Rede:
ID0800600400

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Metadaten
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  • date_rangeDatum: 17. Dezember 1976

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 Inhalt: Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Kohl CDU/CSU 55 A Brandt SPD 67 B Mischnick FDP 79 A Strauß CDU/CSU 86 A Wehner SPD 99 C Hoppe FDP 102 C Dr. Barzel CDU/CSU . . . . . . . 105 B Schmidt, Bundeskanzler 113 A Genscher, Bundesminister AA . . . . . 121 D Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen . 88 A Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde und Regelung betr. die Einreichung von Fragen für die Sitzungswoche ab 17. Januar 1977 123 C Nächste Sitzung 123 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 125' A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 55 6. Sitzung Bonn, den 17. Dezember 1976 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein 17. 12. Dr. Aigner * 17. 12. Dr. Früh * 17. 12. Dr. Fuchs 17. 12. Dr. Gruhl 17. 12. für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Ansage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Klepsch * 17. 12. Lampersbach 17. 12. Lange * 17. 12. Lücker * 17. 12. Müller (Bayreuth) 17. 12. Schedl 17. 12. Seefeld * 17. 12. Dr. Staudt 17. 12. Frau Dr. Walz * 17. 12. Dr. Warnke 17. 12. ■.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Nein, Herr Präsident, ich möchte diese Erklärung abgeben, ohne von Zwischenfragen unterbrochen zu werden. Ansonsten bin ich bei jeder Debatte gern bereit, Zwischenfragen zuzulassen.

    (Zurufe von der SPD)

    — Meine Damen und Herren, dies ist meine Antwort auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der zweieinhalb Stunden beanspruchte. Ich will jetzt hier meine Zeit ausnutzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich will das eben Gesagte in einem Punkt gern einschränken.

    (Zurufe von der SPD: Aha!)

    Der Kollege Friderichs kam wenigstens, wenn auch spät, noch zum Vorschein und hat seine Meinung geäußert. Sie in der SPD sollten sich aber nicht über diesen Punkt erregen, denn Ihre Freunde in Schleswig-Holstein haben das Feuer doch tatkräftig geschürt.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich hätte mir gewünscht, daß der stellvertretende Vorsitzende der SPD, Helmut Schmidt, zu seinen schleswig-holsteinischen Genossen auch öffentlich das Notwendige gesagt hätte.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Dazu ist er zu feige!)

    Herr Bundeskanzler, ich spreche dieses Thema in dieser Deutlichkeit an, weil ich — in einem anderen Amt — bei vielen Gesprächen Zeuge war, die Sie mit uns, den Repräsentanten der Länder, damals führten, als es unter dem Eindruck des Ölschocks darum ging, die Energiebasis so schnell wie möglich zu sichern. Damals war es eine ganz andere Sprache, die ich hörte, als das, was ich gestern in der Regierungserklärung las.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Damals war die Rede von bürokratischen Hemmnissen und solchen Dingen.
    Wir sind für streng rechtsstaatliche Verfahren. Wir sind dafür — hier stimme ich Ihnen mindestens
    teilweise zu —, daß nicht jede Bürgerinitiative pauschal diffamiert wird. Repräsentative Demokratie die wir bejahen, braucht auch Platz und Raum für das Element von Bürgerinitiativen. Es müssen aber Initiativen sein, die nicht Gefahr laufen, von Leuten umfunktioniert zu werden, die nicht Reaktorenergie, sondern Umsturz unseres Staates im Sinne haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Geradezu skandalös ist es, wie die Bundesregierung und auch Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Interessen und dem Vertrauen der elf Millionen Rentner und der über 20 Millionen Beitragszahler in diesen Tagen umgegangen sind. Was soll eigentlich der Bürger denken. Er muß sich doch an der Nase herumgeführt fühlen. Woher sollen Ernsthaftigkeit und Opferbereitschaft kommen, wenn so leichtfertig mit der Wahrheit umgegangen wird? Auf die Opferbereitschaft unserer Bürger sind wir doch alle angewiesen. Zu ihr ist jeder aber doch nur dann bereit, wenn man ihm die Wahrheit sagt, wenn er gerecht behandelt wird und wenn nicht versucht wird, alle über einen Kamm zu scheren. Sie sprachen gestern vom Durchschnitt. Ihren sogenannten Durchschnitt, verehrter Herr Bundeskanzler, gibt es nicht. Es gibt elf Millionen Rentner mit höchst unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Darunter sind rund 2,3 Millionen Rentner mit Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

    Die Pläne der Bundesregierung zur Sanierung der Rentenversicherung — das wissen Sie so gut wie wir — werden keinen Bestand haben. Ihre Aussage, Herr Bundeskanzler, daß die getroffenen Entscheidungen geeignet seien, die Rentenversicherung zu konsolidieren, wird sich nach einhelliger Meinung aller Experten als ebenso falsch herausstellen wie die Behauptung, daß die Maßnahmen sozial gerecht und ausgewogen seien. Sie sind es nicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Unsere Kritik gilt besonders folgenden Punkten.
    Erstens. Wo Differenzierung nötig wäre, schlagen Sie alles über einen Leisten. Dies gilt für die generelle Verschiebung der Anpassung, für die Nettolohnanpassung und ganz besonders für die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung. Diese Anhebung trifft nicht so sehr, wie man jetzt sagt, die sogenannten besser verdienenden Arbeitnehmer, sondern sie trifft gerade die kinderreichen Familien in der Bundesrepublik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dies gilt schließlich auch für die Maßnahmen, die das gegliederte Krankenversicherungssystem treffen.
    Zweitens. Sie schaffen Möglichkeiten der Manipulation. Die Höhe der Rentenanpassung wird zum Gegenstand ständiger politischer Auseinandersetzungen. Durch die geplante Abschmelzung der Rücklage gerät die Rentenversicherung in den Sog des Bundeshaushalts.
    Und drittens: Ihre Pläne sind unausgereift. Dies betrifft den finanziellen Effekt, den man sich aus einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze ver-
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 61
    Dr. Kohl
    spricht, die geplante unterschiedliche Behandlung von Alt- und Neurentnern und den Belastungsbereich in der Krankenversicherung. Wer die unterschiedliche Leistungsfähigkeit nicht systemgerecht berücksichtigt, bereitet den Boden für eine Nivellierung vor. Wer seine Grundsätze aufgibt, um diese Rentenbeschlüsse mitzutragen, der muß auch den Preis kennen, meine Kollegen von der FDP.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ihr Programm ist unberechenbar und unausgewogen. Es kann und darf so nicht Gesetz werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Union, unter deren Regierungsverantwortung das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik geschaffen wurde, ist bereit, sich an der Sanierung des Sozialsystems zu beteiligen, an ihr mitzuwirken. Wir lassen uns dabei von folgenden Gesichtspunkten leiten.
    Erstens. Das Gebot der Klarheit und der Wahrheit erfordert es, daß der Zusammenhang von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik gewahrt wird, damit keine finanzpolitischen Verschiebebahnhöfe eröffnet werden. Die Finanzen der Sozialversicherung müssen nach bestem Wissen und Gewissen vorausgeschätzt werden, damit die Stabilität der sozialen Sicherung auch langfristig garantiert werden kann.
    Zweitens. Die solidarische Absicherung des einzelnen gegenüber den Grundrisiken des Lebens darf nicht zur Disposition gestellt werden. Solidarität, meine Damen und Herren, ist keine Einbahnstraße; sie gilt auch für den Empfänger von Sozialleistungen gegenüber dem Steuer- und Beitragzahler. Dies gehört für uns selbstverständlich zur Solidarität.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Drittens. Der einzelne darf nicht so mit Steuern und Sozialabgaben belastet werden, daß sich Leistung überhaupt nicht mehr lohnt. Dies ist für uns ein wichtiges Stück Freiheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Viertens. Die Lasten müssen ausgewogen verteilt werden. Alle Möglichkeiten der Rationalisierung sind auszuschöpfen, bevor zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Dies erfordert das Gebot der Gerechtigkeit.
    Wir, meine Damen und Herren, stehen zu unserer Rentengarantie, und wir sind bereit, Mitverantwortung zu tragen. Dies setzt aber voraus, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung voll gerecht wird. Wir fordern Sie, Herr Bundeskanzler, auf, die tatsächliche finanzielle Lage der Rentenversicherung offenzulegen

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    und tragfähige Vorschläge zu unterbreiten. Voraussetzung jeder soliden Politik ist ein ehrlicher Kassensturz — auch in diesem Fall!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, wir haben unser Angebot, auch unpopuläre Maßnahmen mitzutragen, oft wiederholt. Ihre Antwort — ich erinnere an die
    Tage der Wahl in Nordrhein-Westfalen — war der verleumderische Vorwurf der sozialen Demontage. Neues Zahlenmaterial wollen Sie erst im nächsten Rentenanpassungsbericht mitteilen. Sie wollen offensichtlich weiter an den Symptomen kurieren und den Bürgern die Wahrheit immer noch vorenthalten. Dazu bekommen Sie unsere Zustimmung nicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das gilt auch für jene andere Tendenz: die Selbstverwaltung im Sozialbereich weiter auszuhöhlen und in die Rolle des Sündenbocks für die sozialpolitischen Versäumnisse der Bundesregierung abzudrängen.

    (Katzer [CDU/CSU] : Leider wahr!)

    Sie wollen Milliardensummen von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung verlagern. Aber für den Bürger ändert das gar nichts, er muß so oder so zahlen, und zwar aus demselben Portemonnaie. Dies ist doch der Punkt, den wir in dieser Diskussion nie aus den Augen lassen dürfen.
    Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat gestern in seiner Regierungserklärung auch die Fragen der Familie sehr breit angesprochen. Ich kann nur sagen: Diese Regierung hat seit Jahren den Schutz und die Förderung der Familie vernachlässigt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Eine bedrückend große und wachsende Zahl von Familien mit Kindern ist hinsichtlich ihrer Einkommenssituation unter die Sozialhilfeschwelle abgesunken. Wohin, meine Damen und Herren, soll es denn führen, wenn heute schon ein durchschnittlich verdienender Familienvater in Armut abgleitet, wenn er nur drei Kinder hat! Dies ist ein armes Land, wo Kinder Armut bedeuten können. Die Familienpolitik bedarf dringend einer neuen Weichenstellung.
    Herr Bundeskanzler, wer ein feines Gehör hat, wenn sich große Verbände zu Wort melden, sollte sein Ohr auch schärfen für Nöte und Sorgen, die nicht so laut vorgetragen werden können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Lebensqualität, die Sie so gern im Munde führen, kann nirgendwo in dieser Gesellschaft besser verwirklicht werden als in intakten Familien.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU)

    Wo sind die Antworten der Bundesregierung auf die Frage nach der Zukunft des Familienlastenausgleichs? Wo sind die Antworten auf die Frage nach einer kinderfreundlichen Umwelt? Wo dokumentiert sich der Stellenwert der Familie in Ihrer Politik? Machen Sie sich doch gar nichts vor: Die von Ihnen in Aussicht gestellte Verbesserung des Familienlastenausgleichs reicht noch nicht einmal aus, um den Kaufkraftschwund, dem das Kindergeld ausgesetzt ist, auszugleichen.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Leider wahr!)

