Rede:
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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 Inhalt: Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Kohl CDU/CSU 55 A Brandt SPD 67 B Mischnick FDP 79 A Strauß CDU/CSU 86 A Wehner SPD 99 C Hoppe FDP 102 C Dr. Barzel CDU/CSU . . . . . . . 105 B Schmidt, Bundeskanzler 113 A Genscher, Bundesminister AA . . . . . 121 D Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen . 88 A Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde und Regelung betr. die Einreichung von Fragen für die Sitzungswoche ab 17. Januar 1977 123 C Nächste Sitzung 123 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 125' A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 55 6. Sitzung Bonn, den 17. Dezember 1976 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein 17. 12. Dr. Aigner * 17. 12. Dr. Früh * 17. 12. Dr. Fuchs 17. 12. Dr. Gruhl 17. 12. für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Ansage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Klepsch * 17. 12. Lampersbach 17. 12. Lange * 17. 12. Lücker * 17. 12. Müller (Bayreuth) 17. 12. Schedl 17. 12. Seefeld * 17. 12. Dr. Staudt 17. 12. Frau Dr. Walz * 17. 12. Dr. Warnke 17. 12. ■.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Franz Josef Strauß


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Es gibt eben Reclam-Ausgaben von Büchern, die sind im Quantum etwas kleiner, im Inhalt gleich.

    (Heiterkeit und Zurufe)

    Aber ich weiß nicht, welche Verbindungen Sie zu diesem Verlag haben. Der Verlag selbst hat sich noch nicht beschwert. Aber wenn Sie eine andere Ausdrucksweise wollen, würde ich in Zukunft sagen, daß Sie ein Politiker im Taschenbuchformat sind.

    (Immer [Altenkirchen] [SPD] : Auch das ist eine Diffamierung!)

    — Etwas bissigen Humor darf man in diesem Haus auch noch haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Ungleichgewichte, von denen der Bundeskanzler spricht, sind gerade durch die SPD- und FDP-Politik in den Ländern und im Bund entstanden.
    Der Ausbau der allgemeinbildenden weiterführenden Schulen ist forciert worden. Hauptschule und berufliches Schulwesen sind vernachlässigt worden. Man setzte Bildung mit akademischer Bildung und Akademikerstatus gleich. Man sah den Erfolg der Bildungspolitik nicht darin, alle Schulen gleichmäßig auszubauen. Gerade wir legen betonten Wert darauf, daß die Hauptschule wirklich von der Mehrheit der Schüler mit Aussicht auf Prädikat absolviert werden kann

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und daß die Hauptschule qualitätsmäßig so angehoben wird, daß in ihr der Übergang in das Berufs-
    leben am leichtesten verwirklicht werden kann, selbstverständlich über den zweiten oder den dritten Bildungsweg, dann der Einstieg und Durchstieg in weitere Möglichkeiten. Wenn der Bundeskanzler hier das Berufsschulgrundjahr erwähnt, dann ist daran zu erinnern, daß das Berufsschulgrundjahr von den Unionsländern vorgeschlagen worden ist, während die Sozialisten in der Bildungspolitik ein zehntes theoretisches Schuljahr haben wollten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich mache ihm ja gern das Kompliment, daß seine Regierungserklärung, soweit sie Substanz hat, weitgehend die Übernahme von Vorschlägen der CDU/ CSU bedeutet.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Marx [CDU/CSU] : So ist es!)

    Das trifft auf eine Reihe von Teilen seiner Regierungserklärung zu.
    Dieses Berufsschulgrundjahr ist viel wesentlicher als ein weiteres Jahr Theorie, weil das den Übergang in das Berufsleben erleichtert. Wir müssen die unerträgliche Überfüllung unserer Hochschulen jetzt endlich beenden, und die kann nicht dadurch beendet werden, daß man den Abiturienten sagt: „Ihr dürft nicht studieren; ihr müßt viele Jahre warten", sondern nur dadurch, daß man andere Möglichkeiten der Berufsausbildung bietet, daß man die Erlernung eines den Mann und die Familie ernährenden und zufriedenstellenden Berufes auf anderem Wege ermöglicht. Nur so ist doch das Problem zu lösen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es ist doch abenteuerlich, zu glauben, daß man durch die Vermehrung der Zahl der Abiturienten die Zahl der Begabten fördern könnte. Das Niveau sinkt im Durchschnitt, aber nicht die Zahl der Begabungen. Die neuerliche Vererbungslehre und die Milieutheorie erweisen doch eindeutig, daß die Vorstellung, nach der die Begabungen nur aus bestimmten Milieus kämen, falsch ist. Das war die berühmte Milieutheorie der Marxisten und ihrer Spätnachfolger, die eine Art Milieubelastung positiver und negativer Art schaffen wollten. Für wieviel Prozent der Abiturienten bieten denn die zukünftige Gesellschaft und die zukünftige Wirtschaft echte akademische Berufsmöglichkeiten? Wahrscheinlich sind es weniger als 25 %. Herr Professor Edding spricht von 15 %. Wovor wir Sorge haben — das ist auch ein Problem, das wir nur gemeinsam lösen können —, ist, daß dieselben Menschen, die heute vor den verschlossenen Toren der Hochschulen stehen, fünf Jahre später vor den verschlossenen Toren der Gesellschaft und der Berufswelt stehen und daß diese dann das revolutionäre Potential entwickeln könnten, das nicht von der Arbeiterschaft in Deutschland gestellt wird, sondern sich aus ganz anderen Schichten und Kreisen rekrutiert.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der Herr Bundeskanzler — er mußte leider weggehen; aber ich hätte noch ein paar schöne Dinge für ihn gehabt — hat von Liberalität, Bürger, Gesellschaft und Staat gesprochen. Ohne Zweifel stehen wir vor der Gefahr, besser: mitten in der Gefahr
    96 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Strauß
    einer zunehmenden Paragraphenverdrossenheit der Bürger, einer damit um sich greifenden Beamtenverdrossenheit, die eines Tages auch zur Staatsverdrossenheit werden kann. Sicherlich sind Ihre Vorstellungen in diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, man müsse die Gas-, Strom- und Wasserrechnungen leichter ablesen können, sehr interessant und werden draußen gern gehört. Das gebe ich Ihnen zu. Bei Bankauszügen geht es einem genauso. Die Diätenauszüge dagegen sind — beinahe hätte ich gesagt — idiotensicher. Die haben Sie sich anscheinend nicht angeschaut; sonst hätten Sie sich von der leichten Lesbarkeit überzeugen können. Aber bei Gehaltsauszügen schaut das schon wieder ganz anders aus.
    Aber das trifft nicht den Kern, sondern ist nur ein wichtiger Teil des Problems: Computer, elektronische Datenverarbeitung. Aber wie sehr Sie, Herr Bundeskanzler, die Dinge verharmlosen, geht daraus hervor, daß Sie von dem Schutz der Privatsphäre der Bürger durch das Datenschutzgesetz sprechen. Warum ist das Datenschutzgesetz in diesem Hause nicht einstimmig verabschiedet worden? Warum haben die unionsregierten Länder mit Ausnahme von Niedersachsen und dem Saarland dem Datenschutzgesetz nicht zugestimmt? Weil — die Begründung können Sie in den Protokollen nachlesen — nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion und nach Meinung der meisten unionsregierten Länder gerade diese Garantie, der Schutz der Privatsphäre gegen willkürliche, fahrlässige und unerwünschte Behandlung intimer Daten, nicht ausreichend gewährleistet ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Schäfer [Tübingen] [SPD] : Haben Sie sich mit der Materie einmal befaßt?)

