Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört zu den Pflichten der Opposition, es der Regierung nicht leichtzumachen. Unsere Pflicht ist es, die Regierung zu tragen und sie zu unterstützen. Die Sozialdemokraten in diesem Haus werden es an Geschlossenheit nicht fehlen lassen, ebensowenig wie sie versäumen werden, in die gesetzgeberische und kontrollierende Arbeit des Parlaments durch sachliches Engagement einfließen zu lassen, was sich aus ihrem, aus unserem Wählerauftrag ergibt und was sie, was wir auf Grund unseres dauernden Gesprächs mit den Bürgern einzubringen haben. Für die Sozialdemokraten erkläre ich zugleich, meine Damen und Herren: Wir stehen zur fairen Partnerschaft mit den Freien Demokraten, die sich bewährt hat und die, wovon man sich gestern überzeugen konnte, durch ein ausgewogenes, solides Regierungsprogramm der Vernunft bestätigt worden ist.
Die Ereignisse der letzten Wochen, meine Damen und Herren, haben zudem manchen unserer Mitbürger, die dies noch nicht wußten, deutlich vor Augen geführt: Es gibt für die jetzt vor uns liegenden Jahre keine wirkliche Alternative zur sozialliberalen Koalition.
Denn wie sollte unser Land wohl mit Vorteil durch Parteien regiert werden können, die es mit Hängen und Würgen gerade noch einmal zustande brachten, einen gemeinsamen — oder soll ich sagen: überwölbenden — Fraktionsvorstand zu bilden?
Und trotzdem, meine Damen und Herren: Wir erkennen nicht nur die unterschiedlichen Pflichten, die uns hier auferlegt sind — Ihnen in der Opposition, uns in der die Regierung tragenden Koalition —, wir empfinden nicht minder die Verantwortung, in die wir alle miteinander gestellt sind. Deshalb sage ich hier zu Beginn der Arbeit dieses Bundestages und im Wissen um all das, was an Auseinandersetzungen bevorsteht: Wir deutschen Sozialdemokraten sind zur sachlichen Zusammenarbeit bereit, wo immer sie möglich ist, um das Leben und die Rechte unserer Mitbürger zu sichern, um Freiheit und Frieden zu verteidigen, um den europäischen und weltweiten Aufgaben der Bundesrepublik Deutschland gerecht zu werden.
Es darf in diesem Hause nicht nur den Meinungsstreit und das Gegeneinander von Koalition und Opposition geben. Es muß auch ein Miteinander all derer geben können, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und die den demokratischen und sozialen Bundesstaat ausbauen wollen, so wie es uns die Verfassung aufgetragen hat.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß ein in sich gespaltenes Haus nicht Bestand haben kann.
Ich habe vor dem 3. Oktober gesagt: Wenn die Wähler entschieden haben, werden Wunden bleiben, die der Wahlkampf geschlagen hat. Ich füge hinzu: Wir müssen uns miteinander Mühe geben, damit das Feinddenken im politischen Leben unseres Landes nicht weiter um sich greift.
— Haben Sie nicht gehört, daß ich mich an unser aller Adresse wende, auch an meine eigene! —
Die Sicherung des inneren Friedens erfordert die
Kraft, einander zuzuhören und sich selbst zu prüfen,
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auch so, Herr Kollege Kohl, daß aus noch so festen Überzeugungen keine Monopolansprüche werden.
Meine Damen und Herren, zum Regierungsprogramm, das der Bundeskanzler hier gestern vorgetragen hat, habe ich mich natürlich nun ganz anders zu äußern, als es der erste von mehreren Sprechern der Opposition zu tun für richtig hielt. Wir Sozialdemokraten meinen, es handle sich um ein gutes, solides, realistisches Programm für die nächsten vier Jahre, und wir schätzen dabei nicht zuletzt jene Orientierungen, die über die Zeit bis 1980 hinausreichen. Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion danke ich dem Bundeskanzler und sage ihm, dem Vizekanzler ebenso wie allen Mitgliedern des Kabinetts unsere guten Wünsche. Sie können sich auf uns verlassen.
Der Bundeskanzler vertritt die Interessen des gesamten Staates und unseres Staatsvolkes. Er vertritt auch Sie, meine Damen und Herrn von der Opposition, selbst dann, wenn Sie es nicht wahrhaben wollen. Er vertritt auch die Interessen Ihrer Wähler. Er vertritt auch die Minderheiten, nicht nur die Mehrheiten. Ich weiß aber wohl, daß Konflikte dadurch nicht aufgehoben und daß Gegensätze bestehen bleiben werden. Das Stichwort Fair play beinhaltet aber noch etwas mehr als die Erwartung, daß die Spielregeln beachtet werden, nämlich den Ausdruck des Respekts vor der Demokratie als Lebensform — nicht nur als Regierungsform —, als Ordnung der Regeln für die Parlamente und ihre Kontrolle der Bürokratien. Demokratie als Lebensform soll und muß der lebendige Anspruch sein, den unser Volk an sich selbst stellt, hineinwirkend in alle sozialen Bereiche und in jene der Wirtschaft.
Dieser Wille zu einer umfassenden Demokratie kann die recht verstandene Autorität nicht lähmen, sondern wird sie erst zur realen Autorität werden lassen, nämlich durch Abwägung und Ausgleich der Interessen, die in unserer Gesellschaft, die in allen modernen Gesellschaften so kompliziert geworden sind, wie sie es wohl nie zuvor waren.
Meine Damen und Herren, ich bin in diesem Augenblick sicher nicht der einzige in diesem Hause — auch außerhalb dieses Saales wird es manchen geben, der meiner Meinung ist — der die Rede des Führers der Opposition in Wirklichkeit war es ja Herrn Kohls Jungfernrede als Mitglied dieses Hohen Hauses — als wenig konstruktiv empfunden hat.
Ich muß ehrlich sagen — Sie werden das nicht falsch verstehen —: Es war eine eher schwache Vorstellung in starken Worten.
Herr Kollege Kohl, Sie haben die Rede des Bundeskanzlers für ein bißchen zu lang gehalten. In dieser Rede stand aber eine Menge.
Ich hoffe, wir werden in der Zeit, die vor uns liegt, von der Opposition Reden und Texte hören und lesen, in denen auch viel steckt.
