Rede von
Dr.
Rainer
Barzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Der Herr Kollege Wehner
hat gerügt, daß wir uns nicht genügend mit der Regierungserklärung beschäftigten. Ich fasse dies als eine Aufforderung auf, sich wieder direkt dem Kanzler zuzuwenden. Der Herr Bundeskanzler wird sich sicher ebensowenig wie die Mehrheit des Hauses über den Einstieg wundern, den ich zur Fortsetzung unseres öffentlichen Dialogs der letzten drei Jahre hier suche.
Herr Bundeskanzler, ich möchte an die Aussprache erinnern — —
— Das kommt ganz sicher, keine Sorge. Er ist mir gegenüber ein höflicher Mensch wie ich ihm gegenüber auch. Ich erinnere mich, daß er einmal hier weggegangen ist, weil der Kanzler nicht zuhörte. Er wird ganz sicher zuhören ...
Ich wollte den Herrn Bundeskanzler, nachdem die wechselseitige Aufmerksamkeit hergestellt ist, an die Debatte erinnern, die wir nach seiner ersten Regierungserklärung im Mai 1974 hatten. Ich hatte damals vorher gesagt, er sei sehr respektabel; und ich habe dann zu seiner ersten Regierungserklärung meiner Enttäuschung von diesem Platze — Ausdruck gegeben, daß ich in der Regierungserklärung Perspektiven nicht fände, daß ich die Horizonte vergeblich gesucht hätte wie eine intellektuelle oder intelligente Kreativität. Ich habe damals, wie sich viele erinnern, gesagt: Sie reden nirgendwo von einer Konzeption, von einer Perspektive, vom Sinngehalt; Sie verschweigen das Warum und das Wozu; der Stabilitätsbegriff schrumpft bei Ihnen zum rein materiellen Begriff zusammen. Das hat dem Kanzler damals nicht gefallen. Das kann auch jeder verstehen.
Er hat dann später — von dieser Stelle aus — eingeräumt, da sei doch etwas dran. Dann gab er sich dran: Sehr gewollt von Kant bis zu kirchlichen Akademien. Dann wurde — vor dem gestrigen Tag —, freilich hinter vorgehaltener Hand, eine Regierungserklärung angekündigt, die, so hieß es, das Ende des Machers und den Beginn des geistvollen zukunftsträchtigen Gestalters markieren sollte. Da war mancher neugierig, denn in Ihrer Berliner Rede vom Oktober, Herr Bundeskanzler, haben Sie ein paar bemerkenswerte Töne angeschlagen. Da haben Sie gesprochen über das „Ausgeliefertsein". Mit dieser Rede haben Sie geistige Hoffnungen geweckt, wo es noch welche gab; oder welche erzeugt, wo sie schon verschüttet waren. Es sollte dem „Ausgeliefertsein", so war zu lesen, „Zuversicht" und „Geborgenheit" gegenübertreten. Dies sei die neue Maxime.
Was von diesem Ansatz in der gestrigen Regierungserklärung übrigblieb — eine Erklärung, die wohl in Wahrheit eine Aneinanderreihung war, eine unverarbeitete Addition, eine Verwaltungsübersicht ohne Schwung, ohne Elan, ohne Perspektiven und ohne Schwerpunkte, also eine Administrationsquantifizierung ohne qualitative Elemente, wenn man das so nennen darf —,
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was von diesem geplanten Ausflug zu Horizonten in dieser langatmigen Vorlesung übrigblieb, sind nicht mehr Gedanken oder Gedankengänge, sondern Worte, und, wenn man sich das ansieht, Worte ohne Saft und Kraft.
Dies ist freilich menschlich verständlich; denn offenbar hat der Herr Bundeskanzler in den letzten Tagen ob der Alltagswirklichkeit für ihn, um ihn und in seiner Partei das Gefühl für Geborgenheit selbst verloren. Offensichtlich ist in ihm das Bewußtsein des Ausgeliefertseins in einem solchen Maße gestiegen, daß er den geistvollen Ansatz lieber wieder auf die Strecke fallen ließ. Dies ist schade. Nun steht er wieder „ohne" da. Dafür aber mit einer gespaltenen Rentenformel in der Hand. Dies beides gehört — ursächlich — doch zusammen, Herr Bundeskanzler:
Dieses Fehlen von Perspektiven und von Bezügen und das, was dann daraus kommt, wenn man glaubt, am Grünen Tisch alles machen zu können, weil man das Gespür für das Mögliche und für das Verantwortbare und den Umgang auch — verzeihen Sie, ich muß wiederholen, was Kohl hier gesagt — mit dem, was das Volk bewegt, verloren hat.
Diese Schrumpfelemente, die nun von der Absicht des Ausflugs übrigblieben, ihre Worte also — ich nehme das Wort von der Solidarität auf, das, wie ich glaube, über 50mal vorkommt, und das von der Mitmenschlichkeit — hören sich gut an. Aber wer soll das glauben, da sich Ihre konkrete Politik in derselben Erklärung doch weigert, diese Worte mit Inhalt und Leben zu erfüllen? Herr Bundeskanzler: Was ist Solidarität ohne Wahrheit? Was ist Mitmenschlichkeit ohne Verläßlichkeit? Da bleiben doch nur Worthülsen, Masken, hinter denen sich andere Inhalte verbergen.
Herr Bundeskanzler, wie soll Solidarität ohne das verläßliche Gefühl sozialer Sicherheit entstehen? Ich möchte konkret werden: Sie sprechen davon, daß die Neurentner die Bruttobezogenheit behalten sollen. Sie sagen, Sie wollen sie nicht antasten. Aber was bieten Sie eigentlich dem an, der schon ein Rentner ist? Ist das eine andere Formel, die keiner durchrechnen kann? Wer soll da was glauben? Wie soll so Sicherheit oder Geborgenheit entstehen?