    — Herr Kollege Schäfer, ich weiß nicht, in welchem Maße Sie davon mehr verstehen als ich. Aber ich gehe davon aus, daß in einer Fraktion einer nicht alles wissen kann. Das unterscheidet Sie vielleicht von mir.

    (Dr. Schäfer [Tübingen] [SPD] : Den Eindruck habe ich auch!)

    Aber so unterschiedlich hat eben Gott die Menschen gemacht. Sie sind eben ein umfassendes Gehirn, sozusagen der Leibniz der Fraktion.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Wir müssen mehr von der Arbeitsleistung leben. Nach dieser Arbeitsteilung habe ich zu meinen Kollegen, die dieses Problem im Ausschuß und in der Fraktion federführend bearbeitet haben, so viel Zutrauen, daß sie nicht nein gesagt haben um des Neinsagens willen, sondern daß sie nein gesagt haben, weil man ihre Vorschläge auf verbesserten Schutz der Privatsphäre restlos, ohne jede Bereitschaft zur Kooperation und zur Verständigung, niedergebügelt und abgelehnt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Schäfer [Tübingen] [SPD] : Das ist doch gar nicht wahr! Sie haben keine Ahnung! Es war anders, Herr Strauß! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Schauen Sie, das Geschrei hat doch keinen Sinn.

    (Dr. Schäfer [Tübingen] [SPD] : Es war anders, Herr Strauß! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Dann müssen Sie damit vorlieb nehmen, daß ich mich aus dem Bundestagsprotokoll nach Vorlage des Berichts des Vermittlungsausschusses informiert habe. Und hier haben sich meine Kollegen so geäußert und ihre Absage damit begründet.

    (Zurufe von der SPD: Das ist falsch!)

    Aber ich sage ja: das ist nicht das allein Entscheidende. Eine Aufgabe, der sich die Bundesregierung ernsthaft unterziehen sollte — und wir sind bereit mitzuwirken —, ist, erstens einmal dafür zu sorgen, daß diese unerträgliche Flut, um nicht zu sagen diese steigende Lawine immer neuer Gesetze und Verordnungen endlich einmal aufhört.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn Sie sehen, was hier in den letzten fünf, sechs Jahren produziert worden ist gegenüber früher — und die Quantität kann da nicht Ersatz für Qualität sein; hier ist eine Qualitätsverschlechterung eingetreten —, wenn Sie sehen, Herr Bundeskanzler, was allein im Steuerrecht, im Finanzrecht, wenn ich mich etwas weiter ausdrücken darf, im Laufe der letzten sechs, sieben Jahre ständig durch hektische, sich überstürzende Änderungen — zum Teil schon vor Inkrafttreten eines beschlossenen Gesetzes wiederum beschlossen — an Unfug angerichtet worden ist, so werden auch Sie wohl zu dem Ergebnis gelangen: Wir müssen das wieder in den Griff bekommen; wir brauchen wieder ein einfacheres, durchschaubareres Steuerrecht.
    Wir müssen auch dafür sorgen, daß die Sprache des Gesetzgebers für den Bürger wieder verständlicher wird. Herr Bundeskanzler, sehen Sie sich doch einmal unter diesem Gesichtspunkt die Produktion an, die in Ihrer Zeit stattgefunden hat. Die schöne Zeit, wo die Sprache des Rechts die Sprache der Poesie und des Humors war, ist vorbei. Ich habe z. B. nachgelesen: „Augen auf, Kauf ist Kauf." So heißt es im altdeutschen Recht. „Wer närrisch kauft, muß weislich zahlen." Jetzt heißt das: „Keine Sachmängelhaftung". „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul" heißt heute: „Keine Mängelhaftung des Schenkers." „Hand wider Hand" heißt in der Gesetzessprache: Wer einem anderen eine Sache anvertraut, kann sie nur von diesem und nicht von einem Dritten zurückfordern, wenn sie der Vertrauensmann veruntreut hat.
    Man lese z. B. nach, was nach dem Bundesgesetz zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht im Jahre 1958 beschlossen worden ist:
    Personen, die im Sinne des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der NS-Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz in der Fassung des Gesetzes vom 29. 6. 1956) verfolgt und dadurch in ihrer auf Schädigungen im Sinne der §§ 1 und 82 des Bundesversorgungsgesetzes beruhenden Versorgung geschädigt worden sind (Geschädigte), erhalten als Wiedergutmachung eine Entschädigung nach Maßgabe der §§ 3 und
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 97
    Strauß
    4, sofern sie im Zeitpunkt der Entscheidung über die Wiedergutmachung ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hatten und nicht zu den nach dem Bundesgesetz zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht in der Kriegsopferversorgung im Ausland in der Fassung der Gesetze vom 25. 6. 1958 zu entschädigenden Personen gehören.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Noch etwas aus der jüngsten Produktion, vom 13. November 1976:
    Verordnung zur Umstellung der Verordnung über Ausnahmen von den Vorschriften der Verordnung über die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße auf das Gesetz über die Beförderung gefährlicher Güter sowie zur Änderung dieser Verordnung (Umstellungs- und Änderungsverordnung der Ausnahmeverordnung zur Gefahrgutverordnung Straße).