    Durch die geplante Anhebung des Kindergeldes und des Wohngeldes würden noch nicht einmal zwei Drittel der Mehrbelastungen aufgefangen, denen die Mehrkinderfamilie infolge Anhebung der Mehr-
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    Dr. Kohl
    wertsteuer ausgesetzt sein wird. Auch das gehört doch dazu.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, fernab jeder Polemik: Wer heute die Lage der Familienpolitik in der Bundesrepublik studiert, muß doch feststellen, daß sich hier tiefgreifende Fehlentwicklungen zeigen, die man nicht mit technischen Mitteln beheben kann. Wenn wir heute die niedrigste Geburtenrate in der ganzen Welt haben, dann ist das doch auch die Konsequenz einer falschen Politik in den letzten Jahren.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    Das hat sehr viel damit zu tun, daß die junge Generation immer mehr zweifelnde Fragen an uns stellt. Ob es uns gelingt, den Jungen wieder mehr Mut und Selbstvertrauen zum Leben in einem freien Gemeinwesen zu geben, ob diese jungen Menschen genug Selbstvertrauen gewinnen können, um mit ihren Schwierigkeiten fertig zu werden, das ist die in meinen und in unseren Augen entscheidende Frage für den Fortbestand der freiheitlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn junge Leute den Eindruck gewinnen müssen, daß sie in unserer Gesellschaft mit ihrer Chance zu kurz kommen, dann gerät diese junge Generation in Gefahr, auf Freiheit verzichten zu wollen und Sicherheit im Kollektiv zu suchen. Hier liegt ein wichtiger Kern des Problems.
    Auch mit der gestrigen Regierungserklärung ist der Bundeskanzler den wichtigsten Problemen ausgewichen. Herr Bundeskanzler, Sie sprachen von einheitlichen Lebensbedingungen. Es ist unsere selbstverständliche Pflicht, auch im Bildungswesen die volle Freizügigkeit in allen Teilen unserer Bundesrepublik zu gewährleisten und zu fördern. Aber Sie wissen ganz genau, daß die gestern von Ihnen so lapidar gemachten Vorschläge in dieser Form angesichts der Verfassungsordnung nicht realisierbar sind.
    Aufgabe der politischen Führung ist es, sich zu Inhalten und Zielen auch der Erziehung und Bildung zu äußern; Bildung muß mehr vermitteln als Anpassungsfähigkeit oder technisches Rüstzeug.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    Ihre Partei, meine Damen und Herren von der SPD, die 1959 in ihrem Godesberger Programm ausdrücklich feststellte, daß Erziehung und Bildung die Widerstandskraft gegen konformistische Tendenzen in unserer Zeit stärken sollen, hat den größten Anpassungsdruck bewirkt, dem junge Menschen in der Geschichte der Bundesrepublik ausgesetzt wurden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das ist eine der Konsequenzen einer Politik, die die Zusammenhänge zu sehr verschleiert hat und die sich trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse mehr um eine Expansion in Bildung und Ausbildung als um eine sozial gerechte Qualität unseres Bildungssystems bemüht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Unser Bildungs- und Ausbildungssystem soll dem jungen Menschen helfen, sein Leben und seine Umwelt selbst zu gestalten. Er muß die Fähigkeit lernen, zu unterscheiden und zu urteilen. Aber er muß auch wissen und gesagt bekommen, daß menschliches Verhalten an Wertenscheidungen gebunden ist. Erziehung soll die Erkenntnis vermitteln, daß wir ein Mindestmaß an Übereinstimmung im Umgang miteinander und im WertbewuBtsein brauchen, wenn wir frei und menschlich zusammen leben wollen.
    Es gilt, der jungen Generation die bittere Erfahrung zu ersparen, daß sie auf der Schwelle zum Berufsleben auf eine verschlossene Gesellschaft stößt. Daher ist es unser aller verantwortliche Aufgabe, Bildungswesen und Beschäftigungssystem besser aufeinander zu beziehen. Wir werden dazu aus der Sicht der CDU/CSU unsere eigenen Beiträge in dieser Legislaturperiode liefern.
    Eine der großen Aufgaben unserer Zeit ist es, die volle Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen tatsächlich zu verwirklichen. Die Frauen brauchen für ihre Entscheidung keinen Vormund; sie wissen selbst am besten, was ihr Glück und was das Glück ihrer Kinder erfordert: die Sorge um die Familie und die Erziehung der Kinder oder das Engagement im außerhäuslichen Erwerbsbereich. Wir in der CDU/CSU wollen Wahlfreiheit für alle Frauen. Wahlfreiheit — an diesem Ziel werden wir unsere Politik, wird die Bundesregierung ihre Politik, aber werden auch die Sozialpartner ihre Politik messen müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Für die erwerbstätige Frau gilt es vor allem, die Probleme der gerechten Entlohnung zu bewältigen. Aufstiegs- und Weiterbildungsschwierigkeiten müssen beseitigt werden. Für gleiche Arbeit muß gleicher Lohn bezahlt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das ist eine rechtliche Verpflichtung, und sie darf nicht dadurch unterlaufen werden, daß Tätigkeiten, die üblicherweise von Frauen ausgeübt werden, von vornherein geringer bewertet werden. Hier ist — darüber müssen wir uns alle im klaren sein — vor allem auch die Solidarität und das Beispiel zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern herausgefordert.
    Einer Frau, die sich für Haushalt und Familie entscheidet, dürfen daraus keine Nachteile entstehen. Das müssen wir sicherstellen. Darin sehen wir eine der zwingenden großen Reformaufgaben der nächsten Jahre.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit der Partnerrente hat die Union die moderne langfristige Konzeption für eine eigenständige soziale Sicherung der Frau vorgeschlagen. In der Partnerrente sehen wir eine umfassende und zukunftsweisende Reform, die Rechte und Pflichten innerhalb der Rentenversicherung grundlegend neu gestaltet. Sie beseitigt eine Reihe gravierender Mängel, die meist zu Lasten der Frau gehen. Mit der partnerschaftlichen Aufteilung der während der Ehe erworbenen Ansprüche wird die Leistung der
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    Dr. Kohl
    Frau als Hausfrau und Mutter materiell in einem höheren Maße anerkannt als in der Vergangenheit. Die Partnerrente ermöglicht es der Frau, ihren Tätigkeitsbereich frei zu wählen. Frauen dürfen ebensowenig wie Männer aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen in eine bestimmte Rolle gedrängt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, auch das will ich heute schon ankündigen: Auch in dieser Legislaturperiode wird die Union eines ihrer wesentlichen Ziele, nämlich die Vermögensbildung in breiter Hand, beharrlich weiterverfolgen. Vermögensbildung dient dem Vorteil aller. Der einzelne Arbeitnehmer ist am Wachstum und am Gewinn beteiligt. Verteilungskämpfe bei der Lohnfindung können entschärft werden. Die alte Kapitalstruktur kann verbessert werden. Das ist ein Vorteil für die Wirtschaft. Und der Staat gewinnt dadurch, daß sich die Konjunktur verstetigt und die Leistungskraft unserer Wirtschaftsordnung auch im internationalen Bereich steigt. Wer soziale Marktwirtschaft will, der muß sich auch für Vermögensbildung einsetzen. Wir tun das!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir beobachten mit steigender Sorge, daß immer mehr Menschen in unserem Land die Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. So stehen wir heute vor der Situation, daß die Gemeinden und Städte, die Kommunen, über die Sozialhilfe Aufgaben erfüllen müssen, die eigentlich in die Verantwortung des Bundes gegeben sind, und daß auf diesem Wege eine Art von Subvention für den Bund stattfindet. Viele Gemeinden sind heute kaum noch in der Lage, die gewaltigen finanziellen Belastungen zu tragen. Wir werden uns dafür einsetzen — und ich hoffe hier auf schlüssige Vorschläge der Bundesregierung —, daß in diesem Bereich Abhilfe geschaffen wird, damit sich die Träger der Sozialhilfe, nicht zuletzt auch die freien Verbände, wieder stärker der personalen Hilfe im Einzelfall widmen können, denn darin sehen wir eine der großen Zukunftsaufgaben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundeskanzler, Ihre Ausführungen zur AuBen- und Sicherheitspolitik werden nach unserer Auffassung dem Ernst der Lage nicht gerecht.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Die europäische Einigungspolitik stagniert. Es gab und es gibt weitere Rückschläge in der Entspannungspolitik. Die Sowjetunion verstärkt ihre Anstrengungen, das weltweite Gleichgewicht, soweit es ein solches noch gibt, zu ihren Gunsten zu verändern. Die Krise im Mittelmeerraum dauert an. Wir sehen uns mit steigenden und vielfältigen Forderungen der Dritten Welt konfrontiert. In diesem Augenblick — wann denn überhaupt, wenn nicht jetzt! — wäre es die Aufgabe der Bundesregierung gewesen, in ihrer Regierungserklärung ein überzeugendes außenpolitisches Gesamtkonzept vorzulegen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Verbale Bekenntnisse zur europäischen Einigung genügen uns nicht. Wir hören dies von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und auch von Ihrem Vorgänger Willy Brandt nun schon seit Jahren. Tatsache ist jedoch, daß die europäische Politik in Ihrer Regierungszeit die erforderliche Priorität nicht fand. Es kann für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht genügen, nur das mitzumachen, wozu auch das langsamste Schiff im europäischen Geleitzug bereit und in der Lage ist. Wir wollen durch eigene Initiativen der Bundesrepublik, Vorstöße und Aktivitäten die Dinge voranbringen, weil es fünf Minuten vor zwölf ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ist es bezeichnend oder nur erstaunlich, daß in Ihrer Erklärung kein Wort zum Bericht Leo Tindemans' zu finden ist, jenem Bericht über die Europäische Union. Warum schweigen Sie zu diesem wichtigen Thema?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Für uns in der CDU/CSU bleibt die europäische Einigung ein entscheidendes Hauptziel deutscher Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie ist Voraussetzung für Freiheit und Sicherheit, und diesem Ziel werden auch in den kommenden Jahren alle unsere Anstrengungen gelten. Die für 1978 vorgesehene Direktwahl zum Europäischen Parlament ist auf diesem Weg ein entscheidender Schritt. Ich hoffe, daß wir über diese Fragen im Januar noch eingehender diskutieren können.
    Von besonderem Gewicht sind nach unserer Oberzeugung auch die Aufgaben in der Nord-Süd-Politik im Bereich der Weltwirtschaftsordnung. Herr Bundeskanzler, die deutsche Politik ist dabei unter Ihrer Regierung in ein Dilemma geraten. Daß es zu diesem Dilemma kam, liegt nicht zuletzt daran, daß Sie viel zu lange die geistige und ordnungspolitische Dimension des Nord-Süd-Problems unterschätzt haben. Sie haben nicht erkannt — oder Sie haben es nicht gesagt —, daß es längst nicht mehr allein um die Entwicklungsländer sing, sondern daß in einer Welt gegenseitiger Abhängigkeiten auch unsere eigene Zukunft angesprochen ist. Sie haben lange Zeit eine ernsthafte Antwort auf die ordnungspolitische Herausforderung der Entwicklungsländer überhaupt nicht für nötig gehalten. Die Folge war nicht zuletzt auch, daß sich in der Dritten Welt radikale Wortführer in ihrer Position festigen konnten und daß sich unsere europäischen Partner dann einer dirigistischen Linie näherten und wir dabei in die Defensive gerieten. Aus die-sere Defensive müssen wir herauskommen und trotz aller Schwierigkeiten in Europa zu einer gemeinsamen Linie finden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Eine positive Alternative muß nach unserer Auffassung vor allem vier Punkte umfassen: 1. eine Steigerung der öffentlichen Entwicklungshilfe, um in absehbarer Zeit das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, 2. ein umfassendes System der Exporterlösstabilisierung, 3. eine weitere Öffnung unserer Märkte für die Waren der Entwicklungsländer und
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    Dr. Kohl
    4. eine vorausschauende marktkonforme Strukturpolitik in den Industrieländern. Für diese marktwirtschaftliche Gegenoffensive muß unser Land als zweitgrößte Handelsmacht der Welt eintreten und werben, und auf diesem Wege werden Sie unsere Unterstützung bekommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die Probleme der Entwicklungsländer und der Industrieländer nur in einer wirklich freien und sozialen Weltwirtschaftsordnung lösbar sind.
    Wir wären sehr dankbar, wenn diese Erkenntnis Allgemeingut der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands würde und wenn sich hierzu vor allem auch der Kollege Brandt als Vorsitzender der SPD und als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale bekennen würde, dessen Worte im Ausland in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem stehen, was Sie, Herr Bundeskanzler, gestern hierzu im Plenum gesagt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir teilen die Sorge der Bundesregierung über die Bestrebungen einiger NATO-Mitgliedsländer, ihre militärischen Verpflichtungen innerhalb der Allianz einseitig zu reduzieren. Nur, Herr Bundeskanzler, es sei uns und mir der Hinweis erlaubt: viele dieser Regierungen werden von Sozialisten angeführt; und wir hoffen sehr — und wünschen Ihnen auf diesem Weg alles Gute —, daß Sie auch mit der Aufgabe fertig werden, in der Sozialistischen Internationale dazu beizutragen, diese bedenklichen Entwicklungen zu korrigieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie sollten dabei vor allem auf eine wichtige Konsequenz dieser Entwicklung hinweisen. Es ist nicht unser Ziel und kann nicht unsere Politik sein, daß die Bundesrepublik die dann entstehenden Lücken auffüllt. Wir können — wie unsere Nachbarstaaten — aus begreiflichen Gründen kein Interesse daran haben, im Bereich der militärischen Rüstung zum Primus Europas zu werden.
    Herr Bundeskanzler, Sie stellen in Ihrer Erklärung fest, daß der stetige Ausbau der militärischen Stärke des Warschauer Pakts anhält. Wir müssen von Ihnen erwarten, daß Sie um des Friedens willen eindringlich an die Adresse der Sowjetunion appellieren: Die Sowjetunion muß wissen, daß die freie Welt eine Veränderung des gegenwärtigen Machtgleichgewichts nicht hinnehmen kann. Dieses Gleichgewicht bleibt die Voraussetzung dafür, daß Entspannungspolitik überhaupt möglich ist. Wer das Gleichgewicht bedroht, gefährdet wirkliche Entspannungspolitik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Sowjetunion muß wissen — dies müssen wir offen sagen —, daß sie jede politische Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie weiterhin aufrüstet.
    Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind aber die Voraussetzungen für die Politik der Zusammenarbeit. Wir sind zur Verständigung und zum Ausgleich mit der Sowjetunion und den osteuropäischen
    Staaten bereit. Verständigung und Ausgleich in Osteuropa sind aber nur dann möglich, wenn man nicht auf Illusionen, nicht auf Beschwichtigung und nicht auf Vertrauensseligkeit setzt, sondern wenn man kommunistische Politik und kommunistische Praxis richtig einschätzt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Bei allen Verhandlungen und Verträgen müssen die deutschen, müssen unsere Interessen gewahrt bleiben. Leistung und Gegenleistung müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Und, meine Damen und Herren — ich hoffe, dem stimmen alle zu —, Grundlage für die deutsche Politik bleiben die gemeinsame Resolution des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ihre Ausführungen zur Lage der Nation, Herr Bundeskanzler, zu der wir noch einen eingehenden Bericht im neuen Jahr und die nachfolgende Debatte erwarten, haben uns nicht genügt. Natürlich — wer wollte das leugnen? — verkennen wir nicht die Bedeutung der Reisemöglichkeiten. Wir nutzen diese Möglichkeiten, wenn irgend möglich, ja selber. Aber gerade aus meinen persönlichen Erfahrungen von meinen Reisen nach Leipzig, Dresden und Weimar weiß ich, wie lebendig der Wille zur Einheit auch und gerade unter unseren Mitbürgern in der DDR ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sogar der kommunistische Liedermacher Biermann hat in diesen Tagen darauf hingewiesen, daß die Teilung überwunden werden muß, wenn die Menschenrechte in der DDR und an der innerdeutschen Grenze Wirklichkeit werden sollen.

