Es gibt eben Reclam-Ausgaben von Büchern, die sind im Quantum etwas kleiner, im Inhalt gleich.
Aber ich weiß nicht, welche Verbindungen Sie zu diesem Verlag haben. Der Verlag selbst hat sich noch nicht beschwert. Aber wenn Sie eine andere Ausdrucksweise wollen, würde ich in Zukunft sagen, daß Sie ein Politiker im Taschenbuchformat sind.
— Etwas bissigen Humor darf man in diesem Haus auch noch haben.
Die Ungleichgewichte, von denen der Bundeskanzler spricht, sind gerade durch die SPD- und FDP-Politik in den Ländern und im Bund entstanden.
Der Ausbau der allgemeinbildenden weiterführenden Schulen ist forciert worden. Hauptschule und berufliches Schulwesen sind vernachlässigt worden. Man setzte Bildung mit akademischer Bildung und Akademikerstatus gleich. Man sah den Erfolg der Bildungspolitik nicht darin, alle Schulen gleichmäßig auszubauen. Gerade wir legen betonten Wert darauf, daß die Hauptschule wirklich von der Mehrheit der Schüler mit Aussicht auf Prädikat absolviert werden kann
und daß die Hauptschule qualitätsmäßig so angehoben wird, daß in ihr der Übergang in das Berufs-
leben am leichtesten verwirklicht werden kann, selbstverständlich über den zweiten oder den dritten Bildungsweg, dann der Einstieg und Durchstieg in weitere Möglichkeiten. Wenn der Bundeskanzler hier das Berufsschulgrundjahr erwähnt, dann ist daran zu erinnern, daß das Berufsschulgrundjahr von den Unionsländern vorgeschlagen worden ist, während die Sozialisten in der Bildungspolitik ein zehntes theoretisches Schuljahr haben wollten.
Ich mache ihm ja gern das Kompliment, daß seine Regierungserklärung, soweit sie Substanz hat, weitgehend die Übernahme von Vorschlägen der CDU/ CSU bedeutet.
Das trifft auf eine Reihe von Teilen seiner Regierungserklärung zu.
Dieses Berufsschulgrundjahr ist viel wesentlicher als ein weiteres Jahr Theorie, weil das den Übergang in das Berufsleben erleichtert. Wir müssen die unerträgliche Überfüllung unserer Hochschulen jetzt endlich beenden, und die kann nicht dadurch beendet werden, daß man den Abiturienten sagt: „Ihr dürft nicht studieren; ihr müßt viele Jahre warten", sondern nur dadurch, daß man andere Möglichkeiten der Berufsausbildung bietet, daß man die Erlernung eines den Mann und die Familie ernährenden und zufriedenstellenden Berufes auf anderem Wege ermöglicht. Nur so ist doch das Problem zu lösen.
Es ist doch abenteuerlich, zu glauben, daß man durch die Vermehrung der Zahl der Abiturienten die Zahl der Begabten fördern könnte. Das Niveau sinkt im Durchschnitt, aber nicht die Zahl der Begabungen. Die neuerliche Vererbungslehre und die Milieutheorie erweisen doch eindeutig, daß die Vorstellung, nach der die Begabungen nur aus bestimmten Milieus kämen, falsch ist. Das war die berühmte Milieutheorie der Marxisten und ihrer Spätnachfolger, die eine Art Milieubelastung positiver und negativer Art schaffen wollten. Für wieviel Prozent der Abiturienten bieten denn die zukünftige Gesellschaft und die zukünftige Wirtschaft echte akademische Berufsmöglichkeiten? Wahrscheinlich sind es weniger als 25 %. Herr Professor Edding spricht von 15 %. Wovor wir Sorge haben — das ist auch ein Problem, das wir nur gemeinsam lösen können —, ist, daß dieselben Menschen, die heute vor den verschlossenen Toren der Hochschulen stehen, fünf Jahre später vor den verschlossenen Toren der Gesellschaft und der Berufswelt stehen und daß diese dann das revolutionäre Potential entwickeln könnten, das nicht von der Arbeiterschaft in Deutschland gestellt wird, sondern sich aus ganz anderen Schichten und Kreisen rekrutiert.