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Unterschrieben: Gscheidle.


    (Große Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist bedauerlich, aber angesichts der Umstände nicht zu ändern, daß wegen der Aufspaltung der Aussprache zur Regierungserklärung die Themen Deutschlandpolitik, Ostpolitik und Außenpolitik mit all ihren vielzähligen Problemen hier naturgemäß in der ersten und in der zweiten Runde nicht die Würdigung erfahren können, wie es der Ernst des Gegenstandes, der Ernst der Sache ohne jeden Zweifel erfordern würde. Herr Bundeskanzler, ich darf Sie nur darauf hinweisen, daß Ihre Ausführungen zur Lage der Nation das Problem gewaltig vereinfachen.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Über dieses Thema sprechen wir sowieso noch! Das ist nicht aufgegessen!)

    Es geht hier nicht nur um das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten, es geht nicht um diese Frage allein, so wichtig sie ist. Gegensätze und Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Gesellschaftsordnungen dürfen nicht mit der Wertneutralität und, wie ich beinahe gesagt hätte, moralischen Gleichgültigkeit behandelt werden, als ob es sich hier um Staaten und Gesellschaftsordnungen gleichartiger Legitimation handelt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir wissen einigermaßen, was hier vor sich geht. Aber warum haben die Behörden der DDR z. B. auf der Leipziger Herbstmesse 1976 Prospekte von Firmen der Bundesrepublik polizeilich beschlagnahmt? Sie haben folgende Gründe angegeben: Der Prospekt der Firma Siemens hatte eine „Verkaufsniederlassung in Berlin" statt „in West-Berlin" angeführt, Mannesmann hatte in einem Prospekt das Wort „Deutschland" aufgeführt. Weiterhin wurde wegen des rot eingerahmten Termins des 17. Juni der Taschenkalender der gleichen Firma beschlagnahmt. Schering gab in einem Prospekt zwei Firmensitze an, und zwar Berlin (West) und Bergkamen. Es gibt noch ähnliche Beispiele dieser Art.
    Das sind Zeichen dafür, daß man dort ohne die geringste Einsicht, ohne die geringste Anerkennung einer Verständigungsnotwendigkeit um vernunftgemäßes Miteinanderauskommen das politische Prinzip der Drei-Staaten-Theorie, der Teilung Deutschlands in zwei Staaten und einer selbständigen Einheit Berlins, bis in die lächerlichsten Kleinigkeiten hinein durchsetzen will. Das hat nichts mit dem Geist von Helsinki zu tun, das hat nichts mit dem Geist der Entspannung zu tun,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    das hat nichts mit der Anerkennung gegenseitiger Interessen und dem Willen zur Verständigung zu tun.
    Herr Bundeskanzler, täuschen Sie sich nicht! Es stimmt, daß Sie 8 Millionen Reisebewegungen haben; aber das heißt noch lange nicht, daß das 8 Millionen Deutsche sind. Früher. sagten Sie, waren es 2,5 Millionen — das stimmt —, aber jetzt reisen dieselben Personen, was durchaus erfreulich ist, mehrmals. Sie sprechen von 8 Millionen Personen —das ist nachweisbar unrichtig. Ein großer Teil dieser Reisen findet auch auf solchen Wegen statt, auf denen die geschlossenen Reisegruppen keine Möglichkeit haben, mit der Bevölkerung in ernsthaften Kontakt zu kommen. Zum Teil werden sie nur dazu benutzt, um ein bestimmtes Programm zu absolvieren und in Inter-shop-Läden mit D-Mark einzukaufen, was dort allerdings zu billigeren Preisen möglich ist, als die gleichen Waren bei uns kosten.
    Herr Bundeskanzler, die Feststellung, daß für das Schießen an der Grenze nicht die Bundesrepublik verantwortlich ist, ist zu wenig, wenn nach der Konferenz von Helsinki immer noch munter weitergeschossen wird, wenn der Soldat, der Herrn Corghi, einen kommunistischen Genossen, erschossen hat, nicht einmal disziplinarisch, geschweige denn strafrechtlich belangt worden ist. Wenn dort der Schießbefehl als ein Tabu erklärt wird, ist das für Sie noch lange kein Grund, die Behandlung dieses Themas etwa aufzugeben oder ihr auszuweichen, weil das den Geist der Verständigung oder die Entspannung stören könnte.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Deshalb haben wir auch kein Verständnis dafür, daß die SPD-Kollegen bei der letzten NATO-Parlamentariertagung den von meinen Freunden unter Federführung des Kollegen Blumenfeld eingebrachten Antrag auf Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in der DDR abgelehnt haben,