Ich greife das Wort von der Chance auf. Ich finde, es ist schade, daß der Herr Kollege Kohl hier eine Chance vertan hat. Aber vielleicht muß man ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, daß der Kollege Kohl bei Helmut Schmidt einiges von dem hat abladen wollen, was er bei Herrn Strauß nicht losgeworden ist.
Insofern wird dem einen und anderen im Hause und
außerhalb des Hauses die erste Rede dieses Vormittags als eine Art Ersatzhandlung erschienen sein.
Es kommt etwas anderes hinzu. Die Oppositionsparteien, unter einem alles andere als wetterfesten Dach in diesem Bundestag noch einmal mühsam zusammengehalten, befinden sich seit geraumer Zeit in einem Stadium, in dem bei ihnen ganz anders, als Sie es im letzten Teil Ihrer Rede sagten, Herr Kollege Kohl, das Taktische dominiert.
Wo es grundsätzlicher Antworten oder zumindest Fragestellungen bedürfte, wird in taktischen Kategorien, die auf den kurzfristigen Vorteil abzielen, gedacht und agiert. Ich werde darauf noch zurückkommen. Nur das eine lassen Sie mich schon jetzt sagen: Wir werden Ihnen natürlich nicht den Gefallen tun, uns Ihre Scheinthemen aufzwingen zu lassen, sondern wir werden Sie drängen und bedrängen, im Gespräch und in der Auseinandersetzung sich mehr mit dem zu befassen, womit wir es in der Bundesrepublik unserer Überzeugung nach wirklich zu tun haben.
Dies ist, Herr Kollege Kohl, nicht das Elendsgebiet, als das es landauf, landab durch Wahlredner beschrieben wurde, die selber nicht daran glaubten,
sondern dies ist ein Land, dessen Menschen es materiell und in ihrer Rechtssicherheit insgesamt besser geht als den Menschen in fast allen Teilen der Welt und die dennoch erwarten und einen Anspruch darauf haben, daß an diesem Land weiter gebaut wird im Zeichen von Solidarität und Liberalität. Diese Republik ist als Staat freier Bürger angelegt und nicht als Gefängnis, aus dem befreit zu werden unsere Mitmenschen einer Kassandra aus dem Schatten des Karwendelgebirges bedürften.
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Unser Land lebt gemeinsam mit seinen Nachbarn. Isolationismus war früher ein Privileg und zuweilen ein Vorteil des Starken. Heute dokumentiert sich die Stärke der Völker in ihrem Willen zur Zusammenarbeit und in ihrem Mut zur Abhängigkeit.
An der Schwelle der 80er Jahre — und wir sind ja ganz nah dran — kann Deutschland alles Mögliche brauchen, nur nicht neue Isolierung.
Als wir Sozialdemokraten vor zehn Jahren Regierungsverantwortung im Bund mit übernahmen, haben wir mitgeholfen, die Gefahr der Isolierung abzuwenden. In den sieben Jahren sozialliberaler Koalition haben wir überholte Abhängigkeiten überwinden helfen. Unserer Verankerung im westlichen Bündnis und unserem unverdrossenen Wirken an der europäischen Einigung wurde eine konstruktive Politik gegenüber den östlichen Nachbarn hinzugefügt. Dies war notwendig, auch wenn es darum viel Streit gegeben hat. Dies bleibt notwendig, auch wenn darum neu gestritten werden muß,
sei es innerhalb der Unionsparteien, sei es zwischen ihnen und der Koalition. Mit anderen Worten, wir werden beharrlich und unbeirrt weiterarbeiten trotz aller Verzögerungen und Rückschläge für den Ausbau einer funktionsfähigen europäischen Gemeinschaft. Wir arbeiten für den Zusammenhalt der atlantischen Allianz. Wir arbeiten für die Bedingungen eines Friedens, in dem die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Systemen unter Kontrolle bleiben, in dem sie planvoll gemildert und gemindert werden können.
Ich spüre es draußen im Lande, daß wir einer Generation begegnen, deren Erfahrung die des Friedens ist — und so ist es ja auch wirklich —, der die Erfahrung des Krieges erspart geblieben ist. Und darüber kann man sich mit dieser neuen Generation nur freuen. Ich werbe um diese Jugend und sage ihr: Ohne den Abbau von Spannungen, ohne Zusammenarbeit zwischen Ost und West wird es keinen sicheren Frieden geben. Immer klarer wird aber auch, daß es ohne Ausgleich zwischen den Völkern in Nord und Süd keine gute Zukunft für die Menschheit gibt. Wir müssen uns dieser noch nicht lange entdeckten Abhängigkeit bewußt sein und uns ihr stellen, aus ihr Folgerungen ableiten und wissen, daß es dabei ohne Leistungen nicht abgehen wird.
Die Entwicklung gebot, zu Beginn der 70er Jahre unser Verhältnis zum anderen deutschen Staat, zum anderen Staat in Deutschland zu ordnen. Der Leitsatz auch unserer Deutschlandpolitik heißt Kontinuität.
In Ausführung und Ausfüllung des Grundlagenvertrags gilt es, um eine stetige und gleichmäßige Besserung der Beziehungen zur DDR bemüht zu bleiben. Diese Beziehungen haben sich zeitweise als anfällig — um einen bewußt leidenschaftslosen Ausdruck zu verwenden — erwiesen. Dennoch verfügen beide deutsche Staaten zusätzlich zu dem, was uns miteinander bekümmert und empört, mittlerweile gewissermaßen über einen Besitzstand an produktiver Gemeinsamkeit, der auch ihren Bürgern zugute
kommt. Ich verzichte also bewußt darauf, mich in diesem Augenblick zu Vorgängen zu äußern, die mich bekümmern, die viele von uns, die — ich denke — alle unter uns empören. Statt dessen sage ich: Wir sollten den Besitzstand in dem eben beschriebenen Sinn ausbauen, um die Anfälligkeit zu mindern.