    (Zurufe von der SPD)

    — Ich war eigentlich der Meinung, daß das ein Punkt ist, in dem wir uns noch gemeinsam verständigen können.
    Meine Damen und Herren, wir alle wollen die Spaltung Europas und mit ihr die Teilung unseres Vaterlandes überwinden, in Frieden überwinden; an Drohung und Gewalt denkt niemand. Wir verkennen auch nicht die realen Machtverhältnisse. Aber, meine Damen und Herren, zu der Macht der Tatsachen zählen nicht nur die Politik der Regierungen und die Stärke der Waffen, sondern auch der Wille der deutschen Nation zur Einheit, der seine geschichtliche Kraft behalten wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir fragen uns auch, warum die Bundesregierung nicht über die Folgeverträge zum innerdeutschen Grundvertrag spricht, die in Art. 7 angesprochen sind. Gerade sie sollten doch zu dem führen, was wir alle wollen: zu mehr menschlicher Erleichterung.
    Und, meine Damen und Herren, ich hörte in der Regierungserklärung kein Wort zur inneren Entwicklung im anderen Teil Deutschlands, in der DDR.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, der Tod von Pfarrer
    Brüsewitz, die Zwangsausbürgerungen, die Men-
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 65
    Dr. Kohl
    schenrechtsbewegung in Riesa, das alles findet doch nicht irgendwo auf einem fernen Kontinent statt; das ereignet sich doch mitten in unserem eigenen Vaterland. Das alles kann uns doch nicht ruhig lassen!

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU)

    Es ist unser Auftrag, es ist unsere Pflicht, weil wir die Chance haben, im freien Teil unseres Vaterlandes zu leben, zu verhindern, daß es der SED gelingt, diesen Kampf um die Menschenrechte zu unterdrücken. Der Kampf um die Menschenrechte, Herr Bundeskanzler, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist ein wirkliches Feld für gemeinsame Anstrengungen und gemeinsame Verantwortung aller deutschen Demokraten.

    (Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU)

    Wir können auch nicht dazu schweigen, daß, für jedermann erkennbar, die Sowjetunion verstärkte Anstrengungen unternimmt, die Staaten Osteuropas und Südosteuropas immer mehr gleichzuschalten. Wenn wir darüber sprechen, ist das überhaupt keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer. Friede, Freiheit und Menschenrechte gelten weltweit, und deshalb werden wir nicht zu Gewalt und Unterdrückung schweigen, wann und wo immer sie vollzogen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Und ich füge hinzu: wir werden dabei nur glaubwürdig sein, wenn wir bei uns selbst anfangen. Wir werden deshalb zu keinem Zeitpunkt, auch wenn manche glauben, das sei opportun, zu den Menschenrechtsverletzungen mitten in Deutschland, zu Schüssen an Mauer und Stacheldraht schweigen.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU)

    Berlin und unsere Mitbürger in Berlin bedürfen der Hilfe und der besonderen Solidarität der freien Welt, der Hilfe von uns allen. Berlin, meine Damen und Herren, das ist nicht irgendeine Stadt wie jede andere. Berlin, das ist eine nationale Aufgabe für das freie Deutschland. Berlin ist Mittelpunkt aller Deutschen, und Berlin ist Prüfstein deutscher Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß das Viermächteabkommen zahlreiche Verbesserungen für die Menschen in Berlin gebracht hat. Das ist unbestreitbar richtig. Aber auf der anderen Seite ist die Lebensfähigkeit der Stadt insgesamt — auch dies ist richtig, leider richtig — nicht gestärkt worden. Es müssen weiterhin alle nur denkbaren Anstrengungen unternommen werden — und dabei können Sie immer auf uns in der Union zählen —, um die Lebenskraft und die Zukunftserwartung der Stadt und ihrer Bürger zu stärken. Dazu ist es sicher auch nötig, die Unternehmungen und die Wirtschaft voll zu entfalten, Arbeitsplätze zu sichern, neue Arbeitsplätze vor allem auch für junge Leute zu schaffen. Dies ist aber auch eine geistige, eine kulturelle und vor allem eine menschliche Aufgabe. Angesichts der vielfältigen Drohungen aus dem Osten muß der
    entschlossene Wille zur Verteidigung des freien Berlin zu jeder Stunde und an jedem Tag deutlich bleiben. Nur so kann das Vertrauen der Berliner in die Zukunft ihrer Stadt erhalten und gefördert werden.
    Mit einiger Sorge, Herr Bundeskanzler, haben wir gestern feststellen müssen, daß in Ihrer Regierungserklärung so gut wie nichts über die Wiener Verhandlungen über eine beiderseitige und ausgewogene Verminderung der Streitkräfte in Mitteleuropa ausgesagt wird. Auch dies steht übrigens in offenem Gegensatz zu den öffentlichen Erklärungen Ihres Parteivorsitzenden Willy Brandt,

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    der in diesem Punkte, wenn ich es recht verstehe, Ihrer Regierung mehr eine Annäherung an den sowjetischen Standpunkt empfohlen hat.
    Ich stelle mit aller Deutlichkeit folgendes fest.
    Erstens. Wir bedauern erneut, daß trotz unserer Warnungen der sachliche und zeitliche Zusammenhang zwischen den multilateralen Bemühungen um politische und militärische Entspannung in Europa, verhandlungstechnisch: zwischen KSZE und MBFR, aufgegeben worden ist.
    Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, bei MBFR-Verhandlungen gemeinsam mit unseren NATO-Verbündeten Ergebnisse auf der Basis der NATO-Vereinbarungen zäh und geduldig und entschlossen anzustreben.
    Drittens. Wir warnen vor einem deutschen Alleingang oder Vorprellen in diesen Verhandlungen. Wir warnen auch vorsorglich schon heute davor, in bilaterale deutsch-sowjetische Gespräche über neue Initiativen ohne die denkbar engste Konsultation mit unseren Verbündeten einzutreten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir warnen — ich sage dies ganz offen — viertens vor unverantwortlichen Signalen an Moskau, die ein weiteres Aufweichen der gemeinsamen westlichen Grundsatzposition und ein Eingehen auf die sowjetischen Vorstellungen andeuten, obwohl die Sowjetunion auf die beiden bisherigen NATO-Vorschläge ausgesprochen negativ reagierte.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer ersten Regierungserklärung — nach Ihrer Wahl zum Kanzler im Jahre 1974 — eine Alternative zu Ihrem Vorgänger Willy Brandt darzustellen versucht. In vielen Zeugnissen der verfaßten öffentlichen Meinung wurden Sie damals als der große Macher dargestellt, und Sie haben dies gerne ertragen. Gestern haben wir Ihr Bemühen gesehen, Ihre Politik wenigstens in Ansätzen wertmäßig zu begründen. Nicht wenige Ihrer Parteifreunde — auch nicht wenige, die hier im Saal sitzen — haben Ihnen im Innenverhältnis und in öffentlichen Zeugnissen immer wieder vorgehalten, daß Ihrer Politik die tiefere Dimension fehlt und daß sie ohne Perspektive für die Zukunft bleibt. Ich fürchte, trotz Ihres Bemühens, das ich
    66 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Dr. Kohl
    würdige, wurde gestern dieser Eindruck nicht beseitigt, sondern nur verstärkt.

    (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, so einfach ist das


    (Zuruf von der SPD: Ja! — Lachen bei der SPD)

    — so einfach ist das für Sie: Liberalität gleich FDP, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Solidarität gleich SPD,

    (Wehner [SPD] : CDU gleich Kohl!)

    und beides zusammen gleich SPD/FDP. Glauben Sie denn wirklich, daß Sie durch diese formale Addition von Begriffen eine tiefere Legitimation für Ihre Politik begründen können?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Glauben Sie wirklich, daß Sie dadurch dem verstärkten Verlangen gerade junger Mitbürger nach einer wertmäßigen und sinnhaften Orientierung unserer Politik genügen können?
    Solidarität: Herr Bundeskanzler, was Sie zur Solidarität gesagt haben, zeigt doch nur eines: daß Sie weder über ein modernes noch in meinem Sinne über ein freiheitliches Verständnis von Solidarität verfügen. Sie beschreiben Solidarität nach wie vor mit der alten sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und bleiben damit der Tradition Ihrer Partei treu.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie haben eben kein liberales, sondern Sie haben ein sozialistisches Verständnis von Solidarität.