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Das war vielleicht eine Schande! Während die Amerikaner zugestimmt haben! — Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    während die Parlamentarier der mit uns verbündeten Länder diesen Antrag unterstützt und ihm zu einer Mehrheit verholfen haben. Hier wird nicht mehr Entspannungspolitik betrieben, hier wird Annäherung durch Anpassung betrieben. Hier wird eine einseitige Politik des Rückzugs propagiert, und das endet bei dem unzerstörbaren und unausweichlichen kommunistischen Machtwillen auf der ande-
    98 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Strauß
    ren Seite an einem Punkt, den wir alle bedauern werden, wenn auf dieser Straße fortgefahren wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie sagten, Berlin sei die größte deutsche Industriestadt, was stimmt. Sie sagten, es sei ein bedeutendes Kulturzentrum; auch das stimmt. Wird Berlin auch der Sitz der Nationalstiftung werden, Herr Bundeskanzler? Die Antwort auf diese Frage würde uns sehr interessieren. Haben Sie Angst zu sagen, obwohl Sie hier auf dem Boden des vom Verfassungsgericht bestätigten Rechts stehen: Berlin ist und bleibt die Hauptstadt des Deutschen Reiches?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn Sie diesen Standpunkt einnehmen, müssen Sie die Verfasser der Kanzleramtsstudie über das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR und der Menschen zueinander allerdings entlassen. Sie hätten diese Menschen, diese Gruppe überhaupt nie beauftragen dürfen, eine Studie zu erstellen, die man sehr als Erfüllungshilfe für den Machtwillen Ost-Berlins denn als eine Darstellung der wirklichen Verhältnisse kennzeichnen könnte.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundeskanzler, ein großer Arbeiterführer des 19. Jahrhunderts, Ferdinand Lassalle, hat ein Wort gesagt, das für uns alle gelten sollte: Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit; alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist. — Das offene Aussprechen ist schon eine politische Aktion.
    Wir haben nicht nur an die Menschen im anderen Teil Deutschlands zu denken. Wir haben hier im Zusammenhang mit der Aussprache über die Regierungserklärung auch ein Wort an die Adresse unserer Heimatvertriebenen und Flüchtlinge zu richten,

    (Vereinzelter Beifall bei der CDU/CSU)

    einer Menschengruppe, die für den Wiederaufbau der Bundesrepublik Großartiges geleistet hat, die ein Muster politischer Disziplin geboten und die wie alle anderen Völker das Recht hat, auch an ihr Recht auf Heimat zu denken, ohne daß damit irgendwelche nationalistischen Töne verbunden sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen doch — und das hätte von Ihnen, Herr Bundeskanzler, in einem Bericht gesagt werden müssen, der nicht nur Regierungserklärung, sondern in einem hohen Maße auch ein Bericht zur Lage der Nation sein sollte —: Die gegenwärtige europa- und weltpolitische Situation, sowohl was Ost-West wie Nord-Süd betrifft, ist keine sonnenglänzende Wiese, wie Sie die internationale Landschaft dargestellt haben.
    Ich gebe meiner tiefen Überzeugung und Sorge Ausdruck, daß wir im Laufe der letzten Zeit in die gefährlichsten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Wir sind in die gefährlichsten Jahre eingetreten, in denen nur das Zusammenstehen aller wirklich freiheitlichen Kräfte in Europa die
    Garantie und die Aussicht dafür bieten kann, daß am Ende nicht das Kollektiv, sondern der Mensch, die Person und ihre Freiheit im Mittelpunkt von Staat und Gesellschaft stehen werden.

    (Vereinzelter Beifall bei der CDU/CSU)