Die Bundesregierung hat — wenn ich es recht verstanden habe — deutlich gemacht, daß sie der Entspannung Vorrang einräumt, zumal sie kein Ziel hat, das sich ohne Entspannung fördern oder erreichen läßt. Man wird diese Politik aber nur soweit führen können, als wir dafür Partner haben. Im Europa nach Helsinki sind der Belastbarkeit zwischenstaatlicher Beziehungen Grenzen gesetzt. Das gilt in diesem Fall besonders. Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten darf nicht schlechter sein als das Verhältnis der anderen Staaten in Europa.
Es würde niemandem dienen — ich sage das ohne Vorwurf an die Adresse anderer; denn wir werden von links wie von rechts mit dem zu tun bekommen, wovon ich jetzt spreche —, sollten sich in diesen Jahren neue gesamtdeutsche Illusionen breitmachen — denn das ist etwas anderes als das Ringen um das Ziel, das die Bundesregierung neu beschrieben hat —, sollte, will ich sagen, die Sehnsucht nach der Vergangenheit von dem Wunsch nach einer isolierten Antwort auf die deutsche Frage abgelöst werden. Diese isolierte Antwort gibt es nicht, und es gibt keine Alternative zum Ringen um die weitergreifende Regelung von Beziehungen, die den Menschen hüben und drüben zugute kommt.
Ich sprach von Abhängigkeiten. Einige davon haben wir in diesen Jahren auch insoweit abgebaut, als wir Menschen Mut machten, Staat und Gesellschaft zu modernisieren, an reformerischen Vorhaben mitzuwirken, an solchen, die mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit verwirklichen sollten. Freiheit bringt Risiko. Das gnadenlose Risiko, das absolute Freiheit bringt, muß im Interesse der Menschen und des demokratischen Staates durch Gerechtigkeit und Solidarität gemildert werden. Für diese Freiheit wird die SPD, wird die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wie eh und je an vorderster Front kämpfen.
Es bleibt also viel zu tun. Wir werden nicht weniger, sondern wir werden mehr als bisher auf die Bereitschaft der Bürger angewiesen sein, Mitverantwortung für die gemeinsamen Angelegenheiten zu übernehmen, den sozialen Ausgleich zu fördern, sich am allgemeinen Wohl zu orientieren. Alles, was den Dialog zwischen Bürger und Politik zum Gegenstand hat und was die Prozesse gemeinsamer Willensbildung und Entscheidungen betrifft, ist wichtiger geworden. Mitbestimmung und verantwortliche Mitwirkung sind keine leeren Formeln mehr. Sie werden in den kommenden Jahren in der Praxis zunehmend zu erproben sein, damit sie zu einem selbstverständlichen Teil demokratischen Bürgerverhal-
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tens werden können. Ich meine, das kann auch eine europäische Bewährungsprobe sein.
Immer mehr Bürger entwickeln, wenn ich es recht verstehe, neues Selbstbewußtsein. Zur Erfahrung des hinter uns liegenden Jahres mit seinen wirtschaftlichen Problemen, seinen Wahlkämpfen und seinen oft quälenden Kontroversen gehört freilich, daß die Parteien und mit ihnen die parlamentarische Demokratie in Deutschland weniger Grund zum Jubeln haben, als wir es im Tagesgeschäft allzu leicht wahrhaben wollen. Was ist das für ein demokratischer Staat — so möchte ich nicht nur kritisch, sondgern zugleich selbstkritisch fragen —, in dem das eine Lager so tut, als habe es die Freiheit gepachtet, und sich das andere Lager herausgefordert fühlt, mit der Friedensparole zu antworten?
Ich meine, wir sollten alle miteinander mehr Mut aufbringen, die wirklichen Probleme durch diese Form von Polarisierung nicht vor der Offentlichkeit zu verstecken, sondern ihnen auf den Grund zu gehen und sie im Vertrauen auf die Fähigkeiten unseres Volkes lösen zu helfen.
Am Vertrauen der Bürger vorbei gibt es auf die Dauer ohnehin kein politisches Mandat.
Lassen Sie mich bei aller Bereitschaft zur Selbstkritik freimütig hinzufügen: Diejenigen sollten meiner Meinung nach besonders in sich gehen, die die Angst vieler Menschen vor den überwiegend von außen auf uns einwirkenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht abbauen geholfen, sondern sie im Gegenteil geschürt haben.
In einer Zeit, in der nüchterne Aufklärung auch durch die Opposition notwendig gewesen wäre, haben wir manches erlebt, was wir als Exzesse der Panikmache empfunden haben. Der Schaden für alle war größer als der Gewinn für einige, den mancher sich erhofft haben mag.
Unser Volk ist dem Versuch, Angst vor der Zukunft zu verbreiten, oder eine sogenannte Tendenzwende herbeizureden, überwiegend nicht erlegen. Aber solche Versuchungen wird es immer wieder geben, solange die Zukunft nicht sicher ist. Wann wird sie es wohl wirklich sein? Sie wird niemals so gesichert sein, daß man sich nicht intensiv um sie zu kümmern brauchte. Wir sind mit unseren Problemen, unseren Aufgaben in Wirklichkeit niemals über den Berg, nicht in diesem Jahr, auch nicht im nächsten. Niemand in unserem Volk soll sich einreden lassen, er könne sich zurückwählen in eine angeblich heile Vergangenheit. Wir stehen in vielen Dingen natürlich gut da — wem sage ich das — im Vergleich zu unseren Nachbarn in Europa. Aber einige bei uns unterliegen wohl auch leicht der Gefahr, materielle Wohlstandskriterien mit geistiger Kraft und innerer Ausgeglichenheit zu verwechseln. Wenn
wir ehrlich sind und über unsere Grenzen hinüberschauen, müssen wir vielfach einräumen: Was die Fähigkeit betrifft, in einer Krise zu leben und dabei zugleich die Demokratie zu bewahren, stünden wir vermutlich, ich wage zu sagen: sicher nicht, noch nicht an erster Stelle in Europa. Wir können uns gerade da gewiß keinen Hochmut leisten, sondern wir müssen uns in der Fähigkeit stärken, mit Schwierigkeiten fertig zu werden und zugleich den demokratischen Konsens in Ruhe zu bewahren, also die trotz allem über Parteiengrenzen hinausreichende Gemeinsamkeit dessen, was unter Demokraten nicht umstritten sein darf.