Ihre Politik verstärkt doch Ungewißheit, Fragezeichen und Abhängigkeit. Sie sagt „Solidarität" und „Mitmenschlichkeit" und produziert noch mehr „Ausgeliefertsein", als sie es vor dem 3. Oktober ohnehin schon gab. Da „blasen" wir nichts auf, Herr Kollege Wehner — er ist nicht da —, sondern nehmen eine Sorge auf, die in der Bevölkerung vorhanden ist.
Dies ist nicht nur die Pflicht der Opposition, sondern dies entspricht der sozialen Gesinnung derer, die mit dieser Rentenformel ein Stück der Sozialqualität der Bundesrepublik Deutschland geschaffen haben, um die man uns in der Welt beneidet. Dieses Stück wird
nun in Zweifel gestellt, vielleicht herausoperiert. Unklarheit ist die Wahrheit.
Es sei ein „Skandal", sagte der Herr Bundeskanzler im Oktober in Berlin, daß — ich zitiere ihn —„Menschen im Alter von 56 Jahren noch immer nicht präzise gesagt werden könne, wie ihre Rente aussieht, die sie in wenigen Jahren beziehen können". Er hat ganz recht: Das ist ein Skandal. Aber nun Hand aufs Herz, Herr Bundeskanzler, Herr Arbeitsminister und Sie alle da drüben: Wer bei Ihnen kann denn jetzt diese Frage beantworten? Wer kann einem, der jetzt eine Rente bezieht, sagen, welche Rente er zum nächsten Dezember bekommen wird? Sie haben keine Klarheit über die Formel. Dies erzeugt doch die Abhängigkeit und das Ausgeliefertsein an die Mehrheit dieses Parlaments. Es gibt den Mann nicht, der das ausrechnen kann. — Herr Mischnick, Sie — sachkundig — können es auch nicht. Es gibt ihn nicht. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Mischnick: Es kann ihn gar nicht geben; denn selbst Ihre einschneidenden, Ihre harten Beschlüsse bringen doch, wie vorher dargetan worden ist, die bis 1980 fehlenden mehr als 80 Milliarden DM gar nicht ein. Ihre Zahlen liegen nicht vor; die Erklärung von gestern vertröstet auf einen ungewissen Zeitpunkt. Dann kommt Herr Wehner und sagt: Wir „walzen" hier eine Frage aus, um dies zum „Dauerbrenner" zu machen. Hätten Sie doch heute die Zahlen und die Vorlagen auf den Tisch gelegt,
hätten Sie uns über die Annahmen orientiert, die Ihren Schätzungen zugrunde liegen, die Annahmen des Wachstums, der Arbeitslosigkeit, der Preise und der Löhne; die für Geburt und Tod — dann hätten wir etwas in der Hand, womit und worüber wir diskutieren könnten. Sie können doch nicht von uns verlangen, daß wir uns daran beteiligen, mit Ihnen, Herr Brandt, hier im Nebel herumzustochern.
Solche Unverantwortlichkeiten machen wir doch nicht.
So produzieren Sie die Fortdauer dieses still wütenden „Pfui", mit dem drei Rentner, einer davon am Krückstock, hier kürzlich durch Bonn gezogen sind. Das dauert nun über die Festtage. Das verantwortet nicht die Opposition, sondern diese Regierung —, eine Regierung, die sich vor den Wahlen gerühmt hat, das „Deutsche Modell" geschaffen zu haben. Wir haben im Mai dargetan — ich will es nicht im einzelnen wiederholen —, daß Sie das Modell nicht geschaffen haben, sondern daß es weitgehend gegen den Widerstand der Sozialdemokratie entstanden ist.
Wir haben damals gesagt, daß Sie dieses Modell beschädigt haben. Aber, Herr Bundeskanzler, indem Sie nun an die Glaubwürdigkeit, an die Rentner, an die Renten und wohl auch an die Rentenformel herangehen, beseitigen Sie doch ein Herzstück der sozialen Sicherheit und damit die unerläßliche Voraussetzung für staatsbürgerliche und soziale Geborgenheit, für Berechenbarkeit von Lebensabläufen.
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Und indem Sie dabei, wie hier vorher dargetan, die Kosten von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung verlagern und dabei gerade diejenigen treffen, die durch Leistung aufgestiegen sind, machen Sie noch ein zweites: Sie entfernen ein wichtiges Element für Fortschritt und Aufschwung, indem Sie Leistung, höflich gesagt, uninteressanter machen.
Es stimmt doch einfach, wenn Herr Fromme in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gestern schreibt — ich möchte das hier, damit die Gewichte gerecht verteilt sind, mit Genehmigung des Präsidenten in die Debatte einführen —: „Die FDP ist in die Wahlschlacht gezogen unter dem Panier: Leistung wählen. Die Gleichmacherei werde nicht weitergehen. Wer Fortschritt, aber nicht das Fortschreiten auf diesem Wege wolle, sollte FDP wählen. Jetzt läßt sich die Partei darauf ein, daß die Rentenflickschusterei von den Werkmeistern, den Baupolieren, den jungen Ingenieuren, den Aufsteigern also, bezahlt wird. Sie sollen das in die Krankenkasse zahlen, was der Rentenversicherung fehlt."
— Verehrte Damen und Herren, wir freuen uns doch, wenn Sie hier bessere Dinge auf den Tisch legen, wenn auch dieser Teil öffentlicher Kritik Ihnen vielleicht zur Vernunft helfen würde.
Das ist doch der Sinn einer solchen Debatte. Aber bei dem Zipfel von Wahrheit, den Sie bisher anbieten, muß doch etwas gesagt werden, weil nach dem, was Sie bisher haben verlauten lassen, so die Wahrheit ist.