    Es gibt — dazu haben Sie, Herr Bundeskanzler, leider nichts gesagt — sichere Anzeichen dafür, daß es in den kommenden vier Jahren schwere internationale Krisen geben wird: Einmal sind es die Machtverhältnisse im Kreml mit den Fragen der Nachfolge Breschnews. Dann ist es die Frage des Euro-Kommunismus, wo Herr Brandt heute merkwürdig verschwiegen war.
    Jugoslawien haben Sie kurz erwähnt. Sie sagten, Sie bejahten die Unabhängigkeit Jugoslawiens. Wer bedroht denn die Unabhängigkeit Jugoslawiens? Und wie sieht die europäische Landschaft aus, wenn Jugoslawien seine Unabhängigkeit verloren haben sollte? Stehen hier die Europäer gemeinsam mit den Amerikanern in einer politischen Front?
    Hier, Herr Bundeskanzler, haben Sie immer Attentismus, Abstinenz und Askese bewiesen, obwohl Sie doch sonst so forsch und munter und fröhlich drauflos den Lehrmeister aller Völker der Welt zu spielen bereit sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber da, wo es darauf ankommt, flüchten Sie in die unverbindliche Phrase.
    Wie steht es denn mit der strategischen Überlegenheit der Sowjetunion über die USA? Auf konventionellem Gebiet ist sie längst erreicht, auf nuklearem Gebiet vielleicht auch schon erreicht oder demnächst bevorstehend. Wie steht es denn damit, meine Damen und Herren? Man kann doch nicht einfach daran vorbeigehen, daß auf einer Insel wie Moçambique ein großer sowjetischer Raketenstützpunkt errichtet wird, daß in Angola dasselbe geschieht, daß ungeheure Mengen von Kriegsmaterial nach Libyen geschaffen worden sind und dort für die Zwecke nicht der libyschen Streitkräfte, sondern der sowjetrussischen Streitkräfte an geheimen Depots an drei Stellen im Lande gestapelt werden.
    Man kann doch die Probleme Nord- und Südafrikas nicht einfach mit der allgemeinen Phrase abtun: Wir hoffen, daß die Herrschaft bald von der Mehrheit übernommen wird. Wer ist denn die Mehrheit in einem Lande, wo es 4 Millionen Weiße, 17 Millionen Schwarze, Hunderttausende von Indern, Malaien und von Kapfarbigen gibt, wo die Probleme einer vielrassigen Gesellschaft doch nicht auf die simple Formel „Herrschaft der Mehrheit bei Schutz der Minderheit" gebracht werden können!
    Was ist denn aus Angola und Moçambique heute geworden? Ein riesiges Konzentrationslager mit Hunger, Not und Tod, mit Epidemien und Seuchen, mit grausamster Unterdrückung, mit Konzentrationslagern, die ihren Vergleich nur noch in der Geschichte des zweiten Weltkrieges finden. Ist das die Befreiung, ist das die Emanzipation, ist das das Zukunftsbild, das wir vor unseren Augen haben?
    Hier sollten Sie als Bundeskanzler entweder nichts sagen oder sich, wenn Sie etwas sagen, informieren
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 99
    Strauß
    und dann einen Standpunkt vertreten, der zumindest eine Hilfe für unsere amerikanischen Verbündeten ist. Denn wenn die Kaproute eines Tages in die Hände der sowjetischen Globalstrategen fiele, um die 80 °/o des Öls für Europa transportiert werden, wäre unsere Situation in der NATO, ohne daß ein Schuß fällt, schon von Anfang an so geschwächt und so ausgehöhlt, daß die ganze NATO binnen kurzem einstürzen würde. Hier sind Probleme, wo wir aufhören müssen, in national engem Rahmen zu denken, wo wir als Europäer und wo wir auch mediterran, atlantisch denken müssen, wo wir auch daran denken müssen, die Volksrepublik China an den Sicherheitsüberlegungen für Europa mit zu beteiligen. Ich wage, das zu sagen, obwohl es manchmal nicht gern gehört wird.

    (Zurufe von der SPD)

    Hier treten Probleme auf, die in den nächsten zehn Jahren mit Sicherheit virulent werden. Ein Parlament, das sich ernst nimmt, muß sich über die Fragen der Gesellschaftspolitik hinaus auch der Fragen annehmen, von denen in Zukunft die physische Existenz, das moralische Überleben und die Aufrechterhaltung einer freien Gesellschaftsordnung maßgebend abhängen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    Was den Westen — ich kann mich nicht zu seinem Anwalt aufwerfen, aber ich kann als Parlamentarier meine politische Meinung sagen — von der Planung im Kreml unterscheidet, ist einerseits eine ungeheure wirtschaftliche Überlegenheit bei gleichzeitig erheblicher militärischer Schwäche. Was den Westen andererseits davon unterscheidet, ist eine Von-Fall-zu-Fall-Entscheidung in außenpolitischen Fragen, ein Attentismus, ein Abwarten, die punktuelle Behandlung eines Problems. Der maßgebende Mann für die Sicherheit des sowjetischen Bereiches ist Herr Andropow. Er hat neben den sicherheitsdienstlichen Aufgaben die informationspolitischen Aufgaben, und er hat darüber hinaus auch noch die Aufgaben der Diversion. Vor seinem Schreibtisch steht ein großer Globus. Ein Besucher, der jüngst bei ihm war, sagte mir: „Herr Andropow hat mich auf diesen Globus hingewiesen und gesagt: ,Alles, was wir tun, sehen wir in einem weltweiten Zusammenhang mit langem strategischen Atem.'" Das ist der entsetzliche Unterschied, daß bei uns mehr und mehr nur Innenpolitik mit Schwerpunkt Gesellschaftspolitik gesehen wird und daß wir eines Tages aufwachen und feststellen werden: die Verhältnisse in der Welt haben sich grundlegend verändert.
    Darüber, Herr Bundeskanzler, von Ihnen etwas zu erfahren, wäre auch Aufgabe einer Regierungserklärung gewesen, und das sollten Sie nachholen.

    (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Hermann Schmitt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Strauß, Sie haben etwas von Ihren Manuskripten hier liegenlassen. Ich möchte davon keinen Mißbrauch machen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das richtete sich gegen den Bundeskanzler; aber das können Sie ihm noch später versetzen, und zwar alles. Ich bin hier mehr für Eigenproduktion.

    (Erneute Heiterkeit und erneuter Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es ist hier von zwei Oppositionsführern gesagt worden, was sie zur Regierungserklärung zu sagen haben. Einen wirklichen Drang zur Auseinandersetzung mit der Regierungserklärung habe ich auch heute hier nicht gespürt, so wie ich ihn, was ja seltsam ist, wenn man das bei einer Oppositionspartei zu vermissen Gründe hat, vorher vermißt habe. Denn diese Opposition hätte ja auf eine gründliche Debatte dieser Regierungserklärung drängen müssen. Sie hat es nicht getan.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Heute hat der Herr Strauß damit angefangen, zu sagen, was nach seiner Meinung dies für eine Regierungserklärung gewesen sei.

    (Dr. Althammer [CDU/CSU] : Nicht nur nach seiner!)