Der Herr Bundeskanzler — er mußte leider weggehen; aber ich hätte noch ein paar schöne Dinge für ihn gehabt — hat von Liberalität, Bürger, Gesellschaft und Staat gesprochen. Ohne Zweifel stehen wir vor der Gefahr, besser: mitten in der Gefahr
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einer zunehmenden Paragraphenverdrossenheit der Bürger, einer damit um sich greifenden Beamtenverdrossenheit, die eines Tages auch zur Staatsverdrossenheit werden kann. Sicherlich sind Ihre Vorstellungen in diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, man müsse die Gas-, Strom- und Wasserrechnungen leichter ablesen können, sehr interessant und werden draußen gern gehört. Das gebe ich Ihnen zu. Bei Bankauszügen geht es einem genauso. Die Diätenauszüge dagegen sind — beinahe hätte ich gesagt — idiotensicher. Die haben Sie sich anscheinend nicht angeschaut; sonst hätten Sie sich von der leichten Lesbarkeit überzeugen können. Aber bei Gehaltsauszügen schaut das schon wieder ganz anders aus.
Aber das trifft nicht den Kern, sondern ist nur ein wichtiger Teil des Problems: Computer, elektronische Datenverarbeitung. Aber wie sehr Sie, Herr Bundeskanzler, die Dinge verharmlosen, geht daraus hervor, daß Sie von dem Schutz der Privatsphäre der Bürger durch das Datenschutzgesetz sprechen. Warum ist das Datenschutzgesetz in diesem Hause nicht einstimmig verabschiedet worden? Warum haben die unionsregierten Länder mit Ausnahme von Niedersachsen und dem Saarland dem Datenschutzgesetz nicht zugestimmt? Weil — die Begründung können Sie in den Protokollen nachlesen — nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion und nach Meinung der meisten unionsregierten Länder gerade diese Garantie, der Schutz der Privatsphäre gegen willkürliche, fahrlässige und unerwünschte Behandlung intimer Daten, nicht ausreichend gewährleistet ist.
— Herr Kollege Schäfer, ich weiß nicht, in welchem Maße Sie davon mehr verstehen als ich. Aber ich gehe davon aus, daß in einer Fraktion einer nicht alles wissen kann. Das unterscheidet Sie vielleicht von mir.
Aber so unterschiedlich hat eben Gott die Menschen gemacht. Sie sind eben ein umfassendes Gehirn, sozusagen der Leibniz der Fraktion.
Wir müssen mehr von der Arbeitsleistung leben. Nach dieser Arbeitsteilung habe ich zu meinen Kollegen, die dieses Problem im Ausschuß und in der Fraktion federführend bearbeitet haben, so viel Zutrauen, daß sie nicht nein gesagt haben um des Neinsagens willen, sondern daß sie nein gesagt haben, weil man ihre Vorschläge auf verbesserten Schutz der Privatsphäre restlos, ohne jede Bereitschaft zur Kooperation und zur Verständigung, niedergebügelt und abgelehnt hat.
— Schauen Sie, das Geschrei hat doch keinen Sinn.
— Dann müssen Sie damit vorlieb nehmen, daß ich mich aus dem Bundestagsprotokoll nach Vorlage des Berichts des Vermittlungsausschusses informiert habe. Und hier haben sich meine Kollegen so geäußert und ihre Absage damit begründet.
Aber ich sage ja: das ist nicht das allein Entscheidende. Eine Aufgabe, der sich die Bundesregierung ernsthaft unterziehen sollte — und wir sind bereit mitzuwirken —, ist, erstens einmal dafür zu sorgen, daß diese unerträgliche Flut, um nicht zu sagen diese steigende Lawine immer neuer Gesetze und Verordnungen endlich einmal aufhört.