Ich sage Ihnen deshalb: Indem Sie die soziale Sicherheit durch wahrscheinliche Veränderung der Rentenformel beeinträchtigen und indem Sie den Leistungswillen dämpfen, bauen Sie jetzt auch noch zwei fundamentale Bestandteile des Motors aus dem „Modell Deutschland" aus. Wenn aus dem beschädigten Modell auch noch der Motor ausgebaut wird, bleibt nur die Karosserie. Die fährt aber nicht lange, weil sie nur bergab fährt; dann ist sie schrottreif.
Das ist die Situation dieser Koalition, meine verehrten Damen und Herren,
Sie fragen uns zugleich nach der Alternative. Sie haben durch Willy Brandt — ich komme nachher darauf — erklären lassen, zu dieser Regierungspolitik gebe es keine Alternative. Zumindest einmal gibt es die Alternative — das sollte unter allen klar sein — zu der Schwindelei: die Wahrheit.
Die wäre eine gute Voraussetzung, sich über anderes zu unterhalten. Sie sind in einem Debakel und kommen allein nicht heraus. Das war in der Debatte zu merken. Sie erwarten unsere Hilfe.
Verzeihen Sie, in dieses Debakel sind Sie ohne unsere Hilfe und gegen unseren Rat gekommen. Hier müssen Sie schon erst einmal sagen, was ist. Wenn
Sie irgendwo etwas brauchen, dann wollen wir so darüber reden; die Kollegen Strauß und Kohl haben das heute dargetan. Aber bevor wir hier nicht die Wahrheit und den Rentenbericht kennen und bevor wir nicht die Gesamtzusammenhänge sehen, verehrte Damen und Herren, sehe ich hier wenig Hoffnung. Wir würden heute im Interesse der Menschen draußen gern ein Stück weitergekommen sein, aber Sie haben uns die Zahlen vorenthalten.
Wenn dann der Bundeskanzler den traurigen Mut hat, gestern von „vorausschauender Politik" zu sprechen, dann muß ich ihn dazu beglückwünschen. Woher nimmt er diesen traurigen Mut? Die Opposition wußte, daß es mit den Renten und der Grundlage ihrer Finanzierung nicht stimmt. Wir haben es gesagt. Wir haben gelesen, was die Deutsche Bundesbank seit November 1975 öffentlich sagte. Herr Strauß hat hier die anderen öffentlichen Quellen genannt. Da wurde öffentlich von den Defiziten der Rentenversicherung, die sich vergrößern, und von einem Anwachsen gesprochen, das „vorprogrammiert" sei. Warum hat man das nicht ernstgenommen? Es kann doch nicht sein, Herr Bundeskanzler, daß Sie ein Jahr lang
— ich bin knapp in der Zeit; es ist so verabredet — Herrn Klasen getroffen und mit ihm gesprochen haben und daß ausgerechnet darüber nicht geredet worden ist. Aber es haben doch auch andere den Präsidenten der Bundesbank getroffen. Dies war doch immer ein Hauptthema der Sorgen um die Zukunft. Ich vermag deshalb nicht zu glauben, daß Ihre Rentenerklärung tatsächlich ohne eine Ahnung von dem, was wirklich war, erfolgt ist. Sollte es anders sein, sollten Sie das wirklich nicht gesehen haben, dann wäre das mindestens gleich schlimm; denn das bewiese mangelnde Voraussicht, fehlende Vorausschau und ungenügende Umsicht, und das in einer Frage, wo es um Menschen geht, die sich allein kaum wehren können.
Sie haben in Ihrer gestrigen Erklärung für alle Schwierigkeiten wieder die „Weltrezession" verantwortlich gemacht. Verehrter Herr Bundeskanzler — es wird irgendwann im Januar auch über die Wirtschaftspolitik zu sprechen sein —, dies kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. Vielleicht ist die „Weltrezession" auch dafür verantwortlich, daß Sie nicht früh genug in die Kasse der Rentenversicherung geguckt haben?! Aber ich möchte, damit sich dieses Märchen nicht bis in den Januar hält, nicht mit unseren Worten, sondern mit denen des Sachverständigenrats — das ist der jüngste Bericht, den es gibt; er ist vom 25. November 1976 —, wenige Sätze mit Genehmigung des Präsidenten vortragen:
Die Beschäftigungsprobleme,
— so sagen die Sachverständigen —
die mit der Rezession offenkundig wurden, sind nicht allein das Erbe zyklischer Abschwungskräfte im Innern und in der Welt. Sie rühren auch daher, daß im ganzen nicht zueinander passende Ansprüche — Lohnansprüche, Gewinnansprüche, Ansprüche des Staates und des
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Auslands — über Jahre hinweg zu Lasten des Geldwerts gegangen waren, die Produktionsstrukur verzerrt und die Investitionsneigung mehr und mehr beeinträchtigt haben. In ihrem Kern waren die Beschäftigungsprobleme längst angelegt, bevor es zur Rezession kam.
Das sagt nicht die Opposition, sondern das sagt der Sachverständigenrat, und das liegt uns allen in der Drucksache 7/5902 vor. Dies ist die Lage.
Über diese Lage versuchten Sie mit unverarbeiteter Langatmigkeit und vielen Worten hinwegzutäuschen, die schon jeden mißtrauisch machen; denn wer etwas zu sagen hat, kann dies kurz und unmißverständlich sagen. Wer so viel redet, ohne viel zu sagen, der hat etwas zu verbergen. Ich fürchte, gestern sollte hier zunächst der Vorhang vor der Bühne zugezogen werden, auf der das Stück „Sanierung — gesucht" gespielt werden soll. Daß Sanierung notwendig ist, bestreitet keiner. Aber daß diese Koalition noch keine Antwort darauf hat, ist die traurige Wirklichkeit, und die Unterzeile heißt: „Wir haben uns übernommen."
