Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Der einzige Punkt der Tagesordnung lautet:
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben gestern über zweieinhalb Stunden die Regierungserklärung des neugewählten Herrn Bundeskanzlers gehört. Viele unserer Mitbürger haben diese Erklärung nach den langen Verhandlungen über die Bildung der Bundesregierung mit Spannung erwartet. Sie alle sind wie wir bitter enttäuscht worden.
Diese Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ist ein Dokument der Ratlosigkeit.
Sie beschränkt sich weithin auf eine Zustandsbeschreibung, und nicht einmal dies tut sie offen und ehrlich mit dem Mut zur notwendigen und auch unbequemen Wahrheit.
Sie, Herr Bundeskanzler, verharmlosen die Lage, Sie nennen keine Lösungen, Sie zeigen keine Perspektive auf.
Statt dessen beschränken Sie sich auf Appelle, auf Ankündigungen, schlagen eine Unzahl von Kommissionen vor, sagen den anderen, den Verbänden, den Gewerkschaften, den Ländern, den Gemeinden, wie sie sich verhalten sollen, verschweigen aber hier im Parlament und auch gegenüber dem Bürger, was Sie wirklich machen werden.
Eine Regierungserklärung soll aber erklären, was die Regierung tun wird, und sie soll nicht andere belehren, wie sie sich verhalten sollen.
So wird man der Richtlinienkompetenz des Kanzlers, der Funktion der Leitung der Regierung nicht gerecht.
Herr Bundeskanzler, mit dieser Rede stehlen Sie sich aus der politischen Verantwortung und wälzen sie auf Dritte ab.
Mit Ihrer buchhalterischen Aufzählung aller möglichen Einzelfragen
entziehen Sie sich der zwingenden Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen und die wirklichen Probleme der Bundesrepublik offen und klar anzusprechen, jene Probleme, die unsere Mitbürger offensichtlich klarer sehen als Sie. Wer die Sorgen der Bürger dieses Landes kennt und dann Ihre Regierungserklärung gehört hat, der kann sich über diesen Verlust an Realität nur wundern. Wovon täglich die Zeitungen schreiben, das findet in Ihrer Erklärung nicht statt. Bürgernähe, Herr Bundeskanzler, das ist für Sie ein Fremdwort.
Sie haben eine große Chance gehabt, und Sie haben sie vertan. Dies war Ihre erste Regierungserklärung nach einer Wahl. Viele hatten gehofft, und viele hatten Ihnen gewünscht, daß Sie den Mut zu einem neuen Anfang fänden. Die Bereitschaft unserer Mitbürger ist groß, auch eine scheinbar unpopuläre Politik mit zu tragen, wenn sie nur mutig angepackt, vernünftig begründet und von einer vertrauenswürdigen Regierung durchgesetzt wird.
Herr Bundeskanzler, nach manchem, was ich in diesem Jahr beobachten konnte, und auch nach Ihrer gestrigen Rede fürchte ich sagen zu müssen: Sie kennen die Menschen nicht mehr, die Sie regieren; Sie verkennen ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Unsicherheit.
Das haben Sie dokumentiert, als Sie zum Thema Renten sagten: So heftig hatten wir diese Ablehnung nicht erwartet.
56 Deutscher Bundestag — 8: Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
Dr. Kohl
Herr Bundeskanzler, das für mich Unfaßbare ist, daß Sie es nicht fassen können, daß sich Bürger auf das Wort des Kanzlers verlassen
und daß diese Bürger empört sind, wenn der Kanzler sein Wort einfach bricht, so, als wäre dies das Natürlichste von der Welt. Wer soll Ihnen jetzt eigentlich noch glauben?
Wer so die Axt an die Wurzel des Vertrauens in den Staat legt, ist dabei, den Lebensnerv der Demokratie zu gefährden, wenn nicht gar zu zerstören.
Herr Bundeskanzler, ich spreche Sie in dieser Frage so klar und offen an, weil Ihre Rentenpoplitik eben kein Einzelfall, sondern — es tut mir leid, daß ich es sagen muß — ein Symptom Ihres Regierungsstils ist. Man kann durch Worte täuschen, indem man Falsches ankündigt und das gegebene Wort bricht. Man kann auch durch Taten täuschen, indem man dem Wähler beschlossene Tatsachen bewußt vorenthält. Sie und Ihre Partei haben in jüngster Zeit beides getan.
Es ist ein bleibender Skandal in der Geschichte deutscher Demokratie, daß fünf Minuten nach Schließung der Wahllokale am 3. Oktober Herr Osswald seinen Rücktritt bekanntgab.
Und, Herr Bundeskanzler, wenige Minuten nach Ihrer Wahl zum Kanzler trat jener Minister zurück, den Sie und Herr Wehner im Wahlkampf als d e n Aktivposten Ihres Kabinetts gerühmt haben.
Herr Bundeskanzler, können Sie es uns, können Sie es mir verübeln, wenn sich dann die Frage aufdrängt: War nicht dieser Zeitplan im Zusammenhang mit Herrn Arendt notwendig, um Ihre Wahl zum Kanzler überhaupt erst zu ermöglichen?
Die Begründung, die Herr Arendt für seinen Schritt gegeben hat, wirft zugleich ein Schlaglicht auf die tiefen Risse in seiner eigenen Partei. Die Art, wie-Sie, Herr Bundeskanzler, Herrn Arendt hier verabschiedet haben, bestätigt diese These.
Wir in der CDU/CSU haben keinen Grund, uns besonderer Freundschaft zu Herrn Arendt zu rühmen. Nur meine ich, er ist ein Mann, der es nicht verdient hat, in dieser Weise in diesem Hause als Bundesminister verabschiedet zu werden.
— Aber, Herr Kollege Wehner, Sie selbst haben es
doch in der Stunde der Regierungserklärung so empfunden. Ihr Gesicht sprach doch Bände für jeden, der Sie beobachtet hat.
— Herr Kollege Wehner, fröhlich zu blicken um 9 Uhr morgens, ist eine Sache, die mit Ihnen nicht zusammengeht.
Meine Damen und Herren, auf dieser Regierungsbank sitzt die schwächste Regierung, die wir in dieser Bundesrepublik je hatten.
Über 1,2 Millionen Wähler haben Ihnen, meine Damne und Herren von der SPD und FDP, seit 1972 den Rücken gekehrt. Das Schauspiel der über zwei Monate andauernden Koalitionsgespräche hat die Divergenzen zwischen SPD und FDP offenbart. Die Regierungserklärung als das Ergebnis dieser Verhandlungen beweist, daß Sie sich eben nur noch auf den kleinsten Nenner einigen konnten.
Jetzt verfolgen die Bürger den Beginn Ihrer zweiten Amtsperiode mit Sorge, Skepsis und Gleichgültigkeit.
Selten zuvor haben sich solch geringe Erwartungen an eine neue Regierung geknüpft und
war das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit einer neuen Regierung so gering wie heute.
Meine Damen und Herren, wir in der Union empfinden darüber keine Schadenfreude;
denn unser Land braucht eine starke Regierung.
Die Menschen, unsere Mitbürger, müssen darauf vertrauen können,
daß jene, die sie gewählt haben, ihrem Auftrag gerecht werden.
Das gilt für Sie und das gilt für uns gleichermaßen.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 57
Dr. Kohl
Wir, CDU und CSU, nehmen den Auftrag als Opposition an,
ohne Wenn und Aber.
Die Rollen sind klar verteilt.
Wir wollen nicht insgeheim mitregieren;
aber wir entziehen uns nicht unserer Verantwortung.
Wir sind zur Zusammenarbeit im Interesse unseres Landes bereit. Sie müssen wissen, daß Sie ohne uns die Probleme nicht erfolgreich lösen können,
und Sie müssen wissen, daß Sie auch auf unsere Vorstellungen eingehen müssen, wenn Sie die Wiedergesundung der Wirtschaft wollen, wenn Sie die Staatsfinanzen in Ordnung bringen möchten, wenn Sie die Bürokratisierung unseres Lebens einschränken möchten, wenn Sie die drückende Steuer- und Abgabenlasten eindämmen wollen und wenn Sie Sicherheit nach außen und nach innen zu schaffen bereit sind.
18,5 Millionen Bürger haben am 3. Oktober die Unionsparteien gewählt. Sie haben uns, die Union, beauftragt, freiheitliche Politik für Deutschland zu gestalten.
Wir werden ihnen gerecht werden; denn dieser Auftrag verpflichtet uns. Hier im Hause und draußen bei den Bürgern werden wir unseren Beitrag leisten, um die Politik der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit als klare Alternative zu der Politik der Regierung zu gestalten.
Demokratie lebt von Kritik und Kontrolle der Macht.
Je weniger die Regierungsfraktionen diese Aufgabe
erfüllen, desto wichtiger ist die Rolle der Opposition.
Diktatoren kennen nur Regierungen. Opposition, das ist das Kennzeichen lebendiger Demokratie.
Regierung und Opposition, beide haben hier im Parlament Rechenschaft zu geben. Wir rechtfertigen uns nicht vor uns selbst, sondern vor dem Wähler, der uns den Auftrag gab.
Wir beide, Regierung/Regierungskoalition und Opposition, haben die gleiche demokratische Qualität.
Wir alle vertreten demokratische Parteien, die gemeinsam um den rechten Weg für unser Land streiten. Sie als Regierung sind nicht Partei und Richter zugleich. Sie haben nicht zu urteilen, wann die Opposition konstruktiv ist und wann nicht, wann sie dem Staat nützt und wann sie schadet. Die Demokratie kennt keine Opposition von der Regierung Gnaden.
Wir beide haben uns vor der kritischen Offentlichkeit des Wählers zu stellen. Wir brauchen um der Demokratie willen die offene Diskussion über die Werte und Ziele unseres Handelns.
Ich stelle mich bewußt hier und heute in die Tradition — —
— Meine Damen und Herren von der SPD, mir scheint, nach dem 3. Oktober ist es für Sie Zeit, wieder die Gedankengänge einer demokratischen Opposition einzuüben; das liegt nahe.
Ich stelle mich bewußt in die Tradition des ersten Oppositionsführers im Deutschen Bundestag, in die Tradition Kurt Schumachers.
Er sagte 1949 in seiner ersten Erwiderung auf die Regierungserklärung Konrad Adenauers, daß die Überbewertung der Regierung und die Abwertung der Opposition obrigkeitsstaatlichem Denken entspringe, daß Opposition — —
— Aber, Herr Wehner, wir brauchen nicht unsere Ahnen. Uns genügt, wenn wir Sie sehen, wenn ich das so deutlich sagen darf.
Die Opposition ist nicht dann staatserhaltend, wenn
sie durch die Regierung wohlwollend beurteilt wird.
— Ich weiß nicht, warum Sie sich über diese Sätze Kurt Schumachers aufregen. Das sind doch keine parteipolitischen Sätze. Das sind staatspolitisch uns alle verbindende Sätze.
Die Opposition erfüllt nach demokratischem Verständnis ihre Rolle nicht als Hilfsmotor, sondern als Kontrolle und Alternative der Regierung.
Wir sind, ich sage es noch einmal, zur verantwortlichen Mitarbeit bereit, wo es die Probleme zum Wohle unseres Landes erfordern. Herr Bundeskanzler, ich komme auf Ihr Angebot zurück, das Sie gestern an mich persönlich und an meine Fraktion machten, und ich hoffe, daß sich das auch wirklich in der Praxis realisiert. Das alles schließt harte Auseinandersetzungen, wo sie nötig sind, nicht aus, und sie werden nötig sein, wo es um die Grundlagen und um die Grundwerte unseres Staates geht. Das
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Dr. Kohl
sind wir alle als Demokraten unserem demokratischen Rechtsstaat schuldig.
Meine Damen und Herren, meine Freunde und ich wünschen der Bundesregierung Erfolg,
wo immer es darum geht, Gefahren von unserem Volk abzuwenden und das zu tun, was im Interesse der Freiheit und der Gerechtigkeit notwendig ist. Wir sind nicht so hintersinnig, aus Nachteilen für Volk und Staat Vorteile für die Partei ziehen zu wollen.
Nur, wer uns braucht — und diese Regierung wird uns brauchen —, darf die Opposition nicht bitten, sich von Fall zu Fall hinten anzustellen. Wer uns braucht, der muß mit uns rechtzeitig und vollständig über die Bereiche reden, in denen gemeinsames Handeln möglich und erforderlich ist; er darf dies nicht erst dann tun, wenn die Dinge im Vermittlungsausschuß zur Entscheidung anstehen.
Wer uns braucht, muß die Probleme beim Namen nennen, auch wenn er sie selbst mit verursacht hat.
Wir brauchen einen Bundeskanzler mit dem Mut zur Kurskorrektur, nicht einen Kanzler, dessen Talent in der Verschleierung der Probleme zu sehen ist.
Was diese Regierung kennzeichnet, das ist der Mangel an Mut, den Menschen im Lande in einer ernsten Lage reinen Wein einzuschenken. All jene Themen, Herr Bundeskanzler, deren kontroverse Erörterung Sie vor dem Wahltag als Angstmache und Diffamierung und Schwarzmalerei dargestellt haben,
haben Sie jetzt, nach dem Wahltag,
zu Aufgaben Ihrer Regierung erklärt.
Ich habe nichts dagegen, und wir begrüßen diese Hinwendung der Regierung zu politischen Vorstellungen der Union,
und wir werden Ihnen auch in Zukunft Gelegenheit dazu geben. Wir wissen, daß die geistige Führung das Fundament der politischen Führung bleibt.
Zusammenarbeit, Herr Bundeskanzler, erfordert aber auch eine Korrektur Ihrer Art der Gesetzgebungsarbeit. Zentrale Probleme unserer Politik sind oft bis an den Rand des gerade noch Erträglichen aufgeschoben und dann, wenn es gar nicht mehr anders ging, in unverantwortlicher Weise übers Knie gebrochen worden. Den Schaden, den hat der Bürger, der sich oft von heute auf morgen auf unausgereifte, ja zum Teil widersprüchliche Gesetze einrichten mußte. Ich halte dies für das genaue Gegenteil einer ordentlichen Politik, und ich meine, daß bei dieser Methode auch unsere Rechtsordnung und das Vertrauen in sie über Bord gehen.
Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie in aller Form auf: Lassen Sie in der jetzt beginnenden Legislaturperiode von diesem Hauruckverfahren ab, auch wenn es Ihnen noch so schwer fällt, bei vernünftiger Beratung Ihre hauchdünne Mehrheit zusammenzuhalten.
Und lassen Sie auch ab von der Methode, Ihre Gesetzesvorhaben zunächst hinter Schloß und Riegel in komplizierten Koalitionsverhandlungen auf Punkt und Komma zu fixieren und erst dann, wenn es zu spät ist, die Vereinbarkeit mit der Verfassung und mit dem sachlichen Gebot des Gegenstandes zu überprüfen. Die Erfahrungen, die wir — wir alle, auch Sie — in letzter Zeit mit dem Mitbestimmungsgesetz und mit dem § 218 gemacht haben, sollten Ihnen eine Lehre sein. Dieses Verfahren mag man ein- oder zweimal praktizieren; dann ist das Vertrauen des Bürgers ruiniert. Und ich sage Ihnen, wir werden uns an solchen Praktiken nicht beteiligen.
Und, Herr Bundeskanzler, lassen Sie doch bitte die dauernde Schelte des Bundesrates sein.
Ich weiß, daß Sie sich schwer tun mit der bundesstaatlichen Ordnung, aber sie ist unsere gemeinsame Ordnung.
Und vor allem: Diese Schelte entspricht in gar keiner Weise den politischen Tatsachen in unserem Land. Der Bundesrat hat auch in der vergangenen Legislaturperiode mehr als 80 % der Gesetze unverändert passieren lassen und hat bei dem wichtigen Rest nicht selten die Folgen der Gesetzgebungsarbeit der Bundesregierung korrigieren müssen. Noch nicht zehn, meine Damen und Herren, der 518 verabschiedeten Gesetze sind im Bundesrat gescheitert. Es ist keine wirklich wichtige Frage ungeregelt geblieben. Daß manche Entscheidungen anders ausgefallen sind, als dies die Regierung wünschte, entspricht der vom Grundgesetz verfügten Machtverteilung in unserem Staat.
Herr Bundeskanzler, ich will Sie nur warnen vor dem Versuch, dieses Organ unserer Verfassungsordnung umgehen zu wollen. Sie sollten sich vielmehr durch eine rechtzeitige Kontaktaufnahme die Mitarbeit auch dieser Kammer sichern. Das gebietet die Tradition unseres Verfassungsstaats und aller Verfassungsstaaten.
Zusammenarbeit, Herr Bundeskanzler, setzt fairen Umgang miteinander voraus. Ich verhehle nicht, daß es mir auf Grund mancher Erfahrungen schwerfällt, Ihnen in dieser Beziehung einen neuen Vertrauens-
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Dr. Kohl
vorschuß zu geben. Aber wir sind trotzdem alle zu einem neuen Anfang bereit.
Sie haben gestern, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Erklärung sehr lang und breit zu den Themen der Wirtschafts- und der Finanzpolitik gesprochen. Hierzu wird im einzelnen für unsere Seite noch mein Kollege Franz Josef Strauß sprechen.
— Ich weiß gar nicht, was da für Sie so erheiternd ist.
Meine Damen und Herren, das ist der Unterschied zwischen uns — das können wir gleich austragen —: Wir hatten große Probleme und Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen, aber wir haben sie überwunden und nicht in geheimer Abstimmung bei der Wahl des Kanzlers ausgetragen!
Ich möchte überhaupt sagen, meine Damen und Herren, daß wir heute ja nur eine erste Runde in der Generalaussprache vornehmen und daß die Sachdebatte zu vielen wichtigen Details der Politik im Januar erfolgen wird.
Meine Damen und Herren, Voraussetzung für die Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung, der Preisstabilität, solider Staatsfinanzen und wirtschaftlichen Wachstums ist eine ungeschminkte Bestandsaufnahme. Wie sehen denn die Tatsachen aus? Die Zahl der Arbeitslosen nähert sich wieder der Millionengrenze; die strukturellen Defizite in den öffentlichen Haushalten sind unbewältigt; die Preisentwicklung gibt keineswegs Anlaß zu irgendeiner Beruhigung; die Verunsicherung der Wirtschaft hält an. Während dem Bürger bereits jetzt nur noch 40 Pfennig von jeder mehr verdienten Mark bleiben,
drohen neue Mehrbelastungen, sei es bei der Mehrwertsteuer, sei es im Krankenversicherungsbereich.
Dieser Entwicklung kann nicht entcgegengetreten werden mit einer kleinen technischen Änderung hier, einer kleinen technischen Änderung dort. Unsere Wirtschaft braucht wieder Vertrauen. Das ist die Voraussetzung für den Wiederaufstieg.
Nur so kann es gelingen, die mehr als 100 Milliarden DM betragende Investitionslücke zu schließen. Die Ertragskraft der Unternehmen muß gestärkt werden, damit mit neuen Investitionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Meine Damen und Herren, die enormen Chancen und Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft, die durch sozialistische Ideologien und Praxis unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung immer
mehr verschüttet wurden, müssen wieder freigesetzt werden. Das ist eine der Voraussetzungen.
Haben Sie Mut zur Sozialen Marktwirtschaft; dann brauchen Sie nicht zu einer Zeit, wo wir noch vor dem Problemberg stehen, in bekannter Manier nach draußen den Eindruck zu erwecken, wir seien bereits wieder über den Berg.
Zur sozialen Marktwirtschaft — und wir bejahen dies — gehört eine konsequente Wettbewerbspolitik. Ziel ist es, die Leistungsfähigkeit der mittelständischen Unternehmen und ihre Chancengleichheit am Markt zu sichern. Das, was Sie, Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang über den Mittelstand gesagt haben, ist barer Hohn. Wie soll der Mittelstand - ich zitiere — „an den Klippen der Weltwirtschaftsrezession vorbeisteuern", wenn er schon vorher an den Klippen Ihrer Regierungspolitik scheitern mußte?
Die Tatsache, daß im Jahre 1975 die Zahl der Konkurse mit nahezu 10 000 rund fünfmal so hoch war wie im Schnitt der 20 Jahre vor 1969, spricht eine klare Sprache.
Wir erleben hier einen bislang nicht gekannten Auszehrungsprozeß unserer marktwirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Substanz. Wenn dennoch bei vielen unserer Mitbürger der Wille zur Selbständigkeit noch vorhanden ist, so ist dies doch ein eindrucksvolles Zeugnis für den Leistungswillen und die Kraft persönlicher Initiative bei vielen in dieser Bundesrepublik.
Wir dürfen gerade diese Mitbürger nicht im Stich lassen. Wir brauchen diese Gruppe für die Zukunft unseres Landes.
Herr Bundeskanzler, zur Energiepolitik haben Sie sich auffallend verschwommen geäußert. Wir haben erwartet, daß Sie Ihre Ankündigungen aus den letzten drei Jahren wahrmachen. Als uns vor drei Jahren der Ölschock traf, haben Sie ein Programm zur Erschließung und Weiterentwicklung neuer — auch nationaler — Energiequellen angekündigt. Was ist eigentlich, außer neuen Ankündigungen gestern, aus diesen Programmen real und konkret geworden? Und — auch das ist richtig; Sie sagten es —: Energiepolitik ist eine wichtige Angelegenheit von nationalem und internationalem Interesse. Deswegen sind wir mit Ihnen der Meinung, daß die nationalen Energiepolitiken abgestimmt werden. Aber wenn ich sage: „nationale Energiepolitik", dann heißt das doch, daß die Bundesregierung und der Kanzler hier einen Führungsauftrag haben.
Meine Damen und Herren, die Erfahrungen, die die schleswig-holsteinische Landesregierung vor einigen Wochen in Brokdorf machte, zeigten eben nicht jenen entschlossenen Kanzler, der das Notwendige ausgesprochen hat.
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Dr. Kohl
Wir sind uns einig, daß die Errichtung von Kernenergieanlagen eine ebenso schwierige wie wichtige Sache im Interesse nationaler Politik ist. Und damit ist es primär — das sagen ja auch die Verfassung und die Gesetze — eine Aufgabe der Bundesregierung. Nur, meine Damen und Herren, so kann es nicht gehen: daß die Regierung in geheimer Beratung Gutachten gutheißt, Projekte auf den Weg bringt, dann aber, wenn es draußen im Lande mulmig wird, wenn es heißt, man muß für seine Meinung einstehen, die Regierung untergetaucht ist und der Kollege Stoltenberg das Geschäft allein für uns alle besorgen muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Dr. Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident, ich möchte diese Erklärung abgeben, ohne von Zwischenfragen unterbrochen zu werden. Ansonsten bin ich bei jeder Debatte gern bereit, Zwischenfragen zuzulassen.
— Meine Damen und Herren, dies ist meine Antwort auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der zweieinhalb Stunden beanspruchte. Ich will jetzt hier meine Zeit ausnutzen.
Ich will das eben Gesagte in einem Punkt gern einschränken.
Der Kollege Friderichs kam wenigstens, wenn auch spät, noch zum Vorschein und hat seine Meinung geäußert. Sie in der SPD sollten sich aber nicht über diesen Punkt erregen, denn Ihre Freunde in Schleswig-Holstein haben das Feuer doch tatkräftig geschürt.
Ich hätte mir gewünscht, daß der stellvertretende Vorsitzende der SPD, Helmut Schmidt, zu seinen schleswig-holsteinischen Genossen auch öffentlich das Notwendige gesagt hätte.
Herr Bundeskanzler, ich spreche dieses Thema in dieser Deutlichkeit an, weil ich — in einem anderen Amt — bei vielen Gesprächen Zeuge war, die Sie mit uns, den Repräsentanten der Länder, damals führten, als es unter dem Eindruck des Ölschocks darum ging, die Energiebasis so schnell wie möglich zu sichern. Damals war es eine ganz andere Sprache, die ich hörte, als das, was ich gestern in der Regierungserklärung las.
Damals war die Rede von bürokratischen Hemmnissen und solchen Dingen.
Wir sind für streng rechtsstaatliche Verfahren. Wir sind dafür — hier stimme ich Ihnen mindestens
teilweise zu —, daß nicht jede Bürgerinitiative pauschal diffamiert wird. Repräsentative Demokratie die wir bejahen, braucht auch Platz und Raum für das Element von Bürgerinitiativen. Es müssen aber Initiativen sein, die nicht Gefahr laufen, von Leuten umfunktioniert zu werden, die nicht Reaktorenergie, sondern Umsturz unseres Staates im Sinne haben.
Geradezu skandalös ist es, wie die Bundesregierung und auch Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Interessen und dem Vertrauen der elf Millionen Rentner und der über 20 Millionen Beitragszahler in diesen Tagen umgegangen sind. Was soll eigentlich der Bürger denken. Er muß sich doch an der Nase herumgeführt fühlen. Woher sollen Ernsthaftigkeit und Opferbereitschaft kommen, wenn so leichtfertig mit der Wahrheit umgegangen wird? Auf die Opferbereitschaft unserer Bürger sind wir doch alle angewiesen. Zu ihr ist jeder aber doch nur dann bereit, wenn man ihm die Wahrheit sagt, wenn er gerecht behandelt wird und wenn nicht versucht wird, alle über einen Kamm zu scheren. Sie sprachen gestern vom Durchschnitt. Ihren sogenannten Durchschnitt, verehrter Herr Bundeskanzler, gibt es nicht. Es gibt elf Millionen Rentner mit höchst unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Darunter sind rund 2,3 Millionen Rentner mit Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau.
Die Pläne der Bundesregierung zur Sanierung der Rentenversicherung — das wissen Sie so gut wie wir — werden keinen Bestand haben. Ihre Aussage, Herr Bundeskanzler, daß die getroffenen Entscheidungen geeignet seien, die Rentenversicherung zu konsolidieren, wird sich nach einhelliger Meinung aller Experten als ebenso falsch herausstellen wie die Behauptung, daß die Maßnahmen sozial gerecht und ausgewogen seien. Sie sind es nicht.
Unsere Kritik gilt besonders folgenden Punkten.
Erstens. Wo Differenzierung nötig wäre, schlagen Sie alles über einen Leisten. Dies gilt für die generelle Verschiebung der Anpassung, für die Nettolohnanpassung und ganz besonders für die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung. Diese Anhebung trifft nicht so sehr, wie man jetzt sagt, die sogenannten besser verdienenden Arbeitnehmer, sondern sie trifft gerade die kinderreichen Familien in der Bundesrepublik.
Dies gilt schließlich auch für die Maßnahmen, die das gegliederte Krankenversicherungssystem treffen.
Zweitens. Sie schaffen Möglichkeiten der Manipulation. Die Höhe der Rentenanpassung wird zum Gegenstand ständiger politischer Auseinandersetzungen. Durch die geplante Abschmelzung der Rücklage gerät die Rentenversicherung in den Sog des Bundeshaushalts.
Und drittens: Ihre Pläne sind unausgereift. Dies betrifft den finanziellen Effekt, den man sich aus einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze ver-
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Dr. Kohl
spricht, die geplante unterschiedliche Behandlung von Alt- und Neurentnern und den Belastungsbereich in der Krankenversicherung. Wer die unterschiedliche Leistungsfähigkeit nicht systemgerecht berücksichtigt, bereitet den Boden für eine Nivellierung vor. Wer seine Grundsätze aufgibt, um diese Rentenbeschlüsse mitzutragen, der muß auch den Preis kennen, meine Kollegen von der FDP.
Ihr Programm ist unberechenbar und unausgewogen. Es kann und darf so nicht Gesetz werden.
Die Union, unter deren Regierungsverantwortung das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik geschaffen wurde, ist bereit, sich an der Sanierung des Sozialsystems zu beteiligen, an ihr mitzuwirken. Wir lassen uns dabei von folgenden Gesichtspunkten leiten.
Erstens. Das Gebot der Klarheit und der Wahrheit erfordert es, daß der Zusammenhang von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik gewahrt wird, damit keine finanzpolitischen Verschiebebahnhöfe eröffnet werden. Die Finanzen der Sozialversicherung müssen nach bestem Wissen und Gewissen vorausgeschätzt werden, damit die Stabilität der sozialen Sicherung auch langfristig garantiert werden kann.
Zweitens. Die solidarische Absicherung des einzelnen gegenüber den Grundrisiken des Lebens darf nicht zur Disposition gestellt werden. Solidarität, meine Damen und Herren, ist keine Einbahnstraße; sie gilt auch für den Empfänger von Sozialleistungen gegenüber dem Steuer- und Beitragzahler. Dies gehört für uns selbstverständlich zur Solidarität.
Drittens. Der einzelne darf nicht so mit Steuern und Sozialabgaben belastet werden, daß sich Leistung überhaupt nicht mehr lohnt. Dies ist für uns ein wichtiges Stück Freiheit.
Viertens. Die Lasten müssen ausgewogen verteilt werden. Alle Möglichkeiten der Rationalisierung sind auszuschöpfen, bevor zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Dies erfordert das Gebot der Gerechtigkeit.
Wir, meine Damen und Herren, stehen zu unserer Rentengarantie, und wir sind bereit, Mitverantwortung zu tragen. Dies setzt aber voraus, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung voll gerecht wird. Wir fordern Sie, Herr Bundeskanzler, auf, die tatsächliche finanzielle Lage der Rentenversicherung offenzulegen
und tragfähige Vorschläge zu unterbreiten. Voraussetzung jeder soliden Politik ist ein ehrlicher Kassensturz — auch in diesem Fall!
Meine Damen und Herren, wir haben unser Angebot, auch unpopuläre Maßnahmen mitzutragen, oft wiederholt. Ihre Antwort — ich erinnere an die
Tage der Wahl in Nordrhein-Westfalen — war der verleumderische Vorwurf der sozialen Demontage. Neues Zahlenmaterial wollen Sie erst im nächsten Rentenanpassungsbericht mitteilen. Sie wollen offensichtlich weiter an den Symptomen kurieren und den Bürgern die Wahrheit immer noch vorenthalten. Dazu bekommen Sie unsere Zustimmung nicht.
Das gilt auch für jene andere Tendenz: die Selbstverwaltung im Sozialbereich weiter auszuhöhlen und in die Rolle des Sündenbocks für die sozialpolitischen Versäumnisse der Bundesregierung abzudrängen.
Sie wollen Milliardensummen von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung verlagern. Aber für den Bürger ändert das gar nichts, er muß so oder so zahlen, und zwar aus demselben Portemonnaie. Dies ist doch der Punkt, den wir in dieser Diskussion nie aus den Augen lassen dürfen.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat gestern in seiner Regierungserklärung auch die Fragen der Familie sehr breit angesprochen. Ich kann nur sagen: Diese Regierung hat seit Jahren den Schutz und die Förderung der Familie vernachlässigt.
Eine bedrückend große und wachsende Zahl von Familien mit Kindern ist hinsichtlich ihrer Einkommenssituation unter die Sozialhilfeschwelle abgesunken. Wohin, meine Damen und Herren, soll es denn führen, wenn heute schon ein durchschnittlich verdienender Familienvater in Armut abgleitet, wenn er nur drei Kinder hat! Dies ist ein armes Land, wo Kinder Armut bedeuten können. Die Familienpolitik bedarf dringend einer neuen Weichenstellung.
Herr Bundeskanzler, wer ein feines Gehör hat, wenn sich große Verbände zu Wort melden, sollte sein Ohr auch schärfen für Nöte und Sorgen, die nicht so laut vorgetragen werden können.
Die Lebensqualität, die Sie so gern im Munde führen, kann nirgendwo in dieser Gesellschaft besser verwirklicht werden als in intakten Familien.
Wo sind die Antworten der Bundesregierung auf die Frage nach der Zukunft des Familienlastenausgleichs? Wo sind die Antworten auf die Frage nach einer kinderfreundlichen Umwelt? Wo dokumentiert sich der Stellenwert der Familie in Ihrer Politik? Machen Sie sich doch gar nichts vor: Die von Ihnen in Aussicht gestellte Verbesserung des Familienlastenausgleichs reicht noch nicht einmal aus, um den Kaufkraftschwund, dem das Kindergeld ausgesetzt ist, auszugleichen.
Durch die geplante Anhebung des Kindergeldes und des Wohngeldes würden noch nicht einmal zwei Drittel der Mehrbelastungen aufgefangen, denen die Mehrkinderfamilie infolge Anhebung der Mehr-
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Dr. Kohl
wertsteuer ausgesetzt sein wird. Auch das gehört doch dazu.
Meine Damen und Herren, fernab jeder Polemik: Wer heute die Lage der Familienpolitik in der Bundesrepublik studiert, muß doch feststellen, daß sich hier tiefgreifende Fehlentwicklungen zeigen, die man nicht mit technischen Mitteln beheben kann. Wenn wir heute die niedrigste Geburtenrate in der ganzen Welt haben, dann ist das doch auch die Konsequenz einer falschen Politik in den letzten Jahren.
Das hat sehr viel damit zu tun, daß die junge Generation immer mehr zweifelnde Fragen an uns stellt. Ob es uns gelingt, den Jungen wieder mehr Mut und Selbstvertrauen zum Leben in einem freien Gemeinwesen zu geben, ob diese jungen Menschen genug Selbstvertrauen gewinnen können, um mit ihren Schwierigkeiten fertig zu werden, das ist die in meinen und in unseren Augen entscheidende Frage für den Fortbestand der freiheitlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn junge Leute den Eindruck gewinnen müssen, daß sie in unserer Gesellschaft mit ihrer Chance zu kurz kommen, dann gerät diese junge Generation in Gefahr, auf Freiheit verzichten zu wollen und Sicherheit im Kollektiv zu suchen. Hier liegt ein wichtiger Kern des Problems.
Auch mit der gestrigen Regierungserklärung ist der Bundeskanzler den wichtigsten Problemen ausgewichen. Herr Bundeskanzler, Sie sprachen von einheitlichen Lebensbedingungen. Es ist unsere selbstverständliche Pflicht, auch im Bildungswesen die volle Freizügigkeit in allen Teilen unserer Bundesrepublik zu gewährleisten und zu fördern. Aber Sie wissen ganz genau, daß die gestern von Ihnen so lapidar gemachten Vorschläge in dieser Form angesichts der Verfassungsordnung nicht realisierbar sind.
Aufgabe der politischen Führung ist es, sich zu Inhalten und Zielen auch der Erziehung und Bildung zu äußern; Bildung muß mehr vermitteln als Anpassungsfähigkeit oder technisches Rüstzeug.
Ihre Partei, meine Damen und Herren von der SPD, die 1959 in ihrem Godesberger Programm ausdrücklich feststellte, daß Erziehung und Bildung die Widerstandskraft gegen konformistische Tendenzen in unserer Zeit stärken sollen, hat den größten Anpassungsdruck bewirkt, dem junge Menschen in der Geschichte der Bundesrepublik ausgesetzt wurden.
Das ist eine der Konsequenzen einer Politik, die die Zusammenhänge zu sehr verschleiert hat und die sich trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse mehr um eine Expansion in Bildung und Ausbildung als um eine sozial gerechte Qualität unseres Bildungssystems bemüht.
Unser Bildungs- und Ausbildungssystem soll dem jungen Menschen helfen, sein Leben und seine Umwelt selbst zu gestalten. Er muß die Fähigkeit lernen, zu unterscheiden und zu urteilen. Aber er muß auch wissen und gesagt bekommen, daß menschliches Verhalten an Wertenscheidungen gebunden ist. Erziehung soll die Erkenntnis vermitteln, daß wir ein Mindestmaß an Übereinstimmung im Umgang miteinander und im WertbewuBtsein brauchen, wenn wir frei und menschlich zusammen leben wollen.
Es gilt, der jungen Generation die bittere Erfahrung zu ersparen, daß sie auf der Schwelle zum Berufsleben auf eine verschlossene Gesellschaft stößt. Daher ist es unser aller verantwortliche Aufgabe, Bildungswesen und Beschäftigungssystem besser aufeinander zu beziehen. Wir werden dazu aus der Sicht der CDU/CSU unsere eigenen Beiträge in dieser Legislaturperiode liefern.
Eine der großen Aufgaben unserer Zeit ist es, die volle Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen tatsächlich zu verwirklichen. Die Frauen brauchen für ihre Entscheidung keinen Vormund; sie wissen selbst am besten, was ihr Glück und was das Glück ihrer Kinder erfordert: die Sorge um die Familie und die Erziehung der Kinder oder das Engagement im außerhäuslichen Erwerbsbereich. Wir in der CDU/CSU wollen Wahlfreiheit für alle Frauen. Wahlfreiheit — an diesem Ziel werden wir unsere Politik, wird die Bundesregierung ihre Politik, aber werden auch die Sozialpartner ihre Politik messen müssen.
Für die erwerbstätige Frau gilt es vor allem, die Probleme der gerechten Entlohnung zu bewältigen. Aufstiegs- und Weiterbildungsschwierigkeiten müssen beseitigt werden. Für gleiche Arbeit muß gleicher Lohn bezahlt werden.
Das ist eine rechtliche Verpflichtung, und sie darf nicht dadurch unterlaufen werden, daß Tätigkeiten, die üblicherweise von Frauen ausgeübt werden, von vornherein geringer bewertet werden. Hier ist — darüber müssen wir uns alle im klaren sein — vor allem auch die Solidarität und das Beispiel zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern herausgefordert.
Einer Frau, die sich für Haushalt und Familie entscheidet, dürfen daraus keine Nachteile entstehen. Das müssen wir sicherstellen. Darin sehen wir eine der zwingenden großen Reformaufgaben der nächsten Jahre.
Mit der Partnerrente hat die Union die moderne langfristige Konzeption für eine eigenständige soziale Sicherung der Frau vorgeschlagen. In der Partnerrente sehen wir eine umfassende und zukunftsweisende Reform, die Rechte und Pflichten innerhalb der Rentenversicherung grundlegend neu gestaltet. Sie beseitigt eine Reihe gravierender Mängel, die meist zu Lasten der Frau gehen. Mit der partnerschaftlichen Aufteilung der während der Ehe erworbenen Ansprüche wird die Leistung der
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Frau als Hausfrau und Mutter materiell in einem höheren Maße anerkannt als in der Vergangenheit. Die Partnerrente ermöglicht es der Frau, ihren Tätigkeitsbereich frei zu wählen. Frauen dürfen ebensowenig wie Männer aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen in eine bestimmte Rolle gedrängt werden.
Meine Damen und Herren, auch das will ich heute schon ankündigen: Auch in dieser Legislaturperiode wird die Union eines ihrer wesentlichen Ziele, nämlich die Vermögensbildung in breiter Hand, beharrlich weiterverfolgen. Vermögensbildung dient dem Vorteil aller. Der einzelne Arbeitnehmer ist am Wachstum und am Gewinn beteiligt. Verteilungskämpfe bei der Lohnfindung können entschärft werden. Die alte Kapitalstruktur kann verbessert werden. Das ist ein Vorteil für die Wirtschaft. Und der Staat gewinnt dadurch, daß sich die Konjunktur verstetigt und die Leistungskraft unserer Wirtschaftsordnung auch im internationalen Bereich steigt. Wer soziale Marktwirtschaft will, der muß sich auch für Vermögensbildung einsetzen. Wir tun das!
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir beobachten mit steigender Sorge, daß immer mehr Menschen in unserem Land die Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. So stehen wir heute vor der Situation, daß die Gemeinden und Städte, die Kommunen, über die Sozialhilfe Aufgaben erfüllen müssen, die eigentlich in die Verantwortung des Bundes gegeben sind, und daß auf diesem Wege eine Art von Subvention für den Bund stattfindet. Viele Gemeinden sind heute kaum noch in der Lage, die gewaltigen finanziellen Belastungen zu tragen. Wir werden uns dafür einsetzen — und ich hoffe hier auf schlüssige Vorschläge der Bundesregierung —, daß in diesem Bereich Abhilfe geschaffen wird, damit sich die Träger der Sozialhilfe, nicht zuletzt auch die freien Verbände, wieder stärker der personalen Hilfe im Einzelfall widmen können, denn darin sehen wir eine der großen Zukunftsaufgaben.
Herr Bundeskanzler, Ihre Ausführungen zur AuBen- und Sicherheitspolitik werden nach unserer Auffassung dem Ernst der Lage nicht gerecht.
Die europäische Einigungspolitik stagniert. Es gab und es gibt weitere Rückschläge in der Entspannungspolitik. Die Sowjetunion verstärkt ihre Anstrengungen, das weltweite Gleichgewicht, soweit es ein solches noch gibt, zu ihren Gunsten zu verändern. Die Krise im Mittelmeerraum dauert an. Wir sehen uns mit steigenden und vielfältigen Forderungen der Dritten Welt konfrontiert. In diesem Augenblick — wann denn überhaupt, wenn nicht jetzt! — wäre es die Aufgabe der Bundesregierung gewesen, in ihrer Regierungserklärung ein überzeugendes außenpolitisches Gesamtkonzept vorzulegen.
Verbale Bekenntnisse zur europäischen Einigung genügen uns nicht. Wir hören dies von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und auch von Ihrem Vorgänger Willy Brandt nun schon seit Jahren. Tatsache ist jedoch, daß die europäische Politik in Ihrer Regierungszeit die erforderliche Priorität nicht fand. Es kann für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht genügen, nur das mitzumachen, wozu auch das langsamste Schiff im europäischen Geleitzug bereit und in der Lage ist. Wir wollen durch eigene Initiativen der Bundesrepublik, Vorstöße und Aktivitäten die Dinge voranbringen, weil es fünf Minuten vor zwölf ist.
Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ist es bezeichnend oder nur erstaunlich, daß in Ihrer Erklärung kein Wort zum Bericht Leo Tindemans' zu finden ist, jenem Bericht über die Europäische Union. Warum schweigen Sie zu diesem wichtigen Thema?
Für uns in der CDU/CSU bleibt die europäische Einigung ein entscheidendes Hauptziel deutscher Politik.
Sie ist Voraussetzung für Freiheit und Sicherheit, und diesem Ziel werden auch in den kommenden Jahren alle unsere Anstrengungen gelten. Die für 1978 vorgesehene Direktwahl zum Europäischen Parlament ist auf diesem Weg ein entscheidender Schritt. Ich hoffe, daß wir über diese Fragen im Januar noch eingehender diskutieren können.
Von besonderem Gewicht sind nach unserer Oberzeugung auch die Aufgaben in der Nord-Süd-Politik im Bereich der Weltwirtschaftsordnung. Herr Bundeskanzler, die deutsche Politik ist dabei unter Ihrer Regierung in ein Dilemma geraten. Daß es zu diesem Dilemma kam, liegt nicht zuletzt daran, daß Sie viel zu lange die geistige und ordnungspolitische Dimension des Nord-Süd-Problems unterschätzt haben. Sie haben nicht erkannt — oder Sie haben es nicht gesagt —, daß es längst nicht mehr allein um die Entwicklungsländer sing, sondern daß in einer Welt gegenseitiger Abhängigkeiten auch unsere eigene Zukunft angesprochen ist. Sie haben lange Zeit eine ernsthafte Antwort auf die ordnungspolitische Herausforderung der Entwicklungsländer überhaupt nicht für nötig gehalten. Die Folge war nicht zuletzt auch, daß sich in der Dritten Welt radikale Wortführer in ihrer Position festigen konnten und daß sich unsere europäischen Partner dann einer dirigistischen Linie näherten und wir dabei in die Defensive gerieten. Aus die-sere Defensive müssen wir herauskommen und trotz aller Schwierigkeiten in Europa zu einer gemeinsamen Linie finden.
Eine positive Alternative muß nach unserer Auffassung vor allem vier Punkte umfassen: 1. eine Steigerung der öffentlichen Entwicklungshilfe, um in absehbarer Zeit das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, 2. ein umfassendes System der Exporterlösstabilisierung, 3. eine weitere Öffnung unserer Märkte für die Waren der Entwicklungsländer und
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Dr. Kohl
4. eine vorausschauende marktkonforme Strukturpolitik in den Industrieländern. Für diese marktwirtschaftliche Gegenoffensive muß unser Land als zweitgrößte Handelsmacht der Welt eintreten und werben, und auf diesem Wege werden Sie unsere Unterstützung bekommen.
Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die Probleme der Entwicklungsländer und der Industrieländer nur in einer wirklich freien und sozialen Weltwirtschaftsordnung lösbar sind.
Wir wären sehr dankbar, wenn diese Erkenntnis Allgemeingut der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands würde und wenn sich hierzu vor allem auch der Kollege Brandt als Vorsitzender der SPD und als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale bekennen würde, dessen Worte im Ausland in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem stehen, was Sie, Herr Bundeskanzler, gestern hierzu im Plenum gesagt haben.
Wir teilen die Sorge der Bundesregierung über die Bestrebungen einiger NATO-Mitgliedsländer, ihre militärischen Verpflichtungen innerhalb der Allianz einseitig zu reduzieren. Nur, Herr Bundeskanzler, es sei uns und mir der Hinweis erlaubt: viele dieser Regierungen werden von Sozialisten angeführt; und wir hoffen sehr — und wünschen Ihnen auf diesem Weg alles Gute —, daß Sie auch mit der Aufgabe fertig werden, in der Sozialistischen Internationale dazu beizutragen, diese bedenklichen Entwicklungen zu korrigieren.
Sie sollten dabei vor allem auf eine wichtige Konsequenz dieser Entwicklung hinweisen. Es ist nicht unser Ziel und kann nicht unsere Politik sein, daß die Bundesrepublik die dann entstehenden Lücken auffüllt. Wir können — wie unsere Nachbarstaaten — aus begreiflichen Gründen kein Interesse daran haben, im Bereich der militärischen Rüstung zum Primus Europas zu werden.
Herr Bundeskanzler, Sie stellen in Ihrer Erklärung fest, daß der stetige Ausbau der militärischen Stärke des Warschauer Pakts anhält. Wir müssen von Ihnen erwarten, daß Sie um des Friedens willen eindringlich an die Adresse der Sowjetunion appellieren: Die Sowjetunion muß wissen, daß die freie Welt eine Veränderung des gegenwärtigen Machtgleichgewichts nicht hinnehmen kann. Dieses Gleichgewicht bleibt die Voraussetzung dafür, daß Entspannungspolitik überhaupt möglich ist. Wer das Gleichgewicht bedroht, gefährdet wirkliche Entspannungspolitik.
Die Sowjetunion muß wissen — dies müssen wir offen sagen —, daß sie jede politische Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie weiterhin aufrüstet.
Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind aber die Voraussetzungen für die Politik der Zusammenarbeit. Wir sind zur Verständigung und zum Ausgleich mit der Sowjetunion und den osteuropäischen
Staaten bereit. Verständigung und Ausgleich in Osteuropa sind aber nur dann möglich, wenn man nicht auf Illusionen, nicht auf Beschwichtigung und nicht auf Vertrauensseligkeit setzt, sondern wenn man kommunistische Politik und kommunistische Praxis richtig einschätzt.