Wenn Sie sehen, was hier in den letzten fünf, sechs Jahren produziert worden ist gegenüber früher — und die Quantität kann da nicht Ersatz für Qualität sein; hier ist eine Qualitätsverschlechterung eingetreten —, wenn Sie sehen, Herr Bundeskanzler, was allein im Steuerrecht, im Finanzrecht, wenn ich mich etwas weiter ausdrücken darf, im Laufe der letzten sechs, sieben Jahre ständig durch hektische, sich überstürzende Änderungen — zum Teil schon vor Inkrafttreten eines beschlossenen Gesetzes wiederum beschlossen — an Unfug angerichtet worden ist, so werden auch Sie wohl zu dem Ergebnis gelangen: Wir müssen das wieder in den Griff bekommen; wir brauchen wieder ein einfacheres, durchschaubareres Steuerrecht.
Wir müssen auch dafür sorgen, daß die Sprache des Gesetzgebers für den Bürger wieder verständlicher wird. Herr Bundeskanzler, sehen Sie sich doch einmal unter diesem Gesichtspunkt die Produktion an, die in Ihrer Zeit stattgefunden hat. Die schöne Zeit, wo die Sprache des Rechts die Sprache der Poesie und des Humors war, ist vorbei. Ich habe z. B. nachgelesen: „Augen auf, Kauf ist Kauf." So heißt es im altdeutschen Recht. „Wer närrisch kauft, muß weislich zahlen." Jetzt heißt das: „Keine Sachmängelhaftung". „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul" heißt heute: „Keine Mängelhaftung des Schenkers." „Hand wider Hand" heißt in der Gesetzessprache: Wer einem anderen eine Sache anvertraut, kann sie nur von diesem und nicht von einem Dritten zurückfordern, wenn sie der Vertrauensmann veruntreut hat.
Man lese z. B. nach, was nach dem Bundesgesetz zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht im Jahre 1958 beschlossen worden ist:
Personen, die im Sinne des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der NS-Verfolgung verfolgt und dadurch in ihrer auf Schädigungen im Sinne der §§ 1 und 82 des Bundesversorgungsgesetzes beruhenden Versorgung geschädigt worden sind (Geschädigte), erhalten als Wiedergutmachung eine Entschädigung nach Maßgabe der §§ 3 und
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4, sofern sie im Zeitpunkt der Entscheidung über die Wiedergutmachung ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hatten und nicht zu den nach dem Bundesgesetz zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht in der Kriegsopferversorgung im Ausland in der Fassung der Gesetze vom 25. 6. 1958 zu entschädigenden Personen gehören.
Noch etwas aus der jüngsten Produktion, vom 13. November 1976:
Verordnung zur Umstellung der Verordnung über Ausnahmen von den Vorschriften der Verordnung über die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße auf das Gesetz über die Beförderung gefährlicher Güter sowie zur Änderung dieser Verordnung .
Unterschrieben: Gscheidle.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist bedauerlich, aber angesichts der Umstände nicht zu ändern, daß wegen der Aufspaltung der Aussprache zur Regierungserklärung die Themen Deutschlandpolitik, Ostpolitik und Außenpolitik mit all ihren vielzähligen Problemen hier naturgemäß in der ersten und in der zweiten Runde nicht die Würdigung erfahren können, wie es der Ernst des Gegenstandes, der Ernst der Sache ohne jeden Zweifel erfordern würde. Herr Bundeskanzler, ich darf Sie nur darauf hinweisen, daß Ihre Ausführungen zur Lage der Nation das Problem gewaltig vereinfachen.
Es geht hier nicht nur um das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten, es geht nicht um diese Frage allein, so wichtig sie ist. Gegensätze und Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Gesellschaftsordnungen dürfen nicht mit der Wertneutralität und, wie ich beinahe gesagt hätte, moralischen Gleichgültigkeit behandelt werden, als ob es sich hier um Staaten und Gesellschaftsordnungen gleichartiger Legitimation handelt.
Wir wissen einigermaßen, was hier vor sich geht. Aber warum haben die Behörden der DDR z. B. auf der Leipziger Herbstmesse 1976 Prospekte von Firmen der Bundesrepublik polizeilich beschlagnahmt? Sie haben folgende Gründe angegeben: Der Prospekt der Firma Siemens hatte eine „Verkaufsniederlassung in Berlin" statt „in West-Berlin" angeführt, Mannesmann hatte in einem Prospekt das Wort „Deutschland" aufgeführt. Weiterhin wurde wegen des rot eingerahmten Termins des 17. Juni der Taschenkalender der gleichen Firma beschlagnahmt. Schering gab in einem Prospekt zwei Firmensitze an, und zwar Berlin und Bergkamen. Es gibt noch ähnliche Beispiele dieser Art.