Ich denke hier an den früheren Bundeskanzler, den Kollegen- Brandt, der ein paar Worte auch über Verantwortung an unsere Adresse gerichtet hat —in einer Rede übrigens, die, wenn wir das richtig gesehen haben, eigentlich mehr der Pflicht als der Neigung entsprach. Wann je hat der erste Sprecher der stärksten Regierungsfraktion gesagt, es sei die „Pflicht" der Regierungsfraktion, eine Regierungserklärung „zu tragen" ? Hier war nichts von Begeisterung oder von Zustimmung zu spüren, sondern das war zunächst ein „Pflichttanz". Er sprach uns auf unsere Verantwortung an. Bitte schön, jederzeit! Aber dann bitten wir: zuerst Solidität.
— Ich sage deshalb in aller Deutlichkeit, Herr Schäfer: Nur wenn die Zusammenhänge klar sind, die Analyse verständlich ist, die Konsequenz wohlerwogen ist und die Verantwortung und die Verantwortlichkeit so unbestritten wie die Wahrheit sind, erst dann könen wir ernsthaft über Alternativen oder über Antworten sprechen, die auch andere mitverantworten.
Ich wiederhole deshalb den Ansatz, den wir seit Monaten, schon seit den letzten Debatten zur Lösung der Probleme, sehen: Unsere soziale und wirtschaftliche Ordnung sind auf Dynamik gegründet und auf Wachstum aufgebaut; sie leben davon. Wenn wir das nicht wieder schaffen, werden wir über vieles sprechen müssen. Dies ist die Basis. Niemand wird wieder Vollbeschäftigung erringen, niemand wird soziale Sicherheit, Haushalt, Reformen, Verteidigung, Hilfe für andere bezahlen können, der nicht eine Lösung der Probleme zuallererst von der steigenden Wirtschaftskraft erwartet und dort ansetzt.
Hier ist zuerst Friderichs gefragt, bevor Apel neue Milliarden so oder so herumschiebt.
Dies, verehrte Damen und Herren, heißt: der „Herzmuskel der wachsenden Wirtschaft" — das ist auch ein Wort aus dem Sachverständigengutachten, freilich von 1974 — ist „die Investitionsneigung", und dieser Herzmuskel, so heißt es dort, ist „verkrampft". Wer hier also was will, muß diesen Muskel entkrampfen, der muß sehen, daß wieder Substanz in den Raum kommt, Wasser von den Wurzeln her, nicht mit dem Gartenschlauch neue Milliardenprogramme nur auf die Blätter; das nützt gar nichts. Der muß dafür sorgen, daß hier wieder Flexibilität, Elastizität entsteht für unsere Unternehmen. Ich erinnere Herrn Kollegen Friderichs an eine frühere Debatte. Je mehr außenbestimmte Daten — Sie haben das doch gelesen — durch OPEC und UNCTAD und EWG und was weiß ich gesetzt werden, desto mehr müssen wir doch im Innern dafür sorgen, daß nicht zusätzliche Gängelei, zusätzlicher Bürokratismus diese Elastizität weiter einengt. Da ist doch der Ansatz, wenn wir uns wirtschaftlich und politisch im Januar weiter unterhalten wollen. Solange aber in der Hauptregierungspartei in jeder Frage immer nur gleich nach mehr Staat gerufen wird — also nach neuer Bürokratie, nach neuer Gängelei nachdem
Sie sich weigern, zu erkennen, daß eine Hauptwachstumsbremse in dem steigenden Staatsanteil liegt, ist es erstaunlich, daß Sie hier zurückbleiben. Herr Mitterand entdeckt wieder die Kräfte des Marktes; Herr Breschnew entdeckt den Rang der privaten Hofstelle; und die deutsche Sozialdemokratie erkennt immer mehr den Vorrang des Staatsanteils. Dies ist für die Debatte für die Zukunft — —
— Dies, verehrter Herr Matthöfer, ist für die Debatte der Zukunft so zu werten, wie man das in der DDR nennt; da gibt es den ebenso köstlichen wie schmerzlichen Begriff von der „Null-Ware". Mit „Null-Ware" meint man drüben Ladenhüter, Ausschuß, verstaubte Dinge.
Ich würde gern an die Adresse des Kollegen Brandt wenigstens noch auf einen Punkt erwidern, weil er jetzt nicht — er wird im einzelnen noch zu behandeln sein im Januar — unwidersprochen bleiben darf. Er hat sich hier heute mit Unschuldsmiene gegen „Monopolansprüche" gewandt. Er hat dabei verschwiegen, daß der erste Monopolanspruch im Zusammenhang mit Godesberg begann. Richard von Weizsäcker hat ein paar Mal darauf hingewiesen. Das war das Monopol der Demokratie. Dann haben wir darauf geantwortet. Nicht genug damit. Dann bekamen wir die Debatte über den Monopolanspruch für den Frieden von der linken Seite. Dann haben wir darauf geantwortet. ,Dann kriegten wir, vor der letzten Wahl, den Monopolanspruch für das Soziale auf Ihrer Seite. Nachdem wir mit den drei Dingen defensiv kaum fertig wurden, haben wir gesagt: Jetzt nehmen wir es mal offensiv: Freiheit statt Sozialismus. Das wird die Auseinandersetzung bleiben.
Aber was soll dieser Appell, Monopole wegzunehmen, wenn Willy Brandt zugleich ein neues aufstellt, wenn er in seiner Allwissenheit — ich kann nur sagen: unargumentativ; es tut mir leid, dies
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Wort zu sagen, es paßt sonst nicht zu ihm, aber: dieses Argument ist arrogant —, sagt, zu dieser Politik, zu der kläglich gescheiterten Politik gebe es „keine Alternative". Mindestens gibt es die Alternative, verschlissene Leute durch frische Leute auszuwechseln.
Das ist immer dasselbe wie vorher Wahrheit und Ehrlichkeit.
— Herr Mattick, das bestreite ich gar nicht, daß ich nicht mehr so frisch bin. Aber Sie bestreiten doch auch gar nicht, daß bei allem, was man schlecht macht, auch manches besser wird. Sie finden eigentlich meine Rede heute — — Herr Dohnanyi sitzt zu meiner Freude endlich wieder vorne, wo er auch hingehört; herzlich willkommen, Herr Dohnanyi.
