Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Debatte steht primär die Regierungserklärung, in Verbindung damit einige andere Probleme, die heute der Kollege Willy Brandt angeschnitten hat. Zur Regierungserklärung muß ich leider sagen — ich habe seit dem Jahre 1949 alle gehört —: Das war die längste, banalste und inhaltsloseste Regierungserklärung, die je ein deutscher Bundeskanzler vor diesem Hause abgegeben hat.
Einige Exemplare sind vorweg verteilt worden. Ich gehörte auch zum Kreis der gesegneten Empfänger; ich hatte auch darum gebeten und bin bedient worden. Auf der Seite null der vorab verteilten Exemplare stand als Überschrift: „Regierungserklärung". Der Verdacht, daß es sich um diese handelte, konnte bei der Lektüre der folgenden 182 Seiten nicht bestätigt werden.
Der einzig erkennbare — vielleicht versöhnt Sie das Bild jetzt — rote Faden,
der sich durch diese Regierungserklärung zog, war die Buchbindersynthese. Das Konglomerat unverbindlicher Feststellungen — etwa: „wir werden den Gesamtfragenkomplex prüfen" — wurde durch Heftklammern zusammengehalten.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung nicht die Lösung von Problemen angeboten, sondern nach der Lösung von Problemen gefragt, von denen ein großer Teil ohne ihn und ohne die SPD/FDP-Regierung der letzten Jahre überhaupt nicht bestehen würde.
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Allerdings, der Versuch, die Tragikomödie — um noch das mildeste Wort zu gebrauchen; man müßte ein ernsteres Wort verwenden — um die Renten in eine Heldenoper umzufunktionieren, ist total mißglückt.
Lassen Sie mich zu dem Thema einige Worte im einzelnen sagen. Der Bundeskanzler sprach von der Erfüllung eines Wählerauftrags. Der Wähler hat — wenn er der Koalition SPD/FDP auch mit knapper Mehrheit die Regierungsverantwortung übertragen hat — das jedenfalls unter anderen Voraussetzungen getan, als sie wenige Tage nach der Wahl enthüllt worden sind.
Die Stabilität der parlamentarischen Demokratie
ist nicht durch dieses Wahlergebnis bestätigt worden. Das ist eine Überheblichkeit, Herr Bundeskanzler, oder eine Ihrer vielen falschen Vereinfachungen. Wenn der Wähler, sei es mit kleiner oder mit großer Mehrheit, der CDU/CSU die Mehrheit gegeben hätte, wäre es genauso ein Beweis für die Stabilität der parlamentarischen Demokratie gewesen. So einfach geht das nicht.
— Herr Wehner, ich weiß, daß Sie einen Gesprächspartner suchen, weil Sie mit Ihrem Nachbarn nicht gerne reden.
Noch nie ist dem Wähler schon so kurz nach einer Wahl, und zwar so eindringlich, vor Augen geführt worden, daß sein Wahlverhalten, nämlich die für die SPD/FDP-Koalition erzielte hauchdünne Mehrheit, durch etwas verursacht wurde, was selbst absolut koalitionsfreundliche Zeitungen als „Lüge" — wenn ich die „Frankfurter Rundschau" zitiere, und hier darf ich es ja ohne Ordnungsruf sagen —, als „Betrug" oder „Täuschung" — „Kölner StadtAnzeiger" — bezeichnet haben.
Als ich vor der Wahl — damals sollen ja angeblich 20 Millionen Zuschauer während der Fernsehdiskussion drei Tage vor der Wahl vor dem Bildschirm gesessen haben — auf die katastrophale Lage der Rentenfinanzen hinwies und von einem „Verfall der Finanzgrundlagen der Rentenversicherung" sprach — ich habe nicht von einem Verfall der Rentenversicherung gesprochen, wie mir hernach Herr Schmidt in seiner bekannten simplifizierenden Art unterstellte, sondern von einem „Verfall der Finanzgrundlagen der Rentenversicherung" — und vom Zwang zu drastischen Schritten — eine wörtliche Wiederholung —, haben Sie, Herr Bundeskanzler, mir mit gespielter Empörung unchristliche Angstmache vorgeworfen.
Sie und alle anderen führenden Politiker von SPD und FDP versprachen sowohl die Erhöhung der Renten um 10 % zum 1. Juli 1977 wie auch die Aufrechterhaltung der Bruttolohnbezogenheit der Renten auf Dauer wie auch die Nichterhöhung der Beiträge. Sie werden mir vielleicht antworten, das sei ja eingehalten worden. Es ist aber mehr eine Lüge als eine Wahrheit, daß das eingehalten worden ist; denn ob man die allgemeinen Beiträge erhöht oder ob man die Krankenkassenbeiträge erhöht, um den Ausgleich zu schaffen: Sie haben den Eindruck erweckt, daß weder Steuern noch irgendwelche Beiträge erhöht werden müssen, wenn die von Ihnen gegebenen Zusagen finanziert werden sollen, und das ist eindeutig falsch. Darüber gibt es wohl keinen Zweifel.
Sie schrieben in einer Anzeige in allen deutschen Tageszeitungen am 21. September 1976:
Ich versichere Ihnen: Ihre Altersversorgung ist sicher. Die Renten werden weiterhin dynamisch mit der Wirtschaftsentwicklung steigen. Sagen Sie Ihren älteren Mitbürgern: Auf Sozialdemokraten ist Verlaß,
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 87
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vor allem wo es um die soziale Sicherheit und um den sozialen Frieden geht.