Bei allen Verhandlungen und Verträgen müssen die deutschen, müssen unsere Interessen gewahrt bleiben. Leistung und Gegenleistung müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Und, meine Damen und Herren — ich hoffe, dem stimmen alle zu —, Grundlage für die deutsche Politik bleiben die gemeinsame Resolution des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973.
Ihre Ausführungen zur Lage der Nation, Herr Bundeskanzler, zu der wir noch einen eingehenden Bericht im neuen Jahr und die nachfolgende Debatte erwarten, haben uns nicht genügt. Natürlich — wer wollte das leugnen? — verkennen wir nicht die Bedeutung der Reisemöglichkeiten. Wir nutzen diese Möglichkeiten, wenn irgend möglich, ja selber. Aber gerade aus meinen persönlichen Erfahrungen von meinen Reisen nach Leipzig, Dresden und Weimar weiß ich, wie lebendig der Wille zur Einheit auch und gerade unter unseren Mitbürgern in der DDR ist.
Sogar der kommunistische Liedermacher Biermann hat in diesen Tagen darauf hingewiesen, daß die Teilung überwunden werden muß, wenn die Menschenrechte in der DDR und an der innerdeutschen Grenze Wirklichkeit werden sollen.
— Ich war eigentlich der Meinung, daß das ein Punkt ist, in dem wir uns noch gemeinsam verständigen können.
Meine Damen und Herren, wir alle wollen die Spaltung Europas und mit ihr die Teilung unseres Vaterlandes überwinden, in Frieden überwinden; an Drohung und Gewalt denkt niemand. Wir verkennen auch nicht die realen Machtverhältnisse. Aber, meine Damen und Herren, zu der Macht der Tatsachen zählen nicht nur die Politik der Regierungen und die Stärke der Waffen, sondern auch der Wille der deutschen Nation zur Einheit, der seine geschichtliche Kraft behalten wird.
Wir fragen uns auch, warum die Bundesregierung nicht über die Folgeverträge zum innerdeutschen Grundvertrag spricht, die in Art. 7 angesprochen sind. Gerade sie sollten doch zu dem führen, was wir alle wollen: zu mehr menschlicher Erleichterung.
Und, meine Damen und Herren, ich hörte in der Regierungserklärung kein Wort zur inneren Entwicklung im anderen Teil Deutschlands, in der DDR.
Meine Damen und Herren, der Tod von Pfarrer
Brüsewitz, die Zwangsausbürgerungen, die Men-
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Dr. Kohl
schenrechtsbewegung in Riesa, das alles findet doch nicht irgendwo auf einem fernen Kontinent statt; das ereignet sich doch mitten in unserem eigenen Vaterland. Das alles kann uns doch nicht ruhig lassen!
Es ist unser Auftrag, es ist unsere Pflicht, weil wir die Chance haben, im freien Teil unseres Vaterlandes zu leben, zu verhindern, daß es der SED gelingt, diesen Kampf um die Menschenrechte zu unterdrücken. Der Kampf um die Menschenrechte, Herr Bundeskanzler, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist ein wirkliches Feld für gemeinsame Anstrengungen und gemeinsame Verantwortung aller deutschen Demokraten.
Wir können auch nicht dazu schweigen, daß, für jedermann erkennbar, die Sowjetunion verstärkte Anstrengungen unternimmt, die Staaten Osteuropas und Südosteuropas immer mehr gleichzuschalten. Wenn wir darüber sprechen, ist das überhaupt keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer. Friede, Freiheit und Menschenrechte gelten weltweit, und deshalb werden wir nicht zu Gewalt und Unterdrückung schweigen, wann und wo immer sie vollzogen werden.
Und ich füge hinzu: wir werden dabei nur glaubwürdig sein, wenn wir bei uns selbst anfangen. Wir werden deshalb zu keinem Zeitpunkt, auch wenn manche glauben, das sei opportun, zu den Menschenrechtsverletzungen mitten in Deutschland, zu Schüssen an Mauer und Stacheldraht schweigen.
Berlin und unsere Mitbürger in Berlin bedürfen der Hilfe und der besonderen Solidarität der freien Welt, der Hilfe von uns allen. Berlin, meine Damen und Herren, das ist nicht irgendeine Stadt wie jede andere. Berlin, das ist eine nationale Aufgabe für das freie Deutschland. Berlin ist Mittelpunkt aller Deutschen, und Berlin ist Prüfstein deutscher Politik.
Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß das Viermächteabkommen zahlreiche Verbesserungen für die Menschen in Berlin gebracht hat. Das ist unbestreitbar richtig. Aber auf der anderen Seite ist die Lebensfähigkeit der Stadt insgesamt — auch dies ist richtig, leider richtig — nicht gestärkt worden. Es müssen weiterhin alle nur denkbaren Anstrengungen unternommen werden — und dabei können Sie immer auf uns in der Union zählen —, um die Lebenskraft und die Zukunftserwartung der Stadt und ihrer Bürger zu stärken. Dazu ist es sicher auch nötig, die Unternehmungen und die Wirtschaft voll zu entfalten, Arbeitsplätze zu sichern, neue Arbeitsplätze vor allem auch für junge Leute zu schaffen. Dies ist aber auch eine geistige, eine kulturelle und vor allem eine menschliche Aufgabe. Angesichts der vielfältigen Drohungen aus dem Osten muß der
entschlossene Wille zur Verteidigung des freien Berlin zu jeder Stunde und an jedem Tag deutlich bleiben. Nur so kann das Vertrauen der Berliner in die Zukunft ihrer Stadt erhalten und gefördert werden.
Mit einiger Sorge, Herr Bundeskanzler, haben wir gestern feststellen müssen, daß in Ihrer Regierungserklärung so gut wie nichts über die Wiener Verhandlungen über eine beiderseitige und ausgewogene Verminderung der Streitkräfte in Mitteleuropa ausgesagt wird. Auch dies steht übrigens in offenem Gegensatz zu den öffentlichen Erklärungen Ihres Parteivorsitzenden Willy Brandt,
der in diesem Punkte, wenn ich es recht verstehe, Ihrer Regierung mehr eine Annäherung an den sowjetischen Standpunkt empfohlen hat.
Ich stelle mit aller Deutlichkeit folgendes fest.
Erstens. Wir bedauern erneut, daß trotz unserer Warnungen der sachliche und zeitliche Zusammenhang zwischen den multilateralen Bemühungen um politische und militärische Entspannung in Europa, verhandlungstechnisch: zwischen KSZE und MBFR, aufgegeben worden ist.
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, bei MBFR-Verhandlungen gemeinsam mit unseren NATO-Verbündeten Ergebnisse auf der Basis der NATO-Vereinbarungen zäh und geduldig und entschlossen anzustreben.
Drittens. Wir warnen vor einem deutschen Alleingang oder Vorprellen in diesen Verhandlungen. Wir warnen auch vorsorglich schon heute davor, in bilaterale deutsch-sowjetische Gespräche über neue Initiativen ohne die denkbar engste Konsultation mit unseren Verbündeten einzutreten.
Wir warnen — ich sage dies ganz offen — viertens vor unverantwortlichen Signalen an Moskau, die ein weiteres Aufweichen der gemeinsamen westlichen Grundsatzposition und ein Eingehen auf die sowjetischen Vorstellungen andeuten, obwohl die Sowjetunion auf die beiden bisherigen NATO-Vorschläge ausgesprochen negativ reagierte.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer ersten Regierungserklärung — nach Ihrer Wahl zum Kanzler im Jahre 1974 — eine Alternative zu Ihrem Vorgänger Willy Brandt darzustellen versucht. In vielen Zeugnissen der verfaßten öffentlichen Meinung wurden Sie damals als der große Macher dargestellt, und Sie haben dies gerne ertragen. Gestern haben wir Ihr Bemühen gesehen, Ihre Politik wenigstens in Ansätzen wertmäßig zu begründen. Nicht wenige Ihrer Parteifreunde — auch nicht wenige, die hier im Saal sitzen — haben Ihnen im Innenverhältnis und in öffentlichen Zeugnissen immer wieder vorgehalten, daß Ihrer Politik die tiefere Dimension fehlt und daß sie ohne Perspektive für die Zukunft bleibt. Ich fürchte, trotz Ihres Bemühens, das ich
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würdige, wurde gestern dieser Eindruck nicht beseitigt, sondern nur verstärkt.
Meine Damen und Herren, so einfach ist das
— so einfach ist das für Sie: Liberalität gleich FDP, Solidarität gleich SPD,
und beides zusammen gleich SPD/FDP. Glauben Sie denn wirklich, daß Sie durch diese formale Addition von Begriffen eine tiefere Legitimation für Ihre Politik begründen können?
Glauben Sie wirklich, daß Sie dadurch dem verstärkten Verlangen gerade junger Mitbürger nach einer wertmäßigen und sinnhaften Orientierung unserer Politik genügen können?
Solidarität: Herr Bundeskanzler, was Sie zur Solidarität gesagt haben, zeigt doch nur eines: daß Sie weder über ein modernes noch in meinem Sinne über ein freiheitliches Verständnis von Solidarität verfügen. Sie beschreiben Solidarität nach wie vor mit der alten sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und bleiben damit der Tradition Ihrer Partei treu.
Sie haben eben kein liberales, sondern Sie haben ein sozialistisches Verständnis von Solidarität.
Solidarität ist für Sie in erster Linie eine staatliche Leistung, Sie spüren offensichtlich gar nicht, was immer mehr Menschen spüren: daß der einzelne auch entmündigt wird, wenn ihm die Motivation, der Anreiz zur eigenen solidarischen Leistung genommen wird.
Für uns, meine Damen und Herren, entsteht Solidarität aus verantworteter Freiheit. Der Staat darf den einzelnen nicht bevormunden, indem er alle Aufgaben für ihn übernimmt; er soll vielmehr dem Bürger eigene Initiative und Verantwortung zumuten und ermöglichen. Das ist unsere Vorstellung von Solidarität!
Herr Bundeskanzler, die Unfähigkeit, Solidarität politisch neu zu definieren, findet ja auch ihre Entsprechung in Ihrer Regierungspraxis, die, wenn ich es recht sehe, immer mehr auf ein Kartell zwischen Regierung, manchen Bereichen der Verbände und der Wirtschaft hinausläuft. Bei diesem technokratischen Regierungsverständnis braucht man sich dann wirklich nicht darüber zu wundern, daß die nicht organisierbaren Interessen der Menschen durch die Maschen Ihrer Politik hindurchfallen.
Liberalität, diesen Anspruch wollen Sie vor allem einlösen durch eine, wie Sie sagen, liberalere Praxis gegenüber den Verfassungsfeinden. So verengt und verzerrt stellt sich Ihnen das Problem der Liberalität heute. Kein Wort, meine Damen und Herren, darüber, daß es die wirklich liberale Aufgabe des Staates war und ist, die Freiheit aller seiner Bürger zu schützen — auch vor ihren Feinden!
Jeder von uns geht doch davon aus, daß sich von daher unsere eindeutige Haltung gegenüber den Verfassungsfeinden rechtfertigt.
Zum Thema selbst, zum Thema „Verfassungsfeinde", heute nur eine kurze Bemerkung; wir werden im Januar mehr darüber zu sagen haben. Wir alle wollen weder Duckmäuser noch Gesinnungsschnüffelei, noch die Bestrafung von Jugendsünden.
Wir halten uns streng an das rechtsstaatliche Verfahren. Aber wir haben auch aus der Geschichte gelernt. Es ist schon einmal eine deutsche Republik an ihren Feinden zugrunde gegangen.
Wir werden nicht zulassen, daß zum zweitenmal unser freiheitlicher Staat seinen Feinden ausgeliefert wird, den Feinden unseres demokratischen Staates, ob sie von rechts oder von links kommen.
Deswegen gilt der Satz: Feinde der Freiheit können nicht Diener unseres freiheitlich demokratischen Rechtsstaates sein, weder als Richter noch als Lehrer, noch als Verwaltungsbeamter in irgendeiner Führungsfunktion dieses Staates.
Eine der entscheidenden Fragen unserer Zeit hat die Regierungserklärung allenfalls oberflächlich gestreift — wenn Sie den Text Ihrer Rede nachlesen, Herr Bundeskanzler, und den Vergleich mit der Gasrechnung noch einmal überdenken, werden Sie mir sicherlich recht geben —,
nämlich die immer mehr Menschen beunruhigende Frage, ob mehr Staat nicht automatisch immer mehr Bürokratie und immer mehr Ausgeliefertsein einer wachsenden Bürokratie gegenüber bedeutet und ob
mehr Bürokratie nicht weniger Freiheit und weniger Selbstbestimmung nach sich zieht.
Sie reden jetzt von „Liberalität" ; aber, Herr Bundeskanzler, Sie sagen kein Wort von der Gefahr, daß eine egalitäre Gleichheit und die drükkende Last von Steuern und Abgaben den Raum der Freiheit mehr und mehr einengen.
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Wer von Liberalität spricht und das dann nur noch
mit der Frage der Verfassungsfeinde begründet, hat
sich aus der Freiheitsdebatte selbst ausgeschaltet.
Wir, die Union, betrachten es als unsere vorrangige Aufgabe, die freiheitliche Alternative zum Sozialismus lebendig zu halten und nach Kräften durchzusetzen.
Ein gerechtes und ein freiheitliches Gemeinwesen zu schaffen darin sehen wir die große Herausforderung unserer Zeit. Darin unterscheiden wir uns von jenen, die Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechseln und die den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung verkennen.
Bei der Begründung der Bundesrepublik Deutschland haben wir mit der Sozialen Marktwirtschaft eine neue Idee verwirklicht. Sie begreift die Freiheit des Menschen und die soziale Gerechtigkeit für alle nicht als Gegensatz, sondern sie stellt sie in ihren unauflöslichen Zusammenhang. Diese Aufgabe bleibt.
Darum: Schützen wir, was sich bewährt hat! Dies kann uns in einer Welt raschen Wandels nur gelingen, wenn wir es zugleich ständig erneuern. Wir, die Fraktion der CDU/CSU, mit unseren vielen Freunden im Lande haben die Zuversicht, daß es sich lohnt, für eine solidarische und verantwortete Freiheit zu kämpfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, gemäß § 39 der Geschäftsordnung soll der Präsident die Redezeit verlängern, wenn der Gegenstand der Aussprache dies nahelegt. Gegenstand der Aussprache ist die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers. Wegen der Bedeutung dieses Gegenstands habe ich die Redezeit des ersten Redners verlängert. Ich beabsichtige, bei den folgenden Rednern genauso zu verfahren, wenn sie dies wünschen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört zu den Pflichten der Opposition, es der Regierung nicht leichtzumachen. Unsere Pflicht ist es, die Regierung zu tragen und sie zu unterstützen. Die Sozialdemokraten in diesem Haus werden es an Geschlossenheit nicht fehlen lassen, ebensowenig wie sie versäumen werden, in die gesetzgeberische und kontrollierende Arbeit des Parlaments durch sachliches Engagement einfließen zu lassen, was sich aus ihrem, aus unserem Wählerauftrag ergibt und was sie, was wir auf Grund unseres dauernden Gesprächs mit den Bürgern einzubringen haben. Für die Sozialdemokraten erkläre ich zugleich, meine Damen und Herren: Wir stehen zur fairen Partnerschaft mit den Freien Demokraten, die sich bewährt hat und die, wovon man sich gestern überzeugen konnte, durch ein ausgewogenes, solides Regierungsprogramm der Vernunft bestätigt worden ist.
Die Ereignisse der letzten Wochen, meine Damen und Herren, haben zudem manchen unserer Mitbürger, die dies noch nicht wußten, deutlich vor Augen geführt: Es gibt für die jetzt vor uns liegenden Jahre keine wirkliche Alternative zur sozialliberalen Koalition.
Denn wie sollte unser Land wohl mit Vorteil durch Parteien regiert werden können, die es mit Hängen und Würgen gerade noch einmal zustande brachten, einen gemeinsamen — oder soll ich sagen: überwölbenden — Fraktionsvorstand zu bilden?
Und trotzdem, meine Damen und Herren: Wir erkennen nicht nur die unterschiedlichen Pflichten, die uns hier auferlegt sind — Ihnen in der Opposition, uns in der die Regierung tragenden Koalition —, wir empfinden nicht minder die Verantwortung, in die wir alle miteinander gestellt sind. Deshalb sage ich hier zu Beginn der Arbeit dieses Bundestages und im Wissen um all das, was an Auseinandersetzungen bevorsteht: Wir deutschen Sozialdemokraten sind zur sachlichen Zusammenarbeit bereit, wo immer sie möglich ist, um das Leben und die Rechte unserer Mitbürger zu sichern, um Freiheit und Frieden zu verteidigen, um den europäischen und weltweiten Aufgaben der Bundesrepublik Deutschland gerecht zu werden.
Es darf in diesem Hause nicht nur den Meinungsstreit und das Gegeneinander von Koalition und Opposition geben. Es muß auch ein Miteinander all derer geben können, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und die den demokratischen und sozialen Bundesstaat ausbauen wollen, so wie es uns die Verfassung aufgetragen hat.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß ein in sich gespaltenes Haus nicht Bestand haben kann.
Ich habe vor dem 3. Oktober gesagt: Wenn die Wähler entschieden haben, werden Wunden bleiben, die der Wahlkampf geschlagen hat. Ich füge hinzu: Wir müssen uns miteinander Mühe geben, damit das Feinddenken im politischen Leben unseres Landes nicht weiter um sich greift.
— Haben Sie nicht gehört, daß ich mich an unser aller Adresse wende, auch an meine eigene! —
Die Sicherung des inneren Friedens erfordert die
Kraft, einander zuzuhören und sich selbst zu prüfen,
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Brandt
auch so, Herr Kollege Kohl, daß aus noch so festen Überzeugungen keine Monopolansprüche werden.
Meine Damen und Herren, zum Regierungsprogramm, das der Bundeskanzler hier gestern vorgetragen hat, habe ich mich natürlich nun ganz anders zu äußern, als es der erste von mehreren Sprechern der Opposition zu tun für richtig hielt. Wir Sozialdemokraten meinen, es handle sich um ein gutes, solides, realistisches Programm für die nächsten vier Jahre, und wir schätzen dabei nicht zuletzt jene Orientierungen, die über die Zeit bis 1980 hinausreichen. Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion danke ich dem Bundeskanzler und sage ihm, dem Vizekanzler ebenso wie allen Mitgliedern des Kabinetts unsere guten Wünsche. Sie können sich auf uns verlassen.
Der Bundeskanzler vertritt die Interessen des gesamten Staates und unseres Staatsvolkes. Er vertritt auch Sie, meine Damen und Herrn von der Opposition, selbst dann, wenn Sie es nicht wahrhaben wollen. Er vertritt auch die Interessen Ihrer Wähler. Er vertritt auch die Minderheiten, nicht nur die Mehrheiten. Ich weiß aber wohl, daß Konflikte dadurch nicht aufgehoben und daß Gegensätze bestehen bleiben werden. Das Stichwort Fair play beinhaltet aber noch etwas mehr als die Erwartung, daß die Spielregeln beachtet werden, nämlich den Ausdruck des Respekts vor der Demokratie als Lebensform — nicht nur als Regierungsform —, als Ordnung der Regeln für die Parlamente und ihre Kontrolle der Bürokratien. Demokratie als Lebensform soll und muß der lebendige Anspruch sein, den unser Volk an sich selbst stellt, hineinwirkend in alle sozialen Bereiche und in jene der Wirtschaft.
Dieser Wille zu einer umfassenden Demokratie kann die recht verstandene Autorität nicht lähmen, sondern wird sie erst zur realen Autorität werden lassen, nämlich durch Abwägung und Ausgleich der Interessen, die in unserer Gesellschaft, die in allen modernen Gesellschaften so kompliziert geworden sind, wie sie es wohl nie zuvor waren.
Meine Damen und Herren, ich bin in diesem Augenblick sicher nicht der einzige in diesem Hause — auch außerhalb dieses Saales wird es manchen geben, der meiner Meinung ist — der die Rede des Führers der Opposition in Wirklichkeit war es ja Herrn Kohls Jungfernrede als Mitglied dieses Hohen Hauses — als wenig konstruktiv empfunden hat.
Ich muß ehrlich sagen — Sie werden das nicht falsch verstehen —: Es war eine eher schwache Vorstellung in starken Worten.
Herr Kollege Kohl, Sie haben die Rede des Bundeskanzlers für ein bißchen zu lang gehalten. In dieser Rede stand aber eine Menge.
Ich hoffe, wir werden in der Zeit, die vor uns liegt, von der Opposition Reden und Texte hören und lesen, in denen auch viel steckt.
Ich greife das Wort von der Chance auf. Ich finde, es ist schade, daß der Herr Kollege Kohl hier eine Chance vertan hat. Aber vielleicht muß man ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, daß der Kollege Kohl bei Helmut Schmidt einiges von dem hat abladen wollen, was er bei Herrn Strauß nicht losgeworden ist.
Insofern wird dem einen und anderen im Hause und
außerhalb des Hauses die erste Rede dieses Vormittags als eine Art Ersatzhandlung erschienen sein.
Es kommt etwas anderes hinzu. Die Oppositionsparteien, unter einem alles andere als wetterfesten Dach in diesem Bundestag noch einmal mühsam zusammengehalten, befinden sich seit geraumer Zeit in einem Stadium, in dem bei ihnen ganz anders, als Sie es im letzten Teil Ihrer Rede sagten, Herr Kollege Kohl, das Taktische dominiert.
Wo es grundsätzlicher Antworten oder zumindest Fragestellungen bedürfte, wird in taktischen Kategorien, die auf den kurzfristigen Vorteil abzielen, gedacht und agiert. Ich werde darauf noch zurückkommen. Nur das eine lassen Sie mich schon jetzt sagen: Wir werden Ihnen natürlich nicht den Gefallen tun, uns Ihre Scheinthemen aufzwingen zu lassen, sondern wir werden Sie drängen und bedrängen, im Gespräch und in der Auseinandersetzung sich mehr mit dem zu befassen, womit wir es in der Bundesrepublik unserer Überzeugung nach wirklich zu tun haben.
Dies ist, Herr Kollege Kohl, nicht das Elendsgebiet, als das es landauf, landab durch Wahlredner beschrieben wurde, die selber nicht daran glaubten,
sondern dies ist ein Land, dessen Menschen es materiell und in ihrer Rechtssicherheit insgesamt besser geht als den Menschen in fast allen Teilen der Welt und die dennoch erwarten und einen Anspruch darauf haben, daß an diesem Land weiter gebaut wird im Zeichen von Solidarität und Liberalität. Diese Republik ist als Staat freier Bürger angelegt und nicht als Gefängnis, aus dem befreit zu werden unsere Mitmenschen einer Kassandra aus dem Schatten des Karwendelgebirges bedürften.
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Unser Land lebt gemeinsam mit seinen Nachbarn. Isolationismus war früher ein Privileg und zuweilen ein Vorteil des Starken. Heute dokumentiert sich die Stärke der Völker in ihrem Willen zur Zusammenarbeit und in ihrem Mut zur Abhängigkeit.
An der Schwelle der 80er Jahre — und wir sind ja ganz nah dran — kann Deutschland alles Mögliche brauchen, nur nicht neue Isolierung.
Als wir Sozialdemokraten vor zehn Jahren Regierungsverantwortung im Bund mit übernahmen, haben wir mitgeholfen, die Gefahr der Isolierung abzuwenden. In den sieben Jahren sozialliberaler Koalition haben wir überholte Abhängigkeiten überwinden helfen. Unserer Verankerung im westlichen Bündnis und unserem unverdrossenen Wirken an der europäischen Einigung wurde eine konstruktive Politik gegenüber den östlichen Nachbarn hinzugefügt. Dies war notwendig, auch wenn es darum viel Streit gegeben hat. Dies bleibt notwendig, auch wenn darum neu gestritten werden muß,
sei es innerhalb der Unionsparteien, sei es zwischen ihnen und der Koalition. Mit anderen Worten, wir werden beharrlich und unbeirrt weiterarbeiten trotz aller Verzögerungen und Rückschläge für den Ausbau einer funktionsfähigen europäischen Gemeinschaft. Wir arbeiten für den Zusammenhalt der atlantischen Allianz. Wir arbeiten für die Bedingungen eines Friedens, in dem die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Systemen unter Kontrolle bleiben, in dem sie planvoll gemildert und gemindert werden können.
Ich spüre es draußen im Lande, daß wir einer Generation begegnen, deren Erfahrung die des Friedens ist — und so ist es ja auch wirklich —, der die Erfahrung des Krieges erspart geblieben ist. Und darüber kann man sich mit dieser neuen Generation nur freuen. Ich werbe um diese Jugend und sage ihr: Ohne den Abbau von Spannungen, ohne Zusammenarbeit zwischen Ost und West wird es keinen sicheren Frieden geben. Immer klarer wird aber auch, daß es ohne Ausgleich zwischen den Völkern in Nord und Süd keine gute Zukunft für die Menschheit gibt. Wir müssen uns dieser noch nicht lange entdeckten Abhängigkeit bewußt sein und uns ihr stellen, aus ihr Folgerungen ableiten und wissen, daß es dabei ohne Leistungen nicht abgehen wird.
Die Entwicklung gebot, zu Beginn der 70er Jahre unser Verhältnis zum anderen deutschen Staat, zum anderen Staat in Deutschland zu ordnen. Der Leitsatz auch unserer Deutschlandpolitik heißt Kontinuität.
In Ausführung und Ausfüllung des Grundlagenvertrags gilt es, um eine stetige und gleichmäßige Besserung der Beziehungen zur DDR bemüht zu bleiben. Diese Beziehungen haben sich zeitweise als anfällig — um einen bewußt leidenschaftslosen Ausdruck zu verwenden — erwiesen. Dennoch verfügen beide deutsche Staaten zusätzlich zu dem, was uns miteinander bekümmert und empört, mittlerweile gewissermaßen über einen Besitzstand an produktiver Gemeinsamkeit, der auch ihren Bürgern zugute
kommt. Ich verzichte also bewußt darauf, mich in diesem Augenblick zu Vorgängen zu äußern, die mich bekümmern, die viele von uns, die — ich denke — alle unter uns empören. Statt dessen sage ich: Wir sollten den Besitzstand in dem eben beschriebenen Sinn ausbauen, um die Anfälligkeit zu mindern.
Die Bundesregierung hat — wenn ich es recht verstanden habe — deutlich gemacht, daß sie der Entspannung Vorrang einräumt, zumal sie kein Ziel hat, das sich ohne Entspannung fördern oder erreichen läßt. Man wird diese Politik aber nur soweit führen können, als wir dafür Partner haben. Im Europa nach Helsinki sind der Belastbarkeit zwischenstaatlicher Beziehungen Grenzen gesetzt. Das gilt in diesem Fall besonders. Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten darf nicht schlechter sein als das Verhältnis der anderen Staaten in Europa.
Es würde niemandem dienen — ich sage das ohne Vorwurf an die Adresse anderer; denn wir werden von links wie von rechts mit dem zu tun bekommen, wovon ich jetzt spreche —, sollten sich in diesen Jahren neue gesamtdeutsche Illusionen breitmachen — denn das ist etwas anderes als das Ringen um das Ziel, das die Bundesregierung neu beschrieben hat —, sollte, will ich sagen, die Sehnsucht nach der Vergangenheit von dem Wunsch nach einer isolierten Antwort auf die deutsche Frage abgelöst werden. Diese isolierte Antwort gibt es nicht, und es gibt keine Alternative zum Ringen um die weitergreifende Regelung von Beziehungen, die den Menschen hüben und drüben zugute kommt.
Ich sprach von Abhängigkeiten. Einige davon haben wir in diesen Jahren auch insoweit abgebaut, als wir Menschen Mut machten, Staat und Gesellschaft zu modernisieren, an reformerischen Vorhaben mitzuwirken, an solchen, die mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit verwirklichen sollten. Freiheit bringt Risiko. Das gnadenlose Risiko, das absolute Freiheit bringt, muß im Interesse der Menschen und des demokratischen Staates durch Gerechtigkeit und Solidarität gemildert werden. Für diese Freiheit wird die SPD, wird die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wie eh und je an vorderster Front kämpfen.
Es bleibt also viel zu tun. Wir werden nicht weniger, sondern wir werden mehr als bisher auf die Bereitschaft der Bürger angewiesen sein, Mitverantwortung für die gemeinsamen Angelegenheiten zu übernehmen, den sozialen Ausgleich zu fördern, sich am allgemeinen Wohl zu orientieren. Alles, was den Dialog zwischen Bürger und Politik zum Gegenstand hat und was die Prozesse gemeinsamer Willensbildung und Entscheidungen betrifft, ist wichtiger geworden. Mitbestimmung und verantwortliche Mitwirkung sind keine leeren Formeln mehr. Sie werden in den kommenden Jahren in der Praxis zunehmend zu erproben sein, damit sie zu einem selbstverständlichen Teil demokratischen Bürgerverhal-
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tens werden können. Ich meine, das kann auch eine europäische Bewährungsprobe sein.
Immer mehr Bürger entwickeln, wenn ich es recht verstehe, neues Selbstbewußtsein. Zur Erfahrung des hinter uns liegenden Jahres mit seinen wirtschaftlichen Problemen, seinen Wahlkämpfen und seinen oft quälenden Kontroversen gehört freilich, daß die Parteien und mit ihnen die parlamentarische Demokratie in Deutschland weniger Grund zum Jubeln haben, als wir es im Tagesgeschäft allzu leicht wahrhaben wollen. Was ist das für ein demokratischer Staat — so möchte ich nicht nur kritisch, sondgern zugleich selbstkritisch fragen —, in dem das eine Lager so tut, als habe es die Freiheit gepachtet, und sich das andere Lager herausgefordert fühlt, mit der Friedensparole zu antworten?
Ich meine, wir sollten alle miteinander mehr Mut aufbringen, die wirklichen Probleme durch diese Form von Polarisierung nicht vor der Offentlichkeit zu verstecken, sondern ihnen auf den Grund zu gehen und sie im Vertrauen auf die Fähigkeiten unseres Volkes lösen zu helfen.
Am Vertrauen der Bürger vorbei gibt es auf die Dauer ohnehin kein politisches Mandat.
Lassen Sie mich bei aller Bereitschaft zur Selbstkritik freimütig hinzufügen: Diejenigen sollten meiner Meinung nach besonders in sich gehen, die die Angst vieler Menschen vor den überwiegend von außen auf uns einwirkenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht abbauen geholfen, sondern sie im Gegenteil geschürt haben.
In einer Zeit, in der nüchterne Aufklärung auch durch die Opposition notwendig gewesen wäre, haben wir manches erlebt, was wir als Exzesse der Panikmache empfunden haben. Der Schaden für alle war größer als der Gewinn für einige, den mancher sich erhofft haben mag.
Unser Volk ist dem Versuch, Angst vor der Zukunft zu verbreiten, oder eine sogenannte Tendenzwende herbeizureden, überwiegend nicht erlegen. Aber solche Versuchungen wird es immer wieder geben, solange die Zukunft nicht sicher ist. Wann wird sie es wohl wirklich sein? Sie wird niemals so gesichert sein, daß man sich nicht intensiv um sie zu kümmern brauchte. Wir sind mit unseren Problemen, unseren Aufgaben in Wirklichkeit niemals über den Berg, nicht in diesem Jahr, auch nicht im nächsten. Niemand in unserem Volk soll sich einreden lassen, er könne sich zurückwählen in eine angeblich heile Vergangenheit. Wir stehen in vielen Dingen natürlich gut da — wem sage ich das — im Vergleich zu unseren Nachbarn in Europa. Aber einige bei uns unterliegen wohl auch leicht der Gefahr, materielle Wohlstandskriterien mit geistiger Kraft und innerer Ausgeglichenheit zu verwechseln. Wenn
wir ehrlich sind und über unsere Grenzen hinüberschauen, müssen wir vielfach einräumen: Was die Fähigkeit betrifft, in einer Krise zu leben und dabei zugleich die Demokratie zu bewahren, stünden wir vermutlich, ich wage zu sagen: sicher nicht, noch nicht an erster Stelle in Europa. Wir können uns gerade da gewiß keinen Hochmut leisten, sondern wir müssen uns in der Fähigkeit stärken, mit Schwierigkeiten fertig zu werden und zugleich den demokratischen Konsens in Ruhe zu bewahren, also die trotz allem über Parteiengrenzen hinausreichende Gemeinsamkeit dessen, was unter Demokraten nicht umstritten sein darf.
Meine Damen und Herren, es tut mir leid, dem folgendes hinzufügen zu müssen, und Herrn Kohls Rede hat nichts davon weggenommen: Die Oppositionsparteien haben in diesen Wochen ein Trauerspiel geboten, durch das sie nicht allein sich selbst geschadet haben.
Ich will hier nicht Salz in offene Wunden streuen, will mich schon gar nicht mit dem befassen, was die Herren Kohl und Strauß untereinander auszumachen haben oder auch nicht.
Zwei Feststellungen scheinen mir jedoch von allgemeiner Bedeutung zu sein:
Erstens hat sich die Feststellung, daß CDU und CSU so, wie sie sich darstellen, nicht regierungsfähig seien, durch die Vorgänge der letzten Woche als nur zu begründet erwiesen.
Zweitens war die Annahme richtig, daß Herr Strauß eine politische Tendenz durchzusetzen bestrebt ist, die — um höflich zu bleiben — weit nach rechts ausholt.
Ich könnte mich dazu auf eine Reihe von Zeugnissen aus beiden Unionsparteien berufen. Daran ändert nichts, daß CDU und CSU doch wieder ihren Schrägstrich zwischen sich genommen haben. Diesen Balken muß der Kollege Kohl halten. Der Kollege Strauß hat die Hände freier denn je.
Die beiden Oppositionsparteien haben am 12. Dezember vereinbart, eine gemeinsame Fraktion im Deutschen Bundestag zu bilden. Aber der Trennungsbeschluß von Kreuth ist bis heute nicht aufgehoben.
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Er wird — so das CSU-Wochenblatt — von den Bonner Vereinbarungen nur überlagert.
Nur so konnten die äußeren Voraussetzungen geschaffen werden, nach dem in diesem Hause geltenden parlamentarischen Brauch als stärkste Fraktion den Präsidenten des Bundestages zu stellen,
der nach dem Protokoll das zweite Amt in unserer parlamentarischen Demokratie innehat. Die Art, wie die Opposition hier vorgegangen ist, war nicht würdig.
Die Unionsparteien haben nicht gezögert, bei diesem Spiel demokratische Prinzipien hart zu strapazieren.
Der Herr Bundestagspräsident, der im Augenblick den Vorsitz abgegeben hat, wird verstehen, daß ich ihn nicht ins Gerede bringe, sondern mich mit dem ihm gebührenden Respekt äußere.
Der Form nach wurden die Bedingungen für die Bildung einer Fraktion zweier Parteien erfüllt. Aber diese Vereinbarung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die in § 10 unserer Geschäftsordnung geforderten gleichgerichteten politischen Ziele inhaltlich nicht wirklich vorhanden sind.
Worum es ging, war zunächst einmal der Zugriff auf das zweithöchste Amt im Staate. So wurde das von der CSU angebotene gemeinsame Dach gezimmert, für das nach wie vor die von Herrn Kohl geforderten Fundamente fehlen.
Dies führt mich zu der Frage, ob man später einmal wird sagen können, Ende des Jahres 1976 sei eine grundlegende Umschichtung in der politischen Landschaft der Bundesrepublik eingeleitet worden. Unbestreitbar scheint mir zu sein, daß der CSU-Vorsitzende nach einem anderen Gesetz als dem der Union Konrad Adenauers die politischen Fronten neu zu formieren entschlossen ist. Er hält dies wohl nicht nur für die Stunde der späten Herausforderung, sondern auch der großen Vereinfachung. Seit Jahr und Tag war er schon in der Versuchung, die Krise mit herbeizureden, um sie dann womöglich rabiat zähmen zu können. Ich meine, wir haben keinen Bedarf an Bundes- oder Reichsvereinfachern, auch nicht an Profiteuren der Panik.
Keiner' soll sich einbilden, in diesem Staat Winston Churchill spielen zu können. Wir schlagen hier nicht die Schlacht um Deutschland, um Europa, um den Westen. Wir schlagen überhaupt keine Schlacht. Wir schreiben nicht 1938 oder 1940.
Übrigens war jener Winston Churchill, konservativ
und liberal zugleich, ein parlamentarischer Demokrat
bis auf die Knochen. Er stand wohl weit rechts, aber
er war ein guter Hasser allen totalitären Unwesens.
Und er war einem europäischen Kontinent konfrontiert, in dem die Demokratie auf dem Rückzug war. Auch das ist heute anders,
wie gleich, Ihrem Defätismus entgegen, noch anzumerken sein wird.
Der Jammer ist, wenn ich dies als Außenstehender anmerken darf, daß die Auseinandersetzungen innerhalb der Unionsparteien überwiegend nicht prinzipiell politisch geführt worden sind. Die ehemalige Union, so sehen es viele, hat sich in die Gefahr gebracht, als stabile Kraft der deutschen Politik auszufallen.
Das ist eine Lage, in der wir Sozialdemokraten uns unserer zusätzlichen Verantwortung bewußt sind.
Niemand soll sich im übrigen falsche Hoffnungen machen. Sozialdemokraten werden sich, von Sektierern abgesehen, dem Marsch in die Zersplitterung nicht anschließen.
Es gibt Gott sei Dank keinen Automatismus der Selbstüberschätzung und der Zerstörungslust.
Sie mögen mir entgegenhalten, daß es Fälle gegeben hat, in denen sich Leute in die SPD hinein verirrt haben, die in Wirklichkeit zu der einen oder anderen kommunistischen Gruppe gehören wollten. Wir haben ihnen deutlich gemacht, daß sie bei uns nichts zu suchen haben. Sie mögen mir einen Fördererverein angeblicher sozialer Demokraten vorhalten, der sich in die Reihe der vielen anderen Splittergruppen einreihen wird.
Ich sage Ihnen, hier handelt es sich um Förderung von, durch und für Strauß. Damit erübrigt sich für Sozialdemokraten jede weitere Qualifizierung.
Aber es ist ganz sicher so, daß die Lage, zu der ich mich geäußert habe, auch die Bedeutung des sozialliberalen Regierungsbündnisses noch wichtiger gemacht hat. Das hat auch das noch wichtiger gemacht, was trotz aller Unzulänglichkeiten und Fehler, die mir wohl bewußt sind, mit dem Bemühen um eine stabile, sozialliberale Mitte zu tun hat.
Der Bundeskanzler hat seine Regierungserklärung gestern unter einen guten Dreisatz gestellt: Solidari-
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tät, Liberalität und Frieden nach außen und darum erst recht im Innern. Wir alle sind der Solidarität zwischen den Generationen verpflichtet. Daran än- dern auch dubiose Versuche nichts, die mehr oder weniger prominente Sprecher der Opposition in diesen Tagen unternehmen, sich bei dieser Frage, die auch bei Ihnen eine große Rolle gespielt hat, der Frage der Renten, aus der Verantwortung fortzustehlen, und zwar unter Zurücklassung falscher Fährten. Der Bundeskanzler und seine Partei, unsere Partei,
haben vor der Wahl nicht nur einen Termin bestätigt. Wir haben zugesagt, daß jede Rentnerin und jeder Rentner weiterhin mit der Anpassung ihrer Rente an die allgemeine Einkommensentwicklung rechnen könne. Daran besteht auch heute und gerade heute kein Zweifel.
— Die Bruttolohnbezogenheit bei der Errechnung der Neurenten ist ausdrücklich durch den Bundeskanzler bestätigt worden, Herr Kollege Barzel.
Das neue Regierungsprogramm bestätigt dies, und daran sollte man im Interesse derer, die uns zuhören, nun wirklich nichts deuteln. Dabei bestreite ich nicht, daß es schwierig war, eine Lösung zu finden, die den veränderten Ziffern gerecht wurde,
mit denen wir es nach dem 3. Oktober zu tun hatten.
Ich meine die Daten, die der Sachverständigenrat und der Sozialbeirat vorgegeben hatten.
Im übrigen ist es nicht erst seit heute morgen oder gestern mittag bekannt, daß unser System der sozialen Sicherungen von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abhängig ist.
Wir Sozialdemokraten haben früher als andere auch in Wahlkämpfen darauf hingewiesen, daß das eng geknüpfte Netz der sozialen Sicherheit selbstverständlich mit einer gewissen Regelmäßigkeit auch auf seine Schwachstellen hin zu überprüfen ist. Das ist gerade deshalb notwendig, weil wir das bewährte Prinzip, das der Alterssicherung zugrunde liegt, nicht antasten lassen wollen.
Es hat auch damit zu tun, daß wir auf keinem der in Betracht kommenden Gebiete — da geht es dann um das Gesundheitswesen, um die Arbeitslosen, auch um die Kriegsopfer, die Behinderten und andere — etwas zurückdrehen lassen, was für die betroffenen Menschen erforderlich ist und bleibt.
Konsolidierung ist eine Sache, eine unerläßliche Aufgabe. Was damit nicht verwechselt werden darf, ist ein Herabdrücken des Niveaus der sozialen Sicherheit. Das würden wir auf keinen Fall mitmachen können.
Verdächtigungen helfen niemandem, der in Sorge ist. Mit selbstgerechten und demagogischen Vorwürfen ist man bei uns außerdem an der falschen Adresse. Es waren nicht wir, Herr Kollege Kohl, die sich durch Gerede über Gratifikationen und Bonifikationen den Vorwurf der sozialen Demontage zugezogen haben. Da wäre es doch ganz nützlich, wenn dieser Teil zwischen dem Vorsitzenden der CDU und dem der CSU noch einmal geklärt würde. Herr Kollege Kohl, was Sie hier heute vormittag zu diesem Thema gesagt haben, war, ich muß es sagen, wirklich nicht in Ordnung. Nach dem, was der Bundeskanzler gestern für andere mit selbstkritisch gesagt hat, hätte man Ihre Anerkennung seiner Offenheit erwarten dürfen.
Wem glauben Sie damit helfen zu können, daß Sie Narben aufreißen? Keinem einzigen Rentner helfen Sie, keiner einzigen Rentnerin.
Wo bleibt Ihr Wort dazu, daß die Opposition mit in der Pflicht steht, wenn es darum geht, mit objektiven Schwierigkeiten fertig zu werden?
Meine Damen und Herren, was immer Sie über Walter Arendt hier sagen wollen: ich sage Ihnen, dieser Mann hat sich um breite Schichten unseres Volkes in besonderer Weise verdient gemacht.
Deshalb sage ich hier noch einmal — für meine Freunde mit —: Hut ab vor Walter Arendt!
Im übrigen zeugt es weder von Einsicht in die verfassungsmäßigen Gegebenheiten noch von gutem Stil,
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wenn Herr Kohl am Mittwoch erklärte und verbreiten ließ, Walter Arendt sei unmittelbar nach der Kanzlerwahl zurückgetreten. Das stimmt ja gar nicht. Der Bundespräsident hatte ihn am Tag zuvor mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt, und er stand für das neue Kabinett nicht zur Verfügung.
— Das, was Herr Kohl vorhin über angeblichen
Respekt sagte, wird widerlegt durch den Mangel an
Ernst, mit dem Sie den Gegenstand jetzt begleiten.
Er, Walter Arendt, hat dies getan, weil er sich wundgescheuert hatte
in der Erfüllung seiner Pflichten
und weil es ihm ganz nahe ging, daß ihm unterstellt wurde, er klebe am Ministersessel. So war das nämlich, Herr Kollege Kohl.
Walter Arendt — wenn Sie das interessiert — wird an führender Stelle unserer Partei und in kameradschaftlicher Verbundenheit mit seinem Amtsnachfolger unverdrossen daran mitarbeiten, daß die soziale Demokratie in unserem Land weiter vorangebracht wird.
Die Bundesregierung konzentriert sich in ihrem Programm, wie wir hören konnten und nachlesen durften, auf das, was sich jetzt abzeichnet und was in den nächsten Jahren angepackt werden muß. Das ist der Anlage nach vernünftig und dem Inhalt nach viel. Wenn ich hier ein paar Punkte herausgreife, bedeutet dies keine Minderbewertung 'von Themen, die heute im Rahmen einer Debatte dieses knappen Tages nicht aufgegriffen werden können. Aus der Sicht meiner Partei findet all das besondere Zustimmung, was damit zu tun hat,. uns wirtschaftlich weiterhin möglichst heil durch die von außen auf uns einwirkenden Schwierigkeiten und Erschütterungen hindurchzubringen.
Der Bundeskanzler hat die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung zur vorrangigen Aufgabe erklärt.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unterstützt ihn darin aus vollem Herzen und erklärt: das Recht eines Menschen, zu arbeiten, hat in Wirklichkeit den Rang einer ethischen Forderung. Daraus folgt aber nicht allein, daß die Regierung alles tun muß, was sie in einer nicht besonders günstigen europäischen und internationalen Landschaft zu leisten vermag, sondern daraus folgt auch: alle, die direkt oder indirekt über Arbeitsplätze entscheiden oder mitentscheiden, sind moralisch in die Pflicht genommen. Ich' würdige das, was eine Anzahl von Unternehmen gerade jetzt auf den Weg bringt. Deshalb füge ich hinzu: Niemand kann sich seiner Pflicht entledigen, indem er sie vor der Haustür
der Regierung ablädt. Wir leben nicht in einer Ordnung und wir wünschen auch keine Ordnung, in der von Staats wegen über einzelwirtschaftliche Dispositionen bestimmt wird. In dieser Ordnung darf man also vom Staat nicht mehr erwarten, als er geben kann und soll.
Ich bin im übrigen davon überzeugt — viele meiner Freunde in den Gewerkschaften sind es auch —, daß die öffentliche Mitverantwortung für das wirtschaftliche Geschehen — manche werden das nun schon gleich für verwerflichen Sozialismus halten —, ich wiederhole: daß die öffentliche Mitverantwortung für wirtschaftliches Geschehen in kommenden Jahren nicht kleiner, sondern größer geschrieben werden wird.
Das findet ja auch eine gewisse Widerspiegelung in dem,
was die Regierungserklärung zur notwendigen Modernisierung der Volkswirtschaft,
zum Ausbau einer vorausschauenden Industrie- und Strukturpolitik und nicht zuletzt zur Forschungspolitik aussagt. Vor allem aber will ich die Skizzierung eines mehrjährigen Investitionsprogramms hervorheben, das, wenn es in Kraft treten wird, entscheidend dazu beitragen kann, daß unsere Volkswirtschaft mit den Folgen neuer weltwirtschaftlicher Spannungen und Schwankungen noch besser fertig wird.
