-West-Kontakte und des bevorstehenden Gipfels wirklich zumute ist, hat Kollege Ehmke Anfang September in Washington in einem Anflug von leichtsinniger Ehrlichkeit der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben. Ich zitiere aus der „Frankfurter Rundschau" vom 4. September unter der Überschrift „Besser, wenn der Gipfel vorerst ausfällt?".
Wörtliches Zitat:Und dann wurde eines deutlich aus dem Pressegespräch des Kollegen Ehmke: Ein Gipfel der Supermächte vor der Bundestagswahl paßt der SPD nicht ins Konzept.
Denn würden sich die USA und die UdSSR einigen, Mittelstreckenraketen abzuziehen, Interkontinentalraketen zu verschrotten und SDI zu vertagen, wären viele Ehmke-Argumente gegenstandslos, würde die US-Philosophie, besser aus einer Position der Stärke zu verhandeln, als richtig bestätigt.
„Da ist was dran", gab Ehmke gegenüber der „Frankfurter Rundschau" zu und gestand ganz offen, daß die Außen- und Sicherheitspolitik für seine Partei nur dann ein Wahlkampfrenner wird, wenn der Gipfel ausfällt.
Ich meine, daß sich hier ein engstirniger Parteipolitiker zeigt, dem die Eiszeit zwischen den Weltmächten und das waffenklirrende eisige Verhältnis um engstirniger parteipolitischer Vorteile willen wichtiger ist.
Der ganze Versuch einer handfesten Verleumdung, Herr Kollege Voigt, unseres Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger ist j a wohl nur durch dieses schlechte Gewissen zu erklären.
Ich kann hier noch einmal sagen: Wir sind froh über die aktive Rolle, welche die Bundestagsfraktion von CDU und CSU in dieser ganzen Problematik gespielt hat; wir sind froh darüber, daß wir jetzt gemeinsam mit der Regierung eine Verhandlungsposition ausgearbeitet haben, die in allen Teilen dem deutschen Interesse entspricht.
— Besseres fällt Ihnen nicht mehr ein.Stockholm, Genf und Reykjavik sind deutliche Kennzeichen dafür, daß die nun seit genau vier Jahren praktizierte Außen- und Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung auf dem richtigen Erfolgskurs ist. Die Stockholmer KVAE wurde erfolgreich abgeschlossen. Insbesondere ist zu bemerken, daß die Sowjetunion erstmals in der Abrüstungsgeschichte zur Zulassung von Inspektionen vor Ort verpflichtet werden konnte.Bei den Verhandlungen in Genf über die Mittelstreckenraketen zeichnet sich jetzt die Möglichkeit drastischer Abrüstungsschritte ab. Das wäre eine völlig neue historische Dimension. Denn noch nie sind bisher die Atomwaffenpotentiale durch ein Rüstungskontrollabkommen reduziert, sind Atomwaffen beseitigt worden, sondern zu Ihren Regierungszeiten wie bei SALT in den 70er Jahren ausschließlich nach oben hin begrenzt worden.
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18174 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
RüheDas jetzt vereinbarte zweite amerikanisch-sowjetische Gipfeltreffen in Reykjavik ist ein deutliches Zeichen des verbesserten Verhandlungsklimas zwischen Ost und West. Statt also der von der SPD vorhergesagten Eiszeit ist ein intensiver Ost-West-Dialog mit bereits konkreten Ost-West-Vereinbarungen zustande gekommen.
Dies ist eben auch möglich geworden, weil diese Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl vor vier Jahren wieder auf einen für unsere Freunde im Westen wie für unsere Verhandlungspartner im Osten berechenbaren und glaubwürdigen Kurs in der Außen- und Sicherheitspolitik gegangen ist. Das war nur durch das klare Signal von Ende 1983 möglich.Die Stockholmer KVAE-Beschlüsse wie auch die sich abzeichnende Möglichkeit einer Abrüstungsvereinbarung bei den Mittelstreckenraketen sind damit der konkrete Ausdruck unserer Politik der Vertrauens- und Sicherheitsbildung in West und Ost. Gemeinsame Sicherheit im Bündnis zu schaffen — und nur da — und auf dieser Grundlage einen konstruktiven Dialog mit dem Osten über gegenseitige Sicherheit zwischen Ost und West zu führen, das ist, wie sich jetzt deutlich sichtbar zeigt, der richtige Kurs einer realistischen Entspannungspolitik.Der erfolgreiche Abschluß der Verhandlungen in Stockholm ist eine ganz wesentliche Grundlage für das, was weiterhin zu geschehen hat. Ich möchte auch an dieser Stelle noch einmal unseren Verhandlungsführern, Botschafter Citron, aber auch General Schmidtbauer sehr herzlich danken für die hervorragende Leistung, die sie auf dieser Konferenz vollbracht haben.
Ich muß Ihnen auf Grund von zahlreichen Besuchen auf internationalen Abrüstungsforen sagen: Ich bin stolz auf die erstklassigen Diplomaten und Soldaten, die wir in diesen internationalen Foren haben und die dafür sorgen, daß wir eine Politik durchsetzen, die Abrüstung in Sicherheit möglich macht.
Wenn man dabei eine führende Rolle spielt, ohne das andere allzu sehr merken zu lassen, wie das in Stockholm der Fall gewesen ist, dann haben wir hier wirklich eine Situation, wo wir Stolz sein können auf das, was wir politisch erreicht haben. Deswegen auch mein Dank an die Bundesregierung, an den Bundeskanzler, aber auch an den Außenminister und den Verteidigungsminister, daß sie dieses Ergebnis in Stockholm möglich gemacht haben!
Welche Rolle haben nun eigentlich die Sozialdemokraten gespielt? Da setze ich mich gerne einmal im Detail etwas näher mit dem Herrn Voigt im Hinblick auf die Stockholmer Verhandlungen auseinander.
— Ganz sauber. — Ich fordere alle auf, das nachzuprüfen, was ich jetzt sage.
Die Sozialdemokraten haben noch im dritten Verhandlungsjahr an den Vorschlägen der Sowjetunion im Hinblick auf eine deklaratorische Politik — chemiewaffenfreie Zone, atomwaffenfreie Zone, Nichtersteinsatz von Atomwaffen und Abschluß eines Gewaltverzichtsvertrages zwischen den Bündnissen — festgehalten, als sich die Sowjetunion in Stockholm um des Verhandlungsfortschritts willen längst von diesen Positionen getrennt hatte
und als ganz konkret entsprechend dem Mandat von Madrid über vertrauensbildende Maßnahmen mit militärischer Bedeutung verhandelt wurde, so wie wir das jetzt erreicht haben. Das zeigt, wie Sie bei diesen Stockholmer Verhandlungen im Abseits gestanden haben.
Ich nenne einen weiteren Punkt, und ich fordere Sie auf, mich zu widerlegen:
Nicht einmal in den drei Jahren haben die Sozialdemokraten die NATO-Vorschläge bei den Stockholmer Verhandlungen öffentlich vertreten. Nicht einmal in diesen drei Jahren hat die SPD
z. B. vom Osten die Bereitschaft zu Inspektionen vor Ort ohne ein Ablehnungsrecht gefordert. Sie haben immer die Meinung vertreten, es sei eine Zumutung an die Sowjetunion, ein Inspektionsrecht bei Manövern zu fordern,
ohne das Recht zu haben, dies abzulehnen.
Ich muß Ihnen sagen: Eine Partei, die eine solche Politik verfolgt, ist eine Zumutung für die deutsche Wählerschaft. So können Sie die deutschen Interessen bei diesen Verhandlungen nicht wahrnehmen.
Geben Sie mir den Beweis dafür, daß Sie gegenüber der Sowjetunion Inspektionsrecht ohne Ablehnungsrecht gefordert haben, so wie wir das schließlich bei den Stockholmer Verhandlungen durchgesetzt haben.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18175
RüheJetzt komme ich zu einem noch viel schwerwiegenderen Vorgang im Zusammenhang mit den Mittelstreckenraketen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt ?
Nein, ich spreche jetzt erst im Zusammenhang.Die Sozialdemokraten haben auf ihrem Nürnberger Parteitag folgendes beschlossen,
und Herr Rau, der Kanzlerkandidat, hat es hier letzte Woche noch einmal öffentlich verkündet: „Wir fordern von den USA die Rücknahme der Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles; von der Sowjetunion fordern wir eine drastische Verminderung der SS-20-Raketen auf einen Stand von 1979."
Im Weißbuch der Bundesregierung vom 4. September 1979, unterschrieben von Bundeskanzler Schmidt und Verteidigungsminister Apel, stehen folgende Zahlen: Im Frühjahr 1979 befanden sich in der Sowjetunion 100 SS-20-Raketen mit 300 Sprengköpfen. Ende des Jahres 1979 gab es 140 SS-20 in der Sowjetunion mit jeweils drei Sprengköpfen, also 420 Sprengköpfen. Ich halte fest, daß in einer internationalen Verhandlungssituation, in der die Sowjets bereits Anfang September in informellen Gesprächen mit der amerikanischen Seite ein gleichgewichtiges Abrüstungsangebot gemacht hatten, was es uns vielleicht ermöglicht, in Europa die Mittelstreckenraketen größerer Reichweite auf 100 Sprengköpfe auf beiden Seiten zu begrenzen, noch nach diesem sowjetischen Vorschlag die sozialdemokratische Seite auf ihrem Parteitag, aber auch durch ihren Kanzlerkandidaten vorgeschlagen hat, die westlichen Systeme auf Null zu bringen und der Sowjetunion das Recht zu garantieren und damit zu legitimieren, 420 Sprengköpfe auf ihrer Seite zu stationieren.
Ich fordere Sie auf, diese Fakten zu widerlegen. Sie können es nicht. Deswegen sage ich: Die Politik, die Sie betreiben, ist eine Politik der einseitigen Abrüstung.
Die Politik, die Sie betreiben, ist eine Politik der Abrüstung in Unsicherheit.
Die Politik, die CDU/CSU und FDP betreiben, ist eine Politik der gleichgewichtigen Abrüstung und eine Politik der Abrüstung in Sicherheit. Zwischen diesen beiden Politiken muß man sich entscheiden, Herr Voigt. Da hilft auch kein Sichanbiedern oder giftiges Lob, was gelegentlich gegenüber Vertretern der Koalition ausgestreut wird. Uns trennen Welten angesichts solcher Beschlüsse, die einseitige Abrüstung auf der westlichen Seite fordern.
und der Sowjetunion noch in den letzten Tagen ein Recht zugestehen wollen, einseitig 420 Sprengköpfe zur Verfügung zu stellen. Das sind die Tatsachen der deutschen Politik. Sie sollten nicht den Versuch unternehmen, angesichts dieses Versagens die Fronten zu verwischen.Ich muß Ihnen sagen: Die erfolgreiche Architektur der Außen- und Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung wird für alle unsere Mitbürger am Ende dieser Jahre immer stärker sichtbar. Wir haben die Fundamente gelegt, auch durch schwierige Entscheidungen in der Verteidigungs- und der Sicherheitspolitik. Zum Harmel-Bericht gehören eben beide Dinge: die Verteidigungsanstrengungen und dann das Bemühen um Abrüstung auf beiden Seiten; „Frieden schaffen mit weniger Waffen" auf beiden Seiten, wie das der Bundeskanzler gefordert hat.
Herr Rau möchte eine Politik betreiben, die Frieden mit weniger Waffen auf nur einer Seite schaffen will. Auch das ist ein ganz klares Kontrastprogramm.
Die Architektur dieser Außen- und Sicherheitspolitik wird immer deutlicher. Wenn Sie jetzt versuchen, sich hier an Bord zu schmuggeln und mitzudiskutieren, dann erinnern Sie mich an jemanden, der zu verhindern versucht hat, daß die Fundamente eines Hauses gegossen werden, daß die Wände hochgezogen werden, daß der Dachstuhl errichtet wird. Das alles geschieht gegen Ihren heftigen Widerstand.
Wenn es vielleicht eine Chance gibt, daß das Haus gebaut wird, dann wollen Sie mit uns über den Anstrich der Tapeten in der Bodenkammer diskutieren. Das ist doch ein jämmerliches Verhalten Ihrer Seite. Ändern Sie Ihre Politik im Grundsatz, gehen Sie weg von der Politik der einseitigen Abrüstung. Dann freuen wir uns auch wieder über die Unterstützung unserer Politik durch Sie. So aber bleibt das unglaubwürdig.
So bleibt das bis zum heutigen Tage leider unglaubwürdig.
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18176 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
RüheDie Beschlüsse von Nürnberg bleiben ein Dokument der Zeitgeschichte für das Versagen der SPD in der Außen- und Sicherheitspolitik. Da helfen auch keine Ablenkungsmanöver.Ich möchte Sie fragen: Stehen Sie noch zu Ihren Parteitagsbeschlüssen?
— Dann stehen Sie nicht hinter dem westlichen Verhandlungsvorschlag und auch nicht hinter dem Kompromißvorschlag der Sowjetunion.Nicht akzeptieren kann ich das, was mir bei meinen Gesprächen Mitte September, Herr Kollege Ehmke, in Washington nun wirklich bei allen Gesprächspartnern begegnet ist: daß Sie in Washington den Amerikanern sagen: „Nehmt doch die Beschlüsse von Nürnberg nicht so ernst, daß sind j a nur Parteitagsbeschlüsse! Was sind schon Programme!"
Aber in Nürnberg, wo Sie hätten kämpfen müssen, wenn Sie eine andere Politik wollen, Herr Ehmke, haben Sie geschwiegen und zugestimmt.
Stellen Sie klar: Stehen Sie noch zu Ihren Beschlüssen von Nürnberg?
Wenn Sie dazu noch stehen, Herr Ehmke, dann stehen Sie im Widerspruch zu der westlichen Sicherheits- und Abrüstungspolitik. Dann betreiben Sie eine Politik, für die es keine Partner gibt. Sie haben im westlichen Bündnis für diese Politik keine Partner. Sie haben auch in der Bundesrepublik keine Partner; einen, die GRÜNEN, haben Sie, aber das ist ja ein Partner, mit dem Sie nicht so gern zusammen gesehen werden wollen. Ich frage mich: Was ist das schon für ein Partner, mit dem man nicht gern auch in der Öffentlichkeit zusammen gesehen werden will?Es ist also eine Politik ohne Partner und damit eine Politik, mit der man nicht regieren kann.Nun sagen Sie, Sie stünden j a zum Bündnis, auch wenn Sie die Bündnispolitik ablehnen. Sie haben ein Nein zur Politik des Bündnisses für eine Stärkung der konventionellen Verteidigung gesagt, Sie haben nein gesagt zu der für unsere Sicherheit notwendigen Verlängerung des Wehrdienstes.
— Es tut mit leid, wenn das weh tut. Die Wahrheit tut immer besonders weh.
— Widerlegen Sie mich doch in einem einzigen Faktum, Herr Kollege Professor Ehmke.
Sie haben nein gesagt zum Unterstützungsprogramm für unseren Bündnispartner, zum Wartime Host Nation Support. Sie haben nein gesagt zur erfolgreichen Abrüstungspolitik des Bündnisses.
— Ihre ist schon längst abgelaufen!Dieses Nein zur Bündnispolitik ist in Wirklichkeit ein Nein zum Bündnis.Der verdiente Bremer Sozialdemokrat Hans Koschnick
— sagen Sie doch nicht „Ach der!"; das finde ich nun wirklich schäbig, wenn Sie zu jemandem, der gerade noch Ihr stellvertretender Parteivorsitzender war, sagen: „Ach der!"; oder ist er schon eine Unperson geworden? — hat seinen Rauswurf aus dem SPD-Präsidium mit dieser Anti-NATO-Politik seiner Partei begründet, als er sagte — ich zitiere wieder —:Meine Position zur Sicherheitspolitik und zur Entspannungspolitik ist nicht deckungsgleich mit der Position der Partei. Ich glaube nämlich, daß wir den nächsten Schritt zur Entspannungspolitik nur mit dem Bündnis gemeinsam leisten können. In der SPD gibt es die Hoffnung, es sei auch ohne das Bündnis möglich.
Es gibt eine ganze Menge innerhalb der SPD, die der Meinung sind, daß die Bündnisfrage nicht die zentrale Frage ist, sondern daß man einen solchen Schritt auch gehen kann, wenn das Bündnis nicht mitzieht.So weit das Zitat des früheren Bremer Bürgermeisters Koschnick, des langjährigen stellvertretenden Bundesvorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie.
Eine solche Politik wäre also quasi der Austritt unseres Landes aus der NATO. Eine solche Politik des Allein-gegen-alle ist für die Wahrnehmung unserer Interessen völlig ungeeignet und schädlich. Das ist eine Politik, die unser Land in die Selbstisolierung führen würde.
Deswegen sage ich: Wir in der Koalition unterstützen die erfolgreiche Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung, die für jedermann sichtbar erste konkrete Erfolge erreicht hat für unsere Sicherheit, aber auch für die Abrüstung. Wir fordern Sie auf, diese Arbeit energisch fortzusetzen. Wir fordern die wichtigste deutsche Oppositionspar-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18177
Rühetei aber auch auf, innezuhalten, den Weg zu überprüfen, den sie geht, der wegführt vom Bündnis und damit weg von der Fähigkeit, deutsche Sicherheitsinteressen zusammen mit unseren Partnern im Bündnis wahrzunehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lange.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst eine Vorbemerkung an Sie, Herr Kollege Rühe. Wenn Sie, wie so gehabt, in der Bevölkerung und auch hier wieder Angst schüren mit diesem Terminus „Allein gegen alle", diesmal gegen die SPD gewendet, dann möchte ich folgende Rechnung aufmachen. Sie meinen damit wahrscheinlich die Bemühungen oder die Tendenzen innerhalb der SPD, die angeblichen Tendenzen, sich NATO-unabhängig zu machen.Was war denn bei der KVAE-Konferenz in Stockholm? Saßen da nur NATO und Warschauer Pakt? Da saßen Blockfreie, da saßen Neutrale. Insofern gibt es ein Europa nicht nur in der NATO oder im Warschauer Pakt,
sondern es gibt hier eine Menge ohne die NATO und ohne Warschauer Pakt, es gibt Blockfreie, Neutrale. Es ist nicht so, wie Sie unterstellen, daß Europa nur in solche Länder zweigeteilt ist.
— Natürlich, das ist auch berechtigt. Ich komme auf die Rolle der Neutralen noch zu sprechen. Das ist ein interessanter Punkt.Zweitens komme ich zu dem, was Sie hier gegen die SPD vollziehen und indirekt auch gegen andere politische Kräfte tun. Sie stellen das so dar, als würde sich die SPD mit ihrer Kritik an dem Doppelbeschluß und an den Entwicklungen, wie sie sich jüngst ergeben haben, isolieren. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß 1979/80, vor dem NATO-Doppelbeschluß, Europa eine hochgerüstete Region war; daß wir nach dem Doppelbeschluß die Pershing II, die Cruise missiles und die SS-20 gehabt haben — viel zuviel — und daß wir, nachdem dies abgelaufen war, noch die Kurzstreckensysteme im Warschauer Pakt, in der DDR und in der ČSSR gehabt haben. Ich weigere und wehre mich einfach dagegen, daß Sie ständig so tun, als hätten wir nach dem Nachrüstungsbeschluß mehr Sicherheit gewonnen, die nun andere politische Kräfte wieder abziehen wollten. So kann man das nicht machen. Sie haben mit Ihrer Politik, die zugegebenermaßen unter Helmut Schmidt begonnen hat, mit diesem Doppelbeschluß mehr Unsicherheit nach Europa hineingebracht, als vorher vorhanden gewesen ist.
— Dann zählen Sie die Raketen — ich hoffe, Sie können zählen —, und dann können wir uns noch einmal unterhalten, ob das Unsinn ist.Um auf diese KVAE-Konferenz von Stockholm einzugehen: Alle meine Vorredner haben heute von einem erfolgreichen Abschluß gesprochen, und es spricht einiges dafür. Ich würde allerdings etwas vorsichtiger sein; denn unter „Erfolg" versteht man im Grunde genommen erst den Zustand, der eingetreten ist, wenn wir am Ende solcher Verhandlungen konkrete Taten in Richtung auf Abrüstung erlebt haben. Erst dann kann man von Erfolg sprechen. Wir haben jetzt vielleicht Hoffnung, berechtigte Hoffnung, daß es zu einem solchen Erfolg kommen kann; aber mir wird hier etwas zu schnell von Erfolg geredet, ohne daß bereits konkrete Taten erfolgt sind. Ich möchte aber dennoch die Ergebnisse auf dieser Stockholmer Konferenz entsprechend zu würdigen versuchen.Ein Anliegen dieser Konferenz war es, Transparenz und Kalkulierbarkeit des militärischen Geschehens in Europa zu beanspruchen und zu erfüllen. Ich denke, daß dieser Anspruch, jedenfalls wenn man dies auf dem Papier nachliest, erfüllt worden ist.Ein zweiter wichtiger Hauptpunkt war — der ist meiner Ansicht nach in der Diskussion viel zu kurz gekommen, vor allen Dingen von seiten der Union, was mich sehr überrascht —, daß beispielsweise die Neufassungen der Gewaltverzichtsformel hier zu finden sind, daß man z. B. nun auf die Anwendung von Gewalt verzichten will, ungeachtet der politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Systeme dieser Staaten, gegen die eine Drohung gerichtet sein könnte — jetzt kommt der interessante Aspekt —, gleich, ob zu diesem Staat Bündnisbeziehungen unterhalten werden oder nicht. Das ist Punkt 15. Ich stelle fest: Das ist doch die erklärte, sanfte Verabschiedung von der Breschnew-Doktrin.
Das sollte man doch würdigen! Warum wird das hier nicht gesagt? Warum wird hier einseitig Antikommunismus betrieben, ohne daß die positiven Elemente, die die andere Seite hineingebracht hat, hier offen artikuliert werden?Überhaupt will ich nicht versäumen — ich glaube, ich muß mich nicht dem Vorwurf aussetzen, einseitig zu operieren; wir haben die Sicherheitspolitik der Sowjetunion, deren Aufrüstungsbestrebungen und deren offensiven Charakter in der Strategie hier des öfteren heftigst angegriffen —, die Rolle der Sowjetunion in Stockholm positiv zu würdigen. Es scheint so, daß unter Generalsekretär Gorbatschow offenbar Taten gewollt werden und man es nicht nur bei Worten belassen will. Offenbar hat er Interesse daran, die ökonomische Reform der UdSSR zu Lasten des militärisch-industriellen und bürokratischen Komplexes in der Sowjetunion voranzutreiben. Denn wenn in der Sowjetunion einer Inspektion dreimal pro Jahr ohne Ablehnungsrecht zugestimmt wird, wenn z. B. die Tatsache berücksichtigt wird, daß die Beobachtung bestimmter militärischer Aktivitäten über längere Zeiträume hin-
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Langeweg uns und den anderen Einblicke und Rückschlüsse im Hinblick auf militärische Fähigkeiten, Einsatzgrundsätze, Ausrüstung und eventuell sogar Motivation und Einstellung von Truppen erlaubt, dann muß dies offenbar ein schwer verdaulicher Schlag für die sowjetische Militärführung sein. Auch unter diesem Aspekt muß man diese Elemente, die in Stockholm seitens der Sowjetunion eingeflossen sind, würdigen. Das ist für die Sowjetunion und ihre politischen Führer nicht so einfach gewesen, wie es für uns im Westen der Fall gewesen sein wird.Ich möchte auch die Rolle der Neutralen und Blockfreien als Mittler und als aktive Verhandlungspartner positiv hervorheben. Ohne diese Länder wären diese Ergebnisse nicht zustande gekommen. Ich möchte das, Herr Rühe, doch als Seitenhieb auf Ihre Position verstanden wissen, die da so tut, als könnten wir unseren Einfluß nur im Bündnis geltend machen. Da gibt es andere Staaten, neutrale und blockfreie, mit denen wir gemeinsam Einfluß auf die Politik der Supermächte haben könnten, wenn wir dies nur wollten.KVAE als Teil des KSZE-Prozesses kann ein Auftakt für weiterreichende Maßnahmen bilden. Stockholm hat auch gezeigt, daß am Beginn eines Rüstungskontrollprozesses vertrauensbildende Aktivitäten stehen müssen. Gemessen an den strukturell reduzierten Möglichkeiten traditioneller Arms-Control-Politik sind Verlauf und Ergebnis dieser Konferenz in Stockholm zu begrüßen; da hat es schon schlechtere Zeiten gegeben. Aber es besteht kein Grund zur Euphorie. Den Worten müssen jetzt erst noch die Taten folgen.Ein Faktum bleibt ja nach wie vor: Rüstungskontrolle ist und bleibt erklärtermaßen Bestandteil der jeweiligen Sicherheitspolitik der Supermächte. Das hat z. B. Weinberger am 5. Februar 1986 in seinem Bericht an den Kongreß noch einmal ausdrücklich gesagt. Die Auffassung der Sowjetunion dazu ist nicht anders. Dies ist auch der Grund, weshalb wir traditionelle Rüstungskontrolldiplomatie als dauerhaft unzulänglich, als trügerische Friedenshoffnung für Millionen Menschen in Ost und West erkennen. Solange Rüstungskontrolle in direkter Abhängigkeit zu jeweils erklärten oder heimlichen Großmachtinteressen steht, muß sie ihre Fahne nach dem jeweiligen Wind, den die politische Großwetterlage treibt, richten. So gesehen ist sie — je nachdem — Instrument zur Abrüstung, zur Aufrüstung, zur Spionage, zur Alibisicherung usw. — je nach Verhandlungsauftrag an die Delegationsleiter.Will die eine Supermacht ökonomische Reformpolitik nach innen, so läßt sie, weil an Aufrüstung momentan uninteressiert, Friedensschalmeien erklingen. Will die andere Großmacht den Weltraum militarisieren und eine überlegene Politik der Stärke, so kann sie keinen Atomteststopp gebrauchen und macht aus Abrüstungshoffnungen der Menschen Makulatur.Wie gesagt, weil derzeit Konfrontationskurs zwischen den Supermächten gefahren wird — Herr Rühe, dieser Zustand ist nicht beendet —, ist das Ergebnis der KVAE um so höher zu bewerten. Aber dieser Hoffnungsfunke hat keine Fläche, um sich auszubreiten.Um Abrüstung dauerhaft möglich zu machen, müssen drei Entwicklungen politisch aktiv — auch durch die Bundesrepublik — angegangen werden:Erstens. Die Instrumentalisierung von Rüstungskontrolle durch die Supermächte muß durch die Einbindung möglichst vieler Blockfreier und Neutraler in jetzige und kommende Verhandlungsforen aufgeweicht werden. Frieden ist eben nicht Sache einiger weniger, die glauben, sich zu Herren dieser Welt machen zu können. KVAE ist in dieser Hinsicht, was die Besetzung anlangt, Vorbild.
Zweitens. Entspannung und Kooperation müssen ausgebaut werden. Lassen wir uns nicht durch berufsmäßige Antikommunisten in diesem Haus und draußen durcheinanderbringen.
Die Stahlhelmfraktion — nichts gegen Stahlhelme, wegen des Schutzes — wäre an sich nichts Schlimmes, wenn darunter nicht Holzköpfe wären, die keine Phantasie haben.
Drittens. Einseitige Abrüstungsschritte beschleunigen positive Verhandlungsergebnisse. Sie schaffen den materiellen Unterbau für gemeinsame Sicherheit, sie lockern die Blockstrukturen in Europa auf, und sie wirken kontraproduktiv in den militärischen, bürokratischen und industriellen Sektor der anderen Seite hinein. Einseitige Abrüstung ist damit kein Gegensatz zur Rüstungskontrolle, aber sie ist im Gegensatz zu Rüstungskontrolle eine Strategie zur dauerhaften Überwindung der Abschrekkungslogik und der Gleichgewichtsdoktrin.Die KVAE war psychologisch von großer Bedeutung. Konkrete Schritte müssen, wie gesagt, jetzt folgen. Wir denken, daß die Zeit reif ist, denn die Menschen wollen Taten sehen. Mit Angstmachen als Politikersatz ist auf Dauer keine Abrüstung zu bewerkstelligen. Ich denke, daß die Stockholmer Konferenz hier einen positiven Ansatz geboten hat. Wir begrüßen dies, aber, wie gesagt, wir sehen dies nicht als ausschließliche Maßnahme an, um zu Frieden zu gelangen. Unser Konzept muß deshalb lauten: Rüstungskontrolle, Entspannung, eine Blockauflösungspolitik mit blockfreien und neutralen Staaten und einseitige Abrüstungsschritte als Begleiterscheinung einer konsequenten Abrüstungspolitik.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, Herr Kollege Lange, daß Sie wenigstens den Versuch unternommen haben, den Erfolg von Stockholm zu
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Dr. Feldmannwürdigen. Stockholm hat noch keine Abrüstung gebracht, aber in Stockholm sind wesentliche Voraussetzungen für Abrüstung erarbeitet worden. Das muß man doch sehen.
Wir sind in den 80er Jahren noch nicht zu dem Erfolg, zu der erhofften Abrüstung, gekommen. Das ist richtig. Aber denken Sie daran, woher wir kommen. Dieses Jahrzehnt wurde durch eine massive sowjetische Aufrüstung durch SS-20 eingeleitet, gefolgt vom Scheitern der Genfer Konferenz, dem Beginn der Nachrüstung des Westens und der Stationierung neuer sowjetischer Kurzstreckenraketen in Ländern des Warschauer Pakts. Das war der Anfang. Nach dem Rückzug der Sowjetunion von den Verhandlungstischen gab es keinen Grund zu abrüstungspolitischem Optimismus.Um so mehr können wir uns heute doch freuen, daß wir über den erfolgreichen Abschluß einer Konferenz sprechen können, auf der sich Ost und West auf konkrete vertrauensbildende Maßnahmen geeinigt haben, um unser waffenstarrendes Europa einer wirklichen Abrüstung näherzubringen.
Das Ergebnis der Stockholmer Konferenz ist ein Etappensieg der Vernunft. Es ist ein wichtiger Durchbruch erzielt worden. Erstmals seit der nicht ratifizierten, aber respektierten SALT-II-Vereinbarung haben Ost und West wieder ein Abkommen im Bereich der Sicherheitspolitik geschlossen. Erstmals überhaupt hat die Sowjetunion den westlichen Verifikationsforderungen nachgegeben. Dadurch ist die Ausgangsposition für die Abrüstungsverhandlungen wesentlich verbessert worden.
Die Sowjetunion hat sich zu einer historischen Entscheidung durchgerungen. Das anerkennen wir. Sie hat endlich ihr übersteigertes Sicherheitsbedürfnis und ihre übertriebene Angst vor militärischer Spionage zurückgestellt. Wir wollen und brauchen Transparenz, weil Transparenz Mißtrauen abbauen und Vertrauen schaffen kann. Transparenz heißt Einblick in die militärischen Fähigkeiten der Gegenseite, heißt Abbau von übertriebenen Bedrohungsängsten. Transparenz dient damit den Sicherheitsinteressen beider Seiten, auch denen der Sowjetunion.Das westliche Verhandlungskonzept, an dem die Bundesregierung maßgeblich mitgearbeitet hat, ist erfolgreich. Die westliche Transparenzvorstellung hat sich in Stockholm durchgesetzt. Die Wahrscheinlichkeit von Überraschungsangriffen wird verringert, und durch einen verbesserten Einblick in die militärische Praxis des Warschauer Pakts ist eine realistischere Bedrohungsanalyse möglich. Natürlich hängt der Wert der Stockholmer Vereinbarung entscheidend von ihrer Durchführung ab. Hier appellieren wir an die Sowjetunion, nicht in alte Positionen zurückzufallen.Für die FDP ist der erfolgreiche Abschluß der KVAE auch ein Anlaß zu Genugtuung und Stolz. Es war richtig, daß die FDP beharrlich für die Weiterführung des Dialogs mit den osteuropäischen Staaten und für Abrüstung und Rüstungskontrolle eingetreten ist — allen Widerständen und allen Schwierigkeiten der internationalen Lage zum Trotz. Die Festigkeit und Geradlinigkeit der Liberalen hat sich ausgezahlt. Es zeigt sich wieder einmal, daß auch eine kleine Partei viel bewegen kann.
— Die KVAE war bereits Bestandteil unseres Wahlprogrammes von 1980, Herr Kollege Rühe. Und natürlich sind wir stolz auf unseren Außenminister.
Zumindest zur Zufriedenheit sollten auch Sie Anlaß haben, wenn Sie unseren Stolz schon nicht teilen; denn ohne den unermüdlichen Einsatz von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher wäre das Mandat von Stockholm — denken Sie an die damalige schwierige Situation wegen der Krise um Polen — wohl kaum erteilt worden.
Die KVAE war eine Zeitlang das einzige Forum, an dem die beiden Supermächte miteinander im Gespräch blieben. Das darf nicht unterschätzt werden. Auch die mäkelnde und unsachliche Kritik aus München kann nichts daran ändern,
daß sowohl das Zustandekommen wie auch der erfolgreiche Abschluß der KVAE ganz wesentlich das Verdienst unseres Außenministers ist.Ich möchte auch der Verhandlungsdelegation unter Leitung von Botschafter Citron für die Arbeit in Stockholm recht herzlich danken.
Stockholm zeigt, daß es auch in den 80er Jahren möglich ist, zu kooperativen Sicherheitsvereinbarungen zwischen Ost und West zu kommen. Beide Seiten haben dokumentiert, daß sie grundsätzlich bereit sind, ihre Sicherheit miteinander statt gegeneinander zu organisieren. Die zweite Phase der Entspannungspolitik ist machbar. Das hat Stockholm gezeigt.
Unser Erfolgsrezept lautet: Beweglichkeit und Kompromißbereitschaft einerseits, aber Festigkeit und Ausdauer bei unseren vitalen Sicherheitsinteressen.In der Sowjetunion hat unter dem neuen Generalsekretär offensichtlich ein Prozeß des Umdenkens eingesetzt.
Gorbatschow scheint entschlossen, soweit es ihm innen- und außenpolitisch möglich ist, die ökonomischen und intellektuellen Ressourcen seines Landes in die Entwicklung und Modernisierung der so-
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18180 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Dr. Feldmannwjetischen Wirtschaft zu lenken und die für diese neue Prioritätensetzung notwendigen abrüstungspolitischen Konsequenzen zu ziehen. Dies macht die vielfältigen Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion plausibel. Der Westen hat die Möglichkeit, diese Entwicklung durch ein breit gefächertes Angebot von Kooperation zu unterstützen.
Es liegt an uns und unseren Verbündeten, der Sowjetunion durch solche Angebote zu verdeutlichen, daß Kooperation mit dem Westen ihren eigenen Interessen weit mehr dient als eine Fortsetzung der rüstungspolitischen Konfrontation.Die Sprache der Sowjetunion ist auf Kooperation angelegt. Das anerkennen wir und sehen wir. Bei den Taten hapert es allerdings, vor allem wenn wir an die MBFR-Verhandlungen in Wien denken. Ich hoffe, daß die Sowjetunion jetzt an allen Verhandlungstischen auf Kooperation umschaltet. Wir können dazu beitragen, indem wir nicht leichtfertig alle sowjetischen Angebote als Propaganda abtun. Es ist Aufgabe der Europäer, vor allem aber von uns Deutschen, immer wieder an einer Koalition der Vernunft zu arbeiten.
Die FDP hat sich bereits 1975 zum Ziel gesetzt, die Konfrontation der Blöcke durch eine gesamteuropäische Friedensordnung zu überwinden. Dieses visionäre Ziel hat auch heute noch Geltung für uns Liberale.
Wir wissen aber, daß wir dieses weit gesteckte Ziel nur durch eine realistische Politik der kleinen Schritte erreichen können. Hierzu brauchen wir den KSZE-Prozeß. Er soll uns helfen, Spannungen und Gegensätze in Europa zu überwinden und Gemeinsamkeiten über die Systemgrenzen hinweg weiterzuentwickeln, um die Abrüstung auch zu europäisieren.
Diese Bundesregierung hat nicht nur maßgeblich am Erfolg der KVAE mitgearbeitet, sie ist auch intensiv an der Ausarbeitung der westlichen Position für die laufenden Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen beteiligt. Die deutschen Sicherheitsinteressen finden im amerikanischen Verhandlungskonzept volle Berücksichtigung.
