Nein, Herr Präsident, ich möchte diese Erklärung abgeben, ohne von Zwischenfragen unterbrochen zu werden. Ansonsten bin ich bei jeder Debatte gern bereit, Zwischenfragen zuzulassen.
— Meine Damen und Herren, dies ist meine Antwort auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der zweieinhalb Stunden beanspruchte. Ich will jetzt hier meine Zeit ausnutzen.
Ich will das eben Gesagte in einem Punkt gern einschränken.
Der Kollege Friderichs kam wenigstens, wenn auch spät, noch zum Vorschein und hat seine Meinung geäußert. Sie in der SPD sollten sich aber nicht über diesen Punkt erregen, denn Ihre Freunde in Schleswig-Holstein haben das Feuer doch tatkräftig geschürt.
Ich hätte mir gewünscht, daß der stellvertretende Vorsitzende der SPD, Helmut Schmidt, zu seinen schleswig-holsteinischen Genossen auch öffentlich das Notwendige gesagt hätte.
Herr Bundeskanzler, ich spreche dieses Thema in dieser Deutlichkeit an, weil ich — in einem anderen Amt — bei vielen Gesprächen Zeuge war, die Sie mit uns, den Repräsentanten der Länder, damals führten, als es unter dem Eindruck des Ölschocks darum ging, die Energiebasis so schnell wie möglich zu sichern. Damals war es eine ganz andere Sprache, die ich hörte, als das, was ich gestern in der Regierungserklärung las.
Damals war die Rede von bürokratischen Hemmnissen und solchen Dingen.
Wir sind für streng rechtsstaatliche Verfahren. Wir sind dafür — hier stimme ich Ihnen mindestens
teilweise zu —, daß nicht jede Bürgerinitiative pauschal diffamiert wird. Repräsentative Demokratie die wir bejahen, braucht auch Platz und Raum für das Element von Bürgerinitiativen. Es müssen aber Initiativen sein, die nicht Gefahr laufen, von Leuten umfunktioniert zu werden, die nicht Reaktorenergie, sondern Umsturz unseres Staates im Sinne haben.
Geradezu skandalös ist es, wie die Bundesregierung und auch Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Interessen und dem Vertrauen der elf Millionen Rentner und der über 20 Millionen Beitragszahler in diesen Tagen umgegangen sind. Was soll eigentlich der Bürger denken. Er muß sich doch an der Nase herumgeführt fühlen. Woher sollen Ernsthaftigkeit und Opferbereitschaft kommen, wenn so leichtfertig mit der Wahrheit umgegangen wird? Auf die Opferbereitschaft unserer Bürger sind wir doch alle angewiesen. Zu ihr ist jeder aber doch nur dann bereit, wenn man ihm die Wahrheit sagt, wenn er gerecht behandelt wird und wenn nicht versucht wird, alle über einen Kamm zu scheren. Sie sprachen gestern vom Durchschnitt. Ihren sogenannten Durchschnitt, verehrter Herr Bundeskanzler, gibt es nicht. Es gibt elf Millionen Rentner mit höchst unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Darunter sind rund 2,3 Millionen Rentner mit Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau.
Die Pläne der Bundesregierung zur Sanierung der Rentenversicherung — das wissen Sie so gut wie wir — werden keinen Bestand haben. Ihre Aussage, Herr Bundeskanzler, daß die getroffenen Entscheidungen geeignet seien, die Rentenversicherung zu konsolidieren, wird sich nach einhelliger Meinung aller Experten als ebenso falsch herausstellen wie die Behauptung, daß die Maßnahmen sozial gerecht und ausgewogen seien. Sie sind es nicht.
Unsere Kritik gilt besonders folgenden Punkten.
Erstens. Wo Differenzierung nötig wäre, schlagen Sie alles über einen Leisten. Dies gilt für die generelle Verschiebung der Anpassung, für die Nettolohnanpassung und ganz besonders für die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung. Diese Anhebung trifft nicht so sehr, wie man jetzt sagt, die sogenannten besser verdienenden Arbeitnehmer, sondern sie trifft gerade die kinderreichen Familien in der Bundesrepublik.
Dies gilt schließlich auch für die Maßnahmen, die das gegliederte Krankenversicherungssystem treffen.
Zweitens. Sie schaffen Möglichkeiten der Manipulation. Die Höhe der Rentenanpassung wird zum Gegenstand ständiger politischer Auseinandersetzungen. Durch die geplante Abschmelzung der Rücklage gerät die Rentenversicherung in den Sog des Bundeshaushalts.
Und drittens: Ihre Pläne sind unausgereift. Dies betrifft den finanziellen Effekt, den man sich aus einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze ver-
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spricht, die geplante unterschiedliche Behandlung von Alt- und Neurentnern und den Belastungsbereich in der Krankenversicherung. Wer die unterschiedliche Leistungsfähigkeit nicht systemgerecht berücksichtigt, bereitet den Boden für eine Nivellierung vor. Wer seine Grundsätze aufgibt, um diese Rentenbeschlüsse mitzutragen, der muß auch den Preis kennen, meine Kollegen von der FDP.