    (Lachen bei der SPD — Beifall bei der CDU/ CSU)

    Solidarität ist für Sie in erster Linie eine staatliche Leistung, Sie spüren offensichtlich gar nicht, was immer mehr Menschen spüren: daß der einzelne auch entmündigt wird, wenn ihm die Motivation, der Anreiz zur eigenen solidarischen Leistung genommen wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Für uns, meine Damen und Herren, entsteht Solidarität aus verantworteter Freiheit. Der Staat darf den einzelnen nicht bevormunden, indem er alle Aufgaben für ihn übernimmt; er soll vielmehr dem Bürger eigene Initiative und Verantwortung zumuten und ermöglichen. Das ist unsere Vorstellung von Solidarität!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundeskanzler, die Unfähigkeit, Solidarität politisch neu zu definieren, findet ja auch ihre Entsprechung in Ihrer Regierungspraxis, die, wenn ich es recht sehe, immer mehr auf ein Kartell zwischen Regierung, manchen Bereichen der Verbände und der Wirtschaft hinausläuft. Bei diesem technokratischen Regierungsverständnis braucht man sich dann wirklich nicht darüber zu wundern, daß die nicht organisierbaren Interessen der Menschen durch die Maschen Ihrer Politik hindurchfallen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Liberalität, diesen Anspruch wollen Sie vor allem einlösen durch eine, wie Sie sagen, liberalere Praxis gegenüber den Verfassungsfeinden. So verengt und verzerrt stellt sich Ihnen das Problem der Liberalität heute. Kein Wort, meine Damen und Herren, darüber, daß es die wirklich liberale Aufgabe des Staates war und ist, die Freiheit aller seiner Bürger zu schützen — auch vor ihren Feinden!

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    Jeder von uns geht doch davon aus, daß sich von daher unsere eindeutige Haltung gegenüber den Verfassungsfeinden rechtfertigt.
    Zum Thema selbst, zum Thema „Verfassungsfeinde", heute nur eine kurze Bemerkung; wir werden im Januar mehr darüber zu sagen haben. Wir alle wollen weder Duckmäuser noch Gesinnungsschnüffelei, noch die Bestrafung von Jugendsünden.

    (Zurufe von der SPD)

    Wir halten uns streng an das rechtsstaatliche Verfahren. Aber wir haben auch aus der Geschichte gelernt. Es ist schon einmal eine deutsche Republik an ihren Feinden zugrunde gegangen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Wir werden nicht zulassen, daß zum zweitenmal unser freiheitlicher Staat seinen Feinden ausgeliefert wird, den Feinden unseres demokratischen Staates, ob sie von rechts oder von links kommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Deswegen gilt der Satz: Feinde der Freiheit können nicht Diener unseres freiheitlich demokratischen Rechtsstaates sein, weder als Richter noch als Lehrer, noch als Verwaltungsbeamter in irgendeiner Führungsfunktion dieses Staates.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Eine der entscheidenden Fragen unserer Zeit hat die Regierungserklärung allenfalls oberflächlich gestreift — wenn Sie den Text Ihrer Rede nachlesen, Herr Bundeskanzler, und den Vergleich mit der Gasrechnung noch einmal überdenken, werden Sie mir sicherlich recht geben —,

    (Leicht [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    nämlich die immer mehr Menschen beunruhigende Frage, ob mehr Staat nicht automatisch immer mehr Bürokratie und immer mehr Ausgeliefertsein einer wachsenden Bürokratie gegenüber bedeutet und ob

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    mehr Bürokratie nicht weniger Freiheit und weniger Selbstbestimmung nach sich zieht.
    Sie reden jetzt von „Liberalität" ; aber, Herr Bundeskanzler, Sie sagen kein Wort von der Gefahr, daß eine egalitäre Gleichheit und die drükkende Last von Steuern und Abgaben den Raum der Freiheit mehr und mehr einengen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 67
    Dr. Kohl
    Wer von Liberalität spricht und das dann nur noch
    mit der Frage der Verfassungsfeinde begründet, hat
    sich aus der Freiheitsdebatte selbst ausgeschaltet.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir, die Union, betrachten es als unsere vorrangige Aufgabe, die freiheitliche Alternative zum Sozialismus lebendig zu halten und nach Kräften durchzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ein gerechtes und ein freiheitliches Gemeinwesen zu schaffen darin sehen wir die große Herausforderung unserer Zeit. Darin unterscheiden wir uns von jenen, die Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechseln und die den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung verkennen.
    Bei der Begründung der Bundesrepublik Deutschland haben wir mit der Sozialen Marktwirtschaft eine neue Idee verwirklicht. Sie begreift die Freiheit des Menschen und die soziale Gerechtigkeit für alle nicht als Gegensatz, sondern sie stellt sie in ihren unauflöslichen Zusammenhang. Diese Aufgabe bleibt.
    Darum: Schützen wir, was sich bewährt hat! Dies kann uns in einer Welt raschen Wandels nur gelingen, wenn wir es zugleich ständig erneuern. Wir, die Fraktion der CDU/CSU, mit unseren vielen Freunden im Lande haben die Zuversicht, daß es sich lohnt, für eine solidarische und verantwortete Freiheit zu kämpfen.

    (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, gemäß § 39 der Geschäftsordnung soll der Präsident die Redezeit verlängern, wenn der Gegenstand der Aussprache dies nahelegt. Gegenstand der Aussprache ist die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers. Wegen der Bedeutung dieses Gegenstands habe ich die Redezeit des ersten Redners verlängert. Ich beabsichtige, bei den folgenden Rednern genauso zu verfahren, wenn sie dies wünschen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört zu den Pflichten der Opposition, es der Regierung nicht leichtzumachen. Unsere Pflicht ist es, die Regierung zu tragen und sie zu unterstützen. Die Sozialdemokraten in diesem Haus werden es an Geschlossenheit nicht fehlen lassen, ebensowenig wie sie versäumen werden, in die gesetzgeberische und kontrollierende Arbeit des Parlaments durch sachliches Engagement einfließen zu lassen, was sich aus ihrem, aus unserem Wählerauftrag ergibt und was sie, was wir auf Grund unseres dauernden Gesprächs mit den Bürgern einzubringen haben. Für die Sozialdemokraten erkläre ich zugleich, meine Damen und Herren: Wir stehen zur fairen Partnerschaft mit den Freien Demokraten, die sich bewährt hat und die, wovon man sich gestern überzeugen konnte, durch ein ausgewogenes, solides Regierungsprogramm der Vernunft bestätigt worden ist.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Ereignisse der letzten Wochen, meine Damen und Herren, haben zudem manchen unserer Mitbürger, die dies noch nicht wußten, deutlich vor Augen geführt: Es gibt für die jetzt vor uns liegenden Jahre keine wirkliche Alternative zur sozialliberalen Koalition.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Denn wie sollte unser Land wohl mit Vorteil durch Parteien regiert werden können, die es mit Hängen und Würgen gerade noch einmal zustande brachten, einen gemeinsamen — oder soll ich sagen: überwölbenden — Fraktionsvorstand zu bilden?

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)

    Und trotzdem, meine Damen und Herren: Wir erkennen nicht nur die unterschiedlichen Pflichten, die uns hier auferlegt sind — Ihnen in der Opposition, uns in der die Regierung tragenden Koalition —, wir empfinden nicht minder die Verantwortung, in die wir alle miteinander gestellt sind. Deshalb sage ich hier zu Beginn der Arbeit dieses Bundestages und im Wissen um all das, was an Auseinandersetzungen bevorsteht: Wir deutschen Sozialdemokraten sind zur sachlichen Zusammenarbeit bereit, wo immer sie möglich ist, um das Leben und die Rechte unserer Mitbürger zu sichern, um Freiheit und Frieden zu verteidigen, um den europäischen und weltweiten Aufgaben der Bundesrepublik Deutschland gerecht zu werden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es darf in diesem Hause nicht nur den Meinungsstreit und das Gegeneinander von Koalition und Opposition geben. Es muß auch ein Miteinander all derer geben können, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und die den demokratischen und sozialen Bundesstaat ausbauen wollen, so wie es uns die Verfassung aufgetragen hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wir Sozialdemokraten wissen, daß ein in sich gespaltenes Haus nicht Bestand haben kann.

    (Leicht [CDU/CSU] : Seit wann?)

    Ich habe vor dem 3. Oktober gesagt: Wenn die Wähler entschieden haben, werden Wunden bleiben, die der Wahlkampf geschlagen hat. Ich füge hinzu: Wir müssen uns miteinander Mühe geben, damit das Feinddenken im politischen Leben unseres Landes nicht weiter um sich greift.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Wie steht es mit dem Sicherheitsrisiko?!)

    — Haben Sie nicht gehört, daß ich mich an unser aller Adresse wende, auch an meine eigene! —

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Die Sicherung des inneren Friedens erfordert die
    Kraft, einander zuzuhören und sich selbst zu prüfen,
    68 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Brandt
    auch so, Herr Kollege Kohl, daß aus noch so festen Überzeugungen keine Monopolansprüche werden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Meine Damen und Herren, zum Regierungsprogramm, das der Bundeskanzler hier gestern vorgetragen hat, habe ich mich natürlich nun ganz anders zu äußern, als es der erste von mehreren Sprechern der Opposition zu tun für richtig hielt. Wir Sozialdemokraten meinen, es handle sich um ein gutes, solides, realistisches Programm für die nächsten vier Jahre, und wir schätzen dabei nicht zuletzt jene Orientierungen, die über die Zeit bis 1980 hinausreichen. Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion danke ich dem Bundeskanzler und sage ihm, dem Vizekanzler ebenso wie allen Mitgliedern des Kabinetts unsere guten Wünsche. Sie können sich auf uns verlassen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Der Bundeskanzler vertritt die Interessen des gesamten Staates und unseres Staatsvolkes. Er vertritt auch Sie, meine Damen und Herrn von der Opposition, selbst dann, wenn Sie es nicht wahrhaben wollen. Er vertritt auch die Interessen Ihrer Wähler. Er vertritt auch die Minderheiten, nicht nur die Mehrheiten. Ich weiß aber wohl, daß Konflikte dadurch nicht aufgehoben und daß Gegensätze bestehen bleiben werden. Das Stichwort Fair play beinhaltet aber noch etwas mehr als die Erwartung, daß die Spielregeln beachtet werden, nämlich den Ausdruck des Respekts vor der Demokratie als Lebensform — nicht nur als Regierungsform —, als Ordnung der Regeln für die Parlamente und ihre Kontrolle der Bürokratien. Demokratie als Lebensform soll und muß der lebendige Anspruch sein, den unser Volk an sich selbst stellt, hineinwirkend in alle sozialen Bereiche und in jene der Wirtschaft.
    Dieser Wille zu einer umfassenden Demokratie kann die recht verstandene Autorität nicht lähmen, sondern wird sie erst zur realen Autorität werden lassen, nämlich durch Abwägung und Ausgleich der Interessen, die in unserer Gesellschaft, die in allen modernen Gesellschaften so kompliziert geworden sind, wie sie es wohl nie zuvor waren.
    Meine Damen und Herren, ich bin in diesem Augenblick sicher nicht der einzige in diesem Hause — auch außerhalb dieses Saales wird es manchen geben, der meiner Meinung ist — der die Rede des Führers der Opposition in Wirklichkeit war es ja Herrn Kohls Jungfernrede als Mitglied dieses Hohen Hauses — als wenig konstruktiv empfunden hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich muß ehrlich sagen — Sie werden das nicht falsch verstehen —: Es war eine eher schwache Vorstellung in starken Worten.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Marx [CDU/CSU] : Das sagen Sie nach gestern! Hören Sie mal! Sie haben einen Humor!)

    Herr Kollege Kohl, Sie haben die Rede des Bundeskanzlers für ein bißchen zu lang gehalten. In dieser Rede stand aber eine Menge.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Ich hoffe, wir werden in der Zeit, die vor uns liegt, von der Opposition Reden und Texte hören und lesen, in denen auch viel steckt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich greife das Wort von der Chance auf. Ich finde, es ist schade, daß der Herr Kollege Kohl hier eine Chance vertan hat. Aber vielleicht muß man ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, daß der Kollege Kohl bei Helmut Schmidt einiges von dem hat abladen wollen, was er bei Herrn Strauß nicht losgeworden ist.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD und der FDP)

    Insofern wird dem einen und anderen im Hause und
    außerhalb des Hauses die erste Rede dieses Vormittags als eine Art Ersatzhandlung erschienen sein.