Meine Damen und Herren, es tut mir leid, dem folgendes hinzufügen zu müssen, und Herrn Kohls Rede hat nichts davon weggenommen: Die Oppositionsparteien haben in diesen Wochen ein Trauerspiel geboten, durch das sie nicht allein sich selbst geschadet haben.
Ich will hier nicht Salz in offene Wunden streuen, will mich schon gar nicht mit dem befassen, was die Herren Kohl und Strauß untereinander auszumachen haben oder auch nicht.
Zwei Feststellungen scheinen mir jedoch von allgemeiner Bedeutung zu sein:
Erstens hat sich die Feststellung, daß CDU und CSU so, wie sie sich darstellen, nicht regierungsfähig seien, durch die Vorgänge der letzten Woche als nur zu begründet erwiesen.
Zweitens war die Annahme richtig, daß Herr Strauß eine politische Tendenz durchzusetzen bestrebt ist, die — um höflich zu bleiben — weit nach rechts ausholt.
Ich könnte mich dazu auf eine Reihe von Zeugnissen aus beiden Unionsparteien berufen. Daran ändert nichts, daß CDU und CSU doch wieder ihren Schrägstrich zwischen sich genommen haben. Diesen Balken muß der Kollege Kohl halten. Der Kollege Strauß hat die Hände freier denn je.
Die beiden Oppositionsparteien haben am 12. Dezember vereinbart, eine gemeinsame Fraktion im Deutschen Bundestag zu bilden. Aber der Trennungsbeschluß von Kreuth ist bis heute nicht aufgehoben.
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Er wird — so das CSU-Wochenblatt — von den Bonner Vereinbarungen nur überlagert.
Nur so konnten die äußeren Voraussetzungen geschaffen werden, nach dem in diesem Hause geltenden parlamentarischen Brauch als stärkste Fraktion den Präsidenten des Bundestages zu stellen,
der nach dem Protokoll das zweite Amt in unserer parlamentarischen Demokratie innehat. Die Art, wie die Opposition hier vorgegangen ist, war nicht würdig.
Die Unionsparteien haben nicht gezögert, bei diesem Spiel demokratische Prinzipien hart zu strapazieren.
Der Herr Bundestagspräsident, der im Augenblick den Vorsitz abgegeben hat, wird verstehen, daß ich ihn nicht ins Gerede bringe, sondern mich mit dem ihm gebührenden Respekt äußere.
Der Form nach wurden die Bedingungen für die Bildung einer Fraktion zweier Parteien erfüllt. Aber diese Vereinbarung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die in § 10 unserer Geschäftsordnung geforderten gleichgerichteten politischen Ziele inhaltlich nicht wirklich vorhanden sind.
Worum es ging, war zunächst einmal der Zugriff auf das zweithöchste Amt im Staate. So wurde das von der CSU angebotene gemeinsame Dach gezimmert, für das nach wie vor die von Herrn Kohl geforderten Fundamente fehlen.
Dies führt mich zu der Frage, ob man später einmal wird sagen können, Ende des Jahres 1976 sei eine grundlegende Umschichtung in der politischen Landschaft der Bundesrepublik eingeleitet worden. Unbestreitbar scheint mir zu sein, daß der CSU-Vorsitzende nach einem anderen Gesetz als dem der Union Konrad Adenauers die politischen Fronten neu zu formieren entschlossen ist. Er hält dies wohl nicht nur für die Stunde der späten Herausforderung, sondern auch der großen Vereinfachung. Seit Jahr und Tag war er schon in der Versuchung, die Krise mit herbeizureden, um sie dann womöglich rabiat zähmen zu können. Ich meine, wir haben keinen Bedarf an Bundes- oder Reichsvereinfachern, auch nicht an Profiteuren der Panik.
Keiner' soll sich einbilden, in diesem Staat Winston Churchill spielen zu können. Wir schlagen hier nicht die Schlacht um Deutschland, um Europa, um den Westen. Wir schlagen überhaupt keine Schlacht. Wir schreiben nicht 1938 oder 1940.
Übrigens war jener Winston Churchill, konservativ
und liberal zugleich, ein parlamentarischer Demokrat
bis auf die Knochen. Er stand wohl weit rechts, aber
er war ein guter Hasser allen totalitären Unwesens.
Und er war einem europäischen Kontinent konfrontiert, in dem die Demokratie auf dem Rückzug war. Auch das ist heute anders,
wie gleich, Ihrem Defätismus entgegen, noch anzumerken sein wird.
Der Jammer ist, wenn ich dies als Außenstehender anmerken darf, daß die Auseinandersetzungen innerhalb der Unionsparteien überwiegend nicht prinzipiell politisch geführt worden sind. Die ehemalige Union, so sehen es viele, hat sich in die Gefahr gebracht, als stabile Kraft der deutschen Politik auszufallen.
Das ist eine Lage, in der wir Sozialdemokraten uns unserer zusätzlichen Verantwortung bewußt sind.
Niemand soll sich im übrigen falsche Hoffnungen machen. Sozialdemokraten werden sich, von Sektierern abgesehen, dem Marsch in die Zersplitterung nicht anschließen.
Es gibt Gott sei Dank keinen Automatismus der Selbstüberschätzung und der Zerstörungslust.
Sie mögen mir entgegenhalten, daß es Fälle gegeben hat, in denen sich Leute in die SPD hinein verirrt haben, die in Wirklichkeit zu der einen oder anderen kommunistischen Gruppe gehören wollten. Wir haben ihnen deutlich gemacht, daß sie bei uns nichts zu suchen haben. Sie mögen mir einen Fördererverein angeblicher sozialer Demokraten vorhalten, der sich in die Reihe der vielen anderen Splittergruppen einreihen wird.
Ich sage Ihnen, hier handelt es sich um Förderung von, durch und für Strauß. Damit erübrigt sich für Sozialdemokraten jede weitere Qualifizierung.
Aber es ist ganz sicher so, daß die Lage, zu der ich mich geäußert habe, auch die Bedeutung des sozialliberalen Regierungsbündnisses noch wichtiger gemacht hat. Das hat auch das noch wichtiger gemacht, was trotz aller Unzulänglichkeiten und Fehler, die mir wohl bewußt sind, mit dem Bemühen um eine stabile, sozialliberale Mitte zu tun hat.