Das sind Zeichen dafür, daß man dort ohne die geringste Einsicht, ohne die geringste Anerkennung einer Verständigungsnotwendigkeit um vernunftgemäßes Miteinanderauskommen das politische Prinzip der Drei-Staaten-Theorie, der Teilung Deutschlands in zwei Staaten und einer selbständigen Einheit Berlins, bis in die lächerlichsten Kleinigkeiten hinein durchsetzen will. Das hat nichts mit dem Geist von Helsinki zu tun, das hat nichts mit dem Geist der Entspannung zu tun,
das hat nichts mit der Anerkennung gegenseitiger Interessen und dem Willen zur Verständigung zu tun.
Herr Bundeskanzler, täuschen Sie sich nicht! Es stimmt, daß Sie 8 Millionen Reisebewegungen haben; aber das heißt noch lange nicht, daß das 8 Millionen Deutsche sind. Früher. sagten Sie, waren es 2,5 Millionen — das stimmt —, aber jetzt reisen dieselben Personen, was durchaus erfreulich ist, mehrmals. Sie sprechen von 8 Millionen Personen —das ist nachweisbar unrichtig. Ein großer Teil dieser Reisen findet auch auf solchen Wegen statt, auf denen die geschlossenen Reisegruppen keine Möglichkeit haben, mit der Bevölkerung in ernsthaften Kontakt zu kommen. Zum Teil werden sie nur dazu benutzt, um ein bestimmtes Programm zu absolvieren und in Inter-shop-Läden mit D-Mark einzukaufen, was dort allerdings zu billigeren Preisen möglich ist, als die gleichen Waren bei uns kosten.
Herr Bundeskanzler, die Feststellung, daß für das Schießen an der Grenze nicht die Bundesrepublik verantwortlich ist, ist zu wenig, wenn nach der Konferenz von Helsinki immer noch munter weitergeschossen wird, wenn der Soldat, der Herrn Corghi, einen kommunistischen Genossen, erschossen hat, nicht einmal disziplinarisch, geschweige denn strafrechtlich belangt worden ist. Wenn dort der Schießbefehl als ein Tabu erklärt wird, ist das für Sie noch lange kein Grund, die Behandlung dieses Themas etwa aufzugeben oder ihr auszuweichen, weil das den Geist der Verständigung oder die Entspannung stören könnte.
Deshalb haben wir auch kein Verständnis dafür, daß die SPD-Kollegen bei der letzten NATO-Parlamentariertagung den von meinen Freunden unter Federführung des Kollegen Blumenfeld eingebrachten Antrag auf Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in der DDR abgelehnt haben,
während die Parlamentarier der mit uns verbündeten Länder diesen Antrag unterstützt und ihm zu einer Mehrheit verholfen haben. Hier wird nicht mehr Entspannungspolitik betrieben, hier wird Annäherung durch Anpassung betrieben. Hier wird eine einseitige Politik des Rückzugs propagiert, und das endet bei dem unzerstörbaren und unausweichlichen kommunistischen Machtwillen auf der ande-
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ren Seite an einem Punkt, den wir alle bedauern werden, wenn auf dieser Straße fortgefahren wird.
Sie sagten, Berlin sei die größte deutsche Industriestadt, was stimmt. Sie sagten, es sei ein bedeutendes Kulturzentrum; auch das stimmt. Wird Berlin auch der Sitz der Nationalstiftung werden, Herr Bundeskanzler? Die Antwort auf diese Frage würde uns sehr interessieren. Haben Sie Angst zu sagen, obwohl Sie hier auf dem Boden des vom Verfassungsgericht bestätigten Rechts stehen: Berlin ist und bleibt die Hauptstadt des Deutschen Reiches?