Große Bedeutung ist aus unserer Sicht auch dem zuzumessen, was im Regierungsprogramm zur Energiepolitik ausgeführt wird. Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben, und wir dürfen die heimische Kohle keinen Augenblick unterschätzen. Da wir aber auch auf Kernenergie angewiesen sein werden,
begrüßen meine Freunde und ich — zumal unser eigener Parteivorstand deutliche Hinweise für eine sachgerechte Diskussion zu diesem Thema gegeben hat — die Ordnungselemente, die die Regierung dargelegt hat. Sie bedeuten, daß nicht über den Kopf der betroffenen und besorgten Bürger hinweg entschieden werden soll.
Von gleichem Gewicht sind die Darlegungen des Regierungsprogramms über den Zusammenhang zwischen beschäftigungspolitischen und bildungspolitischen Fragen. Wir können es uns in der Tat nicht leisten, auf das Potential zu verzichten, das durch gute Bildung und Ausbildung erst wirklich genutzt werden kann.
Zu Unrecht, Herr Kollege Kohl, legen Sie die Regierungserklärung -- aber die Regierung wird sich gewiß noch selbst äußern — so aus, als kündige sie an, daß ein antiföderativer Kurs gesteuert werden sollte. Davon kann keine Rede sein. Hierüber ist gerade jetzt erst unter uns, zwischen uns und den Freien Demokraten, vor der Bildung dieser Bundesregierung eingehend gesprochen worden, und deshalb kann ich Ihnen sagen: Wir sind — ich bin
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es jedenfalls — engagierte Verfechter der bundesstaatlichen Ordnung,
eines Prinzips übrigens, das sich auch in manchen anderen Staaten durchsetzen wird.
Aber wir legen großen Wert darauf, daß es sich um einen kooperativen Föderalismus handelt.
Und wer wollte im Ernst bestreiten, daß dazu eine Verständigung über die bildungspolitischen Aufgaben gehört, von denen hier gestern die Rede war? Sie hätten, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kollege Kohl, gern zur Einheit der Nation noch ein bißchen mehr gehört. Dann sage ich Ihnen: Einheit der Nation hat in diesem Teil unseres Vaterlandes auch mit bestimmten einheitlichen Inhalten und Ausformungen des Schulwesens für unsere jungen Menschen zu tun.
Übrigens, Herr Kollege Kohl, kann man Probleme auch nicht nur schematisch, sondern irreführend darstellen. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Sie haben hier so getan, als ob der Rückgang der Kinderzahl etwas mit unserer Politik zu tun hätte.
In Rheinland-Pfalz
wie im übrigen Bundesgebiet
geht die Kinderzahl seit 1964 zurück. Wie soll unsere Politik in der Großen Koalition ab 1966 und gemeinsam mit den Freien Demokraten ab 1969 bewirkt haben, daß seit 1964 die Kinderzahl zurückgegangen ist?
Da meinen Sie, die SPD — unsere freidemokratischen Kollegen haben Sie da ausgelassen, und ich fühle mich eigentlich ein bißchen alleingelassen; aber lassen wir es einmal — sei durch die bildungspolitische Expansion verantwortlich für den Anpassungsdruck in den Schulen. Lieber Herr Kollege Kohl, die Abiturienten, die in diesem Herbst 1976 vor den Toren der Universitäten standen — die, das wissen wir beide, seit Jahren schwer genug mit dem Numerus clausus fertig werden —,
sind doch junge Menschen, die spätestens 1967 in Gymnasien übergegangen sind. Wieso sollten wir schon nach einem halben Jahr Großer Koalition — ohne bildungspolitische Zuständigkeit in Bonn —, wieso sollten wir erst recht ab 1969 bewirkt haben können,
was Eltern — in Ihrem Land und anderswo — in der Frage entschieden haben, ob das Kind mit zehn Jahrens aufs Gymnasium kommen soll oder nicht? Es ist doch verständlich: Solange Sie bei einem Alter des Kindes von zehn Jahren Entscheidungen darüber fällen, daß der eine nur Schlosser und der andere Schlosser oder Chefarzt werden kann,
bekommen Sie diesen Druck, von dem Sie eben gesprochen haben.
Meine Damen und Herren, es ist gut, daß bei aller von uns ausdrücklich unterstützten Pflicht zur finanzpolitischen Solidität die reformpolitischen Akzente deutlich geblieben sind. Auch ich nenne an erster Stelle das Bemühen um tatsächliche Gleichstellung der Frauen, denn hier geht es wirklich um eine zentrale Aufgabe dieser Zeit. Politik und Staat müssen Vorspanndienste leisten für das, was natürlich ein umfassendes gesellschaftliches Problem bildet.
Nur, Herr Kohl, wollen wir doch einmal ehrlich sein: Als Sie Kanzler werden wollten, haben Sie angekündigt, Sie würden in Ihr Kabinett mehrere Damen aufnehmen. Das hat Helmut Schmidt an Ihrer Stelle getan.
Sie haben so disponiert, daß der weibliche Präsident des Bundestages abgeschafft wurde.
Obwohl Ihr Fraktionsvorstand sicherlich nicht kleiner ist als ein Bundeskabinett, haben Sie nicht einmal die für das Kabinett in Aussicht genommene Zahl von Damen in Ihrem Vorstand unterbringen können.
Ich erinnere auch an die Akzente beim sozialen Engagement für Hilfsbedürftige, das nicht allein eine Sache des Staates sein kann, beim Ausbau der Rechtsordnung, auch im Bereich des öffentlichen Dienstes, beim Umweltschutz und der Mitverantwortung dafür, daß unsere Städte und Gemeinden nicht nur überleben, sondern sich entfalten können.
Aber was insgesamt notwendig sein wird, damit wir unsere eigene Zukunft bewältigen, meine Damen und Herren, werden wir nicht erreichen, ohne den Zusammenhang mit der Zukunft anderer Völker einzubeziehen. Vieles, was uns selbst betrifft, wird zunehmend abhängig von der Entscheidung anderer. Wir müssen also dabei bleiben, der friedlichen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und Völkern immer wieder Wege zu bahnen. Es werden noch lange Wege in der Gefahr sein, so wie die Welt aussieht.
Aber es liegt an uns, ob wir uns vor den Gefahren in einen Immobilismus der Resignation flüchten
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oder ob wir jenen Weg weitergehen, auf dem weder
für Illusionen noch für Psychosen der Angst Platz
ist. Das ist unser Weg der prüfenden Entspannung.
Das Atlantische Bündnis hat sich vor Jahr und Tag auf diesen Weg begeben. Wir Deutschen hier in der Bundesrepublik konnten dazu durch die Kombination aus Entschlossenheit zur Verteidigung und Anstrengung für den Frieden unseren Beitrag leisten. Mir liegt daran, all denen in unserer Bundeswehr — mit dem Verteidigungsminister an der Spitze —, die für beides einstehen, im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Dank zu sagen.
Ich meine im übrigen: Unsere Perspektive heißt Europa. Nur in der Gemeinschaft der europäischen Völker können wir zur Politik der friedlichen Zusammenarbeit mit der übrigen Welt sinnvoll beitragen. 'Unser Ziel bleibt — trotz aller Schwierigkeiten, die wir nicht verkennen — die Europäische Union. Sie muß mehr sein als eine Bündelung von Wirtschaftsinteressen, mehr auch als die hoffentlich kommende Summierung von Sicherheitsbedürfnissen. Wir brauchen eine Gemeinschaft sozialer Verantwortung und geistiger Potenz. Wir Sozialdemokraten bereiten uns mit unseren Freunden in der Gemeinschaft darauf vor, daß 1978 ein direkt gewähltes Europäisches Parlament Europas Bürger vertritt.
Die letzten Jahre zeigen im übrigen — und da komme ich auf eine Bemerkung von vorhin zurück —, daß die Demokratie in Europa durchaus nicht auf dem Rückzug ist, sondern daß sie Geländegewinn erreicht: Griechenland, Portugal und wohl auch Spanien stehen auf der Habenseite der demokratischen Bilanz.
Warum etwa wollen wir das nicht hinreichend zur Kenntnis nehmen? Was soll der Defätismus, den wir immer wieder vernehmen müssen? Was sollen die Zwangsvorstellungen, die Herr Strauß in Ihr Einigungspapier hineingeschrieben hat, Herr Kollege Kohl? Wir resignieren nicht. Wir geben Europa, was an uns ist, der Resignation nicht preis. Apropos: Meines Wissens sind, was immer über Eurokommunismus geredet werden mag, die Sozialisten in Frankreich in diesen letzten Jahren nicht schwächer, sondern stärker geworden.
Nun ich bin, Herr Kollege Kohl, auch in meiner Eigenschaft als Präsident der Sozialistischen Internationale angesprochen worden. Ich freue mich über dieses Interesse, obwohl der Deutsche Bundestag gewiß keine — im engeren Sinne des Wortes — Zuständigkeit über diese Gemeinschaft demokratisch-sozialistischer Parteien hat
und mich auf diesem Gebiet auch kaum beraten kann, Herr Kollege, oder will. Aber zur Aufklärung will ich gern beitragen.
Bei dem weit über Europa hinausreichenden Zusammenschluß, der den traditionsreichen Namen „Sozialistische Internationale" trägt, handelt es sich um eine Arbeitsgemeinschaft souveräner Parteien. Der Präsident ist kein Vormund dieser Parteien, sondern hat nur das zu vertreten, was gemeinsamen Überzeugungen und Beschlüssen entspricht. Sie können nicht einen Beschluß einführen, von dem Sie genau wissen müssen — sonst müßten Ihre Mitarbeiter es Ihnen genauer sagen —, daß er von der SPD nicht mitgefaßt ist. Es gelten nur solche Beschlüsse, die von allen gemeinsam getragen werden. Im übrigen betrachte ich es nicht — Sie wohl auch nicht — als eine Schande, wenn ein Deutscher mit einem solchen oder ähnlichen Auftrag betraut wird; schaden kann uns das nicht. Freunde in der Welt werden wir noch nötig haben.
Erlauben Sie mir jetzt, Ihnen dies zu sagen. Wir deutschen Sozialdemokraten — dies sage ich offen — verfolgen mit Sorge, daß es den deutschen Christdemokraten bisher nicht gelingt, sich aus einer gewissen außenpolitischen Isolation zu lösen, in die sie aus innenpolitischen Gründen geraten sind.
Herr Kollege Kohl, während CDU und vor allem CSU verkünden, sie müßten dem Einhalt gebieten, was sie den Vormarsch von Eurokommunismus und Volksfront nennen, bemühen sich Ihre italienischen Kollegen bekanntlich um die Unterstützung der dortigen Kommunisten zur Bewältigung der Schwierigkeiten, mit denen es jenes Land zu tun hat.
Frankreichs Zentrumsparteien suchen zur gleichen Zeit den Kontakt mit den Kräften des demokratischen Sozialismus. Dies zeigt doch an: Die europäische Wirklichkeit ist komplizierter, als professionelle Vereinfacher in den Reihen der Opposition es glauben machen wollen.
Der Vorsitzende der Christlich-demokratischen Volkspartei Belgiens hat neulich gesagt — ich möchte ihn hier zitieren —, er sei mit bestimmten Elementen der deutschen CDU nicht einverstanden. Diese Meinung mag ihm, auch von Ihrer Seite gesehen, verehrte Kollegen der Opposition, unbenommen bleiben. Aber es muß doch aufhorchen lassen, wenn er hinzufügt: Belgier, Niederländer, Luxemburger, Italiener, bald auch Spanier stellen so etwas wie den fortschrittlichen Flügel innerhalb der europäischen christdemokratischen Bewegung dar. — Er
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sagt von seinen Schwesterparteien in diesen Ländern
— ich zitiere —:
Wir glauben, daß wir in Europa eine eigenständige, eine fortschrittliche Politik verfolgen müssen mit einer anderen Einstellung gegenüber den nationalen Belangen.
Auf gut deutsch: Weite Teile der europäischen Christdemokratie sind nicht bereit, die insoweit zurückgebliebene Politik der CSU und ihrer Freunde in der CDU — ich weiß zu differenzieren — mit zu tragen, es hinzunehmen, daß eine ideologisch befrachtete Mentalität, die im Vorgestrigen verhaftet ist, das Miteinander der demokratischen Kräfte in Europagefährdet. So sieht es nämlich aus.
Übrigens: Einige Damen und Herren in der Union haben sich bei ihren aufgeregten Äußerungen der letzten Wochen wieder einmal geirrt oder — anders gesagt — zu früh gefreut. Der neue amerikanische Präsident wird die Politik der Entspannung fortsetzen. Das steht fest. Die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über eine Begrenzung der strategischen Rüstung können im nächsten Jahr zu einem weiteren Ergebnis führen. Bis dahin sollten neue Überlegungen angestellt werden, wie die Wiener Verhandlungen — darüber wollten Sie, Herr Kollege Kohl, von den Sozialdemokraten auch gern noch etwas hören;
— wir reden über die Lage in Deutschland und in der Bundesrepublik Deutschland -
über eine beiderseitige und ausgewogene, d. h. eine die Interessen beider Seiten berücksichtigende Verminderung von Truppen und Rüstungen in der Mitte Europas vorangebracht werden können. Man darf das, was von den Fachleuten bisher auf den Weg gebracht worden ist, nicht geringschätzen. Es wird freilich, so meine ich, nötig sein, auf einer hohen politischen Ebene den Versuch zu unternehmen, das jetzt Mögliche zu vereinbaren und den Bemühungen dadurch einen neuen Impuls zu geben. Ich unterstreiche das, was die Regierung über die Bemühungen auf anderen Ebenen — UNO-Vollversammlung, Konferenz in Colombo — gesagt hat. Dies alles, meine Damen und Herren von der Opposition, eignet sich überhaupt nicht zur Polemik. Sie werden die Wege, die wir finden müssen, mit Sicherheit verfehlen, wenn Sie — wie leider schon so oft — die Ideologie zum Knüppel nehmen und mit ihm politisches Porzellan zerschlagen.
Zu den Wiener Verhandlungen will ich dann dies doch hinzufügen: Es muß meiner Überzeugung nach unser erstes Ziel sein, schrittweise einen Zustand herbeizuführen, in dem ein militärischer Angriff aus dem Stand in Mitteleuropa unmöglich wird. Zwei prinzipiell wichtige Schritte könnten in Erwägung gezogen werden. Sie zu erwähnen, hindert mich auch nicht ein Abgeordneter, der zwar aus dem Auswärtigen Amt kommt, aber die guten Manieren dort gelassen hat,
der auch Herrn Kollegen Kohl, welcher solche Dinge vermutlich — neben allem anderen — nicht auch noch so genau verfolgen kann, falsch unterrichtet hat,
wenn er in diese Debatte schon wieder eine vergiftende These einbringt. Ich muß sagen, dies ist eine Zumutung. Gegenüber jemandem, der sich gemeinsam mit anderen im Westen und anderswo — auch in neutralen Ländern — Gedanken macht und sich fragt: wie könnte das weitergehen, fällt diesem Mann, über dessen Manieren ich mich geäußert habe, nichts anderes ein, als zu unterstellen: Die greifen ja sowjetische Vorschläge auf! — Was, wie Sie wissen müßten, nicht der Fall ist, Herr Kollege Mertes. Warum sagen Sie dann die Unwahrheit?
— Nein, ich halte mich — —
— Die Zwischenfrage ergibt erst einen Sinn, Herr Kollege, wenn ich meine folgenden drei Sätze zu dem Gegenstand hinzugefügt habe. Ich darf Sie dann einladen, die Frage nachzuholen. —
Womit man beginnen könnte, wäre eine — vermutlich nur bescheidene — Verringerung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte innerhalb des in Wien abgesteckten geographischen Rahmens. Das wäre in zeitlicher Bindung in einem weiteren Schritt eine entsprechende — wenn auch ebenfalls bescheidene — Reduzierung nationaler Streitkräfte. Darum geht es doch dort. Und warum soll ich dazu hier nicht meine Anregungen geben können, wie ich sie anderswo gebe? — Herr Kollege Mertes!
Herr Kollege Brandt, teilen Sie meine Meinung, daß man durchaus eine politische Linie aussprechen kann, die i m E r g e b n i s die sowjetische Politik, im vorliegenden Fall also die Position, die in Wien von der Sowjetunion vertreten wird, objektiv begünstigt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bestreite dies vom Prinzip her nicht; in der konkreten Anwendung muß ich es nachdrücklich bestreiten. — Bitte!
Herr Kollege Brandt, können Sie dem Hohen Hause erklären, wie Ihre Äußerung über erste paritätische symbolische
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Dr. Mertes
Schritte und Ihre Äußerung über die Begrenzung nationaler Streitkräfte vereinbar sind mit der westlichen Position, die bei den MBFR-Verhandlungen in Wien vom Westen vertreten wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte Sie, sehr genau — das haben Sie schon bei Ihren Einlassungen vor einigen Tagen nicht beachtet — darauf zu achten, daß ich nicht von Fliegenbeinen spreche, sondern von Streitkräften, und daß Ausgewogenheit in der Verminderung nicht nur eine Frage von Menschen ist, daß es sich vielmehr sehr stark um einen Zusammenhang zwischen Truppen und Rüstungen handelt
und daß außerdem alle, die nach Wien gegangen sind, wissen — das darf jemand, der kein Regierungsamt hat, offener sagen als sonst jemand —, daß genau diese Koppelung von Problemen seit Jahr und Tag das Thema ist, um das es geht und gehen wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich möchte jetzt fortfahren.
Meine Damen und Herren, ich äußere mich dazu als jemand, der 1968 als Außenminister der damaligen Großen Koalition gemeinsam mit Ihren Freunden, Herr Kollege Barzel, mit das Signal von Reykjavik formuliert hat.
Alles, was ich seitdem dazu sage, geht auf das zurück, was ich in jenem Juni 1968 mit den westlichen Kollegen in der isländischen Hauptstadt gemeinsam erörtert habe.
Herr Abgeordneter Brandt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Kollege Brandt, sehe ich es richtig, daß bisher die westliche Position bei MBFR so ist, daß beide Paktsysteme gewisse Höchstgrenzen für Truppen festlegen und dann innerhalb der Systeme die Entscheidung erfolgt, wie das national verteilt wird? Wenn dies die bisherige westliche Position wäre, würde Ihr Vorschlag auf einen internationalen Vertrag über die Höhe und Stärke der Bundeswehr hinauslaufen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein!
Das ist wiederum eine ganz unerlaubte, übereilte Folgerung, die aus den Hinweisen abgeleitet wird, die ich gegeben habe.
Ich will auch ein Wort zu der Konferenz in Belgrad im nächsten Frühsommer sagen, weil wir die Bundesregierung ermutigen möchten, das zu tun, was sie gestern angekündigt hat, nämlich mit anderen zusammen dafür zu sorgen, daß in Belgrad bei der ersten Durchführungskonferenz der in Helsinki versammelten Staaten mehr getan wird, als anklagende und unverbindliche Reden zum Fenster hinaus zu halten. Wir haben gern gehört, daß die Bundesregierung eigene Sachbeiträge in Aussicht gestellt hat. Die Sozialdemokraten möchten der Regierung gern dabei helfen.
Ich unterstreiche, was über Berlin gesagt worden ist. Meine Partei wird den Berlinern bei deren Bemühen um eine neue, konstruktive innere Stärkung der Stadt helfen.
Wenn von der Lage der Nation die Rede ist, geht es auch um das Schicksal der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Rücksiedler. Davon wird jetzt nicht im einzelnen die Rede sein können.
Wir wissen alle miteinander, daß die Menschheit nicht durch Krieg und Zerstörungsmittel allein bedroht ist, sondern auch durch den Welthunger und daß dieser seinerseits die Menschenrechte schwer herausfordert.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Die Demokratie — da kommen wir mit unseren Themen vielleicht nahe aneinander heran, auch wenn die Antworten nicht dieselben sein können — ist nur so lange eine Staatsform des Friedens, als es ihr gelingt, die Freiheit ihrer Bürger zu garantieren als eine Freiheit unter ihresgleichen und nicht als eine Freiheit auf Kosten anderer. Wir in unserem Teil Deutschlands und in diesem Teil Europas sind nicht dabei, diese Freiheit zu verspielen. Wir arbeiten daran, sie auszubauen.
Die deutschen Sozialdemokraten waren niemals bereit, auf die liberalen Grundrechte zu verzichten. Ihr Kampf gegen den faschistischen Frevel, die politische Aufklärung und die Werte der Humanität geschichtlich zu hintergehen, war eine Verteidigung des wohlverstandenen liberalen Erbes auch unter der Bedrohung eigener Existenz. Unser Freiheitswille war und ist kompromißlos. Unser politischer Blick war und ist nicht durch parteipolitische Brillen getrübt oder durch eine falsche Rücksichtnahme oder durch einen falschen Nationalismus verstellt. Ich rede jetzt nicht von der Vergangenheit.
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Wir halten ein waches Auge auf die Entwicklungen um uns herum. Denn wir sind aus bitterer Erfahrung in Mißtrauen nach vielen Seiten geübt. Wir haben im Unterschied zu anderen den Kapitalismus niemals für eine Vorstufe der Kapitulation vor dem Kommunismus gehalten.
Freiheit, von der ich spreche, ist nichts, was man teilen kann. Es gibt einen Radikalismus der Freiheit, dem wir alle verpflichtet sein sollten, ob demokratische Sozialisten — die bei uns in Deutschland Sozialdemokraten heißen —, ob Freie Demokraten oder Christliche Demokraten. Ich bekenne mich gern als einen radikalen Demokraten; die Freiheit ist ihrem Wesen nach radikal,
weil sie von der Wurzel her die verfestigten, die zementierten Zustände und Meinungen in Frage stellt, weil sie den Zweifel nicht unterdrückt, sondern ermutigt, weil sie dem Egoismus der Interessen und Ideologien Schranken setzt, die Schranken des Ausgleichs und der Toleranz.
Wir haben, was die Freiheit in Deutschland angeht, wohl immer noch einen geistigen Nachholbedarf. Amerika hat die 200jährige Wiederkehr seiner Revolution in diesem Sommer in einer erstaunlichen Harmonie liberaler und konservativer Gesinnung gefeiert. Frankreich wird am Ende des kommenden Jahrzehnts die 200jährige Wiederkehr seiner Revolution erleben, und es gibt kaum einen französischen Konservativen, der sich vor der Anerkennung der Revolution als geschichtlichen Tatbestand davonschleichen würde. Darin beruht ein gut Teil der inneren Sicherheit unseres Nachbarn.
Uns ist die Aufgabe gestellt, die uns gemäße innere Sicherheit, die geistige, die moralische Sicherheit zu schaffen. Das Wort wird in allen Parteien großgeschrieben, wenn ich es recht verstehe. Sicherheit ist eine Grundsehnsucht unserer Gesellschaft. Da spielt auch ein Komplex mit hinein, der aus dem Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins im vorigen Jahrhundert herrührt, aus den Ängsten der Zusammenbrüche, der Inflationen. Aber Sicherheit ist gewiß eine Grundsehnsucht unserer Gesellschaft.
Wir haben in unserem Land bewahrenswerte Sicherungen der sozialen Existenz geschaffen. Wenn man den Katalog aufmachen wollte, ergäbe er manches Trennende, aber auch manches Gemeinsame. Ich will nur den Rat geben, einmal über die Frage nachzudenken, ob sich Sicherheit wirklich erschöpft in der Verankerung sozialer Ansprüche und Rechte, in einem funktionsfähigen Apparat der Verteidigung, in der Abwehr von materiellen Bedrohungen, in der Abwesenheit von Unbequemlichkeiten, von Gefährdungen, von Zweifeln.
Ich schaue auf den vergangenen Wahlkampf — wie vermutlich die meisten von Ihnen auch — mit geteiltem Vergnügen zurück. Sie, meine Kollegen von der Union, von den Unionen, haben sich die Parole von Freiheit oder Sozialismus diktieren lassen. Ich habe mich oft gefragt, ob das Ihr Ernst sein konnte. Befürchten Sie nicht, ich würde an den Schluß meiner Ausführungen noch eine philosophisch anmutende Polemik hängen; ich will vielmehr, daß wir versuchen, miteinander — wenn es sein muß, auch im Gegeneinander — ein paar Wahrheiten anzuhören, so vorbehaltlos, wie es nur möglich ist.
Es gibt eine Perversion von Sozialismus, die extrem freiheitsfeindlich ist. Wir stehen gegen sie, seit es eine Sozialdemokratie gibt und eine Definition des demokratischen Sozialismus existiert. Für mich bleibt es dabei: Das Verhältnis zu Freiheit und Demokratie ist der Prüfstand, der über die weitere Entwicklung gewisser Parteien innerhalb und außerhalb Europas Aufschluß geben wird.
Es gibt eine Wirklichkeit des Kapitalismus, die extrem freiheitsfeindlich ist. Ich bestreite nicht einen Augenblick, daß, von den modernen Liberalen abgesehen, die besten Geister des westlichen Konservativismus und der christlich-demokratischen Parteien diese Freiheitsfeindlichkeit einer Gesellschaft der totalen Interessen zu zähmen und zu überwinden bemüht waren. Es hat Schnittpunkte auch in der Geschichte der CDU gegeben, an denen an eine Versöhnung von Elementen des christlichen Sozialismus und eines aufgeklärten Konservativismus gedacht war. Mir ist bewußt, daß die Dinge bei den meisten von Ihnen heute anders liegen.
Es gibt den reinen Kapitalismus nicht, es gibt den reinen Sozialismus nicht,
es gibt erst recht nicht den reinen Kommunismus. Aber wenn es sich so verhält, sollten wir uns dann nicht tatsächlich und sachlich, jede Konzession an einen totalitären Anspruch von links oder rechts ausgeschlossen, darüber unterhalten können, was daraus folgt? Sind wir uns nicht darüber einig, daß wir auf die Selbstbestimmung der Bürger setzen gegen — so sage ich jetzt; Sie müssen es ja nicht wiederholen — den kapitalistischen Kollektivismus der Verfremdung und gegen den kommunistischen Kollektivismus der Diktatur einer abstrakten Geschichtsweisung, durch die das Recht des einzelnen vernichtet wird?
Sollten wir uns nicht darüber verständigen können, daß wir nach Kriterien des Ausgleichs der weltpolitischen Interessen suchen, damit die Gewalt ausgeschaltet wird? Sollten wir uns nicht intensiver darüber unterhalten, ob es nicht Formen des Friedens geben kann, die mehr sind als ein Waffenstillstand zwischen Nationen und Systemen? Und ist auch nicht zu bedenken, was sich daraus ergibt, — daß wir uns zur guten Nachbarschaft bekennen?
Keine dieser und anderer Fragen wird uns aus der harten Auseinandersetzung entlassen, meine Damen und Herren. Niemand will hier Grenzen verwischen. Wir werden auch künftig den Mut zum Konflikt haben müssen. Doch dieser Konflikt ist etwas anderes als der parlamentarische Bürgerkrieg.
Lassen Sie mich hinzufügen: Die Machtfrage ist nicht die letzte Frage und darf es nicht sein.
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Brandt
Die Macht ist ein Instrument, dem Wohl der Gesamtheit zu dienen, das sich aus der Summe des Wohls der einzelnen ergibt.
Meine Damen und Herren, mit jeder Legislaturperiode beginnt ein neuer Abschnitt. Die Eröffnung eines Parlaments bietet die Chance, wieder einmal anzufangen. Es muß in vielen Sachfragen ein Gegeneinander sein, doch es gibt, wie ich schon zu Beginn dieser Rede zu sagen versuchte, eine Basis des Miteinander: die gemeinsame Arbeit an der Evolution, am Vorwärtsschreiten der Demokratie in Europa. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion untersteht dieser Pflicht nicht anders als die Opposition, jedenfalls nicht anders als der Bundeskanzler und seine Regierung, die von unserer vollen Unterstützung getragen werden.
Der Bundeskanzler und seine Regierung der sozialliberalen Koalition können sich auf eine loyale Sozialdemokratie verlassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung, über die wir heute reden, ist eine realistische Handlungsanleitung für das, was in den nächsten vier Jahren zu tun ist. Kritiker schöngeistiger Literatur wird sie womöglich nicht zufriedenstellen, doch dafür entspricht sie in ihrer Offenheit und ihrer konkreten Aussage den Aufgabenstellungen, die vor uns liegen. Wir stimmen ihr zu. Die Bundesregierung kann sich auf die Unterstützung der Freien Demokratischen Fraktion verlassen.
Eine Reihe unpopulärer, aber notwendiger Aufgaben ist zu bewältigen, um Stabilität in Gesellschaft und Staat fortzuentwickeln.
Herr Kollege Kohl hat hier zu Beginn davon gesprochen, daß es die schwächste Regierung sei. Herr Kollege Kohl, gleiche 'Töne haben wir bereits 1969 gehört. Es frappiert allerdings etwas, daß Sie sich unmittelbar nach der Kanzlerwahl über das knappe, wie Sie sagen, Ergebnis alterieren, nachdem Sie im Wahlkampf gesagt haben: Ich regiere mit einer Stimme, notfalls mit der Minderheit. Was für eine Logik ist darin?
Wir haben in diesem Vierjahresprogramm nichts ausgeklammert, was verantwortlicherweise angegangen werden muß. Wir stehen da sicherlich im Gegensatz zur Opposition, die sich derzeit so ausgiebig wie noch nie um vordergründige Harmonisierung bemüht, genauer: um das Ausklammern ihrer klaftertiefen Widersprüche und um die Kaschierung ihrer fundamentalen Risse, die in ihr enthalten sind.
Sie sprachen davon, daß Sie Alternativen bei praktischen Entscheidungen vorlegen wollen. Das wäre ein großer Schritt vorwärts, Herr Kollege Kohl. Ob Sie dies nach den Ereignissen der letzten Monate besser können als früher, wird sich erst erweisen müssen. Die getroffenen Vereinbarungen zwischen CDU und CSU lassen eher erwarten, daß das Gegenteil eintritt. Ob die Schwierigkeiten zwischen den C-Parteien wirklich überwunden sind, erscheint zweifelhaft. Wir wünschen Ihnen dabei alles Gute, damit nicht alle Kräfte darin gebunden werden und die Aufgabe der Opposition nur deshalb nicht wahrgenommen werden kann, weil man sich ständig um Kleistern und Kitten bemühen muß.
Wir wissen, es hat in diesem Parlament schon Mehrheiten gegeben, die ungleich komfortabler, ja drückend waren. Aber jedermann hat auch die Erfahrung vor Augen, daß gewaltige Mehrheiten eher im umgekehrten Verhältnis zum Maß der Entscheidungsfähigkeit und zum politischen Ertrag stehen können. Ich bin ganz sicher: die jetzt zur Verfügung stehende Mehrheit, die ausgereicht hat, um ein so schwieriges Programm in Gang zu setzen, wird auch ausreichen, um die Vorhaben in Gesetzesform zu bringen und dann auch hier mit Mehrheit durchzusetzen.
Wir werden uns bemühen, die gesellschaftliche Stabilität zu stärken, auf die sich unsere staatliche Ordnung stützt. Ich füge hinzu und fordere dabei auch die Besonnenen in den anderen Parteien zur Mitarbeit auf: die Liberalität in unserem Lande, um die wir in der Vergangenheit zäh gekämpft haben, muß unbedingt gewahrt bleiben.
Als Beispiel nenne ich unser demokratisches Verfassungsverständnis. Ihm entsprechen die Regelungen der Abwehr von Extremisten im öffentlichen Dienst, wie sie in der Regierungserklärung vorgeschlagen worden sind. Das ist ein Angebot, die Diskussion zu versachlichen, Hysterie abzubauen und das Zutrauen zu unserer demokratischen Ordnung zu festigen.
Die Freien Demokraten halten es für eine herausragende Aufgabe unserer Zeit, politische Entscheidungsprozesse für den Bürger transparenter zu machen, um dadurch sein Engagement für Staat und Gesellschaft zu fördern.
Das, meine Damen und Herren, setzt aber auch die Bereitschaft zu einem Höchstmaß an Information und offener Aussprache zwischen dem Bürger und seinen Vertretern in Parlament und Verwaltung voraus. Wer dies als unbequem empfindet, sollte bedenken, daß die Alternative dazu nur bedeuten kann: wachsende Distanz zwischen, hart gesagt, Regierten und Regierenden, und das in einer Zeit, da, wie wir ja dargelegt bekommen haben, die Problemstellungen doch zunehmend komplizierter werden.
Die Nutzung der Kernenergie ist dafür ein markantes Beispiel. Mit Gesetzgebungs- und Verwal-
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tungsverfahren allein ist der Problemkonflikt nicht gelöst, wenn bei ungezählten Bürgern offene Fragen und tiefsitzende Befürchtungen zurückbleiben.
Gerade hier ist die Herstellung eines umfassenden Grundkonsenses in solch existentiellen Fragen für die Stabilität in unserem Land unerläßlich. Kritische Rede und Gegenrede sind deshalb Bedingungen für die Auflösung konfliktträchtiger Entwicklungen. Wir müssen hier die Chance des Dialogs zwischen Personen und Institutionen intensiver nutzen. Das dient dem inneren Frieden. Seiner Wahrung ist allerdings auch der Grundsatz verpflichtet, daß am Ende eines jeden Meinungsbildungsprozesses ein klares und klärendes parlamentarisches Schlußwort, eine Entscheidung stehen muß. Die Verantwortung und letzte Entscheidung des frei gewählten Parlaments sind nicht delegierbar und nicht ersetzbar.
Meine Damen und Herren, es ist ein urliberales Anliegen, die Mitwirkungsrechte der Bürger zu stärken. Deshalb bejaht die Freie Demokratische Partei die Bürgerinitiativen, die Bürgerbegehren. Dieses Prinzip muß unbedingt die in obrigkeitsgläubigen Kreisen vorherrschende Befürchtung überlagern, daß das Bürgerengagement mehr Risiken als Nutzen in sich berge.
'Es war doch ohne Zweifel eine erschreckende Erfahrung, daß beispielsweise in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein die dort politisch Verantwortlichen auf die Protestbewegung der Anwohner gegen die Kernenergieprojekte von Wyhl und Brokdorf zunächst nur mit diffamierenden Verallgemeinerungen und autoritären Gesten reagierten.
Wer so handelt, leistet in Wahrheit jener Radikalisierung Vorschub, die wir ja gerade vermeiden wollen.
— Wir sind genau so wie Sie gegen jede Gewaltanwendung. Wir wollen aber mit dem Bürger, der Sorgen hat, die politische Auseinandersetzung führen, sie nicht umgehen und den Bürger nicht ausschalten. In dieser Einstellung unterscheiden wir uns von Ihnen.
Die beiden genannten Fälle sind für mich exemplarisch für die unterschiedlichen Perspektiven, Autoritärer auf der einen Seite und Liberaler auf der anderen Seite.
Bei uns hat eben der Mensch den Vorrang. Freiheit und Menschenwürde sind in Selbstbestimmung und Verantwortung für andere zu verwirklichen. Das Vertrauen in den Bürger ist die Grundlage aller staatlichen Tätigkeit.
Umgekehrt — darüber sollten wir uns auch immer wieder im klaren sein — mißt sich die Stärke eines
Staates nicht an der Zahl seiner Vorschriften und Verbote, sondern an dem Maß des Vertrauens, das er seinen Bürgern entgegenbringt. Das ist das Maß des liberalen Staates, nichts anderes.
Konservatives Staatsverständnis bezieht dagegen oft das Mißtrauen der Bürger immer noch als gravierende Größe in politische Entscheidungen ein. Das hat sich gerade wieder in den ablehnenden Reaktionen bei der CDU/CSU auf all jene Gesetze bestätigt, die mehr Selbstbestimmung, mehr Eigenverantwortung des Bürgers anstreben. Ich denke dabei an die Reform des § 218. Ich denke an das Eherecht. Ich denke an die Mitbestimmung in den Betrieben und an das moderne Sexualstrafrecht. Die Abneigung gegen die Erweiterung des Freiheitsraums für den einzelnen geht bei Teilen der CDU und CSU so weit, daß sie sogar bereits in Kraft getretene Gesetze, wie die Neufassung des § 218, in der Praxis zu unterlaufen versuchen. Das ist nach meiner Meinung wider die Verfassung.
Diesen Kräften kann es natürlich aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht recht sein, daß staatliche Bevormundung abgebaut, d. h. auch, daß mehr reale Freiheit für den Bürger hergestellt wurde. Dieser prinzipielle Gegensatz wird übrigens alle jene Versuche von CDU und CSU zum Scheitern bringen, sich neben vielerlei volksparteilichen Attributen auch noch ein liberales Mäntelchen überzuwerfen. Der Dissens in der Sache ist zu groß, als daß der Bürger den Unterschied zwischen fortschrittlicher Haltung und propagandistischem Anspruch auf Liberalität nicht durchschauen würde.
Wer Politik als gemeinsame Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung definiert, muß auf dem Fundament von Vertrauen und Offenheit alle politischen Entscheidungen den Grundwerten der Gerechtigkeit, der Toleranz und damit der Humanität unterordnen. Politische Leistung muß eben mehr bewirken als nur materiell meßbaren Fortschritt. Sie muß durch Inhalt und Stil auch ein gesellschaftliches Klima schaffen, das die Mitmenschen zur prägenden Kraft macht.
Konkret bedeutet das nicht nur, daß wir Liberale unseren besonderen Beitrag zur Stärkung jener Bürgerinitiativen und Organisationen leisten wollen, die Bedürfnisse von Minderheiten und Benachteiligten aufspüren und sich unmittelbar für Hilfeleistungen und Problemstellungen einsetzen. Viele Arten dieser Bürgergemeinschaften haben wir.
Wir müssen uns darüber hinaus — und das sollte alle Parteien im Hause einschließen — für den Abbau von Aggressivität, für die Förderung der Toleranz und für die Freiheit der Andersdenkenden jederzeit einsetzen, auch wenn es um uns selbst geht, nicht nur immer, wenn es um den anderen geht.
Der Appell geht an uns alle als Mitbetroffene, weil wir das Freund- und Feinddenken, das immer stärker zu dominieren droht, abbauen sollten.
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Der zum Teil bitterbös geführte Wahlkampf hat manche Verletzungen hinterlassen, Verletzungen nicht nur des politischen Gegners, Verletzungen nicht nur des guten Geschmacks, der Fairneß, ja manchmal der Menschenwürde. Aus diesen schlimmen Erfahrungen müssen nach meiner Überzeugung jetzt Konsequenzen gezogen werden. Wenn die Rückkehr zu Anstand und Vernunft im Umgang der Parteien nicht gelingt, werden bleibende Schäden für das Klima der Zusammenarbeit in unserem Lande verursacht.
Das ist kein Plädoyer für Kaschierung politischer Gegensätze, für oberflächliche Harmonisierung. Natürlich brauchen wir das kritische und auch das harte Gegeneinander beim Suchen und Ringen um die bestmöglichen Sachentscheidungen. Aber es darf nicht zu einer Eigendynamik des Machtwillens kommen.
Das wäre das Ende eines freiheitlichen Staatswesens, in dem Menschlichkeit und Bürgerrechte nicht nur sein sollen, sondern sein müssen.
Der demokratische Standort erhält sich aber nicht durch sich selbst. Er setzt dauernde Anstrengung voraus. Wir werden deshalb in der Kontinuität der bisherigen Politik weiter für vernünftige Fortschritte einzustehen haben. Alle Demokraten stehen hier in einer ständigen, immer neuen herausfordernden Bewährung. Wir Liberale sind angesichts einiger Vorgänge nicht ohne Sorge, daß die Sensibilität gegenüber illiberalen Fehlentwicklungen durch die absichtsvolle Einengung des Begriffes „Stabilität" auf Formalordnung und Formalrecht geschwächt werden könnte. Unsere Wachsamkeit ist gefordert, wenn das Vergessen geschichtlicher Erfahrungen in Mode kommt. Die „Süddeutsche Zeitung" registrierte neulich in einem Leitartikel bei einer Analyse denkwürdiger Ereignisse bereits Symptome gepflegten Vergessens. Unsere Wachsamkeit ist doppelt gefordert, wenn solche Symptome, in denen sich der Versuch der Verfälschung der Geschichte mit autoritären Vorstellungen vermischt, durch Manipulationen am Parteiengefüge zusätzliche Betonung erhalten. Politische Zellteilung führt nicht zwangsläufig zum gewünschten Größenwachstum, eher zu Größenwahnwachstum.
Hier werden leicht Emotionen und dumpfe Hoffnungen freigesetzt, die auch auf anwachsende Strömungen am Rande der Parteienlandschaft vertrauen, und zwar ganz so, als sei die Frage der Mehrheitsgewinnung ein Ziel an sich, das jede Methode rechtfertige.
Noch einmal zur Klarstellung: Wer glaubt, die aus äußerster Aggressivität gespeiste Konfrontation fortführen und die Gegensätze bis zur Unüberbrückbarkeit hin verschärfen zu müssen, setzt bewußt auf irrationale Entwicklungen, wie sie schon einmal in diesem Jahrhundert forciert und letzten Endes aufs schlimmste genutzt worden sind.
Für uns Liberale heißt das, alles daranzusetzen, daß die Integration unserer Bürger zur politischen Mitte hin nicht nachläßt.
Meine Damen und Herren, wir bekennen offen, daß es politische Bereiche gibt, in denen wir es alle gemeinsam versäumt haben, genügend Aufklärung zu leisten. Ich nannte z. B. die Kernenergie. Genauso notwendig ist es, die Wechselwirkung zwischen der Leistungsfähigkeit des Staates und der Leistungsbereitschaft der Bürger stärker sichtbar zu machen. Erst wenn ein aus Kenntnissen gewachsenes Verständnis über die materiellen Bedingungen der staatlichen Leistungen — von der Bildungs- bis zur Sozialpolitik — erreicht ist, werden unsere Mitbürger nicht nur bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, sondern sie werden auch politische Entscheidungen, die wir hier fällen müssen, akzeptieren. Es muß aus der Mode kommen, daß der Staat eben nur als eine Art zu melkende Kuh betrachtet wird. Der Staat kann seinen Bürgern nur geben — ich will das wiederholen, was mit anderen Worten schon gesagt wurde —, was vorher erwirtschaftet worden ist. Es muß deshalb das Bewußtsein dafür geschärft werden, daß jede Forderung an den Staat, an seine betreuenden Einrichtungen neue Opfer voraussetzt.
Die manchmal schon menschenfeindlichen Errungenschaften des technischen Fortschritts und bestimmte Erscheinungsformen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft haben den Wert der Individualität für viele wieder deutlicher werden lassen. Der Wille des einzelnen Bürgers wächst, die eigene Identität gegen Bevormundung durch Großgruppen, Organisationen oder Sachzwänge zu behaupten und damit für seine individuelle Freiheit in Staat und Gesellschaft zu kämpfen. Es genügt eben nicht, dem Bürger eine Fülle formaler Rechte zu bescheren, ohne gleichzeitig darauf zu achten, daß die verbrieften Rechte auch zur alltäglichen Freiheit werden können.
Wir Freien Demokraten haben mit den Sozialdemokraten in langjähriger Zusammenarbeit unter Beweis gestellt, daß die Freiheit in unserem Lande durch konkrete Leistungen ausgebaut worden ist. Wir haben die Rechte des einzelnen Bürgers gestärkt und damit seinen Freiheitsraum erweitert, indem wir mehr Mitsprache und Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen gesetzlich verankerten. Wir haben den strafenden und bevormundenden Staat zurückgedrängt und dem Bürger mehr persönliche Entscheidungsfreiheit gegeben.
Wir haben die freie Wirtschaftsordnung im Interesse des Bürgers gestärkt. Wir haben diese marktwirtschaftliche Ordnung auch in äußerst kritischen Zeiten — wie etwa während der Ölkrise — gegen den Ruf nach dirigistischen Regelungen verteidigt. Wir werden mit ihr auch die Probleme der Arbeitslosigkeit und die weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten besser überwinden, als das jedes andere Wirtschaftssystem könnte.
Meine Damen und Herren, die Renten- und die Gesundheitspolitik spielen natürlich in dieser Wahlperiode eine zentrale Rolle. Dabei geht es darum,
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allein bis 1980 ein beim derzeitigen Rechtsstand mögliches Defizit in der Rentenversicherung von rund 83 Milliarden DM auszugleichen. Das fordert von allen Beteiligten Opfer. Wer die angekündigten Maßnahmen ablehnt, muß sich die Frage stellen, ob er die Beiträge weiter erhöhen und damit die Solidargemeinschaft zwischen Beitragszahlern und Rentnern einer neuen Belastungsprobe aussetzen will.
Natürlich ist es das gute Recht der Opposition, Kritik an den Vorschlägen der Regierung zu üben. Ich bin gespannt, ob wir in der Debatte heute oder im Januar konkret hören, wie man glaubt, die Dinge lösen zu können. Der Kassensturz, der verlangt worden ist, wird mit dem Sozialbericht deutlich werden; der Sozialbeirat hat Daten gesetzt. Wer aber sagt: keine Beitragserhöhung, keine Leistungsveränderung, kein Abschmelzen der Rücklage, der scheint im Besitz der Geheimformel zu sein, daß zwei mal zwei doch fünf sei.
Wenn die Opposition sie hat, sollte sie diese Geheimformel ganz schnell allen zugänglich machen.
Ich kann allerdings nur hoffen, daß die Rechenkünste in der Opposition nicht so sind, wie es vorhin der Fall war, als Herr Kohl davon sprach, daß beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes um 30 DM für das dritte Kind nicht ausreiche, eine Mehrwertsteuererhöhung von 2 % aufzufangen. Dann, wenn jede Familie — wenn Sie das einmal ausrechnen — für jedes Kind 1 500 DM ausgeben könnte, wären die Einkommensverhältnisse allerdings ganz anders, als sie heute sind. Dieses eine Beispiel zeigt mir, wie schnell und wie falsch man in der Opposition beim Rechnen oft ist.
Meine Damen und Herren, die Schwierigkeiten in der Rentenversicherung liegen in der bisherigen Anpassungspraxis, aber auch im Altersaufbau unserer Bevölkerung. Zusätzliche Belastungen — sei es über erhöhte Beiträge, sei es über erhöhte Steuern im Falle einer verstärkten Staatsfinanzierung — bedeuten Risiken für Arbeitsplätze, Stabilität und Wachstum. Wir ziehen gerade diese Punkte mit in Betracht, weil wir im Interesse der Rentner nicht nur kurzfristig, sondern langfristig handeln wollen.
Aus den Erfahrungen der letzten Jahre kann ich allerdings nur den Schluß ziehen: Der politische Konkurrenzkampf um die Stimmen der Rentner droht das System unserer Rentenversicherung zu sprengen. Damit ist den Rentnern am allerwenigsten gedient. Eine solide Rentenfinanzierung nützt dem Rentner mehr als Augenblickserfolge. Dazu bedarf es einer rationalen Rentenpolitik. Die Regierungserklärung hat dazu die Weichen gestellt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Mischnick, wenn das so ist, wie Sie sagen: Warum haben Sie dann das Angebot der Opposition vom 16. Januar 1975 und nachfolgend siebenmal nicht angenommen, in eine gemeinsame Bestandsaufnahme einzutreten und gemeinsam eventuell auch unpopuläre Maßnahmen schon vor zwei Jahren zu beschließen?