Das ist immer sehr gut. — Ja, Sie waren eben ein wichtiger Zwischenrufer, Herr Dohnanyi. Herr Mattick scheint es geahnt zu haben: Ich wollte noch auf ein Thema kommen, das mehr in der Nähe seiner Hauptbetätigung in der Politik liegt. Der Bundeskanzler sprach von Freiheit. Zugleich vergaß er, von Menschenrechten zu sprechen, und das, obwohl er zugleich über die Lage der Nation berichtete. Über Freiheit muß gestritten werden; und werden hoffentlich Demokraten streiten, solange sie wollen und solange wir Demokratie haben. Es muß gestritten werden über ihren konkreten Inhalt, auch über ihre Voraussetzungen und ihre soziale Basis. Aber es muß auch f ü r Freiheit gestritten werden und gegen die Unfreiheit. Und es muß gestritten werden für ihre bessere soziale Basis.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Pastor Brüsewitz kann das nun nicht mehr. Ich hätte erwartet -und ich sage dies ganz ruhig —, daß der Herr Bundeskanzler, nachdem er gestern die Mitmenschlichkeit zur politischen Kategorie erhoben hat, zu diesen mitmenschlichen Problemen im ganzen Deutschland ein Wort gefunden hätte. Dies war mir — Verzeihung — zu geschäftlich, zu fühllos. Da ist nur die Rede von der DDR, kaum aber von den Menschen dort. Dabei ist der Freiheitswille dort so unübersehbar — und das sollte der Autor im „Vorwärts", auf den ich nachher noch komme, auch einmal sehen — wie die Nichtbereitschaft unserer Landsleute drüben, sich diesen Freiheitswillen durch Mark und Pfennig eines etwa irgendwo versprochenen größeren Wohlstands abhandeln zu lassen.
Die Lage, Herr Bundeskanzler, die hier gestern geschildert wurde, kann so nicht über die kommenden Tage stehenbleiben. Mir ist bei der Lage, wie Sie sie schildern, wie die Koalition sie schildert — denn das war ja ein Koalitionspapier —, nicht geheuer.
Da spricht die NATO in der vergangenen Woche von der anwachsenden Übermacht der Sowjetunion, und davon nimmt man kaum Notiz; ein Halbsatz in Ihrer Erklärung, aber keine Konsequenz.
Und da schreibt — das bewegt die Bürger; in den letzten Wochen konnte man das überall lesen -Carl Friedrich von Weizsäcker, der nächste Weltkrieg sei eher wahrscheinlich. Aber bei der Regierung kommt das nicht vor, nicht einmal eine Andeutung des Problembewußtseins.
Da erhöht die DDR ihre Verteidigungsausgaben;
da zerrt Moskau sichtbar am Berlin-Status; da beutet die Sowjetunion — man kann dies leider nicht anders sagen — die DDR aus wie eine Kolonie; da werden Künstler ausgewiesen; da melden sich Deutsche zur Auswanderung. Aber bei der Regierung kommt das alles nicht vor.
Da schreibt ein Literat aus dem Gefängnis von „Bullen, Bonzen und Bürokraten"; da dichtet einer „Glück gibt's nur für Tote und für Kinder hier" ; und da schreibt dann einer hier im Westen — in der FAZ —, „in Deutschland kommt etwas in Bewegung, und eine sozialistische Linke formiert sich untergründig in beiden Teilen". Aber bei der Regierung kommt das nicht vor.
Ich fürchte, die Regierung hat auch hier — wie bei den Renten — am grünen Tisch den Boden unter den Füßen verloren. Akten sind gut; im Volk leben ist besser.
Da war zu lesen — das muß ich jetzt behandeln, nachdem es vorher eine Zwischenfrage notwendig machte —, die SPD sei, anders als die FDP und der Außenminister, für Konzessionen bei MBFR, also bei den Abrüstungsverhandlungen in Wien. Und dabei besteht dort die Gefahr — das wissen wir noch aus unserer Regierungszeit, und das weiß jedermann im Hause, der sich darum kümmert —, daß schlußendlich aus Wien nur ein internationaler Vertrag über die Größe und die Stärke der Bundeswehr wird; und dies wäre doch schrecklich.
Ich muß dazu ein paar Worte sagen, weil der Kollege Brandt das in einer Weise geschildert hat, die wirklich — auch mir gegenüber — nicht in Ordnung ist. Ich möchte zunächst dartun, daß der Angriff des Kollegen Brandt auf meinen Kollegen Alois Mertes in Form und Inhalt vollkommen ungerechtfertigt war.
Wenn die verehrten Kollegen von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion hören werden, was ich dazu vortrage, werden sie mindestens Verständnis für diese meine Haltung — und damit auch für die des Kollegen Mertes — finden. Ich habe an den früheren Bundeskanzler die Frage gestellt, die Sie gehört haben, und er hat mir dann — nach dem Protokoll — eine „unerlaubte, voreilige Schlußfolgerung" unterstellt.
Worum geht es? Die Position des Westens bei diesen Verhandlungen ist, um das konkret zu sagen: Bitte zuerst eine Vereinbarung über ein paritätisches Ergebnis, also eine qualitativ und quantitativ ausgewogene Situation zwischen beiden Blöcken.
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Und wenn das der Fall ist, fangen wir mit einleitenden Schritten an.
