Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein!
Das ist wiederum eine ganz unerlaubte, übereilte Folgerung, die aus den Hinweisen abgeleitet wird, die ich gegeben habe.
Ich will auch ein Wort zu der Konferenz in Belgrad im nächsten Frühsommer sagen, weil wir die Bundesregierung ermutigen möchten, das zu tun, was sie gestern angekündigt hat, nämlich mit anderen zusammen dafür zu sorgen, daß in Belgrad bei der ersten Durchführungskonferenz der in Helsinki versammelten Staaten mehr getan wird, als anklagende und unverbindliche Reden zum Fenster hinaus zu halten. Wir haben gern gehört, daß die Bundesregierung eigene Sachbeiträge in Aussicht gestellt hat. Die Sozialdemokraten möchten der Regierung gern dabei helfen.
Ich unterstreiche, was über Berlin gesagt worden ist. Meine Partei wird den Berlinern bei deren Bemühen um eine neue, konstruktive innere Stärkung der Stadt helfen.
Wenn von der Lage der Nation die Rede ist, geht es auch um das Schicksal der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Rücksiedler. Davon wird jetzt nicht im einzelnen die Rede sein können.
Wir wissen alle miteinander, daß die Menschheit nicht durch Krieg und Zerstörungsmittel allein bedroht ist, sondern auch durch den Welthunger und daß dieser seinerseits die Menschenrechte schwer herausfordert.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Die Demokratie — da kommen wir mit unseren Themen vielleicht nahe aneinander heran, auch wenn die Antworten nicht dieselben sein können — ist nur so lange eine Staatsform des Friedens, als es ihr gelingt, die Freiheit ihrer Bürger zu garantieren als eine Freiheit unter ihresgleichen und nicht als eine Freiheit auf Kosten anderer. Wir in unserem Teil Deutschlands und in diesem Teil Europas sind nicht dabei, diese Freiheit zu verspielen. Wir arbeiten daran, sie auszubauen.
Die deutschen Sozialdemokraten waren niemals bereit, auf die liberalen Grundrechte zu verzichten. Ihr Kampf gegen den faschistischen Frevel, die politische Aufklärung und die Werte der Humanität geschichtlich zu hintergehen, war eine Verteidigung des wohlverstandenen liberalen Erbes auch unter der Bedrohung eigener Existenz. Unser Freiheitswille war und ist kompromißlos. Unser politischer Blick war und ist nicht durch parteipolitische Brillen getrübt oder durch eine falsche Rücksichtnahme oder durch einen falschen Nationalismus verstellt. Ich rede jetzt nicht von der Vergangenheit.
78 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
Brandt
Wir halten ein waches Auge auf die Entwicklungen um uns herum. Denn wir sind aus bitterer Erfahrung in Mißtrauen nach vielen Seiten geübt. Wir haben im Unterschied zu anderen den Kapitalismus niemals für eine Vorstufe der Kapitulation vor dem Kommunismus gehalten.
Freiheit, von der ich spreche, ist nichts, was man teilen kann. Es gibt einen Radikalismus der Freiheit, dem wir alle verpflichtet sein sollten, ob demokratische Sozialisten — die bei uns in Deutschland Sozialdemokraten heißen —, ob Freie Demokraten oder Christliche Demokraten. Ich bekenne mich gern als einen radikalen Demokraten; die Freiheit ist ihrem Wesen nach radikal,
weil sie von der Wurzel her die verfestigten, die zementierten Zustände und Meinungen in Frage stellt, weil sie den Zweifel nicht unterdrückt, sondern ermutigt, weil sie dem Egoismus der Interessen und Ideologien Schranken setzt, die Schranken des Ausgleichs und der Toleranz.
Wir haben, was die Freiheit in Deutschland angeht, wohl immer noch einen geistigen Nachholbedarf. Amerika hat die 200jährige Wiederkehr seiner Revolution in diesem Sommer in einer erstaunlichen Harmonie liberaler und konservativer Gesinnung gefeiert. Frankreich wird am Ende des kommenden Jahrzehnts die 200jährige Wiederkehr seiner Revolution erleben, und es gibt kaum einen französischen Konservativen, der sich vor der Anerkennung der Revolution als geschichtlichen Tatbestand davonschleichen würde. Darin beruht ein gut Teil der inneren Sicherheit unseres Nachbarn.
Uns ist die Aufgabe gestellt, die uns gemäße innere Sicherheit, die geistige, die moralische Sicherheit zu schaffen. Das Wort wird in allen Parteien großgeschrieben, wenn ich es recht verstehe. Sicherheit ist eine Grundsehnsucht unserer Gesellschaft. Da spielt auch ein Komplex mit hinein, der aus dem Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins im vorigen Jahrhundert herrührt, aus den Ängsten der Zusammenbrüche, der Inflationen. Aber Sicherheit ist gewiß eine Grundsehnsucht unserer Gesellschaft.