Wenn dies alles wirklich so ernst gemeint war, wie Sie es damals gesagt haben und heute noch einmal betonen,
dann verstehe ich allerdings nicht, wieso Sie dann offensichtlich mit Ratschläge gegeben haben, im Wahlkampf von Seiten der Union auch Garantien auszusprechen — in der gleichen Weise, wie ich es hier gekennzeichnet habe —, überhaupt nichts zu verändern. Dies steht allerdings im Widerspruch miteinander. Aber das müssen Sie bei sich ausmachen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Bitte, Herr Franke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Mischnick, wann fängt bei Ihnen die Ernsthaftigkeit eines Angebots an, wenn man siebenmal und einmal anbietet? Muß man zwangzigmal anbieten, damit Sie es endlich begreifen?
Die Ernsthaftigkeit hat damals angefangen, als Ihre Kollegen und wir gemeinsam im Kabinett saßen und ich im Jahre 1963 dem damaligen Bundesarbeitsminister Blank angeboten habe, die Grundsätze dieser Rentengesetzgebung zu überprüfen, weil wir in den siebziger Jahren vor diesen Entscheidungen stehen würden. Damals habe ich es angeboten; da war es Ihre Fraktion, Ihr Arbeitsminister, der es abgelehnt hat, darüber überhaupt nur zu diskutieren, geschweige denn Entscheidungen zu fällen. Das ist der Tatbestand.
Selbstverständlich waren bei den letzten Beratungen Kompromisse notwendig. Dabei — das spreche ich ganz offen aus — war es der FDP nicht möglich, ihre Vorstellungen auch für eine umfassende Neuordnung der Krankenversicherung der Rentner zum Inhalt der Regierungspolitik zu machen. Unser Konzept einer Ablösung des Globalbeitrags der Rentenversicherung durch personenbezogene Beitragsrege-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 83
Mischnick
lungen nach einer zusätzlichen Rentenerhöhung
bleibt für uns ein wichtiger Diskussionsgegenstand.
Uns liegt daran, den Weg zu einem späteren Übergang auf dieses Konzept nicht zu verbauen. Auch aus diesem Grunde haben wir davon abgesehen, für die Krankenversicherung der Rentner eine Beitragsregelung nach den Vorschlägen des Sozialbeirats vorzusehen, die praktisch zu einer Rentenerhöhung um nur 5 % statt um 10 % geführt hätte. Wir werden über diese Fragen im Detail noch zu diskutieren haben.
Wir haben allerdings ungeschminkt die Situation dargelegt, und ich kann nur hoffen, daß auch manche Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition von ihren rentenpolitischen Illusionen Abschied nehmen. Uns ist daran gelegen, daß die Wirtschafts-, die Finanz- und die Sozialpolitik in Harmonisierung untereinander die schwierigen Aufgaben lösen, die in den nächsten vier Jahren vor uns liegen. Sie sollten es sich nicht so einfach machen und nicht so tun, als sei nur die Rezession für diese Entwicklung verantwortlich. Denken Sie doch wenigstens ab und zu einmal darüber nach, daß es Ihre — der CDU/CSU — Entscheidung, Ihr Durchsetzen von 1972 war, was vieles von den Problemen heraufbeschworen hat, die wir heute zu lösen haben!
Hierin und nicht nur in der schwierigen arbeitsmarktpolitischen Situation liegt der Kern des Problems. Weil das so ist, müssen wir eben wieder auf den 1. Januar als Anpassungstermin zurückgehen. Im übrigen: Wenn ich da höre, das, was die Regierung vorgeschlagen habe, bedeute eine generelle Veränderung des geltenden Rechts, dann ist dazu zu sagen: Dies ist falsch. Es wäre gut, sich dieses genau anzusehen, bevor man vorschnell Urteile fällt.
Die Koalition ist sich im übrigen einig darüber, daß die Rücklagen so bald wie möglich wieder auf Drei-Monats-Ausgaben aufgefüllt werden sollen. Ich füge allerdings genauso nüchtern hinzu: Aus heutiger Sicht wird dies aber erst ab 1981/82 möglich sein.
Wir halten nichts davon, diese Tatbestände zu verschleiern. Wir werden dazu noch im Detail Stellung nehmen.
Das Kostendämpfungsprogramm in der Gesundheitspolitik zielt darauf ab, die Einflußmöglichkeiten der Selbstverwaltung, aber auch des einzelnen Versicherten entscheidend zu verstärken, um die Wirtschaftlichkeit und, Leistungsfähigkeit unseres freiheitlichen Gesundheitswesens auch in Zukunft sicherzustellen. Der Erfolg dieser Politik und damit die Freiheitlichkeit unseres Gesundheitswesens hängen aber nicht zuletzt davon ab, daß die verschiedenen Träger, aber auch jeder einzelne Versicherte ihre Verantwortung und ihre Möglichkeiten zur Dämpfung des Kostenanstiegs voll wahrnehmen. Wenn die Selbstverwaltung bei diesen Aufgaben versagt, beschwört sie selbst staatlichen Dirigismus herauf. Wir Liberalen bauen auf die Vernunft und das Verantwortungsbewußtsein aller Beteiligten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zur AuBen- und Deutschlandpolitik machen. Die Bundesregierung hat ihre Position in der Außen- und Deutschlandpolitik umrissen und sich uneingeschränkt zur Fortsetzung der Entspannungspolitik bekannt. Wer den Frieden sichern will, hat eben keine andere Wahl. Ich frage mich, was diejenigen wirklich wollen, die diese Politik ablehnen oder in Frage stellen. Wir hören seit Jahren, was die CDU nicht will. Wir hören mit wachsender Lautstärke, was die CSU befürchtet. Jetzt erst brach doch wieder der Streit über Neuorientierung oder nicht in der CDU und mit der CSU aus. Der Zweifel bleibt doch, ob einer der Oppositionspolitiker aus Ihren Reihen — zeitweilig offen verfeindet, jetzt wieder verkleistert — in der Lage wäre, eine Politik zu formulieren, die den tatsächlichen Interessen unseres Volkes dient und auch den Beifall seiner C-Freunde der verschiedenen Schienen, Lager und Lichter findet. Bis jetzt ist das nicht sichtbar. Als wir Freien Demokraten uns vor zehn Jahren aus der Koalition mit der CDU/CSU lösten, war einer der wichtigen Gründe dafür, daß die tonangebende Mehrheit bei den Unionsparteien nicht imstande war, zukunftsorientierte und realistische Vorstellungen für die deutschen Möglichkeiten zur Grundlage ihrer Politik zu machen.
Entspannungspolitik setzt nun einmal voraus — das möchte ich für die Freien Demokraten noch einmal sagen —, daß wir die gegebenen Machtkonstellationen zwischen Ost und West sehen und nüchtern kalkulieren. Ein friedliches Zusammenleben, ein Modus vivendi braucht heute den territorialen Status quo als Basis, ob uns das paßt oder nicht. Wir wollen auf dieser Grundlage zäh und unverdrossen an der Begrenzung der Konflikte, an der Lösung von Konflikten arbeiten. Andere Möglichkeiten zur Sicherung des Friedens sehen wir nicht. Eine solche Zusammenarbeit muß eben über die ideologischen Grenzen hinweg erfolgen. Insofern gibt es eine machtpolitische Koexistenz, gewiß aber keine ideologische Koexistenz. Ich betone: Für beide Seiten muß diese Differenzierung die Grundlage sein. Wenn sich gewisse Kreise unter den kommunistischen Ideologen der osteuropäischen Staaten fragen lassen müssen, ob sie nicht doch eine Art ideologische Kapitulation von uns erwarten oder jedenfalls anstreben, so muß sich zugleich auch die Mehrheit der Opposition fragen lassen, ob sie nicht ihrerseits ideologische Kapitulation von der anderen Seite fordert. Ich will es etwas anders sagen: Die selbsternannten Engel — auf welcher Seite sie auch stehen mögen — brauchen ihre Teufel, um überhaupt Engel sein zu können.
Meine Damen und Herren, ein solches Spiel endet aber zumeist in der gemeinsamen Hölle für Völker und Menschen. Dies wollen wir nicht.
Die Politik der praktischen Zusammenarbeit über die ideologischen Grenzen hinweg erfordert von uns — auch darüber gibt es keinen Zweifel — innere
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Stabilität. Diese Politik ist aber nur dann zu praktizieren, wenn die Vertragspartner zu einer dauerhaften Zusammenarbeit in der Lage sind. Also ist nicht nur unsere eigene Stabilität notwendig, auch die Handlungsfähigkeit unserer Vertragspartner liegt in unserem wohlverstandenen Interesse. Diese Erkenntnis mag vielen nicht gefallen, ja, völlig fremd sein. Wer aber ein friedliches Zusammenleben will, muß diese Erkenntnis in die Tat umsetzen.
Man kann über Entspannungspolitik sicher nicht sprechen, ohne dabei selbstverständlich Berlin an erster Stelle zu nennen. Gerade in Berlin, wo die Praxis so schwer ist, muß sich diese Politik bewähren. Dies gilt aber für alle Beteiligten, auch für uns selbst.
Die Bundesregierung hat ihren Willen zur fairen Zusammenarbeit und zur absoluten Respektierung der Viermächtevereinbarungen noch einmal bekräftigt. Dafür sind wir Freien Demokraten dankbar. Aber an die Adresse der Oppositionsparteien sei gesagt: Man dient Berlin und seinen Interessen nicht durch spektakuläre Aktionen. Eine Politik, die Berlin aus den Schlagzeilen herausläßt, dient Berlin und der Sicherung des Friedens im Zweifel am allermeisten.
Die Sicherheit und die Lebensfähigkeit Berlins sind doch die entscheidenden Kriterien. Alles, was geschieht oder nicht geschieht, muß nach meiner Auffassung daran gemessen werden. Wenn über Sitzungen oder Institutionen debattiert wird, gibt es für mich nur einen gültigen Maßstab für Entscheidungen. Man muß prüfen, auf welche Weise wirklich etwas zur Sicherung und Lebensfähigkeit der Stadt beigetragen wird. Niemand will — wie es die östliche Seite oft unterstellt — mit Berlin oder von Berlin aus eine aggressive Politik betreiben. Kein Vernünftiger könnte dazu die Hand bieten, weil dies die Grundlage der friedlichen Zusammenarbeit in Frage stellen müßte und wiederum gegen die Interessen Berlins wäre.
Ich füge allerdings hinzu, daß wir mit gleicher Entschiedenheit auch jedem Versuch der anderen Seite zur Aushöhlung unserer Position entgegentreten. Man kann die Entscheidungen, die vor 30 und mehr Jahren gefallen sind, heute nicht zu unseren Gunsten umschreiben wollen. Wir lassen es aber auch nicht zu, daß andere diese Entscheidungen zu unseren Ungunsten um- oder fortschreiben.
Wenn irgend jemand in diesem Hause im übrigen keinen Grund hat, das Thema „Berlin" zum Angriff gegen die sozialliberale Koalition zu nutzen, dann sind es die C-Parteien.
Sie haben es, als es in den 50er Jahren vielleicht Möglichkeiten für eine allgemeine Verbesserung der Lage Berlins gegeben hätte, solche Möglichkeiten nicht ernsthaft geprüft. Sie haben sogar Desinteresse gezeigt.
Jedenfalls waren viele von denen, die sich jetzt
täglich in die Brust werfen, damals nicht stark genug, das damalige Desinteresse Verantwortlicher zu beseitigen.
CDU und CSU sind dafür verantwortlich, daß damals Vereinbarungen mit der Sowjetunion ohne Berlin-Klausel abgeschlossen worden sind. 20 Jahre später ist Berlin wesentlich besser gesichert, als es 1961 oder 1958 unter der Verantwortung der beiden Unionsparteien war. Eben dies hat die Politik der Koalition bewirkt, nicht die Politik, die Sie damals betrieben haben.
Meine Damen und Herren, wenn ich sage, daß sich gerade in Berlin die enge Zusammenarbeit mit den Westalliierten stets bewähren muß, so sage ich das, obwohl es selbstverständlich klingt, nicht ohne guten Grund. Es gab und gibt Versuchungen, denen die Opposition immer wieder erliegt, im innenpolitischen Bedarfsfalle dieses Thema leicht zu nehmen. Frühzeitige Abstimmung und Konsultationen mit den Westalliierten aber sind dringend geboten und empfehlen sich, ehe Vorschläge öffentlich diskutiert werden. Behutsamkeit und Festigkeit in der Berlin-Frage geben uns eine starke Position, wenn es gilt, gegenüber der anderen Seite Unzumutbares abzuwehren und den Berliner Interessen zu dienen.
Bei unserer Politik gegenüber der DDR halten wir uns strikt an den Grundlagenvertrag. Von der Union haben wir immer wieder gehört, daß sie alle Verträge respektiere. Manchmal jedoch fragt man sich, ob sie diese Verträge und den Sinn dieser Vertragspolitik wirklich verstanden hat.
Es ist zum Vorteil der Bundesrepublik Deutschland, wenn wir in der DDR einen kooperationsfähigen Vertragspartner haben. Jede Aktion oder Reaktion von unserer Seite sollte sorgfältig daraufhin geprüft werden, ob sie zu neuer Verhärtung, zu noch schärferer Abgrenzung und damit zu weniger Kontakten gerade im menschlichen Bereich führen kann. Natürlich sind wir uns einig, daß uns Menschenrechtsverletzungen — ganz gleich, wo sie geschehen, also auch in der DDR — nicht ruhig lassen können, daß wir gemeinsam gegen sie Stellung zu nehmen haben. Ich erwarte aber, daß jeder verantwortungsbewußte Politiker bei seinen Reaktionen nicht nur aus der Stimmung des Augenblicks redet, sondern dabei auch an das Morgen und Übermorgen denkt.
Meine Damen und Herren, eine Gefährdung dieser Politik mit der DDR hieße erhöhte Konfliktgefahr. Der Bundeskanzler hat klar gesagt, was wir unsererseits von der DDR erwarten. Jedes Wort verdient Zustimmung und Unterstützung. Es wäre wünschenswert, daß von den Rednern der Opposition künftig mehr als bisher die Frage ganz nüchtern geprüft wird, was denn eigentlich unsere wirklichen Interessen sind und inwieweit unsere Interessen mit den Interessen anderer übereinstimmen.
Es ist keine Kunst, bei diesem Thema selbstgerecht zu sein; sonst wäre die Opposition eine große Künstlerkolonie. Es gehört auch kein großer Mut
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dazu, von diesem Platz aus nur die Zustände in der DDR zu kritisieren. Eine Politik, die in realistischer Weise Interessen vertritt, darf sich darin nicht erschöpfen. Sie muß gleichzeitig Wege zur Besserung da zeigen, wo sie dringend nötig sind.
Wir jedenfalls wollen die Zusammenarbeit mit allen osteuropäischen Staaten fortsetzen und erweitern. Die Verträge bilden die Grundlage dafür, und wir wissen, daß wir dazu viel Geduld brauchen. Wir kennen den Zeitfaktor bei der Beurteilung positiver Entwicklungen. Wir wissen, daß wir immer wieder mit Rückschlägen zu rechnen haben. Wir in der Bundesrepublik Deutschland sollten aber vermeiden, daß wir Rückschläge provozieren, wie das manchmal geschehen ist. Das hat nichts mit Leisetreterei zu tun, sondern verlangt nur die Souveränität im Denken und Handeln, die wir uns als freiheitlicher Staat, als freiheitliche Gesellschaft, als liberale Staatsform gegenüber einem autoritären Staat leisten können.
Weil wir die Entspannungspolitik für grundlegend richtig halten, ist es auch unsere Pflicht, an dieser Stelle kritisch auf die Rüstungspolitik der Sowjetunion hinzuweisen. Wir brauchen den Stopp des Rüstungswettlaufs. Wir müssen zu einer wirklichen Abrüstung, zu einem Abbau von Truppen und Rüstungen, kommen. Bedauerlich ist, daß die Verantwortlichen in der Sowjetunion immer noch und immer wieder mit antiquierten Sicherheitsbehauptungen und Sicherheitsvorstellungen operieren.
Wir haben unsererseits für das notwendige militärische Gleichgewicht zu sorgen. Indem wir das tun, sind wir uns auch darüber im klaren, daß militärisches Sicherheitsdenken nicht die politischen Fragen und Probleme überwuchern darf. Von den Sprechern der Unionsparteien gewinnt man aber oft den Eindruck, daß sie mit einem eingeschränkten, mit einem stark militärisch geprägten Sicherheitsbegriff arbeiten. Wir dagegen sind der Ansicht, daß der Westen sein Gesamtkonzept der Friedenssicherung unter maßgeblicher Mitwirkung der Vereinigten Staaten weiterentwickeln muß und daß innerhalb dieses Gesamtkonzepts die Wahrung des militärischen Gleichgewichts selbstverständlich ein Eckpfeiler ist.
Aber es wäre falsch, über diesen Fragen die nicht weniger schwierigen Fragen im Nord-Süd-Verhältnis zu übersehen. Es wird mühevoll sein — darauf ist mehrmals eingegangen worden —, jene praktische Zusammenarbeit zu erreichen, die wir auch hier dringend zur Friedenssicherung brauchen. Wenn es in letzter Zeit zu Schwierigkeiten und Mißverständnissen gekommen ist, dann empfiehlt sich bei uns allen gemeinsam eine nüchterne Prüfung.
Wir wissen, daß eine wirkliche soziale Ordnung nur in einer marktwirtschaftlichen Ordnung, im freien Wettbewerb denkbar ist. Wir wissen, daß man den Armen nur helfen kann, wenn man das Güterangebot erhöht. Dazu eignet sich die Marktwirtschaft besser als jede andere Form der Wirtschaftsordnung. Man muß aber auch zur Kenntnis nehmen, daß in vielen Staaten der Dritten Welt, jedenfalls in ehemaligen Kolonialgebieten, der Be-
griff Marktwirtschaft mit Kolonialismus und kolonialistischer Ausbeutung gleichgesetzt wird.
Eine neue Weltwirtschaftsordnung ist für die meisten unserer Partner in der Dritten Welt Abkehr vom Kolonialismus. Wenn man sich darüber im klaren ist — und darüber sind sich leider viele wohlmeinende Politiker durchaus nicht im klaren —, dann sollte es leichter sein als bisher, in diesem Dialog vom Dissens zur Übereinstimmung zu kommen.
Das kann und darf nicht zu Dirigismus und damit zur Einschränkung der Freiheit führen, sondern es sind Methoden zu entwickeln, mit denen wir in weiten Teilen der Welt mehr soziale Sicherheit und mehr soziale Gerechtigkeit schaffen, damit die Menschen dort überhaupt von ihrer Freiheit Gebrauch machen können. Ich kann nur hoffen, daß wir in enger Zusammenarbeit mit unseren Partnern insbesondere in der Europäischen Gemeinschaft auf diesem Weg einen Schritt vorwärts kommen. Dabei werden wir viel Mut brauchen, auch in unserem eigenen Land den Menschen verständlich zu machen, welche Opfer das fordert.
Wir sehen eine politische Macht in den Vereinten Nationen trotz all ihren Einschränkungen in der Tatsache, daß hier all diese Länder tätig sind. Wir müssen deshalb ihre Forderungen sorgfältig prüfen. Wir müssen uns aber auch bewußt sein, daß in der Zukunft nur wirtschaftlich entwickelte Länder der Dritten Welt uns die Möglichkeit zu einem entsprechenden Austausch und zu einer friedlichen Weiterentwicklung geben. Das bedeutet, daß wir die entsprechenden Entscheidungen zu treffen haben.
Noch einmal sei es gesagt: Wir wollen keinen weltweiten Wirtschaftsdirigismus. Mit unseren Partnerländern in der Europäischen Gemeinschaft gilt es, politische Zeichen zu setzen, die uns zu akzeptablen Lösungen führen, die die Voraussetzungen erfüllen, die ich eben genannt habe.
Meine Damen und Herren, zu vielen Punkten der Regierungserklärung ist noch ausführlich Stellung zu nehmen; das wird in der Debatte im Januar geschehen, möglicherweise in Antwort heute noch. Daß jetzt nur einige Schwerpunkte herausgenommen worden sind, soll lediglich deutlich machen, daß es uns darauf ankommt, immer in den Vordergrund zu stellen: Es ist im Interesse der Bürger, die politischen Probleme äußerst offen und realistisch darzustellen. Nur auf dieser Basis ist eine sachliche Beurteilung der Lage möglich, wird Fehlentscheidungen vorgebeugt. Die Regierungserklärung hat das für die wesentlichen Aufgaben der nächsten Jahre herausgearbeitet.
Wir wissen, wir haben in diesen vier Jahren viel zu bewältigen, zu sichern, was wir uns an Rechten und an Chancen hart erstritten haben. Es wird eine schwere Aufgabe sein, aber diese Aufgabe lohnt sich.
86 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Strauß.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Debatte steht primär die Regierungserklärung, in Verbindung damit einige andere Probleme, die heute der Kollege Willy Brandt angeschnitten hat. Zur Regierungserklärung muß ich leider sagen — ich habe seit dem Jahre 1949 alle gehört —: Das war die längste, banalste und inhaltsloseste Regierungserklärung, die je ein deutscher Bundeskanzler vor diesem Hause abgegeben hat.
Einige Exemplare sind vorweg verteilt worden. Ich gehörte auch zum Kreis der gesegneten Empfänger; ich hatte auch darum gebeten und bin bedient worden. Auf der Seite null der vorab verteilten Exemplare stand als Überschrift: „Regierungserklärung". Der Verdacht, daß es sich um diese handelte, konnte bei der Lektüre der folgenden 182 Seiten nicht bestätigt werden.
Der einzig erkennbare — vielleicht versöhnt Sie das Bild jetzt — rote Faden,
der sich durch diese Regierungserklärung zog, war die Buchbindersynthese. Das Konglomerat unverbindlicher Feststellungen — etwa: „wir werden den Gesamtfragenkomplex prüfen" — wurde durch Heftklammern zusammengehalten.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung nicht die Lösung von Problemen angeboten, sondern nach der Lösung von Problemen gefragt, von denen ein großer Teil ohne ihn und ohne die SPD/FDP-Regierung der letzten Jahre überhaupt nicht bestehen würde.
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Allerdings, der Versuch, die Tragikomödie — um noch das mildeste Wort zu gebrauchen; man müßte ein ernsteres Wort verwenden — um die Renten in eine Heldenoper umzufunktionieren, ist total mißglückt.
Lassen Sie mich zu dem Thema einige Worte im einzelnen sagen. Der Bundeskanzler sprach von der Erfüllung eines Wählerauftrags. Der Wähler hat — wenn er der Koalition SPD/FDP auch mit knapper Mehrheit die Regierungsverantwortung übertragen hat — das jedenfalls unter anderen Voraussetzungen getan, als sie wenige Tage nach der Wahl enthüllt worden sind.
Die Stabilität der parlamentarischen Demokratie
ist nicht durch dieses Wahlergebnis bestätigt worden. Das ist eine Überheblichkeit, Herr Bundeskanzler, oder eine Ihrer vielen falschen Vereinfachungen. Wenn der Wähler, sei es mit kleiner oder mit großer Mehrheit, der CDU/CSU die Mehrheit gegeben hätte, wäre es genauso ein Beweis für die Stabilität der parlamentarischen Demokratie gewesen. So einfach geht das nicht.
— Herr Wehner, ich weiß, daß Sie einen Gesprächspartner suchen, weil Sie mit Ihrem Nachbarn nicht gerne reden.
Noch nie ist dem Wähler schon so kurz nach einer Wahl, und zwar so eindringlich, vor Augen geführt worden, daß sein Wahlverhalten, nämlich die für die SPD/FDP-Koalition erzielte hauchdünne Mehrheit, durch etwas verursacht wurde, was selbst absolut koalitionsfreundliche Zeitungen als „Lüge" — wenn ich die „Frankfurter Rundschau" zitiere, und hier darf ich es ja ohne Ordnungsruf sagen —, als „Betrug" oder „Täuschung" — „Kölner StadtAnzeiger" — bezeichnet haben.
Als ich vor der Wahl — damals sollen ja angeblich 20 Millionen Zuschauer während der Fernsehdiskussion drei Tage vor der Wahl vor dem Bildschirm gesessen haben — auf die katastrophale Lage der Rentenfinanzen hinwies und von einem „Verfall der Finanzgrundlagen der Rentenversicherung" sprach — ich habe nicht von einem Verfall der Rentenversicherung gesprochen, wie mir hernach Herr Schmidt in seiner bekannten simplifizierenden Art unterstellte, sondern von einem „Verfall der Finanzgrundlagen der Rentenversicherung" — und vom Zwang zu drastischen Schritten — eine wörtliche Wiederholung —, haben Sie, Herr Bundeskanzler, mir mit gespielter Empörung unchristliche Angstmache vorgeworfen.
Sie und alle anderen führenden Politiker von SPD und FDP versprachen sowohl die Erhöhung der Renten um 10 % zum 1. Juli 1977 wie auch die Aufrechterhaltung der Bruttolohnbezogenheit der Renten auf Dauer wie auch die Nichterhöhung der Beiträge. Sie werden mir vielleicht antworten, das sei ja eingehalten worden. Es ist aber mehr eine Lüge als eine Wahrheit, daß das eingehalten worden ist; denn ob man die allgemeinen Beiträge erhöht oder ob man die Krankenkassenbeiträge erhöht, um den Ausgleich zu schaffen: Sie haben den Eindruck erweckt, daß weder Steuern noch irgendwelche Beiträge erhöht werden müssen, wenn die von Ihnen gegebenen Zusagen finanziert werden sollen, und das ist eindeutig falsch. Darüber gibt es wohl keinen Zweifel.
Sie schrieben in einer Anzeige in allen deutschen Tageszeitungen am 21. September 1976:
Ich versichere Ihnen: Ihre Altersversorgung ist sicher. Die Renten werden weiterhin dynamisch mit der Wirtschaftsentwicklung steigen. Sagen Sie Ihren älteren Mitbürgern: Auf Sozialdemokraten ist Verlaß,
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vor allem wo es um die soziale Sicherheit und um den sozialen Frieden geht.
Sie werden sich noch erinnern, Herr Bundeskanzler,
das war damals in allen Tageszeitungen zu lesen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihren Wahlveranstaltungen — und das hätte Sie vergleichbar gemacht mit einem Redner der CDU/CSU vor 25 Jahren — soviel von Christentum gesprochen, die Bibel zitiert: Du sollst nicht falsches Zeugnis geben. Dieses falsche Zeugnis haben Sie vor der Wahl gegeben.
Sie sagten doch die Unwahrheit, als Sie in der Fernsehdiskussion die Finanzkrise der Rentenversicherung zu einem „leicht zu lösenden Problemchen der bloßen Liquidität der Rücklagen" zu verharmlosen versuchten.
Ich habe damals nicht nur innerlich, auch äußerlich den Kopf geschüttelt, wie jemand angesichts der damals schon seit Monaten vorliegenden Zahlen von einem „Problemchen" reden kann. Was gibt es denn in Ihren Augen heute noch für Problemchen, Herr Bundeskanzler? Wenn dieses Problemchen beinahe Ihre Wahl zum Kanzler verhindert hätte, dann muß die ganze Wahl ein Problemehen sein.
Über alle früheren Beteuerungen setzten sich die führenden Koalitionspolitiker in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch der vergangenen Woche kaltschnäuzig hinweg und vereinbarten die Verschiebung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr. Es gehörte schon — ich zitiere jetzt namhafte Stimmen der Publizistik — ein hohes Maß an „Arroganz der Macht", ein „nicht mehr erträgliches Maß von Wählerverachtung" oder eine „Frechheit ohnegleichen" zu einem solch „eklatanten Wortbruch" — ich zitiere aus dem „Kölner Stadtanzeiger", der „Frankfurter Rundschau", dem „Spiegel" und der „Neuen Rhein-Zeitung" —, mehr aber noch zu der anmaßenden Auffassung der an dieser Koalitionsabrede beteiligten Herren Schmidt, Wehner, Brandt, Mischnick, Genscher, Friderichs, Maihofer, Ertl usw., im Parlament dazu die Zustimmung zu erhalten und, wie der Kanzler jetzt sagt, nicht auf eine so heftige Ablehnung zu stoßen.
Wenn Sie sagen: Regierungen sind nicht unfehlbar, so gebe ich Ihnen völlig recht. Ich meine das sogar ohne ironischen Unterton. Nur totalitäre Regierungen beanspruchen für sich das Recht, unfehlbar zu sein. Aber in dieser Frage hätten Sie nur das vorliegende Material zu lesen und die Offentlichkeit wahrheitsgemäß zu informieren brauchen.
Das hat doch mit fehlbar oder unfehlbar nichts zu tun.
Ich wäre der allerletzte, der hier eine so primitive Gegenüberstellung vornähme: Die einen Parteien haben den Anspruch auf die alleinseligmachende Wahrheit, und die anderen Parteien sind grundsätzlich vom Irrtum besessen und ihm verfallen. Diese Schwarzmalerei wird kein vernünftiger Mensch mitmachen. Aber hier handelt es sich nicht um fehlbar oder unfehlbar, hier handelt es sich einfach um die Ehrlichkeit, gegenüber dem Wähler zu sagen, wie die Dinge erkennbar seit Januar 1976 bereits auf dem Tisch lagen, und um nichts anderes.
Der Kanzler kann sich nicht mit grundsätzlich neuen Erkenntnissen über die Finanzen der Rentenversicherung nach der Wahl entschuldigen, wie es heute auch Kollege Willy Brandt getan hat, der sagte: auf Grund der neuen Zahlen nach dem 3. Oktober 1976.
Neu waren sie für diejenigen, die sich vorher weigerten, von diesen Zahlen Kenntnis zu nehmen.
Seit dem November 1975 haben doch alle unabhängigen Experten, der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, die Bundesbank, der Sachverständigenrat und nicht zuletzt der Sozialbeirat beim Bundesarbeitsministerium immer wieder vor der bedrohlichen Entwicklung der Rentenfinanzen in öffentlich zugänglichem Material gewarnt. Man muß doch davon ausgehen, daß eine Regierung wenigstens lesen kann!
Wenn die Zahlen nicht stimmten, hätte sie sagen und begründen müssen, daß und warum diese Zahlen nicht stimmen. Der Verband der Rentenversicherungsträger hat z. B. schon im Januar 1976 die voraussichtlichen Zahlen für 1976 und 1977 bekanntgegeben und durch weitere Pressemitteilungen im August 1976 noch einmal erhärtet. Bis heute haben sich diese Zahlen so gut wie überhaupt nicht geändert.
Ich darf hier zu der Frage, wer die Wahrheit und wer die Unwahrheit sagt, den Vorsitzenden des Vorstandes des Bundesverbandes der Rentenversicherungen zitieren — immerhin ein stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Stellvertreter von Herrn Vetter —, Herrn Muhr. Er sagte in der Fernsehsendung „Bilanz" vorgestern abend — ich zitiere ihn wörtlich aus dem vom Bundespresseamt überreichten Protokoll —:
Uns hat es eigentlich nicht gepaßt, daß man solche Erklärungen vor der Bundestagswahl abgegeben hat; denn nicht nur uns waren die Zahlen bekannt, die sich in der Rentenversicherung ergaben, sondern sie waren allen Parteien — ich betone: allen Parteien — des Deutschen Bundestages und allen Fraktionen bekannt; denn sie waren schon im Oktober 1975 durch den Anpassungsbericht des Sozialbeirats vorgelegt worden.
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Darum verstehe ich nicht, wie Sie, Herr Brandt, heute sagen können, auf Grund der neuen Zahlen nach dem 3. Oktober 1976 seien die Zahlen bekanntgeworden. Lügen jetzt Sie, oder lügt Herr Muhr?, muß man fragen.
Herr Abgeordneter Strauß, das Wort „Lüge" rüge ich ausdrücklich.
Ich habe es als Frage gestellt.
Herr Abgeordneter Strauß, ich muß Sie mahnen. Sie haben gesagt: Lügen Sie oder Herr Muhr? Insoweit haben Sie einen der beiden Herren bezichtigt.
Insoweit kann ich das noch aus der „Welt der Arbeit" vom 17. Dezember 1976 ergänzen. Darin steht der Artikel „Wechselbäder für die Bürger" von Gerd Muhr, stellvertretendem DGB-Vorsitzenden und alternierendem Vorsitzenden des Verbandes der deutschen Rentenversicherungsträger. Ich zitiere ihn wörtlich aus seinem Artikel:
Das jetzt angesteuerte Finanzierungskonzept ist damit ganz offensichtlich kurzfristig nicht realisierbar, und es wäre langfristig unsolide und geradezu gefährlich, der Rentenversicherung etwa auf Dauer nur ein Rücklagevermögen von einer Monatsausgabe zu belassen.
Ich habe hier doch nicht mehr und nicht weniger getan, als wörtlich Herrn Muhr zu zitieren. Herr Muhr sagt nicht: Die Zahlen sind nach dem 3. Oktober 1976 von uns der Offentlichkeit vorgelegt worden. Herr Muhr sagt in zweimaliger Wiederholung und Betonung: Allen Fraktionen und allen Parteien waren diese Zahlen mindestens seit Januar 1976 bekannt. Darum muß ich mich auch einfach um der Wahrheit gegenüber dem Wahlbürger willen dagegen verwahren, daß man hier sagt, es handle sich um neue Zahlen, die erst nach dem 3. Oktober 1976 bekanntgeworden seien.
Aber auch der neue Bundesarbeitsminister scheint in diesen Fußstapfen zu wandeln. Denn als in der gleichen Fernsehsendung Herr Mühlbradt fragte: „In der Rentenpolitik schlägt jetzt endgültig die Stunde der Wahrheit. Kann die Öffentlichkeit damit rechnen, daß unter Ihrer Verantwortung keine Fehlinformationen in dieser Frage und auch keine billigen und unhaltbaren Versprechungen mehr gegeben werden?", antwortete der neue Bundesarbeitsminister:
Ich würde auch für die Vergangenheit weder von unhaltbaren Versprechungen noch von Fehlinformationen sprechen.
Kommentar überflüssig!
Der Bundeskanzler mußte deshalb noch keine drei Tage nach Verabschiedung der Koalitionsvereinbarung umfallen. Das war nicht eine Denkpause oder ein Denkmodell, das war schon so beschlossen. Ich möchte beinahe sagen — Sie kennen ja den Humorpoeten —: Möchten hätten Sie schon wollen, aber dürfen haben Sie sich nicht mehr getraut. Er mußte nach drei Tagen umfallen, um seine Wiederwahl zu erreichen.
Aber viel schlimmer als dieser Umfall und die darin zum Ausdruck kommende Führungsschwäche des Kanzlers, der sich bisher immer gern als Macher, Krisenmanager, gewissermaßen als der große Zampano, als der Politiker mit dem Raubtierlächeln feiern ließ, ist, daß er kein Macher mehr ist, sondern ein Gemachter.
Das sage ich nicht nur wegen des sprachlichen Vergleichs, sondern getreu den wirklichen inneren Machtverhältnissen, die zu tarnen ihm immer weniger gelingen wird.
Auch die neue Lösung ist unausgewogen, unsozial und gefährlich und vor allem entgegen den jetzigen Beteuerungen. Man kann von einem Weg sagen, er sei besser oder schlechter, aber der Weg muß zum Ziel führen. Der jetzt eingeschlagene Weg löst das Problem bis 1980 nicht.
Er bietet eine Lösungsmöglichkeit von 1980 bis 1983, aber ab 1984 öffnet sich wieder die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben. Mit Sicherheit kommen dann auch nach der neuen Regelung Ausgaben in einer heute noch nicht zu überblickenden Weise auf uns zu. Das ist doch die Problematik.
Sie sind Gefangene Ihrer eigenen Aufschwungspropaganda geworden, weil Sie immer von dem großen Aufschwung gesprochen haben, dem Aufschwung, der dann aus Arbeitslosengeldbeziehern Beitrags- und Steuerzahler machen würde. In der Zwischenzeit müssen Sie zwei Dinge zugeben: Erstens daß auch diese Umwandlung von 800 000 Arbeitslosen in Steuer- und Beitragszahler das Problem nicht mehr ganz lösen würde, höchstens zu einem Drittel bis zur Hälfte, und zweitens daß der Aufschwung selber in der Form ja gar nicht stattgefunden hat. Darum waren Ihre Voraussetzungen, an die Sie sich vor der Offentlichkeit klammerten, falsch.
Sie, Herr Bundeskanzler, sagen in Ihrer Regierungserklärung: „Ich will vor den Bürgern nichts verschleiern." Alles, was dann kommt, ist aber wieder eine ganze Serie von weiteren Verschleierungsaktionen auf allen Gebieten. Dazu im einzelnen wenige Bemerkungen.
Schon in diesem Jahr ist die Liquidität, d. h. die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger gefährdet. Der Finanzminister sieht sich deshalb gezwungen, Schulden an die Rentenversicherungsträger in Milliardenhöhe schon 1976 vorzeitig zurückzuzahlen. Ich habe in einer Fernsehsendung darauf hingewiesen, daß wir zu meiner Zeit als Finanz-
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minister — ich sage das nicht mit Überheblichkeit — mit dem System Schluß gemacht haben, Bundesleistungen an die Rentenversicherungsträger in Gestalt von Stundungen, in Gestalt von irgendwelchen Kassenobligationen oder sonstigen Kreditpapieren zu geben, sondern daß wir Barleistungen überwiesen haben. Ich habe nie das geringste Verständnis dafür gehabt, warum die Bundesregierung in einer Zeit rasch steigender Staatseinnahmen — wegen inflationärer Entwicklung, vor allem einer stürmischen Zunahme des Lohnsteuerertrages — 9 Milliarden DM Bundeszuschüsse, zu deren Zahlung sie verpflichtet war, in Gestalt von Kreditzusagen, in Gestalt von Stundungen, die später erst eingelöst werden müssen, gegeben hat. Man hätte das in bar leisten müssen. Jetzt müssen Sie es in wesentlich schlechterer Situation nachentrichten, wenn die Liquidität für dieses Jahr und für Anfang nächsten Jahres erhalten werden soll.
Außerdem: Warum sagt niemand von den Regierungsrednern etwas dazu, daß die gesetzlich vorgesehene Liquiditätsreserve von 11/2 Monatsrenten, die noch Ende 1975 mit 98 % nahezu voll vorhanden war, Ende November auf 52 % abgesunken war,
bei der Arbeiterrentenversicherung auf 20 °/o, bei der Angestelltenversicherung auf 80 °/o? Die zum Jahresende zu erwartende Aufstockung auf Grund der stets hohen Dezembereinnahmen — Nachentrichtung, Weihnachtsgelder usw. — darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß im nächsten Jahr der jetzt vorgesehene Abbau der Rücklagen auch zu einem noch weiteren Abbau der Liquiditätsreserve führt, so daß die Zahlungsfähigkeit erneut nur zu Lasten des Bundeshaushalts sichergestellt werden kann.
Ich habe mich auch gegen die unintellektuelle und unredliche Ausdrucksweise gewendet: Der Staat garantiert die Sicherheit der Renten. Der Staat kann alles garantieren: er garantiert selbstverständlich die Auszahlung der Beamtengehälter, der Angestelltengehälter, der Arbeiterlöhne, der Staat garantiert die Auszahlung der Renten, der Staat garantiert die Auszahlung der Kriegsopferversorgung, der Staat garantiert, garantiert, garantiert. Das ist aber doch kein solides Finanzierungssystem, sich einfach darauf zu berufen, daß der Staat garantiert, und dann, wenn die Garantie infolge langjähriger Schlamperei in Anspruch genommen wird, den Bürger durch Steuererhöhungen und Abgabenerhöhungen massiv zur Kasse zu bitten.
Eine zweite Bemerkung. Die Abschmelzung des Vermögens der Rentenversicherungsträger auf eine Monatsausgabe ist vom DGB als „ausgesprochen unsolide und gefährlich" bezeichnet worden. Diese Vermögensabschmelzung, die jetzt als der Weisheit letzter Schluß gefeiert wird, ist kurzfristig bis 1979/80 überhaupt nicht oder nur mit großen Verlusten möglich. Denn außer den Forderungen gegen den Bund von etwa 9 Milliarden DM aus den 34 Milliarden DM sind gegenwärtig nur 3 bis 4 Milliarden DM zum Bilanzwert veräußerbar. Zu einem erheblichen Teil ist das Vermögen der Rentenversicherungsträger in
Wohnungsbaudarlehen, Altersheimbeleihungen, Beteiligungen an anderen sozialen Einrichtungen angelegt, die überhaupt nur unter unvertretbaren sozialen Härten besonders für einkommensschwache Bevölkerungsteile aufgelöst werden könnten, d. h. die dann einfach ersetzt werden müßten.
Die Beschränkung auf einen Monat macht die Rentenversicherung bei jeder etwas schwierigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur Kostgängerin des Bundeshaushalts. Allein im Jahre 1976, innerhalb eines einzigen Jahres, mußte das Rücklagevermögen der Rentenversicherungsträger um 2,2 Monatsausgaben vermindert werden. In Zukunft will man mit einem Deckungsstock von einer Monatsausgabe auskommen, und dabei hatten wir im Jahre 1976 schon wieder wirtschaftliches Wachstum. Ich darf ein hypothetisches Beispiel bringen: Wenn zu Beginn der Wirtschaftskrise 1974 nur eine Rücklage von einem Monat vorgelegen hätte, dann wären 1975 über 4 Milliarden DM, 1976 11 Milliarden DM und 1977 nahezu 15 Milliarden DM — und das schon bereinigt um die Leistungen der Krankenversicherung — als Zuschuß des Bundes erforderlich gewesen.
Die Abhängigkeit vom Bundeshaushalt — das möchte ich sowohl dem Herrn Bundeskanzler wie dem Herrn Bundesfinanzminister und dem neuen Bundesarbeitsminister sagen — beseitigt die bisherige finanzielle Unabhängigkeit und fördert damit den Weg in eine Entwicklung, an deren Ende die unter sozialistischen Modellvorstellungen geplante Einheitsversorgung steht,
genau das, was wir nicht wollen.
Außerdem bringen die Größenordnungen zusätzliche Gefahren für das Leistungs- oder Beitragsniveau mit sich. Die Änderung der Deckungsvorschriften ist gefährlich und unsolide. Aber auch die Abkehr von der Bruttolohnbezogenheit der Bestandsrenten ab 1979 widerspricht den vor der Wahl gegebenen Zusagen des Bundeskanzlers. Es geht doch nicht um die einmalige Festsetzung der Rente bei Eintritt ins Rentenalter,
sondern um die jeweilige Anpassung. Gut, man kann über das reden. Denn wir sind ja nicht da, um diese Probleme unlösbar zu machen, sondern wir sind dazu da, um unseren Beitrag zur Lösung zu leisten. Das gilt sowohl für Helmut Kohl wie für mich und gilt für alle Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU. Aber wenn man uns schon, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, an der Verantwortung beteiligen will — und damit an der Unpopularität —, während man uns vorher hohnlachend gesagt hat, wir würden dem Volke nur unchristlich Angst einjagen, dann haben wir auch das Recht, von dieser Stelle aus dem Volke zu sagen, was in Wirklichkeit die Gründe für den Verfall der Finanzgrundlagen gewesen sind.
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Da gibt es natürlich dann noch einige weitere Probleme. Die Verringerung der Zuschüsse für die Krankenversicherung der Rentner von 17 auf 11 % ab 1. Juli 1977, durch die die Rentenversicherung jährlich um 6 Milliarden DM entlastet werden soll, bedeutet zunächst bei den in einer gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Rentnern nur eine Verlagerung der Lasten der Beitragszahler der defizitären Rentenversicherung auf die weitgehend personenidentischen Beitragszahler der defizitären Krankenversicherung. Da die Krankenversicherungen ohnehin defizitär sind, bedeutet das bei den Krankenversicherungen eine Beitragserhöhung durch die Änderung der Bemessungsgrenze, die mindestens 1,2 Punkte der Beitragserhöhung ausmachen würde, und auch diese Erhöhung der Bemessungsgrenze reicht nicht aus, um das Problem finanziell zu lösen. Sie werden auch die Beiträge erhöhen müssen.
Man kann mit uns über alles diskutieren, sowohl über eine sozial gerechte und vertretbare Lösung, über die Modifizierung Ihrer jetzt vorliegenden Vorschläge wie auch über den teilweisen Ersatz der jetzt vorgelegten Vorschläge durch andere Vorschläge. Denn wir wollen zu unserem Worte stehen, daß die Altersrenten gesichert bleiben müssen. Ich habe Helmut Kohl im Wahlkampf sehr wohl verstanden, als er sagte: „Mein Wort von der Sozialgarantie schließt Beitragserhöhungen nicht aus". Vom Herrn Bundeskanzler haben wir genau das Gegenteil gehört.
Das ist der Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen.
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang ein Wort zu den Voraussetzungen sagen, unter denen überhaupt die Rentenversicherung in der Zukunft gesehen werden kann, nämlich zur Lage unserer Wirtschaft. Die Prognosen und Wertungen unserer künftigen Konjunkturaussichten zeigen ein Bild völliger Unsicherheit. Ich zitiere die Überschriften der letzten Wochen: „Stagnation als Schicksal", „Aufschwung mit müden Beinen", „Konjunktur herbstlich", „Bedingter Aufschwung möglich", „Belebung ist schon verpufft", „Konjunktur ist noch labil", „Der Aufschwung trägt sich selbst".
Das ist die Blütenlese der letzten zwei Monate.
Die Schätzungen der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute zur wirtschaftlichen Entwicklung im Jahre 1977 wurden jüngst durch das Gutachten des Sachverständigenrates ergänzt. Danach reicht die Skala der vorgesehenen Zuwachsraten des Sozialproduktes von 3 bis 4 %, im Minderheitsgutachten des RWI bis zu 6 °/o in der Prognose des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften. Das Mehrheitsgutachten der Forschungsinstitute erwartet eine reale Sozialproduktsteigerung von 5½ %. Der Sachverständigenrat schätzt 41/2, das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv rechnet mit 5, die OECD rechnet nurmehr mit einem Wachstum von 3,5 bis 4.
Ebenso unterschiedlich wie die für die gesamte wirtschaftliche Leistung erwarteten Zuwachsraten sind die Einschätzungen für die wichtigsten Größen, die für die Gesamtentwicklung entscheidend sind. Beim privaten Verbrauch gehen die Schätzungen von 3 bis 5 % Zunahme, bei den Ausrüstungsinvestitionen von 3,5 bis 13,5 %, bei den Bauten von 1 % bis 2,5 % bis hinauf zu 8 %, bei den Exporten von 7 % bis 13 %. Diese Aussagen zeigen, wie sehr hier im Dunklen getappt wird, wie unsicher solche Prognosen sind und wie wenig man langfristige eigene Einnahmeerwartungen und Ausgabenplanungen darauf aufbauen kann.