    Ich will Herrn Straußens Bewertungen nicht noch mal zitieren; das sind ja seine eigenen.

    (Dr. Althammer [CDU/CSU] : Lesen Sie mal die Presse!)

    — Nun, Sie werden ja wohl Herrn Strauß nicht mit der Presse vergleichen. Wir reden doch hier nicht über die Presse, sondern miteinander.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    — Nein.
    „Soweit sie Substanz hat, diese Regierungserklärung", hat der Herr Strauß — —

    (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU)

    — Ja, hat der Herr Strauß!

    (Anhaltendes Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

    - Nein, nein.

    (Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Das weiß ich.

    (Fortgesetztes Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ich kann ja noch mal anfangen. Der Herr Strauß hat ja gesagt, soweit sie Substanz habe.

    (Erneutes Lachen und Zurufe von der CDU/ CSU)

    — Ja sicher, deswegen habe ich so angefangen. Aber Sie brauchen heute Lärm. Sie brauchen Selbstbefriedigung auf eine ganz besondere Eigenart. Das ist das, was Sie brauchen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    100 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Wehner
    Immerhin, man kann eine Regierungserklärung so bezeichnen, und um dann das eine oder andere aufzupicken, sagt man: „Es handelt sich um Vorschläge der CSU und der CDU".
    Herr Strauß, Sie wollen das mit dem Thema Rentenversicherungen so halten, wie Ihre Partei und Sie als der Matador es mit dem Thema Inflation halten. Als es als Thema nicht zündete, haben Sie in Bayern und anderswo nachgeholfen und haben Geldscheine mit riesigen aufgedruckten Nullen verteilt, damit die Leute den Schrecken in den Knochen fühlten. Wenn sie die Umseite sahen, sahen sie: so würde es sein; so sehen Sie das. Sie wollen das Rententhema genau so auswalzen wie damals und wie auch heute noch, wenn es darauf ankommt, das Inflationsthema.
    Ich habe eine einzige Feststellung zu treffen. Wenn das so wäre, Herr Strauß, wie Sie heute hier mimen, wieso haben Sie dann der Rentenerhöhung im vorigen Jahre zugestimmt, und zwar in der ersten Lesung, in der zweiten Lesung, in der dritten Lesung?

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Dann hätte ja Ihr Gewissen Sie zwingen müssen zu sagen: Es blutet uns das Herz,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    wir möchten so gerne. — Da feixen Sie, Patent-C-
    Träger, da feixen Sie!

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das hätten Sie machen müssen. Sie hätten sagen müssen: „Wir haben immer zugestimmt", und zugleich haben Sie den anderen Leuten gesagt: „Aber finanziert werden kann das nicht". Da das so ist, wie Sie es wollen — es soll nämlich ein längere Zeit währender Dauerbrenner werden —, wird er das werden. Dennoch werden Sie, weder Herr Strauß noch Herr Kohl — entschuldigen Sie, daß ich die Reihenfolge so nehme —,

    (Heiterkeit bei der SPD)

    die Genugtuung haben, daß das politisch wirkt, aber nicht, daß das unserem Volke hilft, und Sie werden auch nicht erleben, daß wir, unser Staat, daran zugrunde gehen, weil wir fähig sind, Ihrer Art von Demagogie nicht nur zu widersprechen, sondern auch zu widerstehen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das Wort Ehrlichkeit aus Ihren Mündern ist ja nun für die Faschingszeit und nicht für die Vorweihnachtszeit gemeint.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zuruf des Abg. Dr. Marx [CDU/CSU])

    Meine Damen und Herren, da haben Sie alles mögliche auf dem Korn.
    Außerdem haben Sie einige Andeutungen gemacht. Ich weiß, und ich schelte Sie ja nicht, denn damals gab es entsprechende Verhältnisse. In der Zeit des Bundesministers der Finanzen Strauß und des Arbeitsministers Katzer hat es ja auch mit den

    (Breidbach [CDU/CSU] : Problemchen waren das!)

    — Aber bitte, werden Sie doch nicht gleich vorweg nervös. Herr Katzer weiß doch Bescheid. Ich trete ihm ja nicht zu nahe. Ich sage nur, was heute noch davon existiert. Nehmen Sie mal die Beitragslisten in der Arbeiterrentenversicherung: ab 1. 1. 1968 15 %, ab 1. 1. 1969 16 %, ab 1. 1. 1970 17 %, ab 1. 1. 1973 18 %, — alles damals in dieser Zeit beschlossen. Ich schelte Sie dafür nicht, meine Herren von CSU und CDU, ich sage nur: wenn Sie über die Probleme der Rentenversicherung reden wollen, damit wir das, was daran lösbar und lösungsbedürftig ist, lösen, dann leugnen Sie doch bitte nicht oder feixen Sie doch nicht über die Probleme hinweg, die Sie mit Beitragserhöhungen zu lösen versucht haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)

    Da gibt es vieles.
    Und Herr Strauß hat ja ahnungsvoll, aber richtig gesagt, er und seine Freunde seien bereit, in diesen Fragen über alles mit uns zu sprechen und mit sich reden zu lassen. Das ist ganz in Ordnung. Nur, Sie wollten heute die Zeit ausnutzen, um vorher erst noch einmal möglichst viele Leute verrückt und vielen irrsinnig Angst zu machen. Das ist Ihr Weihnachtsbeitrag, meine Herren!

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Rawe [CDU/CSU]: Wer hat denn dauernd die falschen Zahlen bekanntgegeben?)