Unsere Politik der kleinen Schritte scheint auch hier Früchte zu tragen. Auch wenn noch einige Fragen offen sind, so erscheint doch ein Zwischenergebnis greifbar.Selbstverständlich wollen auch wir einen Abbau der Mittelstreckenwaffen kurzer Reichweite. Eine entsprechende Weiterverhandlungsverpflichtung muß im Zwischenergebnis erzielt werden.
Zum Schluß noch ein Wort zur sogenannten Grauzone: Dieser Begriff lenkt von dem eigentlichen Ziel ab. Unser Ziel als Europäer muß doch sein, Rüstungskontrolle endlich auch auf unserem Kontinent zu praktizieren. Es geht um den Einstieg in europäische Rüstungskontrolle und nicht um eine Strategie des Alles oder Nichts.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Scheer.
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Die Probleme sind zu ernst, als daß sie durch haltlose Unterstellungen in wahlpolitischer Absicht zusätzlich belastet werden sollten. Dies gilt für einen meiner Vorredner
aus der CDU/CSU-Fraktion, der leider den durchsichtigen Versuch gemacht hat, Positionen der GRÜNEN, die diese für uns koalitionsunfähig machen,
als SPD-Positionen hinzustellen. Es tut mir leid; hier war ein Falschmünzer am Werk.
Das KVAE-Ergebnis bringt uns eine Entspannung in der Sache. Eine Entlastung von den schwerwiegendsten Rüstungsgefahren bringt es uns leider nicht. Dies sollten wir bei aller Zufriedenheit nicht vergessen. Denn die technologische Rüstungsdynamik ist bisher nicht unterbrochen.Wenn das KVAE-Ergebnis in Kraft tritt, verlängern sich die Vorwarnzeiten bei den konventionellen Truppenverbänden. Wir brauchen künftig — wenn das wirksam geworden ist — nicht mehr die Fähigkeit, innerhalb von 48 Stunden alarmbereit zu sein. Aber trotz der KVAE-Vereinbarung dürfen wir nicht übersehen, daß die gefährlichsten Vorwarnprobleme nicht bei den konventionellen Truppen liegen. Sie liegen bei den modernen Waffensystemen, besonders bei den ballistischen Raketen und vor allem, wenn diese mit Atomwaffen geladen sind. NATO und Warschauer Pakt verfügen über die Fähigkeit, die Länder Mitteleuropas in wenigen Minuten dem Erdboden gleichzumachen. Der Schriftsteller Arno Schmidt schrieb einmal den Satz auf:Deutschland wird in der Weltgeschichte einmal den Ruhm eines Steines haben, über den Menschen mehrfach gestolpert sind.Wenn dieser furchtbare Satz nicht wahr werdensoll, dann müssen wir unsere politischen Anstren-
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Dr. Scheergungen vor allem darauf richten, von unserem Land und unserem Kontinent die Gefahren atomarer Blitze zu nehmen.Ich weise darauf hin, weil neben den positiven Entwicklungen der wechselseitigen Früherkennung der Bewegungen konventioneller Truppen durch die Stockholmer Vereinbarungen zahlreiche negative Entwicklungen der letzten Jahre stehen, Waffenentwicklungen, die eine Früherkennung und damit eine Abwehrmöglichkeit unmöglich machen, und zwar mitten unter uns im Territorium. Die Geschwindigkeit und Durchsetzungsfähigkeit der Raketen hat sich beschleunigt. Die Zielgenauigkeiten haben sich erhöht. Es ist immer schwerer zu unterscheiden, ob sie atomar oder konventionell bestückt sind. Wer sich in einem Ernstfall vor der Bedrohung solcher Waffen schützen und wer verhindern will, daß sein eigenes Raketenpotential ausgeschaltet wird, der müßte dem anderen zuvorkommen. Er dürfte dann nicht mehr warten, bis der Gegner seine Rakete gestartet hätte. Denn dann wäre es bereits zu spät.Die beiderseitige Entwicklung solcher Waffen schafft Instabilität und Nervosität. Sie produziert Mißtrauen und heizt den immer kostspieliger werdenden technologischen Rüstungswettlauf an. Das ist das zentrale sicherheitspolitische Problem in Europa, wenn es um naheliegende, kurzfristig anzustrebende Maßnahmen geht.Ich gestatte mir bei aller Genugtuung über das KVAE-Ergebnis den Hinweis, daß bei diesen Fragen politische Lösungen dringender sind als die Fähigkeit, konventionelle militärische Aktivitäten frühzeitiger zu registrieren. Bei konventionellen Truppen geht es um Tage, bei der Raketentechnik und den Massenvernichtungsmitteln um Minuten. Der einzige Weg, diese Gefahren zu mindern, besteht in der Beseitigung solcher Waffen. Aber genau darüber wurde bisher im KVAE-Prozeß nicht gesprochen.
— Ich spreche vom Problem.
Solange das nicht der Fall ist, besonders bei den Raketen, die von einem Teil Deutschlands in den anderen Teil zielen, können wir nicht wirklich zufrieden sein.Deshalb sagen wir auch an die Adresse der Bundesregierung: Gerade diese hat keinen besonderen Grund zur Selbstzufriedenheit. Denn neben dem aktiven Beitrag für das Zustandekommen der KVAE stehen andere Beiträge, etwa im Zusammenhang mit der Befürwortung neuer weiterreichender Raketen im Rahmen der sogenannten FOFA-Überlegungen oder mit der Modernisierung sogenannter taktischer Atomwaffen. Dies alles steigert die Frühgefahren. Das war zwar nicht die Absicht, aber das ist die Wirkung. Gleiches gilt für den Warschauer Pakt. Statt an Abrüstungsinitiativen in diesem Problembereich hat sich die Bundesregierung an Rüstungsinitiativen neuer Art beteiligt. Statt sich um den beiderseitigen Abbau dieser Potentiale zu bemühen, hat sie ihre politischen Energien damit verschwendet, sich auf den Irrweg der Entwicklung von Techniken zur Abwehr solcher blitzartig einsetzbarer Raketen zu begeben. Die Fortschritte in der Rüstungskontrolle vollziehen sich im Schnekkentempo, aber nach wie vor läuft die qualitative Rüstungsentwicklung in Höchstgeschwindigkeit.
Diejenigen, die mitverantwortlich dafür sind, daß in der ersten Hälfte der 80er Jahre die Rüstungskosten weltweit um 70 % gesteigert worden sind, sollten in ihrer abrüstungspolitischen Selbstdarstellung etwas bescheidener sein.
Es ist doch nicht die Politik der Stärke, die jetzt zur Möglichkeit eines Zwischenergebnisses geführt hat, sondern es ist der weltweit anhaltende Protest gegen die Hochrüstung der 80er Jahre, der dafür gesorgt hat, daß den Verantwortlichen die Füße nicht einschlafen. Das ist doch der Punkt.
Es ist nicht der Hochrüstungsdruck, der zu Ergebnissen geführt hat, sondern es ist im Grunde genommen die neue Chance durch eine neue sowjetische Führung, die endlich die Ignoranz der vorherigen in den 70er Jahren in dieser Frage — hoffentlich endgültig — überwunden hat. Die Null-Null-Lösung, die jetzt angeblich auch auf seiten der Bundesregierung angestrebt werden soll, zu der das Zwischenergebnis ein Schritt sein soll, wurde erbittert bekämpft bzw. vom Grundsatz her bestritten, als sie Willy Brandt im Sommer 1981 erstmals der internationalen Öffentlichkeit als Vorschlag servierte. Daran erinnern wir in dem Zusammenhang.
Die Bundesregierung hat also bisher leider nicht den Mut zu Initiativen aufgebracht, nicht einmal zu solchen, die für die Mehrheit des amerikanischen Repräsentantenhauses selbstverständlich sind.In dem Entschließungsantrag, der heute von der SPD dem Bundestag vorgelegt worden ist, fordern wir neben der Begrüßung des KVAE-Ergebnisses und darauf aufbauenden Vorschlägen für die nächsten Schritte eine Unterstützung der Beschlüsse des Repräsentantenhauses vom August dieses Jahres durch den Bundestag. Wir haben leider erst heute Gelegenheit dazu; sonst hätten wir das schon unmittelbar nach der Sommerpause gemacht. Wir sind gespannt darauf, wie sich die Koalitionsparteien, insbesondere die Partei des Bundesaußenministers, zu den Beschlüssen stellen. Das Repräsentantenhaus sprach sich z. B. am 8. August mit 235 zu 155 Stimmen für einen weitreichenden Atomteststopp für die Dauer eines Jahres aus, solange die Sowjetunion ebenfalls an ihrem Moratorium festhält und einer Verifikation zustimmt.Was aber tut die Bundesregierung? Sie hat bisher keine sichtbare Initiative unternommen, obwohl der Teststopp noch nie so nahe war, um trotz des mehrfach verlängerten sowjetischen Testmoratori-
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Dr. Scheerums die amerikanische Regierung zu einer umfassenden Teststoppbereitschaft zu drängen. Noch im Januar sprach sich der Bundeskanzler für einen umfassenden Teststopp aus, falls dieser ausreichend verifiziert werden könne. Nachdem die sowjetische Führung ihre Bereitschaft für diese Verifikation wenig später verkündete, waren alle Bedingungen der Bundesregierung bzw. des Westens, wie sie seit zwei Jahrzehnten gelten, erfüllt. Weil aber die amerikanische Regierung im Moment nicht willens ist, einen umfassenden Teststopp einzuführen, steckte die Bundesregierung sofort zurück. Jeder Sachverständige weiß, daß die amerikanische Regierung an einem Teststopp auf längere Sicht nicht interessiert ist, weil sie für die Entwicklung des SDI-Systems noch etwa 200 Atomversuche braucht. Solange die Bundesregierung aber die SDI-Forschung und -Entwicklung unterstützt, kann sie einen umfassenden Teststopp in Wahrheit praktisch nicht mehr unterstützen.
— Das tut sie deswegen auch nicht. Wenn die Koalitionsparteien diesen Vorwurf der SPD widerlegen wollen, haben sie heute die Gelegenheit dazu. Dazu müßten sie sich allerdings, um glaubwürdig zu bleiben, unserem Antrag anschließen, der die Unterstützung des Beschlusses des amerikanischen Repräsentantenhauses zum atomaren Teststopp durch den Deutschen Bundestag zum Inhalt hat.Wir stellen die Koalitionsfraktionen also vor die Wahl, ob sie mit der SPD und der Mehrheit des amerikanischen Repräsentantenhauses — in diesem Fall, in der Teststoppfrage, nicht nur des Repräsentantenhauses, sondern auch des Senats — für einen sofortigen Teststopp eintreten oder weiterhin wegen der Rücksichtnahme auf die SDI- Pläne des amerikanischen Präsidenten den Teststopp mit verschleppen helfen wollen.
Wir sind auch gespannt darauf, wie Sie es begründen wollen, unsere Forderung nach Unterstützung eines solchen Beschlusses immerhin des amerikanischen Parlaments als „antiamerikanisch" hinzustellen.
Gleiches gilt für die Unterstützung des Beschlusses des Repräsentantenhauses betreffend die Aufrechterhaltung des Verbots der Produktion neuer chemischer Kampfsstoffe. Gerade weil es darum geht, jetzt die Chance für ein umfassendes Verbot chemischer Waffen zu nutzen, sollte diese Chance nicht durch einen Beginn der Produktion neuer chemischer Waffen gestört werden. Zwar hat sich in dieser Frage der Senat mit 51 : 50 Stimmen für den Produktionsbeginn ausgesprochen, und im Vermittlungsausschuß wird noch zwischen den Positionen der beiden Häuser verhandelt; jedoch wurde diese Entscheidung des Senats nur durch die vor allem von der Bundesregierung innerhalb der NATO-Entscheidungsgremien betriebene Zustimmung zu einer erstmaligen Aufnahme chemischer Waffen in die Streitkräfteziele des Bündnisses möglich. Es war also die Bundesregierung, die im Mai dieses Jahres an maßgeblicher Stelle die Zurückhaltung der amerikanischen Volksvertretung gegenüber einer Produktion neuer chemischer Waffen unterlaufen hat.
Die Bundesregierung hat die Chance nicht genutzt,zusammen mit dem amerikanischen Kongreß — —
— Es tut mir leid, ich treffe nur Tatsachenfeststellungen. Daß Sie das nicht gerne hören wollen, ist eine andere Sache.
Die Bundesregierung hat nicht die Chance genutzt, vor einem solchen Produktionsbeginn zumindest alle Möglichkeiten einer Ächtung der Chemiewaffen konsequent und zügig auszuloten. Sollte sich nämlich die Hoffnung des Außenministers, in Jahresfrist sei ein Chemiewaffenverbot möglich, nicht bestätigen, wofür j a einiges spricht, wird nach dem Beginn der Produktion neuer binärer Waffen ein kontrolliertes Chemiewaffenverbot schwerer, nicht leichter.Wenn die Koalitionsparteien diese Chance wahrnehmen wollen, haben sie durch eine Zustimmung zu unserem Antrag heute die Gelegenheit, sich dem Beschluß des Repräsentantenhauses anzuschließen, der den Spielraum für ein C-Waffen-Verbot vergrößert.Das Repräsentantenhaus sprach sich am 13. August mit 222 gegen 197 Stimmen auch dafür aus, das Testmoratorium bei Antisatellitenwaffen um ein Jahr zu verlängern. Die SPD hat wiederholt dringend vor der Entwicklung von Antisatellitenwaffen gewarnt. Ist die Entwicklung solcher Waffen erst einmal abgeschlossen, läßt sich ein künftiges Verbot dieser Waffen nicht mehr kontrollieren. Solange sie noch getestet werden müssen, läßt sich ein Entwicklungs- und damit ja wohl auch ein Einführungsverbot mit den vorhandenen Aufklärungsmitteln, also durch Satelliten, leicht kontrollieren. Wenn die Entwicklung solcher Waffen beendet ist, besteht die Fähigkeit, die Gegenseite durch Vernichtung ihrer Auflösungsmittel blind zu machen. Dies muß zu extremer Instabilität führen und dazu, daß Chancen für Rüstungskontrolle in umfassender Hinsicht kaputtgemacht werden.Der Fortschritt des KVAE-Prozesses hängt davon ab, daß die Satelliten aller Beteiligten wechselseitig unverwundbar bleiben. Die Bundesregierung hat hierzu trotz der Dringlichkeit dieses Problems bisher keine Initiative ergriffen. Wir fordern auch hier die Koalitionsparteien auf, mit uns eine solche Initiative durch eine Unterstützung des entsprechen-
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Dr. Scheerden Beschlusses des Repräsentantenhauses vorantreiben zu helfen.
Denn es geht darum, daß wir in der Rüstungskontrolle nicht länger mit hängender Zunge hinter ständig neu geschaffenen Rüstungsfakten herlaufen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Berger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde der Versuchung, hier sozusagen die gesamte Wiese der Sicherheitspolitik abzugrasen, um damit von dem hier heute zu besprechenden Erfolg der KVAE abzulenken, nicht nachgeben,
sondern werde wirklich zur Tagesordnung sprechen.
Die dort in letzter Sekunde getroffenen Vereinbarungen sind nämlich ein Erfolg. Sie erhöhen die Sicherheit aller Staaten in Europa, sie mindern die Kriegsgefahr und verbessern die Möglichkeiten eines Krisenmanagements. Dies ist nicht, wie Sie, Herr Kollege Scheer, eben darzustellen versucht haben, ein Erfolg einer vermeintlichen Politik der Stärke, sondern ist ein Erfolg der westlichen Festigkeit,
auch ein Erfolg der Bundesregierung, die dort sehr aktiv war. Ich möchte den vermittelnden Beitrag der Neutralen dabei keineswegs gering einschätzen. Es ist ein Erfolg, den am Anfang der Konferenz viele nicht für möglich gehalten hätten, auch und insbesondere nicht die SPD; denn diese war bereit, von Anfang an alle Forderungen der Sowjetunion querzuschreiben
und damit die KVAE zur Propagandabühne Moskaus zu machen,
statt unsere Forderungen, Herr Ehmke, nach konkreten vertrauensbildenden Maßnahmen tatkräftig zu unterstützen. Ich will sie Ihnen aufzählen, Herr Ehmke. Die SPD wollte der Sowjetunion entgegenkommen durch die Erklärung des Nicht-Erstgebrauchs von Atomwaffen, welche das ohnehin vorhandene konventionelle Übergewicht der sowjetischen Hegemonialmacht in Europa erst richtig zur Wirkung kommen ließe.
Sie wollten, Herr Kollege Ehmke, durch die Vereinbarung einer chemiewaffenfreien Zone, welche der Sowjetunion das Monopol an chemischen Waffen in Europa vermittelt hätte, deren Position stärken.
Herr Ehmke, Sie wollten die Vereinbarung einer atomwaffenfreien Zone dort, welche zwar die Reaktionsfähigkeit des Westens, nicht aber die Drohpotentiale Moskaus verringert hätte, und — das hat Kollege Rühe schon dargestellt — durch eine deklaratorische Nichtangriffsvereinbarung, deren trügerische Sicherheit an der militärischen Lage in Europa nichts, rein nichts geändert hätte, hätten Sie Moskau die Gelegenheit gegeben, seine Propaganda in dieser KVAE erfolgreich zu betreiben.
Die Ergebnisse der KVAE beweisen,
meine sehr geehrten Damen und Herren: Die SPD ist im rüstungskontrollpolitischen Abseits. Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, führen in die Irre. Die Entwicklung ist schlicht an Ihnen vorbeigegangen.
Dank der Festigkeit des westlichen Bündnisses und dank des diplomatischen Geschicks auch der Neutralen hat nunmehr die KVAE politisch verbindliche, militärisch bedeutsame und angemessen kontrollierbare vertrauensbildende Maßnahmen gezeitigt.Ich möchte diese kurz bewerten.Wir werden in Zukunft mehr als je zuvor die Möglichkeit haben, Einblicke in die militärische Praxis des Warschauer Paktes zu gewinnen. Die Festschreibung der Anwendungszone für die vertrauensbildenden Maßnahmen vom Atlantik bis zum Ural erleichtert es uns, Erkenntnisse über militärische Aktivitäten des Warschauer Paktes auch in der Tiefe des europäischen Teils der Sowjetunion zu gewinnen, also aus dem Raum, aus dem im Kriegsfall die Warschauer-Pakt-Staaten ihren Angriff nähren könnten.Natürlich vermindert die KVAE nicht die Invasionsfähigkeit der Sowjetunion oder des Warschauer Paktes; denn diese beruht auf offensiven Potentialen und Strukturen in Verbindung mit der Chance der Geographie, die diese der Sowjetunion gibt. Wenn aber in Zukunft alle Manöver, an denen mehr als 13 000 Mann oder mindestens 300 Panzer beteiligt sind, im Falle von amphibischen Operationen und Luftlandeaktivitäten sogar bereits ab 3 000 Mann Beteiligung, angekündigt werden müssen,
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Bergerdann sind vorbereitende Einkreisungsübungen, wie wir sie etwa 1968 vor dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei erlebt haben, nicht mehr möglich; denn 13 000 Mann und 300 Panzer sind nicht einmal zwei Divisionen. Natürlich wäre aus westlicher Sicht eine Ankündigungsschwelle von 10 000 Mann vorzuziehen gewesen. Doch leider war dies nicht durchsetzbar. Die Sowjetunion mißtraut halt immer noch allen Versuchen, die darauf abzielen, noch mehr Transparenz zu schaffen. Die Vereinbarung, daß größere Übungen mit mehr als 40 000 Mann Beteiligung zum 15. November des jeweiligen Vorjahres und mit mehr als 75 000 Mann Beteiligung sogar zwei Jahre zuvor angemeldet werden müssen, bestätigt diese Einschätzung. Das bedeutet z. B., daß ein Angriffsszenario, wie wir es 1979 gegenüber Afghanistan vorgefunden hatten, heute — weil nicht angemeldet — mit Sicherheit Anlaß zu einer Beurteilung der militärischen Lage gäbe und damit auch Anlaß für eine Kontrolle vor Ort.Hiermit bin ich beim Wichtigsten aus militärischer Sicht, nämlich bei dem Recht, auf dem Territorium eines jeden anderen Teilnehmerstaates der KVAE innerhalb von 36 Stunden auf Verdacht Kontrollen vor Ort im Hinblick darauf durchzuführen, ob Verletzungen der Bestimmungen des Schlußdokuments vorliegen. Dies vermindert die Gefahr von Fehleinschätzungen und damit die Gefahr eines ungewollten Krieges. Genau das war das Ziel der Konferenz nach dem Mandat von Madrid.Nicht gering schätze ich aber auch die neuen Möglichkeiten ein, die in der regelmäßigen Beobachtung von militärischen Landaktivitäten liegen, sobald die Stärke des eingesetzten Personals 17 000 Mann erreicht oder überschreitet. Das heißt im Klartext: Immer dann, wenn mehr als zwei Divisionen üben, können derartige Übungen vom Anfang bis zum Ende beobachtet werden. Auf diese Weise wird Aufschluß über die militärischen Fähigkeiten, die Einsatzgrundsätze, die Ausrüstung, die Ausbildung, die Struktur der eingesetzten Streitkräfte und natürlich auch über die Einstellung der Truppe gewonnen. Das verbessert die Ausgangsdaten für jede militärische Lagebeurteilung, auch im Krisen- und Konfliktfall.Natürlich wurden nicht alle westlichen Forderungen erfüllt. Wir sind bereit, bei vertrauensbildenden Maßnahmen, insbesondere im Hinblick auf die Transparenz der Aktivitäten, weiterzugehen als der Warschauer Pakt. Dennoch müssen wir erkennen, daß mit diesen Vereinbarungen ein seiner Natur nach geschlossenes System, das hinter jeder vertrauensbildenden Maßnahme den feindlichen Spion wittert, seine Natur geändert hat, wenn auch nur ein Stückchen.Nur — ich möchte das in aller Offenheit sagen —, bisher steht es auf dem Papier. Wir werden zu beobachten haben, ob sich das in der Praxis auch wirklich so bestätigt. Und wir werden das beobachten, meine Damen und Herren.Vielleicht wird dieser Abschluß der KVAE eines Tages die Wendemarke im Verhalten der Sowjetunion als militärischer Großmacht darstellen.
Vielleicht wird die Sowjetunion eines Tages im Geiste dieses KVAE-Dokuments sogar bereit sein, ihre offensiven militärischen Strukturen und ihre offensive Einsatzdoktrin zu verändern. Während die Sowjetunion heute ihre Sicherheit in der absoluten Unsicherheit ihrer Nachbarn definiert, werden wir vielleicht eines Tages dazu kommen, daß — im Unterschied zu heute — die strukturelle Nichtangriffsfähigkeit des Warschauer Pakts und der Sowjetunion Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa mit wesentlich weniger Waffen als heute ermöglichen. Denn leider — das ist gesagt worden — ist in Stockholm keine einzige Waffe abgerüstet worden. Das ist es, was wir mit Hilfe des KVAE-Prozesses in der zweiten Phase wirklich erreichen wollen. Wir, die Regierung Helmut Kohl, die sie tragenden Parteien und die Christlich-Demokratische Union, wollen Abrüstung mit mehr Sicherheit für beide Seiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, zu diesem Beratungsgegenstand liegen noch drei Wortmeldungen vor. Wir unterbrechen die Sitzung jetzt zu einer Mittagspause.
Ich mache darauf aufmerksam, daß wir eine verkürzte Fragestunde haben. Um 15 Uhr wird die jetzt unterbrochene Debatte fortgeführt.
Wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 10/6076 —
Wir beginnen mit einer Dringlichkeitsfrage der Abgeordneten Frau Schmidt aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung:
Treffen Meldungen zu, daß das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die „Technische Regel für Gefahrstoffe" in dieser Woche in Kraft treten lassen will?
Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Höpfinger zur Verfügung. Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Herr Präsident! Frau Kollegin Schmidt! Meldungen, nach denen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung die vom Ausschuß für gefährliche Arbeitsstoffe beschlossenen „Technischen Regeln für Gefahrstoffe" noch in dieser Woche in Kraft setze, treffen nicht zu. Der Ausschuß ermittelt die einschlägigen Re-
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Parl. Staatssekretär Höpfingergeln und Erkenntnisse und stellt diese in einem Beschluß fest. Es bedarf keiner Umsetzung dieser Beschlüsse durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung macht die Beschlüsse lediglich durch Veröffentlichung im Bundesarbeitsblatt bekannt.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete, bitte schön!
Herr Staatssekretär, trifft es dann zu, daß der Bundesarbeitsminister dieser neuen Regelung zustimmt und daß diese neue Regelung keine Bestimmungen für Stillende, für Schwangere und für Jugendliche enthält?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Auf Ihre erste Frage habe ich bereits geantwortet. Der Bundesarbeitsminister braucht gar nicht zu bestimmen, sondern der Ausschuß, der diese Werte erarbeitet hat, gibt sie bekannt. Sie werden im Bundesarbeitsblatt veröffentlicht.
Auf Ihre zweite Frage, Frau Kollegin, darf ich Ihnen antworten, daß hier kein Schutz abgebaut wird, sondern daß der Schutz sogar wesentlich verbessert wird. Erstens. Mit krebserzeugenden, fruchtschädigenden oder erbgutverändernden Stoffen dürfen Schwangere nur beschäftigt werden, wenn sie diesen Gefahrstoffen nicht ausgesetzt sind.
Zweitens. Werdende und stillende Mütter dürfen nicht beschäftigt werden, wenn sie Krankheitserregern ausgesetzt sind. Wie bisher dürfen werdende und stillende Mütter nicht beschäftigt werden mit sehr giftigen, giftigen, minder giftigen oder chronisch schädigenden Gefahrstoffen, wenn der Wert der maximalen Arbeitsplatzkonzentration nicht eingehalten wird. Dies entspricht dem gegenwärtigen Rechtsstand.
Auf Ihre Frage, ob es zutrifft, daß die neue Regelung diese Belange nicht anspricht, muß ich antworten, daß das nicht zutrifft. Diese Belange werden angesprochen, und der Schutz wird verbessert.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Herr Staatssekretär, trifft es aber dann zu, daß die Bestimmung, die Sie hier gerade genannt haben, bisher nur für die Arbeitsstoffe gilt, die eindeutig erwiesen fruchtschädigend sind, und daß diese Bestimmung für alle anderen Arbeitsstoffe nicht gilt, durch die nur diese Gefahr besteht, und wie begründet es der Arbeitsminister, daß er hier keine anderen Regelungen trifft vor dem Hintergrund, daß von den rund 100 000 Arbeitsstoffen, die es gibt, bisher erst 20 auf derartige Wirkungen untersucht worden sind?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Schmidt, Sie sprechen eine sehr bedeutsame Frage an.
Die Frage betrifft vor allem die Bundesanstalt für Arbeitsschutz in Dortmund. Sie wissen, daß wir ständig bemüht sind, die Anstalt entsprechend mit Personal auszustatten, um die noch nicht untersuchten Stoffe — man spricht von sogenannten Altstoffen — nach und nach aufarbeiten zu können. Zunächst muß man entscheiden, welche der 100 000 Stoffe, die Sie angesprochen haben, vorrangig untersucht werden müssen. Hier geht man von einer Zahl von etwa 5 000 aus. Die Stoffe, von denen man annehmen mußte, daß sie die größten Gefahrenquellen darstellen, wurden zuerst mit untersucht. Das sind also die 20, die jetzt von Ihnen genannt worden sind.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Fuchs.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß Ihre Auffassung auch von der zuständigen Ministerin für Frauenfragen unterstützt wird, oder kann es sein, daß Sie noch einen gewissen Nachholbedarf haben und vielleicht lieber der Frauenministerin folgen sollten?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Fuchs, der Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, die für Frauenfragen zuständig ist, ist die Vorlage für den Beschluß des Ausschusses für gefährliche Arbeitsstoffe vor der Sitzung übersandt worden. Es sind vom BMJFFG keine Einwände erhoben worden.
Der Abgeordnete Reimann möchte noch eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatssekretär, da wir diese Fragen schon mehrfach diskutiert haben, frage ich Sie: Nachdem eine sehr lange Zeit zwischen der Sichtbarmachung eines Schadstoffes und seiner eventuellen Auflistung in die kanzerogenen Stoffe oder gar einem Verbot verstreicht, was gedenkt denn die Bundesregierung für die Zukunft zu tun, um hochverdächtige Stoffe nicht jahrelang untersuchen zu lassen, bis man eventuell Erkenntnisse hat, sondern sie gleich als verdächtige Stoffe vom Markt zu nehmen, um den Menschen nicht zu schädigen, und eventuell hinterher eine erneute Zulassung zu gewähren, wenn sie ungefährlich sind?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, Sie wissen genau, und ich habe es vorhin auch erwähnt: Die Bundesanstalt für Unfallschutz in Dortmund ist ständig bemüht, an dieser Aufgabe zu arbeiten. Sie tut, was sie kann. Aber das geht eben nur nach und nach. Dafür bitte ich um Verständnis.
Herr Abgeordneter Reimann, Sie können stehenbleiben. Ich rufe nunmehr die Frage 31 von Ihnen auf:Wie steht die Bundesregierung zu der Tatsache, daß bei der Rentenauszahlung nach dem Bundesversorgungsgesetz, Pfennigbeträge zum Schaden des Rentenempfängers nach unten abgerundet und nicht ausgezahlt werden, so daß beispielsweise bei einer Rente von 161,45 DM 0,45 DM monatlich und damit 5,40 DM jährlich einbehalten werden?
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Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich darf bitten, daß ich beide Fragen gemeinsam beantworten darf.
Herr Abgeordneter, sind Sie einverstanden?
Ja, die zweite Antwort ergibt sich aus der ersten.
Sie wissen offensichtlich mehr als der Herr Staatssekretär.
Ich rufe also auch noch die Frage 32 des Abgeordneten Reimann auf:
Ist die Bundesregierung bereit, wenn dies eine gesetzliche Regelung ist, die diese Verfahrensweise den Behörden ermöglicht, und für mich aus der Drucksache 10/5209 nicht zu entnehmen ist, dies zu ändern?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, die Renten nach dem Bundesversorgungsgesetz sind im Gesetz betragsmäßig auf volle Deutsche Mark festgesetzt. Sofern sich im Ausnahmefall, wie z. B. bei der Witwen- und Waisenbeihilfe in Höhe von zwei Dritteln der entsprechenden Witwen- oder Waisenrente rechnerisch ein nicht auf volle Deutsche Mark lautender Betrag ergibt, wird dieser nach § 66 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz auf volle Deutsche Mark nach oben gerundet. Nach § 56 Bundesversorgungsgesetz werden die Renten nach dem Bundesversorgungsgesetz jährlich durch Gesetz angepaßt. Bei diesen Anpassungen hat der Gesetzgeber jeweils die erhöhten Beträge auf volle Deutsche Mark abgerundet und festgesetzt. Dabei hat er Pfennigbeträge ab 0,50 DM auf volle Deutsche Mark nach oben und die übrigen Beträge, also was unter 0,50 DM ist, auf volle Deutsche Mark nach unten abgerundet. Auf diese Abrundung ist jeweils in der Begründung zu den Gesetzentwürfen der Bundesregierung hingewiesen worden.
Bei dem zugrundegelegten Abrundungsmodus ist gewährleistet, daß auf längere Sicht geringere Anpassungsbeträge infolge von Abrundungen nach unten durch spätere Abrundungen nach oben ausgeglichen werden. Bei der Anpassung auf Grund des 15. Anpassungsgesetzes zum Kriegsopferversorgungsgesetz zum 1. Juli 1986 sind z. B. von 43 Geldbeträgen im Bundesversorgungsgesetz 18 nach unten und 25 nach oben gerundet worden.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, ich muß das jetzt akzeptieren, wie Sie das vortragen. Ich zweifle auch nicht daran. Nur: Die mir in der Praxis vorgelegten Rentenbescheide weisen das so nicht aus. Ich habe einen Fall, bei dem 0,65 DM nach unten abgerundet wurden. Damit ergibt sich nicht die Möglichkeit — einmal unter 0,50 DM, einmal über 0,50 DM —, das im Mittel des Lebens auszugleichen. Ich bin jetzt in der Schwierigkeit, das erneut prüfen zu müssen.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, da gibt es ein ganz gutes Verfahren. Wenn Sie einen solchen Bescheid haben, dann schicken
Sie ihn mir herein, und dann wollen wir der Sache nachgehen.
Einverstanden, danke schön.
Dann rufe ich die Frage 33 der Abgeordneten Frau Fuchs auf:
Trifft es zu, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung dem Deutschen Gewerkschaftsbund ein Vorschlagsrecht für die Berufung von Sozialreferenten an deutschen diplomatischen Vertretungen im Ausland nicht mehr einräumen und damit mit einer Tradition brechen will. die von dem früheren Bundeskanzler Adenauer und dem 1. Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Böckler, begründet wurde?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Fuchs, der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung prüft Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die Berufung von Sozialreferenten an deutschen diplomatischen Vertretungen im Ausland und bringt gegebenenfalls auch eigene Besetzungsvorschläge ein, damit die fachlich am besten geeigneten Bewerber mit der verantwortungsvollen Aufgabe betraut werden.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie die Vereinbarung, die Adenauer mit Böckler geschlossen hat, nicht mehr anwenden, denn die hieß doch, daß der DGB ein Vorschlagsrecht hat, und wie können Sie begründen, daß in der letzten Zeit, z. B. für Pretoria, nicht der von den DGB-Gewerkschaften gemachte Personalvorschlag übernommen wurde, sondern eine Mitarbeiterin aus einem CDU-Ministerium?Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, auf die Besetzung der einen oder anderen Stelle, die jetzt in Rede steht, möchte ich allein aus Datenschutzgründen nicht eingehen.Aber auf den ersten Teil Ihrer Zusatzfrage, ob eine Regelung, die seit vielen Jahren praktiziert wird, nicht mehr eingehalten wird, kann ich nur sagen: wir gehen davon aus, daß der beste Bewerber für diese Aufgaben ausgesucht wird. Ich habe auch hervorgehoben, daß Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach wie vor angenommen werden, aber nicht ausschließlich, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund also nicht ausschließlich das Vorschlagsrecht hat.Wenn das lange Zeit praktiziert wurde, muß ich sagen: Das wurde nie fixiert, nie festgelegt. Ich glaube, daß man schon auf eine gewisse Pluralität hinweisen muß. Aber grundsätzlich ist es so, daß die Qualifikation der Bewerber eine Rolle spielt und daß die anderen Fragen nachrangiger Art sind.Wenn Sie ansprechen, daß eine Absprache zwischen Dr. Konrad Adenauer und Hans Böckler stattgefunden habe, darf ich vielleicht darauf hinweisen, daß damals sehr oft der Gedanke vorherrschte, daß Gewerkschafter, die im Exil im Ausland waren, dort enorme Erfahrungen gesammelt haben, dann auch nachher in solche Positionen berufen wurden.
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Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Herr Staatssekretär, ist es denn unzutreffend, daß die Überlegungen im Bundesarbeitsministerium zur Änderung der bisherigen Praxis der Ernennung von Sozialreferenten erklärtermaßen damit begründet worden sind, daß die vom DGB vorgeschlagenen Sozialreferenten im Ausland eher die Position des DGB als die Politik der Bundesregierung vertreten? Gibt es Anhaltspunkte für solche Loyalitätskonflikte, und kann es doch sein, daß sich deswegen die Einstellungspraxis geändert hat?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Fuchs, ich nehme an, daß Sie Bezug auf eine Veröffentlichung in einer Zeitschrift nehmen. Da müßte ich erst den Dingen nachgehen. Aber ich kann nur sagen: Nach wie vor werden Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes entgegengenommen; das Auswahlverfahren findet, wie gesagt, statt, auch in Absprache wiederum mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Es ist nicht so, daß der DGB draußenvor bliebe; das ist nicht der Fall.
Abgeordneter Stutzer.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung der Auffassung, daß dem Deutschen Gewerkschaftsbund ein Vorschlagsmonopol — ungeachtet des bestehenden Gewerkschaftspluralismus in der Bundesrepublik — zukommt, oder sollen die Vorstellungen und Empfehlungen nicht auch anderer Gewerkschaften, beispielsweise der DAG oder des Deutschen Beamtenbundes, angemessen berücksichtigt werden?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stutzer, ich habe bereits darauf hingewiesen: Eine Festlegung gibt es überhaupt nicht. Es gab nur eine jahrelange Praxis. Von da ausgehend muß ich sagen, was Sie schon angesprochen haben: Die Gewerkschaftspluralität muß auch hier meines Erachtens berücksichtigt werden, und es kann nicht nur auf Gewerkschaften abgestellt werden, sondern es kommt auf die Bewerber und auf die Auswahl der besten Leute an.