Selbst wenn man unterstellt, daß die Prognose des Sachverständigenrates mit einem Sozialproduktswachstum von real 4,5 % zutrifft, so würde sich dadurch keine Verminderung der Arbeitslosigkeit ergeben, weil das Produktivitätswachstum ebenfalls nur mit höchstens 4,5 % angenommen werden kann.
Der Sachverständigenrat hat deshalb eine Verbesserung des Klimas für verstärkte Investitionen für notwendig gehalten und schlägt zu diesem Zweck u. a. mittel- und langfristige Verbesserungen der Steuerstruktur, z. B. eine Beseitigung der Gewerbesteuer, vor. Damit kommen wir zu einem für das zukünftige Wohl und Wehe unserer Wirtschaft, für die Frage der Durchführung der notwendigen Investitionen sowie für die Wiedererreichung eines hohen Beschäftigungsstandes wesentlichen, wahrscheinlich entscheidenden Punkte.
Sehr bezeichnend sind die Resultate einer Umfrage des Ifo-Instituts bei mehreren tausend Führungskräften der Wirtschaft, im letzten „Schnelldienst" veröffentlicht. Bei dieser Umfrage kommen die Führungskräfte in ihrer Mehrheit zu dem Ergebnis, daß mittel- und längerfristig nur mit sehr bescheidenen realen Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft gerechnet werden kann, und zwar nur in der Größenordnung von 1 bis 2 %. Zu dieser Veränderung des Stimmungsbildes in der Industrie haben nach dem gleichen Ifo-Bericht rückläufige Gewinnmargen und Investitionsquoten sowie die sprunghaft gestiegene Zahl der Insolvenzen entscheidend beigetragen. Bei dem allgemeinen Vertrauensschwund dürfte es nach dem gleichen Bericht auch schwierig sein, die Industrie aus der gegenwärtigen Investitionsapathie — besonders im Bereich der kleinen und mittleren Industrie, die für die Gesamtstruktur entscheidend ist — herauszureißen.
Über diese Probleme hätte der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung substantiell und detailliert sprechen müssen.
Deshalb darf ich hier in diesem Zusammenhange auch sehr deutlich zum Ausdruck bringen, daß es sich bei der Zurückhaltung der Wirtschaft gegenüber Investitionen, die 85 °/o der Gesamtinvestitionen ausmachen, um ein Problem handelt, dessen Existenz der Bundeskanzler einfach leugnet, weil es ihm nicht in seine Gedankenwelt, in seine politische Vorstellungswelt paßt. Das Problem liegt darin, daß sich unsere Wirtschaft seit 1973/74 zunehmend in
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einer psychologischen Krise, in einer Vertrauenskrise befindet und daß der Verfall der Erträge und Gewinne neben der Bereitschaft zu investieren auch die Mittel zu investieren erheblich eingeschränkt und in Mitleidenschaft gezogen hat.
Es wird hier immer von der Arbeitslosigkeit und ihrer Entwicklung gesprochen. Sie wird mit Recht unter drei Gesichtspunkten gesehen.
Die ökonomische Wirkung: Sicherlich ist Arbeitslosigkeit heute für den einzelnen nicht mehr das gleiche — gottlob nicht mehr — wie es zur Zeit unserer Jugend war, als in der Massenarbeitslosigkeit am Ende der Weimarer Demokratie — wir haben das in der Großstadt, ich in München, in aller Deutlichkeit und in aller Dramatik erlebt — Arbeitslosigkeit nicht nur den Verlust des Arbeitsplatzes bedeutete, sondern praktisch die Vernichtung der Existenz bedeutete, die Verurteilung zu einem Dasein, das zum Leben viel zu wenig und zum Sterben noch etwas zu viel bot. So ist es nicht mehr.
Warum ist es nicht mehr so? Weil durch die Marktwirtschaft eine wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit erreicht werden konnte, die es uns erlaubt, unsere Arbeitslosen anders zu versorgen, als es eben damals möglich war.
Aber gerade deshalb besteht die Notwendigkeit, die
Grundlagen dieser Marktwirtschaft intakt zu halten,
und die Hauptgrundlage der Marktwirtschaft ist nicht nur das Wettbewerbsprinzip, sind auch die Fähigkeit zu investieren und die psychologische Bereitschaft zu investieren.
Wir werden mit dieser Zahl von einer Million Dauerarbeitslosen — und das wage ich hier zu sagen — nie fertig werden, wir werden uns immer nur um 100 000 oder 200 000 herunterbewegen — wenn es gut geht —, wenn wir nicht die Wirtschaft in die Lage versetzen, sowohl materiell wie psychologisch, wieder mit Mut und Tatkraft an Investitionen heranzugehen, nicht nur an Rationalisierungsinvestitionen, sondern auch an Erweiterungsinvestitionen. Nur so ist das Problem zu lösen.
Immerhin bedeutet eine Million Arbeitslose im Jahr 10 Milliarden DM Unterstützungszahlung. Sie bedeutet einen Ausfall von 10 Milliarden DM an Beiträgen und Steuern. Sie bedeutet insgesamt einen Ausfall an Wertschöpfung in Höhe von 20 Milliarden DM.
Der Bundeskanzler hat mit Recht von der psychologischen Situation der betroffenen Arbeitslosen gesprochen. Bei denen, wo die Jahresfrist überschritten ist, wo die berühmten 311 Tage schon verstrichen sind, und bei denen, die sich im zweiten Jahr befinden oder jetzt schon dem dritten Jahr entgegenkommen, ist es mehr als ein reines Einkommensproblem. Dort ist es auch ein tiefes menschliches, psychologisches Problem der eigenen Lebenserfüllung und der Selbstverwirklichung, wie es mit Recht in der Regierungserklärung geheißen hat.
Natürlich wissen wir auch, daß Arbeitslosigkeit nicht gleich Arbeitslosigkeit ist. Es bietet sich manchmal das paradoxe Bild, daß einerseits eine hohe Zahl von Arbeitslosen registriert ist, andererseits Arbeitskräfte in großer Zahl, vor allen Dingen Fachkräfte, gesucht werden. Hier geht es nicht nur um die Frage der Mobilität. Hier geht es auch um die Frage einer vernünftigen Regelung der Zumutbarkeit, einen anderen Arbeitsplatz anzunehmen. Das kann nur geschehen, wenn die staatstragenden demokratischen Kräfte in diesem Lande zusammenhalten. Ich biete das ausdrücklich an, Herr Bundeskanzler. In meiner Rede steckt nicht nur Kritik oder Polemik. Darin steckt auch ein echtes Angebot der Bereitschaft der Fraktion der CDU/CSU, an der Lösung dieser Probleme, mit denen sonst keine Regierung mehr fertig wird, auch von der Opposition her mitzuarbeiten.
Wir erleben doch heute — ich möchte es mit großer Vorsicht sagen; da ich nicht der Regierung angehöre, brauche ich nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen —, daß infolge der politischen Verhältnisse in einigen europäischen Ländern wirtschaftliche und finanzielle Probleme allmählich nicht mehr lösbar zu werden scheinen. Ich möchte mich hier ganz vorsichtig ausdrücken. Die Krise ist hier vielleicht in der Wurzel eine moralische Krise. Sie ist im Grunde dann eine politische Krise. Die ökonomische Krise ist nur eine Folge der politischen Krise, aber nicht die Ursache der Erscheinungen.
Natürlich war die gleichzeitige Bekanntgabe der neuen Rentenregelung und des Diätengesetzes nicht gerade eine Musterleistung der Aufeinanderabstimmung von politischen Entscheidungen. Aber wir müssen hier gemeinsam dafür sorgen, daß demokratische Staaten regierbar bleiben. Gegen den Sachzwang der Zahl kann man nicht die Ideologie „mit dem Kopf durch die Wand" durchsetzen, geschweige denn ohne Kopf durch die Wand.
Staaten müssen regierbar bleiben, und Regierungen müssen mit Hilfe ihrer parlamentarischen Mehrheiten und einer sich an der Verantwortung beteiligenden Opposition entscheidungsfähig sein. Sonst bekommen wir diese Dinge, die anderswo schon außer Ruder gelaufen sind, auch in unserem Lande auf die Dauer nicht in den Griff. Das wollte ich hier in dieser Form gesagt haben.
Herr Bundeskanzler, ich habe nun eine Bitte. Sie ist zwar hoffnungslos, aber ich möchte es dennoch immer wieder sagen. Nehmen Sie doch Abschied von der unrichtigen Behauptung, daß die Rezession der Weltwirtschaft unsere ökonomischen Probleme, vor allen Dingen die hohe Zahl der Arbeitslosen, verursacht habe! Das ist doch einfach nicht wahr. Die Arbeitslosenzahl ist schon gestie-
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gen, lange bevor ein kleiner Einbruch in unserem Export erfolgt ist. Man muß es umgekehrt ausdrükken. Die Folgen des innenpolitischen Versagens wären auf dem Arbeitsmarkt noch wesentlich drastischer geworden, wenn nicht der Export mit Ausnahme des Jahres 1975 einen Ausgleich dafür ermöglicht hätte.
Daß dem so ist, beweisen ja doch die Zahlen. Man kann ja vom Ausland auf die Dauer nicht verlangen, daß es jährlich um 50 Milliarden DM mehr von uns kauft, als wir dort einkaufen. Das verschiebt doch nur die Zahlungsbilanz in einer allmählich nicht mehr reparierbaren Weise. Aber der Rückgang in der Beschäftigung ist durch die Binnenkrise und nicht durch die Weltwirtschaftskrise eingetreten. Die Weltwirtschaftskrise hat die Sache dann für uns nicht leichter gemacht. Aber die Fehler, die seit dem Jahr 1969 begangen worden sind, nicht zuletzt in der Überforderung der öffentlichen Haushalte, in der Verteilung von mehr und mehr Sozialprodukt, als produziert worden ist, sind die eigentlichen Ursachen. Woher kommt denn — wenn ich mir erlauben darf, das zu fragen —, die Krise in Europa? Sie ist nicht — so gescheit, wie ich bin, sind Millionen andere auch — eine ökonomische Krise.
— Wenn Sie zu derselben Einsicht kommen, haben
wir schon eine Basis der Verständigung gefunden. —
Die Verwerfung der politischen Entwicklung in Europa kommt daher, daß unter dem Druck angeblich innenpolitischer Zwänge in mehr und mehr Ländern jahraus, jahrein mehr verteilt worden ist, als das Sozialprodukt insgesamt ausmacht.
Die Überlastung der öffentlichen Haushalte, die Überlastung der Wirtschaft mit Kosten, die Mehrverteilung dessen, was über 100 % hinausgeht, kriegt man später — man kann es in einer groben Formel sagen — mehr oder weniger in Form der Inflationsrate wieder zu spüren. — Herr Graf Lambsdorff, Sie schütteln hier etwas besorgt den Kopf. Ich gebe Ihnen dabei nicht unrecht. Es muß nicht genau die Inflationsrate sein, es drückt sich dann eben in einem Nachlassen der Investitionsquote oder in ähnlichen Ursachen aus, die aber — alle zusammen genommen — wieder die Arbeitslosigkeit schüren und den hohen Beschäftigungsstand, der durch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorgeschrieben ist, verhindern.
Lassen Sie mich hier ein Wort zur künftigen Finanz- und Wirtschaftspolitik sagen. Die ständigen Erhöhungen der Abgaben und Steuerbelastungen waren eine wesentliche Ursache für die Stagnation der Investitionen der Wirtschaft in den letzten Jahren. Es ist volkswirtschaftlich unverantwortlich und für den einzelnen Arbeitnehmer schädlich, wenn das Unternehmen, in dem er arbeitet, mit Steuern belastet wird, die es unabhängig von seiner Ertragslage zu zahlen hat. 1976 beträgt die Belastung der Unternehmen mit ertragsunabhängigen Steuern
zirka 13 Milliarden DM, die auch dann zu zahlen sind, wenn kein Gewinn vorhanden ist. Wir würden mit Recht keinem Arbeitnehmer zumuten, Steuern zu zahlen, wenn er über kein Einkommen verfügt. Dasselbe muß auch gelten, wenn es sich um ein Unternehmen handelt, das auch nur aus Erträgen seine Steuerverpflichtungen erfüllen kann, wobei ich jetzt hier natürlich nicht die Umsatzsteuer meine.
Seit Jahren haben wir eine Substanzbesteuerung zu verzeichnen. Bundeswirtschaftsminister Friderichs hat in mehreren seiner Reden draußen auf diese für ein Wirtschaftswachstum schädliche Entwicklung hingewiesen. Daß das Sparen mit dem Sparbuch oder mit festverzinslichen Papieren lohnender ist als der Einsatz von Haftungskapital, ist auch ein Hauptgrund für die Investitionszurückhaltung der letzten Jahre. Wenn aber jemand bei uns den Mund aufgemacht hat und vom Abbau der Steuerlast bei Unternehmung oder von der Notwendigkeit, einen Anreiz für höhere Investitionen zu schaffen, gesprochen hat, dann drohten auf der einen Seite gleich die Gewerkschaften mit höheren Lohnforderungen — was verständlich ist, aber in Grenzen gehalten werden muß —, und auf der anderen Seite wurde auf die prekäre Haushaltslage hingewiesen. Darüber hinaus wurden dann noch diffamierende Bezeichnungen verwendet, als ob diejenigen, die die Ertragskraft der Wirtschaft stärken, ihre Investitionsfähigkeit beleben, alte Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen wollen, nichts anderes als „Kapitalistenknechte", „Unternehmerdiener" oder „Millionärslakeien" seien, wie es in der gesellschaftlichen Diskussion draußen doch jahrelang zu hören war, wenn man nur der Vernunft das Wort geredet hat.
Und wenn die Arbeitslosigkeit im Laufe des Jahres 1976 um ein paar Hunderttausend zurückgegangen ist, so darf man damit nicht den Glauben verbinden, daß die Zahl der Arbeitsplätze gestiegen ist. Die Zahl der Arbeitsplätze selbst ist noch zurückgegangen. Die Zahl der Arbeitslosen hat zwar abgenommen, weil Gastarbeiter abgewandert sind, weil viele aus gutem Grunde von der Möglichkeit der vorgezogenen Rente Gebrauch gemacht haben oder weil viele Umschüler geworden sind; insgesamt hat die Zahl der Arbeitsplätze aber auch während des Aufschwungs — ich verfüge freilich nicht über die genauen Zahlen — in der Tendenz eher noch abgenommen als zugenommen. Herr Bundeskanzler, ich erinnere Sie daran, daß ich in der entscheidenden Steuernacht, in der lauen Nacht im Juli 1974, als wir uns auf die Abzugsfähigkeit der Sonderausgaben von der Bemessungsgrundlage, nicht aber die Abzugsfähigkeit zu 22 % von der Steuerschuld einigten
— ich komme darauf zu sprechen; auch das ist ja eine ertragsunabhängige Steuer;
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das trifft ja genau dies, Graf Lambsdorff —, gesagt habe — ich glaube, ich zitiere mich jetzt fast wörtlich genau —: Wir sollten jetzt gemeinsam noch einen mutigen Schritt machen und die beschlossene, am 1. Januar 1975 in Kraft tretende Anhebung der ertragsunabhängigen Steuern wieder zurücknehmen. Ich habe damals wörtlich gesagt: Was jetzt beschlossen wird, ist für die konjunkturpolitische Entwicklung regelrecht Gift.
Genauso ist es im Jahre 1975— sich bis heute noch auswirkend — eingetreten. Hier muß etwas geschehen. Wir haben seit 1974 den Abbau der ertragsunabhängigen Steuern gefordert bzw. haben gefordert, diese Steuern nicht zu erhöhen. Jetzt macht die Regierung einige Vorschläge. Ich möchte hier nicht im einzelnen darauf eingehen. Dies zu tun, wird im Rahmen der Haushalts- und Steuerdebatten möglich und notwendig sein. Bei der Gewerbesteuer müssen die ertragsunabhängigen Teile abgebaut werden. Dazu gehört vor allen Dingen auch die Gewerbekapitalsteuer. Es ist ein Unfug, daß mittelfristiges Fremdkapital, dessen Umfang sowohl absolut wie prozentual ständig zunimmt, gewerbesteuerlich belastet wird, als ob es Eigenkapital wäre, und daß die darauf zu zahlenden Zinsen nicht als Betriebsausgaben abgesetzt werden können, sondern als Einkommen besteuert werden müssen.
Herr Abgeordneter Strauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Bitte sehr!
Herr Kollege Strauß, kann ich aus diesen Andeutungen schließen, daß Sie beim Gewerbekapital eine unterschiedliche steuerliche Behandlung von Eigenkapital und Fremdkapital empfehlen und dafür sorgen wollen, daß die Fremdkapitalfinanzierung günstiger als die Eigenkapitalfinanzierung wird?
Ich möchte haben, daß das Fremdkapital nicht mehr als Eigenkapital besteuert wird, daß die darauf zu zahlenden Zinsen als echte Kosten abgezogen werden dürfen und nicht dem Einkommen zugeschlagen werden, weil sie sonst — auf Grund der Progression — die Steuerlast erhöhen.
Ich möchte hier auch ein Wort zur Erhöhung der Mehrwertsteuer sagen. Das pannenreiche Schauspiel, das die Regierung in mehreren Akten aufgeführt hat, möchte ich hier nicht noch einmal unnötig vor der Offentlichkeit darlegen. Meine Position ist diese. Die Fraktion der CDU/CSU, die diese Fragen bis jetzt noch nicht zu Ende diskutiert hat, dies aber demnächst tun wird, kann, wie ich glaube, sehr wohl dafür gewonnen werden, einer Mehrwertsteuererhöhung zuzustimmen, wenn sie — diese Position habe ich auch im Wahlkampf vertreten — inflationsneutral ist und nicht dazu verwendet wird, die
Schuldenlöcher des Haushaltes zu stopfen, sondern dazu verwendet wird, sowohl auf der Seite der Arbeitnehmer als auch auf der Seite der Arbeitgeber steuerliche Erleichterungen zu ermöglichen, die unsere wirtschaftspolitischen Zielsetzungen — hoher Beschäftigungsstand, ausreichendes Wachstum und Preisstabilität — zu unterstützen versprechen.
Herr Abgeordneter Strauß, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Herr Kollege Strauß, beziehen Sie bei der von Ihnen gemachten Einschränkung — Sie sagten: nicht zum Stopfen von Schuldenlöchern verwenden — auch die Schuldenlöcher ein, die, wie Sie vorhin selbst erwähnt haben, durch den Ausfall von Arbeitskräften und höhere Zuschußverpflichtungen an die Bundesanstalt für Arbei entstanden sind, also auch die Schuldenlöcher, die in der Rezession entstanden sind und uns jetzt weiter belasten, die aber zu irgendeinem Zeitpunkt einmal gestopft werden müssen?
Reden kann man über alles, Herr Kollege Lambsdorff. Es besteht aber eindeutig die Notwendigkeit, das Wachstum der konsumtiven Ausgaben eines Haushalts drastisch zu bremsen
und dafür die Mittel für öffentliche Investitionen einzusetzen. Wir sind uns wahrscheinlich einig, daß es drei Sorten öffentlicher Investitionen gibt. Erstens gibt es die allgemeinen öffentlichen Investitionen. Zweitens gibt es Prestigeinvestitionen, die unterlassen werden sollten, weil sie eine Verschwendung der Steuergelder bedeuten. Bei überfließenden Kassen werden solche Investitionen aber natürlich gern getätigt. Sie wissen ja: Geld macht sinnlich; oder: Geld ist scheu wie ein Reh und geil wie ein Bock.
Das stammt von Herrn Blessing und wurde von mir nur etwas erweitert.
Drittens sind schließlich solche öffentlichen Investitionen zu nennen, die der Modernisierung und dem weiteren Ausbau unserer Wirtschaft dienen. Diese dritte Kategorie der Investitionen sollte heute Vorrang vor allen Dingen vor der zweiten Kategorie der Investitionen haben. Aber dafür sollte der Mehrertrag einer Mehrwertsteuer angesetzt werden, damit wir aus diesem ewigen Dilemma — 1 Million brachliegender Arbeitskräfte mit den vorhin genannten volkswirtschaftlichen Folgen — wenigstens einen sichtbaren Schritt herauskommen. Und das läßt sich erzielen, wenn diese Dinge in unserem Lande wieder mit Vernunft und ohne Ideologie angepackt werden.
Darum halte ich auch nicht sehr viel davon, wenn man jetzt wieder ein neues Investitionsprogramm ankündigt. Das ist jetzt schon das vierte Konjunk-
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turprogramm seit dem März 1974. Ich hätte nichts einzuwenden gegen ein regionales Investitionsprogramm, das strukturellen Zwecken dient, vor allen Dingen wirtschaftsschwachen Gebieten zugute kommt. Aber im allgemeinen geht es nicht darum, mehr staatliche Aufträge zu geben; es geht darum, unsere Wirtschaft in ihrer vollen Breite wieder investitionsfähig zu machen und ein Klima zu schaffen, in dem der Unternehmer sagt: Der Einsatz des Geldes ist ein hohes Risiko, aber darin steckt auch eine Chance. Wenn aber einer, der einen Pfandbrief kauft oder ein Bundesschätzchen, bei voller Sicherheit der Rückzahlung eine höhere Rendite bekommt, wo soll dann bei uns das Haftungskapital herkommen? Dieses Problem muß einmal grundlegend angepackt werden.
Wir dürfen doch davon ausgehen, daß der Versuch gescheitert ist, angeblich zur Erhaltung der Vollbeschäftigung die öffentlichen Haushalte mit zweistelligen Zuwachsraten zu steigern und gleichzeitig zur Eindämmung der Inflation eine Politik des teuren Geldes zu verfolgen, wie es in den letzten Jahren geschehen ist. Wer die Inflation bändigen und zugleich einen hohen Beschäftigungsstand erhalten will, muß den Staatshaushalt mit klassischkonservativen Methoden, so darf ich ruhig sagen, ausgleichen und das Geld für Investitionen verbilligen statt verteuern — wenn ich das auf eine allgemeine kurze Formel bringen darf.
Vom Herrn Bundeskanzler ist einiges zur Bildungspolitik gesagt worden, auf das bis jetzt von uns heute noch nicht geantwortet werden konnte. Er macht es sich mit dem bildungspolitischen Teil seiner Regierungserklärung zu einfach. Er meint, soweit es Verbesserungen gegeben habe, seien sie ein Erfolg der SPD/FDP; soweit Probleme bestehen, gehen sie auf das Konto des Föderalismus und der CDU/CSU. Ich darf demgegenüber einmal einige Tatsachen festhalten.
Schulen und Hochschulen wurden in den letzten 15 Jahren in gemeinsamen Programmen der Länder, seit 1969 von Bund und Ländern gemeinsam, ausgebaut. Die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten ging von unionsregierten Ländern aus. Bayern hat im Jahre 1964 von allen Bundesländern den ersten Schulentwicklungsplan vorgelegt. Der Hochschulausbau ist von unionsregierten Ländern ausgegangen. Unser Freund Mikat hat die Universität Bochum gegründet, unter einer CDU-Regierung. In Konstanz und Ulm sind zwei Universitäten durch Wilhelm Hahn gegründet worden, die Universitäten Regensburg und Augsburg durch den bayerischen Kultusminister Ludwig Huber. Diese fünf Universitäten sind gegründet worden, bevor eine einzige Universität in einem sozialdemokratisch regierten Land neu geschaffen worden ist.
Ich komme zu einer weiteren Feststellung: Hätten alle Länder ihre Studienplätze so stark ausgebaut wie die unionsregierten Länder und hätten sie gleichzeitig die Zahl der Abiturienten so maßvoll, d. h. unter Berücksichtigung von Qualifikationsmaßstäben, vermehrt wie die Unionsländer, so hätten wir heute nicht ein Auseinanderklaffen zwischen dem Gymnasialsystem und den Hochschulen mit der unangenehmen Erscheinung des Numerus clausus.
Ich teile auch einfach nicht die Auffassung, die von Politikern beider Regierungsparteien im Laufe der Jahre immer wieder ausgesprochen worden ist, daß die Qualität eines Bildungssystems von der Produktion einer maximalen Zahl von Abiturienten abhängt.
Ich wage es auch hier, Herr Kollege Brandt, Ihnen zu sagen: Was für eine pseudoelitäre Arroganz steckt in Ihren Worten: „Er konnte ja nur Schlosser werden" !
Für die Wertschöpfung unseres Sozialprodukts und für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben ist ein ausgebildeter Handwerker, ein ausgebildeter Facharbeiter von höherer Bedeutung als ein stellenloser Akademiker, der dann im äußersten Fall noch die Gilde der Rechtsanwälte vermehren kann.
Herr Abgeordneter Strauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt ?
Bitte!
Herr Strauß, könnten Sie uns, wenn Sie heute diese Erklärung abgeben, erklären, warum Sie einmal einen Kritiker aus Ihren eigenen Reihen gefragt haben, ob er überhaupt Abitur hat?
Das kann ich Ihnen sehr genau erklären. Ich freue mich geradezu über die Frage. Es hatte sich jemand beim RCDS eingeschlichen, der nach unseren Erkenntnissen ein Hochstapler war.
Der hatte sich als Mitglied einer akademischen Verbindung und als Student an der Universität München ausgegeben. Ich habe ihn gefragt, ob er überhaupt Abitur habe. Das war damals die Hauptvoraussetzung für die Zulassung zum Studium. Es stellte sich heraus, daß er nicht an der Universität, sondern an der Politischen Hochschule in München studierte, zu der jedermann Zutritt hatte. Aus dem Grund habe ich ihn gefragt. Ich leide nicht unter einem Bildungsdünkel.
Ob Sie mir es abnehmen oder nicht: ich halte diese Einstellung für total verfehlt. Ich komme aus einem Handwerkerhaushalt. Ich bin der einzige Abiturient und der einzige Akademiker gegenüber meiner ganzen Vorfahrengruppe. Mein Vater, der Metzgermeister war, und meine zwei Großväter, die
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Bauern waren, haben genausoviel für unser Volk getan, wie es Akademiker zu tun pflegen.
Herr Abgeordneter Strauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling?
Bitte. Aber dann möchte ich weitersprechen.
Herr Abgeordneter, Sie haben noch die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Strauß, wenn Sie keinen Bildungsdünkel haben, können Sie mir dann erklären, warum Sie das Wort „Reclam-Bücher", einen Formatsnamen, als Schimpfwort gegen Kolle- gen Ihrer Fraktion verwenden.
Ich verstehe Sie nicht ganz. Sagen Sie es auf deutsch, Herr Kollege.
Wenn Sie keinen Bildungsdünkel haben, warum verwenden Sie dann den guten Namen des Verlags Reclam mit den kleinformatigen Büchern als Schimpfwort gegen Kollegen Ihrer Fraktion?
Es gibt eben Reclam-Ausgaben von Büchern, die sind im Quantum etwas kleiner, im Inhalt gleich.
Aber ich weiß nicht, welche Verbindungen Sie zu diesem Verlag haben. Der Verlag selbst hat sich noch nicht beschwert. Aber wenn Sie eine andere Ausdrucksweise wollen, würde ich in Zukunft sagen, daß Sie ein Politiker im Taschenbuchformat sind.
— Etwas bissigen Humor darf man in diesem Haus auch noch haben.
Die Ungleichgewichte, von denen der Bundeskanzler spricht, sind gerade durch die SPD- und FDP-Politik in den Ländern und im Bund entstanden.
Der Ausbau der allgemeinbildenden weiterführenden Schulen ist forciert worden. Hauptschule und berufliches Schulwesen sind vernachlässigt worden. Man setzte Bildung mit akademischer Bildung und Akademikerstatus gleich. Man sah den Erfolg der Bildungspolitik nicht darin, alle Schulen gleichmäßig auszubauen. Gerade wir legen betonten Wert darauf, daß die Hauptschule wirklich von der Mehrheit der Schüler mit Aussicht auf Prädikat absolviert werden kann
und daß die Hauptschule qualitätsmäßig so angehoben wird, daß in ihr der Übergang in das Berufs-
leben am leichtesten verwirklicht werden kann, selbstverständlich über den zweiten oder den dritten Bildungsweg, dann der Einstieg und Durchstieg in weitere Möglichkeiten. Wenn der Bundeskanzler hier das Berufsschulgrundjahr erwähnt, dann ist daran zu erinnern, daß das Berufsschulgrundjahr von den Unionsländern vorgeschlagen worden ist, während die Sozialisten in der Bildungspolitik ein zehntes theoretisches Schuljahr haben wollten.
Ich mache ihm ja gern das Kompliment, daß seine Regierungserklärung, soweit sie Substanz hat, weitgehend die Übernahme von Vorschlägen der CDU/ CSU bedeutet.
Das trifft auf eine Reihe von Teilen seiner Regierungserklärung zu.
Dieses Berufsschulgrundjahr ist viel wesentlicher als ein weiteres Jahr Theorie, weil das den Übergang in das Berufsleben erleichtert. Wir müssen die unerträgliche Überfüllung unserer Hochschulen jetzt endlich beenden, und die kann nicht dadurch beendet werden, daß man den Abiturienten sagt: „Ihr dürft nicht studieren; ihr müßt viele Jahre warten", sondern nur dadurch, daß man andere Möglichkeiten der Berufsausbildung bietet, daß man die Erlernung eines den Mann und die Familie ernährenden und zufriedenstellenden Berufes auf anderem Wege ermöglicht. Nur so ist doch das Problem zu lösen.
Es ist doch abenteuerlich, zu glauben, daß man durch die Vermehrung der Zahl der Abiturienten die Zahl der Begabten fördern könnte. Das Niveau sinkt im Durchschnitt, aber nicht die Zahl der Begabungen. Die neuerliche Vererbungslehre und die Milieutheorie erweisen doch eindeutig, daß die Vorstellung, nach der die Begabungen nur aus bestimmten Milieus kämen, falsch ist. Das war die berühmte Milieutheorie der Marxisten und ihrer Spätnachfolger, die eine Art Milieubelastung positiver und negativer Art schaffen wollten. Für wieviel Prozent der Abiturienten bieten denn die zukünftige Gesellschaft und die zukünftige Wirtschaft echte akademische Berufsmöglichkeiten? Wahrscheinlich sind es weniger als 25 %. Herr Professor Edding spricht von 15 %. Wovor wir Sorge haben — das ist auch ein Problem, das wir nur gemeinsam lösen können —, ist, daß dieselben Menschen, die heute vor den verschlossenen Toren der Hochschulen stehen, fünf Jahre später vor den verschlossenen Toren der Gesellschaft und der Berufswelt stehen und daß diese dann das revolutionäre Potential entwickeln könnten, das nicht von der Arbeiterschaft in Deutschland gestellt wird, sondern sich aus ganz anderen Schichten und Kreisen rekrutiert.
Der Herr Bundeskanzler — er mußte leider weggehen; aber ich hätte noch ein paar schöne Dinge für ihn gehabt — hat von Liberalität, Bürger, Gesellschaft und Staat gesprochen. Ohne Zweifel stehen wir vor der Gefahr, besser: mitten in der Gefahr
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einer zunehmenden Paragraphenverdrossenheit der Bürger, einer damit um sich greifenden Beamtenverdrossenheit, die eines Tages auch zur Staatsverdrossenheit werden kann. Sicherlich sind Ihre Vorstellungen in diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, man müsse die Gas-, Strom- und Wasserrechnungen leichter ablesen können, sehr interessant und werden draußen gern gehört. Das gebe ich Ihnen zu. Bei Bankauszügen geht es einem genauso. Die Diätenauszüge dagegen sind — beinahe hätte ich gesagt — idiotensicher. Die haben Sie sich anscheinend nicht angeschaut; sonst hätten Sie sich von der leichten Lesbarkeit überzeugen können. Aber bei Gehaltsauszügen schaut das schon wieder ganz anders aus.
Aber das trifft nicht den Kern, sondern ist nur ein wichtiger Teil des Problems: Computer, elektronische Datenverarbeitung. Aber wie sehr Sie, Herr Bundeskanzler, die Dinge verharmlosen, geht daraus hervor, daß Sie von dem Schutz der Privatsphäre der Bürger durch das Datenschutzgesetz sprechen. Warum ist das Datenschutzgesetz in diesem Hause nicht einstimmig verabschiedet worden? Warum haben die unionsregierten Länder mit Ausnahme von Niedersachsen und dem Saarland dem Datenschutzgesetz nicht zugestimmt? Weil — die Begründung können Sie in den Protokollen nachlesen — nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion und nach Meinung der meisten unionsregierten Länder gerade diese Garantie, der Schutz der Privatsphäre gegen willkürliche, fahrlässige und unerwünschte Behandlung intimer Daten, nicht ausreichend gewährleistet ist.
— Herr Kollege Schäfer, ich weiß nicht, in welchem Maße Sie davon mehr verstehen als ich. Aber ich gehe davon aus, daß in einer Fraktion einer nicht alles wissen kann. Das unterscheidet Sie vielleicht von mir.
Aber so unterschiedlich hat eben Gott die Menschen gemacht. Sie sind eben ein umfassendes Gehirn, sozusagen der Leibniz der Fraktion.
Wir müssen mehr von der Arbeitsleistung leben. Nach dieser Arbeitsteilung habe ich zu meinen Kollegen, die dieses Problem im Ausschuß und in der Fraktion federführend bearbeitet haben, so viel Zutrauen, daß sie nicht nein gesagt haben um des Neinsagens willen, sondern daß sie nein gesagt haben, weil man ihre Vorschläge auf verbesserten Schutz der Privatsphäre restlos, ohne jede Bereitschaft zur Kooperation und zur Verständigung, niedergebügelt und abgelehnt hat.
— Schauen Sie, das Geschrei hat doch keinen Sinn.
— Dann müssen Sie damit vorlieb nehmen, daß ich mich aus dem Bundestagsprotokoll nach Vorlage des Berichts des Vermittlungsausschusses informiert habe. Und hier haben sich meine Kollegen so geäußert und ihre Absage damit begründet.
Aber ich sage ja: das ist nicht das allein Entscheidende. Eine Aufgabe, der sich die Bundesregierung ernsthaft unterziehen sollte — und wir sind bereit mitzuwirken —, ist, erstens einmal dafür zu sorgen, daß diese unerträgliche Flut, um nicht zu sagen diese steigende Lawine immer neuer Gesetze und Verordnungen endlich einmal aufhört.
Wenn Sie sehen, was hier in den letzten fünf, sechs Jahren produziert worden ist gegenüber früher — und die Quantität kann da nicht Ersatz für Qualität sein; hier ist eine Qualitätsverschlechterung eingetreten —, wenn Sie sehen, Herr Bundeskanzler, was allein im Steuerrecht, im Finanzrecht, wenn ich mich etwas weiter ausdrücken darf, im Laufe der letzten sechs, sieben Jahre ständig durch hektische, sich überstürzende Änderungen — zum Teil schon vor Inkrafttreten eines beschlossenen Gesetzes wiederum beschlossen — an Unfug angerichtet worden ist, so werden auch Sie wohl zu dem Ergebnis gelangen: Wir müssen das wieder in den Griff bekommen; wir brauchen wieder ein einfacheres, durchschaubareres Steuerrecht.
Wir müssen auch dafür sorgen, daß die Sprache des Gesetzgebers für den Bürger wieder verständlicher wird. Herr Bundeskanzler, sehen Sie sich doch einmal unter diesem Gesichtspunkt die Produktion an, die in Ihrer Zeit stattgefunden hat. Die schöne Zeit, wo die Sprache des Rechts die Sprache der Poesie und des Humors war, ist vorbei. Ich habe z. B. nachgelesen: „Augen auf, Kauf ist Kauf." So heißt es im altdeutschen Recht. „Wer närrisch kauft, muß weislich zahlen." Jetzt heißt das: „Keine Sachmängelhaftung". „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul" heißt heute: „Keine Mängelhaftung des Schenkers." „Hand wider Hand" heißt in der Gesetzessprache: Wer einem anderen eine Sache anvertraut, kann sie nur von diesem und nicht von einem Dritten zurückfordern, wenn sie der Vertrauensmann veruntreut hat.
Man lese z. B. nach, was nach dem Bundesgesetz zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht im Jahre 1958 beschlossen worden ist:
Personen, die im Sinne des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der NS-Verfolgung verfolgt und dadurch in ihrer auf Schädigungen im Sinne der §§ 1 und 82 des Bundesversorgungsgesetzes beruhenden Versorgung geschädigt worden sind (Geschädigte), erhalten als Wiedergutmachung eine Entschädigung nach Maßgabe der §§ 3 und
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4, sofern sie im Zeitpunkt der Entscheidung über die Wiedergutmachung ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hatten und nicht zu den nach dem Bundesgesetz zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht in der Kriegsopferversorgung im Ausland in der Fassung der Gesetze vom 25. 6. 1958 zu entschädigenden Personen gehören.
Noch etwas aus der jüngsten Produktion, vom 13. November 1976:
Verordnung zur Umstellung der Verordnung über Ausnahmen von den Vorschriften der Verordnung über die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße auf das Gesetz über die Beförderung gefährlicher Güter sowie zur Änderung dieser Verordnung .
Unterschrieben: Gscheidle.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist bedauerlich, aber angesichts der Umstände nicht zu ändern, daß wegen der Aufspaltung der Aussprache zur Regierungserklärung die Themen Deutschlandpolitik, Ostpolitik und Außenpolitik mit all ihren vielzähligen Problemen hier naturgemäß in der ersten und in der zweiten Runde nicht die Würdigung erfahren können, wie es der Ernst des Gegenstandes, der Ernst der Sache ohne jeden Zweifel erfordern würde. Herr Bundeskanzler, ich darf Sie nur darauf hinweisen, daß Ihre Ausführungen zur Lage der Nation das Problem gewaltig vereinfachen.
Es geht hier nicht nur um das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten, es geht nicht um diese Frage allein, so wichtig sie ist. Gegensätze und Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Gesellschaftsordnungen dürfen nicht mit der Wertneutralität und, wie ich beinahe gesagt hätte, moralischen Gleichgültigkeit behandelt werden, als ob es sich hier um Staaten und Gesellschaftsordnungen gleichartiger Legitimation handelt.
Wir wissen einigermaßen, was hier vor sich geht. Aber warum haben die Behörden der DDR z. B. auf der Leipziger Herbstmesse 1976 Prospekte von Firmen der Bundesrepublik polizeilich beschlagnahmt? Sie haben folgende Gründe angegeben: Der Prospekt der Firma Siemens hatte eine „Verkaufsniederlassung in Berlin" statt „in West-Berlin" angeführt, Mannesmann hatte in einem Prospekt das Wort „Deutschland" aufgeführt. Weiterhin wurde wegen des rot eingerahmten Termins des 17. Juni der Taschenkalender der gleichen Firma beschlagnahmt. Schering gab in einem Prospekt zwei Firmensitze an, und zwar Berlin und Bergkamen. Es gibt noch ähnliche Beispiele dieser Art.
Das sind Zeichen dafür, daß man dort ohne die geringste Einsicht, ohne die geringste Anerkennung einer Verständigungsnotwendigkeit um vernunftgemäßes Miteinanderauskommen das politische Prinzip der Drei-Staaten-Theorie, der Teilung Deutschlands in zwei Staaten und einer selbständigen Einheit Berlins, bis in die lächerlichsten Kleinigkeiten hinein durchsetzen will. Das hat nichts mit dem Geist von Helsinki zu tun, das hat nichts mit dem Geist der Entspannung zu tun,
das hat nichts mit der Anerkennung gegenseitiger Interessen und dem Willen zur Verständigung zu tun.
Herr Bundeskanzler, täuschen Sie sich nicht! Es stimmt, daß Sie 8 Millionen Reisebewegungen haben; aber das heißt noch lange nicht, daß das 8 Millionen Deutsche sind. Früher. sagten Sie, waren es 2,5 Millionen — das stimmt —, aber jetzt reisen dieselben Personen, was durchaus erfreulich ist, mehrmals. Sie sprechen von 8 Millionen Personen —das ist nachweisbar unrichtig. Ein großer Teil dieser Reisen findet auch auf solchen Wegen statt, auf denen die geschlossenen Reisegruppen keine Möglichkeit haben, mit der Bevölkerung in ernsthaften Kontakt zu kommen. Zum Teil werden sie nur dazu benutzt, um ein bestimmtes Programm zu absolvieren und in Inter-shop-Läden mit D-Mark einzukaufen, was dort allerdings zu billigeren Preisen möglich ist, als die gleichen Waren bei uns kosten.
Herr Bundeskanzler, die Feststellung, daß für das Schießen an der Grenze nicht die Bundesrepublik verantwortlich ist, ist zu wenig, wenn nach der Konferenz von Helsinki immer noch munter weitergeschossen wird, wenn der Soldat, der Herrn Corghi, einen kommunistischen Genossen, erschossen hat, nicht einmal disziplinarisch, geschweige denn strafrechtlich belangt worden ist. Wenn dort der Schießbefehl als ein Tabu erklärt wird, ist das für Sie noch lange kein Grund, die Behandlung dieses Themas etwa aufzugeben oder ihr auszuweichen, weil das den Geist der Verständigung oder die Entspannung stören könnte.
Deshalb haben wir auch kein Verständnis dafür, daß die SPD-Kollegen bei der letzten NATO-Parlamentariertagung den von meinen Freunden unter Federführung des Kollegen Blumenfeld eingebrachten Antrag auf Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in der DDR abgelehnt haben,
während die Parlamentarier der mit uns verbündeten Länder diesen Antrag unterstützt und ihm zu einer Mehrheit verholfen haben. Hier wird nicht mehr Entspannungspolitik betrieben, hier wird Annäherung durch Anpassung betrieben. Hier wird eine einseitige Politik des Rückzugs propagiert, und das endet bei dem unzerstörbaren und unausweichlichen kommunistischen Machtwillen auf der ande-
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ren Seite an einem Punkt, den wir alle bedauern werden, wenn auf dieser Straße fortgefahren wird.
Sie sagten, Berlin sei die größte deutsche Industriestadt, was stimmt. Sie sagten, es sei ein bedeutendes Kulturzentrum; auch das stimmt. Wird Berlin auch der Sitz der Nationalstiftung werden, Herr Bundeskanzler? Die Antwort auf diese Frage würde uns sehr interessieren. Haben Sie Angst zu sagen, obwohl Sie hier auf dem Boden des vom Verfassungsgericht bestätigten Rechts stehen: Berlin ist und bleibt die Hauptstadt des Deutschen Reiches?
Wenn Sie diesen Standpunkt einnehmen, müssen Sie die Verfasser der Kanzleramtsstudie über das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR und der Menschen zueinander allerdings entlassen. Sie hätten diese Menschen, diese Gruppe überhaupt nie beauftragen dürfen, eine Studie zu erstellen, die man sehr als Erfüllungshilfe für den Machtwillen Ost-Berlins denn als eine Darstellung der wirklichen Verhältnisse kennzeichnen könnte.
Herr Bundeskanzler, ein großer Arbeiterführer des 19. Jahrhunderts, Ferdinand Lassalle, hat ein Wort gesagt, das für uns alle gelten sollte: Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit; alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist. — Das offene Aussprechen ist schon eine politische Aktion.
Wir haben nicht nur an die Menschen im anderen Teil Deutschlands zu denken. Wir haben hier im Zusammenhang mit der Aussprache über die Regierungserklärung auch ein Wort an die Adresse unserer Heimatvertriebenen und Flüchtlinge zu richten,
einer Menschengruppe, die für den Wiederaufbau der Bundesrepublik Großartiges geleistet hat, die ein Muster politischer Disziplin geboten und die wie alle anderen Völker das Recht hat, auch an ihr Recht auf Heimat zu denken, ohne daß damit irgendwelche nationalistischen Töne verbunden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen doch — und das hätte von Ihnen, Herr Bundeskanzler, in einem Bericht gesagt werden müssen, der nicht nur Regierungserklärung, sondern in einem hohen Maße auch ein Bericht zur Lage der Nation sein sollte —: Die gegenwärtige europa- und weltpolitische Situation, sowohl was Ost-West wie Nord-Süd betrifft, ist keine sonnenglänzende Wiese, wie Sie die internationale Landschaft dargestellt haben.
Ich gebe meiner tiefen Überzeugung und Sorge Ausdruck, daß wir im Laufe der letzten Zeit in die gefährlichsten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Wir sind in die gefährlichsten Jahre eingetreten, in denen nur das Zusammenstehen aller wirklich freiheitlichen Kräfte in Europa die
Garantie und die Aussicht dafür bieten kann, daß am Ende nicht das Kollektiv, sondern der Mensch, die Person und ihre Freiheit im Mittelpunkt von Staat und Gesellschaft stehen werden.
Es gibt — dazu haben Sie, Herr Bundeskanzler, leider nichts gesagt — sichere Anzeichen dafür, daß es in den kommenden vier Jahren schwere internationale Krisen geben wird: Einmal sind es die Machtverhältnisse im Kreml mit den Fragen der Nachfolge Breschnews. Dann ist es die Frage des Euro-Kommunismus, wo Herr Brandt heute merkwürdig verschwiegen war.
Jugoslawien haben Sie kurz erwähnt. Sie sagten, Sie bejahten die Unabhängigkeit Jugoslawiens. Wer bedroht denn die Unabhängigkeit Jugoslawiens? Und wie sieht die europäische Landschaft aus, wenn Jugoslawien seine Unabhängigkeit verloren haben sollte? Stehen hier die Europäer gemeinsam mit den Amerikanern in einer politischen Front?
Hier, Herr Bundeskanzler, haben Sie immer Attentismus, Abstinenz und Askese bewiesen, obwohl Sie doch sonst so forsch und munter und fröhlich drauflos den Lehrmeister aller Völker der Welt zu spielen bereit sind.
Aber da, wo es darauf ankommt, flüchten Sie in die unverbindliche Phrase.
Wie steht es denn mit der strategischen Überlegenheit der Sowjetunion über die USA? Auf konventionellem Gebiet ist sie längst erreicht, auf nuklearem Gebiet vielleicht auch schon erreicht oder demnächst bevorstehend. Wie steht es denn damit, meine Damen und Herren? Man kann doch nicht einfach daran vorbeigehen, daß auf einer Insel wie Moçambique ein großer sowjetischer Raketenstützpunkt errichtet wird, daß in Angola dasselbe geschieht, daß ungeheure Mengen von Kriegsmaterial nach Libyen geschaffen worden sind und dort für die Zwecke nicht der libyschen Streitkräfte, sondern der sowjetrussischen Streitkräfte an geheimen Depots an drei Stellen im Lande gestapelt werden.