Ihr Programm ist unberechenbar und unausgewogen. Es kann und darf so nicht Gesetz werden.
Die Union, unter deren Regierungsverantwortung das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik geschaffen wurde, ist bereit, sich an der Sanierung des Sozialsystems zu beteiligen, an ihr mitzuwirken. Wir lassen uns dabei von folgenden Gesichtspunkten leiten.
Erstens. Das Gebot der Klarheit und der Wahrheit erfordert es, daß der Zusammenhang von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik gewahrt wird, damit keine finanzpolitischen Verschiebebahnhöfe eröffnet werden. Die Finanzen der Sozialversicherung müssen nach bestem Wissen und Gewissen vorausgeschätzt werden, damit die Stabilität der sozialen Sicherung auch langfristig garantiert werden kann.
Zweitens. Die solidarische Absicherung des einzelnen gegenüber den Grundrisiken des Lebens darf nicht zur Disposition gestellt werden. Solidarität, meine Damen und Herren, ist keine Einbahnstraße; sie gilt auch für den Empfänger von Sozialleistungen gegenüber dem Steuer- und Beitragzahler. Dies gehört für uns selbstverständlich zur Solidarität.
Drittens. Der einzelne darf nicht so mit Steuern und Sozialabgaben belastet werden, daß sich Leistung überhaupt nicht mehr lohnt. Dies ist für uns ein wichtiges Stück Freiheit.
Viertens. Die Lasten müssen ausgewogen verteilt werden. Alle Möglichkeiten der Rationalisierung sind auszuschöpfen, bevor zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Dies erfordert das Gebot der Gerechtigkeit.
Wir, meine Damen und Herren, stehen zu unserer Rentengarantie, und wir sind bereit, Mitverantwortung zu tragen. Dies setzt aber voraus, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung voll gerecht wird. Wir fordern Sie, Herr Bundeskanzler, auf, die tatsächliche finanzielle Lage der Rentenversicherung offenzulegen
und tragfähige Vorschläge zu unterbreiten. Voraussetzung jeder soliden Politik ist ein ehrlicher Kassensturz — auch in diesem Fall!
Meine Damen und Herren, wir haben unser Angebot, auch unpopuläre Maßnahmen mitzutragen, oft wiederholt. Ihre Antwort — ich erinnere an die
Tage der Wahl in Nordrhein-Westfalen — war der verleumderische Vorwurf der sozialen Demontage. Neues Zahlenmaterial wollen Sie erst im nächsten Rentenanpassungsbericht mitteilen. Sie wollen offensichtlich weiter an den Symptomen kurieren und den Bürgern die Wahrheit immer noch vorenthalten. Dazu bekommen Sie unsere Zustimmung nicht.
Das gilt auch für jene andere Tendenz: die Selbstverwaltung im Sozialbereich weiter auszuhöhlen und in die Rolle des Sündenbocks für die sozialpolitischen Versäumnisse der Bundesregierung abzudrängen.
Sie wollen Milliardensummen von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung verlagern. Aber für den Bürger ändert das gar nichts, er muß so oder so zahlen, und zwar aus demselben Portemonnaie. Dies ist doch der Punkt, den wir in dieser Diskussion nie aus den Augen lassen dürfen.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat gestern in seiner Regierungserklärung auch die Fragen der Familie sehr breit angesprochen. Ich kann nur sagen: Diese Regierung hat seit Jahren den Schutz und die Förderung der Familie vernachlässigt.
Eine bedrückend große und wachsende Zahl von Familien mit Kindern ist hinsichtlich ihrer Einkommenssituation unter die Sozialhilfeschwelle abgesunken. Wohin, meine Damen und Herren, soll es denn führen, wenn heute schon ein durchschnittlich verdienender Familienvater in Armut abgleitet, wenn er nur drei Kinder hat! Dies ist ein armes Land, wo Kinder Armut bedeuten können. Die Familienpolitik bedarf dringend einer neuen Weichenstellung.
Herr Bundeskanzler, wer ein feines Gehör hat, wenn sich große Verbände zu Wort melden, sollte sein Ohr auch schärfen für Nöte und Sorgen, die nicht so laut vorgetragen werden können.
Die Lebensqualität, die Sie so gern im Munde führen, kann nirgendwo in dieser Gesellschaft besser verwirklicht werden als in intakten Familien.
Wo sind die Antworten der Bundesregierung auf die Frage nach der Zukunft des Familienlastenausgleichs? Wo sind die Antworten auf die Frage nach einer kinderfreundlichen Umwelt? Wo dokumentiert sich der Stellenwert der Familie in Ihrer Politik? Machen Sie sich doch gar nichts vor: Die von Ihnen in Aussicht gestellte Verbesserung des Familienlastenausgleichs reicht noch nicht einmal aus, um den Kaufkraftschwund, dem das Kindergeld ausgesetzt ist, auszugleichen.