Herr Abgeordneter Gansel, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, was hat die Besetzung der Stelle des Sozialattachés in Südafrika und bei der Europäischen Gemeinschaft mit Datenschutz zu tun, wenn man sie den offiziellen Mitteilungen des Auswärtigen Amtes, der Tagespresse und dem Geschäftsverteilungsplan der Botschaft entnehmen kann?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, wo immer so etwas geschrieben wird, ist es nicht meine Sache. Aber hier vor dem Forum des Deutschen Bundestages werde ich keine Dinge erwähnen, die eventuell unter den Datenschutz fallen. Personalfestlegungen und Stellenbesetzungen werden nicht im Deutschen Bundestag per Name oder sonstige Einzelheiten diskutiert. Das werde ich nicht tun.
Dies war keine Zwischenfrage, sondern ein Zuruf.
Nun hat der Abgeordnete Dreßler die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Nachdem Sie soeben die jahrelange Praxis ausdrücklich bestätigt haben, darf ich Sie fragen, ob es zutrifft,
daß der Leiter der Internationalen Abteilung des Arbeitsministeriums auf einer Zusammenkunft der Sozialreferenten nach dem DGB-Kongreß und vor Arbeitnehmervertretern auf der ILO-Konferenz in Genf erklärt hat, daß die Konfrontation des DGB gegenüber der Bundesregierung wegen der Änderung des § 116 die Loyalität der vom DGB entsandten Sozialreferenten gegenüber der Bundesregierung in Zweifel ziehe. Wenn das zutrifft, Herr Staatssekretär, wie läßt sich dies mit den bisherigen Erfahrungen über das Auftreten der Sozialreferenten vom DGB im Ausland vereinbaren?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, den Text, den Sie hier vorgelesen haben, werde ich mir vortragen lassen, wenn der von Ihnen angesprochene Abteilungsleiter wieder im Lande ist. Ich werde den Dingen nachgehen.
Dennoch füge ich hinzu: Es muß dem Dienstherrn unbenommen bleiben, für diese Aufgaben die geeigneten Bewerber auszuwählen.
Diese können sowohl Vertreter des DGB als auch andere geeignete Personen sein. An dieser Überlegung lassen wir nicht rütteln. Das ist keine Wertung der Personen, die vom DGB vorgeschlagen werden. Wenn man jahrelang eine solche Praxis geübt hat, heißt das nicht, daß sie auf alle Zeiten fortgesetzt werden muß, wenn auch andere gute und geeignete Bewerber vorhanden sind.
Ich möchte allerdings hinzufügen, und ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist: Es finden nach wie vor in dieser Hinsicht Gespräche statt. Es ist also nicht so, daß das bereits eine abgeschlossene Sache ist.
Herr Abgeordneter Reimann.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, daß das jahrelange Praxis war. Ich frage Sie: Hat sich diese jahrelange Praxis nicht daraus ergeben, daß es gerade die Gewerkschaften waren, die nach einem verlorenen zweiten Weltkrieg die diplomatisch beste Adresse im Ausland gewesen sind, wieder Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland zu schaffen? Sind Sie der Meinung, daß das heute
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18188 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Reimannnicht mehr notwendig ist und daß Sie deshalb von dieser Praxis abweichen können?Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Reimann, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie selber von „Gewerkschaften" sprechen. Das bestätigt gerade unsere Auffassung von der Pluralität auch im Gewerkschaftsbereich. Jetzt wollen wir doch einmal die Dinge an Hand der Zahlen sehen: von 20 Stellen werden 14 Stellen auf Vorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes besetzt. Die Besetzung der restlichen sechs Stellen erfolgt auf Vorschlag des Bundesarbeitsministeriums. Da kann man doch nicht sagen, daß eine Benachteiligung des Deutschen Gewerkschaftsbundes stattfindet.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, welche Kriterien will die Bundesregierung bei der Auswahl der Sozialreferenten zugrunde legen?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Ich habe schon einige Male gesagt, Herr Kollege, daß das entscheidende Kriterium
die Qualifikation ist, d. h. also, daß nach der Qualifikation entschieden wird.
Das ist das ausschlaggebende Kriterium.
Sicher wird man auch beachten: Welche Sozialarbeit haben die Leute bisher geleistet?
Man sollte nicht jemanden von der grünen Wiese nehmen, sondern einen, der sich im Sozialbereich auskennt und der dieser Aufgabe gewachsen ist.
Herr Abgeordneter Heyenn möchte eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß der Leiter der Internationalen Abteilung des Bundesarbeitsministeriums behauptet hat, daß der DGB bei der Nominierung CDU-Mitglieder benachteilige? Wenn das zutrifft: Auf welche konkreten Fälle stützt er sich?
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Heyenn, ich habe vorhin schon darauf geantwortet. Den Text lasse ich mir erst einmal vorlegen. Das kann aber erst geschehen, wenn der zuständige Abteilungsleiter wieder im Lande ist. Ich werde das nachprüfen.
Zu dem anderen Ansatz, der DGB würde Leute von der CDU und CSU benachteiligen, kann ich nur sagen: Aus eigener gewerkschaftlicher Erfahrung weiß ich, daß es in Gewerkschaften auch in dieser Hinsicht mitunter Schwierigkeiten gibt.
Herr Abgeordneter Schreiner, Ihre Zusatzfrage.
Da Sie soeben darauf hingewiesen haben, Sie wollten den Erklärungen des Abteilungsleiters in Genf nachgehen, frage ich Sie, ob die Stellungnahme des Abteilungsleiters die Auffassung der Bundesregierung dort wiedergegeben hat oder ob dies eine persönliche Auffassung des Abteilungsleiters gewesen ist.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Zunächst einmal ist es eine Äußerung, die in der Presse veröffentlicht ist, und ich habe schon zweimal gesagt: Die muß ich erst mal hieb- und stichfest prüfen, und dann erst kann man über die Dinge reden.
Aber noch einmal: Allein die Tatsache, daß das Bundesarbeitsministerium mit den Vertretern des DGB nach wie vor im Gespräch ist, heißt also, daß auch in dieser Hinsicht die eine oder andere Überlegung weiterhin mit einfließen kann.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stahl.
Herr Staatssekretär, ist es nicht möglich, den Sachverhalt, den Sie hier schildern und über den Sie scheinbar nicht informiert sind, telefonisch in Genf abzufragen, um dem Deutschen Bundestag hier ausführlich und richtig Rede und Antwort zu stehen?
Aber, Herr Abgeordneter, doch sicher nicht während der Fragestunde, bei allem Respekt vor Ihrem Fragerecht.
Höpfinger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe auf die Grundfrage geantwortet.
Welche Zusatzfragen gestellt werden, kann man zwar da oder dort erahnen, oder man kann sehen, was kommen könnte; aber daß diese Zusatzfrage so konkret kommt, stelle ich jetzt fest. Ich bitte Sie, meine Zusage anzunehmen: Ich werde mir den Text vorlegen lassen, und dann wird man auch darüber reden können.
Danke schön, Herr Staatssekretär. Wir bedanken uns auch für Ihr Bemühen hier. Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung abgeschlossen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
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Vizepräsident Cronenbergauf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Frau Karwatzki zur Verfügung.Der Abgeordnete Dr. Jens hat gebeten, seine Frage 40 schriftlich zu beantworten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 41 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:Wie beurteilt die Bundesregierung die Chancen von Früherkennung und Therapie bei der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Arbeit von Selbsthilfegruppen der von dieser Krankheit betroffenen Menschen organisatorisch und finanziell zu unterstützen?Frau Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Gansel, bislang kennt man bei der Cystischen Fibrose — das ist der geläufige Ausdruck im internationalen Bereich, bei uns benannt als Mukoviszidose — — Entschuldigen Sie bitte, meine sehr geehrten Damen und Herren oben auf der Tribüne, das sind die Fachworte. Ich bitte um Nachsicht, Herr Präsident. Es ist immer so schwierig, wenn die Leute einen anschauen, daß man große Augen bekommt.
Frau Staatssekretär, die großen Ohren der Abgeordneten und nicht die großen Augen der Zuhörer sollten Ihr Interesse finden.
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Beide sind aber wichtig, glaube ich.
Herr Kollege Gansel, bislang kennt man bei der Cystischen Fibrose die biochemische Ursache und den eigentlichen Defekt im Erbgut noch nicht. Einen großen Fortschritt hat es gebracht, daß es drei internationalen Arbeitsgruppen unter Beteiligung deutscher Wissenschaftler im Herbst letzten Jahres gelungen ist, dem Ort der defekten Erbanlage im Erbgut des Menschen mit Hilfe von Genmarkern zumindest nahezukommen. Seitdem bemühen sich in der Bundesrepublik Deutschland an mehreren Universitäten Arbeitsgruppen in Zusammenarbeit mit Betroffenenorganisationen, diese neuen Erkenntnisse für die Praxis verfügbar zu machen.
Die Bundesregierung geht in Übereinstimmung mit den Fachwissenschaftlern davon aus, daß bei fortlaufender Optimierung der molekulargenetischen Methoden diesbezügliche Früherkennungsuntersuchungen in absehbarer Zeit angeboten werden können. Die mittlere Überlebenszeit der an der Cystischen Fibrose erkrankten Patienten hat sich in den letzten 15 Jahren deutlich erhöht. Auch daraus ergeben sich nach Ansicht der Fachleute neue Notwendigkeiten in der Therapie und Versorgung der Patienten.
Der Bundesregierung liegt im Rahmen des Programms „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit" ein Förderantrag vor, der sich u. a. mit multizentrischen Therapiestudien befaßt. Das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit steht mit Selbsthilfeorganisationen der von der Cystischen Fibrose betroffenen Menschen in Kontakt und wird die gegebenen Möglichkeiten organisatorischer und finanzieller Unterstützung ausschöpfen. Die Bundesregierung unterstützt mit Fördermitteln über die Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte" die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Mukoviszidose.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Ist die Bundesregierung bereit, die Informationswoche, die die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Mukoviszidose vom 4. bis 11. Oktober 1986 durchführt, zu unterstützen, da es sich hierbei um eine sehr ernste und die Familien sehr stark fordernde Krankheit handelt, die, weil sie mit einem komplizierten Fremdwort bezeichnet wird, nicht Anlaß zur Erheiterung sein sollte?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich denke, Anlaß zur Erheiterung ist es weder bei den Kollegen hier unten noch oben auf der Tribüne.
Was die Unterstützung angeht, so habe ich Ihnen soeben schon gesagt, daß wir die entsprechende Gesellschaft über die Arbeitsgemeinschaft der Behinderten finanziell unterstützen. Es ist jedem Verband freigestellt, wie er dieses Geld nach Zuteilung für seine Aktionen verbraucht.
Weitere Zusatzfrage.
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit auf diese Woche besonders hinzuweisen und die Aufklärung zu unterstützen?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Was Aufklärung angeht, immer und jederzeit. Das sehen Sie auch jetzt bei der zur Zeit laufenden Suchtwoche.
Frau Abgeordnete Schmidt .
Frau Staatssekretärin, nimmt denn die Bundesregierung mit einem Vertreter oder einer Vertreterin an dieser Woche, die in Nürnberg stattfindet, teil, und nimmt sie diese Gelegenheit zur Offentlichkeitsarbeit dort wahr?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Soweit ich mich gerade sachkundig gemacht habe, nehmen wir nicht direkt teil. Aber wir haben mit den Verbänden gesprochen.
Ihnen, Frau Schmidt, steht nur eine Zusatzfrage zu. Sie können natürlich
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Vizepräsident Cronenbergdie Frau Kollegin Fuchs veranlassen, die Frage zu stellen.
Darf ich Sie fragen, Frau Staatssekretärin, wie denn die indirekte Beteiligung des Ministeriums an dieser Tagung aussieht?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Ich habe ja soeben ausgeführt, daß wir uns bei den Verbänden vorher entsprechend informiert und uns mit ihnen ausgetauscht haben.
Herr Abgeordneter Heyenn.
Frau Staatssekretärin, aus welchen Gründen nimmt die Bundesregierung nicht direkt teil: Hält sie die Angelegenheit für relativ unwichtig, so daß sie es darauf beschränken konnte, sich an vorherigen Gesprächen mit den Verbänden zu beteiligen?
Frau Karwatzkl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung nimmt immer alles ernst. Wir geben uns auch Mühe, auf allen Kongressen zu erscheinen, aber es gibt irgendwo eine Grenze. Und ich bitte um Verständnis: Wenn wir so entschieden haben, dann hatten wir bestimmt Gründe dafür.
Damit ist diese Frage nun endgültig beendet.
Ich kann nunmehr die Frage 42 des Abgeordneten Werner aufrufen.
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, wenn Ärzte, die im Einklang mit Artikel 2 des Fünften Strafrechtsgesetzes in der Fassung des Fünfzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes die Durchführung von Abtreibungen aus Gewissensgründen ablehnen, bereits durch die Gestaltung der Bewerbungskriterien ausgesondert werden, und sieht die Bundesregierung in der Weigerung eines Arztes, an einer grundsätzlich verbotenen Tötungshandlung wie der Abtreibung, die nur in ganz bestimmten Fällen nicht strafrechtlich verfolgt wird, mitzuwirken, eine Gefährdung der Rechtsordnung, die eine Nichteinstellung an einer öffentlichen Krankenanstalt rechtfertigt?
Frau Staatssekretärin.
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Werner, die Bundesregierung hat keine Möglichkeit, auf die Einstellungspraxis der öffentlichen Krankenhäuser einzuwirken, auch dann nicht, wenn diese eine Stelle nur für Ärzte ausschreiben, die auch an einem nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken bereit sind. Ich begrüße es aber, daß in dem von Ihnen in Ihrer vorausgegangenen schriftlichen Anfrage genannten Fall der Stadt Nürnberg, wie ich höre, dieser Einstellungsvorbehalt aufgegeben wurde. Angesichts der ausdrücklichen Regelung in Art. 2 des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts kann die Ablehnung eines Arztes, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, schon deshalb nicht als Gefährdung der Rechtsordnung angesehen werden, weil nach dieser Vorschrift — abgesehen von dem Fall einer anders nicht abwendbaren Gefahr des
Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung — niemand verpflichtet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken.
Zusatzfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Werner.
Vielen Dank für die Beantwortung dieser Frage. — Können Sie, Frau Staatssekretärin, mir Auskunft darüber geben, ob die Bundesregierung bereit ist, die Länder, die Ärzteorganisationen, aber auch die Landkreistage und Krankenhausgesellschaften noch einmal ausdrücklich auf diesen rechtlichen Sachverhalt hinzuweisen, den Sie in Ihrer Antwort gerade ganz eindeutig dargelegt haben?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Wir wollen mit den betroffenen, von Ihnen genannten Stellen gern nochmals Kontakt aufnehmen und darauf hinwirken.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte schön.
Sind Ihnen, abgesehen von dem Nürnberger Beispiel, andere derartige Fälle von Gewissenseinschränkungen, die nicht im Einklang mit der bestehenden Rechtsgrundlage stehen, bekanntgeworden?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mir sind sie nicht bekannt.
Herr Abgeordneter Jäger , bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, wird die Bundesregierung für den Fall, daß sich derartige Fälle häufen und zu einer Art Berufsverbot für Ärzte auszuarten drohen, die sich weigern, an Abtreibungen teilzunehmen, nicht doch überlegen müssen, Schritte zu ergreifen, und seien es unter Umständen auch Schritte auf der Grundlage des Beamtenrechtsrahmengesetzes, das ja auch für die Länder und für die Kommunen gilt?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich sehe noch keine Berufsverbote. Es ist ein einziger Fall, der selbstverständlich einer kritischen Betrachtung bedarf. Ich habe dem Kollegen Werner soeben gesagt, daß wir bereit sind, mit den Institutionen, die er genannt hat, über die Angelegenheit noch einmal zu sprechen. Ich bin auch ganz sicher, daß die Länder hier ihre Verpflichtung im Rahmen des Bundesbeamtenrechtsrahmengesetzes wahrnehmen.
Herr Abgeordneter Vogel .
Frau Staatssekretärin, halten Sie es eigentlich nicht auch für selbstverständlich, daß, wenn eine Stelle für einen Arzt ausgeschrieben wird und in dieser Stellenbeschreibung ausdrücklich auch der Aufgabenbereich definiert ist, nämlich Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, die Bereitschaft des Arztes, Schwanger-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18191
Vogel
schaftsabbrüche durchzuführen, eine grundlegende Bedingung ist, und ist es insofern nicht selbstverständlich, daß ein Arzt, der dies aus Gewissensgründen nicht tun kann, als ernsthafter Bewerber gar nicht in Frage kommt?Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, hier bin ich nicht Ihrer Meinung.
Herr Abgeordneter Czaja.
Frau Staatssekretärin, ist es nach dem Ärzterecht überhaupt zulässig, Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch ablehnen, bei Bewerbungen zu diskriminieren, und müssen sich nicht alle öffentlich-rechtlichen Kliniken an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage halten?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Selbstverständlich müssen sie sich daran halten.
Frau Abgeordnete Schmidt .
Frau Staatssekretärin, könnten Sie hier noch einmal erläutern, wieso die Stellenausschreibung der Stadt Nürnberg, die meines Wissens mitnichten zurückgenommen wurde, rechtswidrig ist, und ist Ihnen bekannt, daß mitnichten die persönliche Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch verlangt worden ist, sondern nur die Bereitschaft, zu dulden, daß Ärzte, die dazu bereit sind und die es vor ihrem Gewissen verantworten können, an der Station des Chefarztes der Gynäkologie, dessen Stelle ausgeschrieben worden ist, künftig Schwangerschaftsabbrüche durchführen können?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Schmidt, was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, so teile ich Ihre Meinung nicht. Ich glaube, daß man so nicht ausschreiben kann.
Was den ersten Teil Ihrer Frage, ob die Stadt Nürnberg die Stellenausschreibung zurückgezogen habe, angeht, so bin ich informiert, daß sie sie zurückgenommen hat. Ich bin Ihnen aber dankbar für die Frage. Ich werde die Angelegenheit jetzt natürlich an mich ziehen und der Sache weiter nachgehen.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Dann kann ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit abschließen. Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Staatssekretär.
Der Geschäftsbereich des Bundeskanzlers braucht nicht aufgerufen zu werden, weil die Fragen 1 und 2 des Herrn Abgeordneten Dr. Emmerlich zurückgezogen worden sind.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Staatsminister Möllemann zur Verfügung.
Ich rufe Frage 7 der Abgeordneten Frau Fuchs auf:
Sieht der Bundesminister des Auswärtigen eine Notwendigkeit, die bisherige Praxis der Besetzung von Sozialreferentenstellen an deutschen diplomatischen Vertretungen im Ausland zu ändern?
Herr Staatsminister.
Frau Kollegin, das Auswärtige Amt besetzt seine Stellen für Sozialreferenten in Abstimmung mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Dabei unterbreitet in der Regel eine dieser beiden Stellen nach interner Abstimmung mit der anderen einen Personalvorschlag. Wenn die fachliche Qualifikation des Kandidaten überzeugt, folgt das Auswärtige Amt üblicherweise diesem Vorschlag.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, daß diesem Verfahren im Auswärtigen Amt die historische Erkenntnis zugrunde liegt, daß Gewerkschaften in diesem Bereich Sozialreferenten bestellen können, und wären Sie bereit, die politische Diskussion darüber im Kabinett zu führen, damit auch der Herr Bundesarbeitsminister davon wieder völlig überzeugt ist?
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, weder ist das, wovon Sie sprechen, eine historische Erkenntnis noch können die Gewerkschaften Sozialreferenten bestellen. Wir, das Auswärtige Amt, bestellen sie. Aber dies geschieht auf der Grundlage des Verfahrens, das ich soeben beschrieben habe. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, bitte sehr.
Können Sie bestätigen, daß sich die Praxis, die es in den letzten 30 Jahren gegeben hat, bewährt hat, und würden Sie sich dafür einsetzen, daß hier auch keine Änderungen eintreten?
Möllemann, Staatsminister: Frau Kollegin, wenn Sie das meinen: Das Auswärtige Amt legt Wert darauf, daß es nach Möglichkeit auch weiterhin zu einer einvernehmlichen Regelung dieser Frage kommt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Günther.
Herr Staatsminister, können Sie sich vorstellen, daß sich die Praxis des Auswärtigen Amtes, sich mit dem DGB abzustimmen, auch auf andere Spitzenorganisationen im gewerkschaftlichen Bereich ausweiten läßt?
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18192 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Praxis, von der ich hier sprach, ist die Praxis der Bundesregierung. Das Auswärtige Amt ist in diesem Zusammenhang federführend. Wir stimmen uns dabei, wie ich sagte, mit dem DGB und dem Bundesminister für Arbeit ab. Wir setzen voraus, daß die Vorschläge, die von dem einen oder anderen gemacht werden, mit dem jeweils anderen abgestimmt sind. Das sollte nach unserer Überzeugung auch weiter so bleiben. Im übrigen möchte ich anregen — ich komme gerade von einer eindrucksvollen Veranstaltung zur 40-Jahr-Feier von NordrheinWestfalen zurück, an der auch der Vizepräsident teilgenommen hat, mit mehreren eindrucksvollen Reden, u. a. einer des Bundeskanzlers zum Wert der Einheitsgewerkschaft —, sich das in diesem Zusammenhang einmal anzuschauen.
Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Erfahrungen, die Sie mit den personellen Angeboten des DGB auf diesem Felde gemacht haben, durchaus positiv waren?
Möllemann, Staatsminister: Hier möchte ich das sagen, was mein Kollege im Bundesministerium für Arbeit gesagt hat. Es ist, glaube ich, nicht zweckmäßig, daß wir hier jetzt in eine in den Einzelfall gehende Erörterung der Leistungsfähigkeit einzelner Mitarbeiter eintreten. Wir haben jeweils vor der Ernennung die Qualifikation geprüft. Ein positives Votum über die Qualifikation war Voraussetzung für die Ernennung. Nach der Ernennung können wir durch die Bank sagen, daß wir mit den Leistungen der solchermaßen Ernannten zufrieden gewesen sind.
Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Staatsminister, da heute mittag der Inhalt von Reden des Bundeskanzlers und seine praktische Tätigkeit, was die Bedeutung der Gewerkschaften betrifft, nicht zur Diskussion stehen, aber die Praxis, Sozialreferenten zu ernennen oder zukünftig zu ernennen, möchte ich Sie fragen, ob Sie bestätigen können, daß der Bundesarbeitsminister seine Zustimmung für die vom DGB vorgeschlagenen Sozialreferenten für die Ständige Vertretung bei der Europäischen Gemeinschaft und die Botschaft in Pretoria nicht erteilt hat und statt dessen eine Beamtin aus dem bayerischen Arbeitsministerium, die der CSU angehört, und den Assistenten des CDU-Kollegen Müller favorisiert.
Möllemann, Staatsminister: Ich kann Ihnen nach den üblichen Verfahrensweisen der Bundesregierung, übrigens jeder Regierung zuvor auch, hier nur sagen, daß der Bundesarbeitsminister dem Auswärtigen Amt für die Position in Brüssel bisher keinen Vorschlag unterbreitet hat und daß über die Besetzung der Position in Pretoria bisher ebenfalls noch nicht entschieden ist. Ich halte es für vollständig unmöglich, daß wir hier ressortinterne Abstimmungen im Detail zu einem Zeitpunkt vortragen, zu dem die Entscheidungen noch nicht getroffen sind. Ich glaube, das können wir, wie es in der Vergangenheit nicht gewesen ist, auch künftig nicht tun.
Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatsminister, da Sie vorhin gesagt haben, daß Sie sich jeweils mit dem Bundesminister für Arbeit und mit dem DGB in Verbindung setzen: Darf ich daraus schließen, daß auch andere Spitzengruppierungen von Gewerkschaften gefragt und deren Vorschläge und Rat eingeholt werden, etwa der DAG, des CGB und anderer, oder beschränkt sich diese Kontaktaufnahme ausschließlich auf eine Gewerkschaft?
Möllemann, Staatsminister: Der DGB ist j a keine Einzelgewerkschaft, sondern der Deutsche Gewerkschaftsbund. Aber es steht natürlich dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung frei, bei der Erörterung, welche Qualifikationen besonders gesehen werden müssen, wer in Frage kommt, auch weitere Überlegungen anzustellen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Entscheidung darüber, wer die Bundesrepublik Deutschland im Ausland vertritt, von der Zuständigkeit her das Auswärtige Amt trifft.
Immerhin hat Ihre Frage veranlaßt, daß zwei Abgeordnete ihre Wortmeldungen zurückgezogen haben. — Nun Herr Abgeordneter Gansel.
Stimmen Sie mir zu, Herr Staatsminister, daß es nicht der Peinlichkeit entbehren würde, wenn ausgerechnet bei der Besetzung der Stelle eines Sozialattachés in Südafrika der Vorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes zurückgewiesen werden würde
und statt dessen unter dem Verdacht einer CSU- Parteibuchwirtschaft eine neuartige Besetzungspraxis erprobt werden würde?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, Sie wissen so gut wie ich, daß natürlich diese Bundesregierung die gute Tradition der vorherigen fortsetzt und keinerlei Art von Parteibuchwirtschaft betreibt — das hat es ja auch früher nicht gegeben, wie Sie wissen —, sondern für diese Bundesregierung wie ihre Vorgängerinnen gilt ausschließlich die fachliche Qualifikation.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18193
Herr Staatsminister, nachdem ich auf Grund Ihrer Ausführungen festgestellt habe, daß es zwischen den Auffassungen des Auswärtigen Amtes und den Auffassungen des Arbeitsministeriums keinen Dissens gibt, möchte ich die letzte Frage zum Anlaß nehmen, doch noch einmal zu fragen, ob Sie wirklich meinen, daß es, wenn früher von den vielen Sozialattachés, die ausgesandt worden sind, nur zwei CDU-Leute waren und fast alle anderen der SPD angehört haben, nicht Parteibuchwirtschaft war?
Möllemann, Staatsminister: Ich habe jetzt über die Situation im einzelnen keinen Überblick, Herr Kollege. Ich hatte mit meiner Bemerkung den Versuch gemacht, darauf hinzuweisen, daß alle Regierungen immer nur nach fachlicher Qualifikation entschieden haben. Jedenfalls unterstelle ich das einmal. Es sollte aber so sein, daß weder die Mitgliedschaft in der SPD noch die in der CDU — nota bene auch nicht die in der FDP oder in einer anderen Partei —
von vornherein ein Grund ist anzunehmen, der Betroffene sei nicht qualifiziert.
Nun haben wir diesen schwierigen Komplex abgehandelt und kommen zur Frage 8 des Abgeordneten Stahl:
Ist der Bundesregierung die Praxis der griechischen Zollbehörden bekannt, wonach in Einzelfällen Touristen aus Ländern der EG mit überhöhten Forderungen an der Grenze regelrecht zur Ader gelassen werden , wenn sie — in Unkenntnis von vielerlei griechischen Einfuhrregelungen, wie z. B. Regulativ-, Umsatz-, besondere sowie Normal-, Stempelsteuer usw., im Vertrauen auf die praktizierten EG-Einfuhrregelungen der anderen Länder — Waren von geringem Wert nach Griechenland einführen, und wie viele derartige Fälle sind der Bundesregierung bekannt?
Möllemann, Staatsminister: Herr Präsident und Herr Kollege Stahl, ich wäre dankbar, wenn ich beide Fragen zusammen beantworten könnte. Das ergibt sich aus der Natur der Sache.
Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Stahl auf:
Was wird die Bundesregierung unternehmen, damit solche Forderungen unterbleiben oder wenigstens gemildert werden, und ist diese Praxis mit der angestrebten Freizügigkeit des Warenverkehrs zwischen EG-Staaten noch vereinbar?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Stahl, der Bundesregierung, d. h. auch den einzelnen zuständigen Ressorts, ist die in Ihrer Frage dargestellte Praxis griechischer Zollbehörden nicht bekannt. Der Bereich der Steuerbefreiung im grenzüberschreitenden Reiseverkehr ist gemeinschaftsweit durch Richtlinien geregelt. Als EG-Mitgliedsland ist Griechenland an die Durchführung der Bestimmungen dieser Richtlinien gebunden.
Da das so ist, kann ich Ihre zweite Frage logischerweise nicht beantworten. Eine Antwort darauf entfällt.
Bitte schön, Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, würden Sie den Fall, den ich Ihnen vorlege, aufnehmen und die Gelegenheit wahrnehmen, mit der griechischen Regierung über derartige Praxen, die wohl des öfteren an der Grenze vorkommen, einmal ernsthaft zu sprechen?
Möllemann, Staatsminister: Wenn Sie uns Fälle präsentieren, die nicht mit dem in Einklang stehen, was ich soeben sagte, wird die Bundesregierung dem selbstverständlich nachgehen und Ihnen darauf schnellstmöglich Antwort geben und notfalls auch bei der griechischen Regierung respektive den zuständigen EG-Stellen vorstellig werden.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Staatsminister, ich darf sagen, daß der zuständige Generalkonsul in Griechenland, ein Herr Hafner, diesen Fall bearbeitet hat — er ist ihm also bekannt — und dem deutschen Staatsbürger bzw. seiner Frau, also den einreisenden Touristen, Hilfe geleistet hat. Ist dieser Fall nicht doch eventuell als Meldung ans Auswärtige Amt gekommen?
Möllemann, Staatsminister: Ich lese hier in der Unterlage, die ich für diese Fragestunde bekommen habe: Weder im BMWi noch im BMF noch im Auswärtigen Amt — dann werden die ganzen Referate aufgezählt — liegen Erkenntnisse über erhöhte Forderungen griechischer Zollbehörden gegenüber deutschen Touristen vor. — Ich unterstelle einmal, es ist so. Wenn Sie einen Fall haben, den wir kennen müßten, bitte ich ihn mir zu geben. Dann gehe ich dem gerne nach.
Herr Abgeordneter Stahl.
Herr Staatsminister, ich darf nochmals nachfragen. Ist der Bundesregierung nicht bekannt, daß bei kleineren Zollvergehen beim Übergang nach Griechenland an der Grenze deutsche Touristen von den Zollbehörden längere Zeit festgehalten und Verhören ausgesetzt wurden, weil sie im guten Glauben an den rechtsgültigen Beitritt zur EG Waren im entsprechenden Wert einführen und dadurch anschließend unwahrscheinlich hohe finanzielle Nachteile hatten?Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Stahl, jetzt fragen Sie etwas anderes, als in Ihrer Frage steht. In Ihrer Frage heißt es: „Ist der Bundesregierung die Praxis der griechischen Zollbehörden bekannt, wonach in Einzelfällen Touristen aus Ländern der EG mit überhöhten Forderungen ... regelrecht zur Ader gelassen werden ...''. — Nun sprechen Sie selber von kleineren Zollvergehen. Ich müßte schon wissen, von welchen kleineren Zollvergehen im einzelnen die Rede ist, die offenbar geahndet worden sind. Die Grundlage für die Beurtei-
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Staatsminister Möllemannlung ist jedenfalls jeweils eine EG-Richtlinie. Ich müßte im Einzelfall prüfen, ob und inwieweit sich Griechenland nicht an die Bestimmungen der EG-Richtlinien respektive an die dafür gültigen Maßstäbe hält, wenn Zollbestimmungen nicht eingehalten worden sein sollen. Das kann ich so pauschal hier heute nicht beantworten.
Sie haben noch eine Frage, wenn ich richtig gezählt habe.
Ja, ich habe noch eine.
Herr Staatsminister, so, wie Sie das dargestellt haben, wäre es möglich, daß man nach Griechenland wie von einem EG-Land ins andere Waren einführen kann, daß diese Regelung also auch dort gilt. Das war aber hier nicht der Fall. Hier hat z. B. eine Familie für drei Personen Waren im Werte von etwa 1 400 DM über die Grenze mitgenommen. Auf die Frage des Zollbeamten, ob etwas zu verzollen sei, war die Antwort: Wir haben Waren, die im Rahmen der EG erlaubt sind. Bei der Öffnung des Kofferraums wurden diese beschlagnahmt, und die Leute wurden zwei Tage an der Grenze festgehalten. Bei einem Warenwert von 1 400 DM wurde zunächst eine Strafe von 6 400 DM verhängt, die anschließend auf die Intervention des Generalkonsuls hin auf etwa 4 800 DM herabgesetzt wurde. Dies ist ja wohl gegenüber Touristen ein schlimmes Gebaren an der Zollgrenze.
Möllemann, Staatsminister: Allen Ernstes, Kollege Stahl, ich kann das jetzt nicht bewerten. Ich kenne den Vorgang nicht. Ich bitte Sie, ihn mir auszuhändigen. Wir werden den Vorgang überprüfen, ich werde mich darum kümmern. Ich möchte jetzt auf der Grundlage eines mir nicht bekannten Sachverhalts die griechische Regierung und die ihr unterstellten Behörden nicht irgendwie bewerten. Das kann ich nicht machen.
Herr Abgeordneter, wenn es nicht die letzte Frage gewesen wäre und wir nicht so viel Zeit gehabt hätten, hätte ich Sie zweifellos unterbrechen müssen.
Herr Abgeordneter Berger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, darf ich Ihre letzte Antwort so verstehen, daß die Bundesregierung bereit wäre, innerhalb der EG darauf hinzuwirken, daß Griechenland die EG-Bestimmungen in solchen und vergleichbaren anderen Fällen, etwa bei Eigentumsfragen, einhält?
Möllemann, Staatsminister: Ja, die gültigen EG- Bestimmungen sind j a dazu da, daß sie eingehalten werden, und zwar von jedermann in der EG. Da gibt es keine griechische Sonderwurst, die hier gebraten werden könnte.
Herr Staatsminister, wir bedanken uns bei Ihnen. Damit ist die Fragestunde beendet.*)
*) Die Fragen 10 und 11 des Abg. Dr. Hupka wurden schriftlich beantwortet. Die Antworten sind in den Anlagen abgedruckt.
Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir setzen die Beratung zum Tagesordnungspunkt 3 — Erklärung der Bundesregierung — und zum Zusatztagesordnungspunkt 2 — Antrag der Fraktion der SPD zur KVAE — fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schierholz
Schönen Dank, Herr Präsident. — Meine Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Es geht immer noch um die Abschlußerklärung der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa. Wir als GRÜNE betrachten die Ergebnisse dieser Konferenz als einen begrenzten Fortschritt, mitnichten aber als den von Ihnen behaupteten Durchbruch zur Abrüstung, Herr Berger.
Ich möchte einige Bemerkungen zu der uns jetzt präsentierten und avisierten Kompromißlösung hinsichtlich der nuklearen Mittelstreckenraketen machen. Wir hören, daß beide Seiten die Zahl der Sprengköpfe jeweils auf 100 begrenzen wollen. Wir könnten es nur als eine Scheinlösung, als eine Verhohnepipelung der Bevölkerung betrachten,
wenn alle Raketen und die Lastwagen der Raketen hier blieben, wenn die Basen in Betrieb blieben und wenn lediglich die Zahl der Sprengköpfe auf 100 begrenzt würde.
Wir GRÜNEN fordern den sofortigen und bedingungslosen Abzug der Pershing II und einen Stopp der Stationierung der Cruise Missiles.
— Herr Berger, wir messen die Bundesregierung an ihren Taten, nämlich an der Frage, wie viele Raketen sie jetzt noch in unser Land hineinläßt, ob sie endlich darauf hinwirkt, daß die Manöver mit Pershing-II-Raketen eingestellt werden, und ob sie jetzt für einen Stopp der Arbeiten an der Baustelle in Hasselbach für die Stationierung der Cruise Missiles sorgt.Wir wissen: Die Raketen im Hunsrück sind gegenwärtig nicht einsatzbereit. Der Fortgang oder der Stopp der Bauarbeiten ist für uns der eigentliche Testfall ihrer Friedensfähigkeit. Wenn die Bundesregierung eine Abrüstung der atomaren Mittelstreckenraketen will, muß sie sofort alle Vorbereitungen zur Stationierung der Cruise Missiles ein-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18195
Dr. Schierholzstellen. Deswegen findet für uns in der Bundesrepublik der eigentliche Friedensgipfel am 11. Oktober nicht in Reykjavik statt, sondern in Hasselbach im Hunsrück.