Man kann doch die Probleme Nord- und Südafrikas nicht einfach mit der allgemeinen Phrase abtun: Wir hoffen, daß die Herrschaft bald von der Mehrheit übernommen wird. Wer ist denn die Mehrheit in einem Lande, wo es 4 Millionen Weiße, 17 Millionen Schwarze, Hunderttausende von Indern, Malaien und von Kapfarbigen gibt, wo die Probleme einer vielrassigen Gesellschaft doch nicht auf die simple Formel „Herrschaft der Mehrheit bei Schutz der Minderheit" gebracht werden können!
Was ist denn aus Angola und Moçambique heute geworden? Ein riesiges Konzentrationslager mit Hunger, Not und Tod, mit Epidemien und Seuchen, mit grausamster Unterdrückung, mit Konzentrationslagern, die ihren Vergleich nur noch in der Geschichte des zweiten Weltkrieges finden. Ist das die Befreiung, ist das die Emanzipation, ist das das Zukunftsbild, das wir vor unseren Augen haben?
Hier sollten Sie als Bundeskanzler entweder nichts sagen oder sich, wenn Sie etwas sagen, informieren
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und dann einen Standpunkt vertreten, der zumindest eine Hilfe für unsere amerikanischen Verbündeten ist. Denn wenn die Kaproute eines Tages in die Hände der sowjetischen Globalstrategen fiele, um die 80 °/o des Öls für Europa transportiert werden, wäre unsere Situation in der NATO, ohne daß ein Schuß fällt, schon von Anfang an so geschwächt und so ausgehöhlt, daß die ganze NATO binnen kurzem einstürzen würde. Hier sind Probleme, wo wir aufhören müssen, in national engem Rahmen zu denken, wo wir als Europäer und wo wir auch mediterran, atlantisch denken müssen, wo wir auch daran denken müssen, die Volksrepublik China an den Sicherheitsüberlegungen für Europa mit zu beteiligen. Ich wage, das zu sagen, obwohl es manchmal nicht gern gehört wird.
Hier treten Probleme auf, die in den nächsten zehn Jahren mit Sicherheit virulent werden. Ein Parlament, das sich ernst nimmt, muß sich über die Fragen der Gesellschaftspolitik hinaus auch der Fragen annehmen, von denen in Zukunft die physische Existenz, das moralische Überleben und die Aufrechterhaltung einer freien Gesellschaftsordnung maßgebend abhängen.
Was den Westen — ich kann mich nicht zu seinem Anwalt aufwerfen, aber ich kann als Parlamentarier meine politische Meinung sagen — von der Planung im Kreml unterscheidet, ist einerseits eine ungeheure wirtschaftliche Überlegenheit bei gleichzeitig erheblicher militärischer Schwäche. Was den Westen andererseits davon unterscheidet, ist eine Von-Fall-zu-Fall-Entscheidung in außenpolitischen Fragen, ein Attentismus, ein Abwarten, die punktuelle Behandlung eines Problems. Der maßgebende Mann für die Sicherheit des sowjetischen Bereiches ist Herr Andropow. Er hat neben den sicherheitsdienstlichen Aufgaben die informationspolitischen Aufgaben, und er hat darüber hinaus auch noch die Aufgaben der Diversion. Vor seinem Schreibtisch steht ein großer Globus. Ein Besucher, der jüngst bei ihm war, sagte mir: „Herr Andropow hat mich auf diesen Globus hingewiesen und gesagt: ,Alles, was wir tun, sehen wir in einem weltweiten Zusammenhang mit langem strategischen Atem.'" Das ist der entsetzliche Unterschied, daß bei uns mehr und mehr nur Innenpolitik mit Schwerpunkt Gesellschaftspolitik gesehen wird und daß wir eines Tages aufwachen und feststellen werden: die Verhältnisse in der Welt haben sich grundlegend verändert.
Darüber, Herr Bundeskanzler, von Ihnen etwas zu erfahren, wäre auch Aufgabe einer Regierungserklärung gewesen, und das sollten Sie nachholen.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Strauß, Sie haben etwas von Ihren Manuskripten hier liegenlassen. Ich möchte davon keinen Mißbrauch machen.
Das richtete sich gegen den Bundeskanzler; aber das können Sie ihm noch später versetzen, und zwar alles. Ich bin hier mehr für Eigenproduktion.
Es ist hier von zwei Oppositionsführern gesagt worden, was sie zur Regierungserklärung zu sagen haben. Einen wirklichen Drang zur Auseinandersetzung mit der Regierungserklärung habe ich auch heute hier nicht gespürt, so wie ich ihn, was ja seltsam ist, wenn man das bei einer Oppositionspartei zu vermissen Gründe hat, vorher vermißt habe. Denn diese Opposition hätte ja auf eine gründliche Debatte dieser Regierungserklärung drängen müssen. Sie hat es nicht getan.
Heute hat der Herr Strauß damit angefangen, zu sagen, was nach seiner Meinung dies für eine Regierungserklärung gewesen sei.
Ich will Herrn Straußens Bewertungen nicht noch mal zitieren; das sind ja seine eigenen.
— Nun, Sie werden ja wohl Herrn Strauß nicht mit der Presse vergleichen. Wir reden doch hier nicht über die Presse, sondern miteinander.
— Nein.
„Soweit sie Substanz hat, diese Regierungserklärung", hat der Herr Strauß — —
— Ja, hat der Herr Strauß!
- Nein, nein.
— Das weiß ich.
— Ich kann ja noch mal anfangen. Der Herr Strauß hat ja gesagt, soweit sie Substanz habe.
— Ja sicher, deswegen habe ich so angefangen. Aber Sie brauchen heute Lärm. Sie brauchen Selbstbefriedigung auf eine ganz besondere Eigenart. Das ist das, was Sie brauchen.
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Immerhin, man kann eine Regierungserklärung so bezeichnen, und um dann das eine oder andere aufzupicken, sagt man: „Es handelt sich um Vorschläge der CSU und der CDU".
Herr Strauß, Sie wollen das mit dem Thema Rentenversicherungen so halten, wie Ihre Partei und Sie als der Matador es mit dem Thema Inflation halten. Als es als Thema nicht zündete, haben Sie in Bayern und anderswo nachgeholfen und haben Geldscheine mit riesigen aufgedruckten Nullen verteilt, damit die Leute den Schrecken in den Knochen fühlten. Wenn sie die Umseite sahen, sahen sie: so würde es sein; so sehen Sie das. Sie wollen das Rententhema genau so auswalzen wie damals und wie auch heute noch, wenn es darauf ankommt, das Inflationsthema.
Ich habe eine einzige Feststellung zu treffen. Wenn das so wäre, Herr Strauß, wie Sie heute hier mimen, wieso haben Sie dann der Rentenerhöhung im vorigen Jahre zugestimmt, und zwar in der ersten Lesung, in der zweiten Lesung, in der dritten Lesung?
Dann hätte ja Ihr Gewissen Sie zwingen müssen zu sagen: Es blutet uns das Herz,
wir möchten so gerne. — Da feixen Sie, Patent-C-
Träger, da feixen Sie!
Das hätten Sie machen müssen. Sie hätten sagen müssen: „Wir haben immer zugestimmt", und zugleich haben Sie den anderen Leuten gesagt: „Aber finanziert werden kann das nicht". Da das so ist, wie Sie es wollen — es soll nämlich ein längere Zeit währender Dauerbrenner werden —, wird er das werden. Dennoch werden Sie, weder Herr Strauß noch Herr Kohl — entschuldigen Sie, daß ich die Reihenfolge so nehme —,
die Genugtuung haben, daß das politisch wirkt, aber nicht, daß das unserem Volke hilft, und Sie werden auch nicht erleben, daß wir, unser Staat, daran zugrunde gehen, weil wir fähig sind, Ihrer Art von Demagogie nicht nur zu widersprechen, sondern auch zu widerstehen.
Das Wort Ehrlichkeit aus Ihren Mündern ist ja nun für die Faschingszeit und nicht für die Vorweihnachtszeit gemeint.
Meine Damen und Herren, da haben Sie alles mögliche auf dem Korn.
Außerdem haben Sie einige Andeutungen gemacht. Ich weiß, und ich schelte Sie ja nicht, denn damals gab es entsprechende Verhältnisse. In der Zeit des Bundesministers der Finanzen Strauß und des Arbeitsministers Katzer hat es ja auch mit den
— Aber bitte, werden Sie doch nicht gleich vorweg nervös. Herr Katzer weiß doch Bescheid. Ich trete ihm ja nicht zu nahe. Ich sage nur, was heute noch davon existiert. Nehmen Sie mal die Beitragslisten in der Arbeiterrentenversicherung: ab 1. 1. 1968 15 %, ab 1. 1. 1969 16 %, ab 1. 1. 1970 17 %, ab 1. 1. 1973 18 %, — alles damals in dieser Zeit beschlossen. Ich schelte Sie dafür nicht, meine Herren von CSU und CDU, ich sage nur: wenn Sie über die Probleme der Rentenversicherung reden wollen, damit wir das, was daran lösbar und lösungsbedürftig ist, lösen, dann leugnen Sie doch bitte nicht oder feixen Sie doch nicht über die Probleme hinweg, die Sie mit Beitragserhöhungen zu lösen versucht haben.
Da gibt es vieles.
Und Herr Strauß hat ja ahnungsvoll, aber richtig gesagt, er und seine Freunde seien bereit, in diesen Fragen über alles mit uns zu sprechen und mit sich reden zu lassen. Das ist ganz in Ordnung. Nur, Sie wollten heute die Zeit ausnutzen, um vorher erst noch einmal möglichst viele Leute verrückt und vielen irrsinnig Angst zu machen. Das ist Ihr Weihnachtsbeitrag, meine Herren!
— Hier sind keine falschen Zahlen in Umlauf gesetzt worden! Und ich frage Sie zurück: Warum und mit welchem Gewissen haben Sie denn im vorigen Jahr der Rentenerhöhung zugestimmt, während Sie heute behaupten, auch Sie und alle anderen hätten das, was Sie jetzt „falsche Zahlen" nennen, damals schon gewußt?
— Nein, alles andere ist doch völlig uninteressant.
Sie blasen Dinge auf, weil Sie damit zeitweilig Kampagnen machen wollen, und der Herr Strauß ist geschmacklos genug, sogar diesen abgegriffenen Schlager hier noch einmal in den Mund zu nehmen wie einen alten Kaugummi — guten Appetit, kann ich nur sagen —, diesen Schlager mit dem Rentenbeschluß und der Diätenregelung.
Fragen Sie einmal den neben Ihnen sitzenden bedeutenden Herrn, der jetzt auch ein Oppositionsführer bei der CDU/CSU ist.
Fragen Sie ihn einmal, wie er es damit gehalten hat. Er war Vorsitzender des Sonderausschusses. Fragen Sie doch einmal, wie das eigentlich war, da Sie ja heute gesagt haben, Sie könnten nicht über
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alles unterrichtet sein, sondern müßten bestimmte Dinge lesen. Aber er sitzt ja jetzt neben Ihnen; er wird Sie ja unterrichten, der Herr Zimmermann, damit Sie sehen, wo das Loch ist, das er noch gelassen hat.
Sie haben sich ja nicht mit der Regierungserklärung auseinandergesetzt, meine Herren. Das ist eine Arbeitshypothese, die ich respektiere, weil ich Sie richtig eingeschätzt habe, Sie nämlich, die beiden bedeutenden Herren, und Ihre Absicht, sich hier in dieser Zeit nicht mit der Regierungserklärung auseinanderzusetzen, nachdem sie tatsächlich ergangen ist, und die Dinge im übrigen auf eine lange Bank zu schieben. Sonst hätten Sie ja einiges zu dem nicht nur zu sagen gehabt, sondern wahrscheinlich auch zu sagen für notwendig gehalten, was jetzt der Herr Strauß umgekehrt der Regierung in bezug auf Investitionen, auf Erweiterungsinvestitionen anhängt. Da hätten Sie ja einiges hören können. Vielleicht hätten Sie entdeckt, daß das, was davon in der Regierungserklärung steckt, auch von Ihnen stammt, wie Sie es vorhin gesagt haben: Soweit Substanz in ihr wäre, stammte sie von CDU/CSU-Vorschlägen.
Und dann, Herr Strauß, um das Gemisch Ihrer bedeutungsvollen Dinge einmal ein wenig auseinanderzuziehen: Sie haben hier ein Ereignis aufgeblasen, das sich bei einer NATO-Parlamentarier-Tagung in Williamsburg zugetragen hat. Das Ereignis ist ärgerlich, aber es verdiente bestenfalls im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten ausgetragen zu werden
und in Ordnung gebracht zu werden. Aber für Sie war es gerade recht. Vielleicht sind Sie nicht ganz richtig informiert worden. Ich habe den Bericht über diesen Vorgang, und dort lag durchaus nicht nur die Bereitschaft vor, sondern es ist auch darüber geredet worden, in dieser Versammlung miteinander — unter Einschluß der Sozialdemokraten — klarzukommen. Sie wollten dort dieses kleine Stück Skandal haben, damit man dann davon eine Weile leben kann. Das war alles, was dabei herausgekommen ist.
Sie werden doch einem Mann wie Mattick hier nicht öffentlich vorwerfen wollen, daß er nicht bereit gewesen wäre, etwas gegen bestimmte Schießereien und ähnliches zu sagen.
Das wollen Sie auch nicht; für Sie sind das alles keine Leute, nicht! Es ist nicht gut, wie Sie glauben, solche Dinge hier unter Gejohle abhandeln zu können.
Nun ein paar Sätze zum Herrn Kohl, der ja heute seinen Einstand hier hat geben können. Daß der Herr Kohl sein Verständnis für die Rolle der parlamentarischen Opposition durch seine Berufung auf Kurt Schumachers berühmte Rede 1949
bekräftigen wollte, hat nach meinem Verständnis den Grund, daß keiner der Vorgänger des Herrn Kollegen Kohl aus den eigenen Reihen und auch keiner seiner Mitoppositionsführer aus CSU und CDU von Herrn Kohl als eine Art Berufungsfall oder Autorität dafür, wie Opposition zu verstehen ist, angeführt werden kann.
Sonst hätten Sie nämlich Herrn Barzel nehmen müssen, der allerdings auch die längste Zeit es nicht gekonnt und gedurft hatte, der aber, als er doch wiedergewählt war, 1972 mit einem guten Vorsatz in das Parlament ging. Ich habe damals gedacht „Donnerwetter, es ist doch immer nicht zu spät, daß einer noch was lernt!" und habe das auch hier zitiert.
Das waren goldene Sätze, Herr Barzel. Aber fünf Monate später waren Sie vom Fenster, weil Sie vier Jahre die Opposition parlamentarisch führen wollten, und Ihre Fraktion hatte das anders bestimmt. Wir können ja einmal in Ruhe darüber reden — nicht privat, aber hier in diesem Plenum. Das ist interessant nachzulesen.
Ich sage: Da sich Herr Kohl, um sich zu verdeutlichen, nicht auf einen der Vorgänger in der Oppositionsführerrolle — oder jetzt: in der Mitoppositionsführerrolle — berufen kann, mußte er Kurt Schumacher nehmen. Das verstehe ich gut, und das ist ja ganz ehrenhaft.
Aber, sehr verehrter Herr Kollege, dann müssen Sie mir auch erlauben, in meine Tasche zu greifen und zu sagen — —
— Ja, sicher. Werden Sie doch nicht plötzlich auch noch gemein, Herr! Das ist doch wohl gemein, was Sie hier dazwischenreden! — Gut, das sei Ihnen geschenkt. Ich werde das nicht noch öffentlich machen.
Kurt Schumacher war es, der wörtlich gesagt hat:
Die Demokratie beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und der Ehrlichkeit.
Die Demokratie kann nur leben, wenn die Menschen selbständig sind und den Willen zur Objektivität haben.
Aber die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Gegenteil.
Herr Kollege Kohl, wenn Sie das im nächsten Bundestag wieder in Ihrer Rede als Oppositionsführer zu zitieren und sich zur Maxime zu machen versuchen, dann sage ich: Das ist in Ordnung! — Beide Sachen gehören nämlich zusammen.
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Sie haben gesagt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, der Bundeskanzler, der in seiner Regierungserklärung ja über Solidarität, über Liberalität gesprochen hat, beschreibe den Begriff der Solidarität so mit der alten sozialen Frage des 19. Jahrhunderts. Machen Sie es sich bitte nicht zu einfach, indem Sie behaupten, daß das eine alte soziale Frage war. Ich habe dieses vergilbte Heft, das ein Jahr zuvor herausgekommen ist, bevor erstmals international der 1. Mai gefeiert wurde. Da hat man im Rückblick und in der Sprache der damaligen Zeit so geschrieben:
Die Erfolge der Arbeiter wären aber nicht möglich geworden, wenn die Widerstandsfähigsten unter ihnen nur für sich gesorgt und gekämpft, wenn sie sich nicht als die Vorkämpfer und die Leiter und die Organisatoren betrachtet hätten, wenn sie nicht bestrebt gewesen wären, ihre schwächeren Mitarbeiter, die entweder gar nicht oder wenigstens nicht allein ohne fremde Hilfe im Stande waren, ihre Interessen zu vertreten, an ihren Errungenschaften teilnehmen zu lassen.
Das war etwas, was die freiheitliche Arbeiterbewegung in die Auseinandersetzungen im politischen Raum eingebracht hat, ohne die es dort nur ödes und geiles Interessentauziehen gegeben hätte.
Das ist insofern etwas, was Sie, wenn es nicht von Sozialdemokraten oder Sozialisten — wie Sie sie auch gern nennen — käme, als etwas Ethisches bezeichneten. Ich sage nur, wie es wirklich war. Nun stehlen Sie sich davon und meinen: Ja, aber da ist die CDU-Vorstellung von Solidarität doch ganz anders, nämlich das, was der Staat dem Bürger ermöglichen soll, damit Solidarität geübt werde.
Sehr Verehrter, Sie haben sicher einmal gelesen, was der frühere Vorsitzende der CDU und langjährige Bundeskanzler Konrad Adenauer zur Antwort gegeben hat, als man ihn gefragt hat, was er denn rate, daß man den Fragestellern antworte, die wissen wollten, wie das Grundsatzprogramm der SPD zu bewerten sei. Der hatte darauf seine klassische Antwort, um sich in der Sache nicht äußern zu müssen.
In diesem Grundsatzprogramm steht:
Wir streiten für die Demokratie. Sie muß die allgemeine Staats- und Lebensordnung werden, weil sie allein Ausdruck der Achtung vor der Würde des Menschen und seiner Eigenverantwortung ist.
Da haben Sie das wieder drin, was wir haben Weiterglühen lassen aus dem, was Sie so ein wenig wegwerfend „19. Jahrhundert" nennen. Wir bekennen uns — wie man das heute gern sagt — zu diesem Erbe. In unserem Programm — weil Sie auf den Staat abgehoben und das unserer Auffassung gegenübergestellt haben — heißt es:
Der Staat soll Vorbedingungen dafür schaffen, daß der einzelne sich in freier Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Verpflichtung entfalten kann. Die Grundrechte sollen nicht nur die
Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat sichern, sie sollen als gemeinschaftsbildende Rechte den Staat mitbegründen.
Soviel Sie auch suchen werden, Sie werden nirgendwo finden, daß es etwa eine Anleihe aus der CDU- oder gar CSU-Literatur oder deren Katechismen wäre. Das ist ganz genuin sozialdemokratisch. Derjenige, der am meisten dafür getan hat, daß es wirklich auch so hineinkam, das war der von mir verehrte und auch noch immer geliebte Adolf Arndt, dessen Eigenart manche von Ihnen wohl noch kennen, sich ihrer erinnern und vielleicht sogar schätzen werden.
Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, einiges zu Ihren langen Reden, die Sie der langen Regierungserklärung des Bundeskanzlers verdanken können, sagen zu dürfen. Ich wollte, da Sie die Gelegenheit brauchten und wenig zur Sache sagen konnten, aber viel, um in der Länge mit dem Kanzler konkurrieren zu können, ein Weniges zur Sache sagen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wirkt gerade bei dem Herrn Kollegen Strauß wenig überzeugend, eher komisch, wenn er den Vorwurf erhebt, die Koalition habe ihre Mehrheit unter falschen Voraussetzungen erreicht, und wenn er dabei auf die Rentenproblematik abhebt. Herr Kollege Strauß, Sie sollten sich besser noch einmal vor den Spiegel stellen und sich das vorsagen, was Sie einmal vor und einmal nach dem 3. Oktober aus Bayern über einen Ministerpräsidenten in Rheinland-Pfalz gesagt haben.
Dies sollten Sie jedenfalls dann tun, wenn Sie gute Beispiele für falsche Voraussetzungen suchen.
Meine
sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte Sie freundlichst, Platz zu nehmen, damit der Redner im Hause voll verständlich wird.
Meine Damen und Herren, der Führer der Opposition — Herr Kollege Strauß, jetzt meine ich allerdings Herrn Kohl, auch wenn man bei dem Vergleich der beiden Reden wieder Zweifel hegen kann; aber ich bleibe zunächst dabei — hat sich heute bei seinen Ausführungen, wie es mir scheint, offenbar unter dem Zwang gesehen, Schlagzeilen produzieren zu müssen;
denn doch wohl nur so ist die etwas merkwürdige Diktion, die das hervorgebracht hat, zu begreifen. Jedenfalls hat Herr Kohl dann von Ratlosigkeit der Regierung gesprochen. Aber ich muß sagen, das ist nun wirklich Krampf. Meine Damen und Herren, allenfalls kann man darüber rechten, daß zuviele
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Antworten auf zuviele Einzelfragen von dieser Regierung in der Regierungserklärung gegeben worden sind. Aber das mag nun wieder daran liegen, daß ein Spezialist anders spricht als ein Generalist.
Auch die Behauptung, die Regierung handle nicht selbst, sondern ermuntere nur andere zum Handeln, liegt einfach neben der Sache. Es geht nämlich überhaupt nicht darum, Verantwortung auf Dritte abzuwälzen, sondern es geht um das erklärende, das werbende Wort an alle Gruppen in unserer Gesellschaft, zum mithelfenden und mittuenden Arrangement bereit zu sein. Bei dem offensichtlich immer noch gestörten Verhältnis der Opposition zum mündigen Bürger und zu seinen Initiativen ist das hier deutlich gewordene Mißverständnis, wie mir scheint, offenbar noch ein Stück reflektiertes Innenleben der Opposition.
Meine Damen und Herren, dann kamen Sprüche vom Bundesrat und seiner gesamtstaatlichen Verantwortung. Eine Schelte dieses Verfassungsorgans habe ich in der Regierungserklärung nicht gefunden. Herr Kohl hat sie wohl unterstellt und vielleicht aus guten Gründen auch erwartet. Aber wir alle sollten uns für die Zukunft doch wohl erhoffen und davon ausgehen, daß der Bundesrat seine Entscheidungen tatsächlich allein am Gemeinwohl des Staates orientiert. Die Freien Demokraten glauben jedenfalls, ihren Beitrag als Voraussetzung dafür, daß es so sein kann und so sein wird, geleistet zu haben.
Meine Damen und Herren, erfolgreich abgeschlossene Koalitionsverhandlungen auf der Regierungswie auf der Oppositionsseite standen am Beginn der neuen Legislaturperiode. Auf beiden Seiten ging es nicht ohne Erschütterungen ab. Auch die heutige Rede des Kollegen Strauß hat nicht verdecken können, daß nach der schmerzhaften Bruchoperation der CDU/CSU-Fraktion die inneren Gegensätze in der Opposition fortbestehen. Die destruktiven Folgewirkungen der Auseinandersetzung sind mit kosmetischen Mitteln so einfach nicht zu überdecken. Wir sind allerdings selbstkritisch genug, um zuzugeben, daß sich die Regierungskoalition einen Fehlstart in diese neue Legislaturperiode geleistet hat. Damit ist allerdings noch nichts über den Inhalt und den Erfolg der Politik der nächsten vier Jahre gesagt. Bekanntlich können selbst nach Fehlstarts durchaus große sportliche Leistungen erbracht werden. Wir Freien Demokraten werden uns jetzt in der Arbeit der nächsten Jahre tüchtig ins Zeug legen.
Gleichwohl ist zu bekennen, daß die Diskussion über die Renten wenig glücklich eröffnet wurde. Es geht ja nicht nur darum, ob das inzwischen korrigierte Rentenmodell wirtschaftlich vernünftig war, sondern auch darum, ob es politisch auch zumutbar war. Wir alle sollten aus diesem Vorgang die Einsicht gewinnen, daß wir den Grundkonsens in unserer Demokratie nur dann bewahren können, wenn wir auch in Wahlkämpfen nicht vergessen, daß der Bürger einen Anspruch auf Vertrauensschutz hat.
Die Opposition hat wenig Grund, sich allzu laut zu Wort zu melden. Vor der Wahl hat sie mit allen
ins gleiche Horn geblasen und bis heute keine konkreten Lösungen angeboten.
Zugegebenermaßen hat sie den Vorzug, nicht in der direkten Verantwortung zu stehen. Aber die Opposition weiß sehr wohl, daß sie von der falschen Weichenstellung in der Vergangenheit nicht freigesprochen werden kann. Und wenn hier über Lesefähigkeiten gesprochen wird, muß man wenigstens sagen dürfen, daß es bei der Opposition mit den Lesefähigkeiten in der Vergangenheit offenbar auch nicht sehr weit her gewesen ist.
Was aber nun die Form der politischen Auseinandersetzung im 8. Deutschen Bundestag betrifft, so sollten wir uns für die kommenden vier Jahre nicht an jener Spielart orientieren, die in Kreuth eine Erziehungsanstalt für Unionspolitiker hervorgebracht hat.
Der Kollege Strauß wird sich doch weder als Wohltäter der Nation noch als Wohltäter des Herrn Kohl aufspielen können. Nein, während früher nach der Formel „suaviter in modo, fortiter in re" gehandelt wurde, geschieht dies jetzt offensichtlich nach dem „Kreuther-Extrakt" „aalglatt in der Sache, brutal in der Form". Strauß hat den politischen Stil grundlegend gewandelt. Er ist jedenfalls dabei, die Werte auf den Kopf zu stellen. Gerade deshalb war dieser Vorgang in seiner innen- und außenpolitischen Wirkung gleichermaßen erschreckend. Mit dieser Schocktherapie hat die bayerische CSU mehr als nur Irritationen ausgelöst. Sie hat mit ihrem doppelbödigen Spiel die Basis der politischen Zusammenarbeit erschüttert. Die Demokratie lebt aber von der offenen und fairen Auseinandersetzung. Ohne gegenseitige Achtung und ein Mindestmaß an Vertrauen ist eine konstruktive Politik nicht möglich.
Ich möchte mir und uns allen wünschen, daß die Worte des neugewählten Parlamentspräsidenten, die er nach seiner Wahl an dieses Haus gerichtet hat, von allen als Grundlage für die parlamentarische Arbeit angenommen und befolgt werden — dies um so mehr, als er das gemeinsame Bekenntnis aller Bundestagsfraktionen zu Freiheit und Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit als die großen Leitmotive aller staatlichen und politischen Tätigkeit formuliert hat.
Auf der Grundlage der Regierungserklärung kann ich zur innenpolitischen Situation der Bundesrepublik Deutschland ganz allgemein feststellen, daß trotz vielfacher Schwierigkeiten in den vergangenen Jahren ein erstaunliches Maß an Kontinuität sichtbar geworden ist.
Ihr wirtschaftliches System hat die massiven Gefährdungen seiner Funktionsfähigkeit durch die weltweite Inflation und durch die mit der Energiekrise verbundenen Erschütterungen der Weltwirtschaft weitaus besser abfangen und verarbeiten können als die Wirtschaften der meisten anderen vergleichbaren Länder.
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Hinsichtlich der außenpolitischen Stellung der Bundesrepublik ist das Gesamtbild eher noch positiver. Durch ihre Ostpolitik hat die sozialliberale Bundesregierung den entscheidenden Beitrag zu einer weltpolitischen Entspannung geliefert, die den kalten Krieg fürs erste ablöste und zumindest etwas günstigere Voraussetzungen für eine friedliche Zusammenarbeit zwischen West und Ost schuf, als sie bisher bestand. So erscheint gegenwärtig die Bundesrepublik Deutschland in einer Welt, die an vielen Stellen durch Krisen, Umwälzungen, Erschütterungen und Labilität gekennzeichnet ist, eher wie eine Insel der Stabilität. Diese Stabilität ist um so bemerkenswerter, als sie — im Gegensatz zur Wilhelminischen Periode — nicht als das Ergebnis einer autoritären, die individuellen Freiheiten einschränkenden Verfassungsordnung und Politik interpretiert werden kann, sondern mit dem Höchstmaß an Freiheit einhergeht, das je in der deutschen Staatengeschichte für ein politisches System registriert worden ist.
Diese sehr positive Beschreibung unserer politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse stammt nicht aus einem Schulungsbrief der Freien Demokraten. Ich habe sie auch nicht aus einer regierungsamtlichen Stellungnahme übernommen. Vielmehr ist die von mir vorgetragene Beschreibung der bundespolitischen Wirklichkeit der Einleitung einer wissenschaftlichen Streitschrift von Kurt Sontheimer entnommen.
Zu dem oft verzerrten Bild unserer Bundesrepublik, das von einäugigen Kritikern immer wieder gezeichnet wird, sagt dann Sontheimer:
Es ist, als kämen die Krisen- und Zusammenbruchstheorien von einem anderen Stern. Verwundert betrachtet man dieses verbissene Interesse an Systemüberwindung, und man fragt sich, in welcher Höllennische unserer prosperierenden Zivilisation diese Kritiker eigentlich leben müssen, wenn sie zu einem so unerbittlichen, verdammenden Urteil über unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung kommen.
Was hier gesagt wird, gilt in ähnlicher Weise häufig leider auch für die Kritik der Opposition. Meine Damen und Herren, ich denke nicht im mindesten daran, Ihnen die demokratische Grundhaltung, die demokratische Gesinnung und das Bekenntnis zu den Grundwerten unserer staatlichen Ordnung abzusprechen.
Aber in der Methode Ihrer Kritik ist dieser fatale Gleichklang leider nicht zu überhören.
Um griffige Politik zu formulieren, um Anklagen wirkungsvoll plazieren zu können, wird auch von Politikern aus den Reihen der Opposition oft ein Zerrbild der Bundesrepublik Deutschland gezeichnet. Das von ihr außen- und innenpolitisch immer wieder an die Wand gemalte Schauergemälde eines abgewirtschafteten Staates mit zerrütteten Finanzen und außenpolitischen Fehlleistungen ist so absurd
und entspricht der Wirklichkeit genauso wenig wie die abgegriffenen Klischees linksextremer Ideologen.
Wenn der zitierte Hochschullehrer meint, diese weltfremden Theoretiker müßten in Höllennischen angesiedelt sein, so kann ich nur vermuten, daß mindestens diese Spezies von opponierenden CDU/ CSU-Politikern offenbar auf Spukschlössern lebt. Mir scheint, der Herr Kollege Strauß hat sich heute gerade wieder aus dieser Richtung zu Wort gemeldet. Sicher, seine Vitalität scheint mir gestärkt, nicht zuletzt durch die Rolle seines neuen Fraktionsvorsitzenden. Das mag die Debatten im Parlament beleben und munter gestalten. Ob es der Opposition nützt, muß sich erst noch zeigen.
Wir sollten uns bei den politischen Auseinandersetzungen über Inhalt und Methoden der Politik wieder stärker an der Wirklichkeit unserer Verhältnisse orientieren. Nur wenn wir bereit sind, die geistigen Auseinandersetzungen verantwortungsbewußt zu führen, können wir verhindern, daß die Politik zum Instrument der Willkür wird. Eine solche Fehlentwicklung begünstigt jeder, der sich für seine Zwecke falsche Prämissen zimmert. Er manipuliert und verläßt damit den Boden der Redlichkeit.
Für die Koalitionsparteien geht es jetzt darum, die in den vergangenen Jahren der gemeinsamen Regierung erarbeiteten Grundlagen zu sichern und fortzuentwickeln. Dabei gilt es, sich am Wünschbaren zu orientieren, jedoch mit beiden Füßen auf dem Boden zu bleiben und das finanziell Mögliche nicht aus den Augen zu verlieren. Deshalb wird es für die FDP keine Experimente mit der Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft geben. Überlastungen des einzelnen und des Gemeinwesens führen letztlich nur zu Dauerschäden.
Es wäre dabei wünschenswert, wenn es dem ß. Deutschen Bundestag gelänge, wenigstens in der Deutschland- und Berlin-Politik die notwendige Gemeinsamkeit aller demokratischen Parteien herzustellen.
Ich erinnere an die gemeinsame Resolution der Bundestagsparteien vom 17. Mai 1972,
an die auch der Vorsitzende der Oppositionsfraktion angeknüpft hat. Darin ist erklärt worden, daß die Erhaltung des Friedens in Europa und der Sicherheit der Bundesrepublik zu den maßgebenden Zielen unserer Außenpolitik gehört. Damals haben wir festgestellt, daß die Verträge von Moskau und Warschau wichtige Elemente des Modus vivendi sind, den die Bundesrepublik Deutschland mit ihren östlichen Nachbarn herstellen will. Leider hat diese gemeinsame Erklärung trotz ihrer außenpolitischen Bedeutung nicht die entsprechende innenpolitische Wirkung gehabt. Es ist nicht gelungen, zu einer innenpolitischen Befriedung und zu einem Mindestmaß an politischer Gemeinsamkeit zu kommen. Der Rücktritt des damaligen Oppositionsführers, des Herrn Kollegen Barzel, war ein Alarmsignal, das CDU und CSU überhört haben und bis heute nicht hören wollen.
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Der 8. Deutsche Bundestag wird sich in der Deutschlandpolitik aber auf Dauer keine Konfrontation leisten können, wenn die Sache nicht Schaden nehmen soll. Es geht dabei keineswegs um die Zustimmung der Opposition zu einer Politik, die sie nicht mitverantworten will. Andererseits muß es aber möglich sein, das Gemeinsame mehr zu betonen als das Trennende und trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen zu einer geschlossenen Demonstration unseres politischen Wollens zu kommen.
Die Repräsentanten der politischen Parteien finden sich in regelmäßigen Abständen im „Kuratorium Unteilbares Deutschland" zusammen, um ihre gemeinsame nationale Verantwortung zu bekunden. Dort versichern sie, daß es uns in der praktischen Politik darum gehe, die Folgen der Teilung zu mildern, Verbindungen wachzuhalten und neue zu knüpfen und unbeirrt für das Ziel der freien und friedlichen-Zusammenführung der getrennten Teile Deutschlands zu arbeiten. Meine Damen und Herren, diese Bekundungen werden zu einem leeren Wortgeklingel, wenn sich die Politiker aller Parteien nicht endlich zu diesen Thesen auch in der praktischen Politik bekennen und sich damit identifizieren.
Die Politiker der Opposition weichen dieser Notwendigkeit leider bis heute aus. Zweifel an der Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln sind allerdings berechtigt. Die jüngste Auseinandersetzung, die zwischen der CSU und dem Ministerpräsidenten von Niedersachsen um die Ostpolitik entbrannt ist, macht jedenfalls besorgt. Dabei sollte es der Opposition eigentlich leichtfallen, der Berlin-Politik der Bundesregierung zuzustimmen, denn in den Grundpositionen sind wir nicht kontrovers. Die Regierungserklärung hat dies, wie mir scheint, noch einmal deutlich gemacht.
Meine Damen und Herren, wir begreifen unsere Deutschlandpolitik als realistischen Beitrag zur internationalen Friedenspolitik. Er gründet sich auf das westliche Bündnis und unsere Mitwirkung in der Europäischen Gemeinschaft. Beides sind unverzichtbare Voraussetzungen. Jeder Versuch, Spannungsherde und Konfliktfelder im Alleingang abzubauen, wäre im übrigen zum Scheitern verurteilt und würde eine Gefahr für unser Land bedeuten. Mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis will die Bundesregierung im Interesse der Menschen in unserem geteilten Land ihre Entspannungspolitik fortsetzen. Sie will damit helfen, den Frieden dauerhaft zu sichern. Die Freien Demokraten werden die nüchterne und beharrliche Haltung der Bundesregierung bei ihren Bemühungen um die Durchsetzung dieser Politik mit Nachdruck unterstützen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Der Herr Kollege Wehner
hat gerügt, daß wir uns nicht genügend mit der Regierungserklärung beschäftigten. Ich fasse dies als eine Aufforderung auf, sich wieder direkt dem Kanzler zuzuwenden. Der Herr Bundeskanzler wird sich sicher ebensowenig wie die Mehrheit des Hauses über den Einstieg wundern, den ich zur Fortsetzung unseres öffentlichen Dialogs der letzten drei Jahre hier suche.
Herr Bundeskanzler, ich möchte an die Aussprache erinnern — —
— Das kommt ganz sicher, keine Sorge. Er ist mir gegenüber ein höflicher Mensch wie ich ihm gegenüber auch. Ich erinnere mich, daß er einmal hier weggegangen ist, weil der Kanzler nicht zuhörte. Er wird ganz sicher zuhören ...
Ich wollte den Herrn Bundeskanzler, nachdem die wechselseitige Aufmerksamkeit hergestellt ist, an die Debatte erinnern, die wir nach seiner ersten Regierungserklärung im Mai 1974 hatten. Ich hatte damals vorher gesagt, er sei sehr respektabel; und ich habe dann zu seiner ersten Regierungserklärung meiner Enttäuschung von diesem Platze — Ausdruck gegeben, daß ich in der Regierungserklärung Perspektiven nicht fände, daß ich die Horizonte vergeblich gesucht hätte wie eine intellektuelle oder intelligente Kreativität. Ich habe damals, wie sich viele erinnern, gesagt: Sie reden nirgendwo von einer Konzeption, von einer Perspektive, vom Sinngehalt; Sie verschweigen das Warum und das Wozu; der Stabilitätsbegriff schrumpft bei Ihnen zum rein materiellen Begriff zusammen. Das hat dem Kanzler damals nicht gefallen. Das kann auch jeder verstehen.
Er hat dann später — von dieser Stelle aus — eingeräumt, da sei doch etwas dran. Dann gab er sich dran: Sehr gewollt von Kant bis zu kirchlichen Akademien. Dann wurde — vor dem gestrigen Tag —, freilich hinter vorgehaltener Hand, eine Regierungserklärung angekündigt, die, so hieß es, das Ende des Machers und den Beginn des geistvollen zukunftsträchtigen Gestalters markieren sollte. Da war mancher neugierig, denn in Ihrer Berliner Rede vom Oktober, Herr Bundeskanzler, haben Sie ein paar bemerkenswerte Töne angeschlagen. Da haben Sie gesprochen über das „Ausgeliefertsein". Mit dieser Rede haben Sie geistige Hoffnungen geweckt, wo es noch welche gab; oder welche erzeugt, wo sie schon verschüttet waren. Es sollte dem „Ausgeliefertsein", so war zu lesen, „Zuversicht" und „Geborgenheit" gegenübertreten. Dies sei die neue Maxime.
Was von diesem Ansatz in der gestrigen Regierungserklärung übrigblieb — eine Erklärung, die wohl in Wahrheit eine Aneinanderreihung war, eine unverarbeitete Addition, eine Verwaltungsübersicht ohne Schwung, ohne Elan, ohne Perspektiven und ohne Schwerpunkte, also eine Administrationsquantifizierung ohne qualitative Elemente, wenn man das so nennen darf —,
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Dr. Barzel
was von diesem geplanten Ausflug zu Horizonten in dieser langatmigen Vorlesung übrigblieb, sind nicht mehr Gedanken oder Gedankengänge, sondern Worte, und, wenn man sich das ansieht, Worte ohne Saft und Kraft.
Dies ist freilich menschlich verständlich; denn offenbar hat der Herr Bundeskanzler in den letzten Tagen ob der Alltagswirklichkeit für ihn, um ihn und in seiner Partei das Gefühl für Geborgenheit selbst verloren. Offensichtlich ist in ihm das Bewußtsein des Ausgeliefertseins in einem solchen Maße gestiegen, daß er den geistvollen Ansatz lieber wieder auf die Strecke fallen ließ. Dies ist schade. Nun steht er wieder „ohne" da. Dafür aber mit einer gespaltenen Rentenformel in der Hand. Dies beides gehört — ursächlich — doch zusammen, Herr Bundeskanzler:
Dieses Fehlen von Perspektiven und von Bezügen und das, was dann daraus kommt, wenn man glaubt, am Grünen Tisch alles machen zu können, weil man das Gespür für das Mögliche und für das Verantwortbare und den Umgang auch — verzeihen Sie, ich muß wiederholen, was Kohl hier gesagt — mit dem, was das Volk bewegt, verloren hat.
Diese Schrumpfelemente, die nun von der Absicht des Ausflugs übrigblieben, ihre Worte also — ich nehme das Wort von der Solidarität auf, das, wie ich glaube, über 50mal vorkommt, und das von der Mitmenschlichkeit — hören sich gut an. Aber wer soll das glauben, da sich Ihre konkrete Politik in derselben Erklärung doch weigert, diese Worte mit Inhalt und Leben zu erfüllen? Herr Bundeskanzler: Was ist Solidarität ohne Wahrheit? Was ist Mitmenschlichkeit ohne Verläßlichkeit? Da bleiben doch nur Worthülsen, Masken, hinter denen sich andere Inhalte verbergen.
Herr Bundeskanzler, wie soll Solidarität ohne das verläßliche Gefühl sozialer Sicherheit entstehen? Ich möchte konkret werden: Sie sprechen davon, daß die Neurentner die Bruttobezogenheit behalten sollen. Sie sagen, Sie wollen sie nicht antasten. Aber was bieten Sie eigentlich dem an, der schon ein Rentner ist? Ist das eine andere Formel, die keiner durchrechnen kann? Wer soll da was glauben? Wie soll so Sicherheit oder Geborgenheit entstehen?
Ihre Politik verstärkt doch Ungewißheit, Fragezeichen und Abhängigkeit. Sie sagt „Solidarität" und „Mitmenschlichkeit" und produziert noch mehr „Ausgeliefertsein", als sie es vor dem 3. Oktober ohnehin schon gab. Da „blasen" wir nichts auf, Herr Kollege Wehner — er ist nicht da —, sondern nehmen eine Sorge auf, die in der Bevölkerung vorhanden ist.
Dies ist nicht nur die Pflicht der Opposition, sondern dies entspricht der sozialen Gesinnung derer, die mit dieser Rentenformel ein Stück der Sozialqualität der Bundesrepublik Deutschland geschaffen haben, um die man uns in der Welt beneidet. Dieses Stück wird
nun in Zweifel gestellt, vielleicht herausoperiert. Unklarheit ist die Wahrheit.
Es sei ein „Skandal", sagte der Herr Bundeskanzler im Oktober in Berlin, daß — ich zitiere ihn —„Menschen im Alter von 56 Jahren noch immer nicht präzise gesagt werden könne, wie ihre Rente aussieht, die sie in wenigen Jahren beziehen können". Er hat ganz recht: Das ist ein Skandal. Aber nun Hand aufs Herz, Herr Bundeskanzler, Herr Arbeitsminister und Sie alle da drüben: Wer bei Ihnen kann denn jetzt diese Frage beantworten? Wer kann einem, der jetzt eine Rente bezieht, sagen, welche Rente er zum nächsten Dezember bekommen wird? Sie haben keine Klarheit über die Formel. Dies erzeugt doch die Abhängigkeit und das Ausgeliefertsein an die Mehrheit dieses Parlaments. Es gibt den Mann nicht, der das ausrechnen kann. — Herr Mischnick, Sie — sachkundig — können es auch nicht. Es gibt ihn nicht. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Mischnick: Es kann ihn gar nicht geben; denn selbst Ihre einschneidenden, Ihre harten Beschlüsse bringen doch, wie vorher dargetan worden ist, die bis 1980 fehlenden mehr als 80 Milliarden DM gar nicht ein. Ihre Zahlen liegen nicht vor; die Erklärung von gestern vertröstet auf einen ungewissen Zeitpunkt. Dann kommt Herr Wehner und sagt: Wir „walzen" hier eine Frage aus, um dies zum „Dauerbrenner" zu machen. Hätten Sie doch heute die Zahlen und die Vorlagen auf den Tisch gelegt,
hätten Sie uns über die Annahmen orientiert, die Ihren Schätzungen zugrunde liegen, die Annahmen des Wachstums, der Arbeitslosigkeit, der Preise und der Löhne; die für Geburt und Tod — dann hätten wir etwas in der Hand, womit und worüber wir diskutieren könnten. Sie können doch nicht von uns verlangen, daß wir uns daran beteiligen, mit Ihnen, Herr Brandt, hier im Nebel herumzustochern.
Solche Unverantwortlichkeiten machen wir doch nicht.
So produzieren Sie die Fortdauer dieses still wütenden „Pfui", mit dem drei Rentner, einer davon am Krückstock, hier kürzlich durch Bonn gezogen sind. Das dauert nun über die Festtage. Das verantwortet nicht die Opposition, sondern diese Regierung —, eine Regierung, die sich vor den Wahlen gerühmt hat, das „Deutsche Modell" geschaffen zu haben. Wir haben im Mai dargetan — ich will es nicht im einzelnen wiederholen —, daß Sie das Modell nicht geschaffen haben, sondern daß es weitgehend gegen den Widerstand der Sozialdemokratie entstanden ist.
Wir haben damals gesagt, daß Sie dieses Modell beschädigt haben. Aber, Herr Bundeskanzler, indem Sie nun an die Glaubwürdigkeit, an die Rentner, an die Renten und wohl auch an die Rentenformel herangehen, beseitigen Sie doch ein Herzstück der sozialen Sicherheit und damit die unerläßliche Voraussetzung für staatsbürgerliche und soziale Geborgenheit, für Berechenbarkeit von Lebensabläufen.
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Und indem Sie dabei, wie hier vorher dargetan, die Kosten von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung verlagern und dabei gerade diejenigen treffen, die durch Leistung aufgestiegen sind, machen Sie noch ein zweites: Sie entfernen ein wichtiges Element für Fortschritt und Aufschwung, indem Sie Leistung, höflich gesagt, uninteressanter machen.
Es stimmt doch einfach, wenn Herr Fromme in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gestern schreibt — ich möchte das hier, damit die Gewichte gerecht verteilt sind, mit Genehmigung des Präsidenten in die Debatte einführen —: „Die FDP ist in die Wahlschlacht gezogen unter dem Panier: Leistung wählen. Die Gleichmacherei werde nicht weitergehen. Wer Fortschritt, aber nicht das Fortschreiten auf diesem Wege wolle, sollte FDP wählen. Jetzt läßt sich die Partei darauf ein, daß die Rentenflickschusterei von den Werkmeistern, den Baupolieren, den jungen Ingenieuren, den Aufsteigern also, bezahlt wird. Sie sollen das in die Krankenkasse zahlen, was der Rentenversicherung fehlt."