Durch die geplante Anhebung des Kindergeldes und des Wohngeldes würden noch nicht einmal zwei Drittel der Mehrbelastungen aufgefangen, denen die Mehrkinderfamilie infolge Anhebung der Mehr-
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wertsteuer ausgesetzt sein wird. Auch das gehört doch dazu.
Meine Damen und Herren, fernab jeder Polemik: Wer heute die Lage der Familienpolitik in der Bundesrepublik studiert, muß doch feststellen, daß sich hier tiefgreifende Fehlentwicklungen zeigen, die man nicht mit technischen Mitteln beheben kann. Wenn wir heute die niedrigste Geburtenrate in der ganzen Welt haben, dann ist das doch auch die Konsequenz einer falschen Politik in den letzten Jahren.
Das hat sehr viel damit zu tun, daß die junge Generation immer mehr zweifelnde Fragen an uns stellt. Ob es uns gelingt, den Jungen wieder mehr Mut und Selbstvertrauen zum Leben in einem freien Gemeinwesen zu geben, ob diese jungen Menschen genug Selbstvertrauen gewinnen können, um mit ihren Schwierigkeiten fertig zu werden, das ist die in meinen und in unseren Augen entscheidende Frage für den Fortbestand der freiheitlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn junge Leute den Eindruck gewinnen müssen, daß sie in unserer Gesellschaft mit ihrer Chance zu kurz kommen, dann gerät diese junge Generation in Gefahr, auf Freiheit verzichten zu wollen und Sicherheit im Kollektiv zu suchen. Hier liegt ein wichtiger Kern des Problems.
Auch mit der gestrigen Regierungserklärung ist der Bundeskanzler den wichtigsten Problemen ausgewichen. Herr Bundeskanzler, Sie sprachen von einheitlichen Lebensbedingungen. Es ist unsere selbstverständliche Pflicht, auch im Bildungswesen die volle Freizügigkeit in allen Teilen unserer Bundesrepublik zu gewährleisten und zu fördern. Aber Sie wissen ganz genau, daß die gestern von Ihnen so lapidar gemachten Vorschläge in dieser Form angesichts der Verfassungsordnung nicht realisierbar sind.
Aufgabe der politischen Führung ist es, sich zu Inhalten und Zielen auch der Erziehung und Bildung zu äußern; Bildung muß mehr vermitteln als Anpassungsfähigkeit oder technisches Rüstzeug.
Ihre Partei, meine Damen und Herren von der SPD, die 1959 in ihrem Godesberger Programm ausdrücklich feststellte, daß Erziehung und Bildung die Widerstandskraft gegen konformistische Tendenzen in unserer Zeit stärken sollen, hat den größten Anpassungsdruck bewirkt, dem junge Menschen in der Geschichte der Bundesrepublik ausgesetzt wurden.
Das ist eine der Konsequenzen einer Politik, die die Zusammenhänge zu sehr verschleiert hat und die sich trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse mehr um eine Expansion in Bildung und Ausbildung als um eine sozial gerechte Qualität unseres Bildungssystems bemüht.
Unser Bildungs- und Ausbildungssystem soll dem jungen Menschen helfen, sein Leben und seine Umwelt selbst zu gestalten. Er muß die Fähigkeit lernen, zu unterscheiden und zu urteilen. Aber er muß auch wissen und gesagt bekommen, daß menschliches Verhalten an Wertenscheidungen gebunden ist. Erziehung soll die Erkenntnis vermitteln, daß wir ein Mindestmaß an Übereinstimmung im Umgang miteinander und im WertbewuBtsein brauchen, wenn wir frei und menschlich zusammen leben wollen.
Es gilt, der jungen Generation die bittere Erfahrung zu ersparen, daß sie auf der Schwelle zum Berufsleben auf eine verschlossene Gesellschaft stößt. Daher ist es unser aller verantwortliche Aufgabe, Bildungswesen und Beschäftigungssystem besser aufeinander zu beziehen. Wir werden dazu aus der Sicht der CDU/CSU unsere eigenen Beiträge in dieser Legislaturperiode liefern.
Eine der großen Aufgaben unserer Zeit ist es, die volle Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen tatsächlich zu verwirklichen. Die Frauen brauchen für ihre Entscheidung keinen Vormund; sie wissen selbst am besten, was ihr Glück und was das Glück ihrer Kinder erfordert: die Sorge um die Familie und die Erziehung der Kinder oder das Engagement im außerhäuslichen Erwerbsbereich. Wir in der CDU/CSU wollen Wahlfreiheit für alle Frauen. Wahlfreiheit — an diesem Ziel werden wir unsere Politik, wird die Bundesregierung ihre Politik, aber werden auch die Sozialpartner ihre Politik messen müssen.
Für die erwerbstätige Frau gilt es vor allem, die Probleme der gerechten Entlohnung zu bewältigen. Aufstiegs- und Weiterbildungsschwierigkeiten müssen beseitigt werden. Für gleiche Arbeit muß gleicher Lohn bezahlt werden.