— Herr Berger, da Sie auch aus Rheinland-Pfalz kommen, haben Sie die Gelegenheit, dort Ihren Abrüstungswillen unter Beweis zu stellen. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik demonstriert am 11. Oktober im Hunsrück. Wir laden Sie alle zur Teilnahme herzlich ein.
Danke schön. — Nun hat der Herr Abgeordnete Stobbe das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das von den Teilnehmerstaaten der Stockholmer Konferenz beschlossene Dokument ist konkret und klar in der Sprache, und zwar sowohl im politischen als auch im militärischen Teil. Wer es sorgfältig liest, bekommt eine Ahnung davon, wie kooperative Rüstungsstrukturen für unseren Kontinent aussehen könnten.Wer schon seit längerem zu der Erkenntnis gekommen war, daß Sicherheit im geteilten Europa nur durch bündnisübergreifende Anstrengungen auch und gerade im militärischen Bereich erreicht werden kann, der kann sich durch das Stockholmer Dokument bestätigt fühlen. Wer bisher nicht an kooperative Sicherheitsformen geglaubt hat, sollte durch das Stockholmer Dokument eines Besseren belehrt werden. Der notwendige Umdenkungsprozeß müßte jetzt eigentlich auch bei denen einsetzen, die Sicherheit bislang ausschließlich durch Schutzmaßnahmen der eigenen Seite gegen die andere erreichen wollten.Stockholm hat in dieser Hinsicht, so glaube ich, den Weg in eine andere Zukunft gewiesen. Die Schemata der militärischen Konfrontation alter und auch neuer Art können durch konstruktive Zusammenarbeit überwunden werden. Das ist im wesentlichen die politische Botschaft, die Stockholm uns gibt.In dem Antrag, den die SPD-Fraktion für diese Debatte eingebracht hat, stellen wir unter anderem die Forderung auf, daß in Europa durch konkrete Maßnahmen ein Zustand hergestellt wird, in dem bei Fortbestehen der Bündnissysteme jede Seite nach Bewaffnung, Ausrüstung, Struktur und geographischer Verteilung der Streitkräfte sowie nach der jeweiligen Militärdoktrin nur die Fähigkeit zur Verteidigung hat, nicht aber die Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Invasion.Zugegeben, das ist ein gewaltiges Projekt, aber eines, über das nachzudenken sich lohnt. Wir sagen: jede Seite, und wir machen damit ganz klar, daß wir nicht nur an eine Umstrukturierung der Bundeswehr, soweit sie notwendig ist, denken, um dieses Ziel zu erreichen. Unser Blick richtet sich gerade auch auf das östliche Bündnis, und dort vor allem auf Militärdoktrin sowie Bewaffnung, Ausrüstung, Struktur und geographische Verteilung der Streitkräfte der Sowjetunion. Es ist keine Frage, daß sich dort etwas ändern muß, wenn der Friede in Europa sicherer werden soll.Nun haben uns unsere Erfahrungen gelehrt, daß es sehr schwer sein wird, von der Sowjetunion Änderungen ihrer Militärstrategie zu erreichen. Dennoch haben wir ein Recht zu verlangen, daß in Moskau umgedacht wird. Dafür gibt es unseres Erachtens jetzt sogar eine gewisse Chance. Fest steht ja, daß mit dem Antritt der neuen sowjetischen Führung ein Bekenntnis zur Notwendigkeit eines Umdenkens im nuklearen Zeitalter öffentlich abgelegt wurde. Die Bereitschaft zum umfassenden Dialog mit dem westlichen Bündnis ist offensichtlich da; das beweisen die vielen Abrüstungsvorschläge; das beweist auch Reykjavik.Die Schaffung von struktureller Nichtangriffsfähigkeit oder von vertrauensbildenden Verteidigungsstrukturen auf beiden Seiten kann dabei zu einem zentralen Thema werden. Zwar ist es so — das wissen wir alle —, daß sich die Sowjetunion heute noch in der Begründung für ihre riesige konventionelle Militärmacht und Offensivstrategie auf ihre Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg beruft. Weil diese Erfahrungen gewiß schwer wiegen, wird niemand ernsthaft von Gorbatschow erwarten können, daß es sich die Sowjetunion beim Nach- und Umdenken einfach macht. Wir wissen aber, daß der Prozeß des Nachdenkens darüber eingesetzt hat, ob die jetzigen militärischen Konstellationen nicht Resultat einer längst überholten Situation nach dem Zweiten Weltkrieg sind.Im übrigen ist es j a so, daß die herrschende Militärstrategie der Sowjetunion ja auch eine zentrale Rolle in den zwischenstaatlichen Beziehungen und Konflikten Osteuropas selbst spielt. Die sowjetische Führung muß sich nicht nur von uns Westeuropäern Fragen stellen lassen, sondern sie muß auch mit Fragen gerade aus dem osteuropäischen Raum rechnen. Sie muß sich fragen lassen, ob es nicht an der Zeit ist, gegenüber ihren Bündnispartnern ein politisches Zeichen zu setzen. Wer von einem gemeinsamen europäischen Haus spricht, kann sich diesen Fragen gewiß nicht entziehen.Jedenfalls ist die Verminderung der Offensivpotentiale, die Schaffung von struktureller Nichtangriffsfähigkeit in Europa ein großes politisches Thema, bei dem es gerade darum geht, die Bereitschaft der Sowjetunion zu testen, das Mißtrauen, das die Ursache ihrer militärischen Strategie ist, im wesentlichen abzubauen.
Meine Damen und Herren, die in Stockholm beschlossenen Maßnahmen, über die wir uns heute gemeinsam freuen, gründen sich letztlich auf die Schlußakte von Helsinki, die, als sie beschlossen wurde, in diesem Haus keinesfalls einheitliche Zustimmung fand. Wenn Herr Rühe vorhin von Fundamenten gesprochen hat, dann hätte er gerade mit Blick auf die KVAE ja doch die Schlußakte von Helsinki erwähnen und fairerweise zugestehen müs-
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Stobbesen, daß er und seine Fraktion jedenfalls zu diesem Fundament keinen Beitrag geleistet haben.
— Ob er da war oder nicht, spielt keine Rolle. Seine politische Fraktion, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat Helsinki und alles, was mit der deutschen Ostpolitik zusammenhängt, bis aufs Messer bekämpft.
Wir werden das jedenfalls nicht so machen. Wenn diese Koalition Erfolge hat in Fragen, die für das Wohl unseres Volkes von entscheidender Bedeutung sind, werden wir Ihnen zustimmen. Wir werden nicht tun, was Sie in den Jahren der Entspannungspolitik getan haben; das können wir Ihnen heute versprechen. Deshalb laufen auch sämtliche Ansätze einer Kritik an der SPD-Sicherheits- und -Außenpolitik, die von dieser Annahme ausgehen, ins Leere.
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Berger zu?
Ich möchte gerne meine Ausführungen im Zusammenhang machen.Die in Stockholm beschlossenen Maßnahmen gründen sich also auf Helsinki. Diese Konferenz war damals richtig. Die von ihr beschlossene Charta bleibt in Zielen und Wegen auch in Zukunft Richtschnur für eine friedliche Überwindung der Teilung Europas.Wenn wir Sozialdemokraten von einer Sicherheitspartnerschaft sprechen, die es zwischen beiden Bündnissen zu errichten gelte, dann meinen wir damit ausdrücklich nicht eine statische Friedensordnung à la Metternich. Denn der Friede in Europa ist dann gefährdet, wenn der Drang zum Wandel und zur Reform der gesellschaftlichen Systeme hin auf mehr Freiheit unterdrückt wird, z. B. so lange unterdrückt wird, bis er die eruptive Form einer Krise annimmt, die dann nur noch mit dem Einsatz von Gewalt beherrschbar erscheint. Wir haben dies alles ja erlebt. Wir haben erfahren, wie solche Situationen Spannungen zwischen den Bündnissen erhöhen.Deshalb ist Sicherheitspartnerschaft nur in Verbindung mit einer aktiven Politik denkbar, welche die in den berühmten drei Körben der Charta von Helsinki niedergelegten Ziele und Prinzipien ganz ernst nimmt und ihre Beachtung durch alle Teilnehmerstaaten fordert und möglichst sicherstellt. Deshalb ist das in Stockholm beschlossene Dokument auch insofern begrüßenswert, weil es die kooperativen Maßnahmen im Bereich der militärischen Aktivitäten der Teilnehmerstaaten ausdrücklich erneut mit der Helsinki-Charta verbindet. Das muß auch bei zukünftigen weitergehenden kooperativen Sicherheitsmaßnahmen so bleiben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war schon in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses gestern erkennbar, daß die CDU, zumindest Herr Rühe, die Debatte über die Regierungserklärung zu einem — wie ich fand — sehr polemischen Wahlkampfstil benutzen wollte, um sich mit der Außen- und Sicherheitspolitik der SPD auseinanderzusetzen. Wenn dabei die Argumente in Form und Inhalt sauber bleiben, dann ist daran gewiß nichts auszusetzen. Die SPD braucht die Auseinandersetzung in der Sache nicht zu scheuen, denn sie hat ja die Fundamente gelegt, auf denen Ihre Politik jetzt aufbaut. Jedenfalls behaupten Sie, daß Ihre Politik darauf aufbaut. Es war sehr interessant, daß Herr Rühe von Fundamenten spricht, aber nicht von Kontinuität. Er erwähnt das Wort nicht mehr. Er hat es früher getan. Jetzt hängt das Gewicht der StahlhelmFraktion ganz offensichtlich daran.
Meine Damen und Herren, es gibt einen Unterschied im Stil in der Auseinandersetzung über diese Fragen zwischen uns und Ihnen. Ich sagte schon: Wir werden die Erfolge, die möglicherweise im Zuge der Entwicklung kommen, nicht so heruntermachen, wie Sie das gemacht haben. Aber wir werden Ihnen eines verwehren. Wir werden Ihnen verwehren, daß Sie Entwicklungen für sich allein in Anspruch nehmen, zu denen auch und gerade die SPD ihren Beitrag geleistet hat.
Zum Beispiel war die SPD immer die Partei, die gesagt hat: Wir brauchen Gipfeltreffen, damit zwischen den Großmächten von der Konfrontation zur Kooperation umgewechselt wird. Die SPD war immer die Partei, die für Verhandlungslösungen gekämpft hat, übrigens auch und gerade bei den Mittelstreckenwaffen. Die SPD war immer für Verteidigung, gerade wenn sie strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit fordert.
Die SPD war immer und bleibt auch für politische Ost-West-Beziehungen, die auf eine allmähliche Überwindung der Teilung Europas abzielen.
Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß das deutsche Volk gegen plumpe Verdächtigungen à la Rühe einfach immun geworden ist, weil das deutsche Volk weiß, daß die SPD die Sicherheit dieser Bundesrepublik Deutschland insgesamt vermehrt und nicht etwa vermindert hat.
— Es ist keine Vergangenheit. Wir waren damals Vorreiter im außenpolitischen und sicherheitspolitischen Denken;
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Stobbewir haben unsere Partner im westlichen Bündnis gefunden; wir sind jetzt Vorreiter in manchen Fragen mit — zugegebenermaßen — manch kühnen Ideen. Aber wir finden auch dafür Partner in Westeuropa und auch in Amerika. Wir werden überzeugen, weil insgesamt unser Denken im Abrüstungsbereich, im Rüstungskontrollbereich, im Sicherheitsbereich im allgemeinen, wie das Dokument, das wir heute besprechen, beweist, in die richtige Richtung weist.Meine Damen und Herren, ich möchte damit schließen, daß ich dem Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, der heute morgen ins Krankenhaus mußte, eine gute Genesung wünsche. Ich denke, das sollte im Zuge der interfraktionellen Kollegialität möglich sein.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Wörner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich denke, daß die Wünsche, die Sie eben im Blick auf unseren Kollegen Genscher ausgesprochen haben, von uns allen geteilt werden.
Lieber Herr Stobbe, Sie haben den Versuch gemacht, wieder einmal über das hinwegzureden, was Sie in Nürnberg beschlossen haben. Daß ausgerechnet Sie das tun, hat einen komischen Beigeschmack.
Wir alle haben noch die Szene in Erinnerung, wo Sie in Berlin aus dem Parteitag Ihrer Partei auszogen und ausziehen mußten, weil die dort gefaßten Beschlüsse selbst mit Ihrer Auffassung von der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr zu vereinbaren waren.
Lieber Herr Stobbe, Sie reden jetzt wieder von struktureller Nichtangriffsfähigkeit. Sie stellen das als eine Forderung in den Raum — wie auch in Ihrem Antrag — an beide: an den Warschauer Pakt wie an die NATO bzw. die Bundeswehr. Sie wissen es besser, und ich weiß, daß Sie es besser wissen. Ich halte dem folgendes entgegen:
So wie das westliche Bündnis defensiv ist, so ist auch unser ... Beitrag ... defensiv. Die Bundeswehr ist weder nach ihrer Erziehung und Struktur noch nach ihrer Bewaffnung und Ausrüstung für eine offensive Strategie geeignet.
Das war ein Zitat: Willy Brandt am 28. Oktober 1969 im Deutschen Bundestag.
Ich meine, deutlicher geht es doch nicht mehr. Sie
versuchen doch inzwischen, einen Popanz aufzubauen, weil Sie sich nicht mehr trauen, das eigentliche Sicherheitsproblem Europas anzusprechen. Es besteht eben darin, daß wir unsere Truppen nur zur Verteidigung haben und gar nicht angreifen können, während uns der Warschauer Pakt überlegen ist und seine Truppen auf Angriff getrimmt hat. Das ist das eigentliche Sicherheitsproblem Europas.
Sie sollten den Mut haben, das beim Wort zu nennen. Deswegen — Herr Stobbe, das bringt uns doch nicht auseinander — müssen wir — Sie wie wir — in unseren Abrüstungsbemühungen darauf hinarbeiten, daß auch der Warschauer Pakt diese Fähigkeit verliert.
Das ist das Ziel unserer konventionellen Rüstungskontrollbemühungen.
Und nun zum eigentlichen Gegenstand dieser Debatte. Unser Ziel ist der Friede mit weniger Waffen. Das ist ein Ziel, das der Bundeskanzler Helmut Kohl mehrfach beschrieben hat,
ein Ziel, das diese Koalition von Anfang an
verfolgt hat. Wir meinen, was wir sagen. Daher unterstützen wir die Vorschläge einer drastischen Verminderung der Mittelstreckenwaffen
mit weltweit gleichen Obergrenzen.
Ich kann nur sagen: Wenn heute die Aussicht besteht, zu einem solchen Abkommen zu kommen, ist das ein großartiger Erfolg des Bündnisses, aber vor allen Dingen auch ein großartiger Erfolg der Politik dieser Bundesregierung und der sie tragenden Parteien.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Scheer?
Gleich, gleich.All Ihre Prophezeiungen, beispielsweise die Prophezeiung des Herrn Scheer, die mir noch in den Ohren klingt, von der „Eiszeit", vom „Raketenzaun", von den Sowjets, die nie wieder mit uns verhandeln würden: Alle diese Prophezeiungen sind doch ins Leere gegangen und haben sich als falsch erwiesen. Ich kann nur sagen: Unsere Politik hat Früchte getragen. Deswegen wird im Augenblick mit Aussicht auf Erfolg über Abrüstung verhandelt. Daraus sollten Sie, Herr Scheer, und Ihre Kollegen, endlich die Lehren ziehen, anstatt mit Ihren alten Prophe-
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Bundesminister Dr. Wörnerzeiungen weiterzumachen, obwohl Sie sehen, daß sie widerlegt sind.
Wenn die Zwischenfrage auf meine Redezeit nicht angerechnet wird, lasse ich die Frage zu.
Herr Bundesminister, lassen wir die Frage zu, und es wird nicht angerechnet.
Ja.
Herr Bundesminister, Sie haben mich gerade zitiert. Ich selber habe nicht von Eiszeit gesprochen, sondern von dem Problem, daß in Zukunft auf einem Niveau höherer Waffen verhandelt werden muß, was ja dann auch eingetreten ist und den Abbau von Waffen dann nicht so zügig vorankommen läßt, wenn er je zustande käme. Das haben Sie eben kurz provoziert.
Jetzt bitte ich wirklich zu fragen.
Meine eigentliche Zwischenfrage war: Hängen Sie immer noch — da es ja um das von uns formulierte und früher von Ihnen bekämpfte Ziel einer beiderseitigen Null-Null-Lösung geht — der These an — wie in früheren Jahren —, daß auf jeden Fall landgestützte Mittelstreckenraketen — unabhängig davon, wieviel sowjetische es gibt — in Westeuropa sein müßten, um eine Ankoppelung der Bundesrepublik an das atomare Abschreckungspotential der Vereinigten Staaten sicherzustellen? Wenn ja, wie verträgt sich das mit der Zielsetzung der Null-Lösung, wie Sie sie jetzt auch teilen?
Lieber Kollege, das erste: Sie haben nicht zur Kenntnis genommen, daß es dank der Bemühungen der Bundesregierung gelungen ist, inzwischen in der Bundesrepublik Deutschland weniger Nuklearwaffen zu haben als in 20 Jahren zuvor. Wenn Sie das erreicht hätten, hätten Sie das als großen Triumph gefeiert.
Punkt zwei: In der Tat ist die Ankoppelung der Vereinigten Staaten von Amerika an Europa ein zentrales Anliegen deutscher und europäischer Sicherheit.
Nur dieser Schicksalsverbund sichert unsere Freiheit und sichert unseren Bürgern den Frieden. Das aber hängt nicht von einer Waffenart allein ab. Sicher gehört dazu ein politischer Wille und sicher gehört dazu die Präsenz amerikanischer Truppen. Sicher gehört dazu ein Waffen-Mix, der die Sowjetunion erkennen läßt, daß es keine Aussicht auf Erfolg hat, einen begrenzten Angriff, auch einen begrenzten nuklearen Angriff, auf Mitteleuropa zu führen, ohne dabei nicht sofort auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika in einen Konflikt zu geraten. Weil die Sowjets das nicht wollen, ist das die Garantie, daß es hier nicht zu einem Krieg kommt. Das ist das eigentliche Ziel unserer Politik: Wir wollen den Krieg verhindern.
Es hat sich erwiesen, daß die Sowjetunion zu einer erheblichen Verringerung der Zahl ihrer nuklearen Mittelstreckenwaffen, insbesondere der modernen SS-20-Raketen, erst bereit war, nachdem die im Doppelbeschluß von 1979 vorgesehene Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen begonnen hatte. Die Bundesregierung hatte dies schon vor 1983 vorausgesagt. Ohne die Stationierung dieser Waffensysteme bei uns und in anderen westeuropäischen Bündnisländern hätte sich die Sowjetunion dazu mit Sicherheit nicht bereit gefunden.
Herr Scheer, ich kann gar nicht glauben, daß Sie wirklich meinen, was Sie gesagt haben, nämlich es sei der weltweite Protest, der die Sowjetunion dazu veranlaßt hat. Die Sowjetunion hat trotz des weltweiten Protests Woche um Woche eine SS-20 aufgestellt. Die Sowjetunion kümmert sich in Afghanistan nicht um den weltweiten Protest. Ich kann nur sagen, Herr Scheer: Das können Sie nicht ernst gemeint haben.
Nein, erst die Tatsache, daß die Sowjetunion gesehen hat: dieses Bündnis hält zusammen, dieses Bündnis baut eine eigene Option auf, dieses Bündnis hat etwas in der Hand, hat sie überhaupt wieder an den Verhandlungstisch gebracht. Nur dann, wenn Sie am Verhandlungstisch etwas zu bieten haben, können Sie sich auch einigen. Das ist genau das, was passiert ist.
Herr Abgeordneter Dr. Schierholz möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein.Ich muß daran erinnern, daß selbst das weitestgehende Angebot, das die Sowjetregierung für eine Verringerung der Zahl ihrer Mittelstreckenraketen gegenüber Europa bis Ende 1983 gemacht hat,
noch immer 120 SS-20-Raketen mit insgesamt 360 nuklearen Gefechtsköpfen als Angriffspotential gegenüber Westeuropa vorsah.
Die Opposition in der Bundesrepublik Deutschland hatte seit dem Herbst 1982 energisch gefordert, Herr Stobbe, auf die sowjetischen Bedingungen einzugehen und auf den Beginn der Stationierung zu verzichten. Später, nachdem Ende 1983 die Stationierung begonnen hatte, forderte die Opposi-
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Bundesminister Dr. Wörnertion — wie die sowjetische Regierung — eine Unterbrechung der Stationierung und deren Rücknahme.Hätten die westlichen Verbündeten, Herr Stobbe, das getan,
dann wäre die Sowjetunion bei den Forderungen geblieben, die sie inzwischen zurückgenommen hat. Sie hätte ihr Monopol bei den Mittelstreckenwaffen in Europa abgesichert. Eine drastische Minderung der Sicherheit unseres Landes wäre die Konsequenz gewesen.Sie müssen sich einmal vorstellen — das hat der Kollege Rühe völlig zu Recht gesagt —: Die Sowjetunion ist bereit, am Verhandlungstisch weiterzugehen, als die SPD im Augenblick will.
Sie wollen ihr ein Monopol geben. Das ist das, was die Sowjets am Verhandlungstisch gar nicht mehr beanspruchen.
Ich komme noch auf einen weiteren Punkt. Wir alle haben ein Interesse auch an einer Verringerung der Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweiten, und zwar mit gemeinsamen Obergrenzen. Dieses Interesse hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Dregger, völlig zu Recht aufgestellt. Ich weiß gar nicht, warum Sie ihn dafür kritisieren; Sie müßten ihn loben; denn das ist ureigenstes deutsches und europäisches Interesse, und Sie verlangen doch immer, daß deutsches und europäisches Interesse geltend gemacht werden.
Herr Ehmke, Herr Stobbe, Herr Scheer, wir können doch kein Interesse an einer Grauzone haben. Vor allem bedrohen auch diese Raketen unser Land, unsere Bürgerinnen und Bürger. Also brauchen wir auch hier mehr Stabilität.Im Reichweitenbereich zwischen 500 und 1 000 km sehen die amerikanischen Vorschläge Begrenzungen im Zwischenabkommen vor, und wir unterstützen diesen Vorschlag ausdrücklich.
Aber auch im Reichweitenband 150 bis 500 km ist es unser Ziel, die Systeme auf ein niedriges Niveau mit gleichen Obergrenzen zu reduzieren.
Die Bundesregierung hält es deshalb für unverzichtbar, für diesen Bereich die INF-Verhandlungen nach Abschluß eines Zwischenabkommens unverzüglich fortzuführen.
Deshalb muß bereits in das INF-Zwischenabkommen eine solche konkrete Weiterverhandlungsverpflichtung aufgenommen werden. Das ist eine vernünftige Position, die nichts belastet, die nichts torpediert, die nichts erschwert, die aber deutsche Sicherheitsinteressen wahrnimmt
und versucht, auf allen Ebenen mit weniger Waffen ein Gleichgewicht herzustellen, das jedem den Appetit auf einen Krieg vergehen läßt, sollte er ihn haben.
Ich sage hier noch einmal: Ziel unserer Politik ist es, dieses Europa auch in den nächsten Jahrzehnten so zu sichern, daß die Bürgerinnen und Bürger keinen Krieg zu befürchten brauchen und sicher sein können, in Freiheit leben zu können.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich die Aussprache schließen kann.Wir kommen nunmehr zum Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6092. Es ist beantragt worden, diesen Antrag zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß. Weitere Vorschläge gibt es nicht. — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Bevor ich nun zum Tagesordnungspunkt 4 kommen, muß ich, nachdem der Kollege Westphal das Protokoll geprüft hat, Ordnungsrufe erteilen, und zwar an Professor Dr. Ehmke, den Abgeordneten Rühe und den Abgeordneten Dr. Scheer.
Ich nehme an, daß Sie, wenn Sie sich das Protokoll ansehen, viel Verständnis für diese Ordnungsrufe haben werden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages- Drucksache 10/6078 -Berichterstatter:Abgeordneter Dr. Schwenk
Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 10/6078 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer
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Vizepräsident Cronenbergstimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist das einstimmig beschlossen.
— Bei einer Enthaltung beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 6 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verlängerung einer vorläufigen Ausbildungsregelung bei den Berufen des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten— Drucksache 10/5883 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Bildung und WissenschaftBeratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Wisniewski, Frau Männle, Frau Pack, Daweke, Nelle, Rossmanith, Schemken, Schulze , Graf von Waldburg-Zeil und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Neuhausen, Dr:-Ing. Laermann, Kohn, Eimer (Fürth), Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Frau Dr. Segall und der Fraktion der FDPProgramm zur Weiterqualifizierung von Wissenschaftlerinnen durch die Einrichtung von Forschungsstellen auf Zeit— Drucksache 10/5785 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie HaushaltsausschußEine Aussprache ist nicht vorgesehen. Der Ältestenrat schlägt Ihnen Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/5883 und 10/5785 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. So beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für einen Beschluß des Rates über ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Aus- und Weiterbildung im Technologiebereich — COMETT
— Drucksachen 10/3909 Nr. 10, 10/4298 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau PackHier ist ebenfalls eine Aussprache nicht vorgesehen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 10/4298 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:a) Beratung der Sammelübersicht 164 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/6058 —b) Beratung der Sammelübersicht 165 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/6059 — Eine Aussprache ist auch hier nicht vorgesehen.Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der GRÜNEN angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 und den heute morgen aufgesetzten Zusatztagesordnungspunkt auf:Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNENStopp der Rüstungsexporte nach Peru— Drucksache 10/5416 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger AusschußVerteidigungsausschußAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitBeratung des Antrags der Fraktion der SPDSicherung der Kriegswaffenkontrolle— Drucksache 10/6091 —Hier ist interfraktionell eine Beratung von fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden.Das Wort hat der Abgeordnete Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Peru ist seit einigen Jahren eines der Länder mit den schlimmsten und gravierendsten Menschenrechtsverletzungen. Dies war Gegenstand der Untersuchung einer internationalen Menschenrechtskommission unter der Leitung des Friedensnobelpreisträgers Adolfo Perez Esquivel, an der auch der ehemalige Abgeordnete meiner Fraktion Walter Schwenninger damals, im Juli letzten Jahres, teilgenommen hat.Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß es mehr als 7 000 Opfer zu beklagen gebe, daß 2 000 Menschen als verschwunden gelten, daß zahlreiche Frauen vergewaltigt worden sind, Mord und Folter an der Tagesordnung waren.Dies spielt sich in einem abgelegenen Gebiet ab, das dem Blick der Weltöffentlichkeit entzogen ist, nämlich in den Hochregionen der Anden.Der Ort Ayacucho steht für diese staatlichen Übergriffe, auch bei der Verfolgung des aufständischen Sendero Luminoso, des Leuchtenden Pfades. Um überhaupt keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Wir haben mit diesem Sendero Luminoso nicht das geringste gemein. Aber wir müssen genauso hart die Politik des Staates kritisieren, der zu
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VolmerMaßnahmen greift, die völlig unakzeptabel sind und die ebenso staatliche Menschenrechtsverletzungen bedeuten.Auf dem Aachener Katholikentag hat der peruanische Oppositionspolitiker Gustavo Gutierrez diese Problematik auf den Begriff gebracht, indem er sagte: „Ayacucho ist unser Auschwitz." Das Erschreckende an dieser Tatsache — neben den Menschenrechtsverletzungen — müßte für uns sein, daß ein großer Teil dieser Menschenrechtsverletzungen mit deutschen Waffen begangen wird. Im Spiele sind dabei vor allen Dingen die G-3-Gewehre der schwäbischen Firma Heckler & Koch,
Militär-Unimogs und Militärlastwagen der Firma mit dem guten Stern auf allen Straßen. Wenn man das zweifelhafte Glück hat, bis in dieses umkämpfte Gebiet vorzustoßen, wird man auch Radpanzer vom Typ UR 416 finden, eine Gemeinschaftsproduktion von Thyssen, Daimler-Benz und Henschel.Als wir genauere Einzelheiten über Art und Umfang der bundesrepublikanischen Lieferungen erfahren wollten, hat die Bundesregierung nicht geantwortet. Sie hat nur lapidar gesagt, daß sie darüber keine Auskunft geben könne, da sie das Geschäftsgeheimnis wahren müsse.
Jawohl, so makaber es klingt: Das Geschäft mit dem Tod verträgt wohl nur ein geringes Maß an Publizität, wie die Bundesregierung sagte. Wir möchten, daß diese Informationen endlich offengelegt werden, damit die Menschen erkennen, welche blutigen Geschäfte diese Bundesregierung — und übrigens auch die vorhergehende Bundesregierung— deckt oder sogar mit initiiert.
Unsere neuesten Anfragen machen deutlich, daß die Bundesregierung zu den Hauptrüstungsexporteuren der Welt
— auch im letzten Jahr wiederum — gehört.Deutsche G-3-Gewehre waren auch vor einiger Zeit an dem Massaker in den Gefängnissen von Lima beteiligt. In diesem Zusammenhang müssen wir auch Präsident Garcia sehr energisch kritisieren. Denn bereits drei Tage vor diesem schlimmen Ereignis war in der Zeitschrift „El Nuevo Diario" zu lesen, daß die Marine ein Massaker an den Gefangenen plane. Die Opposition wußte das, die Opposition diskutierte das. Ich frage, warum Herr Garcia nicht davon wußte, warum Herr Garcia nicht eingeschritten ist. Auch eine sozialistische oder eine sich als sozialistisch bezeichnende oder eine sozialdemokratische Regierung muß sich hier ganz massive Kritik gefallen lassen. Unsere Frage an Herrn Garcia geht auch dahin, warum er die Verantwortlichen im Staate nicht bestraft. Unseres Erachtens sind die Leute noch ungestraft im Amt. Wenn Herr Warnke in den nächsten Wochen nach Peru fährt, dann sollte er Garcia weniger für seine Heldentat die Hand schütteln, als vielmehr dafür sorgen, daß er — Warnke — sich nicht den Ruf eines Polizeientwicklungsministers einhandelt,
da er j a auch dort wie in Guatemala die Entwicklung der Polizei vorantreiben will.Wir fordern: Es muß Schluß sein mit dem Geschäft mit dem Tod. Wir fordern, daß generell keine Rüstungsexporte mehr genehmigt werden und daß speziell — dies ist Inhalt unseres heutigen Antrags — keine Rüstungsexporte nach Peru genehmigt werden, weil dies unserer Ansicht nach auch auf dem Hintergrund der Gesetzgebung im Bereich des Außenhandels nicht legal sein kann; legitim ist es schon überhaupt nicht. Wir fordern einen Stopp jeder militärischen Zusammenarbeit mit Peru. Wir fordern den Abzug des deutschen Militärattachés von der bundesdeutschen Botschaft in Peru.Ich bitte um Zustimmung zu diesem Antrag.
Das Wort hat der Abgeordnete Lattmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Vorredner hat den hier vorliegenden Antrag mit einer Reihe von Halb- und Unwahrheiten und darauf gegründeten Unterstellungen, wie wir sie in diesem Zusammenhang häufig gehört haben, begründet.
Die CDU/CSU lehnt diesen Antrag ab.
Er ist nicht geeignet, dem Ziel, das zu erreichen die Antragsteller vorgeben, nämlich die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen, auch nur annähernd gerecht zu werden. Hier — wie auch bei anderen Diskussionen über Menschenrechte oder auch über Fragen der Sicherheitspolitik — zeigt sich ein fataler Denkansatz, der nicht bei den Ursachen der Konflikte ansetzt, sondern sich auf die Instrumente konzentriert, mit denen sie ausgetragen werden. Wer, wie Sie es tun, ständig nur über Waffen lamentiert, der erweckt den völlig falschen Eindruck,
als seien mit ihrer Abschaffung auch die Konflikte aus der Welt.
— Wenn Sie Ihre Erregung einen Augenblick zügeln könnten, dann könnte ich meine Überlegungen hier in Ruhe vortragen. — Wenn man sich, wie Sie es tun, nur auf Waffen konzentriert, dann ist das keine Politik zur Lösung von Problemen, sondern es ist letzten Endes nichts anderes als reine Erbsenzählerei.
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18202 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
LattmannZur Lage in Peru selbst. In der Tat — das ist in vielen Verlautbarungen deutlich geworden —, hier herrscht Bürgerkrieg. Die dortige Terrororganisation, die sich als „Leuchtender Pfad" bezeichnet, kämpft gegen eine demokratisch gewählte Regierung. Über Art und Umfang der bei den schweren Kämpfen in den Notstandsgebieten begangenen Menschenrechtsverletzungen gibt es nur unzureichende Informationen. Das gilt auch für den Bericht von amnesty international, der sich zu einem erheblichen Teil auf die Angaben Betroffener stützt und deshalb mit aller Vorsicht zu kommentieren ist. Das hier soeben auch zitierte Beispiel der verschwundenen Menschen ist zwar von den Zahlen her möglicherweise richtig, aber es wird dabei übersehen, daß nicht geklärt ist, auf welche Art und Weise die Menschen verschwunden sind. Es steht also keineswegs fest, daß das auf Grund der Maßnahmen der Sicherheitsorgane geschehen ist.Richtig ist, daß es nicht nur auf Seiten der Terroristen, die mit äußerster Brutalität vorgehen, sondern auch auf Seiten der Sicherheitskräfte Menschenrechtsverletzungen gegeben hat. Festzuhalten bleibt jedoch auch, daß sich die Regierung des Präsidenten Garcia eindeutig zur Einhaltung der Menschenrechte bekannt hat. Sie hat sofort nach Veröffentlichung des Berichts von amnesty international erklärt, daß sie gewillt sei, Gesetzesverstöße von Ordnungskräften zu untersuchen und unnachsichtig zu verfolgen. Dies ist in den uns bekannten Fällen auch geschehen. Das heißt natürlich nicht, daß in Peru in dieser Hinsicht nun keine Probleme mehr bestünden.Wir bitten die Bundesregierung sehr nachhaltig darauf einzuwirken, daß die Verantwortlichen alles tun, um Menschenrechtsverletzungen unmöglich zu machen. Aber es wäre eben genau der falsche Weg, eine demokratische Regierung, die ja zum Handeln entschlossen ist und auch handelt,
nun mit Strafaktionen und Boykottmaßnahmen zu belegen.Im übrigen hält das hier entworfene Horrorgemälde von den großen Waffenlieferungen der Bundesrepublik keiner Überprüfung stand. Der Umfang der Waffenlieferungen ist äußerst gering. Die großen Zahlen, die hier immer genannt werden, kommen dadurch zustande, daß zwei U-Boot-Lieferungen mit einbezogen werden; daß diese aber in keinem Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen stehen, muß man hier nicht gesondert erläutern.
Im übrigen kann man all denen, denen die Dinge nicht schnell genug gehen, nur empfehlen, sich einmal unvoreingenommen mit der äußerst komplizierten Situation in Lateinamerika vertraut zu machen. Dort ist eben die Einhaltung von Menschenrechten nicht so leicht durchzusetzen wie in dengeordneten Rechtssystemen und der fortgeschrittenen Gesellschaftsordnung in Westeuropa.
Ich möchte zum Schluß ein paar Bemerkungen, auch auf Grund der Zwischenrufe, zu der moralischen Qualität dieses Antrages machen, die immer wie ein Banner vorweggetragen wird.Hier werden Menschenrechtsverletzungen der staatlichen Organe gegeißelt, wenn sie stattgefunden haben, zu Recht, wie ich ausdrücklich sagen möchte. Die terroristischen Aktivitäten werden dagegen kaum erwähnt. Aber dies kennen wir ja aus vielen Diskussionen. Aus Nicaragua kennen wir das beispielsweise ganz anders.
Menschenrechtsverletzungen durch die Staatsorgane dort werden stillschweigend hingenommen. Nein, schlimmer noch: Das menschenrechtsverletzende Regime der Sandinisten findet nachhaltige Unterstützung durch zahlreiche rote und grüne Brigaden auch aus der Bundesrepublik.
Ihr Thema sind also nicht Menschenrechtsverletzungen generell, sondern es kommt lediglich darauf an, wer sie begeht. Ich sage Ihnen: Wer so handelt, wer mit Menschenrechtsverletzern, wie Sie es in vielen Fällen tun, kollaboriert, der ist nicht besonders glaubwürdig, wenn er andere in diesem Zusammenhang anklagt.