Der Osten dagegen sagt: Keine Vereinbarung über ein paritätisches Ergebnis, über einen ausgewogenen Zustand, sondern ein Festschreiben der Disparität, und sofort mit einleitenden Schritten anfangen. Der Westen sagt: Keine Vereinbarung über nationale Höchstgrenzen. Und das ist eine Meinung in der ganzen NATO und bei allen, die dort am Tisch sind, zugunsten der Bundesrepublik Deutschland und zugunsten ganz Deutschlands; deshalb nehmen sie sie ein. Wir wollen, so sagt der Westen, eine Vereinbarung mit dem anderen Block, von Block zu Block, über Höchstgrenzen, und dann soll in jedem Bündnis — sprich hier: in der NATO — intern und ohne Mitsprache oder Einfluß oder Vetorecht der Sowjetunion — das heißt es doch konkret — bestimmt werden, wie groß die Bundeswehr ist, wie groß die Streitkräfte der Franzosen — aber die sind ja ausgeschieden —, der Holländer, der Belgier und anderer sind. Der Osten dagegen möchte eine Vereinbarung über nationale Höchstgrenzen, also einen Vertrag über das Ausmaß und die Stärke der Bundeswehr.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen: Käme es zu einer Ost-West-Vereinbarung über Stärke und Größe der Bundeswehr, dann säße die Sowjetunion in allen Fragen, die unsere Sicherheit betreffen, mit am Tische,
dann würden wir getrennt sein von unseren Freunden in Frankreich, in Holland, in Belgien, in Großbritannien, in den USA. Dies wäre der Anfang der Isolierung, die mögliche Vorstufe der Neutralisierung und — vom Osten gewollt — die Vorstufe der Finnlandisierung der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn ich das frage, nachdem klargeworden ist, daß in der Frage „nationale oder internationale Verabredung?" der punctus puncti liegt, dann sagt der Kollege Brandt, das sei eine „unschlüssige Schlußfolgerung".
Verehrte Damen und Herren, er selbst hat sich an verschiedenen Stellen dazu geäußert. Ich konnte nicht so schnell alles besorgen, aber es reicht hin, das Interview, das Herr Bell, ein im ganzen Haus geschätzter, solider Journalist, für den „GeneralAnzeiger" mit ihm am 9. Dezember gemacht hat, nachzulesen:
Man sollte wenigstens mit zwei prinzipiell wichtigen Schritten beginnen, nämlich mit einer ersten, wenn auch nur symbolischen Verringerung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte innerhalb des in Wien abgesteckten geographischen Rahmens, und daran anschließend mit einer ersten, wenn auch verständlicherweise bescheidenen Begrenzung nationaler Streitkräfte im gleichen Rahmen. Man muß endlich anfangen, selbst wenn diese ersten Schritte wirklich nur sehr bescheiden sein können.
Da steht genau, was Herr Mertes gesagt hat. — Hier erklärt der frühere Bundeskanzler Brandt etwas als erste Schritte, was nach geltenden westlichen Verhandlungskonzept — in unserem Interesse — bis zu dieser Stunde ein Schritt ist, der auch nicht am Ende stehen darf, weil niemals eine internationale Ost-West-Verabredung über unsere Sicherheit allein zustande kommen sollte. Dies ist nicht nur eine Vorleistung im klimatischen Bereich, dies ist das Weggeben der Substanz.
Es wäre schon des Punktes wert — denn dies gibt Unsicherheit —, wenn der verantwortliche Minister der Bundesregierung, der Herr Außenminister also, hierzu jetzt Klarheit schaffte; denn natürlich wird er und werden alle deutschen Diplomaten ab morgen gefragt: Was ist nun die deutsche Position? Ist das Wort verläßlich, das hier Helmut Schmidt gesagt hat, welches anders lautete, oder gilt das, was der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hier — ob in einem Alleingang oder wie immer; ich will nichts unterstellen — gesagt hat? Der Herr Außenminister hat hier die Chance, durch eine Erklärung seinen Mitarbeitern draußen vor Weihnachten viel Unruhe zu ersparen und viele Besuche anderer bei ihnen über das wirklich Gemeinte.
Verehrte Damen und Herren: Es ist zu lesen, daß die Juso-Vorsitzende — ich habe das zweimal lesen müssen, und ich habe nachgelesen, ob ich mich vielleicht verlesen habe; ich habe als Quelle den „Nachrichtenspiegel" der Bundesregierung genommen — den Westen, aber nicht etwa den Osten auffordert, die Verteidigungsausgaben einzufrieren und neue Beschaffungen zu unterlassen.
Es ist dann zu lesen, und zwar im „Vorwärts", angeblich von hoher Seite inspiriert — wenn man den Leitartikel liest, weiß man: Das meint das Blatt und nicht nur jemand, der da mal geschrieben hat —, man solle hier bei uns „der Verteufelung des Kommunismus Einhalt gebieten", die DDR stabilisieren und dort den Lebensstandard heraufsetzen.
Verehrte Damen und Herren — ich gucke nur auf diese Seite; ich glaube nicht, daß das bei Ihnen (zur FDP) jemand denkt —, diese Politik führte doch dazu, daß die DDR und ihre Menschen sich noch mehr dem Neid, dem Druck und der Ausbeutung durch die Sowjetunion ausgesetzt sähen.
Sie führte doch dazu, daß dort drüben allein die Bonzokratie verstärkt würde. Sie verbesserte nicht eine von den menschlichen Realitäten, von denen ich vorher sprach.
Wenn dieser Herr am Schluß in Ihrem „Vorwärts" schreibt, daß er selbst eine Weile überlegt habe, ob er nicht endgültig in die DDR — „in die Zone", wie er sagt — übersiedeln wollte, und dann gesteht — zwar in Klammern: ungern —, daß er während der
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zweieinhalb Jahre seines Arbeitsaufenthalts in der DDR manchmal daran gedacht habe, aber zu feige und zu bequem war, dies auch nur zu Ende zu erwägen; er sei dies noch immer —, dann ist das doch das beste Zeugnis gegen das, was er hier schreibt. Auch davon kommt bei dieser Koalition nichts vor.
Es berichtet dann vor kurzer Zeit die Regierung der USA ihrem Parlament und ihrer Bevölkerung über die Ergebnisse von Helsinki, von KSZE. In diesem Bericht wird die Gewährung der Menschenrechte in Deutschland angemahnt. — Aber das kommt bei der Regierung nicht vor.