Der Bundeskanzler hat seine Regierungserklärung gestern unter einen guten Dreisatz gestellt: Solidari-
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tät, Liberalität und Frieden nach außen und darum erst recht im Innern. Wir alle sind der Solidarität zwischen den Generationen verpflichtet. Daran än- dern auch dubiose Versuche nichts, die mehr oder weniger prominente Sprecher der Opposition in diesen Tagen unternehmen, sich bei dieser Frage, die auch bei Ihnen eine große Rolle gespielt hat, der Frage der Renten, aus der Verantwortung fortzustehlen, und zwar unter Zurücklassung falscher Fährten. Der Bundeskanzler und seine Partei, unsere Partei,
haben vor der Wahl nicht nur einen Termin bestätigt. Wir haben zugesagt, daß jede Rentnerin und jeder Rentner weiterhin mit der Anpassung ihrer Rente an die allgemeine Einkommensentwicklung rechnen könne. Daran besteht auch heute und gerade heute kein Zweifel.
— Die Bruttolohnbezogenheit bei der Errechnung der Neurenten ist ausdrücklich durch den Bundeskanzler bestätigt worden, Herr Kollege Barzel.
Das neue Regierungsprogramm bestätigt dies, und daran sollte man im Interesse derer, die uns zuhören, nun wirklich nichts deuteln. Dabei bestreite ich nicht, daß es schwierig war, eine Lösung zu finden, die den veränderten Ziffern gerecht wurde,
mit denen wir es nach dem 3. Oktober zu tun hatten.
Ich meine die Daten, die der Sachverständigenrat und der Sozialbeirat vorgegeben hatten.
Im übrigen ist es nicht erst seit heute morgen oder gestern mittag bekannt, daß unser System der sozialen Sicherungen von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abhängig ist.
Wir Sozialdemokraten haben früher als andere auch in Wahlkämpfen darauf hingewiesen, daß das eng geknüpfte Netz der sozialen Sicherheit selbstverständlich mit einer gewissen Regelmäßigkeit auch auf seine Schwachstellen hin zu überprüfen ist. Das ist gerade deshalb notwendig, weil wir das bewährte Prinzip, das der Alterssicherung zugrunde liegt, nicht antasten lassen wollen.
Es hat auch damit zu tun, daß wir auf keinem der in Betracht kommenden Gebiete — da geht es dann um das Gesundheitswesen, um die Arbeitslosen, auch um die Kriegsopfer, die Behinderten und andere — etwas zurückdrehen lassen, was für die betroffenen Menschen erforderlich ist und bleibt.
Konsolidierung ist eine Sache, eine unerläßliche Aufgabe. Was damit nicht verwechselt werden darf, ist ein Herabdrücken des Niveaus der sozialen Sicherheit. Das würden wir auf keinen Fall mitmachen können.
Verdächtigungen helfen niemandem, der in Sorge ist. Mit selbstgerechten und demagogischen Vorwürfen ist man bei uns außerdem an der falschen Adresse. Es waren nicht wir, Herr Kollege Kohl, die sich durch Gerede über Gratifikationen und Bonifikationen den Vorwurf der sozialen Demontage zugezogen haben. Da wäre es doch ganz nützlich, wenn dieser Teil zwischen dem Vorsitzenden der CDU und dem der CSU noch einmal geklärt würde. Herr Kollege Kohl, was Sie hier heute vormittag zu diesem Thema gesagt haben, war, ich muß es sagen, wirklich nicht in Ordnung. Nach dem, was der Bundeskanzler gestern für andere mit selbstkritisch gesagt hat, hätte man Ihre Anerkennung seiner Offenheit erwarten dürfen.
Wem glauben Sie damit helfen zu können, daß Sie Narben aufreißen? Keinem einzigen Rentner helfen Sie, keiner einzigen Rentnerin.
Wo bleibt Ihr Wort dazu, daß die Opposition mit in der Pflicht steht, wenn es darum geht, mit objektiven Schwierigkeiten fertig zu werden?
Meine Damen und Herren, was immer Sie über Walter Arendt hier sagen wollen: ich sage Ihnen, dieser Mann hat sich um breite Schichten unseres Volkes in besonderer Weise verdient gemacht.
Deshalb sage ich hier noch einmal — für meine Freunde mit —: Hut ab vor Walter Arendt!
Im übrigen zeugt es weder von Einsicht in die verfassungsmäßigen Gegebenheiten noch von gutem Stil,
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wenn Herr Kohl am Mittwoch erklärte und verbreiten ließ, Walter Arendt sei unmittelbar nach der Kanzlerwahl zurückgetreten. Das stimmt ja gar nicht. Der Bundespräsident hatte ihn am Tag zuvor mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt, und er stand für das neue Kabinett nicht zur Verfügung.
— Das, was Herr Kohl vorhin über angeblichen
Respekt sagte, wird widerlegt durch den Mangel an
Ernst, mit dem Sie den Gegenstand jetzt begleiten.
Er, Walter Arendt, hat dies getan, weil er sich wundgescheuert hatte
in der Erfüllung seiner Pflichten
und weil es ihm ganz nahe ging, daß ihm unterstellt wurde, er klebe am Ministersessel. So war das nämlich, Herr Kollege Kohl.
Walter Arendt — wenn Sie das interessiert — wird an führender Stelle unserer Partei und in kameradschaftlicher Verbundenheit mit seinem Amtsnachfolger unverdrossen daran mitarbeiten, daß die soziale Demokratie in unserem Land weiter vorangebracht wird.
Die Bundesregierung konzentriert sich in ihrem Programm, wie wir hören konnten und nachlesen durften, auf das, was sich jetzt abzeichnet und was in den nächsten Jahren angepackt werden muß. Das ist der Anlage nach vernünftig und dem Inhalt nach viel. Wenn ich hier ein paar Punkte herausgreife, bedeutet dies keine Minderbewertung 'von Themen, die heute im Rahmen einer Debatte dieses knappen Tages nicht aufgegriffen werden können. Aus der Sicht meiner Partei findet all das besondere Zustimmung, was damit zu tun hat,. uns wirtschaftlich weiterhin möglichst heil durch die von außen auf uns einwirkenden Schwierigkeiten und Erschütterungen hindurchzubringen.