Das Wort hat der Abgeordnete Bindig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Militarisierung der Dritten Welt nimmt ständig zu.
Die Industrieländer, darunter die Bundesrepublik Deutschland, tragen mit dem Export von Kriegswaffen zu dieser Militarisierung erheblich bei.
Wir wissen, daß durch den Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern in Ländern der Dritten Welt innere Konflikte zum Teil hervorgerufen und zum Teil verschärft werden können.
Sie binden Mittel, die für die Entwicklung des Landes dringend benötigt werden. Sie belasten die Devisenbilanz der Entwicklungsländer, und sie tragen zu einer Militarisierung der dortigen Gesellschaft
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18203
Bindigerheblich bei. Peru ist ein besonderes Beispiel, sowohl in der Verschuldensfrage als auch bei den Menschenrechtsverletzungen.In Peru gibt es Menschenrechtsverletzungen in den letzten Jahren in einem Ausmaß, wie sie dort in der jüngeren Geschichte noch nicht bekannt waren. Diese Menschenrechtsverletzungen treten vor allem bei der Auseinandersetzung zwischen den Regierungskräften und der Guerillaorganisation Sendero Luminoso auf. Die Sendero Luminoso entführt Einzelpersonen und ermordet sie im Stile öffentlicher Hinrichtungen. Sie ist zu systematischen Tötungen von Angehörigen der Sicherheitskräfte übergegangen. Die verantwortlichen Regierungskräfte üben ebenfalls brutale Aktionen aus. Hunderte von Morden sind bekannt. Tausende Menschen sind verschwunden. Besonders abschreckend war das Gemetzel der verschiedenen Polizei- und Militäreinheiten bei den Gefangenenaufständen in den drei Gefängnissen Limas vom 17. Juni 1986. Hier stand mehr der Gesichtspunkt der Rache im Hintergrund der Aktionen der Regierungskräfte als die Absicht der Wiederherstellung der Ordnung. Die Brutalität der peruanischen Militärs triumphiert auch jetzt noch oft in Peru.Wir sind der Auffassung, daß jede Tötung oder Folterung von Gefangenen zu mißbilligen ist, unabhängig davon, ob sie von Regierungskräften oder Angehörigen irgendwelcher Revolutionsgruppen unternommen werden. Mord kann nicht der Weg des Friedens sein. Mord kann nicht ein Weg sein, eine soziale Veränderung zu erreichen.
Der demokratisch gesinnte und demokratisch orientierte Präsident des Landes ist zwischen den Kräften der äußersten Linken und der Rechten in einer sehr schwierigen Situation. Er bemüht sich um die Aufklärung dieser Menschenrechtsverletzungen,
und er hat bereits viele verantwortliche Militärs von ihren Positionen abberufen. Gerichtsprozesse sind im Gang, wenn auch nicht vor den zivilen Gerichten, sondern vor den Militärgerichten.Für uns ist das Beklemmende, daß wir festhalten müssen, daß die Bundesrepublik Deutschland indirekt bei diesen Menschenrechtsverletzungen dadurch beteiligt ist, daß sie durch die Tatsache, daß in Peru deutsche Waffen vorhanden sind, dort die Fähigkeit gestärkt hat, Menschenrechtsverletzungen vorzunehmen.
Wir haben deshalb gesagt, daß man diese Fragen nicht länderspezifisch, sondern generell lösen muß. Wir sind der Auffassung, daß dem Verfassungsgebot zur Kriegswaffenkontrolle zukünftig durch ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen der Genehmigungsverantwortung der Exekutive und einer wirksamen Kontrolle durch das Parlament Rechnung getragen werden soll. Wir wollen, daß die Institution eines Beauftragten des Deutschen Bundestages für die Kriegswaffenkontrolle geschaffen wird.
Wir sind der Auffassung, daß in die Länderliste zum Kriegswaffenkontrollgesetz nur die Mitgliedstaaten der OECD aufgenommen werden sollen. Die Länderliste soll nur durch eine Novellierung des Kriegswaffenkontrollgesetzes ausgeweitet oder eingeschränkt werden können. Dabei sollen die Lage der Menschenrechte und entwicklungspolitische Kriterien besonders beachtet werden. Waffenexporte sollen in solche Länder nicht zulässig sein, in deren Gebiet ein bewaffneter Konflikt herrscht, ein solcher auszubrechen droht oder sonstige gefährliche Spannungen bestehen. Wir sind der Auffassung, daß die öffentliche Werbung für Kriegswaffen verboten werden sollte.Diese Grundsätze haben wir in unseren Entschließungsantrag noch einmal niedergelegt. Wir hoffen, daß dieser Entschließungsantrag bei den Beratungen in den Ausschüssen die Unterstützung auch der anderen Fraktionen finden wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der GRÜNEN hier erinnert mich sehr stark an die Witwe Bolte, die ebenfalls eine spezielle Vorliebe für aufgewärmte Dinge hatte.
Sie kommen immer wieder mit denselben Anfragen. Sie haben die Bundesregierung in dieser Angelegenheit schon mehrfach befragt. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit detailliert und eindeutige Stellung genommen.
— Ich muß Sie fragen, Herr Volmer, ob Sie uns hier alle für so wenig aufmerksam halten, daß wir Ihre Auffassung zu diesem Thema nicht bereits zur Kenntnis genommen hätten
und daß wir auch nicht zur Kenntnis genommen hätten, wie Sie zu der Organisation „Leuchtender Pfad" und ihren auch nach unserem Rechtsverständnis terroristischen Aktivitäten stehen.
Wir haben zur Kenntnis genommen, daß Sie nicht daran interessiert sind, die Demokratisierungsbestrebungen in Peru zu unterstützen,
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18204 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Beckmannund daß Sie nicht daran interessiert sind, den gemäßigten Kräften in Peru die Chance einzuräumen, ein demokratisches System zu installieren.
Sie wollen einfach nicht anerkennen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, daß die peruanische Regierung gewillt und auch dazu in der Lage ist — das hat die Vergangenheit gezeigt —, die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu stellen und abzuurteilen.
Sie wollen nicht anerkennen, daß diese Regierung auf diesem Weg bereits einige Erfolge erzielt hat. Das haben insbesondere die Fälle um die schlimmen Vorkommnisse in dem Dorf Accomarca und im Gefängnis von Lurigancho gezeigt. Hier hat sich auch bestätigt, daß die peruanische Regierung fest dazu entschlossen ist, auch gegenüber den eigenen Ordnungskräften und nicht nur in Fällen derart exzessiver Übergriffe, sondern auch in allen anderen Fällen von Menschenrechtsverletzungen durchzugreifen.Die Politik der GRÜNEN zeugt einfach von einem Mangel an außenpolitischem Gespür, von einem Mangel an Wissen,
vielleicht aber auch von dem Mangel an Willen, in Mittel- und Südamerika — von Nicaragua natürlich abgesehen — überhaupt eine Regierung als legitim anzuerkennen.Schlimm ist, daß Sie vor den Augen der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versuchen, wir Deutschen würden Peru mit Unmengen von Waffen und Kriegsmaterial beliefern,
würden sozusagen dieses Land mit Waffen vollstopfen.
Tatsache ist z. B., daß der größte Einzelposten in letzter Zeit ein Verkauf von 500 Ehrensäbeln an die peruanische Armee war.
Sie wollen hier offensichtlich den Eindruck erwecken, daß wir Deutschen — das ist hier eben ausgedrückt worden — damit indirekt an den bekanntgewordenen Menschenrechtsverletzungen in Peru beteiligt,
zumindest aber moralisch dafür verantwortlich seien.
— Das ist, Herr Kollege Bindig, nicht nur geschmacklos, das ist grotesk.
Es ist auch ein Beispiel für Ihre infamen Versuche, politische Tatsachen zu verdrehen
und Wahrheiten einfach mit lockerer Hand vom Tisch zu wischen.
Wollen Sie nun bitte einmal zur Kenntnis nehmen, daß diese Waffenlieferungen von den zuständigen deutschen Stellen ordnungsgemäß genehmigt wurden.
— Orientieren Sie sich doch vielleicht ausnahmsweise an der geltenden Rechtslage. — Das heißt also, daß auf der Grundlage der hierfür bestehenden restriktiven Grundsätze der Bundesregierung
die Exporte von Kriegswaffen vorgenommen wurden.Ich möchte Sie im übrigen auch darauf hinweisen, daß nicht, wie von Ihnen behauptet, im Jahre 1983 240 Millionen Dollar aufgewendet wurden, sondern diese Summe den Zeitraum von 1979 bis 1983 betrifft. Das macht schon einen Unterschied. Darüber hinaus muß auch klargestellt werden, daß der weitaus größte Teil dieser Summe — das ist auch eben schon vom Kollegen Lattmann gesagt worden— auf vier U-Boote entfällt, die die HDW in Kiel in den Jahren 1979 bis 1983 an die peruanische Regierung geliefert hat. Von sechs U-Booten im Jahre 1985 ist nichts bekannt.
— Sie haben in Ihrem Antrag von U-Booten gesprochen, wenn ich das richtig gesehen habe. Offensichtlich handelt es sich dabei um so eine Art von Yellow Submarine, das nur in Ihrer Phantasie vorhanden ist.
Ich möchte noch einmal nachdrücklich darauf hinweisen, daß wir durch die Überarbeitung der Richtlinien und Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern die Voraussetzung geschaffen haben, die Ausfuhr derartiger Güter noch restriktiver als bisher zu handhaben.Meine Damen und Herren, die Liberalen werden den von der Bundesregierung eingeschlagenen Weg, die genannten Demokratisierungsbestrebungen der peruanischen Regierung zu unterstützen, mittragen. Wir halten dies für den besseren Weg, für besser jedenfalls, als Peru, wie von Ihnen, den GRÜNEN, vorgeschlagen, durch diplomatische
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18205
BeckmannMaßnahmen von anderen demokratischen Staaten, auf deren Hilfe Peru angewiesen ist, zu isolieren.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sowohl der von der SPD vorgelegte Antrag wie auch der Antrag der GRÜNEN bedeutet tatsächlich eine Wiederholung von Anträgen, die wir hier schon diskutiert haben. In der Sachverhaltsschilderung gibt es hier nichts Neues.
Ich will zum Antrag der SPD sagen, daß wir schon vor einem Jahr im Plenum und in den Ausschüssen eine eingehende Diskussion darüber gehabt haben. Mir sind keine neuen Gesichtspunkte bekanntgeworden, die zwischenzeitlich eine andere Beurteilung erlauben würden, als sie in der damaligen Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages zum Ausdruck gekommen ist.Die Bundesregierung hält am Prinzip der Einzelfallentscheidung fest. Sie hält dies für sachgerechter als die Festlegung von Länderlisten. Nur so ist eine Würdigung der Umstände des Einzelfalls möglich. Ich will dabei nur auf einen Gesichtspunkt aufmerksam machen, der auch bei der Behandlung des Antrags der GRÜNEN eine Rolle spielt, daß es auch anderen Staaten nicht verwehrt werden kann, das für sich in Anspruch zu nehmen, was wir für uns selbst in Anspruch nehmen, nämlich die Sicherung gegen die Bedrohung von außen. Insofern wollen wir anderen Ländern die für notwendig erachteten Mittel für die Selbstverteidigung nicht generell verweigern, weil wir sie j a notgedrungen auch für uns selbst in Anspruch nehmen müssen.
Die Sachverhalte, die die GRÜNEN in ihrem Antrag zur Sprache gebracht haben, sind in zwei Antworten auf Kleine Anfragen der GRÜNEN hier im Bundestag ausführlich dargestellt worden. In Peru haben im April 1985 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Im Juli letzten Jahres hat der neue Präsident sein Amt angetreten. Beide Vorgänge haben sich in demokratischer Weise vollzogen — ein bedeutsames Ereignis, das natürlich in die Würdigung, in die Beurteilung der Lage in Peru eingehen sollte. Gegen diese demokratische Ordnung kämpft die Guerillaorganisation Sendero Luminoso mit terroristischen Aktivitäten. Es ist aber selbstverständlich — und da sind wir einer Meinung —, daß bei Wahrnehmung des unbestrittenen Rechts einer Regierung auf Verteidigung einer demokratischen Ordnung die Menschenrechte beachtet werden müssen, und zwar auch von dieser Regierung.
Der peruanische Staatspräsident Garcia hat wiederholt die strikte Wahrung der Menschenrechte als ein zentrales Anliegen seiner Regierung hervorgehoben. Es ist nicht überall so, daß dieses zentrale Anliegen ausdrücklich hervorgehoben wird. Gegen bekanntgewordene Menschenrechtsverletzungen ist diese Regierung eingeschritten. Inwieweit es bei den Vorgängen in den Gefängnissen Lurigancho und El Fronton zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, ist Gegenstand einer Untersuchung, die noch nicht abgeschlossen ist. Die Behauptung, in Peru hätten die Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe in den letzten vier Jahren weiter zugenommen, ist zumindest nach den uns vorliegenden Informationen für das Jahr der Regierung Garcia unrichtig; vielmehr hat die Zahl der Menschenrechtsverletzungen mit dieser Regierung abgenommen.Zur Frage der Lieferung deutscher Rüstungsgüter nach Peru ist festzustellen, daß es in der Vergangenheit jeweils nach gründlicher Prüfung des Einzelfalles Genehmigungen gegeben hat. Ich verweise auf die ausführliche Darlegung dieser Genehmigungspraxis in der Beantwortung von Kleinen Anfragen.Ich füge hinzu, daß es wirklich eine Illusion wäre, anzunehmen, daß es dann, wenn es etwa keine deutschen Gewehre gegeben hätte, deren Lieferung nach Peru in den vergangenen Jahren genehmigt worden ist, in Peru Gewehre, mit denen geschossen wird, nicht gäbe. Deshalb ist es wirklich eine Verfälschung der Realität, die Debatte sozusagen am Instrument aufzuhängen und den Eindruck zu erwekken, der Einsatz des Instruments sei eigentlich ursächlich für das Unglück.
Im übrigen haben die deutschen Rüstungslieferungen nach Peru bei weitem nicht den Umfang, wie er im vorliegenden Antrag dargestellt worden ist. Dem humanen Anliegen des Antrages der GRÜNEN würde mehr Rechnung getragen, wenn in diesem Antrag nicht mit falschen Zahlen gearbeitet würde. Wie hier mit Zahlen umgegangen wird, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise, mit der die Fraktion der GRÜNEN bestimmte Sachverhalte recherchiert und präsentiert.
Darauf ist ja schon hingewiesen worden. Danach soll die Bundesrepublik Deutschland allein im Jahre 1983 für 240 Millionen Dollar Rüstungsgüter und außerdem im Jahre 1985 sechs U-Boote nach Peru geliefert haben; so wörtlich in diesem Antrag. Das ist eindeutig falsch.Tatsache ist — das läßt sich mühelos in dem im Antrag zitierten Jahresbericht der ACDA nachlesen, läßt sich also in dem von Ihnen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, selbst zitierten Bericht nachlesen —, daß sich die 240 Millionen Dollar nicht auf 1983, sondern kumulativ auf den Zeitraum
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18206 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Parl. Staatssekretär Grüner1979 bis 1983 beziehen und daß die U-Boote nicht etwa im Jahre 1985 noch hinzukommen, sondern in dem genannten Betrag von 240 Millionen Dollar enthalten sind. Es hat im übrigen nicht, wie in diesem Antrag wörtlich behauptet wird, U-Boot-Lieferungen im Jahre 1985 gegeben.Ich fasse zusammen: Etwaige deutsche Rüstungsexporte nach Peru kommen nur nach sorgfältiger Prüfung des jeweiligen Einzelfalles und unter Wahrung der gesetzlichen Vorschriften und der rüstungsexportpolitischen Grundsätze in Betracht. In diese Prüfung wird auch die innere Lage des Empfängerlandes einbezogen.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Aussprache kann geschlossen werden.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Antrages auf der Drucksache 10/5416 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor.
Die Antragsteller wünschen, daß auch der Antrag auf der Drucksache 10/6091 an diese Ausschüsse überwiesen wird.
Werden andere Vorschläge gemacht? — Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes
— Drucksache 10/5863 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Im Ältestenrat ist eine Aussprachezeit von 30 Minuten vereinbart worden. — Widerspruch dagegen erhebt sich nicht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein wesentlicher Bestandteil unserer durch die Bundeswehr garantierten Verteidigungsbereitschaft innerhalb des NATO-Bündnisses ist — das war hier in diesem Hause in der Vergangenheit, zumindest bis zum Einzug der GRÜNEN, keine Frage — die allgemeine Wehrpflicht.
225 000 junge Männer leisten in jedem Jahr ihren Grundwehrdienst, und in dieser Zeit — heute sind es 15 Monate; demnächst, ab 1989, werden es 18 sein —
sind sie gezwungen, ihre persönlichen Ziele — ob in der Familie, ob im Beruf oder in der Ausbildung bzw. im Studium — zurückzustellen. Machen wir uns dabei nichts vor: Für einen jungen Menschen, der dabei ist, sein Leben aufzubauen, die Grundlagen für sein Leben zu schaffen, sind 11/4 und demnächst 11/2 Jahre ein erheblicher Einschnitt. Ichglaube, wir alle in Gesellschaft und Staat sind deshalb dazu aufgefordert, dieser Leistung junger Menschen, der Leistung der Wehrpflichtigen für die Erhaltung von Frieden und Freiheit, die entsprechende Anerkennung zu verschaffen. Ich will es ganz klar sagen: Gefordert ist hier einmal eine Anerkennung in geistig-moralischer Hinsicht und zum zweiten natürlich auch — das macht die erste erst glaubwürdig — in materieller Hinsicht.Diese Zielsetzung ist der Ansatz, den die Koalition mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf zur Änderung des Wehrsoldgesetzes verfolgt. Dieser Ansatz ist es, der der Änderung zugrunde liegt.Meine Damen und Herren, wir überlegen seit Jahren — das gilt für die Regierungszeit der SPD und das gilt für unsere Regierungszeit —, wie wir einen Ausgleich der Nachteile derer, die Wehrdienst oder auch Zivildienst leisten, gegenüber denjenigen herstellen können, die zu den nach wie vor immer noch 40% gehören, die zu keinem der Dienste herangezogen werden. Ein Patentrezept hat es hier in der Vergangenheit nicht gegeben und wird es auch in Zukunft nicht geben; aber ich glaube, daß mit diesem Gesetzentwurf zum erstenmal ein guter Versuch unternommen wird, Nachteile in materieller Hinsicht auszugleichen.Der Nachteil, den man allgemein in der Größenordnung von im Schnitt mindestens 20 000 DM quantifiziert, bezogen auf 15 Monate, und der in Zukunft ab 1989 bei 18 Monaten noch größer einzuschätzen ist, wird durch die Veränderung des Gesetzentwurfs ein Stück behoben. Der Deutsche Bundeswehr-Verband überschreibt einen Bericht über die im Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen in seiner Zeitschrift „Die Bundeswehr" Nr. 8/1986 mit den Worten „Besser als erwartet". Wenn man berücksichtigt, daß der Bundeswehr-Verband die ihm eigene und für ihn notwendige kritische Rolle einnehmen muß, dann ist die Überschrift „Besser als erwartet" im Prinzip nichts anderes als ein gutes Lob für die Bundesregierung und die sie tragende Koalition.Der Kern der Änderung des Wehrsoldgesetzes ist ein Dreistufenplan. Ich glaube, das beste an dieser dreistufigen Lösung ist die Flexibilität, ist das Entgegenkommen gegenüber den neuen Anforderungen, insbesondere ab 1989, aber auch schon jetzt, für die jungen Soldaten. Ich meine, daß wir im Vergleich zu der von der SPD zu verantwortenden Regierungszeit hervorragend abschneiden. Solange die SPD regierte, hat sie die Soldaten weniger großzügig behandelt. Von 1974 bis 1978 mußten die Grundwehrdienstleistenden vier Jahre auf eine Wehrsolderhöhung warten. Von 1978 bis 1981 waren es dreieinhalb Jahre, und das Ganze spielte sich bei einer Geldentwertungsrate von 5 bis 74)/0 ab. Heute, bei stabilem Geld, passen wir an, zunächst nach einem Zeitraum von zweieinviertel Jahren, dann bis 1989 in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren. Das zeigt, meine Damen und Herren: Wir nehmen die Fürsorge für die Soldaten genauso ernst wie die allgemeine Wehrpflicht selbst.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18207
BreuerIch bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Steiner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der uns von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes war längst überfällig. Das widerlegt, Kollege Breuer, das, was Sie gerade gesagt haben. Das, was dazu heute in erster Lesung zu protokollieren ist, hätte längst Archivmaterial sein können, wenn die Bundesregierung ihre eigenen Aussagen auch zur Grundlage ihres Handelns gemacht hätte. Der Minister betont zwar immer, die Sorge um die Soldaten stehe im Mittelpunkt aller seiner Überlegungen, aber seitdem er das sagt, stehen ihm die Soldaten ständig im Wege.Die SPD-Fraktion drängt seit Ende 1985 auf einen zeitgerechten Ausgleich
der wirtschaftlichen und finanziellen Nachteile, denen Wehrpflichtige und Zivildienstleistende auf Grund der seit der letzten Wehrsoldanhebung am 1. Oktober 1984 eingetretenen Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse ausgesetzt sind.
Ich möchte daran erinnern, daß die Koalitionsfraktionen im Parlament vor Jahresfrist einen Entschließungsantrag der SPD-Fraktion abgelehnt haben, mit dem die Erhöhung des Wehrsoldes spätestens zum 1. Oktober 1986 angemahnt werden sollte. Wir haben dann einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, der eine Erhöhung des Wehrsoldes und des Entlassungsgeldes zum 1. Juli 1986 vorsah.Wir hätten uns im Interesse unserer wehrpflichtigen Soldaten, von denen Sie gerade gesprochen haben, Herr Kollege Breuer, und der Zivildienstleistenden gewünscht, die Koalitionsfraktionen hätten sich zumindest zu dem Kompromiß, den Wehrsold zum 1. Oktober 1986 zu erhöhen, durchringen können. Zuwenig Geld im Verteidigungshaushalt kann ja wohl nicht der Grund für Ihre Untätigkeit gewesen sein.
Denn für zusätzliche, nicht eingeplante Beschaffungen wurden über Nacht — und das noch vor der Sommerpause — Beträge in Milliardenhöhe ohne hinreichende Begründung und ohne sorgfältige und gewissenhafte Beratung im Fachausschuß und damit fast am Parlament vorbei ausgegeben.Meine Damen und Herren, obwohl bis heute weder bei der CDU/CSU noch bei der FDP eine Kompromißbereitschaft oder eine Übereinstimmung in der Zielsetzung erkennbar geworden ist, den Wehrsold rechtzeitig, d. h. zeitgerecht zu erhöhen und zu handeln, zieht die SPD-Fraktion ihren Antrag zurück. Unsere Initiativen haben immerhin dazu beigetragen, daß die längst überfällige Wehrsolderhöhung offenbar zumindest zum 1. Januar 1987 vollzogen werden soll. An uns wird es nicht liegen.
Wir sind für eine zügige Beratung und werden, um weitere Verzögerungen zu vermeiden, dem Gesetzentwurf sicherlich zustimmen.Ich bedaure für die SPD-Fraktion jedoch nochmals, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen die Leistung der Wehrpflichtigen und der Zivildienstleistenden, die diese für die Verteidigung unseres Landes so wichtige Aufgabe wahrnehmen, nicht entsprechend gewürdigt haben. Unsere Wehrpflichtigen, insbesondere jene, die auf Grund ihres heimatfernen Einsatzes besonders beansprucht sind, hätten eine andere, ich meine, eine bessere Behandlung verdient. Ihre Dienstleistung ist nicht so selbstverständlich, wie sie von Ihnen immer hingestellt wird, und sie ist in vielen Fällen nur unter großen persönlichen Opfern zu erbringen. Trotzdem ist die Bereitwilligkeit, Wehrdienst zu leisten, im großen und ganzen vorhanden. Das hätte auch durch eine zeitgerechte Erhöhung des Wehrsoldes anerkannt werden können. Die Voraussetzungen dafür waren denkbar günstig.Damit es keine Mißverständnisse oder Fehldeutungen gibt, erkläre ich für die SPD-Fraktion: Wir wissen, daß wir mit der von uns in Aussicht gestellten Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf gewissermaßen auch die Zustimmung zu der Erhöhung des Entlassungsgeldes ab 1989 für die Wehrpflichtigen geben müssen, die dann nach dem Willen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion 18 Monate zu dienen haben.
Nun, wir sind für eine Erhöhung des Wehrsoldes und nehmen deshalb in Kauf, daß die Entlassungsgelder vorübergehend auf eine 18monatige Dienstzeit ausgerichtet sind. Dies bedeutet nicht, daß die SPD-Fraktion damit auch nur andeutungsweise nachträglich ihr Einverständnis zu einer Verlängerung der Wehrpflicht von 15 auf 18 Monate erklärt.
Wir haben die unnötige — ich betone: unnötige — Verlängerung der Wehrpflicht leider nicht verhindern können. Wir wollen aber nicht dazu beitragen, daß sich daraus weitere Nachteile für unsere wehrpflichtigen jungen Männer ergeben. Wir lassen auch keinen Zweifel daran aufkommen, daß wir nach der Bundestagswahl am 25. Januar 1987 die Wehrpflichtverlängerung wieder rückgängig machen werden. Damit ist dann automatisch eine Korrektur des Entlassungsgeldes verbunden, daß sich dann wieder an einer Grundwehrdienstzeit von maximal 15 Monaten ausrichten wird.
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18208 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Steiner— Gedulden Sie sich, und nehmen Sie das ernst, was ich gerade gesagt habe.
Die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angesprochene Erhöhung des Wehrsoldes für Einheiten und Teileinheiten, in denen ein Dienstzeitausgleich zu zahlen ist, wird von uns ebenfalls korrigiert werden.Ich muß Ihnen sagen: Ich schäme mich als Parlamentarier, insbesondere als Mitglied des Verteidigungsausschusses, daß aus einem mehr als vier Jahre dauernden Ringen um eine angemessene Lösung des Dienstzeitproblems eine Erhöhung von sage und schreibe einem Groschen pro Tag für die Wehrpflichtigen herausgekommen ist.
Für uns Sozialdemokraten ist die Gewährung von Anerkennungsgroschen für hohe Dienstzeitbelastungen keine Lösung des Problems. Wir werden die Überstunden durch die gesetzliche Regeldienstzeit von wöchentlich 40 Stunden durch Reduzierung nicht unbedingt notwendiger Dienste und durch Abfeiern von Überstunden begrenzen.
Eine Überstundenvergütung wird nur dann gezahlt werden, wenn Überstunden nicht abgefeiert werden können. Dabei denken wir an eine Bewirtschaftung der dafür begrenzt einzusetzenden Mittel aus Korpsebene. Es geht den Soldaten nicht um Überstundengroschen, sondern um wohlverdiente Freizeit.Wir geben uns auch nicht mit der lapidaren Aussage auch des Verteidigungsministers zufrieden, wonach die Dienstzeit der Soldaten nur durch den militärischen Auftrag bestimmt ist. Wir stimmen auch seiner abenteuerlichen Definition über das Dienen nicht zu, die er jetzt im Ausschuß gegeben hat. Wer so wie Dr. Wörner denkt und handelt, verfügt weiterhin über die Freizeit der Soldaten nach Gutsherrenart.Lassen Sie uns dieses Thema bei der Beratung des Wehrsoldgesetzes im Fachausschuß noch einmal aufgreifen. Wir haben die Chance, einen Beitrag zur Stärkung der Motivation unserer Wehrpflichtigen zu leisten, noch nicht gänzlich vertan.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte dem Kollegen Steiner einen Glückwunsch aussprechen: Sie sind innerhalb von acht Tagen der zweite Redner Ihrer Fraktion, der das Kunststück fertigbringt, einen Gesetzentwurf in Grund und Boden zu verdammen, um gegen Ende seiner Rede zu begründen, warum er ihn trotzdem annimmt. Sie sollten einenKlub von Abgeordneten gründen, die diese Kurve hier vorgetanzt haben.
— Lieber Herr Ehmke, die Beurteilung darüber, wer da Vorsitzender wird, wollen wir mal anderen überlassen.Es ist ja wirklich befriedigend, daß alle sagen: Wir wollen diesem Gesetzentwurf zustimmen. Er ist eilbedürftig. Wir wollen, daß er am 1. Januar 1987 in Kraft tritt. Wir wollen, daß die Verbesserungen, die dieser Gesetzentwurf für die Wehrpflichtigen und für alle Wehrsoldgruppen enthält, zu Beginn des kommenden Jahres wirksam werden.Es ist schon gesagt worden, daß die letzte Erhöhung am 1. Oktober 1984 stattfand. Der Sold ist nicht sehr üppig; man kann wirklich nicht sagen, daß er üppig ist. Unsere Soldaten leisten einen verantwortungsvollen Dienst. Damit meine ich nicht nur, daß sie eine besondere Verantwortung übernehmen, sondern auch, daß sie eine besondere Verantwortung haben für die Verteidigungsfähigkeit unserer Gesellschaft, für die Verteidigung unserer Rechte, unserer Freiheiten und unserer nationalen Existenz.Darum sind wir bereit, den Wehrsold aufzubessern, und zwar nicht etwa zähneknirschend, sondern wir wollen diesen Gesetzentwurf so zügig und so schnell wie möglich zu geltendem Recht machen. Dazu gehören die Anhebung des Wehrsoldes in allen Gruppen um eine Mark täglich, die Erhöhung der besonderen Zuwendungen und nach der Verlängerung des Wehrdienstes ab 1. Juni 1989 eine weitere strukturelle Anhebung der Wehrsoldtagessätze um Beträge bis zu 6 DM.Ein weiteres Anliegen dieses Entwurfs ist die Anhebung des Entlassungsgeldes sowohl für Grundwehrdienstleistende wie auch für Zivildienstleistende auf 2 500 DM bzw. für Verheiratete auf 2 800 DM nach Ableistung des 18monatigen Grundwehrdienstes. Die Begründung, die der Gesetzentwurf dazu bringt, ist, daß das erhöhte Entlassungsgeld die Mehrbelastungen berücksichtigen soll, die sich aus der Verlängerung des Grundwehrdienstes ergeben.Zu dieser Begründung steht in einem gewissen Gegensatz die Entscheidung, die Sie bei dieser Gelegenheit treffen wollen, nämlich die Bemessung des Entlassungsgeldes von der bisherigen Pro-ratatemporis-Berechnung, also nach Maßgabe der Dauer der Dienstzeit, auf einen gemeinsamen Pauschalbetrag anzuheben, was natürlich für die Zivildienstleistenden eine Benachteiligung bedeutet, weil sie ja in Zukunft, wenn die Verlängerung in Kraft tritt, einen um immerhin sechs Monate längeren Dienst abzuleisten haben. Das ist ein Punkt, über den wir in der Ausschußberatung reden müssen und reden wollen, weil wir der Auffassung sind, daß auch die Zivildienstleistenden für unsere Gesellschaft einen wichtigen Dienst leisten, bei dem wir sie nicht über das, was sie ohnehin als längere Zeit leisten müssen, benachteiligen wollen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18209
Dr. HirschIch denke also, das ist ein Punkt, über den wir uns im Ausschuß verständigen können ungeachtet unserer gemeinsamen Absicht, diesen Gesetzentwurf so rechtzeitig in Kraft treten zu lassen, daß die Verbesserungen ab 1. Januar wirksam werden können.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Rusche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch heute — das ist j a nicht die einzige Debatte, die wir haben — werden wir über die Erhöhung der Diäten der Bundestagsabgeordneten in diesem Hause diskutieren. Angesichts der ca. 1 000 DM — es sind knapp unter 1 000 DM —, die sich die Abgeordneten in den letzten vier Jahren mehr gegönnt haben, ist der Betrag, den Sie den jungen Männern, die Sie zum Dienst an der Waffe verpflichtet haben
und den Zivildienstleistenden zukommen lassen wollen, viel zu bescheiden.
Tausende von jungen Männern werden durch Ihre Gesetzgebung zu einem Dasein gezwungen, in dem sie schwere und oft unsinnige Dienste leisten müssen, für die von einem Entgelt überhaupt keine Rede sein kann. Der Betrag, der jungen Soldaten und Kriegsdienstverweigerern ausgezahlt wird, liegt in den meisten Fällen unter dem Existenzminimum. Im Gegensatz zu vielen Kollegen aus den anderen Fraktionen hier im Bundestag ist bei den GRÜNEN die Jugend noch nicht so lange vorbei und daher in Vergessenheit geraten, daß wir nicht wüßten, was es bedeutet, ständig den Verlockungen der Konsumgesellschaft ausgesetzt zu sein, ohne auch nur annähernd die Mittel zu haben, die notwendig sind, um die notwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen.
— Ja, wir kennen das, Sie nicht mehr.
— Darüber habe ich keine statistische Erhebung. Die meisten von uns waren Kriegsdienstverweigerer. Darauf sind wir auch stolz.
Ein anderes Thema in diesem Zusammenhang ist die Verlängerung des Kriegsdienstes auf 18 Monate ab 1989 sowie die Verlängerung des Zivildienstes. Anscheinend möchte sich die Bundesregierung bei ihren Jungwählern nicht allzu unbeliebt machen und versucht nun, diese Dienste wenigstens finanziell etwas lukrativer zu gestalten.
Nur, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, dazu ist der Beitrag, den Sie durch diesen Gesetzentwurf leisten, zu gering.
Damen sind leider keine da, wie ich sehe, obwohl das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit doch auch damit befaßt ist, soviel ich weiß. Aber auch für Frauen werden Sie den Dienst an der Waffe damit nicht lukrativer gestalten. Und erzählen Sie mir nicht, daß Frauen in der Bundeswehr insgeheim nicht schon lange zu Ihrem Konzept gehören.
Zum Abschluß der Rede — ich möchte mich kurzfassen — möchte ich noch den Volksmund bemühen, der da sagt: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.
— Das ist der Volksmund, den können Sie dem Volk nicht verbieten.
Dies kommt einem in den Sinn, wenn man an die noch später zu diskutierenden Diätenerhöhungen denkt und im Vergleich dazu die Beträge sieht, mit denen unsere Jugendlichen im Kriegs- und Zivildienst abgespeist werden.
Meine Damen und Herren, wenn ich das Modebewußtsein der Mitglieder dieses Hauses mit dem der Jugend von heute vergleiche, bin ich mir sehr sicher, daß die Jugendlichen mit dem Geld mehr anfangen könnten.
Wie Sie vielleicht gemerkt haben, geht es uns GRÜNEN nicht wie den anderen Fraktionen um eine Befriedung der Bundeswehr durch die Solderhöhung, sondern um eine ausreichende Bezahlung von schweren, oft sehr gefährlichen und nicht immer gern getanen Diensten unserer Jungs bei der Bundeswehr und im Zivildienst.
Soviel dazu.
Natürlich möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, daß ich der Meinung bin, daß auch im Interesse unserer Bundeswehrsoldaten der § 175 endlich gestrichen werden müßte.
Danke.
Ich habe zu Ihren Ausführungen nur zu bemerken: Ich bin nicht ganz sicher, ob sich der genannte Volksmund durch Sie in dieser Weise vertreten lassen möchte.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Würzbach.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Unsere Wehrpflichtigen leisten einen Dienst für uns alle, einen wichtigen, nicht einfachen Dienst, einen Dienst, der das Leben hier, unser Leben in der Bundesrepublik, einem freien Land, jeden Tag sichert, auch für die, wie wir
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18210 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Parl. Staatssekretär Würzbacheben einen erlebt haben, die diesen Dienst nicht respektieren, nicht anerkennen, die aber in vollem Umfang davon Nutzen haben.
Wir sind der Auffassung, daß dieser Dienst unserer Soldaten — jedes einzelnen Soldaten und hier besonders der vielen Wehrpflichtigen; dies sind inzwischen in der Bundesrepublik über 5 Millionen junger Menschen gewesen — der Anerkennung bedarf, der gesellschaftlichen, der politischen, der allgemeinen, auch sichtbar werdenden Anerkennung, und daß er diese verdient.Hier sind in den letzten Jahren eine Menge an Änderungen eingetreten, was dies deutlich macht. Ich nenne einige im Stenogramm: Wir alle — ich schließe auch Politiker mit ein — über die Regierungskoalition hinweg bekennen uns in der Öffentlichkeit zum Auftrag der Streitkräfte, zum Dienst der einzelnen Soldaten.