Verehrte Damen und Herren, dies, glaube ich, mußte hier gesagt sein, nicht, weil wir dies so wollen, sondern weil wir dies bedauern. Aber wir können doch nicht an den Realitäten vorbeigehen, gerade wenn wir den letzten gestrigen Absatz des Herrn Bundeskanzlers nehmen!
Es ist wahr, daß man uns damals, schon vor den Ereignissen in der Tschechoslowakei 1968 — wenn ich mich recht erinnere, durch Dean Rusk —, wissen ließ: Wahrscheinlich halten die Kommunisten die Koexistenz nicht aus. Er hatte damals recht. Heute spürt jeder, daß wieder kälterer Wind aus dem Osten bläst. Das paßt uns nicht. Ich rate nun zwar nicht, stärker zurückzublasen, aber ich rate auch hier zu Wahrheit, zu Ehrlichkeit und zu Gelassenheit und nicht zu irgendeiner Kitterei. Wir sehen doch, daß SALT und MBFR nicht vorankommen, weil die Forderungen des Ostens, der Kommunisten unerfüllbar sind. Wir können doch die Sache nicht wieder flottmachen, indem wir erst einmal in unserer Substanz nachgeben. Auch in Rumänien und in Jugoslawien spürt man das doch. Was immer davon auf China oder blockinterne Gründe zurückgeht, können wir irgendwann diskutieren.
Den Kommunisten bleibt eben die Periode der Schwäche und des Attentismus, die zur Zeit den Westen wie ein Virus befallen hat, nicht verborgen. Und sie spüren natürlich sehr unmittelbar — auch davon war hier nicht die Rede —, daß der Westen einer räsonablen politischen und materiellen Kreditlinie im Osthandel nahegekommen ist. Das spüren die doch! Und sie spüren doch, wie sie drüben aus dem Korb III befragt werden. Das sieht man überall in der Welt. Nur bei unserer Regierung kommt es nicht vor.
Dort gehen dann — das gehört hierher; denn dies ist hier heute ja auch eine Aussprache über die Lage der Nation — aufmüpfige DDR-Bürger — das ist das Neue daran: sie gehen direkt, sie gehen sichtbar, sie gehen durch den Vordereingang — zu ihren Behörden und begehren Ausreise und Ausbürgerung.
— Ich bestreite das doch gar nicht. Ich habe soeben gesagt, daß sie sich auch auf den Korb III von Helsinki berufen. —
Die Sowjetunion beutet die DDR aus, Herr Mattick, wie Imperialisten im vorigen Jahrhundert. Sie erhöht ihre Rohstoffpreise, ist aber nicht bereit,
Preiserhöhungen der DDR für deren Lieferungen entgegenzunehmen. Die Lage ist so, daß Millionen von uns — ich begrüße das; ich tue es selbst, wie man weiß — in die DDR reisen können; daß 70 % drüben unser Fernsehen sehen und die Funktionäre deshalb nicht mehr durchkommen, wenn sie die Lage in der DDR mit der in Bulgarien und der Tschechoslowakei vergleichen. Hier werden wir, die Bundesrepublik Deutschland, zum Maßstab genommen. Dies ist doch wichtig. Da hören sie über unsere Medien die Kritik, die Kommunisten aus Spanien, aus Frankreich, aus Italien an der Lage in der DDR üben.
Die sowjetischen Statthalter fühlen sich unbehaglich. Sie bildeten die Spitze der DDR um, und zwar im Sinne von Härte nach innen und von Sowjettreue erprobt, nach außen. Das Vorgehen gegen Reiner Kunze und Wolf Biermann ist doch nur Teil dieser Politik. Um dann auch noch den letzten Zweifel für die auszuschließen, die das noch nicht begriffen hatten, geht der Botschafter in Ost-Berlin, Herr Abrassimow, vor das Fernsehen, richtet eine Ansprache an die Bevölkerung drüben und erklärt unverblümt, es gelte, „die Verflechtung beider Länder zu verdichten", man begrüße die „Umbesetzung in der Spitze". Und er betont dann — dieses Zitat muß wörtlich hier in die Debatte —:
fühlen wir sowjetische Menschen uns auf dem Boden der mit uns brüderlich verbundenen sozialistischem DDR wie zu Hause.
Das war doch nicht ein Kompliment des Wohlbehagens, weil er sich freute, in einer Idylle zu leben, sondern das hieß doch: Hier stehen wir, hier bleiben wir, hier haben wir das letzte Wort! So brutal ist das lange nicht gesagt worden. Was muß in der DDR los sein! Was muß dort an menschlicher Realität sein, daß so etwas gesagt und getan wird. Aber von all dem kommt bei der Koalition nichts vor.
Da es vorher, als Helmut Kohl nur den Namen Wolf Biermann nannte, bei Ihnen in der SPD ganz merkwürdige Reaktionen gab, möchte ich darauf zurückkommen. Man soll so etwas schließlich nicht im Ungewissen lassen, sondern immer feststellen, was mit diesem urtümlichen Gemurmel eigentlich gemeint war.
— Herr Matthöfer, wir haben nicht die Absicht, Wolf Biermann oder Reiner Kunze oder andere — ich nenne hier nur diese beiden Namen — etwa zu Säulenheiligen unserer Ordnung — oder was auch immer — zu stempeln.
Wir haben auch nicht die Absicht, den Mut und die Zivilcourage dieser Männer geringzuachten. Deshalb sage ich Ihnen: Was muß drüben los sein, daß deren Wort — doch mindestens kommunismus-immanente Kritik — drüben verboten wird, daß man es nur aus unseren Medien kennt? Was muß drüben los sein, daß man gegen diese Männer mit Gewalt vorgeht? Erlauben Sie mir, hier einige Sätze zu zitieren. Da schreibt der eine:
112 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1976
Dr. Barzel
Sagt, wann haben diese Leiden endlich mal ein Ende? — Wenn die neuen Leiden kommen, haben sie ein Ende.