Der Bundeskanzler hat die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung zur vorrangigen Aufgabe erklärt.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unterstützt ihn darin aus vollem Herzen und erklärt: das Recht eines Menschen, zu arbeiten, hat in Wirklichkeit den Rang einer ethischen Forderung. Daraus folgt aber nicht allein, daß die Regierung alles tun muß, was sie in einer nicht besonders günstigen europäischen und internationalen Landschaft zu leisten vermag, sondern daraus folgt auch: alle, die direkt oder indirekt über Arbeitsplätze entscheiden oder mitentscheiden, sind moralisch in die Pflicht genommen. Ich' würdige das, was eine Anzahl von Unternehmen gerade jetzt auf den Weg bringt. Deshalb füge ich hinzu: Niemand kann sich seiner Pflicht entledigen, indem er sie vor der Haustür
der Regierung ablädt. Wir leben nicht in einer Ordnung und wir wünschen auch keine Ordnung, in der von Staats wegen über einzelwirtschaftliche Dispositionen bestimmt wird. In dieser Ordnung darf man also vom Staat nicht mehr erwarten, als er geben kann und soll.
Ich bin im übrigen davon überzeugt — viele meiner Freunde in den Gewerkschaften sind es auch —, daß die öffentliche Mitverantwortung für das wirtschaftliche Geschehen — manche werden das nun schon gleich für verwerflichen Sozialismus halten —, ich wiederhole: daß die öffentliche Mitverantwortung für wirtschaftliches Geschehen in kommenden Jahren nicht kleiner, sondern größer geschrieben werden wird.
Das findet ja auch eine gewisse Widerspiegelung in dem,
was die Regierungserklärung zur notwendigen Modernisierung der Volkswirtschaft,
zum Ausbau einer vorausschauenden Industrie- und Strukturpolitik und nicht zuletzt zur Forschungspolitik aussagt. Vor allem aber will ich die Skizzierung eines mehrjährigen Investitionsprogramms hervorheben, das, wenn es in Kraft treten wird, entscheidend dazu beitragen kann, daß unsere Volkswirtschaft mit den Folgen neuer weltwirtschaftlicher Spannungen und Schwankungen noch besser fertig wird.
Große Bedeutung ist aus unserer Sicht auch dem zuzumessen, was im Regierungsprogramm zur Energiepolitik ausgeführt wird. Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben, und wir dürfen die heimische Kohle keinen Augenblick unterschätzen. Da wir aber auch auf Kernenergie angewiesen sein werden,
begrüßen meine Freunde und ich — zumal unser eigener Parteivorstand deutliche Hinweise für eine sachgerechte Diskussion zu diesem Thema gegeben hat — die Ordnungselemente, die die Regierung dargelegt hat. Sie bedeuten, daß nicht über den Kopf der betroffenen und besorgten Bürger hinweg entschieden werden soll.
Von gleichem Gewicht sind die Darlegungen des Regierungsprogramms über den Zusammenhang zwischen beschäftigungspolitischen und bildungspolitischen Fragen. Wir können es uns in der Tat nicht leisten, auf das Potential zu verzichten, das durch gute Bildung und Ausbildung erst wirklich genutzt werden kann.
Zu Unrecht, Herr Kollege Kohl, legen Sie die Regierungserklärung -- aber die Regierung wird sich gewiß noch selbst äußern — so aus, als kündige sie an, daß ein antiföderativer Kurs gesteuert werden sollte. Davon kann keine Rede sein. Hierüber ist gerade jetzt erst unter uns, zwischen uns und den Freien Demokraten, vor der Bildung dieser Bundesregierung eingehend gesprochen worden, und deshalb kann ich Ihnen sagen: Wir sind — ich bin
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es jedenfalls — engagierte Verfechter der bundesstaatlichen Ordnung,
eines Prinzips übrigens, das sich auch in manchen anderen Staaten durchsetzen wird.
Aber wir legen großen Wert darauf, daß es sich um einen kooperativen Föderalismus handelt.
Und wer wollte im Ernst bestreiten, daß dazu eine Verständigung über die bildungspolitischen Aufgaben gehört, von denen hier gestern die Rede war? Sie hätten, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kollege Kohl, gern zur Einheit der Nation noch ein bißchen mehr gehört. Dann sage ich Ihnen: Einheit der Nation hat in diesem Teil unseres Vaterlandes auch mit bestimmten einheitlichen Inhalten und Ausformungen des Schulwesens für unsere jungen Menschen zu tun.
Übrigens, Herr Kollege Kohl, kann man Probleme auch nicht nur schematisch, sondern irreführend darstellen. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Sie haben hier so getan, als ob der Rückgang der Kinderzahl etwas mit unserer Politik zu tun hätte.
In Rheinland-Pfalz
wie im übrigen Bundesgebiet
geht die Kinderzahl seit 1964 zurück. Wie soll unsere Politik in der Großen Koalition ab 1966 und gemeinsam mit den Freien Demokraten ab 1969 bewirkt haben, daß seit 1964 die Kinderzahl zurückgegangen ist?
Da meinen Sie, die SPD — unsere freidemokratischen Kollegen haben Sie da ausgelassen, und ich fühle mich eigentlich ein bißchen alleingelassen; aber lassen wir es einmal — sei durch die bildungspolitische Expansion verantwortlich für den Anpassungsdruck in den Schulen. Lieber Herr Kollege Kohl, die Abiturienten, die in diesem Herbst 1976 vor den Toren der Universitäten standen — die, das wissen wir beide, seit Jahren schwer genug mit dem Numerus clausus fertig werden —,
sind doch junge Menschen, die spätestens 1967 in Gymnasien übergegangen sind. Wieso sollten wir schon nach einem halben Jahr Großer Koalition — ohne bildungspolitische Zuständigkeit in Bonn —, wieso sollten wir erst recht ab 1969 bewirkt haben können,
was Eltern — in Ihrem Land und anderswo — in der Frage entschieden haben, ob das Kind mit zehn Jahrens aufs Gymnasium kommen soll oder nicht? Es ist doch verständlich: Solange Sie bei einem Alter des Kindes von zehn Jahren Entscheidungen darüber fällen, daß der eine nur Schlosser und der andere Schlosser oder Chefarzt werden kann,
bekommen Sie diesen Druck, von dem Sie eben gesprochen haben.