— Verehrte Damen und Herren, wir freuen uns doch, wenn Sie hier bessere Dinge auf den Tisch legen, wenn auch dieser Teil öffentlicher Kritik Ihnen vielleicht zur Vernunft helfen würde.
Das ist doch der Sinn einer solchen Debatte. Aber bei dem Zipfel von Wahrheit, den Sie bisher anbieten, muß doch etwas gesagt werden, weil nach dem, was Sie bisher haben verlauten lassen, so die Wahrheit ist.
Ich sage Ihnen deshalb: Indem Sie die soziale Sicherheit durch wahrscheinliche Veränderung der Rentenformel beeinträchtigen und indem Sie den Leistungswillen dämpfen, bauen Sie jetzt auch noch zwei fundamentale Bestandteile des Motors aus dem „Modell Deutschland" aus. Wenn aus dem beschädigten Modell auch noch der Motor ausgebaut wird, bleibt nur die Karosserie. Die fährt aber nicht lange, weil sie nur bergab fährt; dann ist sie schrottreif.
Das ist die Situation dieser Koalition, meine verehrten Damen und Herren,
Sie fragen uns zugleich nach der Alternative. Sie haben durch Willy Brandt — ich komme nachher darauf — erklären lassen, zu dieser Regierungspolitik gebe es keine Alternative. Zumindest einmal gibt es die Alternative — das sollte unter allen klar sein — zu der Schwindelei: die Wahrheit.
Die wäre eine gute Voraussetzung, sich über anderes zu unterhalten. Sie sind in einem Debakel und kommen allein nicht heraus. Das war in der Debatte zu merken. Sie erwarten unsere Hilfe.
Verzeihen Sie, in dieses Debakel sind Sie ohne unsere Hilfe und gegen unseren Rat gekommen. Hier müssen Sie schon erst einmal sagen, was ist. Wenn
Sie irgendwo etwas brauchen, dann wollen wir so darüber reden; die Kollegen Strauß und Kohl haben das heute dargetan. Aber bevor wir hier nicht die Wahrheit und den Rentenbericht kennen und bevor wir nicht die Gesamtzusammenhänge sehen, verehrte Damen und Herren, sehe ich hier wenig Hoffnung. Wir würden heute im Interesse der Menschen draußen gern ein Stück weitergekommen sein, aber Sie haben uns die Zahlen vorenthalten.
Wenn dann der Bundeskanzler den traurigen Mut hat, gestern von „vorausschauender Politik" zu sprechen, dann muß ich ihn dazu beglückwünschen. Woher nimmt er diesen traurigen Mut? Die Opposition wußte, daß es mit den Renten und der Grundlage ihrer Finanzierung nicht stimmt. Wir haben es gesagt. Wir haben gelesen, was die Deutsche Bundesbank seit November 1975 öffentlich sagte. Herr Strauß hat hier die anderen öffentlichen Quellen genannt. Da wurde öffentlich von den Defiziten der Rentenversicherung, die sich vergrößern, und von einem Anwachsen gesprochen, das „vorprogrammiert" sei. Warum hat man das nicht ernstgenommen? Es kann doch nicht sein, Herr Bundeskanzler, daß Sie ein Jahr lang
— ich bin knapp in der Zeit; es ist so verabredet — Herrn Klasen getroffen und mit ihm gesprochen haben und daß ausgerechnet darüber nicht geredet worden ist. Aber es haben doch auch andere den Präsidenten der Bundesbank getroffen. Dies war doch immer ein Hauptthema der Sorgen um die Zukunft. Ich vermag deshalb nicht zu glauben, daß Ihre Rentenerklärung tatsächlich ohne eine Ahnung von dem, was wirklich war, erfolgt ist. Sollte es anders sein, sollten Sie das wirklich nicht gesehen haben, dann wäre das mindestens gleich schlimm; denn das bewiese mangelnde Voraussicht, fehlende Vorausschau und ungenügende Umsicht, und das in einer Frage, wo es um Menschen geht, die sich allein kaum wehren können.
Sie haben in Ihrer gestrigen Erklärung für alle Schwierigkeiten wieder die „Weltrezession" verantwortlich gemacht. Verehrter Herr Bundeskanzler — es wird irgendwann im Januar auch über die Wirtschaftspolitik zu sprechen sein —, dies kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. Vielleicht ist die „Weltrezession" auch dafür verantwortlich, daß Sie nicht früh genug in die Kasse der Rentenversicherung geguckt haben?! Aber ich möchte, damit sich dieses Märchen nicht bis in den Januar hält, nicht mit unseren Worten, sondern mit denen des Sachverständigenrats — das ist der jüngste Bericht, den es gibt; er ist vom 25. November 1976 —, wenige Sätze mit Genehmigung des Präsidenten vortragen:
Die Beschäftigungsprobleme,
— so sagen die Sachverständigen —
die mit der Rezession offenkundig wurden, sind nicht allein das Erbe zyklischer Abschwungskräfte im Innern und in der Welt. Sie rühren auch daher, daß im ganzen nicht zueinander passende Ansprüche — Lohnansprüche, Gewinnansprüche, Ansprüche des Staates und des
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Auslands — über Jahre hinweg zu Lasten des Geldwerts gegangen waren, die Produktionsstrukur verzerrt und die Investitionsneigung mehr und mehr beeinträchtigt haben. In ihrem Kern waren die Beschäftigungsprobleme längst angelegt, bevor es zur Rezession kam.
Das sagt nicht die Opposition, sondern das sagt der Sachverständigenrat, und das liegt uns allen in der Drucksache 7/5902 vor. Dies ist die Lage.
Über diese Lage versuchten Sie mit unverarbeiteter Langatmigkeit und vielen Worten hinwegzutäuschen, die schon jeden mißtrauisch machen; denn wer etwas zu sagen hat, kann dies kurz und unmißverständlich sagen. Wer so viel redet, ohne viel zu sagen, der hat etwas zu verbergen. Ich fürchte, gestern sollte hier zunächst der Vorhang vor der Bühne zugezogen werden, auf der das Stück „Sanierung — gesucht" gespielt werden soll. Daß Sanierung notwendig ist, bestreitet keiner. Aber daß diese Koalition noch keine Antwort darauf hat, ist die traurige Wirklichkeit, und die Unterzeile heißt: „Wir haben uns übernommen."
Ich denke hier an den früheren Bundeskanzler, den Kollegen- Brandt, der ein paar Worte auch über Verantwortung an unsere Adresse gerichtet hat —in einer Rede übrigens, die, wenn wir das richtig gesehen haben, eigentlich mehr der Pflicht als der Neigung entsprach. Wann je hat der erste Sprecher der stärksten Regierungsfraktion gesagt, es sei die „Pflicht" der Regierungsfraktion, eine Regierungserklärung „zu tragen" ? Hier war nichts von Begeisterung oder von Zustimmung zu spüren, sondern das war zunächst ein „Pflichttanz". Er sprach uns auf unsere Verantwortung an. Bitte schön, jederzeit! Aber dann bitten wir: zuerst Solidität.
— Ich sage deshalb in aller Deutlichkeit, Herr Schäfer: Nur wenn die Zusammenhänge klar sind, die Analyse verständlich ist, die Konsequenz wohlerwogen ist und die Verantwortung und die Verantwortlichkeit so unbestritten wie die Wahrheit sind, erst dann könen wir ernsthaft über Alternativen oder über Antworten sprechen, die auch andere mitverantworten.
Ich wiederhole deshalb den Ansatz, den wir seit Monaten, schon seit den letzten Debatten zur Lösung der Probleme, sehen: Unsere soziale und wirtschaftliche Ordnung sind auf Dynamik gegründet und auf Wachstum aufgebaut; sie leben davon. Wenn wir das nicht wieder schaffen, werden wir über vieles sprechen müssen. Dies ist die Basis. Niemand wird wieder Vollbeschäftigung erringen, niemand wird soziale Sicherheit, Haushalt, Reformen, Verteidigung, Hilfe für andere bezahlen können, der nicht eine Lösung der Probleme zuallererst von der steigenden Wirtschaftskraft erwartet und dort ansetzt.
Hier ist zuerst Friderichs gefragt, bevor Apel neue Milliarden so oder so herumschiebt.
Dies, verehrte Damen und Herren, heißt: der „Herzmuskel der wachsenden Wirtschaft" — das ist auch ein Wort aus dem Sachverständigengutachten, freilich von 1974 — ist „die Investitionsneigung", und dieser Herzmuskel, so heißt es dort, ist „verkrampft". Wer hier also was will, muß diesen Muskel entkrampfen, der muß sehen, daß wieder Substanz in den Raum kommt, Wasser von den Wurzeln her, nicht mit dem Gartenschlauch neue Milliardenprogramme nur auf die Blätter; das nützt gar nichts. Der muß dafür sorgen, daß hier wieder Flexibilität, Elastizität entsteht für unsere Unternehmen. Ich erinnere Herrn Kollegen Friderichs an eine frühere Debatte. Je mehr außenbestimmte Daten — Sie haben das doch gelesen — durch OPEC und UNCTAD und EWG und was weiß ich gesetzt werden, desto mehr müssen wir doch im Innern dafür sorgen, daß nicht zusätzliche Gängelei, zusätzlicher Bürokratismus diese Elastizität weiter einengt. Da ist doch der Ansatz, wenn wir uns wirtschaftlich und politisch im Januar weiter unterhalten wollen. Solange aber in der Hauptregierungspartei in jeder Frage immer nur gleich nach mehr Staat gerufen wird — also nach neuer Bürokratie, nach neuer Gängelei nachdem
Sie sich weigern, zu erkennen, daß eine Hauptwachstumsbremse in dem steigenden Staatsanteil liegt, ist es erstaunlich, daß Sie hier zurückbleiben. Herr Mitterand entdeckt wieder die Kräfte des Marktes; Herr Breschnew entdeckt den Rang der privaten Hofstelle; und die deutsche Sozialdemokratie erkennt immer mehr den Vorrang des Staatsanteils. Dies ist für die Debatte für die Zukunft — —
— Dies, verehrter Herr Matthöfer, ist für die Debatte der Zukunft so zu werten, wie man das in der DDR nennt; da gibt es den ebenso köstlichen wie schmerzlichen Begriff von der „Null-Ware". Mit „Null-Ware" meint man drüben Ladenhüter, Ausschuß, verstaubte Dinge.
Ich würde gern an die Adresse des Kollegen Brandt wenigstens noch auf einen Punkt erwidern, weil er jetzt nicht — er wird im einzelnen noch zu behandeln sein im Januar — unwidersprochen bleiben darf. Er hat sich hier heute mit Unschuldsmiene gegen „Monopolansprüche" gewandt. Er hat dabei verschwiegen, daß der erste Monopolanspruch im Zusammenhang mit Godesberg begann. Richard von Weizsäcker hat ein paar Mal darauf hingewiesen. Das war das Monopol der Demokratie. Dann haben wir darauf geantwortet. Nicht genug damit. Dann bekamen wir die Debatte über den Monopolanspruch für den Frieden von der linken Seite. Dann haben wir darauf geantwortet. ,Dann kriegten wir, vor der letzten Wahl, den Monopolanspruch für das Soziale auf Ihrer Seite. Nachdem wir mit den drei Dingen defensiv kaum fertig wurden, haben wir gesagt: Jetzt nehmen wir es mal offensiv: Freiheit statt Sozialismus. Das wird die Auseinandersetzung bleiben.
Aber was soll dieser Appell, Monopole wegzunehmen, wenn Willy Brandt zugleich ein neues aufstellt, wenn er in seiner Allwissenheit — ich kann nur sagen: unargumentativ; es tut mir leid, dies
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Wort zu sagen, es paßt sonst nicht zu ihm, aber: dieses Argument ist arrogant —, sagt, zu dieser Politik, zu der kläglich gescheiterten Politik gebe es „keine Alternative". Mindestens gibt es die Alternative, verschlissene Leute durch frische Leute auszuwechseln.
Das ist immer dasselbe wie vorher Wahrheit und Ehrlichkeit.
— Herr Mattick, das bestreite ich gar nicht, daß ich nicht mehr so frisch bin. Aber Sie bestreiten doch auch gar nicht, daß bei allem, was man schlecht macht, auch manches besser wird. Sie finden eigentlich meine Rede heute — — Herr Dohnanyi sitzt zu meiner Freude endlich wieder vorne, wo er auch hingehört; herzlich willkommen, Herr Dohnanyi.
Das ist immer sehr gut. — Ja, Sie waren eben ein wichtiger Zwischenrufer, Herr Dohnanyi. Herr Mattick scheint es geahnt zu haben: Ich wollte noch auf ein Thema kommen, das mehr in der Nähe seiner Hauptbetätigung in der Politik liegt. Der Bundeskanzler sprach von Freiheit. Zugleich vergaß er, von Menschenrechten zu sprechen, und das, obwohl er zugleich über die Lage der Nation berichtete. Über Freiheit muß gestritten werden; und werden hoffentlich Demokraten streiten, solange sie wollen und solange wir Demokratie haben. Es muß gestritten werden über ihren konkreten Inhalt, auch über ihre Voraussetzungen und ihre soziale Basis. Aber es muß auch f ü r Freiheit gestritten werden und gegen die Unfreiheit. Und es muß gestritten werden für ihre bessere soziale Basis.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Pastor Brüsewitz kann das nun nicht mehr. Ich hätte erwartet -und ich sage dies ganz ruhig —, daß der Herr Bundeskanzler, nachdem er gestern die Mitmenschlichkeit zur politischen Kategorie erhoben hat, zu diesen mitmenschlichen Problemen im ganzen Deutschland ein Wort gefunden hätte. Dies war mir — Verzeihung — zu geschäftlich, zu fühllos. Da ist nur die Rede von der DDR, kaum aber von den Menschen dort. Dabei ist der Freiheitswille dort so unübersehbar — und das sollte der Autor im „Vorwärts", auf den ich nachher noch komme, auch einmal sehen — wie die Nichtbereitschaft unserer Landsleute drüben, sich diesen Freiheitswillen durch Mark und Pfennig eines etwa irgendwo versprochenen größeren Wohlstands abhandeln zu lassen.
Die Lage, Herr Bundeskanzler, die hier gestern geschildert wurde, kann so nicht über die kommenden Tage stehenbleiben. Mir ist bei der Lage, wie Sie sie schildern, wie die Koalition sie schildert — denn das war ja ein Koalitionspapier —, nicht geheuer.
Da spricht die NATO in der vergangenen Woche von der anwachsenden Übermacht der Sowjetunion, und davon nimmt man kaum Notiz; ein Halbsatz in Ihrer Erklärung, aber keine Konsequenz.
Und da schreibt — das bewegt die Bürger; in den letzten Wochen konnte man das überall lesen -Carl Friedrich von Weizsäcker, der nächste Weltkrieg sei eher wahrscheinlich. Aber bei der Regierung kommt das nicht vor, nicht einmal eine Andeutung des Problembewußtseins.
Da erhöht die DDR ihre Verteidigungsausgaben;
da zerrt Moskau sichtbar am Berlin-Status; da beutet die Sowjetunion — man kann dies leider nicht anders sagen — die DDR aus wie eine Kolonie; da werden Künstler ausgewiesen; da melden sich Deutsche zur Auswanderung. Aber bei der Regierung kommt das alles nicht vor.
Da schreibt ein Literat aus dem Gefängnis von „Bullen, Bonzen und Bürokraten"; da dichtet einer „Glück gibt's nur für Tote und für Kinder hier" ; und da schreibt dann einer hier im Westen — in der FAZ —, „in Deutschland kommt etwas in Bewegung, und eine sozialistische Linke formiert sich untergründig in beiden Teilen". Aber bei der Regierung kommt das nicht vor.
Ich fürchte, die Regierung hat auch hier — wie bei den Renten — am grünen Tisch den Boden unter den Füßen verloren. Akten sind gut; im Volk leben ist besser.
Da war zu lesen — das muß ich jetzt behandeln, nachdem es vorher eine Zwischenfrage notwendig machte —, die SPD sei, anders als die FDP und der Außenminister, für Konzessionen bei MBFR, also bei den Abrüstungsverhandlungen in Wien. Und dabei besteht dort die Gefahr — das wissen wir noch aus unserer Regierungszeit, und das weiß jedermann im Hause, der sich darum kümmert —, daß schlußendlich aus Wien nur ein internationaler Vertrag über die Größe und die Stärke der Bundeswehr wird; und dies wäre doch schrecklich.
Ich muß dazu ein paar Worte sagen, weil der Kollege Brandt das in einer Weise geschildert hat, die wirklich — auch mir gegenüber — nicht in Ordnung ist. Ich möchte zunächst dartun, daß der Angriff des Kollegen Brandt auf meinen Kollegen Alois Mertes in Form und Inhalt vollkommen ungerechtfertigt war.
Wenn die verehrten Kollegen von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion hören werden, was ich dazu vortrage, werden sie mindestens Verständnis für diese meine Haltung — und damit auch für die des Kollegen Mertes — finden. Ich habe an den früheren Bundeskanzler die Frage gestellt, die Sie gehört haben, und er hat mir dann — nach dem Protokoll — eine „unerlaubte, voreilige Schlußfolgerung" unterstellt.
Worum geht es? Die Position des Westens bei diesen Verhandlungen ist, um das konkret zu sagen: Bitte zuerst eine Vereinbarung über ein paritätisches Ergebnis, also eine qualitativ und quantitativ ausgewogene Situation zwischen beiden Blöcken.
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Und wenn das der Fall ist, fangen wir mit einleitenden Schritten an.
Der Osten dagegen sagt: Keine Vereinbarung über ein paritätisches Ergebnis, über einen ausgewogenen Zustand, sondern ein Festschreiben der Disparität, und sofort mit einleitenden Schritten anfangen. Der Westen sagt: Keine Vereinbarung über nationale Höchstgrenzen. Und das ist eine Meinung in der ganzen NATO und bei allen, die dort am Tisch sind, zugunsten der Bundesrepublik Deutschland und zugunsten ganz Deutschlands; deshalb nehmen sie sie ein. Wir wollen, so sagt der Westen, eine Vereinbarung mit dem anderen Block, von Block zu Block, über Höchstgrenzen, und dann soll in jedem Bündnis — sprich hier: in der NATO — intern und ohne Mitsprache oder Einfluß oder Vetorecht der Sowjetunion — das heißt es doch konkret — bestimmt werden, wie groß die Bundeswehr ist, wie groß die Streitkräfte der Franzosen — aber die sind ja ausgeschieden —, der Holländer, der Belgier und anderer sind. Der Osten dagegen möchte eine Vereinbarung über nationale Höchstgrenzen, also einen Vertrag über das Ausmaß und die Stärke der Bundeswehr.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen: Käme es zu einer Ost-West-Vereinbarung über Stärke und Größe der Bundeswehr, dann säße die Sowjetunion in allen Fragen, die unsere Sicherheit betreffen, mit am Tische,
dann würden wir getrennt sein von unseren Freunden in Frankreich, in Holland, in Belgien, in Großbritannien, in den USA. Dies wäre der Anfang der Isolierung, die mögliche Vorstufe der Neutralisierung und — vom Osten gewollt — die Vorstufe der Finnlandisierung der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn ich das frage, nachdem klargeworden ist, daß in der Frage „nationale oder internationale Verabredung?" der punctus puncti liegt, dann sagt der Kollege Brandt, das sei eine „unschlüssige Schlußfolgerung".
Verehrte Damen und Herren, er selbst hat sich an verschiedenen Stellen dazu geäußert. Ich konnte nicht so schnell alles besorgen, aber es reicht hin, das Interview, das Herr Bell, ein im ganzen Haus geschätzter, solider Journalist, für den „GeneralAnzeiger" mit ihm am 9. Dezember gemacht hat, nachzulesen:
Man sollte wenigstens mit zwei prinzipiell wichtigen Schritten beginnen, nämlich mit einer ersten, wenn auch nur symbolischen Verringerung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte innerhalb des in Wien abgesteckten geographischen Rahmens, und daran anschließend mit einer ersten, wenn auch verständlicherweise bescheidenen Begrenzung nationaler Streitkräfte im gleichen Rahmen. Man muß endlich anfangen, selbst wenn diese ersten Schritte wirklich nur sehr bescheiden sein können.
Da steht genau, was Herr Mertes gesagt hat. — Hier erklärt der frühere Bundeskanzler Brandt etwas als erste Schritte, was nach geltenden westlichen Verhandlungskonzept — in unserem Interesse — bis zu dieser Stunde ein Schritt ist, der auch nicht am Ende stehen darf, weil niemals eine internationale Ost-West-Verabredung über unsere Sicherheit allein zustande kommen sollte. Dies ist nicht nur eine Vorleistung im klimatischen Bereich, dies ist das Weggeben der Substanz.
Es wäre schon des Punktes wert — denn dies gibt Unsicherheit —, wenn der verantwortliche Minister der Bundesregierung, der Herr Außenminister also, hierzu jetzt Klarheit schaffte; denn natürlich wird er und werden alle deutschen Diplomaten ab morgen gefragt: Was ist nun die deutsche Position? Ist das Wort verläßlich, das hier Helmut Schmidt gesagt hat, welches anders lautete, oder gilt das, was der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hier — ob in einem Alleingang oder wie immer; ich will nichts unterstellen — gesagt hat? Der Herr Außenminister hat hier die Chance, durch eine Erklärung seinen Mitarbeitern draußen vor Weihnachten viel Unruhe zu ersparen und viele Besuche anderer bei ihnen über das wirklich Gemeinte.
Verehrte Damen und Herren: Es ist zu lesen, daß die Juso-Vorsitzende — ich habe das zweimal lesen müssen, und ich habe nachgelesen, ob ich mich vielleicht verlesen habe; ich habe als Quelle den „Nachrichtenspiegel" der Bundesregierung genommen — den Westen, aber nicht etwa den Osten auffordert, die Verteidigungsausgaben einzufrieren und neue Beschaffungen zu unterlassen.
Es ist dann zu lesen, und zwar im „Vorwärts", angeblich von hoher Seite inspiriert — wenn man den Leitartikel liest, weiß man: Das meint das Blatt und nicht nur jemand, der da mal geschrieben hat —, man solle hier bei uns „der Verteufelung des Kommunismus Einhalt gebieten", die DDR stabilisieren und dort den Lebensstandard heraufsetzen.
Verehrte Damen und Herren — ich gucke nur auf diese Seite; ich glaube nicht, daß das bei Ihnen (zur FDP) jemand denkt —, diese Politik führte doch dazu, daß die DDR und ihre Menschen sich noch mehr dem Neid, dem Druck und der Ausbeutung durch die Sowjetunion ausgesetzt sähen.
Sie führte doch dazu, daß dort drüben allein die Bonzokratie verstärkt würde. Sie verbesserte nicht eine von den menschlichen Realitäten, von denen ich vorher sprach.
Wenn dieser Herr am Schluß in Ihrem „Vorwärts" schreibt, daß er selbst eine Weile überlegt habe, ob er nicht endgültig in die DDR — „in die Zone", wie er sagt — übersiedeln wollte, und dann gesteht — zwar in Klammern: ungern —, daß er während der
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zweieinhalb Jahre seines Arbeitsaufenthalts in der DDR manchmal daran gedacht habe, aber zu feige und zu bequem war, dies auch nur zu Ende zu erwägen; er sei dies noch immer —, dann ist das doch das beste Zeugnis gegen das, was er hier schreibt. Auch davon kommt bei dieser Koalition nichts vor.
Es berichtet dann vor kurzer Zeit die Regierung der USA ihrem Parlament und ihrer Bevölkerung über die Ergebnisse von Helsinki, von KSZE. In diesem Bericht wird die Gewährung der Menschenrechte in Deutschland angemahnt. — Aber das kommt bei der Regierung nicht vor.
Verehrte Damen und Herren, dies, glaube ich, mußte hier gesagt sein, nicht, weil wir dies so wollen, sondern weil wir dies bedauern. Aber wir können doch nicht an den Realitäten vorbeigehen, gerade wenn wir den letzten gestrigen Absatz des Herrn Bundeskanzlers nehmen!
Es ist wahr, daß man uns damals, schon vor den Ereignissen in der Tschechoslowakei 1968 — wenn ich mich recht erinnere, durch Dean Rusk —, wissen ließ: Wahrscheinlich halten die Kommunisten die Koexistenz nicht aus. Er hatte damals recht. Heute spürt jeder, daß wieder kälterer Wind aus dem Osten bläst. Das paßt uns nicht. Ich rate nun zwar nicht, stärker zurückzublasen, aber ich rate auch hier zu Wahrheit, zu Ehrlichkeit und zu Gelassenheit und nicht zu irgendeiner Kitterei. Wir sehen doch, daß SALT und MBFR nicht vorankommen, weil die Forderungen des Ostens, der Kommunisten unerfüllbar sind. Wir können doch die Sache nicht wieder flottmachen, indem wir erst einmal in unserer Substanz nachgeben. Auch in Rumänien und in Jugoslawien spürt man das doch. Was immer davon auf China oder blockinterne Gründe zurückgeht, können wir irgendwann diskutieren.
Den Kommunisten bleibt eben die Periode der Schwäche und des Attentismus, die zur Zeit den Westen wie ein Virus befallen hat, nicht verborgen. Und sie spüren natürlich sehr unmittelbar — auch davon war hier nicht die Rede —, daß der Westen einer räsonablen politischen und materiellen Kreditlinie im Osthandel nahegekommen ist. Das spüren die doch! Und sie spüren doch, wie sie drüben aus dem Korb III befragt werden. Das sieht man überall in der Welt. Nur bei unserer Regierung kommt es nicht vor.
Dort gehen dann — das gehört hierher; denn dies ist hier heute ja auch eine Aussprache über die Lage der Nation — aufmüpfige DDR-Bürger — das ist das Neue daran: sie gehen direkt, sie gehen sichtbar, sie gehen durch den Vordereingang — zu ihren Behörden und begehren Ausreise und Ausbürgerung.
— Ich bestreite das doch gar nicht. Ich habe soeben gesagt, daß sie sich auch auf den Korb III von Helsinki berufen. —
Die Sowjetunion beutet die DDR aus, Herr Mattick, wie Imperialisten im vorigen Jahrhundert. Sie erhöht ihre Rohstoffpreise, ist aber nicht bereit,
Preiserhöhungen der DDR für deren Lieferungen entgegenzunehmen. Die Lage ist so, daß Millionen von uns — ich begrüße das; ich tue es selbst, wie man weiß — in die DDR reisen können; daß 70 % drüben unser Fernsehen sehen und die Funktionäre deshalb nicht mehr durchkommen, wenn sie die Lage in der DDR mit der in Bulgarien und der Tschechoslowakei vergleichen. Hier werden wir, die Bundesrepublik Deutschland, zum Maßstab genommen. Dies ist doch wichtig. Da hören sie über unsere Medien die Kritik, die Kommunisten aus Spanien, aus Frankreich, aus Italien an der Lage in der DDR üben.
Die sowjetischen Statthalter fühlen sich unbehaglich. Sie bildeten die Spitze der DDR um, und zwar im Sinne von Härte nach innen und von Sowjettreue erprobt, nach außen. Das Vorgehen gegen Reiner Kunze und Wolf Biermann ist doch nur Teil dieser Politik. Um dann auch noch den letzten Zweifel für die auszuschließen, die das noch nicht begriffen hatten, geht der Botschafter in Ost-Berlin, Herr Abrassimow, vor das Fernsehen, richtet eine Ansprache an die Bevölkerung drüben und erklärt unverblümt, es gelte, „die Verflechtung beider Länder zu verdichten", man begrüße die „Umbesetzung in der Spitze". Und er betont dann — dieses Zitat muß wörtlich hier in die Debatte —:
fühlen wir sowjetische Menschen uns auf dem Boden der mit uns brüderlich verbundenen sozialistischem DDR wie zu Hause.
Das war doch nicht ein Kompliment des Wohlbehagens, weil er sich freute, in einer Idylle zu leben, sondern das hieß doch: Hier stehen wir, hier bleiben wir, hier haben wir das letzte Wort! So brutal ist das lange nicht gesagt worden. Was muß in der DDR los sein! Was muß dort an menschlicher Realität sein, daß so etwas gesagt und getan wird. Aber von all dem kommt bei der Koalition nichts vor.
Da es vorher, als Helmut Kohl nur den Namen Wolf Biermann nannte, bei Ihnen in der SPD ganz merkwürdige Reaktionen gab, möchte ich darauf zurückkommen. Man soll so etwas schließlich nicht im Ungewissen lassen, sondern immer feststellen, was mit diesem urtümlichen Gemurmel eigentlich gemeint war.
— Herr Matthöfer, wir haben nicht die Absicht, Wolf Biermann oder Reiner Kunze oder andere — ich nenne hier nur diese beiden Namen — etwa zu Säulenheiligen unserer Ordnung — oder was auch immer — zu stempeln.
Wir haben auch nicht die Absicht, den Mut und die Zivilcourage dieser Männer geringzuachten. Deshalb sage ich Ihnen: Was muß drüben los sein, daß deren Wort — doch mindestens kommunismus-immanente Kritik — drüben verboten wird, daß man es nur aus unseren Medien kennt? Was muß drüben los sein, daß man gegen diese Männer mit Gewalt vorgeht? Erlauben Sie mir, hier einige Sätze zu zitieren. Da schreibt der eine:
112 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
Dr. Barzel
Sagt, wann haben diese Leiden endlich mal ein Ende? — Wenn die neuen Leiden kommen, haben sie ein Ende.
Oder:
In diesem Lande leben wir wie Fremde im eigenen Haus.
Oder:
Warum _einen Wecker stellen? Das Erwachen kommt bald und spät. Der eingeschlagene Weg schlägt zurück. Keine Seitenstraße, kein Fluchtweg bleibt.
Das ist ein Stück von der menschlichen Realität, von der man eigentlich etwas hören wollte, wenn der 8. Deutsche Bundestag mit einer Regierungserklärung zugleich die Lage der. Nation debattiert.
Ich möchte mich im Gesamtzusammenhang dieser Politik noch einmal an den Herrn Bundeskanzler wenden, denn bei mir ergibt sich langsam ein Bild. An Hand eines Zitates aus diesen Tagen möchte ich verdeutlichen, welche Hoffnungen man in der NATO hegt:
Die Schicksalsgemeinschaft beiderseits des Atlantik kann ihr Wesen nur erhalten, wenn sie stark — willensstark — genug bleibt, um unerobert und ungebeugt wirken zu können, bis dereinst die Bedrohung durch die östliche Despotie sich von innen her verringert.
Das ist gut gesagt. Herr Bundeskanzler, dazu würde ich gern von Ihnen etwas hören.
Sie haben nach einer Mitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. September für ein Interview in der „Bunten Illustrierten" am 30. September 1976 folgendes gesagt — ich zitiere —:
Bismarck ist für einen Sozialdemokraten, innenpolitisch betrachtet, zwar ein Greuel; aber seine Politik der Balance, des Sich-Vertragens und Verträge-Schließens auch mit Rußland ist noch nach 100 Jahren ein unwahrscheinlich aktuelles Beispiel für die Notwendigkeit der deutschen Politik, sich stets um Ausgleich und Gleichgewicht im Verhältnis zu vielen Nachbarn Deutschlands zu bemühen und jede Feindschaft mit Rußland zu vermeiden, auch wenn uns die zaristischen oder die kommunistischen Nasen im Kreml nicht gefallen.
Ich will es mir nun nicht so einfach machen, zu sagen: Wir haben es nicht mehr mit Rußland, sondern mit der Sowjetunion zu tun. Herr Bundeskanzler, dies ist nicht das einzige, was sich an der Lage geändert hat. Bitte übernehmen Sie sich nicht! Wir in der Bundesrepublik Deutschland allein können weder Gleichgewicht noch Ausgleich bestimmen. Die Lage ist anders. Es gibt nicht mehr nur e i n Deutsches Reich, sondern zwei Staaten in Deutschland. Einer ist von diesem Feind besetzt; der andere ist frei, weil wir im Westen Freunde haben. Das ist die Lage. Unsere Politik wird nach Osten nur aufgehen, wenn sie zuvor — ich wiederhole: zuvor - nach Westen stimmt. Glauben wir denn — hier
erhalten die MBFR-Verhandlungen doch einen Hintergrund — Ausgleich und Gleichgewicht allein erreichen zu können? Kommen wir nicht auf die schiefe Bahn, wenn wir ein Wohlverhalten an den Tag legen, das nirgendwo beschrieben ist, und Unrecht nicht mehr beim Namen nennen? Dies ist doch die Frage, die man stellen muß, wenn man — auch draußen — die Äußerungen an diesen beiden Tagen vor den Hintergründen wachen Ohres verfolgt hat.
Da ich, wie ich höre, der letzte Redner für die Opposition bin, würde ich es mir gern erlauben, am Schluß dieser Debatte — dies ist sicherlich nicht stilwidrig — unseren Bundespräsidenten ausnahmsweise einzubeziehen. Wenn ich dies in einem positiven Sinne tue, ist dies, wie ich glaube, nicht streitig. Er sagte dieser Tage — es war am 15. Dezember; Sie können ungefähr ahnen, bei welcher Gelegenheit und wann das war —:
Wir können
— so stand es in den Zeitungen —
nicht übersehen, daß in den letzten Wochen einige politische Entwicklungen das Verhältnis der Bürger zum Staat und zu den demokratischen Institutionen nicht unberührt gelassen haben.
Ich glaube, das geht uns alle an. Viele haben in Abgründe gesehen und haben Grenzen erkannt. Wenn wir uns am Schluß des ersten Teils der Debatte vielleicht alle vornehmen, uns vor allem an unsere Pflichten zu erinnern und nicht auf unsere Rechte zu pochen, dann kann vielleicht das Ganze ein Donnerwetter gewesen sein, — und aus dem 8. Deutschen Bundestag wird doch noch etwas.
Verehrte Damen und Herren, wir haben heute die Beschlüsse der OPEC auf dem Tisch. Das bedeutet wirtschaftlich: Sturm steht ins Haus. In einer solchen Lage, glaube ich, haben die Wähler einen Anspruch auf die Qualität und die Verläßlichkeit der Politiker.
Von diesem Anspruch kann — es tut mir leid — die gestrige Erklärung nicht bestehen. Mit einer solchen unqualifizierten Arbeit kommt niemand in diesem Lande — hier muß jeder Qualitätsarbeit leisten — durch: kein Schüler, kein Arbeiter, keine Hausfrau. Herr Bundeskanzler, schreiben Sie zum Januar nach, was heute fehlt.
Versuchen wir dann, darüber zu diskutieren, ob dies ein Ausrutscher war und wir dann vielleicht einen Start haben. Das wenigstens, was wir bisher gehört haben, war weder die Lage, in der sich Deutschland und die Deutschen befinden, noch war es die verpflichtende Absichtserklärung einer neuen Regierung, noch war dies ein neuer Anfang. Dies war einfach zu wenig. Mit einer solchen — verzeihen Sie — Schludrigkeit käme keiner unserer Mitbürger in seinem Berufsleben durch.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 113
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ganz sicherlich ist es Recht und Pflicht der Opposition, nicht nur das zu kritisieren, was die Regierung nach langer Erwägung meint vortragen zu sollen, sondern auch Provinzen zu entdecken, von denen die Opposition meint sagen zu sollen, sie seien nicht ausreichend behandelt worden. Das ist ein normaler Verlauf einer Debatte.
Nicht ganz richtig ist, wenn Herr Kollege Barzel eben zum Schluß seiner Intervention meinte, die Regierungserklärung sei keine verpflichtende — wie haben Sie gesagt? — Absichtserklärung. Dies ist nicht in Ordnung, Herr Barzel. Sie ist schon als Verpflichtung gemeint. Sie ist auch auf vier Jahre gemeint. Nicht alle Prognosen, weder außenpolitischer noch außenwirtschaftlicher noch binnenwirtschaftlicher Art, können freilich für vier Jahre verpflichtend abgegeben werden; auf die Kunst der Prognose komme ich gleich noch einmal zurück.
Sie haben in dieser Regierungserklärung aber auch — wenn ich richtig mitgeschrieben habe — den „geistvollen Ansatz" vermißt und haben geglaubt oder gemeint, es sei vorher von jemandem hinter vorgehaltener Hand ein solcher Ansatz angekündigt worden. Sie haben liebenswerterweise selber eingeräumt, daß ich mich an der Grundwertedebatte an mehreren Orten im Laufe der letzten Jahre beteiligt habe, übrigens auch einmal hier in diesem Bundestag, es ist jetzt sieben Monate her, auf Anzapfungen durch Sie und Herrn Kollegen von Weizsäcker antwortend. Aber ich bin und bleibe der Überzeugung, daß es nicht die Aufgabe der Bundesregierung als Verfassungsorgan ist, gleichzeitig die Rolle des Staatsphilosophen zu übernehmen. Sie kann das bisweilen tun. Aber es gehört nicht zu ihren von der Verfassung gemeinten Aufgaben. Von meinem persönlichen Stilgefühl her liegt es mir weniger, es an diesem Ort zu tun als an anderen Orten, wo man sich begegnet.
Ich will mich nicht damit aufhalten, Ihnen zu sagen, daß ich den Gebrauch des Ausdrucks „Maske" aus Ihrem Munde als ungewöhnlich empfunden habe.
— „Worthülsen und Masken" haben Sie gesagt. Bei Herrn Strauß ist man abgestumpft gegen eine Reihe solcher — entschuldigen Sie, jetzt brauche ich auch einmal ein scharfes Wort — Injurien. Aber bei Ihnen hat es mich berührt.
Herr Strauß hatte bedauert, daß die Debatte „aufgespalten" werden müsse. Dazu muß ich nun eines ganz deutlich sagen: Es liegt weder an der Regierung noch an den beiden diese Regierung tragenden Fraktionen, daß Sie nur eine Kurzdebatte gewünscht haben, meine Herren von der CDU/CSU.
In Wahrheit ist es so, daß Sie sich erst vor fünf
Tagen darauf geeinigt haben, eine gemeinsame
Fraktion zu bilden, und deshalb noch nicht in der
Lage sind, eine einzige Alternative zu einem einzigen Thema hier vorzuführen.
Jedermann in diesem Hause weiß, daß der Deutsche Bundestag nach zwingendem Verfassungsrecht nicht früher zusammentreten durfte als diese Woche, daß wir zum verfassungsrechtlich frühestmöglichen Zeitpunkt die Regierung gebildet und in Ihrer Anwesenheit vereidigt haben und daß die Regierung schon am nächsten Tage ihre Regierungserklärung abgegeben hat. Wir haben keinen Tag versäumt. Wir haben Ihnen unsere Bereitschaft erklärt, heute, morgen, Montag, Dienstag, wenn es nötig sein sollte, auch am Mittwoch — ich bin nicht dafür gewesen, weil es mein Geburtstag ist —, aber immerhin auch am Mittwoch zu debattieren.
Sie haben das aus Gründen, die ich nicht noch einmal kritisieren will, und mit Argumenten, die ich nicht kritisieren kann, nämlich mit Rücksicht auf die Weihnachtswoche, nicht gewollt. Das ist Ihr Recht. Nur kann sich Herr Strauß nicht beklagen, es sei unzulässig, daß die Debatte heute nur zu einem kleinen Teil stattfinde.
Dadurch, daß hier ein Mitglied der Bundesregierung erneut das Wort nimmt, ist ja nach den Regeln der Geschäftsordnung die Debatte neu eröffnet. Ich habe den Eindruck, nach dem, was Herr Barzel über MBFR gesagt hat, wird auch der Außenminister noch das Wort nehmen. Sie haben also viele Gelegenheiten, auf Details einzugehen, die Sie anbieten könnten, wenn Sie es könnten oder wenn Sie es wollten, Herr Strauß.
Herr Strauß hat gesagt — wenn ich richtig mitgeschrieben habe —, die internationale Lage sei „keine sonnenbeglänzte Wiese". Das ist wahr. Sie haben sie dann in reichlich düsterer Weise geschildert. Ich komme gegen Schluß meiner kurzen Bemerkungen darauf noch einmal zurück. Aber wir hatten sie ja auch nicht so dargestellt wie eine sonnenbeglänzte Wiese, Herr Strauß, sondern wir haben in dem un-polemischen Tone einer Regierungserklärung
und in dem vorsichtigen Tone, der auch gegenüber den Nachbarn in West und Ost und Süd notwendig ist, darauf hingewiesen, daß die Lage in mancherlei Weise von Ungewißheiten gekennzeichnet ist. Ich hatte Sie ausdrücklich daran erinnert — Herr Barzel sprach eben von Ölpreisen —, daß ich dem Bundestag vor zweieinhalb Jahren schon darzutun versucht habe, daß uns die internationale wirtschaftliche Entwicklung Sorgen bereitet. Diese sind ja inzwischen nur zum Teil kleiner und in den allerletzten Tagen zum Teil eher wieder größer geworden. Ich pflichte in diesem letzten Punkte Herrn Barzel bei.
Aber wohin soll es eigentlich führen, wenn Herr Strauß meint, die Bundesregierung hätte hier vor-
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Bundeskanzler Schmidt
zutragen, daß durch eine „strategische Überlegenheit der Sowjetunion" die NATO-Position „ausgehöhlt" worden sei? Sind Sie wirklich der Meinung, daß die Bundesregierung dieses Urteil zu teilen und hier regierungsamtlich dem Bundestage, der deutschen und der Weltöffentlichkeit vorzutragen hätte? Welche Konsequenz sollte, wenn das Ihr wirkliches Urteil wäre, was Sie ausgesprochen haben, denn nach Ihrer Meinung die Bundesregierung oder der Westen daraus ziehen? Sie haben über die Konsequenzen dieses Teils Ihres düsteren Gemäldes nichts gesagt. Ich werfe Ihnen aber nicht nur die Konsequenzlosigkeit vor, sondern ich werfe Ihnen auch vor, daß das Urteil falsch ist.
In der Tat drückt die Regierungserklärung in dem Tone, der einer solchen Regierungserklärung angemessen ist, Besorgnis z. B. darüber aus, daß die sowjetische Rüstung über das hinausgeht, was für Verteidigungszwecke nötig ist. Sie werden das gelesen oder gehört haben. Wenn man es gegenüber allen Menschen, mit denen man es zu tun hat, und gegenüber allen Staaten auf der Welt, mit denen man es zu tun hat, als Regierung in der Sprache ausdrücken würde, die Sie vorhin angeschlagen haben, würden wir sehr bald alle unsere Freunde und unsere Partner auf der Welt verloren haben,
ganz abgesehen davon, daß ich bei Ihnen einen sehr deutlichen Widerspruch empfinde.
Man kann zwar Ihrer Meinung sein, daß die Welt draußen düsterer zu beurteilen sei, als es durch die Regierung geschehen ist. Man kann zweitens Ihrer Meinung sein, daß mehr geschehen müsse — jetzt sage ich es einmal in meinen Worten —, um vom Vorstand einer kleinen Wohnungsbaugenossenin einem Vorort Hamburgs, in meinem Wahlkreis, bis hin zu den Vorständen der größten deutschen Industriekonzerne die Risikobereitschaft, die Bereitschaft zum Investieren — zu Erweiterungsinvestitionen, wie Sie gesagt haben — zu erhöhen, daß die Regierung etwas tun müsse, um die Stimmung so zu beeinflussen, daß diese Bereitschaft gehoben werde. Dieser Meinung kann man auch sein. Aber wie jemand wie Sie, Herr Strauß, in ein und derselben Rede beides vertritt — auf der einen Seite die Regierung tadelt, daß sie das Bild nicht düster genug gemalt habe, und sie auf der anderen Seite tadelt, weil sie nicht genug täte, um die Stimmung zu heben, die doch im Grunde durchaus gehoben werden könne ; es komme immer nur auf die Regierung an: wenn sie genug freundliche Stimmung mache, werde wieder investiert —, ist mir unverständlich. Beides zusammen geht nicht.
Ich bin in der Tat der Meinung, daß die Bundesregierung weder die außenpolitische, die weltpolitische noch die weltwirtschaftliche Lage anders darstellen darf, als sie sie sieht; übrigens auch die binnenwirtschaftliche Lage, überhaupt auf keinem Felde die Situation anders darstellen darf, als sie sie sieht. Nur denke ich, daß nach der Darstellung, die
wir gegeben haben, Herr Abgeordneter Strauß, Anlaß zur Hoffnung besteht, wie ich es nannte, oder, weil diese Lagebeurteilung von einem vorsichtigen, vorhersehenden Realismus geprägt war, kein Anlaß besteht, wie Sie es suggeriert haben, allüberall Flinten ins Korn zu werfen.
Herr Barzel sagt eben mit Recht, seit Bismarck habe sich etwas geändert, Deutschland sei geteilt und kleiner geworden, wir seien nicht mehr in der Lage, alle übrigen Kräfte zu balancieren. Dazu war Bismarck übrigens auch nicht in der Lage; so stark war er weiß Gott auch nicht. Aber richtig war an dem Einwand von Herrn Barzel, daß sich die europäische Lage seit Bismarcks Zeiten — 100 Jahre ist es her — geändert habe. Nur, dann kann doch nicht dieselbe Fraktion durch den Mund ihres zweiten Sprechers Strauß suggerieren, die Bundesregierung solle die von ihm beklagte düstere Weltlage gefälligst ändern, das gehe schon, wenn sie sich nur anstrengen würde.
Herr Strauß hat gesagt — ich meine, ich habe wörtlich mitgeschrieben —, anderswo seien Staaten schon aus dem Ruder gelaufen. Das mag ein bißchen drastisch ausgedrückt sein; da Sie Namen nicht genannt haben, wird sich hoffentlich niemand beleidigt fühlen und Sie zum Oberfeldwebel erklären.
Dann hat er hinzugefügt, auch bei uns bestehe diese Gefahr. Es ist ja wirklich nicht so, daß unser Schiff durch diese Unruhe des Weltmeeres ohne jede Gefährdung geleitet werden könnte. Das ist schon wahr.
Es ist auch wahr, daß in den meisten demokratischen Staaten der Welt, die während dieser Weltwirtschaftskrise ihr nationales Parlament neu gewählt haben, Regierungen gewechselt haben, nicht nur sozialdemokratisch geführte Regierungen, auch andere. Es gibt auch Staaten, die mit Minderheitsregierungen regiert werden müssen. Herr Strauß war so liebenswürdig, nur von Sozialdemokraten zu sprechen. Er kann ja einmal in andere Richtungen Europas schauen, um festzustellen, daß es so selbstverständlich nicht ist — wenn man das einmal sagen darf; und so war es gemeint, Herr Strauß —, daß unsere Demokratie aus den Wahlen wiederum stabil hervorgegangen ist, daß bei uns politisch extreme Gruppen eben nicht ins Gewicht fallen, wenn eine Regierung gebildet werden muß — und tatsächlich gebildet worden ist —, anders als anderswo in Europa, wo Ihnen politisch näherstehende Freunde im Augenblick die Verantwortung tragen.