    — Hier sind keine falschen Zahlen in Umlauf gesetzt worden! Und ich frage Sie zurück: Warum und mit welchem Gewissen haben Sie denn im vorigen Jahr der Rentenerhöhung zugestimmt, während Sie heute behaupten, auch Sie und alle anderen hätten das, was Sie jetzt „falsche Zahlen" nennen, damals schon gewußt?

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Rawe [CDU/CSU] : Sie würden doch nicht so schreien, wenn Sie das nicht gewußt hätten!)

    — Nein, alles andere ist doch völlig uninteressant.
    Sie blasen Dinge auf, weil Sie damit zeitweilig Kampagnen machen wollen, und der Herr Strauß ist geschmacklos genug, sogar diesen abgegriffenen Schlager hier noch einmal in den Mund zu nehmen wie einen alten Kaugummi — guten Appetit, kann ich nur sagen —, diesen Schlager mit dem Rentenbeschluß und der Diätenregelung.

    (Zustimmung bei der ,SPD)

    Fragen Sie einmal den neben Ihnen sitzenden bedeutenden Herrn, der jetzt auch ein Oppositionsführer bei der CDU/CSU ist.

    (Lachen bei der SPD und der FDP)

    Fragen Sie ihn einmal, wie er es damit gehalten hat. Er war Vorsitzender des Sonderausschusses. Fragen Sie doch einmal, wie das eigentlich war, da Sie ja heute gesagt haben, Sie könnten nicht über
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 101
    Wehner
    alles unterrichtet sein, sondern müßten bestimmte Dinge lesen. Aber er sitzt ja jetzt neben Ihnen; er wird Sie ja unterrichten, der Herr Zimmermann, damit Sie sehen, wo das Loch ist, das er noch gelassen hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Sie haben sich ja nicht mit der Regierungserklärung auseinandergesetzt, meine Herren. Das ist eine Arbeitshypothese, die ich respektiere, weil ich Sie richtig eingeschätzt habe, Sie nämlich, die beiden bedeutenden Herren, und Ihre Absicht, sich hier in dieser Zeit nicht mit der Regierungserklärung auseinanderzusetzen, nachdem sie tatsächlich ergangen ist, und die Dinge im übrigen auf eine lange Bank zu schieben. Sonst hätten Sie ja einiges zu dem nicht nur zu sagen gehabt, sondern wahrscheinlich auch zu sagen für notwendig gehalten, was jetzt der Herr Strauß umgekehrt der Regierung in bezug auf Investitionen, auf Erweiterungsinvestitionen anhängt. Da hätten Sie ja einiges hören können. Vielleicht hätten Sie entdeckt, daß das, was davon in der Regierungserklärung steckt, auch von Ihnen stammt, wie Sie es vorhin gesagt haben: Soweit Substanz in ihr wäre, stammte sie von CDU/CSU-Vorschlägen.
    Und dann, Herr Strauß, um das Gemisch Ihrer bedeutungsvollen Dinge einmal ein wenig auseinanderzuziehen: Sie haben hier ein Ereignis aufgeblasen, das sich bei einer NATO-Parlamentarier-Tagung in Williamsburg zugetragen hat. Das Ereignis ist ärgerlich, aber es verdiente bestenfalls im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten ausgetragen zu werden

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    und in Ordnung gebracht zu werden. Aber für Sie war es gerade recht. Vielleicht sind Sie nicht ganz richtig informiert worden. Ich habe den Bericht über diesen Vorgang, und dort lag durchaus nicht nur die Bereitschaft vor, sondern es ist auch darüber geredet worden, in dieser Versammlung miteinander — unter Einschluß der Sozialdemokraten — klarzukommen. Sie wollten dort dieses kleine Stück Skandal haben, damit man dann davon eine Weile leben kann. Das war alles, was dabei herausgekommen ist.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Unglaublich!)

    Sie werden doch einem Mann wie Mattick hier nicht öffentlich vorwerfen wollen, daß er nicht bereit gewesen wäre, etwas gegen bestimmte Schießereien und ähnliches zu sagen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das wollen Sie auch nicht; für Sie sind das alles keine Leute, nicht! Es ist nicht gut, wie Sie glauben, solche Dinge hier unter Gejohle abhandeln zu können.

    (Windelen [CDU/CSU]: Wer johlt denn hier?)

    Nun ein paar Sätze zum Herrn Kohl, der ja heute seinen Einstand hier hat geben können. Daß der Herr Kohl sein Verständnis für die Rolle der parlamentarischen Opposition durch seine Berufung auf Kurt Schumachers berühmte Rede 1949

    (Breidbach [CDU/CSU] : Ausgezeichnet!)

    bekräftigen wollte, hat nach meinem Verständnis den Grund, daß keiner der Vorgänger des Herrn Kollegen Kohl aus den eigenen Reihen und auch keiner seiner Mitoppositionsführer aus CSU und CDU von Herrn Kohl als eine Art Berufungsfall oder Autorität dafür, wie Opposition zu verstehen ist, angeführt werden kann.
    Sonst hätten Sie nämlich Herrn Barzel nehmen müssen, der allerdings auch die längste Zeit es nicht gekonnt und gedurft hatte, der aber, als er doch wiedergewählt war, 1972 mit einem guten Vorsatz in das Parlament ging. Ich habe damals gedacht „Donnerwetter, es ist doch immer nicht zu spät, daß einer noch was lernt!" und habe das auch hier zitiert.