Wenn Sie diesen Standpunkt einnehmen, müssen Sie die Verfasser der Kanzleramtsstudie über das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR und der Menschen zueinander allerdings entlassen. Sie hätten diese Menschen, diese Gruppe überhaupt nie beauftragen dürfen, eine Studie zu erstellen, die man sehr als Erfüllungshilfe für den Machtwillen Ost-Berlins denn als eine Darstellung der wirklichen Verhältnisse kennzeichnen könnte.
Herr Bundeskanzler, ein großer Arbeiterführer des 19. Jahrhunderts, Ferdinand Lassalle, hat ein Wort gesagt, das für uns alle gelten sollte: Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit; alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist. — Das offene Aussprechen ist schon eine politische Aktion.
Wir haben nicht nur an die Menschen im anderen Teil Deutschlands zu denken. Wir haben hier im Zusammenhang mit der Aussprache über die Regierungserklärung auch ein Wort an die Adresse unserer Heimatvertriebenen und Flüchtlinge zu richten,
einer Menschengruppe, die für den Wiederaufbau der Bundesrepublik Großartiges geleistet hat, die ein Muster politischer Disziplin geboten und die wie alle anderen Völker das Recht hat, auch an ihr Recht auf Heimat zu denken, ohne daß damit irgendwelche nationalistischen Töne verbunden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen doch — und das hätte von Ihnen, Herr Bundeskanzler, in einem Bericht gesagt werden müssen, der nicht nur Regierungserklärung, sondern in einem hohen Maße auch ein Bericht zur Lage der Nation sein sollte —: Die gegenwärtige europa- und weltpolitische Situation, sowohl was Ost-West wie Nord-Süd betrifft, ist keine sonnenglänzende Wiese, wie Sie die internationale Landschaft dargestellt haben.
Ich gebe meiner tiefen Überzeugung und Sorge Ausdruck, daß wir im Laufe der letzten Zeit in die gefährlichsten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Wir sind in die gefährlichsten Jahre eingetreten, in denen nur das Zusammenstehen aller wirklich freiheitlichen Kräfte in Europa die
Garantie und die Aussicht dafür bieten kann, daß am Ende nicht das Kollektiv, sondern der Mensch, die Person und ihre Freiheit im Mittelpunkt von Staat und Gesellschaft stehen werden.
Es gibt — dazu haben Sie, Herr Bundeskanzler, leider nichts gesagt — sichere Anzeichen dafür, daß es in den kommenden vier Jahren schwere internationale Krisen geben wird: Einmal sind es die Machtverhältnisse im Kreml mit den Fragen der Nachfolge Breschnews. Dann ist es die Frage des Euro-Kommunismus, wo Herr Brandt heute merkwürdig verschwiegen war.
Jugoslawien haben Sie kurz erwähnt. Sie sagten, Sie bejahten die Unabhängigkeit Jugoslawiens. Wer bedroht denn die Unabhängigkeit Jugoslawiens? Und wie sieht die europäische Landschaft aus, wenn Jugoslawien seine Unabhängigkeit verloren haben sollte? Stehen hier die Europäer gemeinsam mit den Amerikanern in einer politischen Front?
Hier, Herr Bundeskanzler, haben Sie immer Attentismus, Abstinenz und Askese bewiesen, obwohl Sie doch sonst so forsch und munter und fröhlich drauflos den Lehrmeister aller Völker der Welt zu spielen bereit sind.
Aber da, wo es darauf ankommt, flüchten Sie in die unverbindliche Phrase.
Wie steht es denn mit der strategischen Überlegenheit der Sowjetunion über die USA? Auf konventionellem Gebiet ist sie längst erreicht, auf nuklearem Gebiet vielleicht auch schon erreicht oder demnächst bevorstehend. Wie steht es denn damit, meine Damen und Herren? Man kann doch nicht einfach daran vorbeigehen, daß auf einer Insel wie Moçambique ein großer sowjetischer Raketenstützpunkt errichtet wird, daß in Angola dasselbe geschieht, daß ungeheure Mengen von Kriegsmaterial nach Libyen geschaffen worden sind und dort für die Zwecke nicht der libyschen Streitkräfte, sondern der sowjetrussischen Streitkräfte an geheimen Depots an drei Stellen im Lande gestapelt werden.