Meine Damen und Herren, es ist gut, daß bei aller von uns ausdrücklich unterstützten Pflicht zur finanzpolitischen Solidität die reformpolitischen Akzente deutlich geblieben sind. Auch ich nenne an erster Stelle das Bemühen um tatsächliche Gleichstellung der Frauen, denn hier geht es wirklich um eine zentrale Aufgabe dieser Zeit. Politik und Staat müssen Vorspanndienste leisten für das, was natürlich ein umfassendes gesellschaftliches Problem bildet.
Nur, Herr Kohl, wollen wir doch einmal ehrlich sein: Als Sie Kanzler werden wollten, haben Sie angekündigt, Sie würden in Ihr Kabinett mehrere Damen aufnehmen. Das hat Helmut Schmidt an Ihrer Stelle getan.
Sie haben so disponiert, daß der weibliche Präsident des Bundestages abgeschafft wurde.
Obwohl Ihr Fraktionsvorstand sicherlich nicht kleiner ist als ein Bundeskabinett, haben Sie nicht einmal die für das Kabinett in Aussicht genommene Zahl von Damen in Ihrem Vorstand unterbringen können.
Ich erinnere auch an die Akzente beim sozialen Engagement für Hilfsbedürftige, das nicht allein eine Sache des Staates sein kann, beim Ausbau der Rechtsordnung, auch im Bereich des öffentlichen Dienstes, beim Umweltschutz und der Mitverantwortung dafür, daß unsere Städte und Gemeinden nicht nur überleben, sondern sich entfalten können.
Aber was insgesamt notwendig sein wird, damit wir unsere eigene Zukunft bewältigen, meine Damen und Herren, werden wir nicht erreichen, ohne den Zusammenhang mit der Zukunft anderer Völker einzubeziehen. Vieles, was uns selbst betrifft, wird zunehmend abhängig von der Entscheidung anderer. Wir müssen also dabei bleiben, der friedlichen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und Völkern immer wieder Wege zu bahnen. Es werden noch lange Wege in der Gefahr sein, so wie die Welt aussieht.
Aber es liegt an uns, ob wir uns vor den Gefahren in einen Immobilismus der Resignation flüchten
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oder ob wir jenen Weg weitergehen, auf dem weder
für Illusionen noch für Psychosen der Angst Platz
ist. Das ist unser Weg der prüfenden Entspannung.
Das Atlantische Bündnis hat sich vor Jahr und Tag auf diesen Weg begeben. Wir Deutschen hier in der Bundesrepublik konnten dazu durch die Kombination aus Entschlossenheit zur Verteidigung und Anstrengung für den Frieden unseren Beitrag leisten. Mir liegt daran, all denen in unserer Bundeswehr — mit dem Verteidigungsminister an der Spitze —, die für beides einstehen, im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Dank zu sagen.
Ich meine im übrigen: Unsere Perspektive heißt Europa. Nur in der Gemeinschaft der europäischen Völker können wir zur Politik der friedlichen Zusammenarbeit mit der übrigen Welt sinnvoll beitragen. 'Unser Ziel bleibt — trotz aller Schwierigkeiten, die wir nicht verkennen — die Europäische Union. Sie muß mehr sein als eine Bündelung von Wirtschaftsinteressen, mehr auch als die hoffentlich kommende Summierung von Sicherheitsbedürfnissen. Wir brauchen eine Gemeinschaft sozialer Verantwortung und geistiger Potenz. Wir Sozialdemokraten bereiten uns mit unseren Freunden in der Gemeinschaft darauf vor, daß 1978 ein direkt gewähltes Europäisches Parlament Europas Bürger vertritt.
Die letzten Jahre zeigen im übrigen — und da komme ich auf eine Bemerkung von vorhin zurück —, daß die Demokratie in Europa durchaus nicht auf dem Rückzug ist, sondern daß sie Geländegewinn erreicht: Griechenland, Portugal und wohl auch Spanien stehen auf der Habenseite der demokratischen Bilanz.
Warum etwa wollen wir das nicht hinreichend zur Kenntnis nehmen? Was soll der Defätismus, den wir immer wieder vernehmen müssen? Was sollen die Zwangsvorstellungen, die Herr Strauß in Ihr Einigungspapier hineingeschrieben hat, Herr Kollege Kohl? Wir resignieren nicht. Wir geben Europa, was an uns ist, der Resignation nicht preis. Apropos: Meines Wissens sind, was immer über Eurokommunismus geredet werden mag, die Sozialisten in Frankreich in diesen letzten Jahren nicht schwächer, sondern stärker geworden.
Nun ich bin, Herr Kollege Kohl, auch in meiner Eigenschaft als Präsident der Sozialistischen Internationale angesprochen worden. Ich freue mich über dieses Interesse, obwohl der Deutsche Bundestag gewiß keine — im engeren Sinne des Wortes — Zuständigkeit über diese Gemeinschaft demokratisch-sozialistischer Parteien hat
und mich auf diesem Gebiet auch kaum beraten kann, Herr Kollege, oder will. Aber zur Aufklärung will ich gern beitragen.
Bei dem weit über Europa hinausreichenden Zusammenschluß, der den traditionsreichen Namen „Sozialistische Internationale" trägt, handelt es sich um eine Arbeitsgemeinschaft souveräner Parteien. Der Präsident ist kein Vormund dieser Parteien, sondern hat nur das zu vertreten, was gemeinsamen Überzeugungen und Beschlüssen entspricht. Sie können nicht einen Beschluß einführen, von dem Sie genau wissen müssen — sonst müßten Ihre Mitarbeiter es Ihnen genauer sagen —, daß er von der SPD nicht mitgefaßt ist. Es gelten nur solche Beschlüsse, die von allen gemeinsam getragen werden. Im übrigen betrachte ich es nicht — Sie wohl auch nicht — als eine Schande, wenn ein Deutscher mit einem solchen oder ähnlichen Auftrag betraut wird; schaden kann uns das nicht. Freunde in der Welt werden wir noch nötig haben.