    (Beifall und Heiterkeit bei der SPD und der FDP — Franke [CDU/CSU] : Herr Brandt, Sie haben es nötig!)

    Es kommt etwas anderes hinzu. Die Oppositionsparteien, unter einem alles andere als wetterfesten Dach in diesem Bundestag noch einmal mühsam zusammengehalten, befinden sich seit geraumer Zeit in einem Stadium, in dem bei ihnen ganz anders, als Sie es im letzten Teil Ihrer Rede sagten, Herr Kollege Kohl, das Taktische dominiert.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Sie werden sich noch wundern!)

    Wo es grundsätzlicher Antworten oder zumindest Fragestellungen bedürfte, wird in taktischen Kategorien, die auf den kurzfristigen Vorteil abzielen, gedacht und agiert. Ich werde darauf noch zurückkommen. Nur das eine lassen Sie mich schon jetzt sagen: Wir werden Ihnen natürlich nicht den Gefallen tun, uns Ihre Scheinthemen aufzwingen zu lassen, sondern wir werden Sie drängen und bedrängen, im Gespräch und in der Auseinandersetzung sich mehr mit dem zu befassen, womit wir es in der Bundesrepublik unserer Überzeugung nach wirklich zu tun haben.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Dazu gibt es Gelegenheit!)

    Dies ist, Herr Kollege Kohl, nicht das Elendsgebiet, als das es landauf, landab durch Wahlredner beschrieben wurde, die selber nicht daran glaubten,

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Jahn [Braunschweig] [CDU/CSU] : Da denken Sie wohl an sich!)

    sondern dies ist ein Land, dessen Menschen es materiell und in ihrer Rechtssicherheit insgesamt besser geht als den Menschen in fast allen Teilen der Welt und die dennoch erwarten und einen Anspruch darauf haben, daß an diesem Land weiter gebaut wird im Zeichen von Solidarität und Liberalität. Diese Republik ist als Staat freier Bürger angelegt und nicht als Gefängnis, aus dem befreit zu werden unsere Mitmenschen einer Kassandra aus dem Schatten des Karwendelgebirges bedürften.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Jahn [Braunschweig] [CDU/CSU] : Wo liegt denn das? — Heiterkeit)

    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 69
    Brandt
    Unser Land lebt gemeinsam mit seinen Nachbarn. Isolationismus war früher ein Privileg und zuweilen ein Vorteil des Starken. Heute dokumentiert sich die Stärke der Völker in ihrem Willen zur Zusammenarbeit und in ihrem Mut zur Abhängigkeit.
    An der Schwelle der 80er Jahre — und wir sind ja ganz nah dran — kann Deutschland alles Mögliche brauchen, nur nicht neue Isolierung.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Als wir Sozialdemokraten vor zehn Jahren Regierungsverantwortung im Bund mit übernahmen, haben wir mitgeholfen, die Gefahr der Isolierung abzuwenden. In den sieben Jahren sozialliberaler Koalition haben wir überholte Abhängigkeiten überwinden helfen. Unserer Verankerung im westlichen Bündnis und unserem unverdrossenen Wirken an der europäischen Einigung wurde eine konstruktive Politik gegenüber den östlichen Nachbarn hinzugefügt. Dies war notwendig, auch wenn es darum viel Streit gegeben hat. Dies bleibt notwendig, auch wenn darum neu gestritten werden muß,

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    sei es innerhalb der Unionsparteien, sei es zwischen ihnen und der Koalition. Mit anderen Worten, wir werden beharrlich und unbeirrt weiterarbeiten trotz aller Verzögerungen und Rückschläge für den Ausbau einer funktionsfähigen europäischen Gemeinschaft. Wir arbeiten für den Zusammenhalt der atlantischen Allianz. Wir arbeiten für die Bedingungen eines Friedens, in dem die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Systemen unter Kontrolle bleiben, in dem sie planvoll gemildert und gemindert werden können.
    Ich spüre es draußen im Lande, daß wir einer Generation begegnen, deren Erfahrung die des Friedens ist — und so ist es ja auch wirklich —, der die Erfahrung des Krieges erspart geblieben ist. Und darüber kann man sich mit dieser neuen Generation nur freuen. Ich werbe um diese Jugend und sage ihr: Ohne den Abbau von Spannungen, ohne Zusammenarbeit zwischen Ost und West wird es keinen sicheren Frieden geben. Immer klarer wird aber auch, daß es ohne Ausgleich zwischen den Völkern in Nord und Süd keine gute Zukunft für die Menschheit gibt. Wir müssen uns dieser noch nicht lange entdeckten Abhängigkeit bewußt sein und uns ihr stellen, aus ihr Folgerungen ableiten und wissen, daß es dabei ohne Leistungen nicht abgehen wird.
    Die Entwicklung gebot, zu Beginn der 70er Jahre unser Verhältnis zum anderen deutschen Staat, zum anderen Staat in Deutschland zu ordnen. Der Leitsatz auch unserer Deutschlandpolitik heißt Kontinuität.
    In Ausführung und Ausfüllung des Grundlagenvertrags gilt es, um eine stetige und gleichmäßige Besserung der Beziehungen zur DDR bemüht zu bleiben. Diese Beziehungen haben sich zeitweise als anfällig — um einen bewußt leidenschaftslosen Ausdruck zu verwenden — erwiesen. Dennoch verfügen beide deutsche Staaten zusätzlich zu dem, was uns miteinander bekümmert und empört, mittlerweile gewissermaßen über einen Besitzstand an produktiver Gemeinsamkeit, der auch ihren Bürgern zugute
    kommt. Ich verzichte also bewußt darauf, mich in diesem Augenblick zu Vorgängen zu äußern, die mich bekümmern, die viele von uns, die — ich denke — alle unter uns empören. Statt dessen sage ich: Wir sollten den Besitzstand in dem eben beschriebenen Sinn ausbauen, um die Anfälligkeit zu mindern.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Die Bundesregierung hat — wenn ich es recht verstanden habe — deutlich gemacht, daß sie der Entspannung Vorrang einräumt, zumal sie kein Ziel hat, das sich ohne Entspannung fördern oder erreichen läßt. Man wird diese Politik aber nur soweit führen können, als wir dafür Partner haben. Im Europa nach Helsinki sind der Belastbarkeit zwischenstaatlicher Beziehungen Grenzen gesetzt. Das gilt in diesem Fall besonders. Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten darf nicht schlechter sein als das Verhältnis der anderen Staaten in Europa.

    (Beifall bei der SPD)

    Es würde niemandem dienen — ich sage das ohne Vorwurf an die Adresse anderer; denn wir werden von links wie von rechts mit dem zu tun bekommen, wovon ich jetzt spreche —, sollten sich in diesen Jahren neue gesamtdeutsche Illusionen breitmachen — denn das ist etwas anderes als das Ringen um das Ziel, das die Bundesregierung neu beschrieben hat —, sollte, will ich sagen, die Sehnsucht nach der Vergangenheit von dem Wunsch nach einer isolierten Antwort auf die deutsche Frage abgelöst werden. Diese isolierte Antwort gibt es nicht, und es gibt keine Alternative zum Ringen um die weitergreifende Regelung von Beziehungen, die den Menschen hüben und drüben zugute kommt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich sprach von Abhängigkeiten. Einige davon haben wir in diesen Jahren auch insoweit abgebaut, als wir Menschen Mut machten, Staat und Gesellschaft zu modernisieren, an reformerischen Vorhaben mitzuwirken, an solchen, die mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit verwirklichen sollten. Freiheit bringt Risiko. Das gnadenlose Risiko, das absolute Freiheit bringt, muß im Interesse der Menschen und des demokratischen Staates durch Gerechtigkeit und Solidarität gemildert werden. Für diese Freiheit wird die SPD, wird die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wie eh und je an vorderster Front kämpfen.

    (Beifall bei der SPD)

    Es bleibt also viel zu tun. Wir werden nicht weniger, sondern wir werden mehr als bisher auf die Bereitschaft der Bürger angewiesen sein, Mitverantwortung für die gemeinsamen Angelegenheiten zu übernehmen, den sozialen Ausgleich zu fördern, sich am allgemeinen Wohl zu orientieren. Alles, was den Dialog zwischen Bürger und Politik zum Gegenstand hat und was die Prozesse gemeinsamer Willensbildung und Entscheidungen betrifft, ist wichtiger geworden. Mitbestimmung und verantwortliche Mitwirkung sind keine leeren Formeln mehr. Sie werden in den kommenden Jahren in der Praxis zunehmend zu erproben sein, damit sie zu einem selbstverständlichen Teil demokratischen Bürgerverhal-
    70 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Brandt
    tens werden können. Ich meine, das kann auch eine europäische Bewährungsprobe sein.
    Immer mehr Bürger entwickeln, wenn ich es recht verstehe, neues Selbstbewußtsein. Zur Erfahrung des hinter uns liegenden Jahres mit seinen wirtschaftlichen Problemen, seinen Wahlkämpfen und seinen oft quälenden Kontroversen gehört freilich, daß die Parteien und mit ihnen die parlamentarische Demokratie in Deutschland weniger Grund zum Jubeln haben, als wir es im Tagesgeschäft allzu leicht wahrhaben wollen. Was ist das für ein demokratischer Staat — so möchte ich nicht nur kritisch, sondgern zugleich selbstkritisch fragen —, in dem das eine Lager so tut, als habe es die Freiheit gepachtet, und sich das andere Lager herausgefordert fühlt, mit der Friedensparole zu antworten?

    (Dr. Barzel [CDU/CSU] : Und dem sozialen Monopolanspruch!)

    Ich meine, wir sollten alle miteinander mehr Mut aufbringen, die wirklichen Probleme durch diese Form von Polarisierung nicht vor der Offentlichkeit zu verstecken, sondern ihnen auf den Grund zu gehen und sie im Vertrauen auf die Fähigkeiten unseres Volkes lösen zu helfen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Am Vertrauen der Bürger vorbei gibt es auf die Dauer ohnehin kein politisches Mandat.
    Lassen Sie mich bei aller Bereitschaft zur Selbstkritik freimütig hinzufügen: Diejenigen sollten meiner Meinung nach besonders in sich gehen, die die Angst vieler Menschen vor den überwiegend von außen auf uns einwirkenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht abbauen geholfen, sondern sie im Gegenteil geschürt haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In einer Zeit, in der nüchterne Aufklärung auch durch die Opposition notwendig gewesen wäre, haben wir manches erlebt, was wir als Exzesse der Panikmache empfunden haben. Der Schaden für alle war größer als der Gewinn für einige, den mancher sich erhofft haben mag.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Leicht [CDU/CSU] : Siehe Rentenversicherung!)

    Unser Volk ist dem Versuch, Angst vor der Zukunft zu verbreiten, oder eine sogenannte Tendenzwende herbeizureden, überwiegend nicht erlegen. Aber solche Versuchungen wird es immer wieder geben, solange die Zukunft nicht sicher ist. Wann wird sie es wohl wirklich sein? Sie wird niemals so gesichert sein, daß man sich nicht intensiv um sie zu kümmern brauchte. Wir sind mit unseren Problemen, unseren Aufgaben in Wirklichkeit niemals über den Berg, nicht in diesem Jahr, auch nicht im nächsten. Niemand in unserem Volk soll sich einreden lassen, er könne sich zurückwählen in eine angeblich heile Vergangenheit. Wir stehen in vielen Dingen natürlich gut da — wem sage ich das — im Vergleich zu unseren Nachbarn in Europa. Aber einige bei uns unterliegen wohl auch leicht der Gefahr, materielle Wohlstandskriterien mit geistiger Kraft und innerer Ausgeglichenheit zu verwechseln. Wenn
    wir ehrlich sind und über unsere Grenzen hinüberschauen, müssen wir vielfach einräumen: Was die Fähigkeit betrifft, in einer Krise zu leben und dabei zugleich die Demokratie zu bewahren, stünden wir vermutlich, ich wage zu sagen: sicher nicht, noch nicht an erster Stelle in Europa. Wir können uns gerade da gewiß keinen Hochmut leisten, sondern wir müssen uns in der Fähigkeit stärken, mit Schwierigkeiten fertig zu werden und zugleich den demokratischen Konsens in Ruhe zu bewahren, also die trotz allem über Parteiengrenzen hinausreichende Gemeinsamkeit dessen, was unter Demokraten nicht umstritten sein darf.
    Meine Damen und Herren, es tut mir leid, dem folgendes hinzufügen zu müssen, und Herrn Kohls Rede hat nichts davon weggenommen: Die Oppositionsparteien haben in diesen Wochen ein Trauerspiel geboten, durch das sie nicht allein sich selbst geschadet haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Ritz [CDU/CSU] : Schauen Sie mal nach München! — Dr. Jahn [Braunschweig] [CDU/CSU] : Die Austritte von München! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich will hier nicht Salz in offene Wunden streuen, will mich schon gar nicht mit dem befassen, was die Herren Kohl und Strauß untereinander auszumachen haben oder auch nicht.