Man kann doch die Probleme Nord- und Südafrikas nicht einfach mit der allgemeinen Phrase abtun: Wir hoffen, daß die Herrschaft bald von der Mehrheit übernommen wird. Wer ist denn die Mehrheit in einem Lande, wo es 4 Millionen Weiße, 17 Millionen Schwarze, Hunderttausende von Indern, Malaien und von Kapfarbigen gibt, wo die Probleme einer vielrassigen Gesellschaft doch nicht auf die simple Formel „Herrschaft der Mehrheit bei Schutz der Minderheit" gebracht werden können!
Was ist denn aus Angola und Moçambique heute geworden? Ein riesiges Konzentrationslager mit Hunger, Not und Tod, mit Epidemien und Seuchen, mit grausamster Unterdrückung, mit Konzentrationslagern, die ihren Vergleich nur noch in der Geschichte des zweiten Weltkrieges finden. Ist das die Befreiung, ist das die Emanzipation, ist das das Zukunftsbild, das wir vor unseren Augen haben?
Hier sollten Sie als Bundeskanzler entweder nichts sagen oder sich, wenn Sie etwas sagen, informieren
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und dann einen Standpunkt vertreten, der zumindest eine Hilfe für unsere amerikanischen Verbündeten ist. Denn wenn die Kaproute eines Tages in die Hände der sowjetischen Globalstrategen fiele, um die 80 °/o des Öls für Europa transportiert werden, wäre unsere Situation in der NATO, ohne daß ein Schuß fällt, schon von Anfang an so geschwächt und so ausgehöhlt, daß die ganze NATO binnen kurzem einstürzen würde. Hier sind Probleme, wo wir aufhören müssen, in national engem Rahmen zu denken, wo wir als Europäer und wo wir auch mediterran, atlantisch denken müssen, wo wir auch daran denken müssen, die Volksrepublik China an den Sicherheitsüberlegungen für Europa mit zu beteiligen. Ich wage, das zu sagen, obwohl es manchmal nicht gern gehört wird.
Hier treten Probleme auf, die in den nächsten zehn Jahren mit Sicherheit virulent werden. Ein Parlament, das sich ernst nimmt, muß sich über die Fragen der Gesellschaftspolitik hinaus auch der Fragen annehmen, von denen in Zukunft die physische Existenz, das moralische Überleben und die Aufrechterhaltung einer freien Gesellschaftsordnung maßgebend abhängen.
Was den Westen — ich kann mich nicht zu seinem Anwalt aufwerfen, aber ich kann als Parlamentarier meine politische Meinung sagen — von der Planung im Kreml unterscheidet, ist einerseits eine ungeheure wirtschaftliche Überlegenheit bei gleichzeitig erheblicher militärischer Schwäche. Was den Westen andererseits davon unterscheidet, ist eine Von-Fall-zu-Fall-Entscheidung in außenpolitischen Fragen, ein Attentismus, ein Abwarten, die punktuelle Behandlung eines Problems. Der maßgebende Mann für die Sicherheit des sowjetischen Bereiches ist Herr Andropow. Er hat neben den sicherheitsdienstlichen Aufgaben die informationspolitischen Aufgaben, und er hat darüber hinaus auch noch die Aufgaben der Diversion. Vor seinem Schreibtisch steht ein großer Globus. Ein Besucher, der jüngst bei ihm war, sagte mir: „Herr Andropow hat mich auf diesen Globus hingewiesen und gesagt: ,Alles, was wir tun, sehen wir in einem weltweiten Zusammenhang mit langem strategischen Atem.'" Das ist der entsetzliche Unterschied, daß bei uns mehr und mehr nur Innenpolitik mit Schwerpunkt Gesellschaftspolitik gesehen wird und daß wir eines Tages aufwachen und feststellen werden: die Verhältnisse in der Welt haben sich grundlegend verändert.
Darüber, Herr Bundeskanzler, von Ihnen etwas zu erfahren, wäre auch Aufgabe einer Regierungserklärung gewesen, und das sollten Sie nachholen.