Wir haben in unserem Land bewahrenswerte Sicherungen der sozialen Existenz geschaffen. Wenn man den Katalog aufmachen wollte, ergäbe er manches Trennende, aber auch manches Gemeinsame. Ich will nur den Rat geben, einmal über die Frage nachzudenken, ob sich Sicherheit wirklich erschöpft in der Verankerung sozialer Ansprüche und Rechte, in einem funktionsfähigen Apparat der Verteidigung, in der Abwehr von materiellen Bedrohungen, in der Abwesenheit von Unbequemlichkeiten, von Gefährdungen, von Zweifeln.
Ich schaue auf den vergangenen Wahlkampf — wie vermutlich die meisten von Ihnen auch — mit geteiltem Vergnügen zurück. Sie, meine Kollegen von der Union, von den Unionen, haben sich die Parole von Freiheit oder Sozialismus diktieren lassen. Ich habe mich oft gefragt, ob das Ihr Ernst sein konnte. Befürchten Sie nicht, ich würde an den Schluß meiner Ausführungen noch eine philosophisch anmutende Polemik hängen; ich will vielmehr, daß wir versuchen, miteinander — wenn es sein muß, auch im Gegeneinander — ein paar Wahrheiten anzuhören, so vorbehaltlos, wie es nur möglich ist.
Es gibt eine Perversion von Sozialismus, die extrem freiheitsfeindlich ist. Wir stehen gegen sie, seit es eine Sozialdemokratie gibt und eine Definition des demokratischen Sozialismus existiert. Für mich bleibt es dabei: Das Verhältnis zu Freiheit und Demokratie ist der Prüfstand, der über die weitere Entwicklung gewisser Parteien innerhalb und außerhalb Europas Aufschluß geben wird.
Es gibt eine Wirklichkeit des Kapitalismus, die extrem freiheitsfeindlich ist. Ich bestreite nicht einen Augenblick, daß, von den modernen Liberalen abgesehen, die besten Geister des westlichen Konservativismus und der christlich-demokratischen Parteien diese Freiheitsfeindlichkeit einer Gesellschaft der totalen Interessen zu zähmen und zu überwinden bemüht waren. Es hat Schnittpunkte auch in der Geschichte der CDU gegeben, an denen an eine Versöhnung von Elementen des christlichen Sozialismus und eines aufgeklärten Konservativismus gedacht war. Mir ist bewußt, daß die Dinge bei den meisten von Ihnen heute anders liegen.
Es gibt den reinen Kapitalismus nicht, es gibt den reinen Sozialismus nicht,
es gibt erst recht nicht den reinen Kommunismus. Aber wenn es sich so verhält, sollten wir uns dann nicht tatsächlich und sachlich, jede Konzession an einen totalitären Anspruch von links oder rechts ausgeschlossen, darüber unterhalten können, was daraus folgt? Sind wir uns nicht darüber einig, daß wir auf die Selbstbestimmung der Bürger setzen gegen — so sage ich jetzt; Sie müssen es ja nicht wiederholen — den kapitalistischen Kollektivismus der Verfremdung und gegen den kommunistischen Kollektivismus der Diktatur einer abstrakten Geschichtsweisung, durch die das Recht des einzelnen vernichtet wird?
Sollten wir uns nicht darüber verständigen können, daß wir nach Kriterien des Ausgleichs der weltpolitischen Interessen suchen, damit die Gewalt ausgeschaltet wird? Sollten wir uns nicht intensiver darüber unterhalten, ob es nicht Formen des Friedens geben kann, die mehr sind als ein Waffenstillstand zwischen Nationen und Systemen? Und ist auch nicht zu bedenken, was sich daraus ergibt, — daß wir uns zur guten Nachbarschaft bekennen?
Keine dieser und anderer Fragen wird uns aus der harten Auseinandersetzung entlassen, meine Damen und Herren. Niemand will hier Grenzen verwischen. Wir werden auch künftig den Mut zum Konflikt haben müssen. Doch dieser Konflikt ist etwas anderes als der parlamentarische Bürgerkrieg.
Lassen Sie mich hinzufügen: Die Machtfrage ist nicht die letzte Frage und darf es nicht sein.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 79
Brandt
Die Macht ist ein Instrument, dem Wohl der Gesamtheit zu dienen, das sich aus der Summe des Wohls der einzelnen ergibt.
Meine Damen und Herren, mit jeder Legislaturperiode beginnt ein neuer Abschnitt. Die Eröffnung eines Parlaments bietet die Chance, wieder einmal anzufangen. Es muß in vielen Sachfragen ein Gegeneinander sein, doch es gibt, wie ich schon zu Beginn dieser Rede zu sagen versuchte, eine Basis des Miteinander: die gemeinsame Arbeit an der Evolution, am Vorwärtsschreiten der Demokratie in Europa. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion untersteht dieser Pflicht nicht anders als die Opposition, jedenfalls nicht anders als der Bundeskanzler und seine Regierung, die von unserer vollen Unterstützung getragen werden.
Der Bundeskanzler und seine Regierung der sozialliberalen Koalition können sich auf eine loyale Sozialdemokratie verlassen.