    (Heiterkeit)

    Das waren goldene Sätze, Herr Barzel. Aber fünf Monate später waren Sie vom Fenster, weil Sie vier Jahre die Opposition parlamentarisch führen wollten, und Ihre Fraktion hatte das anders bestimmt. Wir können ja einmal in Ruhe darüber reden — nicht privat, aber hier in diesem Plenum. Das ist interessant nachzulesen.
    Ich sage: Da sich Herr Kohl, um sich zu verdeutlichen, nicht auf einen der Vorgänger in der Oppositionsführerrolle — oder jetzt: in der Mitoppositionsführerrolle — berufen kann, mußte er Kurt Schumacher nehmen. Das verstehe ich gut, und das ist ja ganz ehrenhaft.
    Aber, sehr verehrter Herr Kollege, dann müssen Sie mir auch erlauben, in meine Tasche zu greifen und zu sagen — —

    (Franke [CDU/CSU] : In Ihre eigene dürfen Sie greifen!)

    — Ja, sicher. Werden Sie doch nicht plötzlich auch noch gemein, Herr! Das ist doch wohl gemein, was Sie hier dazwischenreden! — Gut, das sei Ihnen geschenkt. Ich werde das nicht noch öffentlich machen.
    Kurt Schumacher war es, der wörtlich gesagt hat:
    Die Demokratie beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und der Ehrlichkeit.

    (Windelen [CDU/CSU]: Bravo!)

    Die Demokratie kann nur leben, wenn die Menschen selbständig sind und den Willen zur Objektivität haben.

    (Windelen [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Aber die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Gegenteil.
    Herr Kollege Kohl, wenn Sie das im nächsten Bundestag wieder in Ihrer Rede als Oppositionsführer zu zitieren und sich zur Maxime zu machen versuchen, dann sage ich: Das ist in Ordnung! — Beide Sachen gehören nämlich zusammen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

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    Wehner
    Sie haben gesagt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, der Bundeskanzler, der in seiner Regierungserklärung ja über Solidarität, über Liberalität gesprochen hat, beschreibe den Begriff der Solidarität so mit der alten sozialen Frage des 19. Jahrhunderts. Machen Sie es sich bitte nicht zu einfach, indem Sie behaupten, daß das eine alte soziale Frage war. Ich habe dieses vergilbte Heft, das ein Jahr zuvor herausgekommen ist, bevor erstmals international der 1. Mai gefeiert wurde. Da hat man im Rückblick und in der Sprache der damaligen Zeit so geschrieben:
    Die Erfolge der Arbeiter wären aber nicht möglich geworden, wenn die Widerstandsfähigsten unter ihnen nur für sich gesorgt und gekämpft, wenn sie sich nicht als die Vorkämpfer und die Leiter und die Organisatoren betrachtet hätten, wenn sie nicht bestrebt gewesen wären, ihre schwächeren Mitarbeiter, die entweder gar nicht oder wenigstens nicht allein ohne fremde Hilfe im Stande waren, ihre Interessen zu vertreten, an ihren Errungenschaften teilnehmen zu lassen.
    Das war etwas, was die freiheitliche Arbeiterbewegung in die Auseinandersetzungen im politischen Raum eingebracht hat, ohne die es dort nur ödes und geiles Interessentauziehen gegeben hätte.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist insofern etwas, was Sie, wenn es nicht von Sozialdemokraten oder Sozialisten — wie Sie sie auch gern nennen — käme, als etwas Ethisches bezeichneten. Ich sage nur, wie es wirklich war. Nun stehlen Sie sich davon und meinen: Ja, aber da ist die CDU-Vorstellung von Solidarität doch ganz anders, nämlich das, was der Staat dem Bürger ermöglichen soll, damit Solidarität geübt werde.
    Sehr Verehrter, Sie haben sicher einmal gelesen, was der frühere Vorsitzende der CDU und langjährige Bundeskanzler Konrad Adenauer zur Antwort gegeben hat, als man ihn gefragt hat, was er denn rate, daß man den Fragestellern antworte, die wissen wollten, wie das Grundsatzprogramm der SPD zu bewerten sei. Der hatte darauf seine klassische Antwort, um sich in der Sache nicht äußern zu müssen.
    In diesem Grundsatzprogramm steht:
    Wir streiten für die Demokratie. Sie muß die allgemeine Staats- und Lebensordnung werden, weil sie allein Ausdruck der Achtung vor der Würde des Menschen und seiner Eigenverantwortung ist.
    Da haben Sie das wieder drin, was wir haben Weiterglühen lassen aus dem, was Sie so ein wenig wegwerfend „19. Jahrhundert" nennen. Wir bekennen uns — wie man das heute gern sagt — zu diesem Erbe. In unserem Programm — weil Sie auf den Staat abgehoben und das unserer Auffassung gegenübergestellt haben — heißt es:
    Der Staat soll Vorbedingungen dafür schaffen, daß der einzelne sich in freier Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Verpflichtung entfalten kann. Die Grundrechte sollen nicht nur die
    Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat sichern, sie sollen als gemeinschaftsbildende Rechte den Staat mitbegründen.
    Soviel Sie auch suchen werden, Sie werden nirgendwo finden, daß es etwa eine Anleihe aus der CDU- oder gar CSU-Literatur oder deren Katechismen wäre. Das ist ganz genuin sozialdemokratisch. Derjenige, der am meisten dafür getan hat, daß es wirklich auch so hineinkam, das war der von mir verehrte und auch noch immer geliebte Adolf Arndt, dessen Eigenart manche von Ihnen wohl noch kennen, sich ihrer erinnern und vielleicht sogar schätzen werden.
    Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, einiges zu Ihren langen Reden, die Sie der langen Regierungserklärung des Bundeskanzlers verdanken können, sagen zu dürfen. Ich wollte, da Sie die Gelegenheit brauchten und wenig zur Sache sagen konnten, aber viel, um in der Länge mit dem Kanzler konkurrieren zu können, ein Weniges zur Sache sagen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)