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU] : Sie sind hier die traurige Figur!)

    Zwei Feststellungen scheinen mir jedoch von allgemeiner Bedeutung zu sein:
    Erstens hat sich die Feststellung, daß CDU und CSU so, wie sie sich darstellen, nicht regierungsfähig seien, durch die Vorgänge der letzten Woche als nur zu begründet erwiesen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Widerspruch bei der CDU/CSU — Haase [Kassel] [CDU/CSU] : Wer hat Sie eigentlich davongejagt? — Franke [CDU/CSU]: Sie sind von Ihren eigenen Freunden aus dem Amt gejagt worden!)

    Zweitens war die Annahme richtig, daß Herr Strauß eine politische Tendenz durchzusetzen bestrebt ist, die — um höflich zu bleiben — weit nach rechts ausholt.

    (Beifall bei der SDP und der FDP)

    Ich könnte mich dazu auf eine Reihe von Zeugnissen aus beiden Unionsparteien berufen. Daran ändert nichts, daß CDU und CSU doch wieder ihren Schrägstrich zwischen sich genommen haben. Diesen Balken muß der Kollege Kohl halten. Der Kollege Strauß hat die Hände freier denn je.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Sie sind ein Lyriker!)

    Die beiden Oppositionsparteien haben am 12. Dezember vereinbart, eine gemeinsame Fraktion im Deutschen Bundestag zu bilden. Aber der Trennungsbeschluß von Kreuth ist bis heute nicht aufgehoben.
    Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 71
    Brandt
    Er wird — so das CSU-Wochenblatt — von den Bonner Vereinbarungen nur überlagert.

    (Hört! Hört! bei der SPD)

    Nur so konnten die äußeren Voraussetzungen geschaffen werden, nach dem in diesem Hause geltenden parlamentarischen Brauch als stärkste Fraktion den Präsidenten des Bundestages zu stellen,

    (Frau Berger [Berlin] [CDU/CSU] : Sie würden doch gerne unsere Sorgen haben!)

    der nach dem Protokoll das zweite Amt in unserer parlamentarischen Demokratie innehat. Die Art, wie die Opposition hier vorgegangen ist, war nicht würdig.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Unionsparteien haben nicht gezögert, bei diesem Spiel demokratische Prinzipien hart zu strapazieren.
    Der Herr Bundestagspräsident, der im Augenblick den Vorsitz abgegeben hat, wird verstehen, daß ich ihn nicht ins Gerede bringe, sondern mich mit dem ihm gebührenden Respekt äußere.
    Der Form nach wurden die Bedingungen für die Bildung einer Fraktion zweier Parteien erfüllt. Aber diese Vereinbarung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die in § 10 unserer Geschäftsordnung geforderten gleichgerichteten politischen Ziele inhaltlich nicht wirklich vorhanden sind.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Worum es ging, war zunächst einmal der Zugriff auf das zweithöchste Amt im Staate. So wurde das von der CSU angebotene gemeinsame Dach gezimmert, für das nach wie vor die von Herrn Kohl geforderten Fundamente fehlen.

    (Dr. Jahn [Braunschweig] [CDU/CSU] : Zur Sache! Wir wollen was zu der Regierungserklärung hören! Dazu ist nichts zu sagen?)

    Dies führt mich zu der Frage, ob man später einmal wird sagen können, Ende des Jahres 1976 sei eine grundlegende Umschichtung in der politischen Landschaft der Bundesrepublik eingeleitet worden. Unbestreitbar scheint mir zu sein, daß der CSU-Vorsitzende nach einem anderen Gesetz als dem der Union Konrad Adenauers die politischen Fronten neu zu formieren entschlossen ist. Er hält dies wohl nicht nur für die Stunde der späten Herausforderung, sondern auch der großen Vereinfachung. Seit Jahr und Tag war er schon in der Versuchung, die Krise mit herbeizureden, um sie dann womöglich rabiat zähmen zu können. Ich meine, wir haben keinen Bedarf an Bundes- oder Reichsvereinfachern, auch nicht an Profiteuren der Panik.

    (Beifall bei der SPD)

    Keiner' soll sich einbilden, in diesem Staat Winston Churchill spielen zu können. Wir schlagen hier nicht die Schlacht um Deutschland, um Europa, um den Westen. Wir schlagen überhaupt keine Schlacht. Wir schreiben nicht 1938 oder 1940.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Übrigens war jener Winston Churchill, konservativ
    und liberal zugleich, ein parlamentarischer Demokrat
    bis auf die Knochen. Er stand wohl weit rechts, aber
    er war ein guter Hasser allen totalitären Unwesens.

    (Haase [Kassel] [CDU/CSU] : Auch des linken!)

    Und er war einem europäischen Kontinent konfrontiert, in dem die Demokratie auf dem Rückzug war. Auch das ist heute anders,

    (Zurufe und Lachen bei der CDU/CSU)

    wie gleich, Ihrem Defätismus entgegen, noch anzumerken sein wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Der Jammer ist, wenn ich dies als Außenstehender anmerken darf, daß die Auseinandersetzungen innerhalb der Unionsparteien überwiegend nicht prinzipiell politisch geführt worden sind. Die ehemalige Union, so sehen es viele, hat sich in die Gefahr gebracht, als stabile Kraft der deutschen Politik auszufallen.

    (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)

    Das ist eine Lage, in der wir Sozialdemokraten uns unserer zusätzlichen Verantwortung bewußt sind.
    Niemand soll sich im übrigen falsche Hoffnungen machen. Sozialdemokraten werden sich, von Sektierern abgesehen, dem Marsch in die Zersplitterung nicht anschließen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es gibt Gott sei Dank keinen Automatismus der Selbstüberschätzung und der Zerstörungslust.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie mögen mir entgegenhalten, daß es Fälle gegeben hat, in denen sich Leute in die SPD hinein verirrt haben, die in Wirklichkeit zu der einen oder anderen kommunistischen Gruppe gehören wollten. Wir haben ihnen deutlich gemacht, daß sie bei uns nichts zu suchen haben. Sie mögen mir einen Fördererverein angeblicher sozialer Demokraten vorhalten, der sich in die Reihe der vielen anderen Splittergruppen einreihen wird.

    (Dr. Jahn [Braunschweig] [CDU/CSU] : Weber, Braunschweig!)

    Ich sage Ihnen, hier handelt es sich um Förderung von, durch und für Strauß. Damit erübrigt sich für Sozialdemokraten jede weitere Qualifizierung.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Ritz [CDU/CSU]: So einfach ist das! — Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Jochen Steffen auch?)

    Aber es ist ganz sicher so, daß die Lage, zu der ich mich geäußert habe, auch die Bedeutung des sozialliberalen Regierungsbündnisses noch wichtiger gemacht hat. Das hat auch das noch wichtiger gemacht, was trotz aller Unzulänglichkeiten und Fehler, die mir wohl bewußt sind, mit dem Bemühen um eine stabile, sozialliberale Mitte zu tun hat.

    (Dr. Jahn [Braunschweig] [CDU/CSU] : Kronawitter und Weber, was?)

    Der Bundeskanzler hat seine Regierungserklärung gestern unter einen guten Dreisatz gestellt: Solidari-
    72 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Brandt
    tät, Liberalität und Frieden nach außen und darum erst recht im Innern. Wir alle sind der Solidarität zwischen den Generationen verpflichtet. Daran än- dern auch dubiose Versuche nichts, die mehr oder weniger prominente Sprecher der Opposition in diesen Tagen unternehmen, sich bei dieser Frage, die auch bei Ihnen eine große Rolle gespielt hat, der Frage der Renten, aus der Verantwortung fortzustehlen, und zwar unter Zurücklassung falscher Fährten. Der Bundeskanzler und seine Partei, unsere Partei,

    (Leicht [CDU/CSU] : Es geht doch um die Lügen!)

    haben vor der Wahl nicht nur einen Termin bestätigt. Wir haben zugesagt, daß jede Rentnerin und jeder Rentner weiterhin mit der Anpassung ihrer Rente an die allgemeine Einkommensentwicklung rechnen könne. Daran besteht auch heute und gerade heute kein Zweifel.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Barzel [CDU/CSU] : Das stimmt nicht! Sie haben die Bruttolohnbezogenheit für alle zugesagt!)

    — Die Bruttolohnbezogenheit bei der Errechnung der Neurenten ist ausdrücklich durch den Bundeskanzler bestätigt worden, Herr Kollege Barzel.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU] : Aber bei den Altrenten nehmen Sie sie weg! — Weit ere Zurufe von der CDU/CSU)

    Das neue Regierungsprogramm bestätigt dies, und daran sollte man im Interesse derer, die uns zuhören, nun wirklich nichts deuteln. Dabei bestreite ich nicht, daß es schwierig war, eine Lösung zu finden, die den veränderten Ziffern gerecht wurde,

    (Leicht [CDU/CSU] : Die waren doch vorher bekannt! — Dr. Marx [CDU/CSU] Wieso verändert? Sie sagen nicht die Wahrheit!)

    mit denen wir es nach dem 3. Oktober zu tun hatten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Schon vorher! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich meine die Daten, die der Sachverständigenrat und der Sozialbeirat vorgegeben hatten.

    (Strauß [CDU/CSU] : Keine Lügen! — Zuruf von der CDU/CSU: Die Ziffern waren doch vor dem 3. Oktober die gleichen!)

    Im übrigen ist es nicht erst seit heute morgen oder gestern mittag bekannt, daß unser System der sozialen Sicherungen von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abhängig ist.

    (Leicht [CDU/CSU] : Große Erkenntnis!)

    Wir Sozialdemokraten haben früher als andere auch in Wahlkämpfen darauf hingewiesen, daß das eng geknüpfte Netz der sozialen Sicherheit selbstverständlich mit einer gewissen Regelmäßigkeit auch auf seine Schwachstellen hin zu überprüfen ist. Das ist gerade deshalb notwendig, weil wir das bewährte Prinzip, das der Alterssicherung zugrunde liegt, nicht antasten lassen wollen.

    (Franke [CDU/CSU] : Sie tasten es doch an!)

    Es hat auch damit zu tun, daß wir auf keinem der in Betracht kommenden Gebiete — da geht es dann um das Gesundheitswesen, um die Arbeitslosen, auch um die Kriegsopfer, die Behinderten und andere — etwas zurückdrehen lassen, was für die betroffenen Menschen erforderlich ist und bleibt.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Konsolidierung ist eine Sache, eine unerläßliche Aufgabe. Was damit nicht verwechselt werden darf, ist ein Herabdrücken des Niveaus der sozialen Sicherheit. Das würden wir auf keinen Fall mitmachen können.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Verdächtigungen helfen niemandem, der in Sorge ist. Mit selbstgerechten und demagogischen Vorwürfen ist man bei uns außerdem an der falschen Adresse. Es waren nicht wir, Herr Kollege Kohl, die sich durch Gerede über Gratifikationen und Bonifikationen den Vorwurf der sozialen Demontage zugezogen haben. Da wäre es doch ganz nützlich, wenn dieser Teil zwischen dem Vorsitzenden der CDU und dem der CSU noch einmal geklärt würde. Herr Kollege Kohl, was Sie hier heute vormittag zu diesem Thema gesagt haben, war, ich muß es sagen, wirklich nicht in Ordnung. Nach dem, was der Bundeskanzler gestern für andere mit selbstkritisch gesagt hat, hätte man Ihre Anerkennung seiner Offenheit erwarten dürfen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

    Wem glauben Sie damit helfen zu können, daß Sie Narben aufreißen? Keinem einzigen Rentner helfen Sie, keiner einzigen Rentnerin.