Anders als vor vier, fünf Jahren allerdings verstekken wir unsere Soldaten, die Verbände, die Einheiten nicht mehr, sondern stellen uns in der Öffentlichkeit an die Seite besonders der jungen Soldaten und der Wehrpflichtigen, wo die Familien immer mehr an den öffentlichen Gelöbnissen teilnehmen — eine inzwischen wieder zur Tradition gewordene Verhaltensweise.Der Bundeskanzler redet in der Regierungserklärung vom Dienst für den Frieden, von einem Ehrendienst, den diese Wehrpflichtigen nicht für sich allein und ihre Familien, sondern für uns alle tun.
Dies setzt sich fort bis in die Städte und Dörfer. Wir haben vor zwei Wochen darüber geredet: Immer mehr Patenschaften von Kommunen, aber auch von Verbänden werden von einzelnen Soldaten übernommen. Wir bedauern, daß manche — auch in diesem Haus — diese gesellschaftliche, politische, in der Öffentlichkeit deutlich werdende Anerkennung unseren Soldaten verwehren.Ich komme erst nach diesen Ausführungen, die wichtig sind, zu den finanziellen und sozialen Dingen, die natürlich auch eine Rolle spielen. Ich möchte nur in einem Nebensatz, ohne Einzelheiten zu nennen, darauf hinweisen, daß leider eine Menge dieser Dinge in den Jahren 1975 bis 1982 unseren Soldaten weggenommen und gestrichen worden ist. Jetzt, Kollege Steiner, kann man wieder davon sprechen, daß das Personal, der Mensch, unser Soldat, der Staatsbürger in Uniform, auf Zeit und auch der Wehrpflichtige, hohe und die höchste Priorität in unserer Bundeswehr hat. Wir wissen, daß viele dieser Soldaten weit von zu Hause, heimatfern über Hunderte von Kilometern, einberufen sind. Wir wissen, daß sie ungewöhnlich und unvergleichbar viele Stunden in allen Institutionen zu leisten haben. Hier sind wir alle noch gefordert. Das ist aber einProblem, das nicht erst im Oktober 1982, sondern schon Jahrzehnte vorher aufgetreten ist.Die Bundesregierung will unsere Soldaten — —
— Herr Kollege, ich möchte meine j a nur kurzen Ausführungen wie die Vorredner im Zusammenhang machen dürfen.An den sichtbaren Erfolgen der Haushaltspolitik der Bundesregierung sollen nach unserer Auffassung nicht nur die Verdienenden, sondern auch die für die Allgemeinheit dienenden Wehrpflichtigen Anteil haben. Deshalb weichen wir von der Regel ab, wie bisher nur etwa alle drei oder vier Jahre den Wehrsold zu erhöhen, sondern erhöhen bereits seit zweieinviertel Jahren.
Das ist einer der kürzesten Zeiträume, die es je gegeben hat.
Wenn — der Kollege Breuer sprach darüber — die Inflation bei rund 0% liegt, ist dies eine fühlbare Erhöhung, wie sie unsere Soldaten seit vielen Jahren nicht mehr bekommen hatten.
Im Jahre 1989 gibt es noch einmal eine der höchsten Erhöhungen des Wehrsoldes überhaupt — jetzt bereits festgelegt — um 2 DM für den Grenadier, um 3 DM für den Hauptgefreiten. Und dieses Ganze — dies wüßte der, der sich nicht nur vor den Kasernentoren, sondern auch in der Kaserne aufhält — ist lediglich ein Taschengeld.
— Den, der sich eben u. a. angesprochen fühlte. Dies soll auch Taschengeld bleiben. — Alles zum Leben hat der Soldat frei und bekommt auch in Zukunft frei, was die Unterkunft, die Verpflegung, die Bekleidung und sonstige Dinge der Betreuung angeht. Es ist ein Taschengeld und soll den Charakter des Taschengeldes behalten.Wenn Sie dann hören, daß ein Gefreiter ab Juni 1989, nachdem dieses Gesetz voll in Kraft tritt, rund 500 DM im Monat bar zu seiner Verfügung in der Tasche hat, sollten Sie Ihre Worte einmal überdenken.Ich will noch andere Dinge aufzählen, die hier genannt gehören, die dem Wehrpflichtigen das Alltagsleben in der Kaserne erleichtern: die Modernisierung der Kaserne, Verbesserung bei den Heimfahrten, Weiterbildungsmöglichkeiten mit Erstattung nicht unerheblicher Beträge, flexibelste Gestaltung der Einberufungstermine, Sonderurlaub, um Arbeitsplatzbesuche durchführen zu können, Verbesserung der Bekleidung, mehr Führer, Ausbilder, Unterführer vor der Front, die sich menschlich
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Parl. Staatssekretär Würzbachum ihn kümmern können. Dazu kommt eine Verdoppelung des Verpflegungsgeldes; dazu kommt mehr als eine Verdoppelung des Entlassungsgeldes als Startgeld in den späteren Beruf.Über die Dinge, die Sie, Herr Kollege Dr. Hirsch, angesprochen haben — Sie kennen die Position der Bundesregierung und beschrieben sie kurz — können wir im Ausschuß noch einmal reden, fußend auf dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundesregierung dazu bewog, hier einen gleichen Betrag und keine Meßlatte bezüglich der gedienten Monate — Sie kennen den Urteilsspruch des Gerichts — anzulegen.Die Bundesregierung sieht in den Inhalten dieses Gesetzentwurfes eine Anerkennung für den Dienst unserer Wehrpflichtigen und eine Verbesserung der Wehrgerechtigkeit, die überfällig war.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 10/5863
an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Es erhebt sich kein Widerspruch dagegen. Vielen Dank.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Soldatenversorgungsgesetzes
— Drucksache 10/5958 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 30 Minuten vorgesehen. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch.
Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Heistermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Soldatenversorgungsgesetzes legt die SPD-Bundestagsfraktion einen Gesetzentwurf vor, der im Gegensatz zu vielen anderen Gesetzen sicher nur für einen kleinen Personenkreis Anwendung finden wird, von dem wir aber meinen, daß er seine Auswirkungen haben und seine Wirkungen nicht verfehlen wird.Das Gesetzesvorhaben soll sicherstellen, daß Soldaten auf Zeit, die wegen eines Gesundheitsschadens, der nicht Folge einer Wehrdienstbeschädigung ist, einer beruflichen Rehabilitation bedürfen, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses das zur Sicherung des Lebensunterhalts während derTeilnahme an einer berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation notwendige Übergangsgeld in entsprechender Anwendung des § 59 des Arbeitsförderungsgesetzes erhalten.Wir haben dazu vorgeschlagen, den dritten Teil, Abschnitt eins des Soldatenversorgungsgesetzes durch einen neuen § 80 zu ergänzen. Er soll zum Inhalt haben, ehemaligen Soldaten unter den geschilderten Umständen die Leistungen nach § 59 und 59 e des Arbeitsförderungsgesetzes zuzuerkennen.Durch die von uns vorgeschlagene Gesetzesänderung könnten diese betroffenen ehemaligen Soldaten — nach unseren Erkenntnissen sind das pro Jahr etwa 150, die nicht über eigene Einkünfte verfügen — auch nach dem Ende ihrer Wehrdienstzeit an berufsfördernden Maßnahmen teilnehmen.Der Auslöser für die bisherige mißliche Situation war das Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 22. Dezember 1981, also ein Gesetz der sozialliberalen Regierungskoalition, das am 1. Januar 1982 in Kraft trat, bei dem die Gruppe der ehemaligen Zeitsoldaten schlicht vergessen worden war. Wir haben aus diesem Versäumnis gelernt und bringen deshalb heute diesen Gesetzentwurf ein, der einen nach unserer Meinung unwürdigen Zustand beenden soll.Wieder einmal, wie in der letzten Zeit häufiger, hat sich herausgestellt, daß sogenannte Struktur-, Begleit- oder Konsolidierungsgesetze in ihrer praktischen Anwendung Folgen haben können, die bei der Einbringung der Gesetzentwürfe nicht erkannt oder nicht beachtet wurden.Das schon erwähnte Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz vom 22. Dezember 1981 hat zu folgenden Auswirkungen geführt. In allen Fällen, in denen der Gesundheitsschaden Folge einer Wehrdienstbeschädigung ist, hat sich am bisherigen Verfahren nichts geändert. Die berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation werden nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses von den Hauptfürsorgestellen gewährt. Ebenfalls hat sich bei an Tuberkulose erkrankten Soldaten nichts geändert, wenn der Bund als Dienstherr oder Träger auf Grund des § 128 des Bundessozialhilfegesetzes Eingliederungsbeihilfe zu gewähren hat. Die berufsfördernden Leistungen werden bis zum Abschluß der Maßnahmen vom Berufsförderungsdienst gewährt.In allen Fällen aber, in denen keine Wehrdienstbeschädigung und keine Tbc vorliegen, steht seit dem 1. Januar 1982 bei Beendigung des Wehrdienstverhältnisses und bei Teilnahme an einer berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation, während der eine ganztägige Erwerbsfähigkeit nicht ausgeübt werden kann, nach Art. 1, § 1, Nr. 18 Doppelbuchstabe bb des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes das zur Sicherung des Lebensunterhalts notwendige Übergangsgeld nach § 59 AFG nur noch dem zu, der innerhalb der letzten fünf Jahre vor Beginn der Maßnahme mindestens zwei Jahre lang eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung ausgeübt oder Arbeitslosengeld auf Grund
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18212 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Heistermanneines Anspruchs von mindestens 156 Tagen oder im Anschluß daran Arbeitslosenhilfe bezogen hat.
— Wir haben das eben anerkannt, daß das auf Grund unserer Gesetzesmaßnahme zustande gekommen ist. Hoffentlich sind auch Sie bereit, Ihre Fehler zu korrigieren. Ich erinnere hier nur an das Babyjahr.Die Mehrzahl der Soldaten auf Zeit kann diese Voraussetzungen auf Grund des für sie geltenden Statusrechts nicht erfüllen. Sie haben deshalb nur einen um das Übergangsgeld nach § 59 AFG eingeschränkten Anspruch auf Leistungen zur beruflichen Rehabilitation, die nach dem RehabilitationsAngleichungsgesetz allen Staatsbürgern in entsprechender Lage zustehen. Dies kann 1981 nicht im Sinne des Gesetzgebers gewesen sein; denn Ziel des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes vom 4. August 1974 war es, daß im Rahmen der Rehabilitation bei gleichen Tatbeständen gleiche Leistungen zu gewähren sind. Der öffentliche Dienst wurde in den Anwendungsbereich des Gesetzes nicht einbezogen, weil man dies nicht für erforderlich gehalten hatte.Der Deutsche Bundestag hatte jedoch am 20. Juni 1974 anläßlich der Verabschiedung des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes die Bundesregierung ersucht, bis Ende 1975 einen Bericht über die Einbeziehung der Rehabilitationsleistungen im Bereich des öffentlichen Dienstes vorzulegen.
— Herr Breuer, um Ihren Zwischenruf aufzunehmen: Bevor ich meinen Kropf in Bewegung setze, denke ich erst mit dem Kopf.Hierzu berichtete die Bundesregierung, sie sei der Auffassung, daß bei den Behinderten im öffentlichen Dienst eine den Hilfen und Maßnahmen nach dem Rehabilitations-Angleichungsgesetz gleichwertige Fürsorge und Förderung zuteil werden muß. Soldaten, die infolge eines Gesundheitsschadens zum Wechsel ihres Zivilberufes und zu einer beruflichen Umstellung gezwungen sind, wurden ausdrücklich erwähnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs eindringlich, ihm bei der Beratung in den Ausschüssen und Fraktionen zuzustimmen, damit ehemaligen Soldaten mit Gesundheitsschädigungen, die nicht Folge einer Wehrdienstbeschädigung sind, die gleichen Leistungen wie jedem anderen Staatsbürger gewährt werden können, was jetzt schon seit fünf Jahrenm gesetzlich nicht möglich ist.Ich denke, die Allgemeinheit hätte sicher kein Verständnis dafür, wenn gesundheitsgeschädigte ehemalige Soldaten nur wegen der fehlenden sozialen Absicherung nicht an berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation teilnehmen können. Die Verweisung der behinderten Soldaten auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz ist wegen der Schlechterstellung gegenüber anderen Betroffenen nicht zu vertreten. Auch ist es als unbillig anzusehen, wenn dem ehemaligen Soldaten zugemutet wird, eigene Ersparnisse für seine berufliche Rehabilitation aufzuwenden oder seine nach dem bürgerlichen Recht unterhaltsverpflichteten Verwandten zur Finanzierung der beruflichen Rehabilitation heranzuziehen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ganz.Ganz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit kein falscher Eindruck entsteht und insbesondere Soldaten nicht beunruhigt werden, ist zunächst festzustellen — ich wiederhole teilweise das, was der Kollege Heistermann bereits vorgetragen hat —, daß der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion eben nur auf die Fälle abstellt, in denen Soldaten auf Zeit, die wegen eines Gesundheitsschadens, der nicht Folge einer Wehrdienstbeschädigung ist, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses einer beruflichen Rehabilitation bedürfen, das zur Sicherung des Lebensunterhalts während der Teilnahme an einer solchen berufsfördernden Maßnahme notwendige Übergangsgeld in entsprechender Anwendung des § 59 des Arbeitsförderungsgesetzes erhalten. In allen Fällen, in denen der Gesundheitsschaden Folge einer Wehrdienstbeschädigung ist oder der Soldat wegen Tuberkulose aus dem Dienstverhältnis ausscheidet, werden Leistungen zur Rehabilitation wie bisher gewährt.Die SPD-Fraktion möchte mit dieser Gesetzesinitiative zumindest für die Soldaten wieder den Rechtszustand herstellen, wie er bis zum 1. Januar 1982 gegolten hat, d. h., sie bei Rehabilitationsmaßnahmen, die nicht infolge einer Wehrdienstbeschädigung notwendig werden, denen gleichstellen, die Anspruch auf Leistungen entsprechend den Bestimmungen des Arbeitsförderungsgesetzes haben. Denn durch das Gesetz, wie der Kollege Heistermann es schon gesagt hat, mit der monströsen Bezeichnung Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz — spöttisch sprach man damals auch vom Arbeitsförderungs-Kondolenzgesetz — vom 22. Dezember 1981 hat die SPD selbst den heute von ihr beklagten Zustand herbeigeführt.
In diesem AFKG wurde nämlich einschränkend bestimmt, daß das zur Sicherung des Lebensunterhalts notwendige Übergangsgeld nur noch denen zusteht, die innerhalb der letzten fünf Jahre vor Beginn der Maßnahme mindestens zwei Jahre lang eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt oder Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe bezogen haben. Mich wundert, daß die SPD-Kollegen nicht schon damals erkannt haben, daß die Mehrzahl der Soldaten auf Zeit diese Voraussetzung auf Grund des für sie geltenden Statusrechts nicht erfüllen kann. Jetzt, fünf Jahre danach, zeigt sie Reue. Insofern könnte man den vorliegenden Entwurf als Reparaturgesetz mit Mea-culpa-Effekt bezeichnen.
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Ganz
Das meine ich gar nicht polemisch. Meine Damen und Herren, jeder von uns kann ja für sich in Anspruch nehmen, mit der Zeit klüger zu werden.Das im Gesetzentwurf angesprochene Anliegen ist auch für uns ernst genug, sich seiner anzunehmen, darüber nachzudenken, wie denen geholfen werden kann, die dem Staat als Soldat gedient haben und dann unverschuldet in eine Notlage geraten sind. Damit dies in den Ausschüssen geschehen kann, werden wir der Vorlage in der ersten Lesung zustimmen, was aber, meine verehrten Kollegen, nicht heißen kann, daß wir damit schon mit Fassung und Inhalt des Gesetzentwurfs einverstanden wären. Denn hier bedarf es noch der Beantwortung einer Reihe von kritischen Fragen.So ist z. B. zu fragen, ob die nachwirkende Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber ehemaligen Soldaten so weit ausgedehnt werden kann, wie der Entwurf es vorsieht. Der Entwurf macht nämlich keinen Unterschied zwischen unverschuldeter und selbstverschuldeter Notlage. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, daß eine nachwirkende Fürsorgepflicht dann noch gegeben sein könnte, wenn der Soldat wegen eines Unfalls in seiner Freizeit den Dienst quittieren und sich dann einer Rehabilitationsmaßnahme zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit unterziehen muß. Man könnte sich dann auf den Standpunkt stellen, daß er, wäre er nicht Soldat, sondern pflichtversichert beschäftigt gewesen, Anspruch auf Leistungen nach dem AFG hätte. Umgekehrt, um das andere Extrem aufzuzeigen, kann ich mir aber nicht vorstellen, daß die nachwirkende Fürsorgepflicht des Dienstherrn auch dann noch gegeben sein soll, wenn ein Längerdiener — aus welchen Gründen auch immer — beispielsweise unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen wurde.Es ist auch zu fragen, ob das Soldatenversorgungsgesetz überhaupt der richtige Ort ist, ob die aufgezeigte Problematik nur durch Regelungen im Zuständigkeitsbereich des BMVg gelöst werden kann oder ob nicht vielmehr eine Härteregelung im Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz oder im Arbeitsförderungsgesetz selbst angestrebt werden sollte, denn die hier vorgesehene Regelung bürdet die dabei entstehenden Kosten ausschließlich dem Einzelplan 14 auf; auch darüber müssen wir uns im klaren sein.Seit langem ist es unser aller Bemühen, Soldaten auf Zeit auch gegen Arbeitslosigkeit nach Ausscheiden aus der Bundeswehr abzusichern. Wir haben dies gestern während der Haushaltsberatungen im Ausschuß noch einmal bekräftigt und erfreut zur Kenntnis genommen, daß auch der Haushaltsausschuß die dafür notwendigen Mittel bereitstellen will. Es wird nun darauf ankommen, welche Regelung dabei gefunden wird. Wenn sie so aussieht, daß die Soldaten auf Zeit voll beitragspflichtig zur Arbeitslosenversicherung werden — auch das ist j a ein Denkmodell —, dann wäre der vorliegende Entwurf obsolet; dann hätten auch sie außerhalb einer Wehrdienstbeschädigung gesetzlichen Anspruch auf Leistungen nach dem AFG.Es ist weiter zu fragen, ob der Entwurf nicht einen Präzedenzfall für andere Personengruppen, beispielsweise für beschäftigungslose Lehrer, schaffen kann, die ebenfalls nach dem AFKG — weil nicht pflichtversichert — aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen wurden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit ich nicht falsch verstanden werde: Mit diesen Anmerkungen wollte ich keineswegs die von der SPD- Fraktion ergriffene Initiative madig machen, sondern aufzeigen, daß auch hierbei der Teufel im Detail steckt. Sie wissen, daß auch wir ständig bemüht sind, unseren Soldaten ein Höchstmaß an Fürsorge angedeihen zu lassen, wie gerade erst gestern wieder bei den Haushaltsberatungen bewiesen. Wir werden, wie schon gesagt, dem Entwurf in erster Lesung unsere Zustimmung geben, damit er in den zuständigen Ausschüssen gründlich und zügig beraten werden kann.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ronneburger.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zielt in Richtung auf Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Situation der Soldaten und ehemaliger Soldaten. Diese Maßnahmen sind von meiner Fraktion seit Jahren für notwendig gehalten und auch aktiv verfolgt worden. Ich bin dem Kollegen Ganz außerordentlich dankbar, daß er noch einmal auf das hingewiesen hat, was wir gestern abermals auf einen Antrag meiner Fraktion hin im Verteidigungsausschuß einstimmig beschlossen haben, nämlich die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit.Es gibt daher — ausgehend von diesem Beispiel sowie von der Gesamttendenz des Verteidigungsausschusses in seiner Gesamtheit mit einstimmigen Entschließungen — überhaupt keine Veranlassung, daran zu zweifeln, daß dieser Antrag zu einem Teilgebiet der Versorgung des Soldaten auf Zeit, nämlich seiner Rehabilitation nach einer gesundheitlichen Schädigung, die nicht auf den Wehrdienst zurückzuführen ist und die seine Eingliederung in das Berufsleben erschwert, notwendig und berechtigt ist.Herr Kollege Ganz, ich weiß natürlich so gut wie wir alle, daß es dabei noch eine Reihe von kritischen Fragen auch an diesen Gesetzentwurf geben wird. Ich erinnere die SPD-Fraktion nur an die von Ihnen — ausweislich Buchstabe C, Alternativen, Ihres Antrages — offenbar erwogenen Möglichkeit, nach § 168 des Arbeitsförderungsgesetzes zu verfahren, aber eben auch mit dem Hinweis, Herr Kollege Heistermann, daß dieser Ansatz in den zurückliegenden Jahren mehrfach geprüft und aus Haushaltsgründen verworfen worden ist. So gibt es einige Fragen, die wir stellen müssen, auch, Herr Kollege Ganz, zu Recht die Frage nach verschuldeter oder unverschuldeter Notwendigkeit der Rehabilitation.
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RonneburgerAber insgesamt sage ich noch einmal: Der Antrag der SPD-Fraktion wird aus den angeführten Gründen von meiner Fraktion unterstützt. Das gilt um so mehr, als wir auf diesem Gebiet im Verteidigungsausschuß bereits einige Schritte getan haben: Unterhaltssicherungsgesetz, Unterstützung von arbeitslosen ehemaligen Soldaten auf Zeit. Dies ist oder kann werden ein weiterer Schritt in eine bestimmte Richtung, ein Schritt, der sicherlich aber nicht der letzte sein darf. Dieser Antrag kann daher nur im Gesamtkontext einer dringend notwendigen Überprüfung aller gesetzlichen Grundlagen bei der Versorgung von Soldaten gesehen werden.Ich erinnere ebenfalls an die §§ 30 und 31 des Soldatengesetzes; denn hier sind vom Gesetzgeber selber die Grundlagen für seine weitere Arbeit auf diesem Gebiet festgehalten worden. Ich meine, daß wir aus dieser Sicht der Dinge alle Veranlassung haben, uns dieser selbst auferlegten Gesetzesverpflichtung zur Sicherung der sozialen Situation der Soldaten und der ehemaligen Soldaten nicht zu entziehen.Ich empfehle deshalb — und ich bitte darum, daß das in der Abstimmung so geschieht —, den Gesetzentwurf an die Ausschüsse zu überweisen, ihn sorgfältig zu prüfen, nach Möglichkeiten seiner Verwirklichung zu suchen und nach Abstimmung mit allen Ressorts zu einer sachgerechten Lösung im Interesse der Soldaten zu kommen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 10/5958 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Erhebt sich Widerspruch dagegen? — Nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
— Drucksache 10/5733 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
— Drucksache 10/6079 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Becker Dr. Lammert
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 10/6105 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Echternach Frau Seiler-Albring
Esters
Suhr
Wünscht jemand der Herren und Damen Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Zeit von fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Kein Widerspruch? — Dann ist das so beschlossen.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lammert.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Was immer Grundsätzliches zum Thema Einkommen der Abgeordneten gesagt werden müßte,
ist bei früheren Gelegenheiten hinlänglich vorgetragen worden. Die jährliche Selbstbefassung des Parlaments mit dieser Angelegenheit ist unvermeidlich. Sie ist, wie wir alle wissen, dadurch nicht populärer geworden.
Die Diäten sind die Besoldung des gebildeten Proletariats zum Zwecke des gewerbsmäßigen Betriebes der Demagogie,hat ein bedeutender deutscher Kanzler vor rund hundert Jahren gemeint. Es war Otto von Bismarck.An der begrenzten Popularität von Diätenbeschlüssen hat sich auch in den letzten hundert Jahren wenig geändert, obwohl es sich inzwischen nicht mehr um steuerfreie Aufwandsentschädigungen für Ehrenämter, sondern um steuerpflichtige Einkommen für eine hauptamtliche berufliche Tätigkeit handelt.Geändert hat sich übrigens auch wenig an der sehr begrenzten Begeisterung des Parlaments, in eigener Angelegenheit entscheiden zu müssen, und zwar deshalb zu müssen,
weil uns das Bundesverfassungsgericht keine andere Gelegenheit gibt. Geändert, Herr Kollege Ströbele, hat sich übrigens auch nichts an der Neigung der GRÜNEN, solche Vorlagen mit Tremolo in der Stimme abzulehnen und anschließend die von der Mehrheit beschlossene Einkommensanhebung selbstverständlich ebenfalls zu realisieren.
— Ja, Sie spenden. Deswegen wollte ich Ihnen gerade einen konkreten Vorschlag machen, auf dessen Realisierung ich mit großem Interesse warte. Nachdem Sie vorhin die vorgesehene Anhebung des Wehrsolds im Vergleich zu den Abgeordnetenbezügen als unzureichend dargestellt haben, werden wir mit großem Interesse verfolgen, welchen Anteil Ihrer Einkommensanhebung Sie über die bei Ihnen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18215
Dr. Lammertso beliebten Fonds künftig wehrpflichtigen Soldaten zur Verfügung stellen werden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Präsident des Deutschen Bundestages hat in seinem gesetzlich geforderten Bericht die allgemeine Einkommensentwicklung dargestellt und auf dieser Basis Vorschläge zur Anpassung der Abgeordnetenbezüge gemacht.
Er hat darauf hingewiesen, daß sich im Berichtszeitraum die Einkommen in der Bevölkerung um 3% bis 4 % erhöht haben. Die im laufenden Jahr 1986 bereits abgeschlossenen Tarifverträge haben quer durch die verschiedenen Branchen eine Anhebung zwischen 3,0 % und 4,5% ergeben. Der Präsident hat dem Deutschen Bundestag eine Anhebung der Einkommen der Abgeordneten um 2,8 % und der Kostenpauschale um 1,8 % als angemessen vorgeschlagen. Die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD
haben sich diesen Vorschlag des Präsidenten in ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Abgeordnetengesetzen angeschlossen, obwohl sie damit natürlich wissen, daß die durch jahrelangen Verzicht auf jede Art auf Einkommensanhebung der Abgeordneten eingetretene Verschlechterung in der Einkommensentwicklung durch einen solchen Vorschlag nicht nur nicht korrigiert, sondern mindestens festgeschrieben wird.Die CDU/CSU stimmt diesem Antrag, der von den drei Fraktionen gemeinsam eingebracht worden ist, zu und schließt sich insofern der Beschlußempfehlung und dem Bericht des federführenden Ausschusses an.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Becker .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte in Erinnerung rufen, was in unserer Verfassung steht. Art. 48 Abs. 3 des Grundgesetzes heißt:
Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene,
ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.
Sie haben das Recht der freien Benutzung aller staatlichen Verkehrsmittel. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Dann hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß wir hier in diesem Parlament über diese Fragen zu entscheiden haben. Seit 1983 haben wir jeweils den Vorschlag des Präsidenten sehr sorgfältig untersucht, diskutiert und sind ihm in der Entscheidung gefolgt. Das wollen wir auch bei dem Vorschlag, der jetzt vorliegt, tun. Wir wollen der Erhöhung der Bezüge um 2,8% und der Kostenpauschale um 1,8 % folgen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch noch auf etwas anderes verweisen. Wir haben in unserem Land eine Reihe von Landesparlamenten. Auch die Landesparlamente haben in den letzten Jahren ihre Bezüge an die allgemeine Entwicklung angepaßt. Wenn ich einen Vergleich mit Landesparlamenten und auch mit den Parlamenten in den Niederlanden, in der Schweiz oder sonstwo auf der Welt anstelle, dann meine ich, daß wir verantwortungsbewußt gehandelt haben. Ich will das an einigen Zahlen deutlich machen.
Der einzelne Abgeordnete vertritt in diesem Parlament etwa 81 000 Wahlbürger.
— und -rinnen. — Wenn wir unsere derzeitigen Bezüge und die Kostenpauschale auf einen Wahlbürger oder eine Wahlbürgerin umrechnen, so kommen 1,25 DM heraus — jährlich. Die Niederländer geben für ihr Parlament 1,32 DM jährlich aus, die Schweizer 3,45 DM, und zwar immer für die Bezüge und die Kostenpauschale für die agierenden Abgeordneten. Im Landtag Nordrhein-Westfalen liegt dieser Betrag bei 1,20 DM. Alle anderen Länder haben für ihre Abgeordneten höhere Kosten, auf den einzelnen Wahlbürger oder die Wahlbürgerin bezogen. Ich habe das hier nur einmal ausgeführt, damit wir sehen, ob wir eigentlich in irgendeiner Richtung Extreme beschließen, ob wir nicht berücksichtigen, was sonst um uns herum geschieht.
Ich glaube, wir haben bei der jetzigen Anpassung der Bezüge und bei der Anpassung der Bezüge in den letzten Jahren verantwortungsbewußt gehandelt. Wir haben nicht nur die Zahlen, Daten und Fakten berücksichtigt, die vorlagen, sondern wir haben auch auf unsere Umwelt Rücksicht genommen. Wir haben nämlich daran gedacht, wie die allgemeine politische und gesellschaftspolitische Lage ist. In diesem Sinne sind wir dazu gekommen, dem Vorschlag des Präsidenten nun auch in der zweiten und der dritten Lesung zustimmen zu können. Die SPD-Fraktion wird das jedenfalls tun.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rusche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Legislaturperiode war bereits achtmal das Thema Diätenerhöhung Gegenstand der Beratungen in diesem Hause. Nach Auf-
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Ruschefassung der GRÜNEN haben andere Themen, die für die Allgemeinheit wichtiger sind — und nicht nur für die Abgeordneten —, so viel Beachtung nicht gefunden. Die Argumente pro und contra Diätenerhöhung sind in der Vergangenheit in den Ausschüssen und im Plenum dementsprechend schon oft behandelt worden.
— Das ist die vierte, rechnen sie einmal nach. Wenn Sie noch nicht einmal bis vier zählen können, ist es schon sehr schlecht um Sie bestellt.
Da wir es hier mit einer unkritischen großen Koalition für die Diätenerhöhung zu tun haben, bleibt uns GRÜNEN nichts anderes übrig,
als diese Praxis anzuprangern.
Was sind denn nun die Argumente für eine Diätenerhöhung? Am häufigsten wird die Unabhängigkeit des Abgeordneten angeführt, die durch diese hohen Diäten gewährleistet werden soll.
Haben denn die Flick-Affäre und andere Korruptionsskandale nicht gezeigt, daß einige nie genug kriegen können?
Das weitere Argument betrifft die Attraktivität im Deutschen Bundestag. Muß diese Attraktivität unbedingt auf der finanziellen Ebene liegen? Ein weiteres beliebtes Argument für die Erhöhung ist, daß auch andere Löhne steigen, daß alles teurer wird. Letzteres wurde im Zusammenhang mit Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung von Herrn Blüm aber aufs heftigste bestritten.
— Haben Sie die Rede von Herrn Blüm zum Haushalt nicht gehört? Was ist denn nun? Haben wir stabile Preise, oder müssen unsere armen Abgeordneten mehr Geld haben, um mit der Bestreitung der Kosten des Lebensunterhalts überhaupt noch zurechtzukommen?
Wie dem auch sei, unsere Argumente, die wir dieser Scheinheiligkeit entgegensetzen, münden in der Feststellung, daß eine Lohnsteigerung von netto fast 1 000 DM
innerhalb von vier Jahren ungeheuerlich ist und im Vergleich mit dem Sozialabbau auf fast allen Ebenen für den Bürger nicht zumutbar.
— Wunderbar, bitte, toben Sie sich ruhig aus, ich komme nämlich jetzt in meinem Redebeitrag zu unserer Praxis. Wie ich sehe, warten Sie alle schon sehr gespannt darauf.Nach wie vor gelten bei uns unverändert die sogenannten Sindelfinger Beschlüsse. Ich will das noch einmal dezidiert darstellen, damit Sie es endlich kapieren. Nach dreieinhalb Jahren sollten Sie es eigentlich wissen. Nach diesen Beschlüssen wird auf freiwilliger Ebene alles, was über einen Grundlohn von netto 1 800 DM und eine Aufwandsentschädigung von 1 500 DM hinausgeht, an den Ökofonds gespendet.
Diese Abgaben sind nicht, wie Sie fälschlicherweise immer wieder behaupten, mit einer Parteienfinanzierung vergleichbar
— das sind die Emotionen, Frau Präsidentin, da kann man nichts machen —,
da der Ökofonds immer von einem Gremium verwaltet wird, das mehrheitlich von Personen besetzt ist, die aus Bürgerinitiativen und anderen Basisgruppen kommen und nicht Mitglieder der GRÜNEN sind.
— Ja, der ist Mitglied der GRÜNEN. — In diesen Ökofonds haben die Abgeordneten der GRÜNEN im Bundestag mittlerweile ca. 5 Millionen DM eingezahlt; trotzdem ist bei keinem von uns die Armut ausgebrochen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lammert?
Gerne, wenn es nicht angerechnet wird!
Herr Kollege, könnten Sie freundlicherweise die tatsächliche Einkommenslage grüner Abgeordneter darstellen, etwa beim Durchschnittsfall eines verheirateten Abgeordneten mit drei Kindern
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Dr. Lammertbzw. bei vier „Beziehungskisten", die ja nach Ihrer Beschlußlage hilfsweise den Ehepartner und die drei Kinder ersetzen würden?
Gerne! Es ist selbstverständlich so, daß Personen, die auf Grund einer Lebensgemeinschaft gegenüber dem Abgeordneten unterhaltsberechtigt sind, zusätzlich 500 DM bekommen, und das ist auch in Ordnung. Das gilt für Ehegatten, für andere Lebenspartner und für Kinder.
Das ist auch gerecht.
Trotzdem haben wir für den Ökofonds — ich habe Ihnen den Betrag eben genannt — 5 Millionen DM zusammenbekommen. Das sind 5 Millionen, die Sie eingestrichen haben,
natürlich per 28 Personen.
Wir stimmen gegen die vierte Diätenerhöhung in dieser Legislaturperiode und werden, wenn die Erhöhung hier mehrheitlich beschlossen wird, diese dem Ökofonds zuführen, der in vielen Fällen auch Opfer Ihrer verfehlten Sozialpolitik, z. B. Frauenhäuser und Arbeitsloseninitiativen, unterstützt.
Im übrigen möchte ich noch ein Wort in eigener Sache sagen: Wie schon immer bin ich dafür, daß der § 175 gestrichen wird.
Manchmal ist es schwer, keinen Kommentar zu geben! — Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Daß wir uns hier öfter mit dieser Frage beschäftigen, wissen Sie, Herr Kollege von den GRÜNEN, genau, denn wir haben j a nicht die Möglichkeit, daß — wie bei den Beamten oder in anderen Bereichen — automatisch angeglichen wird. Vielmehr entscheidet das Parlament jedesmal in eigener Verantwortung; es muß selbst die Maßstäbe und Kriterien würdigen, die der Bundestagspräsident pflichtgemäß jedes Jahr vorlegt. Ich meine, er hat das richtig und maßvoll getan.
Wir liegen unter den Anhebungen für die Rentenbereiche, und wir liegen damit, so meine ich, auch unter dem, was hier im Bereich der Nachholmöglichkeiten angesprochen worden ist.
Sie werden ja wohl nicht kritisieren wollen, daß wir das hier in Form einer Einbringung und dann später einer Beschlußfassung festlegen. Oder wollen Sie, daß wir das in Zukunft auf einmal beschließen, daß Einbringung und Beschlußfassung zusammenfallen?
Das gibt Ihnen natürlich die Möglichkeit, hier immer wieder Märchen vorzutragen, nämlich Vorstellungen, die ich schon beim letzten- und vorletztenmal kritisiert habe. Sie, Herr Kollege Rusche, haben ja vermieden, zu sagen, daß Sie und Ihre Kollegen diese Beträge steuerfrei ausgezahlt bekommen.
Sie haben vermieden, mitzuteilen, daß diese 500 DM für diejenigen, für die Sie sich zuständig fühlen — Sie nehmen j a nicht den steuerrechtlichen Begriff des Unterhaltsberechtigten, sondern gehen von denen aus, für die Sie sich zuständig fühlen —, steuerfrei sind. Das müssen Sie zu diesen 500 DM der Öffentlichkeit auch sagen!
Es ergibt nämlich — wenn ich den Ausdruck „Beziehungskisten" von dem Kollegen aufnehmen darf — im Einzelfall eine ganz interessante Summe, die da zur Verfügung steht.