Sie werden sich noch erinnern, Herr Bundeskanzler,
das war damals in allen Tageszeitungen zu lesen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihren Wahlveranstaltungen — und das hätte Sie vergleichbar gemacht mit einem Redner der CDU/CSU vor 25 Jahren — soviel von Christentum gesprochen, die Bibel zitiert: Du sollst nicht falsches Zeugnis geben. Dieses falsche Zeugnis haben Sie vor der Wahl gegeben.
Sie sagten doch die Unwahrheit, als Sie in der Fernsehdiskussion die Finanzkrise der Rentenversicherung zu einem „leicht zu lösenden Problemchen der bloßen Liquidität der Rücklagen" zu verharmlosen versuchten.
Ich habe damals nicht nur innerlich, auch äußerlich den Kopf geschüttelt, wie jemand angesichts der damals schon seit Monaten vorliegenden Zahlen von einem „Problemchen" reden kann. Was gibt es denn in Ihren Augen heute noch für Problemchen, Herr Bundeskanzler? Wenn dieses Problemchen beinahe Ihre Wahl zum Kanzler verhindert hätte, dann muß die ganze Wahl ein Problemehen sein.
Über alle früheren Beteuerungen setzten sich die führenden Koalitionspolitiker in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch der vergangenen Woche kaltschnäuzig hinweg und vereinbarten die Verschiebung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr. Es gehörte schon — ich zitiere jetzt namhafte Stimmen der Publizistik — ein hohes Maß an „Arroganz der Macht", ein „nicht mehr erträgliches Maß von Wählerverachtung" oder eine „Frechheit ohnegleichen" zu einem solch „eklatanten Wortbruch" — ich zitiere aus dem „Kölner Stadtanzeiger", der „Frankfurter Rundschau", dem „Spiegel" und der „Neuen Rhein-Zeitung" —, mehr aber noch zu der anmaßenden Auffassung der an dieser Koalitionsabrede beteiligten Herren Schmidt, Wehner, Brandt, Mischnick, Genscher, Friderichs, Maihofer, Ertl usw., im Parlament dazu die Zustimmung zu erhalten und, wie der Kanzler jetzt sagt, nicht auf eine so heftige Ablehnung zu stoßen.
Wenn Sie sagen: Regierungen sind nicht unfehlbar, so gebe ich Ihnen völlig recht. Ich meine das sogar ohne ironischen Unterton. Nur totalitäre Regierungen beanspruchen für sich das Recht, unfehlbar zu sein. Aber in dieser Frage hätten Sie nur das vorliegende Material zu lesen und die Offentlichkeit wahrheitsgemäß zu informieren brauchen.
Das hat doch mit fehlbar oder unfehlbar nichts zu tun.
Ich wäre der allerletzte, der hier eine so primitive Gegenüberstellung vornähme: Die einen Parteien haben den Anspruch auf die alleinseligmachende Wahrheit, und die anderen Parteien sind grundsätzlich vom Irrtum besessen und ihm verfallen. Diese Schwarzmalerei wird kein vernünftiger Mensch mitmachen. Aber hier handelt es sich nicht um fehlbar oder unfehlbar, hier handelt es sich einfach um die Ehrlichkeit, gegenüber dem Wähler zu sagen, wie die Dinge erkennbar seit Januar 1976 bereits auf dem Tisch lagen, und um nichts anderes.
Der Kanzler kann sich nicht mit grundsätzlich neuen Erkenntnissen über die Finanzen der Rentenversicherung nach der Wahl entschuldigen, wie es heute auch Kollege Willy Brandt getan hat, der sagte: auf Grund der neuen Zahlen nach dem 3. Oktober 1976.
Neu waren sie für diejenigen, die sich vorher weigerten, von diesen Zahlen Kenntnis zu nehmen.
Seit dem November 1975 haben doch alle unabhängigen Experten, der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, die Bundesbank, der Sachverständigenrat und nicht zuletzt der Sozialbeirat beim Bundesarbeitsministerium immer wieder vor der bedrohlichen Entwicklung der Rentenfinanzen in öffentlich zugänglichem Material gewarnt. Man muß doch davon ausgehen, daß eine Regierung wenigstens lesen kann!
Wenn die Zahlen nicht stimmten, hätte sie sagen und begründen müssen, daß und warum diese Zahlen nicht stimmen. Der Verband der Rentenversicherungsträger hat z. B. schon im Januar 1976 die voraussichtlichen Zahlen für 1976 und 1977 bekanntgegeben und durch weitere Pressemitteilungen im August 1976 noch einmal erhärtet. Bis heute haben sich diese Zahlen so gut wie überhaupt nicht geändert.
Ich darf hier zu der Frage, wer die Wahrheit und wer die Unwahrheit sagt, den Vorsitzenden des Vorstandes des Bundesverbandes der Rentenversicherungen zitieren — immerhin ein stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Stellvertreter von Herrn Vetter —, Herrn Muhr. Er sagte in der Fernsehsendung „Bilanz" vorgestern abend — ich zitiere ihn wörtlich aus dem vom Bundespresseamt überreichten Protokoll —:
Uns hat es eigentlich nicht gepaßt, daß man solche Erklärungen vor der Bundestagswahl abgegeben hat; denn nicht nur uns waren die Zahlen bekannt, die sich in der Rentenversicherung ergaben, sondern sie waren allen Parteien — ich betone: allen Parteien — des Deutschen Bundestages und allen Fraktionen bekannt; denn sie waren schon im Oktober 1975 durch den Anpassungsbericht des Sozialbeirats vorgelegt worden.
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Darum verstehe ich nicht, wie Sie, Herr Brandt, heute sagen können, auf Grund der neuen Zahlen nach dem 3. Oktober 1976 seien die Zahlen bekanntgeworden. Lügen jetzt Sie, oder lügt Herr Muhr?, muß man fragen.