    (Leicht [CDU/CSU] : Wir sind doch nicht daran schuld!)

    Wo bleibt Ihr Wort dazu, daß die Opposition mit in der Pflicht steht, wenn es darum geht, mit objektiven Schwierigkeiten fertig zu werden?

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Lemmrich [CDU/CSU] : Sie haben doch immer gesagt, die gebe es nicht!)

    Meine Damen und Herren, was immer Sie über Walter Arendt hier sagen wollen: ich sage Ihnen, dieser Mann hat sich um breite Schichten unseres Volkes in besonderer Weise verdient gemacht.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP — Haase [Kassel] [CDU/CSU] : Sie haben ihn doch davongejagt! — Dr. Marx [CDU/ CSU] : Das hätten wir gern von Herrn Schmidt gehört!)

    Deshalb sage ich hier noch einmal — für meine Freunde mit —: Hut ab vor Walter Arendt!

    (Beifall bei der SPD — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU — Leicht [CDU/CSU] : Sie haben ihn doch selbst weggeschickt!)

    Im übrigen zeugt es weder von Einsicht in die verfassungsmäßigen Gegebenheiten noch von gutem Stil,

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Warum ist er denn nicht mehr da?)

    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976 73
    Brandt
    wenn Herr Kohl am Mittwoch erklärte und verbreiten ließ, Walter Arendt sei unmittelbar nach der Kanzlerwahl zurückgetreten. Das stimmt ja gar nicht. Der Bundespräsident hatte ihn am Tag zuvor mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt, und er stand für das neue Kabinett nicht zur Verfügung.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    — Das, was Herr Kohl vorhin über angeblichen
    Respekt sagte, wird widerlegt durch den Mangel an
    Ernst, mit dem Sie den Gegenstand jetzt begleiten.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Er, Walter Arendt, hat dies getan, weil er sich wundgescheuert hatte

    (Lachen bei der CDU/CSU) in der Erfüllung seiner Pflichten


    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    und weil es ihm ganz nahe ging, daß ihm unterstellt wurde, er klebe am Ministersessel. So war das nämlich, Herr Kollege Kohl.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Walter Arendt — wenn Sie das interessiert — wird an führender Stelle unserer Partei und in kameradschaftlicher Verbundenheit mit seinem Amtsnachfolger unverdrossen daran mitarbeiten, daß die soziale Demokratie in unserem Land weiter vorangebracht wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Bundesregierung konzentriert sich in ihrem Programm, wie wir hören konnten und nachlesen durften, auf das, was sich jetzt abzeichnet und was in den nächsten Jahren angepackt werden muß. Das ist der Anlage nach vernünftig und dem Inhalt nach viel. Wenn ich hier ein paar Punkte herausgreife, bedeutet dies keine Minderbewertung 'von Themen, die heute im Rahmen einer Debatte dieses knappen Tages nicht aufgegriffen werden können. Aus der Sicht meiner Partei findet all das besondere Zustimmung, was damit zu tun hat,. uns wirtschaftlich weiterhin möglichst heil durch die von außen auf uns einwirkenden Schwierigkeiten und Erschütterungen hindurchzubringen.
    Der Bundeskanzler hat die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung zur vorrangigen Aufgabe erklärt.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unterstützt ihn darin aus vollem Herzen und erklärt: das Recht eines Menschen, zu arbeiten, hat in Wirklichkeit den Rang einer ethischen Forderung. Daraus folgt aber nicht allein, daß die Regierung alles tun muß, was sie in einer nicht besonders günstigen europäischen und internationalen Landschaft zu leisten vermag, sondern daraus folgt auch: alle, die direkt oder indirekt über Arbeitsplätze entscheiden oder mitentscheiden, sind moralisch in die Pflicht genommen. Ich' würdige das, was eine Anzahl von Unternehmen gerade jetzt auf den Weg bringt. Deshalb füge ich hinzu: Niemand kann sich seiner Pflicht entledigen, indem er sie vor der Haustür
    der Regierung ablädt. Wir leben nicht in einer Ordnung und wir wünschen auch keine Ordnung, in der von Staats wegen über einzelwirtschaftliche Dispositionen bestimmt wird. In dieser Ordnung darf man also vom Staat nicht mehr erwarten, als er geben kann und soll.
    Ich bin im übrigen davon überzeugt — viele meiner Freunde in den Gewerkschaften sind es auch —, daß die öffentliche Mitverantwortung für das wirtschaftliche Geschehen — manche werden das nun schon gleich für verwerflichen Sozialismus halten —, ich wiederhole: daß die öffentliche Mitverantwortung für wirtschaftliches Geschehen in kommenden Jahren nicht kleiner, sondern größer geschrieben werden wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das findet ja auch eine gewisse Widerspiegelung in dem,

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Eine gewisse!)

    was die Regierungserklärung zur notwendigen Modernisierung der Volkswirtschaft,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sozialisierung!)

    zum Ausbau einer vorausschauenden Industrie- und Strukturpolitik und nicht zuletzt zur Forschungspolitik aussagt. Vor allem aber will ich die Skizzierung eines mehrjährigen Investitionsprogramms hervorheben, das, wenn es in Kraft treten wird, entscheidend dazu beitragen kann, daß unsere Volkswirtschaft mit den Folgen neuer weltwirtschaftlicher Spannungen und Schwankungen noch besser fertig wird.
    Große Bedeutung ist aus unserer Sicht auch dem zuzumessen, was im Regierungsprogramm zur Energiepolitik ausgeführt wird. Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben, und wir dürfen die heimische Kohle keinen Augenblick unterschätzen. Da wir aber auch auf Kernenergie angewiesen sein werden,

    (Aha! bei der CDU/CSU)

    begrüßen meine Freunde und ich — zumal unser eigener Parteivorstand deutliche Hinweise für eine sachgerechte Diskussion zu diesem Thema gegeben hat — die Ordnungselemente, die die Regierung dargelegt hat. Sie bedeuten, daß nicht über den Kopf der betroffenen und besorgten Bürger hinweg entschieden werden soll.
    Von gleichem Gewicht sind die Darlegungen des Regierungsprogramms über den Zusammenhang zwischen beschäftigungspolitischen und bildungspolitischen Fragen. Wir können es uns in der Tat nicht leisten, auf das Potential zu verzichten, das durch gute Bildung und Ausbildung erst wirklich genutzt werden kann.
    Zu Unrecht, Herr Kollege Kohl, legen Sie die Regierungserklärung -- aber die Regierung wird sich gewiß noch selbst äußern — so aus, als kündige sie an, daß ein antiföderativer Kurs gesteuert werden sollte. Davon kann keine Rede sein. Hierüber ist gerade jetzt erst unter uns, zwischen uns und den Freien Demokraten, vor der Bildung dieser Bundesregierung eingehend gesprochen worden, und deshalb kann ich Ihnen sagen: Wir sind — ich bin
    74 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Brandt
    es jedenfalls — engagierte Verfechter der bundesstaatlichen Ordnung,

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    eines Prinzips übrigens, das sich auch in manchen anderen Staaten durchsetzen wird.
    Aber wir legen großen Wert darauf, daß es sich um einen kooperativen Föderalismus handelt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Und wer wollte im Ernst bestreiten, daß dazu eine Verständigung über die bildungspolitischen Aufgaben gehört, von denen hier gestern die Rede war? Sie hätten, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kollege Kohl, gern zur Einheit der Nation noch ein bißchen mehr gehört. Dann sage ich Ihnen: Einheit der Nation hat in diesem Teil unseres Vaterlandes auch mit bestimmten einheitlichen Inhalten und Ausformungen des Schulwesens für unsere jungen Menschen zu tun.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Kohl [CDU/CSU] : Sehr einverstanden!)

    Übrigens, Herr Kollege Kohl, kann man Probleme auch nicht nur schematisch, sondern irreführend darstellen. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Sie haben hier so getan, als ob der Rückgang der Kinderzahl etwas mit unserer Politik zu tun hätte.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sicher!)

    In Rheinland-Pfalz

    (Heiterkeit bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    wie im übrigen Bundesgebiet

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    geht die Kinderzahl seit 1964 zurück. Wie soll unsere Politik in der Großen Koalition ab 1966 und gemeinsam mit den Freien Demokraten ab 1969 bewirkt haben, daß seit 1964 die Kinderzahl zurückgegangen ist?

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der FDP — Wehner [SPD] : Insgeheim! Hintenherum!)

    Da meinen Sie, die SPD — unsere freidemokratischen Kollegen haben Sie da ausgelassen, und ich fühle mich eigentlich ein bißchen alleingelassen; aber lassen wir es einmal — sei durch die bildungspolitische Expansion verantwortlich für den Anpassungsdruck in den Schulen. Lieber Herr Kollege Kohl, die Abiturienten, die in diesem Herbst 1976 vor den Toren der Universitäten standen — die, das wissen wir beide, seit Jahren schwer genug mit dem Numerus clausus fertig werden —,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wird im nächsten Jahr abgeschafft!)

    sind doch junge Menschen, die spätestens 1967 in Gymnasien übergegangen sind. Wieso sollten wir schon nach einem halben Jahr Großer Koalition — ohne bildungspolitische Zuständigkeit in Bonn —, wieso sollten wir erst recht ab 1969 bewirkt haben können,

    (Dr. Barzel [CDU/CSU] : Rechnen war nie Ihre Stärke!)

    was Eltern — in Ihrem Land und anderswo — in der Frage entschieden haben, ob das Kind mit zehn Jahrens aufs Gymnasium kommen soll oder nicht? Es ist doch verständlich: Solange Sie bei einem Alter des Kindes von zehn Jahren Entscheidungen darüber fällen, daß der eine nur Schlosser und der andere Schlosser oder Chefarzt werden kann,

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    bekommen Sie diesen Druck, von dem Sie eben gesprochen haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Meine Damen und Herren, es ist gut, daß bei aller von uns ausdrücklich unterstützten Pflicht zur finanzpolitischen Solidität die reformpolitischen Akzente deutlich geblieben sind. Auch ich nenne an erster Stelle das Bemühen um tatsächliche Gleichstellung der Frauen, denn hier geht es wirklich um eine zentrale Aufgabe dieser Zeit. Politik und Staat müssen Vorspanndienste leisten für das, was natürlich ein umfassendes gesellschaftliches Problem bildet.
    Nur, Herr Kohl, wollen wir doch einmal ehrlich sein: Als Sie Kanzler werden wollten, haben Sie angekündigt, Sie würden in Ihr Kabinett mehrere Damen aufnehmen. Das hat Helmut Schmidt an Ihrer Stelle getan.

    (Wehner [SPD] : Aber der wollte fünf!)