Das müssen Sie dann mitteilen, und Sie müssen auch mitteilen, daß das nicht quer durch die grüne Basis geht. Sie haben j a in Baden-Württemberg der Kostenpauschale fröhlich zugestimmt, und so müssen Sie sich entgegen halten lassen, daß wir uns hier nicht einem einheitlichen Beispiel gegenübersehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Herr Kollege Mann, Sie haben beim letztenmal — vielleicht können Sie dazu gleich mit etwas sagen — von dem Beispiel gesprochen — ich habe Ihre Rede hinterher noch einmal durchgelesen —, das wir uns an Ihnen nehmen sollten. Vielleicht sollten Sie bei Ihren Einlagen in den Ökofonds überlegen, ob Sie nicht für Ihre Vorstandssprecher, die nämlich, weil Sie ihnen j a kein Gehalt zahlen können, der Arbeitslosenversicherung zur Last fallen, etwas abzweigen können;
dann wird die Öffentlichkeit dadurch nicht zusätzlich belastet.
Nun zu Ihrer Frage!
Der Herr Abgeordnete Mann zu einer Zwischenfrage!
Herr Kollege Wolfgramm, ganz abgesehen davon, daß wir heute über die Abgeordnetendiäten sprechen, nicht über die Vorstände ir-
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Manngendeiner Partei, möchte ich Sie fragen, ob Sie es nicht anerkennenswert finden, daß die GRÜNEN mit ihrer Diätenregelung, nachdem Sie im Steuerrecht offenbar nicht zu einer familiengerechten Lösung zu kommen in der Lage sind, versuchen, soziale Gerechtigkeit zu schaffen indem eben für Kinder, für Ehepartner, aber auch für sonstige Partner solche Beträge gezahlt werden bzw. berücksichtigt werden können. Fänden Sie es nicht richtig, das anzuerkennen, statt es zu kritisieren?
Ich finde es ganz großartig, daß Sie auch die „sonstigen", die sie eben
Das ist allerdings eine Ausweitung des Steuerbegriffs, die das Steuerrecht nicht kennt. Für die „sonstigen" ist das natürlich sehr angenehm und für diejenigen, die sich möglicherweise bei Ihnen dafür zuständig fühlen, auch. Aber ich kann Ihnen nur sagen, wenn wir das überall praktizieren, dann werden Sie sehr rasch feststellen, daß Sie dann keine Steuereinnahmen mehr zum Verteilen für andere Aufgaben haben. Mein Rat für den Ökofonds war j a, daß Sie Ihre Kollegen in anderen verantwortungsvollen Positionen so stellen, daß sie eben nicht der Arbeitslosenversicherung zur Last fallen.
Sie haben den Ökofonds eingeführt, nicht wir.
Ich möchte aber hier noch einmal, weil Sie das anscheinend immer noch nicht zur Kenntnis nehmen wollen, die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts, Herr Kollege Rusche, vortragen. Wo ist er denn? Man sieht ihn gar nicht mehr.
— Ah ja.
Herr Kollege, wenn Sie jetzt da oben als Schriftführer thronen, dann hätten Sie ja das, was jetzt kommt, schon in meinen Notizen betrachten können.
Ich gebe Ihnen den guten Rat, lesen Sie dieses Verfassungsgerichtsurteil in Ruhe nach; dann finden Sie, daß das Kriterium Nummer 1 die Belastung der Abgeordneten ist. Nun sind Sie gerade in einer besonderen Funktion hier, Herr Rusche; da sind Sie etwas stärker belastet. Aber ich habe den Eindruck, daß Sie sonst von der Belastung nicht so viel halten. Wir sind hier einigermaßen belastet. Von der Verantwortung halten Sie vielleicht auch nicht soviel; aber das Bundesverfassungsgericht hat das als ein besonderes Kriterium herausgestellt, und wir meinen, das ist der Sache angemessen. Das dritte ist die Position des Abgeordneten im gesamten Verfassungsgefüge. Nach Ihren Kriterien, die Sie wechselweise ja den anderen Verfassungsorganen zuteil werden lassen, scheinen Sie Ihre eigene
Position nicht besonders hoch zu bewerten. Wir meinen schon, daß das angemessen ist.
Diese drei Positionen zusammen mit der Wertung des Bundestagspräsidenten, ergeben diesen Vorschlag, den wir beraten haben und den wir unterstützen.
Die Aussprache ist geschlossen.
Das Wort nach § 31 der Geschäftsordnung hat Herr Kollege Senfft.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stimme gegen die Diätenerhöhung, weil ich persönlich der Auffassung bin, daß ich mit 8 224 DM brutto genauso wie Sie und mit einer Nettokostenpauschale von 4 915 DM netto, wie gesagt, genug Geld im Monat verdiene. Wie Sie auch feststellen können, ist es so, daß ich, obwohl ich monatlich 5 196 DM an den Ökofonds abführe — wie gesagt, zur Unterstützung von sozialen Projekten, Arbeitslosen-Projekten, zur Unterstützung von Ökologiegruppen, die sich damit ein Chemielabor kaufen, um die Umwelt zu untersuchen und dort auch zu helfen —, wie Sie sehen, nicht am Hungertuch nage. Wie ich sehe, geht es Ihnen genauso. Das ist also vollkommen überflüssig. Ich bin der Meinung, diese insgesamt über 13 000 DM im Monat sind genug für jeden Abgeordneten; die sind für mich zuviel. Deshalb führe ich etwas ab.
Ich sehe überhaupt nicht ein, warum die Abgeordneten hier noch einen Zuschlag brauchen, wo auf der anderen Seite bei Sozialleistungen gekürzt wird, und dies, obwohl wir GRÜNEN ja keine anderen Posten haben; aber — —
Herr Kollege, ich muß Sie mal unterbrechen. Sie haben das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung erhalten. Sie haben hier eine Debatte wieder eröffnet. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Ich stimme insbesondere deshalb gegen die Erhöhung der Diäten,
weil viele der hier anwesenden Abgeordneten der anderen Parteien noch jede Menge lukrativer anderer Nebenjobs haben wie z. B. Aufsichtsrats — —
Herr Abgeordneter, die Aussprache ist schon geschlossen.Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 10/5733.
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Vizepräsident Frau Renger— Ich bitte freundlicherweise um Ruhe.Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen.
Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen angenommen.
Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer demGesetzentwurf insgesamt zustimmen will, den bitteich, sich vom Platz zu erheben. — Die Gegenprobe!— Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei einigen Gegenstimmen angenommen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes
— Drucksache 10/5572 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschußb) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Umweltschutz im Straßenbau— Drucksache 10/5926 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehrc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Schulte (Menden), Senfft und der Fraktion DIE GRÜNEN zur dritten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Ausbau der Bundesfernstraßen — 3. FStrAbÄndG —— Drucksachen 10/4940, 10/5776 —Berichterstatter: Abgeordneter MilzNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 13a bis 13c insgesamt 30 Minuten vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. — Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kretkowski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mensch und Natur stehen im Mittelpunkt einer Straßenplanung, die auf die Zukunft gerichtet ist. Bei den Beratungen des Bundesfernstraßenbedarfsplans im Januar habe ich hier erklärt, daß wir den umstrittenen Prestigeobjekten im Bundesautobahnneubauteil unseren entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Ich meine jene Maßnahmen, die volkswirtschaftlich so schädlich sind, daß wir Ihnen, Herr Minister, und der Bundesregierung das nicht durchgehen lassen.Seit Ende Januar erreichen die SPD-Fraktion und die verantwortlichen Verkehrspolitiker unserer Fraktion zahlreiche Bürgerproteste und Eingaben gerade gegen den von Ihnen im Bundesautobahnneubauteil geplanten gigantischen Unsinn. Die SPD-Fraktion sieht darin eine Bestätigung für die Richtigkeit ihres Gesetzentwurfs für einen ökonomisch und ökologisch vernünftigen Autobahnbau und ihres Antrags zum Umweltschutz im Straßenbau.Die Maxime „Qualität statt Quantität", die von den Sozialdemokraten schon Ende der 70er Jahre formuliert worden ist, gilt heute mehr denn je, allerdings nicht so, wie sie inzwischen vom Minister Dollinger umfunktioniert worden ist: noch breiter, noch gerader, noch schneller. Es kommt vielmehr darauf an, daß die Menschen und die Umwelt durch die Straßen möglichst wenig geschädigt, beeinträchtigt oder belästigt werden. Der Straßenbau darf nicht zum Rasen und zur Rücksichtslosigkeit geradezu verleiten.Meine Damen und Herren, der Autofahrer soll beim Fahren kein schlechtes Gewissen haben. Deshalb — um einige Beispiele zu nennen — keinen Neubau der A 94 von München nach Simbach; statt dessen — hören Sie gut zu, meine Damen und Herren aus Bayern, weil es in Bayern offenbar kolportiert wird — der Ausbau der B 12 als vierspurige kreuzungsfreie Bundesstraße ohne Standspuren einschließlich Mittelstreifen mit den notwendigen Ortsumgehungen, so wie es seinerzeit bei der Beratung des Bundesfernstraßenbedarfsplans im Ausschuß von uns vorgeschlagen worden ist. Und wenn Sie zu Hause etwas anderes behaupten, dann rate ich Ihnen: Passen Sie besser auf, schlagen Sie Ihrem Minister auf die Finger, damit er wenigstens das umsetzt, was die Koalitionsfraktionen seinerzeit im Ausschuß eingebracht und beschlossen haben. Auch Sie wollen nämlich die Alternative Autobahnbau oder 4spuriger Ausbau der Bundesstraße zumindest untersucht wissen. Passen Sie auf, daß der Minister nicht an Ihnen vorbei eine andere Politik macht.Deswegen, meine Damen und Herren, wollen wir auch keinen Neubau der A 26 von Hamburg nach Stade. Statt dessen wollen wir den Ausbau der B 73 mit Ortsumgehungen von Cuxhaven, Stade bis NeuWulmstorf. Wir wollen keinen Neubau der A 33, sondern statt dessen den Bau von Ortsumgehungen in Halle und Steinhagen. Wir fordern die Rückstufung der B 56 n, des sogenannten Ennerttunnels, in die Kategorie Planung, damit genügend Zeit ist, alles noch einmal zu untersuchen und eine vernünftige, ökonomisch und ökologisch erträgliche Lösung zu
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Kretkowskifinden. Deswegen wollen wir auch die ersatzlose Streichung der A 44 zwischen Essen und Bochum und des Alleentunnels in Frankfurt, um, wie gesagt, nur einige Beispiele zu nennen.Das sind lauter Maßnahmen, meine Damen und Herren, für die kein begründeter Bedarf vorhanden ist,
weil sie zu weit ab von den lärm- und abgasgeplagten Orten liegen und deshalb keine echte Entlastung bringen oder weil sie die letzten Naherholungsgebiete oder gar Naturoasen in der Bundesrepublik zerschneiden oder zerstören.Statt dessen fordern wir kleinräumige Umgehungen, die eine wirkliche Entlastung bringen, insbesondere dann, wenn der Neubau der Ortsumgehungen mit dem Umbau der alten Ortsdurchfahrt gekoppelt wird.Minister Dollinger betreibt nach unserer Auffassung einen Pseudoumweltschutz, wenn er beispielsweise das Bodenschutzkonzept, das er selbt propagiert hat, mit Füßen tritt, wie wir meinen; wenn er jeden Tag ein Stück mehr unserer Natur mit Beton und Asphalt versiegelt;
wenn der Minister immer noch Schnellstraßen auf Dämmen baut, damit die Lärmbelästigung möglichst viele Anwohner trifft, und wenn er sich gleichzeitig auf die Schulter klopft, weil er bei dem Neubau einer Straße einen Krötentunnel eingeplant hat.Qualität statt Quantität im Straßenbau heißt bei unserem dichten Straßennetz,
daß wir Lärm und Abgase möglichst von den Menschen fernhalten müssen. Das heißt auch, daß der Verbrauch wertvoller Landschaft aufhören muß und daß wir damit aufhören müssen, unsere Landschaft durch immer mehr Straßen zerschneiden zu lassen.
Nicht nur bei den neu zu bauenden Ortsumgehungen müssen zukünftig zum Schutz der Bürger und der Naherholungsgebiete vermehrt Tunnellösungen verwirklicht werden. Auch bei den bestehenden Autobahnen und Schnellstraßen, vor allem in dicht bebauten Gebieten, muß die nachträgliche Eintunnelung möglich werden, um Lärm und Trennwirkung verschwinden zu lassen.
Städtebauliche Gründe müssen für Tunnellösungen ebenso ausschlaggebend werden wie Lärmschutzgründe.Autofahren ohne schlechtes Gewissen, meine Damen und Herren, heißt auch mehr Verkehrssicherheit in unseren Städten und Gemeinden für die nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer. Es ist mir unverständlich, Herr Dr. Schulte, wenn Sie als Staatssekretär die Diskussion über die Helmtragepflicht für Radfahrer vom Zaun brechen, anstatt durch den entsprechenden Umbau der Straßen eine Geschwindigkeitsdämpfung in Wohngebieten zu erreichen
und damit dafür zu sorgen, daß Radfahrer besser geschützt werden — Sie schütteln Ihr weises oder nicht weises Haupt. Das ist gerade so, Herr Kollege Schulte, wie wenn Sie statt des Katalysators für das Auto Gasmasken für die Fußgänger vorschreiben wollten.
Qualität statt Quantität bedeutet auch, daß die Straße in reinen Wohngebieten wieder zum Aufenthaltsraum, zur Begegnungsstätte, zum Spielplatz werden muß. Auch deshalb sind Um- und Rückbau wichtig.
Wir Sozialdemokraten haben diese Vorstellungen in zwei Initiativen zusammengefaßt, einmal in dem Antrag betreffend Umweltschutz im Straßenbau, dem Sie eigentlich alle zustimmen müßten, auch die da so laut schreien, wenn Umweltschutz für Sie mehr als eine Worthülse und Gerede sein soll; zum anderen im Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes, in dem wir Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, noch einmal die Chance geben, sich von Ihrer verfehlten Autobahnneubaupolitik zu lösen.
Neben der Initiative der SPD steht auch noch ein Entschließungsantrag der GRÜNEN zur Abstimmung, und damit komme ich zu Ihnen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN. Wenn dieser Antrag auch von der Tendenz her eine Reihe wichtiger und richtiger Punkte enthält, so hat er gleichwohl entscheidende Mängel.
Erstens. Eine gänzliche Einstellung des Neu- und Ausbaus von Bundesfernstraßen löst die Probleme nicht, weil sie den regionalen und örtlichen Gegebenheiten überhaupt nicht gerecht werden.
Zweitens. Der Umbau bzw. Rückbau nur von Bundesfernstraßen, für die eine Ortsumgehung gebaut wird, umfaßt nicht das ganze Problem. Auch Bundesfernstraßen, die nicht durch eine Ortsumgehung ersetzt werden, können und müssen in vielen Fällen umgebaut werden. Außerdem läßt der Antrag im Gegensatz zu dem der SPD die Finanzierungsfragen völlig offen.
Drittens. Der Antrag der GRÜNEN behandelt überhaupt nicht das wichtige Problem der nachträglichen Eintunnelung bestehender Straßen.
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KretkowskiDie SPD lehnt deshalb diesen Antrag ab, weil ihre eigenen Initiativen umfassender, realisierbar und finanzierbar sind.
Meine Damen und Herren, das Bundesfernstraßennetz der Bundesrepublik ist beispielhaft in Europa. Wir brauchen nicht noch mehr Straßen, wir brauchen nicht noch schnellere Straßen. Wir brauchen Straßen, die den Menschen mehr Lebensqualität verschaffen, Straßen, die weniger Lärm und weniger Abgase produzieren, und Straßen, die den Belangen des Naturschutzes Rechnung tragen. Das heißt: keine neuen Schneisen durch Natur und Wohngebiete sowie behutsamer Um- und Rückbau dort, wo Menschen und Natur durch Fernstraßen besonders belastet sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Milz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich hier heraufging, hörte ich vom Kollegen Mann von den GRÜNEN — und ich stimme ihm ausdrücklich zu —: Das sind mir die Richtigen, die sich erst einmal grün anstreichen, um dann im Wahlkampf so zu tun, als sei man für Umweltschutz, und danach wieder etwas völlig anderes machen.
Dem stimme ich ausdrücklich zu, denn ich muß Sie fragen, Herr Kollege Kretkowski: Schämen Sie sich eigentlich nicht?
Nachdem Sie vor noch nicht acht Monaten dem Gesetzentwurf, den wir in mühevollen Verhandlungen zwischen den Fraktionen erarbeitet haben,
zugestimmt haben und erklärt haben, daß Sie ihn mittragen könnten,
stellen Sie dieses Gesetzeswerk nun, nach noch nicht acht Monaten, in Frage und wollen es durch ein neues ersetzen.
So kann man sich, meine Damen und Herren — und das soll die deutsche Öffentlichkeit wissen —, auf die Sozialdemokraten verlassen. Verläßt man sich auf Sie, ist man verlassen, meine Damen und Herren.
Um dies noch etwas deutlicher zu machen: Sie haben eben bei den Einlassungen des Kollegen Kretkowski nicht etwa gehört — und auch ich habe ganz gespannt darauf gewartet, das zu hören —, was er denn in Nordrhein-Westfalen streichen wollte, wieviel Mittel weniger nach Nordrhein-Westfalen fließen sollten. Ich habe auch vergeblich darauf gewartet, von ihm zu hören, wie er denn dazu steht, daß das Land Hessen bei der Beratung des Gesetzentwurfs, so wie wir ihn heute praktizieren, das Doppelte an Mitteln beantragt hatte, um Straßen in Hessen zu bauen. Meine Damen und Herren, im Saarland war es nicht anders. In sozialdemokratisch geführten Bundesländern also sieht die Wirklichkeit völlig anders aus, als sie hier aus purem Wahlopportunismus dargestellt wird.
Meine Damen und Herren, wer so Verkehrspolitik macht, wer so Straßenbaupolitik macht, der zeigt ganz deutlich, daß es ihm nicht um eine vernünftige, weil wichtige politische Arbeit geht, sondern lediglich darum geht, eine neue Heimat zu finden, lediglich darum geht, neue Wähler zu erschließen, um dann möglicherweise das wieder wettzumachen, was einem andere durch unkluges Handeln eingebrockt haben.Im übrigen handelt die sozialdemokratische Bundestagsfraktion auch nach dem Grundsatz: Weil Annahme gesichert, deshalb können wir ablehnen. Sie wissen sehr genau, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, daß Ihr Vorschlag keine Mehrheit findet. Sie wissen sehr genau, daß exakt das beschlossen werden wird, was auch vorher beschlossen wurde. Deshalb glauben Sie, sich den Luxus erlauben zu können, jetzt vor der Öffentlichkeit einen anderen Eindruck zu erwecken, als dies in Wirklichkeit der Fall ist. Nein, so kann man keine Verkehrspolitik machen.
Ich will aufzeigen, nach welchen Grundsätzen die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen — zumindest kann ich dies für meine Fraktion sagen; ich bin sicher: Auch der Koalitionspartner trägt diese Auffassung mit — Verkehrspolitik verstehen, wovon wir glauben, daß es unverzichtbar ist, und darf dabei insbesondere fünf Punkte aufzeigen.Erstens. Es geht ganz entscheidend darum, daß Lücken jetzt geschlossen werden, d. h. die Straßen müssen ihren vollen Verkehrswert erhalten und nicht irgendwo in der Landschaft herumliegen als Ruinen, die Sie uns überlassen haben.
Zweitens. Für uns ist es ganz selbstverständlich, daß zu einer vernünftigen Umweltpolitik Ortsumgehungen, d. h. beruhigte Ortslagen, gehören. Der Bürger, der morgens zur Arbeit fahren muß, soll in der Nacht seine Ruhe haben; er soll nicht durch Lkw und andere gestört werden. Deshalb wollen wir Ortsumgehungen in vernünftiger Weise, nicht zuletzt des Bürgers wegen.Drittens. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland auch heute noch Gebiete, in denen aus strukturpolitischen Gründen Straßenbau — Bau
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Milzvon Autobahnen, Bau von Bundesfernstraßen — geradezu lebensnotwendig ist.
Die Menschen, die dort leben, haben einen Anspruch darauf, genauso gut versorgt zu sein wie diejenigen, die in der Nähe der Ballungszentren wohnen und auf andere Verkehrsträger umsteigen können. Wir wollen auch dem Arbeiter in den revierfernen Gebieten die Möglichkeit geben, mit dem eigenen Pkw über gute Straßen zu seinem Arbeitsplatz fahren zu können, und nicht nur einigen wenigen Privilegierten.
Ich füge hinzu: Uns geht es auch darum, daß die Arbeitsplätze im Straßenbau so gesichert bleiben, wie sie durch unsere Politik gesichert worden sind. Die Menschen, die dort arbeiten, haben ebenso einen Anspruch darauf, daß die Politik dafür sorgt, daß sie einen sicheren Arbeitsplatz haben und nicht einen, der willkürlich mal links oder mal rechts hin und her verschoben wird.Im übrigen darf ich Sie alle daran erinnern: Was haben Sie denn eigentlich in der Zeit getan, in der Sie die Verkehrsminister gestellt haben? Wo ist denn Ihre Konzeption, Herr Kollege Kretkowski, aus der Zeit von Leber beginnend bis zu Hauff?
Wer hat denn eigentlich die Aussage gemacht: In zehn Jahren soll niemand weiter als 15 Kilometer von einer Autobahn entfernt wohnen? Das war kein Christdemokrat. Wir haben dem damals widersprochen, weil wir es für irreal hielten. Sie sehen an dieser Kehrtwendung ganz deutlich, wie wenig Sie in der Lage sind, die Verkehrspolitik zu verstetigen und eine vernünftige Verkehrspolitik zu machen.Lassen Sie mich einen weiteren Punkt aufzeigen: Es kommt ganz entscheidend auch für die Gemeinden, für die Städte und Kreise darauf an, daß sie über einen Planungszeitraum von fünf Jahren wissen, was denn in ihren Bereichen geschieht. Wenn man nach acht Monaten, wie Sie vorschlagen, wieder neue Schwerpunkte setzt, wie soll dann der Kommunalpolitiker, wie soll der Planer, wie soll in Nordrhein-Westfalen der Landschaftsverband denn überhaupt seine Planung noch ausrichten? Da wäre ein heilloses Durcheinander das Ergebnis. Zu einer solchen Politik werden Sie unsere Zustimmung nicht bekommen.
— Sie haben auch schon bessere Zwischenrufe gemacht.
Die Tatsache, daß man sich solche Zwischenrufe anhören muß, spricht für sich und die Qualität der Fraktion, aus der ein solcher Kollege kommt.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die Bundesregierung hat in zweieinhalb Jahren intensiver Beratung mit den betroffenen Ländern eine Konzeption entwickelt, die am Ende ihren Niederschlag in den Ergebnissen von eingehenden Beratungen unter den Fraktionen dieses Hohen Hauses fand. Wir haben in manchmal mühevollen Diskussionen zu einem Kompromiß gefunden, den wir alle tragen konnten.
— Die GRÜNEN natürlich nicht, das ist völlig richtig, aber es ist ja auch nichts Außergewöhnliches, daß Sie einer vernünftigen Politik Ihre Zustimmung versagen.Wir wollen diese Politik fortsetzen, insbesondere weil wir wissen: das Gesetz gibt uns die Möglichkeit, es in fünf Jahren erneut zu überprüfen, Schwerpunkte erneut zu setzen und zu korrigieren, wo dies möglich ist.Um im Bild zu bleiben: Diese Anträge der Sozialdemokratischen Partei passen haargenau auf einen Aufkleber, den man heute sehen kann. Ich wiederhole das, was daraufsteht: „Stoppt grün-rot".Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Senfft.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Sache haben Sie, Herr Milz, sicherlich recht: Wir wissen, was die GRÜNEN und was die CDU angeht, daß wir eine Position haben, die wirklich um 180 Grad entgegengesetzt ist. Sie sind weiterhin der Auffassung, daß das Schütten von Beton und Asphalt in die Landschaft auch heute noch zu den vielleicht intelligenten Methoden der Arbeitsplatzbeschaffung gehört. Wir sind der Auffassung, das ist eine Politik, die heute nicht mehr aktuell ist. Aber Sie stehen zu Ihrer Politik, und wir stehen auch zu unserer Politik, indem wir sagen: Es ist nicht mehr zumutbar angesichts des Waldsterbens, angesichts der Umweltzerstörung, angesichts des Lärms, angesichts der Verkehrstoten und angesichts der Verkehrsverletzten, weiterhin auf dieses Verkehrsmittel „Individualverkehr" zu setzen und weiterhin dieses Verkehrssystem durch forcierten Straßenbau zu fördern, mit dem Sie die Landschaft und die Natur kaputt machen, insbesondere auch in Bayern.
Wir GRÜNEN würden es begrüßen, wenn die Sozialdemokraten wirklich dazulernten. Dieser Antrag ärgert mich aber ganz schrecklich, weil es hier — und da haben Sie recht, Herr Milz — um nichts
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Senfftanderes geht als um Wahlkampf. Das möchte ich noch einmal an Hand der Anträge deutlich machen, die die SPD-Fraktion bei der Verabschiedung des Bedarfsplans hier eingebracht hat. Und da habe ich auch eine Frage an die Sozialdemokraten: Warum haben die Sozialdemokraten jetzt vor dem Wahlkampf nicht in ihren Gesetzentwurf alle die Forderungen nach zusätzlichem Straßenbau wieder hereingenommen, die in ihrem damaligen Antrag Drucksache 10/4940 enthalten waren? Wir haben das damals zusammengerechnet, und unter dem Strich ist herausgekommen, daß die Sozialdemokraten für exakt 914 Millionen DM mehr Straßenbau haben wollten
als in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten war. Das ist doch unredlich! Das ist in dem jetzigen Gesetzentwurf nicht mehr enthalten.Sie wollen das Geld im Straßenbau überhaupt nicht einsparen, darum geht es Ihnen nicht, sondern Sie wollen etwas, was überhaupt nicht geht — und Sie benutzen die gleiche Sprachverwirrung wie die Deutsche Straßenliga —, nämlich den „umweltgerechten Straßenbau". Eine Absurdität ersten Ranges! Sie wollen also das gleiche, was die Bundesregierung macht, nämlich die Natur- und Umweltzerstörung, nur das Ganze „umweltfreundlich". Sie wollen eine umweltfreundliche Naturzerstörung. Das geht wohl nicht!Was wollen Sie mit dem Geld, das Sie einsparen, machen? Sie haben gesagt, daß Sie etwa 500 Millionen DM einsparen. Nun kommt's: Sie sagen, diese Beträge könnten dann für andere dringliche Straßenbauaufgaben verwendet werden.
Sie wollen unter dem Strich gar nicht weniger Straßenbau, sondern Sie wollen da, wo es jetzt um Wahlprozente geht, parteipolitischen Opportunismus verbreiten. Sie stecken dann das Geld woanders rein, wo es Ihnen dann bei den Wählerstimmen nicht so wehtut. Das ist doch Ihre Politik.Unser Ansatz geht davon aus, daß wir grundsätzlich eine verkehrspolitische Wende brauchen,
indem wir den Verkehr durch zusätzliche Anreize von der Straße auf die Schiene und auf die öffentlichen Verkehrsmittel verlagern. Eine grundsätzliche Wende ist hier also dringend notwendig.Weil das Straßennetz in der Bundesrepublik wirklich absolut ausgebaut ist und alle Regionen auch wirklich erschlossen sind, haben wir beantragt, einen Straßenbaustopp durchzuführen. Wir brauchen keine neuen Straßen mehr, wir haben genug Straßen. Wir brauchen statt dessen besseren Schienenverkehr, wir brauchen statt dessen einen enormen Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, denn wir haben insbesondere an Samstagen und Sonntagen, insbesondere in den Abendstunden, insbesondere im ländlichen Raum überhaupt kein Verkehrsangebot mehr, sondern den Zwang zum Pkw, den Zwang zur Straße. Wenn Sie, die Damen undHerren der Sozialdemokraten, nicht bereit sind, hier wirklich umzuschichten, dann werden Sie auch niemals eine ökologische Verkehrspolitik erreichen. Deshalb taugt Ihr Ansatz, den Sie heute hier mit ökologischen Verbalradikalismus vorgetragen haben, überhaupt nichts. Sie wollen in Wirklichkeit keine ökologische verkehrspolitische Wende, sondern auch Sie wollen das, was die Bundesregierung macht, nämlich noch mehr Beton und Asphalt, nur halt aus wahlopportunistischen Gründen etwas gezielter.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein dichtes und leistungsfähiges Netz von Fernstraßen.
Dies ist ein Faktum, von dem wir ausgehen können. Weil das so ist, sagen wir Liberalen: Wir wollen die Zukunft so gestalten, daß wir den notwendigen Ausbau in einem vernünftigen Rahmen halten, ihn in den Grenzen dessen halten, was verkehrspolitisch notwendig ist.Die Grundsätze, von denen wir uns bei dieser Politik leiten lassen werden, kann man in drei Punkten zusammenfassen. Erstens. Wir wollen die bestehenden Straßen nur ausbauen und halten diese Maßnahme für wichtiger als den Neubau von Straßen. Zweitens. Wir sind der Meinung, daß Aus- und Neubaumaßnahmen dann erforderlich sind, wenn es darum geht, Unfallschwerpunkte zu beseitigen, wenn es darum geht, Ortsdurchfahrten zu entlasten, wenn es darum geht, Netzlücken in unserem Fernstraßensystem noch zu schließen. Drittens. Wir wollen, daß alle Maßnahmen, Neu- und Ausbaumaßnahmen, strengen Umweltverträglichkeitsprüfungen unterzogen werden und so umweltschonend wie irgend möglich gebaut werden. Dies ist die vernünftige Politik, auf die sich diese Koalition geeinigt hat, und dies werden wir auch ganz konsequent fortsetzen.Wir haben im Januar in diesem Hause das Dritte Gesetz zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes beschlossen, und zwar mit Zustimmung aller klassischen Fraktionen dieses Hauses. Um so überraschender muß es natürlich sein, daß sich die SPD heute aus diesem Kompromiß, den dieses Gesetz natürlich darstellt, herausstehlen will. Ich sage ganz offen: Natürlich ist es uns Liberalen auch nicht möglich gewesen, alle unsere Vorstellungen, die wir zum Straßenbau hatten, in diesem Gesetzespaket durchzusetzen, aber wir haben es insgesamt bewertet und gesagt: Insgesamt und unter dem Strich können wir damit leben, ist dies ein vernünftiger Kompromiß, ein vernünftiger Ausgleich. Deswegen glaube ich, meine Damen und Herren, was die SPD hier vorgelegt hat, ist nichts anderes als
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Kohnein wahltaktischer Schleuderkurs, der Sie nach meiner Prognose aus der Kurve tragen wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Gern.
Herr Kollege Kohn, erinnern Sie sich nicht mehr daran, daß wir bei den Beratungen über den Bundesfernstraßenbedarfsplan und bei den Antragsberatungen und Abstimmungen das, was sich jetzt in unserem Antrag wiederfindet auch schon eingebracht haben, und erinnern Sie sich nicht daran, daß wir auch seinerzeit bei der Beratung und Schlußabstimmung schon angekündigt haben, daß wir diese Änderung des Gesetzes zur gegebenen Zeit einbringen wollten?
Herr Kollege Kretkowski, ich erinnere mich sehr wohl daran, daß es Zähneknirschen in Ihrer Fraktion gab. Trotzdem ändert dies nichts an der Tatsache, daß Ihre Fraktion sowohl im Ausschuß als auch in diesem Hause diesem Gesetz zugestimmt hat, und heute, wenige Monate später, sagen Sie: Wir wollen das alles nicht mehr wahrhaben. Das paßt einfach nicht zusammen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die SPD unterschätzt hier nachhaltig die Intelligenz unserer Bürger, die wissen, daß ein Wahlkampf bevorsteht und worauf diese Initiativen abzielen.
Was schließlich den Entschließungsantrag der GRÜNEN angeht,
so geht es dort nur noch um den abschließenden Ausstieg aus der politischen Vernunft.
Sie wollen noch nicht einmal dringend notwendige Ortsumgehungen zulassen, meine Damen und Herren.
— Sie brauchen nicht zu sagen, Herr Senfft, das sei falsch. Schauen Sie sich einmal Ihren Vorschlag an. Da haben sie vier verschiedene Bedingungen genannt, die es in ihrer Kombination praktisch unmöglich machen, selbst werkehrlich für notwendig erkannte Maßnahmen heute noch durchzusetzen. Deswegen sage ich: Wir werden den Bürgern, die durch solche Anträge betroffen werden, mit Nachdruck Bescheid sagen. Wir werden ihnen sagen, was Sie hier im Parlament eigentlich treiben.
Wir werden z. B. den Bürgern am Bodensee, in Ludwigshafen und Sipplingen sagen,
daß Sie durch Ihren Entschließungsantrag verhindern wollen, daß sie in ihren Orten von einer unerträglichen verkehrlichen Belastung befreit werden.
Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir den Entschließungsantrag, den Sie vorgelegt haben und der im Verkehrsausschuß des Bundestages bereits die gebührende Antwort der klassischen Fraktionen gefunden hat, hier ganz deutlich ablehnen. Dies ist, um das klar zu sagen, eine Ablehnung Abteilung Papierkorb. Es gibt ja manchmal Ablehnungen, bei denen man sagt: Na, ich bin zwar dagegen, aber das Ding ist so interessant, daß ich es einmal auf Wiedervorlage nehme, um irgendwann noch einmal darüber nachzudenken. Aber das, was Sie hier vorgelegt haben, ist des Nachdenkens nicht wert.
Wir Liberalen bleiben dabei: Wir wollen keine Politik der Zubetonierung unseres Landes.
Dies wird in Zukunft genausowenig geschehen, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Wir werden uns mit großem Nachdruck dafür engagieren, daß ein ökologisch und verkehrspolitisch ausgewogenes Konzept in diesem Lande realisiert wird.
Wenn sich die GRÜNEN hierüber mokieren, kann ich dies nur zum Anlaß nehmen, den Bürgern einmal klarzumachen, welch ganz primitiver Mechanismus in ihrer Aktion hier im Parlament und in der Öffentlichkeit vorhanden ist. Sie nehmen einen einzigen Punkt, den viele Bürger für sinnvoll halten, verabsolutieren den und sagen dann: Jeder, der eine differenzierte Position vertritt, weil er begreift, daß Politik darin besteht, unterschiedliche Interessen zum Ausgleich zu bringen, ist moralisch nicht adäquat. Damit diffamieren Sie diejenigen, die sich der Mühe unterziehen,
Politik zu gestalten, während das, was Sie machen, nichts anderes ist als die Demonstration der Unfähigkeit zur Politik.
Wir Liberalen bleiben dabei: Wir machen eine vernünftige Politik. Deswegen lautet unser Motto: Vorfahrt für Vernunft.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Zu den Tagesordnungspunkten 13 a und 13 b schlägt der Ältestenrat Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/5572 und 10/5926 an die in
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986 18225
Vizepräsident Frau Rengerder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 13 c, die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 10/5776. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/4940 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen einige Stimmen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes— Drucksache 10/1528 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
— Drucksache 10/4659 —Berichterstatter: Abgeordneter Dolata
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hönes, Werner und der Fraktion DIE GRÜNEN Berufung eines Ernährungsrates— Drucksache 10/4606 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenIm Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b und ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dolata.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem von den GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf einer Änderung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes sollen Regelungen geschaffen werden, für deren Umsetzung in die Praxis es nun wahrlich keine Veranlassung gibt.