Herr Strauß hat gemeint, dies sei gar keine Weltwirtschaftskrise, das sei eine Binnenkrise. Das war Ihr Ausdruck. Dies ist ja nun weiß Gott ein bißchen sehr
extrem. Das wird dann garniert mit einem Zitat aus
einem Sachverständigengutachten hier; Herr Barzel
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Bundeskanzler Schmidt
tut dies in ähnlicher Form dort. Mir macht es aber Angst, daß in Amerika gegenwärtig über 8 % Arbeitslose sind. Ich will die hohen Arbeitslosenzahlen der uns näherliegenden Partnerstaaten in Europa nicht nennen. Aber was Sie uns hier vorgetragen haben, Herr Strauß, dies alles hätte auf die Investitionsbereitschaft unserer Unternehmen, auf die Risikobereitschaft bei uns, auf unsere Beschäftigungslage keinen Einfluß? Das können Sie selbst im Ernst nicht geglaubt haben, daß dies richtig sei!
Natürlich hätte man über die Lage in der Welt noch vollständiger reden können. Ich hätte darüber reden können, welch ungeheure Anstrengungen wir im Laufe der letzten Monate gemacht haben, anderen Staaten zu helfen, von denen Herr Strauß sagte, sie seien schon aus dem Ruder gelaufen, z. B. hinsichtlich ihrer Zahlungsbilanz. Ich nenne wiederum die Staaten nicht beim Namen. Wir haben ungeheure Anstrengungen unternommen, zu helfen, zum Teil direkt und bilateral, zum Teil multilateral, zum Teil auf dem Wege über lange bestehende Einrichtungen wie Weltwährungsfonds und Europäische Gemeinschaft. Es sind gegenwärtig nicht so viele Staaten in der Welt, die anderen in ihren Zahlungsbilanzkrisen helfen und helfen können. Die Bundesrepublik Deutschland ist auf diesem Felde diejenige, die an zweiter Stelle hinter den Vereinigten Staaten von Amerika steht, was die Fähigkeit angeht, anderen währungspolitisch, d. h. mit unseren Währungsreserven, zu helfen. Wir tun das ohne vertragliche Verpflichtung. Wir tun es einerseits aus Solidarität nach außen, und wir tun es zweitens, Herr Strauß, weil wir wissen, daß unser eigenes wirtschaftliches
und soziales Wohlergehen davon abhängt, daß es unseren Partnern nicht allzu schlecht ergeht.
Herr Strauß hat die Behauptung aufgestellt, in diesem Augenblick an die Adresse der Sozialdemokratie gesprochen — er hat zum Teil auch die Freien Demokraten und ihre Fraktion und ihre Minister einbezogen, hat dies an dieser Stelle aber an unsere Adresse gesagt —, wir hätten vor der Wahl versprochen, keine Steuern zu erhöhen. Dies ist wirklich nicht wahr, Herr Strauß. Glauben Sie doch nicht, daß es den Sozialdemokraten und der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion wie übrigens dem ganzen Koalitionskabinett und, wie ich annehme, auch der FDP-Fraktion heute vor zwölf Monaten zu Beginn eines Wahljahres nicht sehr schwer gefallen ist, eine zweiprozentige Mehrwertsteuererhöhung zu versprechen und bis zum Wahltag dabei zu bleiben: Jawohl, es ist unausweichlich, hier müssen Steuern erhöht werden. Das war unsere Meinung, das ist unsere Meinung bis zum heutigen Tage. Daß die Steuererhöhung im Jahre 1977 nicht zustande kommt, hängt doch damit zusammen, daß im Bundesrat Landesregierungen sitzen, die das anders beurteilen. Sie haben eine andere Form des Überblicks, offenbar auch bessere Informationen als die Bundesregierung und meinen, das sei nicht nötig. Sie haben uns das am 2. Dezember im Finanzplanungsrat mitgeteilt. Wenn sich Anfang Dezember die Länder anders verhalten hätten, wäre die Regierungserklärung in einigen Punkten anders ausgefallen, insbesondere im rentenpolitischen Teil.
Um nun zu dem rentenpolitischen Teil zu kommen: Ich will hier gern offen sagen, daß der Herr Minister Arendt, der Minister Apel und ich im Laufe dieses Jahres 1976 die Eventualverabredung getroffen hatten, Verpflichtungen oder Schulden, wenn Sie so wollen, die der Staat bei den Rentenversicherungsträgern gemacht hat, übrigens zu Zeiten, in denen Sie und Ihre Vorgänger, Herr Starke und Herr Dahlgrün, Finanzminister und Herr Katzer und andere Arbeitsminister waren, vorzeitig zu tilgen. Wir haben allerdings auch gemeint, daß, nachdem die heißen Auseinandersetzungen des September und Oktober vorüber sein würden, sich hinterher allgemein der Wille zur finanzwirtschaftlichen Konsolidierung, dessen Bund und Gemeinden allerdings stärker bedürfen als die Länder — schauen Sie sich einmal die Finanzstatistiken an! —, wieder stärker durchsetzen würde. Wir haben uns darin, was die jetzigen Urteile der Mehrheit der Länder angeht, geirrt oder getäuscht. Ich will nicht sagen, wir seien getäuscht worden, sondern wir haben uns getäuscht. Wir haben angenommen, daß nach der Wahl die Mehrwertsteuererhöhung zustande käme.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, wenn das richtig ist, was Sie soeben gesagt haben, daß Sie sich mit den beiden Ministern dahin verständigt hatten, warum hat dann das Bundesfinanzministerium mir auf meine ausdrückliche schriftliche Frage im August schriftlich geantwortet, es könne gar nicht die Rede davon sein, daß eine vorzeitige Rückzahlung ins Auge gefaßt werde?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann das nicht beantworten, Herr Kollege Althammer, weil ich den Briefwechsel, den Sie offenbar geführt haben, und auch den Briefpartner, mit dem Sie korrespondiert haben, nicht kenne. Ich kann Ihnen nur sagen, was die beiden Minister und ich verabredet hatten.
Auf der anderen Seite ist es so: In dem Augenblick, in dem wir hier sprechen, dürfte — ich bin über die allerletzten Zahlen nicht ganz im Bilde —die Gesamtheit der deutschen Rentenversicherungsträger ein Vermögen von vielleicht 34, 35 oder 36 Milliarden DM haben. Gegenwärtig liegt eine Notwendigkeit vorzeitiger Rückzahlung noch nicht vor, auch nicht von der Liquiditätsseite her, sondern von der Liquiditätsseite her wird es, vielleicht, erst im Laufe der späten Monate des nächsten Jahres schwierig, vielleicht noch etwas später, von der Vermögensseite her noch ein wenig später. Aber wir hatten uns innerlich darauf eingestellt, dies zu tun, und wir werden es vielleicht noch tun müssen. Ich nehme nicht an, daß der Herr Abgeordnete Strauß sich
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Bundeskanzler Schmidt
über die Staatsgarantie hat lustig machen wollen. Es ist übrigens nicht nur so, daß eine gesetzliche Staatsgarantie besteht, es bestehen auch in die ausdrückliche Wahl des Wortes „Garantie" gekleidete Absichtserklärungen von seiten der beiden Oppositionsparteien, auf die ich gleich zu sprechen komme.
Herr Kollege Strauß, Sie haben sich richtig an das steuerpolitische Gespräch erinnert, an dem auch Herr Kohl beteiligt war, das im Mai oder Juni 1974 stattfand.
— Im Juli 1974. Jedenfalls haben Sie sich richtig an das erinnert, was Sie da gesagt haben. Sie werden mir erlauben, etwas hinzuzufügen, an das Sie sich dann auch erinnern werden. Es war nicht der Wille der Koalition und nicht der Wille der Bundesregierung, bei Gelegenheit dieser Steuerreform insgesamt Einnahmeverzichte in der Größenordnung von 15 oder mehr Milliarden DM pro Jahr zu leisten! Daß auf diese Weise die ordentlichen Einnahmen der öffentlichen Haushalte aller Ebenen übermäßig verringert worden sind, ist das Ergebnis der Tatsache, daß die Bundestagsmehrheit in diesem Fall leider keine Gesetzgebungsmehrheit war oder, anders ausgedrückt, daß man in einigen Landeshauptstädten und im Bundesrat gemeint hat, man könne bei dieser Gelegenheit noch mehr an Einnahmeverzicht auf sich nehmen. Auch daran werden Sie sich erinnern. Es ist nicht so, daß das, was an Einnahmeverzichten für die öffentlichen Haushalte herausgekommen ist, größenordungsmäßig den Vorlagen der Bundesregierung entsprochen hätte, sondern es waren viele, viele Milliarden DM mehr.
Es war auch nicht die Absicht der Bundesregierung, daß das Kindergeld, das wir für nötig hielten, für das wir uns eingesetzt hatten, für dessen Erhöhung im Jahre 1978 wir uns einsetzen wollen, wie wir angekündigt haben, allein vom Bund gezahlt werden sollte, sondern das sollte zu Lasten der allgemeinen Einkommensteuer gezahlt werden.
Das haben uns andere aufgezwungen, die in diesem Punkt bei der Gesetzgebung einen wichtigen Faktor darstellen. Das war nicht die Mehrheit des Bundestages und das war nicht die Bundesregierung!
Ich muß nun Herrn Strauß eines sagen dürfen. Das sage ich für meine Person. Was die Rentenpolitik angeht, so habe ich zu jedem Zeitpunkt die mir zugänglichen Zahlen zugrunde gelegt. Herr Strauß hat von November 1975 gesprochen und gesagt, damals habe er schon gesehen oder man habe schon sehen können, daß man in Schwierigkeiten komme. Gewisse Schwierigkeiten, gewiß. Dazu war ja das Vermögen auch da, daß es in solchen Zeiten abgebaut wird. Das Rentenversicherungsvermögen ist doch nicht dazu da, Hypothekenbankgeschäfte damit zu treiben!
Auf eines muß ich hinweisen. Die Zahlen vom November 1975, von denen Sie meinten, sie hätten jedermann ausreichende Klarheit gegeben, stimmen
nicht mit denen vom Frühjahr 1976 überein und die vom Frühjahr 1976 nicht mit denen vom August — das war der Zeitpunkt vor dem Wahlkampf, in dem ich mich zuletzt, und zwar ausführlich und mit Mühe, damit beschäftigt habe —, die Zahlen vom August stimmen nicht mit den heutigen überein, und im Frühjahr 1977 werden sie wieder anders sein. Weshalb? Ich bin dankbar, daß ich das hier einmal deutlich sagen darf, nachdem auch Herr Kollege Barzel gemeint hat, „die Zahlen" müßten auf den Tisch.
Die Zahlen und ihre Konsequenzen kommen ja jedes Jahr in dem sogenannten Rentenanpassungsbericht, von unabhängigen, sachverständigen Menschen erarbeitet, auf den Tisch, und die Bundesregierung sagt ihre Meinung dazu. Die Beurteilung der Zahlen kommt vom Sozialbeirat. Der Sozialbeirat hat sich in diesem Herbst außer der Reihe geäußert und angekündigt, er werde sich wie üblich jedes Jahr im Frühjahr erneut äußern.
Veranlaßt durch das Gutachten außer der Reihe, haben wir uns ebenfalls außer der Reihe im Vorwege mit etwas beschäftigt, wozu wir nach dem Gesetz eigentlich erst im Frühjahr veranlaßt gewesen wären. Wir haben gemeint, uns vorher selber Klarheit verschaffen zu sollen, und haben uns dann allerdings veranlaßt gesehen, aus den Zusammenhängen, die wir alle kennen, diese Klarheit vorgreifend auf die Gesetzgebung, die erst zum 1. Juli 1977 in Kraft treten muß und die ja in jedem Jahr im Laufe der ersten Monate gemacht wird, hier im Bundestage darzulegen.
Ich will Ihnen sagen, warum sich die Prognosen dauernd ändern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burger?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Sekunde bitte noch! Lassen Sie mich den Gedanken zu Ende führen! Dann gern.
Hier sitzt Herr Kollege Katzer. Er ist eben schon als derjenige in Anspruch genommen worden, der aus seiner damaligen Sicht als Minister für Arbeit und Sozialordnung in der Zeit der Großen Koalition gemeint hat, Sozialversicherungsbeitragserhöhungen vorschlagen zu müssen, die erst später in Kraft traten. Ich kritisiere ihn ganz genausowenig — ich möchte auch nicht zwischen den Zeilen Kritik heraushören —, wie Herbert Wehner das vorhin hat kritisieren wollen. Herr Kollege Katzer hat damals, als er die seinerzeitigen Beitragseingänge in der Rentenversicherung und in der Grundrechnung das Verhältnis zwischen Rentnern hier, die Renten bekommen, und Beitragszahlern dort, die Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen, sah, und die Entwicklung der Beschäftigung und der Löhne für die späten 60er und die frühen 70er Jahre vorhersehend, gemeint, daß es nicht ohne Beitragserhöhung gehe.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 117
Bundeskanzler Schmidt
Sie haben eine Beitragserhöhung vorgeschlagen, Herr Katzer.
Im Augenblick sind wir doch noch bei dem historischen Teil, über den es zwischen uns beiden eigentlich keinen Streit gibt. Ihr damaliger Koalitionspartner ist Ihnen gefolgt und hat auch diesen Teil Ihrer Gesetzgebung in der sozialliberalen Koalition nicht wieder rückgängig gemacht.
Wenige Jahre später, im Sommer 1972, waren inzwischen zwei Dinge anders geworden.
Zum einen hatte sich die Konjunktur völlig gewandelt. Man war aus der Rezession der späten 60er Jahre heraus. Die 15-Jahres-Rechnungen der Rentenversicherung basieren ja immer auf dem relativ kurzen Zeitabschnitt der Gegenwart, der dann auf 15 Jahre in die Zukunft projiziert wird. Man war aus dem Konjunkturtal heraus. Es haben auch ein paar Sozialdemokraten daran mitgewirkt. Ich will aber nicht leugnen, daß auch ein paar Christdemokraten daran mitgewirkt haben. Nun sah alles viel besser aus. Jetzt sah die 15-Jahres-Rechnung viel besser aus.
Die zweite Änderung war, daß Herr Kollege Katzer nicht mehr Arbeitsminister, sondern Oppositionsabgeordneter war.
Dann hat Herr Katzer hier und öffentlich gesagt: Viel zuviel Vermögen wird in der Rentenversicherung aufgehäuft. Klammer auf: es wäre gar nicht so viel geworden, wenn wir die Beiträge nicht so erhöht hätten, Herr Kollege Katzer; Klammer zu.
— Ich darf Sie zitieren. Sie haben festgestellt, daß hier Überschüsse entstehen, die „den Rentnern vorenthalten werden".
Sie haben sogar eine Zahl genannt. Wenn ich sie richtig im Kopf habe — ich habe das Protokoll in diesem Augenblick nicht so schnell finden können —, haben Sie von 205 Milliarden DM Überschüssen gesprochen, die Sie damals erwarteten.
Gut, das war auch nach der damaligen Rechnung möglicherweise richtig gerechnet.
Nur, es hat noch niemals eine dieser 15-JahresPrognosen stimmen können.
Diese Prognose kann auch in Zukunft nicht stimmen. Weshalb kann sie nicht stimmen? Weil in sie mehrere variable Faktoren eingehen, die niemand wirklich prognostizieren kann. Es ist schon nicht möglich, mit hinreichender Sicherheit auch nur die variablen Faktoren des allernächsten Jahres richtig zu schätzen.
Als ich Finanzminister war, habe ich mir zu meiner eigenen Erkenntnis, um etwas zu lernen, die Mühe gemacht — oder andere haben sich die Mühe für mich gemacht —, die damals vorliegenden zehn Jahresprognosen des Sachverständigenrates wieder aus den Akten auszugraben und sie mit dem zu vergleichen, was am Ende des jeweiligen Jahres wirklich eingetreten war. Dabei ergab sich immer innerhalb von 13 Monaten ein tiefgreifender Unterschied zwischen Prognose und tatsächlichem Verlauf.
Noch viel größer sind nach bisheriger Erfahrung seit 1957 die jeweiligen Änderungen zwischen Prognosen auf dem Rentenversicherungsgebiet und dem tatsächlichen Verlauf. Es kann durchaus sein, daß die Prognosen, die wir jetzt bei den uns weiß Gott nicht leichtfallenden Ankündigungen, die wir Ihnen gemacht haben, unterstellen, zu schwarz gesehen sind. Das kann durchaus sein, Herr Barzel. Denn sie unterstellen erstens bestimmte Beschäftigungszahlen über eine lange Reihe von Jahren,
die wirklich niemand übersehen kann,
und sie unterstellen zweitens bestimmte Nominallohnerhöhungen in den kommenden Jahren,
die auch niemand wirklich vorhersagen kann. — In den Nominallohnerhöhungen steckt der reale Lohn ja mit drin. Die Vorausberechnungen unterstellen das Wachstum der Löhne aber nicht nur real, sondern auch nominal, beides. Das kann man aber nur schwer vorhersehen!
Es ist infolgedessen gar nicht sicher, ob die Zahlen vom November 1975, von denen Herr Strauß sprach, heute, zwölf Monate später, richtig sind. Ich glaube, wenn Sie sie nachprüfen, werden Sie finden, sie sind falsch. Es ist auch gar nicht sicher, ob sich die Zahlen, die wir heute unterstellen, in zwölf oder in 24 oder in 48 Monaten als richtig herausstellen werden. Sie können dann sehr viel besser sein; sie können auch durchaus schlechter sein. Das hängt von der Gesamtentwicklung in der Welt ab, von der Herr Strauß, wenn auch in einer wie mir schien, weit übertriebenen Sprache, im Grunde nicht ohne eine gewisse Berechtigung gesprochen hat.
Nun frage ich mich: Was hat die Opposition zu dem Rententhema hier heute zur Sache gesagt?
Herr Kohl hat gesagt: nicht durch Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung! Herr Strauß hat gegen unsere Absicht polemisiert, die bisherigen Überzahlungen aus der Rentenversicherung an die Krankenversicherung abzubauen. Herr Strauß hat zugleich gesagt, selbst über Beitragserhöhungen könne man reden. Das letztere war das einzige, was ich an konkreter Aussage alternativer Art gehört habe. Das ist in Wirklichkeit so alternativ nicht. Denn wir wollen hier keinen Zweifel daran lassen, daß die Aufhebung der bisherigen Überzahlungen aus der Rentenversicherung an die
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Krankenversicherung dort zu Druck führt und daß
unvermeidlicherweise auch das gemeinsam mit anderen Faktoren zu Beitragserhöhungen führen kann.
Herr Kohl hat dann gegen die „Nettolohnanpassung", wie Sie das genannt haben, polemisiert. Wir haben es nicht so genannt, wir haben es so auch nicht gemeint, wir haben dieses Wort nicht benutzt. Wir möchten es auch nicht benutzen, sondern wir haben Vorschläge vorgelegt, übrigens, Herr Kollege Barzel, ohne Änderung der seit 1957 im Gesetz stehenden Formeln. Sie haben immer von der Änderung der Rentenformel gesprochen.
Dies ist nicht die Absicht. Aber wir haben gesagt: es sollen bei den nächsten Anpassungen nach dem 1. Juli im kommenden Sommer die Renten jedenfalls nicht geringer steigen — wenn es geht, aber mehr — als die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer. Das heißt — und das hat, glaube ich, der Abgeordnete Kohl bei seiner Rede nicht ganz klar gesehen oder jedenfalls doch nicht ganz klar gesagt —, daß das sogenannte Rentenniveau nicht verkleinert wird. Das Rentenniveau gibt das Verhältnis der zu 99 °/o netto gezahlten Renten an. Kaum ein Rentner zahlt Steuern in Deutschland, es sei denn, er habe anderes nennenswertes Einkommen. Die Aussage bedeutet, daß sich das Verhältnis der Renten zu den Nettoeinkommen der Arbeitenden nicht verschlechtert. Es ist ein Verhältnis, das heute höher ist, als es je im Laufe von fast zwei Jahrzehnten gewesen ist. Das ist das Ergebnis der Politik von Walter Arendt — aber auch seiner Vorgänger, ich will das nicht abstreiten —, der vorhin hier nicht von allen Seiten ganz freundlich und nicht im richtigen Verständnis der Verdienste, die er sich um die soziale Sicherung in diesem Lande erworben hat, apostrophiert worden ist.
66 %iges Rentenniveau! Die Renten liegen bei 66 % der verfügbaren Einkommen der aktiven Arbeitnehmer. Das wird sich bei unseren Absichten nicht verschlechtern.
Herr Strauß hat dazu nun wiederum etwas ganz anderes gesagt als Sie, Herr Kollege Kohl. Herr Strauß hat gesagt: Über zukünftige Anpassungen kann man mit uns reden. Ich weiß nicht, ob mit dem Wort „uns" mehr die CSU gemeint war oder beide oder wie. Ich werfe Ihnen das ja alles nicht vor. Das ist für Sie alles genausowenig vorhersehbar für die nächsten 15 Jahre — wir müssen ja wieder eine 15-Jahres-Rechnung vorlegen in diesem Frühjahr — wie für andere. Aber wenn Sie selber schon nicht einen einzigen eigenen Vorschlag hier heute gemacht haben, dann sollten Sie, finde ich, daß Maß Ihrer Kritik an den Vorschlägen der Bundesregierung etwas herunterschrauben, es sei denn, Sie kämen endlich auf diesem Felde wie auf allen anderen Feldern der Politik mit einer einzigen christlich-demokratischen oder christlich-sozialen alternativen Lösung.
Dies muß ich nun auch, Herr Kollege Barzel, Ihnen vorhalten. Sie haben sicher eine sehr wirkungsvolle Rede gehalten.
Aber erst mal sind Sie in den alten Weizsäckerschen Irrtum verfallen, hier von dem steigenden Staatsanteil zu reden. Der Staatsanteil wird sogar noch mehr steigen, wenn die Rentenleistungen steigen. Sie stecken doch darin, die Transfer-Einkommen, in Ihrem Staatsanteil. Das müssen Sie doch nun endlich mal zur Kenntnis nehmen. Ich habe das schon einmal Herrn von Weizsäcker vorgerechnet, wie das mit dem Staatsanteil ist. Wenn Rentenausgaben steigen, dann gehen sie in den Staatsanteil, und wenn Rentenausgaben wie bisher in den letzten Jahren stärker steigen als die in der Privatwirtschaft erarbeiteten Teile des Volkseinkommens, dann müssen Sie sich nicht über einen wachsenden Staatsanteil aufhalten. Das gleiche gilt für Arbeitslosengeld und was dranhängt.
Nur, Herr Kollege Barzel, Worte können Sie gebrauchen, wie Sie wollen. Wenn Sie über den zu hohen Staatsanteil klagen, müssen Sie sagen, wo eigentlich er verringert werden soll. Wo wollen Sie denn hineinschneiden?
Ich sehe, daß der Herr Abgeordnete Kohl — mehrfach schon in den letzten Tagen — das komisch findet und darüber lacht. Herr Kollege Kohl, ich sage in allem Ernst — —
— Ich muß ja wohl das Recht haben, wenn ich kritisiert werde, zurückzufragen, was eigentlich Ihr anders machen wollt. Das muß ich ja wohl fragen dürfen.
Sie haben zum einen Vorschläge zur Konsolidierung der Renten, die im Zusammenhang mit dem Rentenanpassungsbericht in gesetzgeberischer Entwurfsform im Laufe des Frühjahrs auf Sie zukommen, beklagt. Sie haben zweitens zu hohe Belastungen der Arbeitseinkommen beklagt. Herr Strauß — oder waren Sie es? — hat das mit den 40 Prozent gesagt; es stecken auch noch Rechenfehler darin, auf die ich jetzt nicht eingehen will. Jedenfalls haben Sie die zu hohe Belastung der Arbeitseinkommen mit Abzügen beklagt. Dann haben Sie geklagt, die Leistungen für die Familien würden nicht reichen, und da solle der Staat mehr tun. Dann kommt Herr Barzel und sagt, der Staat tue schon zuviel, der Staatsanteil sei zu hoch. Da muß man doch wohl einmal fragen dürfen, wenn Sie gleichzeitig die Mehrwertsteuererhöhung durch Ihre Freunde im Bundesrat ablehnen lassen, wie eigentlich Sie die Enden aus dem Bauchladen von Vorschlägen, die Sie hier vorgetragen haben und die alle nicht zusammenpassen, zusammenbringen wollen!
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Bundeskanzler Schmidt
Herr Kohl hat mit seinem Namen unterschrieben, daß er die Finanzierung der Renten wieder in Ordnung bringen werde. Ich glaube, daß Sie das ernst gemeint haben, Herr Abgeordneter Kohl. Ich bezweifle nicht Ihre Ernsthaftigkeit,
und ich bezweifle auch nicht — im Gegensatz zu dem Zwischenrufer mir gegenüber —, daß Sie geglaubt haben, dies zu können. Aber nun tragen Sie uns doch bitte einmal vor, wie Sie denn an unserer Stelle das, was Sie als in Unordnung befindlich betrachten, wie Sie also die Finanzierung der Renten in Ordnung bringen wollten!
Wir haben nichts davon gehört!
In Wahrheit ist es so, daß Sie völlig ratlos sind und Zeit brauchen bis zum Januar, bis die nächste Debatte kommt, damit Sie sich untereinander einig werden können. Das ist die Wahrheit!
Ich sage ja nicht, daß das angenehm ist. Das ist es wirklich nicht. Das ist auch für die Beteiligten auf unserer Seite ein schweres Geschäft, mit dem wir uns schwertun. Ich habe davon gestern gesprochen.
Um noch einmal auf den Kollegen Barzel zu kommen, der von der NATO und von MBFR sprach: Er hat sich darüber gewundert, daß etwas, was der NATO-Rat erklärt hat, in der Regierungserklärung nicht mit denselben Worten wieder vorgekommen sei oder daß wir uns hinsichtlich MBFR nicht ausdrücklich auf die Position der westlichen Verbündeten gestellt hätten. — Aber lieber Herr Barzel, die Beschlüsse des Nordatlantikrates, die taktischen und die strategischen Positionen, von denen der Westen oder die Mächte des Westens in den Wiener Verhandlungen ausgehen, die haben wir doch mit beschlossen und stark beeinflußt; die sind doch nicht gegen uns, sondern zum Teil durch uns und jedenfalls mit uns so entstanden, nicht wahr!
Und meinen Sie im Ernst — um das nächste Thema anzuschneiden —, ich sollte, über die Andeutungen in der Regierungserklärung hinausgehend, nun wirklich diejenigen Staaten mit Namen nennen, die innerhalb des Bündnisses, dem wir angehören, ihrerseits im Laufe der letzten Jahre die Kampfkraft verringert haben? Meinen Sie das wirklich?
— Dann war es Herr Strauß, der mich in diesem Punkt kritisiert hat.
Es hat doch keinen Zweck, öffentliche Vorwürfe zu erheben. Und wenn Sie, Herr Strauß, eine andere Konsequenz gemeint haben sollten, falls Sie gemeint haben sollten, die Bundeswehr solle vergrößert werden, um diese Lücken auszufüllen, kann ich Ihnen nicht folgen, aus außenpolitischen wie — —
— Sicher, Sie haben etwas anderes gesagt als Herr Strauß. Das merke ich doch den ganzen Tag, Herr Kohl!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wörner?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, meinen Sie nicht, daß es Ihre Pflicht, die Pflicht des Regierungschefs dieses Landes wäre, Positionen der NATO, die mit Ihrem Einverständnis formuliert wurden, dann hier zu verdeutlichen, wenn diese Positionen vom Parteivorsitzenden der SPD öffentlich in Frage gestellt werden?. Das wäre nach unserer Auffassung Ihre Pflicht!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Erstens bestreite ich — und ich habe mich damit beschäftigt —, daß der Kollege Brandt Positionen der NATO in Gefahr gebracht oder konterkariert hätte — oder wie immer Sie sich ausgedrückt haben. Zweitens füge ich hinzu: Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was Regierungen tun, und dem freien Denken von Abgeordneten, z. B. von Herrn Mertes oder Herrn Marx oder anderen. Und es gibt viele Punkte, wo Herr Mertes oder Herr Marx oder Sie uns öffentlich etwas ganz anderes antragen als das, was wir im Bündnis gemeinsam mit anderen Partnern verabredet haben, in der Ostpolitik wie in der Bündnispolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Wörner?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne eine zweite, aber nicht mehr eine dritte, Herr Wörner.
Herr Bundeskanzler, glauben Sie, daß das folgende wörtliche Zitat aus dem Interview, das Herr Brandt dem „General-Anzeiger" gegeben hat, mit der von Ihnen eben skizzierten Position in Einklang zu bringen ist, d. h. mit den offiziellen Positionen der NATO? Dort heißt es:
Man sollte wenigstens mit zwei prinzipiell
wichtigen Schritten beginnen, nämlich mit einer
ersten, wenn auch nur symbolischen Verringe-
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Dr. Wörner
rung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte.
Ich lasse jetzt etwas aus. Es heißt weiter:
... zweitens daran anschließend mit einer ersten, wenn auch verständlicherweise bescheidenen Begrenzung nationaler Streitkräfte im gleichen Rahmen.
Herr Bundeskanzler, wissen Sie nicht genau wie wir — alle hier wissen es; der Herr Leber weiß es, und der Herr Genscher weiß es —, daß dies genau gegen die beiden Eckpfeiler der NATO in den Verhandlungen in Wien geht, also genau gegen die beiden Eckpfeiler, die die Position des Westens in Unterschied zur Sowjetunion tragen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir ist im Augenblick nicht ganz klar, was Sie mit den beiden Eckpfeilern meinen.
Wahrscheinlich meinen Sie common ceiling als den einen Eckpfeiler und innerhalb des common ceiling Beweglichkeit für die — um mich im NATO-Englisch auszudrücken — indigenous forces.
Ich glaube, Herr Kollege Wörner, daß Sie höchstens im zweiten Punkt das Recht zu einer Frage hätten, nicht im ersten. Ich glaube, daß im zweiten Punkt die Frage befriedigend beantwortet werden kann. Ich bin nicht ganz sicher, inwieweit es sich bei der sogenannten westlichen Position, aus der Sie hier zitieren und die ich auch im Kopf habe, die aber Kollege Genscher und Kollege Leber sehr viel besser im Kopf haben, um Dinge handelt, die auf dem Markt ausgetragen werden können.
Ich bin nicht ganz sicher. Ich muß mich vergewissern. Es hat jeder das Recht, sich dazu öffentlich zu äußern
nach dem Maße seiner Information. Das Maß meiner Information ist sehr groß. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich alles hier im Augenblick ausbreiten darf.
Es ist — um das wenigstens anzudeuten — auf manchen solchen Feldern so — das sagt Ihnen die allgemeine Lebenserfahrung; dazu brauchen Sie keine Geheimpapiere zu kennen —, daß viele Verhandlungen mit Ausgangspositionen anfangen, daß man sich im Laufe der Zeit aufeinander zubewegt und daß es dazwischen auch Zwischenpositionen gibt.
Mein größte Sorge ist im Augenblick nicht, daß wir auf dem Felde, von dem Sie sprechen, nicht vorankämen — ich denke, wir werden mit den MBFR-
Verhandlungen in Wien vorankommen —, sondern meine Sorge liegt eigentlich mehr darin begründet, daß ja nicht alle Bündnispartner im Westen an der
gemeinsamen Position beteiligt sind. Ich drücke mich wiederum ganz vorsichtig aus: nicht alle Bündnispartner. Hier liegt ein Problem von ganz anderer Kategorie, als was Sie zu erblicken meinen.
Herr Barzel hat dann in gleichem Atem von dem Artikel eines Herrn Mettke zur Deutschlandpolitik gesprochen. Ich habe schon einmal sagen lassen — Herr Brandt hat auch schon einmal darauf hinweisen lassen —, daß die im Zusammenhang mit diesem Artikel, den ich zum Teil interessant, zum Teil abwegig, zum Teil gefährlich fand, Herrn Brandt und Herrn Wehner und mir zugeschriebenen angeblichen Äußerungen erfundene Äußerungen sind. Mehr will ich darauf im Augenblick nicht sagen.
Ich möchte, was das Verhältnis zu unseren Bündnispartnern angeht, auch zu unseren Nachbarn im Osten, die ja unsere Vertragspartner sind, auch zu den Staaten in der Dritten Welt, auch zu den Neutralen und Blockfreien, meinen, daß nicht alles, was die Opposition sehr scharf und sehr kantig ausgedrückt haben möchte, von einer Regierung so gesagt werden dürfte, selbst wenn sie es ähnlich sähe.
Herr Barzel, Sie haben sich in bezug auf Helsinki auf Beispiele konzentriert, die illustrieren, wie weit man in mancher Beziehung noch von der Verwirklichung des sogenannten Korbes III entfernt ist. Sie könnten genausogut zeigen, daß manches auch schon erreicht ist. Sie könnten auch den Korb II, das Ausmaß der Verwirklichung dort, und den Korb I betrachten, von dem soeben unter anderen Stichworten die Rede war. Wenn man will, daß aus den Absichtserklärungen im Korb III etwas wird, dann muß man sich in einer Regierungserklärung der Sprache bedienen, die dort tatsächlich angewandt ist. Sie finden Ihr Begehren dort wieder, allerdings nicht illustriert mit Biermann oder mit anderen — vielleicht nicht so wirksam öffentlich dargeboten, wie Sie es dargeboten haben. Aber Sie finden es, Herr Kollege Barzel, in kondensierter, aber ganz eindeutiger und übrigens einer alle drei Körbe umfassenden Form! Sie finden dort auch die Absicht der Bundesregierung ausgedrückt, nicht nur mitzuarbeiten, sondern ihrerseits initiativ Beiträge zu leisten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte gern zum zum Schluß kommen, Herr Kollege Jäger. Ich nehme an, andere wollen auch noch sprechen.
Ich möchte dies mit einer einzigen Bemerkung zusammenfassen. Herr Kollege Barzel hat gemeint, 70 % der Bürger in der DDR sähen unsere Fernsehprogramme. Das ist wahr, jedenfalls was das Erste und Zweite Programm angeht. Auch das gehört zur Lebenswirklichkeit drüben. Man kann darüber zwar noch viel sprechen, aber ich nehme nur einmal diesen einen Ihrer Sätze heraus und sage Ihnen — und ich lebe ja nicht ohne Kontakt mit Menschen drüben, wenngleich ich dort in letzter Zeit nicht habe sein können; in diesem Amt kann man nicht eine Privat-
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Bundeskanzler Schmidt
reise nach Thüringen machen —: Die Menschen drüben bekommen sehr viel mit von dem, was hier bei uns vor sich geht. Auch diese Debatte heute kriegen sie mit. Eines verstehen die Menschen drüben sehr gut: daß dies hier ein sehr viel besseres Modell ist als das drüben, wo sie leben. Das verstehen die Menschen, die uns drüben am Fernsehen verfolgen, sehr gut.
Da braucht man sie gar nicht zu fragen. Denn sie sagen es einem ungefragt. Ich sage das nur, weil Sie noch einmal vom Modell Deutschland gesprochen haben. Und zum anderen: Eines verstehen sie nicht, die Menschen drüben in Gera oder in Rostock: Warum es hier Leute gibt, die sich in der Hitze des Gefechts bemühen, alles schlecht zu machen, was in Wirklichkeit doch so gut ist. Sie, die Deutschen drüben, würden sich freuen, wenn es bei ihnen nur halb so gut wäre wie hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben keinen Grund zu Angst und Furcht, wir haben durchaus Grund zu Zuversicht. Wir haben ja starke Belastungen ertragen können. Wir werden auch in Zukunft, wenn es nötig wäre, Belastungen ertragen. Es ist ja nicht so, daß wir wegen unserer Schwierigkeiten andere um Hilfe bitten müßten, sondern es ist so, daß wir anderen, die in Schwierigkeiten sind, helfen und helfen können.
Wenn man die Reden der drei bedeutenden Oppositionssprecher, die wir gehört haben — Herrn Barzel, Herrn Strauß und Herrn Kohl —, nebeneinander hört und bei allen dreien seine Notizen macht, dann ist es schwer, den schwarzen Faden zu finden, der das alles verbinden soll.
Ich habe heute außerdem noch die dieswöchige Nummer einer Zeitung in die Hand bekommen, die Herr Kollege Strauß herausgibt. Da wird unter dem Datum des 18. Dezember gefragt — es ist also wohl eine vordatierte Zeitung —, ob denn nun ihre gemeinsame, seit vier oder fünf Tagen bestehende Verabredung bedeute, daß alles beim alten bleibe.
— Ich wäre versucht, zu antworten: Den haben wir ja nicht mehr unter uns; aber man könnte an seinen Sohn oder seinen Enkel — wie immer wir dies gehört haben — denken.
Es wird also gefragt, ob denn alles beim alten bleibe. Die Antwort lautet:
Das Gegenteil ist der Fall. So bergen die jetzt zwischen CDU und CSU getroffenen Vereinbarungen Ansatzpunkte in sich, die — von Strauß seit Jahren entworfen, leidenschaftlich vertreten — zu einem Aufbrechen erstarrter parteipolitischer Strukturen in der Bundesrepublik führen und die einen Ausweg weisen aus einer
durch die FDP willfährig abgesicherten sozialistischen Dauerherrschaft.
In derselben Zeitung — in ihr schreiben viele tolle Leute; der eine ist der Herr Scharnhagl; der andere ist der Herr Horlacher — steht ein Aufsatz, der so endet:
Wildbad Kreuth müßte sich nicht als Tagungsstätte, sondern als Dauerkuranstalt zur Rettung der deutschen Politik darstellen.
Das sind sicher Übertreibungen. Die CDU ist aus jener Ecke Übertreibungen gewöhnt. Sie haben inzwischen auch ein dickes Fell, allerdings nicht ohne Lindenblätter, meine Damen und Herren von der CDU. Wir wollen uns hier aber gar nicht einmischen Wir sind nämlich gar nicht sicher, daß wir irgendeinen Anlaß zur Schadenfreude haben. Im Gegenteil, wir haben das Interregnum von Anfang Oktober bis Anfang Dezember mit auch öffentlich geäußerten und ernstgemeint gewesenen Sorgen begleitet. Ich verstehe ganz gut, daß Sie sich nun erst wieder zusammenfinden müssen. Vielleicht gelingt es Ihnen dann im Januar oder Februar, zu den Fragen, die Sie an uns richten, wenigstens Andeutungen von eigenen Antworten darzutun, die außerdem eigentlich noch den Vorzug haben sollten, daß sie zusammenpassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich jetzt noch das Wort ergreife, so sind Sie jedenfalls zur Kritik nicht befugt, denn Ihr Sprecher, Herr Dr. Barzel, hat hier in einer für die deutsche Außenpolitik wichtigen Frage vom zuständigen Ressortminister eine Klarstellung verlangt. Diese werde ich geben.
Ich möchte mich nicht in die Lage bringen lassen, daß hinterher gesagt werden kann, ich hätte geschwiegen, obwohl es notwendig gewesen wäre, zu sprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kann doch gar kein Zweifel bestehen, daß die MBFR-Verhandlungen von ganz entscheidender Bedeutung für die künftige Entwicklung in Europa und in der Welt sind, auch wenn sie sich nur auf Mitteleuropa beziehen. Ich meine, daß man sie nicht isoliert sehen darf, sondern vor dem Hintergrund der Gesamtentwicklung östlich und westlich von uns. Es hat
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Bundesminister Genscher
mich tief erschüttert, daß bei der Bemerkung des Kollegen Brandt, man könne doch nicht davon sprechen, daß die Demokratie in Europa auf dem Rückzug sei, aus den Reihen der Opposition ein mißbilligendes Geraune kam. Meine Damen und Herren, haben Sie denn kein Gefühl dafür, was es für die Rahmenbedingungen unserer Sicherheit bedeutet, daß in zwei wichtigen uns verbündeten Staaten, nämlich in Portugal und Griechenland, und in einem uns nahestehenden Land wie Spanien endlich der Weg zur Demokratie angetreten worden ist?
Es ist ein Unterschied, ob ein verbündeter Staat, gegen den Willen des Volkes von Obristen regiert, in das Bündnis integriert ist oder ob es freie Demokraten in diesem Lande sind, die sich zur NATO und zur Mitwirkung im Bündnis bekennen.
Ich wollte an dieser Stelle keine Parteiwerbung betreiben, aber ich denke, das verdient hervorgehoben zu werden.
Und es sollte niemanden wundern, daß die Demokraten in diesen drei Ländern in besonderer Weise auf die Bundesrepublik Deutschland blicken. Das hat zwei Gründe. Sie tun es einmal, weil es in diesem Lande gelungen ist — ich nehme hier die Mitwirkung keiner Partei aus —, ein Modell der Freiheit für Europa zu zeigen. Sie tun es allerdings zweitens auch deshalb, weil es in diesem Lande verantwortliche Politiker gegeben hat, die frühzeitig mit denen, die verfolgt waren und heute Verantwortung tragen, Verbindungen gehalten haben, häufig unter Kritik aus Ihren Reihen.
Es ist eben nicht so, meine Damen und Herren, daß der Westen ohne Konzeption dasteht. Über Konzeptionen, über mangelnde Vorausschau — wir werden darüber ja in der außenpolitischen Debatte noch zu reden haben — könnte man eine Menge sagen. Ich frage mich zum Beispiel, warum nicht im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs der 50er und 60er Jahre in der Europäischen Gemeinschaft die notwendigen Strukturinvestitionen in den wenig entwickelten Gebieten vorgenommen worden sind, um die Gleichheit der Lebensverhältnisse zu schaffen, so daß wir nicht heute unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen gezwungen wären, das nachzuholen, um dort die Grundlagen für den Eurokommunismus zu beseitigen.
Was die Haltung der Bundesrepublik Deutschland zu den MBFR-Verhandlungen angeht, darf ich — —
— Meine sehr verehrten Damen und Herren, dann möchte ich etwas aufnehmen, was Kollege Barzel gesagt hat: Wenn eine solche Debatte ihren Sinn haben soll, wenn sie am Beginn einer Legislaturperiode mit dem Ziel geführt wird, auch ein Stück von dem beiseite zu räumen, was uns belastet hat, müssen wir auch die Kraft haben, kritisch über Zei-
ten zu sprechen, in denen wir zum Teil — oder manchmal auch nicht — Regierungsverantwortung mitgetragen haben. Er hat gesagt: das richtet sich an alle, auch an uns. Ich sage das auch für unsere Seite. Niemand ist doch unfehlbar. Ich kann das jetzt nur noch einmal feststellen. Wenn wir aber jetzt die Erkenntnis mitnähmen, daß es notwendig ist, den Bürgern in unserem Lande zu sagen, daß wir vier Dinge gleichzeitig leisten müssen — in diesem Lande den Wohlstand zu erhalten, der Dritten Welt zu helfen, ihre Probleme zu lösen, die Demokratie in Europa durch bessere wirtschaftliche Bedingungen in den anderen Ländern zu festigen und gleichzeitig in unseren Verteidigungsanstrengungen nicht nachzulassen — und daß dafür Opfer notwendig sind, wenn das die gemeinsame Erkenntnis aller Parteien aus dieser Debatte wäre, hätten wir gemeinsam etwas gewonnen, ob wir Regierung oder ob wir Opposition sind.
Lassen Sie mich nun, weil ich Ihre Geduld wirklich nicht unnötig strapazieren will, auf das zurückkommen, was die NATO-Außenminister in diesem Monat festgestellt haben:
Die Minister betonten — so heißt es hier; und da nehme ich Bezug auf das, was Herr Kollege Brandt gesagt hat —, daß die Zustimmung zum Ziel einer übereinstimmenden, kollektiven Gesamthöchststärke und Reduzierungen amerikanischer und sowjetischer Landstreitkräfte in der ersten Phase einen bedeutsamen und praktischen ersten Schritt in Richtung auf die übereinstimmende, kollektive Gesamthöchststärke darstellen würde,
die durch weitere Reduzierungen in der zweiten Phase erreicht werden würde.
Hier sind die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion vorweggenommen erwähnt.
Nun noch einmal unsere Position: Es ist unser Ziel, mit den MBFR-Verhandlungen die Herstellung der Personalparität zu erreichen. Und wir haben zusammen mit unseren Verbündeten ausdrücklich festgestellt, daß die Disparität bei den Kampfpanzern verringert werden muß. Es besteht in der Regierungskoalition überhaupt kein Zweifel, daß sich das nach den Gesichtspunkten der Kollektivität vollziehen muß, weil wir eben keine Sondervereinbarung über die Bundesrepublik Deutschland und über die Bundeswehr haben wollen.
Das hat auch Herr Brandt nicht verlangt.
Schließlich, damit wir es nicht vergessen: Es ist genauso notwendig, daß wir auch über europäische Waffen und Geräte keine Sonderabsprachen treffen. Wir müssen den Weg auch für eine Annäherung unserer Verteidigungspolitik unter den europäischen Partnern innerhalb der NATO freihalten.
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Bundesminister Genscher
Unsere Position, die ich hier noch einmal dargelegt habe, ist völlig klar. Ich denke, es besteht kein Anlaß, diese unsere Position in Zweifel zu ziehen.
Ein Wort zum Schluß. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung einen Satz gesagt, der eigentlich die Zustimmung aller Fraktionen verdient, nämlich den Satz, der da lautet: Das Wahlergebnis ist zugleich eine Bestätigung für die Stabilität unserer demokratischen Ordnung. Damit haben wir doch nicht gemeint, daß die FDP und die Sozialdemokraten die Mehrheit bekommen haben, sondern damit haben wir gemeint, daß in diesem Land die demokratischen Parteien gemeinsam einen überzeugenden Sieg erreicht haben. Das könnten wir doch gemeinsam unterstreichen.
Erlauben Sie mir noch zu sagen, daß wir ein wenig stolz auch darauf sind, daß wir durch unsere Politik daran mitgewirkt haben, daß die Extremisten in diesem Land keine Chance haben. So meinen wir es, wenn wir sagen, daß wir anderen Ländern helfen wollen, ihre Probleme zu lösen, damit auch in ihren Ländern die demokratischen Strukturen gestärkt werden. — Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Ende der heutigen Sitzung angelangt.
Ich möchte Ihnen allen ein friedliches Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr wünschen.
Auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung soll nach § 127 unserer Geschäftsordnung folgende Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde beschlossen werden: In der Woche ab 17. Januar finden mit Rücksicht auf die Fortsetzung der Aussprache über die Regierungserklärung keine Fragestunden statt. Jedes Mitglied des Hauses ist jedoch berechtigt, für diese Sitzungswoche bis zu vier Fragen an die Bundesregierung zu richten, die schriftlich beantwortet werden. Auf diese Fragen findet Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde keine Anwendung. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Zur Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung berufe ich die nächste Sitzung auf Mittwoch, den 19. Januar 1977, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.