Das ist eine rechtliche Verpflichtung, und sie darf nicht dadurch unterlaufen werden, daß Tätigkeiten, die üblicherweise von Frauen ausgeübt werden, von vornherein geringer bewertet werden. Hier ist — darüber müssen wir uns alle im klaren sein — vor allem auch die Solidarität und das Beispiel zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern herausgefordert.
Einer Frau, die sich für Haushalt und Familie entscheidet, dürfen daraus keine Nachteile entstehen. Das müssen wir sicherstellen. Darin sehen wir eine der zwingenden großen Reformaufgaben der nächsten Jahre.
Mit der Partnerrente hat die Union die moderne langfristige Konzeption für eine eigenständige soziale Sicherung der Frau vorgeschlagen. In der Partnerrente sehen wir eine umfassende und zukunftsweisende Reform, die Rechte und Pflichten innerhalb der Rentenversicherung grundlegend neu gestaltet. Sie beseitigt eine Reihe gravierender Mängel, die meist zu Lasten der Frau gehen. Mit der partnerschaftlichen Aufteilung der während der Ehe erworbenen Ansprüche wird die Leistung der
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Frau als Hausfrau und Mutter materiell in einem höheren Maße anerkannt als in der Vergangenheit. Die Partnerrente ermöglicht es der Frau, ihren Tätigkeitsbereich frei zu wählen. Frauen dürfen ebensowenig wie Männer aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen in eine bestimmte Rolle gedrängt werden.
Meine Damen und Herren, auch das will ich heute schon ankündigen: Auch in dieser Legislaturperiode wird die Union eines ihrer wesentlichen Ziele, nämlich die Vermögensbildung in breiter Hand, beharrlich weiterverfolgen. Vermögensbildung dient dem Vorteil aller. Der einzelne Arbeitnehmer ist am Wachstum und am Gewinn beteiligt. Verteilungskämpfe bei der Lohnfindung können entschärft werden. Die alte Kapitalstruktur kann verbessert werden. Das ist ein Vorteil für die Wirtschaft. Und der Staat gewinnt dadurch, daß sich die Konjunktur verstetigt und die Leistungskraft unserer Wirtschaftsordnung auch im internationalen Bereich steigt. Wer soziale Marktwirtschaft will, der muß sich auch für Vermögensbildung einsetzen. Wir tun das!
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir beobachten mit steigender Sorge, daß immer mehr Menschen in unserem Land die Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. So stehen wir heute vor der Situation, daß die Gemeinden und Städte, die Kommunen, über die Sozialhilfe Aufgaben erfüllen müssen, die eigentlich in die Verantwortung des Bundes gegeben sind, und daß auf diesem Wege eine Art von Subvention für den Bund stattfindet. Viele Gemeinden sind heute kaum noch in der Lage, die gewaltigen finanziellen Belastungen zu tragen. Wir werden uns dafür einsetzen — und ich hoffe hier auf schlüssige Vorschläge der Bundesregierung —, daß in diesem Bereich Abhilfe geschaffen wird, damit sich die Träger der Sozialhilfe, nicht zuletzt auch die freien Verbände, wieder stärker der personalen Hilfe im Einzelfall widmen können, denn darin sehen wir eine der großen Zukunftsaufgaben.
Herr Bundeskanzler, Ihre Ausführungen zur AuBen- und Sicherheitspolitik werden nach unserer Auffassung dem Ernst der Lage nicht gerecht.
Die europäische Einigungspolitik stagniert. Es gab und es gibt weitere Rückschläge in der Entspannungspolitik. Die Sowjetunion verstärkt ihre Anstrengungen, das weltweite Gleichgewicht, soweit es ein solches noch gibt, zu ihren Gunsten zu verändern. Die Krise im Mittelmeerraum dauert an. Wir sehen uns mit steigenden und vielfältigen Forderungen der Dritten Welt konfrontiert. In diesem Augenblick — wann denn überhaupt, wenn nicht jetzt! — wäre es die Aufgabe der Bundesregierung gewesen, in ihrer Regierungserklärung ein überzeugendes außenpolitisches Gesamtkonzept vorzulegen.
Verbale Bekenntnisse zur europäischen Einigung genügen uns nicht. Wir hören dies von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und auch von Ihrem Vorgänger Willy Brandt nun schon seit Jahren. Tatsache ist jedoch, daß die europäische Politik in Ihrer Regierungszeit die erforderliche Priorität nicht fand. Es kann für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht genügen, nur das mitzumachen, wozu auch das langsamste Schiff im europäischen Geleitzug bereit und in der Lage ist. Wir wollen durch eigene Initiativen der Bundesrepublik, Vorstöße und Aktivitäten die Dinge voranbringen, weil es fünf Minuten vor zwölf ist.
Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ist es bezeichnend oder nur erstaunlich, daß in Ihrer Erklärung kein Wort zum Bericht Leo Tindemans' zu finden ist, jenem Bericht über die Europäische Union. Warum schweigen Sie zu diesem wichtigen Thema?