    Sie haben so disponiert, daß der weibliche Präsident des Bundestages abgeschafft wurde.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Obwohl Ihr Fraktionsvorstand sicherlich nicht kleiner ist als ein Bundeskabinett, haben Sie nicht einmal die für das Kabinett in Aussicht genommene Zahl von Damen in Ihrem Vorstand unterbringen können.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Kohl [CDU/CSU] : Herr Brandt, der Fraktionsvorstand ist ja noch gar nicht gewählt! — Zuruf des Abg. Dr. Marx [CDU/CSU])

    Ich erinnere auch an die Akzente beim sozialen Engagement für Hilfsbedürftige, das nicht allein eine Sache des Staates sein kann, beim Ausbau der Rechtsordnung, auch im Bereich des öffentlichen Dienstes, beim Umweltschutz und der Mitverantwortung dafür, daß unsere Städte und Gemeinden nicht nur überleben, sondern sich entfalten können.
    Aber was insgesamt notwendig sein wird, damit wir unsere eigene Zukunft bewältigen, meine Damen und Herren, werden wir nicht erreichen, ohne den Zusammenhang mit der Zukunft anderer Völker einzubeziehen. Vieles, was uns selbst betrifft, wird zunehmend abhängig von der Entscheidung anderer. Wir müssen also dabei bleiben, der friedlichen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und Völkern immer wieder Wege zu bahnen. Es werden noch lange Wege in der Gefahr sein, so wie die Welt aussieht.

    (Leicht [CDU/CSU]: Tolle Erkenntnis!)

    Aber es liegt an uns, ob wir uns vor den Gefahren in einen Immobilismus der Resignation flüchten

    (Wehner [SPD] : Sehr wahr!)

    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bann, Freitag, den 17. Dezember 1976 75
    Brandt
    oder ob wir jenen Weg weitergehen, auf dem weder
    für Illusionen noch für Psychosen der Angst Platz
    ist. Das ist unser Weg der prüfenden Entspannung.
    Das Atlantische Bündnis hat sich vor Jahr und Tag auf diesen Weg begeben. Wir Deutschen hier in der Bundesrepublik konnten dazu durch die Kombination aus Entschlossenheit zur Verteidigung und Anstrengung für den Frieden unseren Beitrag leisten. Mir liegt daran, all denen in unserer Bundeswehr — mit dem Verteidigungsminister an der Spitze —, die für beides einstehen, im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Dank zu sagen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich meine im übrigen: Unsere Perspektive heißt Europa. Nur in der Gemeinschaft der europäischen Völker können wir zur Politik der friedlichen Zusammenarbeit mit der übrigen Welt sinnvoll beitragen. 'Unser Ziel bleibt — trotz aller Schwierigkeiten, die wir nicht verkennen — die Europäische Union. Sie muß mehr sein als eine Bündelung von Wirtschaftsinteressen, mehr auch als die hoffentlich kommende Summierung von Sicherheitsbedürfnissen. Wir brauchen eine Gemeinschaft sozialer Verantwortung und geistiger Potenz. Wir Sozialdemokraten bereiten uns mit unseren Freunden in der Gemeinschaft darauf vor, daß 1978 ein direkt gewähltes Europäisches Parlament Europas Bürger vertritt.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Das hat lange genug gedauert!)

    Die letzten Jahre zeigen im übrigen — und da komme ich auf eine Bemerkung von vorhin zurück —, daß die Demokratie in Europa durchaus nicht auf dem Rückzug ist, sondern daß sie Geländegewinn erreicht: Griechenland, Portugal und wohl auch Spanien stehen auf der Habenseite der demokratischen Bilanz.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Warum etwa wollen wir das nicht hinreichend zur Kenntnis nehmen? Was soll der Defätismus, den wir immer wieder vernehmen müssen? Was sollen die Zwangsvorstellungen, die Herr Strauß in Ihr Einigungspapier hineingeschrieben hat, Herr Kollege Kohl? Wir resignieren nicht. Wir geben Europa, was an uns ist, der Resignation nicht preis. Apropos: Meines Wissens sind, was immer über Eurokommunismus geredet werden mag, die Sozialisten in Frankreich in diesen letzten Jahren nicht schwächer, sondern stärker geworden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Nun ich bin, Herr Kollege Kohl, auch in meiner Eigenschaft als Präsident der Sozialistischen Internationale angesprochen worden. Ich freue mich über dieses Interesse, obwohl der Deutsche Bundestag gewiß keine — im engeren Sinne des Wortes — Zuständigkeit über diese Gemeinschaft demokratisch-sozialistischer Parteien hat

    (Dr. Barzel [CDU/CSU] : Das interessiert aber alle Kollegen!)

    und mich auf diesem Gebiet auch kaum beraten kann, Herr Kollege, oder will. Aber zur Aufklärung will ich gern beitragen.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Ein gutes Präjudiz!)

    Bei dem weit über Europa hinausreichenden Zusammenschluß, der den traditionsreichen Namen „Sozialistische Internationale" trägt, handelt es sich um eine Arbeitsgemeinschaft souveräner Parteien. Der Präsident ist kein Vormund dieser Parteien, sondern hat nur das zu vertreten, was gemeinsamen Überzeugungen und Beschlüssen entspricht. Sie können nicht einen Beschluß einführen, von dem Sie genau wissen müssen — sonst müßten Ihre Mitarbeiter es Ihnen genauer sagen —, daß er von der SPD nicht mitgefaßt ist. Es gelten nur solche Beschlüsse, die von allen gemeinsam getragen werden. Im übrigen betrachte ich es nicht — Sie wohl auch nicht — als eine Schande, wenn ein Deutscher mit einem solchen oder ähnlichen Auftrag betraut wird; schaden kann uns das nicht. Freunde in der Welt werden wir noch nötig haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Erlauben Sie mir jetzt, Ihnen dies zu sagen. Wir deutschen Sozialdemokraten — dies sage ich offen — verfolgen mit Sorge, daß es den deutschen Christdemokraten bisher nicht gelingt, sich aus einer gewissen außenpolitischen Isolation zu lösen, in die sie aus innenpolitischen Gründen geraten sind.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP — Lachen bei der CDU/CSU)

    Herr Kollege Kohl, während CDU und vor allem CSU verkünden, sie müßten dem Einhalt gebieten, was sie den Vormarsch von Eurokommunismus und Volksfront nennen, bemühen sich Ihre italienischen Kollegen bekanntlich um die Unterstützung der dortigen Kommunisten zur Bewältigung der Schwierigkeiten, mit denen es jenes Land zu tun hat.

    (Zustimmung bei der SPD und der FDP — Dr. Dregger [CDU/CSU] : Weil die Sozialisten sich versagen! Sie verweigern sich doch! — Breidbach [CDU/CSU] : Ihre Absicht!)

    Frankreichs Zentrumsparteien suchen zur gleichen Zeit den Kontakt mit den Kräften des demokratischen Sozialismus. Dies zeigt doch an: Die europäische Wirklichkeit ist komplizierter, als professionelle Vereinfacher in den Reihen der Opposition es glauben machen wollen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Der Vorsitzende der Christlich-demokratischen Volkspartei Belgiens hat neulich gesagt — ich möchte ihn hier zitieren —, er sei mit bestimmten Elementen der deutschen CDU nicht einverstanden. Diese Meinung mag ihm, auch von Ihrer Seite gesehen, verehrte Kollegen der Opposition, unbenommen bleiben. Aber es muß doch aufhorchen lassen, wenn er hinzufügt: Belgier, Niederländer, Luxemburger, Italiener, bald auch Spanier stellen so etwas wie den fortschrittlichen Flügel innerhalb der europäischen christdemokratischen Bewegung dar. — Er
    76 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
    Brandt
    sagt von seinen Schwesterparteien in diesen Ländern
    — ich zitiere —:
    Wir glauben, daß wir in Europa eine eigenständige, eine fortschrittliche Politik verfolgen müssen mit einer anderen Einstellung gegenüber den nationalen Belangen.
    Auf gut deutsch: Weite Teile der europäischen Christdemokratie sind nicht bereit, die insoweit zurückgebliebene Politik der CSU und ihrer Freunde in der CDU — ich weiß zu differenzieren — mit zu tragen, es hinzunehmen, daß eine ideologisch befrachtete Mentalität, die im Vorgestrigen verhaftet ist, das Miteinander der demokratischen Kräfte in Europagefährdet. So sieht es nämlich aus.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Übrigens: Einige Damen und Herren in der Union haben sich bei ihren aufgeregten Äußerungen der letzten Wochen wieder einmal geirrt oder — anders gesagt — zu früh gefreut. Der neue amerikanische Präsident wird die Politik der Entspannung fortsetzen. Das steht fest. Die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über eine Begrenzung der strategischen Rüstung können im nächsten Jahr zu einem weiteren Ergebnis führen. Bis dahin sollten neue Überlegungen angestellt werden, wie die Wiener Verhandlungen — darüber wollten Sie, Herr Kollege Kohl, von den Sozialdemokraten auch gern noch etwas hören;

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Ich war bisher der Meinung, wir reden über die Regierungserklärung!)

    — wir reden über die Lage in Deutschland und in der Bundesrepublik Deutschland -

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Marx [CDU/CSU] : Das ist ein klarer Unterschied! — Dr. Biedenkopf [CDU/CSU]: Ein entscheidender Unterschied!)

    über eine beiderseitige und ausgewogene, d. h. eine die Interessen beider Seiten berücksichtigende Verminderung von Truppen und Rüstungen in der Mitte Europas vorangebracht werden können. Man darf das, was von den Fachleuten bisher auf den Weg gebracht worden ist, nicht geringschätzen. Es wird freilich, so meine ich, nötig sein, auf einer hohen politischen Ebene den Versuch zu unternehmen, das jetzt Mögliche zu vereinbaren und den Bemühungen dadurch einen neuen Impuls zu geben. Ich unterstreiche das, was die Regierung über die Bemühungen auf anderen Ebenen — UNO-Vollversammlung, Konferenz in Colombo — gesagt hat. Dies alles, meine Damen und Herren von der Opposition, eignet sich überhaupt nicht zur Polemik. Sie werden die Wege, die wir finden müssen, mit Sicherheit verfehlen, wenn Sie — wie leider schon so oft — die Ideologie zum Knüppel nehmen und mit ihm politisches Porzellan zerschlagen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Zu den Wiener Verhandlungen will ich dann dies doch hinzufügen: Es muß meiner Überzeugung nach unser erstes Ziel sein, schrittweise einen Zustand herbeizuführen, in dem ein militärischer Angriff aus dem Stand in Mitteleuropa unmöglich wird. Zwei prinzipiell wichtige Schritte könnten in Erwägung gezogen werden. Sie zu erwähnen, hindert mich auch nicht ein Abgeordneter, der zwar aus dem Auswärtigen Amt kommt, aber die guten Manieren dort gelassen hat,

    (Beifall bei der SPD — Pfui-Rufe von der CDU/CSU)

    der auch Herrn Kollegen Kohl, welcher solche Dinge vermutlich — neben allem anderen — nicht auch noch so genau verfolgen kann, falsch unterrichtet hat,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wieso?)

    wenn er in diese Debatte schon wieder eine vergiftende These einbringt. Ich muß sagen, dies ist eine Zumutung. Gegenüber jemandem, der sich gemeinsam mit anderen im Westen und anderswo — auch in neutralen Ländern — Gedanken macht und sich fragt: wie könnte das weitergehen, fällt diesem Mann, über dessen Manieren ich mich geäußert habe, nichts anderes ein, als zu unterstellen: Die greifen ja sowjetische Vorschläge auf! — Was, wie Sie wissen müßten, nicht der Fall ist, Herr Kollege Mertes. Warum sagen Sie dann die Unwahrheit?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP — Wehner [SPD] : Weil er gar nicht anders kann! — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/ CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Nein, ich halte mich — —

    (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU — Anhaltender Beifall bei der SPD und der FDP)

    — Die Zwischenfrage ergibt erst einen Sinn, Herr Kollege, wenn ich meine folgenden drei Sätze zu dem Gegenstand hinzugefügt habe. Ich darf Sie dann einladen, die Frage nachzuholen. —
    Womit man beginnen könnte, wäre eine — vermutlich nur bescheidene — Verringerung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte innerhalb des in Wien abgesteckten geographischen Rahmens. Das wäre in zeitlicher Bindung in einem weiteren Schritt eine entsprechende — wenn auch ebenfalls bescheidene — Reduzierung nationaler Streitkräfte. Darum geht es doch dort. Und warum soll ich dazu hier nicht meine Anregungen geben können, wie ich sie anderswo gebe? — Herr Kollege Mertes!