Erlauben Sie mir jetzt, Ihnen dies zu sagen. Wir deutschen Sozialdemokraten — dies sage ich offen — verfolgen mit Sorge, daß es den deutschen Christdemokraten bisher nicht gelingt, sich aus einer gewissen außenpolitischen Isolation zu lösen, in die sie aus innenpolitischen Gründen geraten sind.
Herr Kollege Kohl, während CDU und vor allem CSU verkünden, sie müßten dem Einhalt gebieten, was sie den Vormarsch von Eurokommunismus und Volksfront nennen, bemühen sich Ihre italienischen Kollegen bekanntlich um die Unterstützung der dortigen Kommunisten zur Bewältigung der Schwierigkeiten, mit denen es jenes Land zu tun hat.
Frankreichs Zentrumsparteien suchen zur gleichen Zeit den Kontakt mit den Kräften des demokratischen Sozialismus. Dies zeigt doch an: Die europäische Wirklichkeit ist komplizierter, als professionelle Vereinfacher in den Reihen der Opposition es glauben machen wollen.
Der Vorsitzende der Christlich-demokratischen Volkspartei Belgiens hat neulich gesagt — ich möchte ihn hier zitieren —, er sei mit bestimmten Elementen der deutschen CDU nicht einverstanden. Diese Meinung mag ihm, auch von Ihrer Seite gesehen, verehrte Kollegen der Opposition, unbenommen bleiben. Aber es muß doch aufhorchen lassen, wenn er hinzufügt: Belgier, Niederländer, Luxemburger, Italiener, bald auch Spanier stellen so etwas wie den fortschrittlichen Flügel innerhalb der europäischen christdemokratischen Bewegung dar. — Er
76 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
Brandt
sagt von seinen Schwesterparteien in diesen Ländern
— ich zitiere —:
Wir glauben, daß wir in Europa eine eigenständige, eine fortschrittliche Politik verfolgen müssen mit einer anderen Einstellung gegenüber den nationalen Belangen.
Auf gut deutsch: Weite Teile der europäischen Christdemokratie sind nicht bereit, die insoweit zurückgebliebene Politik der CSU und ihrer Freunde in der CDU — ich weiß zu differenzieren — mit zu tragen, es hinzunehmen, daß eine ideologisch befrachtete Mentalität, die im Vorgestrigen verhaftet ist, das Miteinander der demokratischen Kräfte in Europagefährdet. So sieht es nämlich aus.
Übrigens: Einige Damen und Herren in der Union haben sich bei ihren aufgeregten Äußerungen der letzten Wochen wieder einmal geirrt oder — anders gesagt — zu früh gefreut. Der neue amerikanische Präsident wird die Politik der Entspannung fortsetzen. Das steht fest. Die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über eine Begrenzung der strategischen Rüstung können im nächsten Jahr zu einem weiteren Ergebnis führen. Bis dahin sollten neue Überlegungen angestellt werden, wie die Wiener Verhandlungen — darüber wollten Sie, Herr Kollege Kohl, von den Sozialdemokraten auch gern noch etwas hören;
— wir reden über die Lage in Deutschland und in der Bundesrepublik Deutschland -
über eine beiderseitige und ausgewogene, d. h. eine die Interessen beider Seiten berücksichtigende Verminderung von Truppen und Rüstungen in der Mitte Europas vorangebracht werden können. Man darf das, was von den Fachleuten bisher auf den Weg gebracht worden ist, nicht geringschätzen. Es wird freilich, so meine ich, nötig sein, auf einer hohen politischen Ebene den Versuch zu unternehmen, das jetzt Mögliche zu vereinbaren und den Bemühungen dadurch einen neuen Impuls zu geben. Ich unterstreiche das, was die Regierung über die Bemühungen auf anderen Ebenen — UNO-Vollversammlung, Konferenz in Colombo — gesagt hat. Dies alles, meine Damen und Herren von der Opposition, eignet sich überhaupt nicht zur Polemik. Sie werden die Wege, die wir finden müssen, mit Sicherheit verfehlen, wenn Sie — wie leider schon so oft — die Ideologie zum Knüppel nehmen und mit ihm politisches Porzellan zerschlagen.
Zu den Wiener Verhandlungen will ich dann dies doch hinzufügen: Es muß meiner Überzeugung nach unser erstes Ziel sein, schrittweise einen Zustand herbeizuführen, in dem ein militärischer Angriff aus dem Stand in Mitteleuropa unmöglich wird. Zwei prinzipiell wichtige Schritte könnten in Erwägung gezogen werden. Sie zu erwähnen, hindert mich auch nicht ein Abgeordneter, der zwar aus dem Auswärtigen Amt kommt, aber die guten Manieren dort gelassen hat,
der auch Herrn Kollegen Kohl, welcher solche Dinge vermutlich — neben allem anderen — nicht auch noch so genau verfolgen kann, falsch unterrichtet hat,
wenn er in diese Debatte schon wieder eine vergiftende These einbringt. Ich muß sagen, dies ist eine Zumutung. Gegenüber jemandem, der sich gemeinsam mit anderen im Westen und anderswo — auch in neutralen Ländern — Gedanken macht und sich fragt: wie könnte das weitergehen, fällt diesem Mann, über dessen Manieren ich mich geäußert habe, nichts anderes ein, als zu unterstellen: Die greifen ja sowjetische Vorschläge auf! — Was, wie Sie wissen müßten, nicht der Fall ist, Herr Kollege Mertes. Warum sagen Sie dann die Unwahrheit?
— Nein, ich halte mich — —
— Die Zwischenfrage ergibt erst einen Sinn, Herr Kollege, wenn ich meine folgenden drei Sätze zu dem Gegenstand hinzugefügt habe. Ich darf Sie dann einladen, die Frage nachzuholen. —
Womit man beginnen könnte, wäre eine — vermutlich nur bescheidene — Verringerung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte innerhalb des in Wien abgesteckten geographischen Rahmens. Das wäre in zeitlicher Bindung in einem weiteren Schritt eine entsprechende — wenn auch ebenfalls bescheidene — Reduzierung nationaler Streitkräfte. Darum geht es doch dort. Und warum soll ich dazu hier nicht meine Anregungen geben können, wie ich sie anderswo gebe? — Herr Kollege Mertes!