Für uns in der CDU/CSU bleibt die europäische Einigung ein entscheidendes Hauptziel deutscher Politik.
Sie ist Voraussetzung für Freiheit und Sicherheit, und diesem Ziel werden auch in den kommenden Jahren alle unsere Anstrengungen gelten. Die für 1978 vorgesehene Direktwahl zum Europäischen Parlament ist auf diesem Weg ein entscheidender Schritt. Ich hoffe, daß wir über diese Fragen im Januar noch eingehender diskutieren können.
Von besonderem Gewicht sind nach unserer Oberzeugung auch die Aufgaben in der Nord-Süd-Politik im Bereich der Weltwirtschaftsordnung. Herr Bundeskanzler, die deutsche Politik ist dabei unter Ihrer Regierung in ein Dilemma geraten. Daß es zu diesem Dilemma kam, liegt nicht zuletzt daran, daß Sie viel zu lange die geistige und ordnungspolitische Dimension des Nord-Süd-Problems unterschätzt haben. Sie haben nicht erkannt — oder Sie haben es nicht gesagt —, daß es längst nicht mehr allein um die Entwicklungsländer sing, sondern daß in einer Welt gegenseitiger Abhängigkeiten auch unsere eigene Zukunft angesprochen ist. Sie haben lange Zeit eine ernsthafte Antwort auf die ordnungspolitische Herausforderung der Entwicklungsländer überhaupt nicht für nötig gehalten. Die Folge war nicht zuletzt auch, daß sich in der Dritten Welt radikale Wortführer in ihrer Position festigen konnten und daß sich unsere europäischen Partner dann einer dirigistischen Linie näherten und wir dabei in die Defensive gerieten. Aus die-sere Defensive müssen wir herauskommen und trotz aller Schwierigkeiten in Europa zu einer gemeinsamen Linie finden.
Eine positive Alternative muß nach unserer Auffassung vor allem vier Punkte umfassen: 1. eine Steigerung der öffentlichen Entwicklungshilfe, um in absehbarer Zeit das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, 2. ein umfassendes System der Exporterlösstabilisierung, 3. eine weitere Öffnung unserer Märkte für die Waren der Entwicklungsländer und
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4. eine vorausschauende marktkonforme Strukturpolitik in den Industrieländern. Für diese marktwirtschaftliche Gegenoffensive muß unser Land als zweitgrößte Handelsmacht der Welt eintreten und werben, und auf diesem Wege werden Sie unsere Unterstützung bekommen.
Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die Probleme der Entwicklungsländer und der Industrieländer nur in einer wirklich freien und sozialen Weltwirtschaftsordnung lösbar sind.
Wir wären sehr dankbar, wenn diese Erkenntnis Allgemeingut der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands würde und wenn sich hierzu vor allem auch der Kollege Brandt als Vorsitzender der SPD und als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale bekennen würde, dessen Worte im Ausland in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem stehen, was Sie, Herr Bundeskanzler, gestern hierzu im Plenum gesagt haben.
Wir teilen die Sorge der Bundesregierung über die Bestrebungen einiger NATO-Mitgliedsländer, ihre militärischen Verpflichtungen innerhalb der Allianz einseitig zu reduzieren. Nur, Herr Bundeskanzler, es sei uns und mir der Hinweis erlaubt: viele dieser Regierungen werden von Sozialisten angeführt; und wir hoffen sehr — und wünschen Ihnen auf diesem Weg alles Gute —, daß Sie auch mit der Aufgabe fertig werden, in der Sozialistischen Internationale dazu beizutragen, diese bedenklichen Entwicklungen zu korrigieren.
Sie sollten dabei vor allem auf eine wichtige Konsequenz dieser Entwicklung hinweisen. Es ist nicht unser Ziel und kann nicht unsere Politik sein, daß die Bundesrepublik die dann entstehenden Lücken auffüllt. Wir können — wie unsere Nachbarstaaten — aus begreiflichen Gründen kein Interesse daran haben, im Bereich der militärischen Rüstung zum Primus Europas zu werden.
Herr Bundeskanzler, Sie stellen in Ihrer Erklärung fest, daß der stetige Ausbau der militärischen Stärke des Warschauer Pakts anhält. Wir müssen von Ihnen erwarten, daß Sie um des Friedens willen eindringlich an die Adresse der Sowjetunion appellieren: Die Sowjetunion muß wissen, daß die freie Welt eine Veränderung des gegenwärtigen Machtgleichgewichts nicht hinnehmen kann. Dieses Gleichgewicht bleibt die Voraussetzung dafür, daß Entspannungspolitik überhaupt möglich ist. Wer das Gleichgewicht bedroht, gefährdet wirkliche Entspannungspolitik.
Die Sowjetunion muß wissen — dies müssen wir offen sagen —, daß sie jede politische Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie weiterhin aufrüstet.
Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind aber die Voraussetzungen für die Politik der Zusammenarbeit. Wir sind zur Verständigung und zum Ausgleich mit der Sowjetunion und den osteuropäischen
Staaten bereit. Verständigung und Ausgleich in Osteuropa sind aber nur dann möglich, wenn man nicht auf Illusionen, nicht auf Beschwichtigung und nicht auf Vertrauensseligkeit setzt, sondern wenn man kommunistische Politik und kommunistische Praxis richtig einschätzt.
Bei allen Verhandlungen und Verträgen müssen die deutschen, müssen unsere Interessen gewahrt bleiben. Leistung und Gegenleistung müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Und, meine Damen und Herren — ich hoffe, dem stimmen alle zu —, Grundlage für die deutsche Politik bleiben die gemeinsame Resolution des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973.
Ihre Ausführungen zur Lage der Nation, Herr Bundeskanzler, zu der wir noch einen eingehenden Bericht im neuen Jahr und die nachfolgende Debatte erwarten, haben uns nicht genügt. Natürlich — wer wollte das leugnen? — verkennen wir nicht die Bedeutung der Reisemöglichkeiten. Wir nutzen diese Möglichkeiten, wenn irgend möglich, ja selber. Aber gerade aus meinen persönlichen Erfahrungen von meinen Reisen nach Leipzig, Dresden und Weimar weiß ich, wie lebendig der Wille zur Einheit auch und gerade unter unseren Mitbürgern in der DDR ist.
Sogar der kommunistische Liedermacher Biermann hat in diesen Tagen darauf hingewiesen, daß die Teilung überwunden werden muß, wenn die Menschenrechte in der DDR und an der innerdeutschen Grenze Wirklichkeit werden sollen.
— Ich war eigentlich der Meinung, daß das ein Punkt ist, in dem wir uns noch gemeinsam verständigen können.
Meine Damen und Herren, wir alle wollen die Spaltung Europas und mit ihr die Teilung unseres Vaterlandes überwinden, in Frieden überwinden; an Drohung und Gewalt denkt niemand. Wir verkennen auch nicht die realen Machtverhältnisse. Aber, meine Damen und Herren, zu der Macht der Tatsachen zählen nicht nur die Politik der Regierungen und die Stärke der Waffen, sondern auch der Wille der deutschen Nation zur Einheit, der seine geschichtliche Kraft behalten wird.
Wir fragen uns auch, warum die Bundesregierung nicht über die Folgeverträge zum innerdeutschen Grundvertrag spricht, die in Art. 7 angesprochen sind. Gerade sie sollten doch zu dem führen, was wir alle wollen: zu mehr menschlicher Erleichterung.
Und, meine Damen und Herren, ich hörte in der Regierungserklärung kein Wort zur inneren Entwicklung im anderen Teil Deutschlands, in der DDR.
Meine Damen und Herren, der Tod von Pfarrer
Brüsewitz, die Zwangsausbürgerungen, die Men-
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schenrechtsbewegung in Riesa, das alles findet doch nicht irgendwo auf einem fernen Kontinent statt; das ereignet sich doch mitten in unserem eigenen Vaterland. Das alles kann uns doch nicht ruhig lassen!
Es ist unser Auftrag, es ist unsere Pflicht, weil wir die Chance haben, im freien Teil unseres Vaterlandes zu leben, zu verhindern, daß es der SED gelingt, diesen Kampf um die Menschenrechte zu unterdrücken. Der Kampf um die Menschenrechte, Herr Bundeskanzler, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist ein wirkliches Feld für gemeinsame Anstrengungen und gemeinsame Verantwortung aller deutschen Demokraten.
Wir können auch nicht dazu schweigen, daß, für jedermann erkennbar, die Sowjetunion verstärkte Anstrengungen unternimmt, die Staaten Osteuropas und Südosteuropas immer mehr gleichzuschalten. Wenn wir darüber sprechen, ist das überhaupt keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer. Friede, Freiheit und Menschenrechte gelten weltweit, und deshalb werden wir nicht zu Gewalt und Unterdrückung schweigen, wann und wo immer sie vollzogen werden.
Und ich füge hinzu: wir werden dabei nur glaubwürdig sein, wenn wir bei uns selbst anfangen. Wir werden deshalb zu keinem Zeitpunkt, auch wenn manche glauben, das sei opportun, zu den Menschenrechtsverletzungen mitten in Deutschland, zu Schüssen an Mauer und Stacheldraht schweigen.
Berlin und unsere Mitbürger in Berlin bedürfen der Hilfe und der besonderen Solidarität der freien Welt, der Hilfe von uns allen. Berlin, meine Damen und Herren, das ist nicht irgendeine Stadt wie jede andere. Berlin, das ist eine nationale Aufgabe für das freie Deutschland. Berlin ist Mittelpunkt aller Deutschen, und Berlin ist Prüfstein deutscher Politik.
Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß das Viermächteabkommen zahlreiche Verbesserungen für die Menschen in Berlin gebracht hat. Das ist unbestreitbar richtig. Aber auf der anderen Seite ist die Lebensfähigkeit der Stadt insgesamt — auch dies ist richtig, leider richtig — nicht gestärkt worden. Es müssen weiterhin alle nur denkbaren Anstrengungen unternommen werden — und dabei können Sie immer auf uns in der Union zählen —, um die Lebenskraft und die Zukunftserwartung der Stadt und ihrer Bürger zu stärken. Dazu ist es sicher auch nötig, die Unternehmungen und die Wirtschaft voll zu entfalten, Arbeitsplätze zu sichern, neue Arbeitsplätze vor allem auch für junge Leute zu schaffen. Dies ist aber auch eine geistige, eine kulturelle und vor allem eine menschliche Aufgabe. Angesichts der vielfältigen Drohungen aus dem Osten muß der
entschlossene Wille zur Verteidigung des freien Berlin zu jeder Stunde und an jedem Tag deutlich bleiben. Nur so kann das Vertrauen der Berliner in die Zukunft ihrer Stadt erhalten und gefördert werden.
Mit einiger Sorge, Herr Bundeskanzler, haben wir gestern feststellen müssen, daß in Ihrer Regierungserklärung so gut wie nichts über die Wiener Verhandlungen über eine beiderseitige und ausgewogene Verminderung der Streitkräfte in Mitteleuropa ausgesagt wird. Auch dies steht übrigens in offenem Gegensatz zu den öffentlichen Erklärungen Ihres Parteivorsitzenden Willy Brandt,
der in diesem Punkte, wenn ich es recht verstehe, Ihrer Regierung mehr eine Annäherung an den sowjetischen Standpunkt empfohlen hat.
Ich stelle mit aller Deutlichkeit folgendes fest.
Erstens. Wir bedauern erneut, daß trotz unserer Warnungen der sachliche und zeitliche Zusammenhang zwischen den multilateralen Bemühungen um politische und militärische Entspannung in Europa, verhandlungstechnisch: zwischen KSZE und MBFR, aufgegeben worden ist.
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, bei MBFR-Verhandlungen gemeinsam mit unseren NATO-Verbündeten Ergebnisse auf der Basis der NATO-Vereinbarungen zäh und geduldig und entschlossen anzustreben.
Drittens. Wir warnen vor einem deutschen Alleingang oder Vorprellen in diesen Verhandlungen. Wir warnen auch vorsorglich schon heute davor, in bilaterale deutsch-sowjetische Gespräche über neue Initiativen ohne die denkbar engste Konsultation mit unseren Verbündeten einzutreten.
Wir warnen — ich sage dies ganz offen — viertens vor unverantwortlichen Signalen an Moskau, die ein weiteres Aufweichen der gemeinsamen westlichen Grundsatzposition und ein Eingehen auf die sowjetischen Vorstellungen andeuten, obwohl die Sowjetunion auf die beiden bisherigen NATO-Vorschläge ausgesprochen negativ reagierte.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer ersten Regierungserklärung — nach Ihrer Wahl zum Kanzler im Jahre 1974 — eine Alternative zu Ihrem Vorgänger Willy Brandt darzustellen versucht. In vielen Zeugnissen der verfaßten öffentlichen Meinung wurden Sie damals als der große Macher dargestellt, und Sie haben dies gerne ertragen. Gestern haben wir Ihr Bemühen gesehen, Ihre Politik wenigstens in Ansätzen wertmäßig zu begründen. Nicht wenige Ihrer Parteifreunde — auch nicht wenige, die hier im Saal sitzen — haben Ihnen im Innenverhältnis und in öffentlichen Zeugnissen immer wieder vorgehalten, daß Ihrer Politik die tiefere Dimension fehlt und daß sie ohne Perspektive für die Zukunft bleibt. Ich fürchte, trotz Ihres Bemühens, das ich
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würdige, wurde gestern dieser Eindruck nicht beseitigt, sondern nur verstärkt.
Meine Damen und Herren, so einfach ist das
— so einfach ist das für Sie: Liberalität gleich FDP, Solidarität gleich SPD,
und beides zusammen gleich SPD/FDP. Glauben Sie denn wirklich, daß Sie durch diese formale Addition von Begriffen eine tiefere Legitimation für Ihre Politik begründen können?
Glauben Sie wirklich, daß Sie dadurch dem verstärkten Verlangen gerade junger Mitbürger nach einer wertmäßigen und sinnhaften Orientierung unserer Politik genügen können?
Solidarität: Herr Bundeskanzler, was Sie zur Solidarität gesagt haben, zeigt doch nur eines: daß Sie weder über ein modernes noch in meinem Sinne über ein freiheitliches Verständnis von Solidarität verfügen. Sie beschreiben Solidarität nach wie vor mit der alten sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und bleiben damit der Tradition Ihrer Partei treu.
Sie haben eben kein liberales, sondern Sie haben ein sozialistisches Verständnis von Solidarität.