Das haben wir auch in den Ausschußberatungen so zum Ausdruck gebracht. Meine Fraktion bleibt dabei: Wir halten es für geboten, im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung, die — auch bisher schon bestehende — Möglichkeit beizubehalten, bestimmte Lebensmittel unter bestimmten Umständen zu bestrahlen. Ich wiederhole: Meine Fraktionbleibt dabei. Deswegen kann die Beratung hier nicht anders verlaufen als im Ausschuß.Bei der Vielfalt der uns Verbrauchern angebotenen Lebensmittel würde das Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung zu groß werden, wenn Lebensmittel, beispielweise importierte Gewürze, denen Schädlinge anhaften, trotz aller lebensmittelhygienischen Vorschriften dann zum Verkauf und zum Verzehr kommen. Das wollen wir verhindern.Wir haben j a auch eine interne Anhörung durchgeführt. Die Sachverständigen, die wir gehört haben, haben die Auffassung des Bundesgesundheitsrates bestätigt, eine allgemeine Zulassung der Bestrahlung nicht vorzunehmen, sondern die gegenwärtige Regelung beizubehalten. Im Einzelfall muß sehr sorgfältig geprüft werden, ob und in welchem Umfange eine Bestrahlung eines bestimmten Lebensmittels für erforderlich gehalten wird. Mit dieser nach unserem geltenden Recht zulässigen Bestrahlung befinden wir uns übrigens im Einklang mit anderen europäischen Nachbarländern, in denen diese Möglichkeit ebenfalls gegeben ist. Ich darf in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß ein solches ständiges Verbot der Bestrahlung von Lebensmitteln, wie es DIE GRÜNEN hier von uns fordern,
dort nie zur Debatte gestanden hat.
Ähnlich verhält es sich j a auch bei der Frage der Fluoridierung des Trinkwassers. Auch die Antragsteller wissen, daß nach geltenden Bestimmungen für eine derartige Maßnahme keine allgemeine gesetzliche Anordnung gegeben ist. Allenfalls ist eine Ausnahmeregelung möglich. Die von den GRÜNEN vorgeschlagene Aufhebung dieser Ausnahmeregelung ist nach unserer Überzeugung ein typisches Zeichen für die Art und Weise, wie die GRÜNEN mit solchen Problemen umgehen und dabei bewußt Ängste und Panik verbreiten.
— Das paßt eben auch hier. — Nachweislich sind nämlich bisher keine ökologischen Schädigungen aufgetreten, wenn in einem bestimmten Versuchsgebiet dem Trinkwasser geringfügige Mengen Fluor zugesetzt wurden. Gefährlich ist für unser Wasser etwas ganz anderes, z. B. — das müßten sich die Raucher einmal merken — wenn eine Zigarettenkippe 401 Wasser verseucht.Es ist wirklich ungefährlich und unbedenklich, Fluor anzuwenden. Das ist in spezifisch sachverständigen wissenschaftlichen Fachkreisen auch unumstritten. Diese Feststellung resultiert aus anerkannten Untersuchungen und aus kontrollierten Erfahrungen an mehreren hundert Millionen Menschen während eines Zeitraums von einem halben Jahrhundert. Die einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen haben inzwischen die Zahl von 30 000 weit überschritten. Damit sind die Fluoride zu den im Zusammenhang mit der menschlichen Gesundheit am besten untersuchten chemischen Verbindungen geworden. Es besteht also keine Veranlassung, vom bisherigen Standpunkt abzuweichen.
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DolataMeine Fraktion lehnt deshalb die von den GRÜNEN beantragte Streichung ab.Hinsichtlich des zweiten Antrages, der die Berufung eines Ernährungsrates beinhaltet, stellt sich zwangsläufig die gleiche Frage, nämlich welche Vorteile von der Einsetzung eines solchen Gremiums zu erwarten wären. Wir haben bereits jetzt einen wissenschaftlichen Beirat, der dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Ernährungsfragen zur Seite steht. Durch die Berufung eines weiteren Gremiums dieser Art werden die Ziele dieser Einrichtung und ihre Verfahrensweise wirklich nicht verbessert. Wir werden diesen Antrag im Ausschuß und dann auch hier ablehnen.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Blunck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon grotesk: am Vormittag befassen wir uns mit dem Strahlenschutzvorsorgegesetz, das nur auf einen erneuten Unfall in einem Kernkraftwerk antwortet, zur gleichen Zeit übergeben die Frauen der SPD-Fraktion der Bundesregierung aus Anlaß des Erntedankfestes einen mit Nahrungsmitteln gefüllten Korb, um so die Minister und die Ministerin auf die Angst der Verbraucher, der Mütter vor belasteten, bestrahlten Lebensmitteln aufmerksam zu machen und die Bundesregierung endlich zum Handeln zu bewegen, und abends stopft eben diese Regierung nicht einmal das Loch im Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, durch das bestrahlte Lebensmittel zu uns kommen können. Am wahrscheinlichsten wird es sich dabei um Gamma-Strahlen aus einem radioaktiven Isotop wie Kobalt 60 handeln. Weltweit sind immerhin schon 90 kommerzielle Kobalt-60-Anlagen in Betrieb. In Allershausen bei München ist eine Firma kräftig dabei, Gewürze für den Export zu bestrahlen. Und eben diese Firma beantragte beim Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit eine Ausnahmegenehmigung, um den heimischen Markt mit bestrahlten Gewürzen erobern zu können.
Abgesehen davon, daß ich die Notwendigkeit zur Bestrahlung bestreite, frage ich: Wo bleibt eigentlich mein Recht, als mündige Verbraucherin zumindest selbst zu entscheiden, ob ich dieses Zeug kaufen will?
Es gibt nicht einmal eine Kennzeichnungspflicht.
Einerseits geben wir, zwar sehr zögerlich und verhalten leise, Herr Wallmann und Frau Süssmuth, zu, daß wir fast nichts über das Strahlenrisiko wissen, andererseits wollen Sie aber gerade die Lebensmittelbestrahlung zulassen. Sterilisierte, tote Lebensmittel erhalten wir, um in den zweifelhaften Vorteil zu gelangen, daß beispielsweise Spargel oder Erdbeeren drei bis vier Wochen aufbewahrt werden können. Wir setzen nicht etwa bei den Ursachen der mangelnden Hygiene an, nämlich der artfremden Züchtung von Fleisch — als Stichwort nenne ich da nur Hähnchen, Kälber, Schweine — oder den kräftigen Gaben von Pflanzenbehandlungsmitteln, Keimstärkungsmitteln bei Getreide usw., nein, wir satteln statt dessen noch einen drauf und gönnen den so behandelten Nahrungsmitteln noch eine kräftige Strahlendosis. Wo bleibt Ihre Verantwortung, Frau Ministerin, gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen? Sagen Sie nein zur Strahlenbehandlung. Stimmen Sie für den Verbraucher.
Das gleiche gilt im übrigen auch für die Trinkwasserfluoridierung. Zynisch könnte ich formulieren: Da die Quotenregelung beim Zucker nicht gegriffen hat, dürfen wir den eigentlich Schuldigen für die schlechten Zähne, selbstverständlich einschließlich der mangelnden Mundhygiene, nicht nennen, sondern verfahren nach dem Sandmännchenprinzip, „Viel Sand in die Augen, Fluor ins Trinkwasser, alle Bedenken weggeglaubt, und schon zieht die Karies Leine". Dem ist eben nicht so.
Die Sachverständigen in der nichtöffentlichen Anhörung bestätigen:
Es besteht kein Zusammenhang zwischen Fluoraufnahme und Kariesabnahme.
Meine Damen und Herren, aus diesem Grunde werden wir dem Gesetzentwurf der GRÜNEN zustimmen.
Sie sehen, welch hohen Stellenwert wir gesunden, möglichst unbelasteten Nahrungsmitteln beimessen. Folgerichtig stimmen wir für die Berufung eines Ernährungsrates. Selbstverständlich müssen wir eingehend über Zusammensetzung und Aufgabenkatalog beraten. Wir stimmen also dem Überweisungsbeschluß zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der GRÜNEN sieht in zwei Bereichen Änderungen vor. Da ist zum einen das Verbot der Bestrahlung von Lebensmitteln mit ionisierenden Strahlen und die Streichung der Möglichkeit der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen.Die Anhörung hat gezeigt, daß die Ausnahmegenehmigungen für die Bestrahlung von Lebensmitteln außerordentlich restriktiv gewährt werden und auch nur in solchen Fällen, wo bessere Alternativen fehlen.
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Eimer
Das ist z. B. zur Zeit bei den Gewürzen der Fall. Gerade wegen der sehr geringen Mengen von Gewürzen in unserem Essen ist nach Meinung der Fachleute hier aber eine Gefahr nicht gegeben.
Es dreht sich eben nicht um Erdbeeren und um Spargel, wie meine Vorrednerin gesagt hat. Und deswegen ist das Sand-in-die-Augen-Streuen. Ich möchte hier fast nicht von „Sandmännchen", sondern von „Sandmädchen" sprechen.
Wir sprechen uns deswegen in diesem Fall gegen den Vorschlag der GRÜNEN aus. Wir machen auf der anderen Seite aber keinen Hehl daraus, daß wir der Meinung sind, daß die Ausnahmegenehmigungen auch weiterhin sehr restriktiv erteilt werden müssen und daß nach anderen, nach besseren Methoden der Haltbarmachung gesucht werden muß und jeweils nur diejenigen in Anwendung kommen dürfen, die von allen bekannten Methoden die unbedenklichsten sind.Der zweite Bereich des Gesetzentwurfs betrifft die Trinkwasserfluoridierung. Hier hat die Anhörung gezeigt, daß eine Einigung von Wissenschaftlern nicht vorhanden ist. Ich habe den Eindruck, daß diese Auseinandersetzung schon fast wie ein Glaubenskrieg geführt wird. Die Politik kann sich aber nicht an die Stelle der Wissenschaft setzen. Sie kann in diesem Wissenschaftsstreit nicht entscheiden. Auf der anderen Seite meine ich, daß auch die Wissenschaftler nicht das, was bei ihnen entschieden werden soll, auf die Politik abladen dürfen.Ich wende mich deswegen an die Wissenschaftler. Sie sollen sich selbst einigen und uns nicht hier hineinziehen. Solange uns die Wissenschaft nicht einigermaßen einvernehmliche Beurteilungen vorlegen kann,
sollten Politiker nicht entscheiden.
Deswegen sind wir der Meinung, daß wir das Gesetz in diesem Fall nicht ändern sollten, um eventuell notwendige Untersuchungen nicht zu blockieren.Aber, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, die Aufregung ist umsonst. Wir sind froh, daß bisher in keinem Bundesland eine Anordnung für eine Trinkwasserfluoridierung vorgenommen worden ist. Es gibt, wie im Ausschußbericht dargelegt, auch keinen Anhaltspunkt dafür, daß das vorgesehen ist.
In einem Antrag fordern die GRÜNEN die Berufung eines Ernährungsrates. Wir lehnen auch diesen Antrag ab, weil es genügend Instituionen gibt, die unabhängig voneinander und unabhängig vomStaat Empfehlungen über vernünftige Ernährung aussprechen. Einen Ernährungsrat mit der Autorität einer zentralen staatlichen Stelle halte ich für bedenklich. Auch hier gibt es unterschiedliche Vorstellungen und unterschiedliche Schulen über die Zweckmäßigkeit und Gestaltung gesunder Ernährung.
Ich will jedenfalls für mich persönlich erklären, daß ich auch die Werbung mit dem Zusatz „biologisch" oder „ökologisch" für irreführend halte und auf den Kauf dieser Artikel deswegen verzichte, weil ich nicht Opfer einer ganz bestimmten Werbemasche oder einer Ideologie werden will.Ich bin überzeugt davon, daß unser Lebensmittelrecht dafür sorgt, daß Gift in unserer Nahrung — wie teilweise auf Wahlplakaten behauptet wird — nicht vorkommt. Auf der anderen Seite ist mir natürlich bewußt, daß ich mich selber auch gesünder ernähren könnte.
Aber ich werde trotzdem das ach so gesunde Müsli nicht anlangen und werde weiterhin nicht auf ein fränkisches Schäufele verzichten,
auch wenn es der Gesundheit nicht so zuträglich ist. Aber für mich ist das ein Stückchen Lebensqualität. Ich hoffe, daß wenigstens in diesem Punkt meine SPD-Kollegen aus Franken zustimmen.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hönes.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Lebensmittelgesetz, viel gerühmt als eines der besten und der sichersten der Welt, hat große Schlupflöcher. Das hat sich inzwischen herumgesprochen. So können zwei Behandlungsverfahren zugelassen werden, die die Gesundheit der Verbraucher und Verbraucherinnen schädigen können. Es geht zum einen um die radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln und zum anderen um die Fluoridierung von Trinkwasser.Die radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln soll z. B. das Auskeimen von Kartoffeln und Zwiebeln verhindern, schädliche Bakterien abtöten und die Reife von Obst verzögern.
Ist also die Strahlenkonservierung eine Wunderwaffe gegen den Verderb von Lebensmitteln im Interesse der Verbraucher? Davon kann natürlich keine Rede sein, Herr Dolata. Diese Waffe richtet sich direkt gegen die Verbraucher und die Verbraucherinnen und läuft den Bestrebungen nach einer
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Frau Hönesschadstoffarmen und gesundheitsfördernden Ernährung absolut zuwider.
Denn bestimmte gefährliche Bakterien können sich durch die vernichtete Konkurrenz anderer Bakterien besonders gut vermehren. Da die Bestrahlung nicht alle Mikroorganismen abtötet, besteht die Gefahr, daß sich gefährliche Mutanten bilden, Vitamine werden zerstört, Proteine, Kohlenhydrate, Fette werden in ihrer Struktur verändert, und es entstehen neue Produkte mit zum Teil hoher Giftwirkung, darunter auch das Wasserstoffperoxid, ein Zellgift, das unter Krebsverdacht steht. Insgesamt ist die gesundheitliche Unbedenklichkeit in keiner Weise erwiesen. Im Gegenteil: Genetische Befunde an Kindern aus Indien deuten auf vielfältige Schädigungen durch radioaktiv bestrahlte Lebensmittel hin.
Allein diese Tatsachen sollten Grund genug sein, der Strahlenkonservierung endgültig den rechtlichen Boden zu entziehen und die Belange des Verbraucherschutzes ernst zu nehmen. Die Belastung unserer Nahrung mit Industriegiften, Pestizid- und Tierarzneimittelrückständen und radioaktiven Isotopen ist wahrlich schon groß genug.
Beim zweiten Teil unserer Gesetzesänderung handelt es sich um einen ähnlichen Fall von vorgeschobenen, angeblichen gesundheitlichen Vorteilen.
Trinkwasserfluoridierung zur Kariesvorsorge ist überflüssig,
sie ist zudem eine Maßnahme, die am falschen Ende ansetzt und von den eigentlichen Ursachen ablenkt,
denn erstens ist die Wirksamkeit von Fluoriden gegen Karies nicht bewiesen, wird allerdings von den Befürwortern der Fluoridierung — einschließlich BGA — immer als wissenschaftliche Erkenntnis ausgegeben, und zweitens ist Karies keine Fluormangelkrankheit, sondern resultiert aus falscher, sprich zu zuckerreicher Ernährung, kombiniert mit unzureichender Zahnpflege. Die Bekämpfung von Karies sollte daher sinnvollerweise bei einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten und entsprechenden Aufklärungsmaßnahmen ansetzen.
Darüber hinaus ist die Fluoridierung aus gesundheitlicher Sicht eine äußerst heikle Angelegenheit, da die Spanne zwischen angeblich wirksamer und schädlicher Dosis sehr gering ist. Auch ist bei einer Trinkwasserfluoridierung mit einer erheblichen weiteren Umweltbelastung zu rechnen. Einem weiteren ökologischen Großversuch wie dem der Trinkwasserfluoridierung — wir haben schon viel zu viele davon —, werden die GRÜNEN auf keinen Fall zustimmen.Da wir GRÜNE der Meinung sind, Ursachenbekämpfung ist besser als Behandlung, reichen wir den Antrag auf Berufung eines Ernährungsrates ein. Karies und die vielen anderen Krankheiten können und sollen verhindert werden. Immer mehr Menschen wollen sich gesund ernähren. Sie wollen nicht nur darüber Bescheid wissen, welche Risiken mit der Strahlenkonservierung verbunden sind und wie stark die Lebensmittel mit radioaktiven Stoffen verseucht sind, sondern sie wollen grundsätzlich wissen, wie eine gesunde Ernährung unter den heutigen Bedingungen aussieht. Deshalb ist eine breit angelegte Aufklärungskampagne über vollwertige Ernährung auf der Basis von Vollkornprodukten und Frischkost, naturbelassenen Fetten sowie weiteren industriell möglichst wenig bearbeiteten Lebensmitteln überfällig. Eine solcherart vitalstoffreiche Kost kann von der Bevölkerung ohne finanziellen Mehraufwand praktiziert werden. Sie fördert die Gesundheit, beugt Krankheiten vor und mildert bzw. heilt schon bestehende Gesundheitsstörungen.Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, umgehend einen Ernährungsrat zu berufen, allerdings nicht als Sprachrohr der Ernährungsindustrie, sondern zur Durchführung einer bundesweiten Informationskampagne über die Bedeutung und die Vorteile naturbelassener Vollwerternährung.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den unter Tagesordnungspunkt 14 a aufgeführten Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/1528 . Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.Ich rufe Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Zu Tagesordnungspunkt 14b schlägt der Ältestenrat die Überweisung des Antrages auf Drucksache 10/4606 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Berichts des Ausschusses fürArbeit und Sozialordnung ge-
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Vizepräsident Frau Rengermäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem vom Abgeordneten Hoss und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes
— Drucksachen 10/2188, 10/6098 —Hierzu liegt ein Verfahrensantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor, über den wir nach Schluß der Aussprache über den Bericht abstimmen werden. Der Bericht und der Verfahrensantrag liegen auf dem Drucksachenwagen in der Eingangshalle vor.Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Kein Widerspruch, dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Jagoda.
— Darüber kann man sicher verschiedener Meinung sein. Hier handelt es sich um den Bericht des Ausschusses und nicht um Ihren Antrag.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ausschußvorsitzende hat einen umfassenden Bericht vorgelegt, dem ich in allen Punkten beipflichten kann. Ich danke ihm auch für diesen Bericht, weil wiedergegeben ist wie der Verfahrensablauf gewesen ist.Ich glaube, in dieser Diskussion muß hervorgehoben werden, daß sich die Fraktionen im Ausschuß darüber einig waren, daß der Antrag der GRÜNEN gemeinsam mit der Initiative der Bundesregierung behandelt wird. Das spiegelt sich auch darin wider, daß die erste Lesung beider Gesetzentwürfe zur gleichen Zeit, nämlich am 25. Januar 1985, hier im Plenum erfolgt ist.Jetzt aber, in der letzten Gesprächsrunde am 9. September, kommt die Fraktion DIE GRÜNEN her und will eine abschließende Beratung haben. Meine Damen und Herren, ich halte das für etwas verspätet! Ich denke, wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung haben genügend Arbeit. Wenn Sie wirklich an einer Entscheidung so interessiert waren, hätten Sie es machen müssen wie die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die j a in dieser Legislaturperiode ebenfalls eine Initiative eingebracht haben. Der Deutsche Bundestag, auch der Ausschuß, hat sich damit befaßt, und am 29. März 1984 wurde diese Vorlage im Bundestag abschließend behandelt.Im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie bitten, Verständnis dafür aufzubringen, daß das Arbeitszeitrecht ein sehr komplexes Thema ist. Es eignet sich mit Sicherheit nicht für ein Hopplahoppverfahren. Die sozialliberale Regierung befaßte sich mit dieser Thematik in ihrer ganzen Regierungszeit, und sie hat sich in dieser Zeit nicht bereitgefunden, eine Initiative vorzulegen. Diese Regierung hat eine Gesetzesvorlage gemacht. Wir leugnen überhaupt nicht, daß auch diese Vorlage in vielen Punkten diskussionswürdig ist und daß darüber gestritten werden kann. Aber wir brauchen dann, wenn wir eine befriedigende Lösung und einen gesunden Kompromiß wollen — und den wollen wir —, auch Zeit, und diese Zeit hatten wir in dieser Legislaturperiode nicht
und haben wir in dieser Legislaturperiode nicht mehr. Wir mußten Prioritäten setzen. Herr Kollege Bueb, Sie können ja einmal bei Ihrem früheren Kollegen Hoss nachfragen; der wird Ihnen bestätigen, daß wir auch in den ersten zwei Jahren, in denen Sie nicht dem Ausschuß angehörten, sehr viel Arbeit gehabt haben. Wir haben uns nun wirklich nicht auf der Bärenhaut ausgeruht!Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine befriedigende Lösung muß unserer Meinung nach in mehreren Schritten erfolgen. So ist eine Anhörung zu dieser Problematik sehr intensiv und umfassend vorzubereiten.
Wenn die Anhörung erfolgt ist, muß sie, wenn wir sie ernst nehmen, auch ausgewertet werden, und erst dann kann man in intensive Einzelberatungen eintreten. Das ist nun wirklich in der Zeit ab 9. September — da haben Sie signalisiert, daß Sie eine abschließende Beratung wollen — nicht mehr möglich. Wir brauchen mehrere Monate Beratungszeit.Deswegen weise ich noch einmal darauf hin, daß die beiden Gesetzentwürfe zwar die gleiche Überschrift haben, aber grundsätzlich, vom Inhalt her, voneinander abweichen. Der Regierungsentwurf ist auf die Aspekte des gesundheitlichen Arbeitsschutzes aufgebaut. Wir setzen dort Mindestnormen für arbeitsfreie Zeiten, für den Schutz von Sonn- und Feiertagen und für Frauenarbeitsschutz fest. Das andere überlassen wir der Tarifautonomie, mit der wir sehr gute Erfahrungen gemacht haben, weil wir glauben, daß eben die Tarifautonomie und Betriebsvereinbarungen regionale und auch branchenspezifische Fragen viel besser klären können, als der Gesetzgeber es generell tun kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Entwurf enthält ja auch arbeitsmarktpolitische Punkte, die zum großen Teil schon erledigt sind. Ich will Ihnen einige aufzählen: Wir haben mit der Vorruhestandsregelung eine arbeitsmarktpolitische Entlastung erreicht, ebenso mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985, mit der siebenten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz und mit dem Gesetz über Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub mit Arbeitsplatzgarantie. Auch haben wir die Teilzeitarbeit besser abgesichert als je zuvor.Ich habe Respekt davor, daß Sie § 62 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung bemühen, aber daß nicht beraten worden ist, liegt daran, daß Sie erst am 9. September 1986 — —
— Herr Kollege Bueb, Sie haben im Obleutegespräch mit uns eine Vereinbarung getroffen, und andiesen Gesprächen habe auch ich teilgenommen.
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18230 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
JagodaVereinbarung ist Vereinbarung; wir halten uns daran.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ihnen liegt ein Bericht des Ausschußvorsitzenden Eugen Glombig vor, der deutlich macht, warum der Gesetzentwurf der GRÜNEN noch nicht abschließend beraten wurde.
Die eigentliche Ursache liegt darin, daß die Koalitionsparteien mit ihren Vorschlägen einer Arbeitszeitregelung nicht zu Potte gekommen sind. Beide Gesetzentwürfe wollten wir im Ausschuß und hier im Plenum gemeinsam beraten; aber daraus wird nun nichts.
Die Koalition bekam kalte Füße; denn ihr Entwurf ist j a nun wirklich das Allerletzte, ein Beispiel vorsintflutlicher Arbeitszeitpolitik. Er sieht vor: die 48-Stunden-Woche an sechs Werktagen, die Durchlöcherung der Sonn- und Feiertagsruhe, die Aushöhlung des Nachtarbeitsverbots für Frauen, das Unterlaufen der gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen durch Einzelarbeitsvertrag und so weiter und so fort und so schlecht. Ich weiß nicht, ob es schlechtes Gewissen oder politische Klugheit war: Die Neigung der Koalition, ihr Machwerk noch zu verabschieden, sank im Laufe der Monate auf Null, und da stehen wir heute.
Somit ist als Beratungsgegenstand nur noch der GRÜNEN-Entwurf verblieben. Denn unser Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes war ja schon 1984 von einer Großkoalition aus CDU, CSU, FDP und GRÜNEN abgelehnt worden. Die GRÜNEN werden bis heute noch nicht so recht wissen, warum sie damals mit den anderen stimmten; aber das ist nicht unser Problem, das müssen sie mit den Arbeitnehmern abmachen. Oder meinten Sie wirklich, mit Ihrem Gesetzentwurf einen Volltreffer gelandet zu haben? Der ist ja nun wirklich vom Feinsten, ein Adventskalender der guten Absichten. Man liest ihn mit Staunen. Da verspricht man den Arbeitnehmern die 40-Stunden-Woche, eine bezahlte kollektive Verfügungszeit, eine bezahlte persönliche Verfügungszeit — und das täglich —, fünf bis zwanzig Tage bezahlte Freistellung bei Erkrankung eines Familienangehörigen, die bezahlte Freistellung für Bildungszwecke, die bezahlte Freistellung bei ehrenamtlicher Tätigkeit, einen weiteren bezahlten freien Tag pro Monat, die unbezahlte Freistellung bei Kindererziehung für drei Jahre, die unbezahlte Freistellung für sechs Monate innerhalb von sechs Jahren, die unbezahlte Freistellung für drei Jahre zur Pflege von Familienangehörigen und und. Das ist alles zu schön, um wahr zu sein. Das sind Luftschlösser, wie wir schon bei der ersten Lesung gesagt haben.
Wir Sozialdemokraten können und wollen da nicht mithalten. Wir wissen, daß man in Luftschlössern nicht wohnen kann und von Schaumschlägereien nicht satt wird. Wir bevorzugen die Hausmannskost realistischer Gesetzesvorschläge und meinen, genau das brauchen die Arbeitnehmer, und genau das erwarten sie von den Frauen und Männern, die sie in das Bonner Parlament geschickt haben.
Mit dem Gesetzentwurf der Koalition wird es Gott sei Dank in dieser Legislaturperiode nichts mehr. Der Himmel möge verhüten, daß Sie jemals in die Lage versetzt werden, in den nächsten vier Jahren damit Ernst machen zu können. Mit dem Gesetzentwurf der GRÜNEN wird es auch nichts. Wer verantwortlich politisch handeln will, die wirtschaftlichen Gegebenheiten einkalkuliert und das Machbare zu erreichen trachtet, der kann dem Entwurf nicht zustimmen. Wer ein modernes Arbeitszeitgesetz will, muß auf die nächste Legislaturperiode warten und auf die Sozialdemokraten setzen.
Mit unserer Mehrheit wird die 40-Stunden-Woche Gesetz und der Tarifvertrag mit noch kürzerer Arbeitszeit die Regel. Mit unserer Mehrheit werden wir die Überstunden drastisch reduzieren.
Die Schutzbestimmungen für Arbeitnehmer werden nicht ausgehöhlt, die Sonntagsruhe wird nicht angetastet. Da können Sie, Herr Bueb, lachen, solange Sie mögen. Wir machen Politik und malen keine Luftschlösser.
Wir wollen den realisierbaren Elternurlaub, den realisierbaren Bildungsurlaub und realisierbare Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer, die uns hierhergeschickt haben. Ich finde, es lohnt sich, dafür zu kämpfen.
Ihren Antrag werden wir ablehnen. Es lohnt nicht, sich länger damit zu befassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum Verfahren, also zu dem, was in dem Bericht steht, hat der Kollege Jagoda alles Notwendige gesagt. Ich kann mir und Ihnen das ersparen.Die GRÜNEN waren mal kreativer. Was sie uns heute mit diesem Entwurf vorlegen, ist nichts anderes als eine Reprise, die durch die Lagerhaltung nicht besser geworden ist.
Es liegt mir wirklich fern, den Entwurf der SPD zum Arbeitszeitgesetz als Ausbund marktwirtschaftlicher Gesinnung darzustellen.
Doch er zeugt, gemessen an dem, was die GRÜNEN vorgelegt haben, zumindest von einem gewissen Realitätssinn.
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Cronenberg
Kollege Lutz hat eben sehr gut dargestellt, welcher — mit Verlaub, Frau Präsidentin — Unsinn in diesem Gesetzentwurf der GRÜNEN zu lesen ist. Er enthält Wohltaten über Wohltaten. Überspitzt könnte man formulieren: Der Arbeitgeber hat immer zu zahlen, der Arbeitnehmer kann seine Arbeitsleistung nach Belieben erbringen. Mit anderen Worten, das Ganze läuft auf die Abschaffung der Industriegesellschaft bei vollem Lohnausgleich hinaus.
Es läuft aber auch auf die Abschaffung der von Ihnen so stark propagierten Alternativbetriebe hinaus. Denn sollten sich diese Betriebe nach Ihrem Arbeitszeitgesetz richten müssen, wäre, Herr Kollege Bueb, die Pleite der Betriebe vorprogrammiert.
Völlige Wahlfreiheit des Arbeitnehmers bei Mehroder Nachtarbeit, das ist Ihre Devise. Was das für so sensible Bereiche wie z. B. Krankenhäuser bedeutete, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.Aber, verehrte Kollegen von den GRÜNEN, selbst der Geschäftsbetrieb Ihrer eigenen Fraktion würde mit Sicherheit zusammenbrechen, wenn dort nach diesem Arbeitszeitgesetz gearbeitet würde.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie brauchen keine Angst um den Geschäftsbetrieb Ihrer Fraktion haben. Sie brauchen auch keine Angst zu haben, daß Ihre Alternativbetriebe nicht mehr funktionieren. Denn Ihr Vorhaben wird nicht Gesetz werden. Die Chancen, in diesem Land zu arbeiten, und die Chancen für die Arbeitslosen werden durch dieses Vorhaben nicht gemindert werden. Wir werden weiterhin in Ruhe eine vernünftige Politik machen können. Und Sie werden sogar in Ihrer Geschäftsstelle — ob vernünftig, weiß ich nicht, immerhin aber in einem angemessenen zeitlichen Rahmen — arbeiten können. Dafür sollten Sie uns dankbar sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! Wir haben gerade von Herrn Jagoda gehört, daß immer dann keine Zeit sei, wenn es um unsere Gesetzentwürfe gehe. Bei anderen Sachen, Herr Jagoda, geht das alles viel schneller. Wenn es z. B. um die Sicherheitsgesetze sowie um das Paß- und Personalausweiswesen geht, dann machen wir das in einer Woche. Wenn es um die frühzeitige Pensionierung von Offizieren geht, dann geht es auch ruckzuck.
Wir wissen, wie hier gespielt wird, wie SPD und
CDU in dieser Beziehung zusammenwirken. Mit
der Mehrheit wird verhindert, daß sozialpolitische
Anträge der GRÜNEN beraten werden können. Deswegen kommen sie auch nicht zur Beschlußfassung ins Plenum.
Eine besonders unrühmliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die SPD, wohl aus der Sicht heraus, daß sie in der Öffentlichkeit unsere Anträge und Gesetzentwürfe ablehnen müßte, obwohl sie weiß, daß Teile der Gewerkschaften beispielsweise unserem Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes und unserem Entwurf zum gesetzlichen Aussperrungsverbot mit Sympathie gegenüberstehen und daß auch Teile der SPD diese Gesetzentwürfe mit Sympathie begleiten. Letzte Woche haben wir im Plenum einen Geschmack davon erhalten, was die SPD unter „Die Zukunft sozial gestalten" versteht. Das ist ja der Titel des Programms von Nürnberg. Ich meine die einstimmige Ablehnung unserer Gesetzentwürfe, als es darum ging, die Sozialhilferegelsätze um 30 % zu erhöhen und damit Armut zu vermindern, und als es darum ging, die Aussperrung gesetzlich zu verbieten, um die Streikfähigkeit der Gewerkschaften zu garantieren. Das haben Sie abgelehnt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Herr Bueb, sollte Ihnen entgangen sein, daß wir über Ihren Aussperrungsgesetzentwurf überhaupt nicht beraten haben, sondern daß es mit Ihrer Zustimmung darüber im Dezember ein Anhörungsverfahren gibt? Wie darf ich denn Ihre Worte deuten?
— Ach j a, Sie sind meist nicht im Ausschuß; daran mag es liegen.
Herr Lutz, wenn Ihnen etwas daran gelegen wäre, daß das gesetzliche Aussperrungsverbot hier im Bundestag noch beraten worden wäre, dann hätten Sie unserem Verfahrensantrag zugestimmt, im Oktober oder November eine Anhörung durchzuführen. Im Dezember hätten wir diesen Gesetzentwurf dann abschließend beraten können.Das Manöver, am 3. Dezember ein Hearing abzuhalten, ist allzu durchsichtig. Wir wissen ganz genau: Wenn wir am 3. Dezember das Hearing machen, ist hier eine abschließende Beratung dieses Gesetzentwurfs nicht mehr möglich. Das haben Sie beabsichtigt und auch erreicht.
Mit unserem Arbeitszeit-Gesetzentwurf greifen wir im Gegensatz zu Ihnen eine Vielzahl neuer arbeitszeitpolitischer Überlegungen auf, die Sie in Ihren Gesetzentwürfen überhaupt noch nicht andiskutiert haben. Uns geht es um die Neuorganisation der gesamten Arbeitszeit; uns geht es um einen erweiterten Arbeitsbegriff, der neben der Erwerbsarbeit die gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsphase mit einbezieht, wie
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18232 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Oktober 1986
Buebz. B. Haus-, Erziehungs- und private Pflegearbeiten sowie gemeinnützige Tätigkeiten.
Eines ist doch offenkundig: Während es auf dem Erwerbsarbeitsmarkt ein Überangebot von Arbeitskräften gibt, gibt es eben im Bereich der privaten und öffentlichen Lebensverhältnisse hingegen einen Bedarf an verfügbarer Arbeitskraft und Arbeitszeit.Es geht uns um Arbeitszeitverkürzungen, um inhumane Arbeitsbelastungen abzubauen. Es geht um Erwerbsarbeitszeitverkürzungen und um Überstundenabbau, um einen wirksamen Beitrag zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit zu leisten.Zur Überstundenproblematik: Es ist doch ein Skandal, daß wir in unserer Gesellschaft 11,5 Milliarden Überstunden haben. Würden diese Überstunden abgeschafft, könnte ungefähr 1 Million neuer Arbeitsplätze geschaffen werden.
Herr Franke von der Bundesanstalt für Arbeit hat uns zugestimmt. Er hat gesagt, daß sukzessive Hunderttausende von neuen Arbeitsplätzen geschaffen werden könnten, wenn die Überstunden abgebaut werden würden.
Ferner geht es um die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten und Nichterwerbstätigen als Gegengewicht zu den unternehmensorientierten Flexibilisierungskonzepten. Deshalb lehnen wir solche Konzepte ab, wie z. B. Jobsharing, Kapovaz und befristete Arbeitsverträge, die verstanden werden müssen als Anpassung der Arbeitszeit von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen an die Produktionsbedingungen der Betriebe. Wir fordern dagegen die Elternfreistellung und einen monatlichen Verfügungstag, um damit einen Beitrag zu leisten, die geschlechtsspezifische Arbeitszeit aufzuheben.
Wir fordern Freistellung für private Kranken- und Behindertenpflege, um endlich mit der Doppelbelastung, vor allem der Frauen, Schluß zu machen. Wir fordern auch eine Freistellung für gemeinnützige Tätigkeiten und für Bildungszwecke.Herr Lutz, Sie haben uns gerade vorgehalten, daß wir das alles nicht bezahlen könnten. Wenn Sie unseren Arbeitszeit-Gesetzentwurf irgendwann einmal gelesen hätten, dann wüßten Sie, daß Sie absoluten Unsinn reden.
Ich bitte, solche unparlamentarischen Ausdrücke zu unterlassen.
Irgendwann muß man das ja einmal sagen können, wenn es stimmt.
Das können Sie woanders, aber nicht hier.
Wir könnten mit unserem Arbeitszeit-Gesetzentwurf 12 Milliarden Kosten für die Gesellschaft einsparen, welche die Arbeitslosigkeit verursacht. Ich weiß nur eines: Wir können es uns nicht leisten, daß diese Gesellschaft 60 bis 70 Milliarden an Kosten hat, weil wir 2,3 Millionen Arbeitslose und 1 Million nichtregistrierte Arbeitslose haben. Das sind die Kosten, die uns entstehen. Wenn Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen würden, würden die Lohnkosten im Betrieb um ein bis zwei Prozent steigen. Das ist ein Bruchteil, wenn sie auf die Preise durchschlagen. Wenn das nicht bezahlbar ist, dann weiß ich nicht, was bezahlbar ist.
Meine Damen und Herren, es liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN. DIE GRÜNEN wünschen, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung aufgefordert wird, seine Beratungen bis zum 5. November 1986 abzuschließen, damit der Bundestag über den Gesetzentwurf an den Sitzungstagen am 27. und 28. November 1986 einen Beschluß fassen kann.
Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 3. Oktober 1986, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.