Rede von
Dr.
Axel
Wernitz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Donnerstag, dem 18. September, gegen 13 Uhr unternahmen zwei polnische Staatsangehörige einen Fluchtversuch im Abschnitt III der deutsch-tschechoslowakischen Grenze im Landkreis Tirschenreuth. Einem Flüchtling gelang es, das Bundesgebiet zu erreichen, der andere wurde von den dortigen Grenzsoldaten offensichtlich festgenommen. Den Fluchtversuch hatten die dortigen Grenzbeamten mit Schüssen beantwortet. Das auf die Flüchtlinge eröffnete Feuer traf den deutschen Staatsangehörigen Johann Dick auf deutschem Gebiet und verletzte ihn so schwer, daß er an den Folgen der Schußverletzung verstarb. Der Frau, der Familie des Toten gilt unsere tiefempfundene Anteilnahme.
Es handelt sich um einen besonders gravierenden Grenzzwischenfall, der in dieser Form seit 1969 nicht mehr vorgekommen ist. Nach den Todesschüssen an der Grenze stellen sich auch heute, 14 Tage später, in der Tat noch viele Fragen. Der völkerrechtswidrige Übergriff auf deutsches Hoheitsgebiet und der rücksichtslose Schußwaffengebrauch gegen Menschen können nicht hingenommen werden und haben auf unserer Seite mit Recht zu entschiedenen und scharfen Protesten geführt.
Die CSSR hat eingestanden, daß der Tod von Johann Dick eindeutig von ihren Sicherheitsorganen verschuldet wurde, und Bedauern und Entschuldigung ausgesprochen. Dies kann aber nur ein erster Schritt sein. Notwendig ist eine lückenlose, vollständige Aufklärung des Falles und eine Bestrafung der Täter.
Die Todesschüsse an der Grenze sind eine schwerwiegende Verletzung der nachbarschaftlichen Beziehungen. Wenige Tage später fielen an dieser Grenze erneut Schüsse tschechoslowakischer Grenzbeamter gegen Flüchtlinge aus der DDR, denen jedoch die Flucht glückte. Im Hinblick auf die vermehrte Anzahl von Flüchtlingen auch aus der DDR und Polen, die über die Grenze der ČSSR ins Bundesgebiet gekommen sind, stellt sich die Frage nach einer verschärften Praxis des dortigen Grenzregimes. Im Sinne einer Vorbeugung für die Zukunft sollte die Bundesregierung über dieses Grenzregime mit der ČSSR intensiv und nachdrücklich verhandeln.
Aber auch bei uns gilt es, die Situation im Grenzraum mit Umsicht zu überprüfen. Angesichts der Wanderwege bis an die Grenzmarkierungen, die dortigen Beeren- und Pilzsammlergebiete stellt sich wohl auch die Frage nach der angemessenen Präsenz der bayerischen Grenzpolizei, des Bundesgrenzschutzes und auch des Zolls. Hierin könnte eine zusätzliche Hilfe für unsere Mitbürger in diesem Raume liegen. Ich meine auch, daß man an die Bürger appellieren sollte, den unmittelbaren Grenzraum in der jetzigen Situation etwas zu meiden.
Meine Damen und Herren, wir werden die weitere Entwicklung der Grenzlage mit größter Aufmerksamkeit verfolgen. Es gilt, die eindeutige Verurteilung des Schußwaffengebrauchs gegen Flüchtlinge mit dem entschlossenen und besonnenen politischen Bemühen für die Zukunft so zu verbinden, daß an dieser Grenze nicht erneut Menschenleben zu beklagen sind.
Meine Damen und Herren, im „Bayernkurier" vom 27. September wurde u. a. darauf hingewiesen, daß Angehörige eines osteuropäischen Staates, die eines der höchsten Menschenrechtsgüter, die Freiheit, wahrnehmen wollen, beim Überschreiten der Grenze gnadenlos beschossen werden, wenn es den Machthabern nicht paßt. Gleichzeitig plädiert die gleiche Union in der Asyldebatte inzwischen für eine Rückführung von Flüchtlingen aus den Ostblockgebieten in ihre Heimatländer.
Meine Damen und Herren der Union, Sie haben Anlaß, diesen Widerspruch im Sinne der Menschlichkeit, der Menschenrechte und der Grundrechte glaubwürdig zu bereinigen.