Solidarität ist für Sie in erster Linie eine staatliche Leistung, Sie spüren offensichtlich gar nicht, was immer mehr Menschen spüren: daß der einzelne auch entmündigt wird, wenn ihm die Motivation, der Anreiz zur eigenen solidarischen Leistung genommen wird.
Für uns, meine Damen und Herren, entsteht Solidarität aus verantworteter Freiheit. Der Staat darf den einzelnen nicht bevormunden, indem er alle Aufgaben für ihn übernimmt; er soll vielmehr dem Bürger eigene Initiative und Verantwortung zumuten und ermöglichen. Das ist unsere Vorstellung von Solidarität!
Herr Bundeskanzler, die Unfähigkeit, Solidarität politisch neu zu definieren, findet ja auch ihre Entsprechung in Ihrer Regierungspraxis, die, wenn ich es recht sehe, immer mehr auf ein Kartell zwischen Regierung, manchen Bereichen der Verbände und der Wirtschaft hinausläuft. Bei diesem technokratischen Regierungsverständnis braucht man sich dann wirklich nicht darüber zu wundern, daß die nicht organisierbaren Interessen der Menschen durch die Maschen Ihrer Politik hindurchfallen.
Liberalität, diesen Anspruch wollen Sie vor allem einlösen durch eine, wie Sie sagen, liberalere Praxis gegenüber den Verfassungsfeinden. So verengt und verzerrt stellt sich Ihnen das Problem der Liberalität heute. Kein Wort, meine Damen und Herren, darüber, daß es die wirklich liberale Aufgabe des Staates war und ist, die Freiheit aller seiner Bürger zu schützen — auch vor ihren Feinden!
Jeder von uns geht doch davon aus, daß sich von daher unsere eindeutige Haltung gegenüber den Verfassungsfeinden rechtfertigt.
Zum Thema selbst, zum Thema „Verfassungsfeinde", heute nur eine kurze Bemerkung; wir werden im Januar mehr darüber zu sagen haben. Wir alle wollen weder Duckmäuser noch Gesinnungsschnüffelei, noch die Bestrafung von Jugendsünden.
Wir halten uns streng an das rechtsstaatliche Verfahren. Aber wir haben auch aus der Geschichte gelernt. Es ist schon einmal eine deutsche Republik an ihren Feinden zugrunde gegangen.
Wir werden nicht zulassen, daß zum zweitenmal unser freiheitlicher Staat seinen Feinden ausgeliefert wird, den Feinden unseres demokratischen Staates, ob sie von rechts oder von links kommen.
Deswegen gilt der Satz: Feinde der Freiheit können nicht Diener unseres freiheitlich demokratischen Rechtsstaates sein, weder als Richter noch als Lehrer, noch als Verwaltungsbeamter in irgendeiner Führungsfunktion dieses Staates.
Eine der entscheidenden Fragen unserer Zeit hat die Regierungserklärung allenfalls oberflächlich gestreift — wenn Sie den Text Ihrer Rede nachlesen, Herr Bundeskanzler, und den Vergleich mit der Gasrechnung noch einmal überdenken, werden Sie mir sicherlich recht geben —,
nämlich die immer mehr Menschen beunruhigende Frage, ob mehr Staat nicht automatisch immer mehr Bürokratie und immer mehr Ausgeliefertsein einer wachsenden Bürokratie gegenüber bedeutet und ob
mehr Bürokratie nicht weniger Freiheit und weniger Selbstbestimmung nach sich zieht.
Sie reden jetzt von „Liberalität" ; aber, Herr Bundeskanzler, Sie sagen kein Wort von der Gefahr, daß eine egalitäre Gleichheit und die drükkende Last von Steuern und Abgaben den Raum der Freiheit mehr und mehr einengen.
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Wer von Liberalität spricht und das dann nur noch
mit der Frage der Verfassungsfeinde begründet, hat
sich aus der Freiheitsdebatte selbst ausgeschaltet.
Wir, die Union, betrachten es als unsere vorrangige Aufgabe, die freiheitliche Alternative zum Sozialismus lebendig zu halten und nach Kräften durchzusetzen.
Ein gerechtes und ein freiheitliches Gemeinwesen zu schaffen darin sehen wir die große Herausforderung unserer Zeit. Darin unterscheiden wir uns von jenen, die Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechseln und die den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung verkennen.
Bei der Begründung der Bundesrepublik Deutschland haben wir mit der Sozialen Marktwirtschaft eine neue Idee verwirklicht. Sie begreift die Freiheit des Menschen und die soziale Gerechtigkeit für alle nicht als Gegensatz, sondern sie stellt sie in ihren unauflöslichen Zusammenhang. Diese Aufgabe bleibt.
Darum: Schützen wir, was sich bewährt hat! Dies kann uns in einer Welt raschen Wandels nur gelingen, wenn wir es zugleich ständig erneuern. Wir, die Fraktion der CDU/CSU, mit unseren vielen Freunden im Lande haben die Zuversicht, daß es sich lohnt, für eine solidarische und verantwortete Freiheit zu kämpfen.