Oder:
In diesem Lande leben wir wie Fremde im eigenen Haus.
Oder:
Warum _einen Wecker stellen? Das Erwachen kommt bald und spät. Der eingeschlagene Weg schlägt zurück. Keine Seitenstraße, kein Fluchtweg bleibt.
Das ist ein Stück von der menschlichen Realität, von der man eigentlich etwas hören wollte, wenn der 8. Deutsche Bundestag mit einer Regierungserklärung zugleich die Lage der. Nation debattiert.
Ich möchte mich im Gesamtzusammenhang dieser Politik noch einmal an den Herrn Bundeskanzler wenden, denn bei mir ergibt sich langsam ein Bild. An Hand eines Zitates aus diesen Tagen möchte ich verdeutlichen, welche Hoffnungen man in der NATO hegt:
Die Schicksalsgemeinschaft beiderseits des Atlantik kann ihr Wesen nur erhalten, wenn sie stark — willensstark — genug bleibt, um unerobert und ungebeugt wirken zu können, bis dereinst die Bedrohung durch die östliche Despotie sich von innen her verringert.
Das ist gut gesagt. Herr Bundeskanzler, dazu würde ich gern von Ihnen etwas hören.
Sie haben nach einer Mitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. September für ein Interview in der „Bunten Illustrierten" am 30. September 1976 folgendes gesagt — ich zitiere —:
Bismarck ist für einen Sozialdemokraten, innenpolitisch betrachtet, zwar ein Greuel; aber seine Politik der Balance, des Sich-Vertragens und Verträge-Schließens auch mit Rußland ist noch nach 100 Jahren ein unwahrscheinlich aktuelles Beispiel für die Notwendigkeit der deutschen Politik, sich stets um Ausgleich und Gleichgewicht im Verhältnis zu vielen Nachbarn Deutschlands zu bemühen und jede Feindschaft mit Rußland zu vermeiden, auch wenn uns die zaristischen oder die kommunistischen Nasen im Kreml nicht gefallen.
Ich will es mir nun nicht so einfach machen, zu sagen: Wir haben es nicht mehr mit Rußland, sondern mit der Sowjetunion zu tun. Herr Bundeskanzler, dies ist nicht das einzige, was sich an der Lage geändert hat. Bitte übernehmen Sie sich nicht! Wir in der Bundesrepublik Deutschland allein können weder Gleichgewicht noch Ausgleich bestimmen. Die Lage ist anders. Es gibt nicht mehr nur e i n Deutsches Reich, sondern zwei Staaten in Deutschland. Einer ist von diesem Feind besetzt; der andere ist frei, weil wir im Westen Freunde haben. Das ist die Lage. Unsere Politik wird nach Osten nur aufgehen, wenn sie zuvor — ich wiederhole: zuvor - nach Westen stimmt. Glauben wir denn — hier
erhalten die MBFR-Verhandlungen doch einen Hintergrund — Ausgleich und Gleichgewicht allein erreichen zu können? Kommen wir nicht auf die schiefe Bahn, wenn wir ein Wohlverhalten an den Tag legen, das nirgendwo beschrieben ist, und Unrecht nicht mehr beim Namen nennen? Dies ist doch die Frage, die man stellen muß, wenn man — auch draußen — die Äußerungen an diesen beiden Tagen vor den Hintergründen wachen Ohres verfolgt hat.
Da ich, wie ich höre, der letzte Redner für die Opposition bin, würde ich es mir gern erlauben, am Schluß dieser Debatte — dies ist sicherlich nicht stilwidrig — unseren Bundespräsidenten ausnahmsweise einzubeziehen. Wenn ich dies in einem positiven Sinne tue, ist dies, wie ich glaube, nicht streitig. Er sagte dieser Tage — es war am 15. Dezember; Sie können ungefähr ahnen, bei welcher Gelegenheit und wann das war —:
Wir können
— so stand es in den Zeitungen —
nicht übersehen, daß in den letzten Wochen einige politische Entwicklungen das Verhältnis der Bürger zum Staat und zu den demokratischen Institutionen nicht unberührt gelassen haben.
Ich glaube, das geht uns alle an. Viele haben in Abgründe gesehen und haben Grenzen erkannt. Wenn wir uns am Schluß des ersten Teils der Debatte vielleicht alle vornehmen, uns vor allem an unsere Pflichten zu erinnern und nicht auf unsere Rechte zu pochen, dann kann vielleicht das Ganze ein Donnerwetter gewesen sein, — und aus dem 8. Deutschen Bundestag wird doch noch etwas.
Verehrte Damen und Herren, wir haben heute die Beschlüsse der OPEC auf dem Tisch. Das bedeutet wirtschaftlich: Sturm steht ins Haus. In einer solchen Lage, glaube ich, haben die Wähler einen Anspruch auf die Qualität und die Verläßlichkeit der Politiker.
Von diesem Anspruch kann — es tut mir leid — die gestrige Erklärung nicht bestehen. Mit einer solchen unqualifizierten Arbeit kommt niemand in diesem Lande — hier muß jeder Qualitätsarbeit leisten — durch: kein Schüler, kein Arbeiter, keine Hausfrau. Herr Bundeskanzler, schreiben Sie zum Januar nach, was heute fehlt.
Versuchen wir dann, darüber zu diskutieren, ob dies ein Ausrutscher war und wir dann vielleicht einen Start haben. Das wenigstens, was wir bisher gehört haben, war weder die Lage, in der sich Deutschland und die Deutschen befinden, noch war es die verpflichtende Absichtserklärung einer neuen Regierung, noch war dies ein neuer Anfang. Dies war einfach zu wenig. Mit einer solchen — verzeihen Sie — Schludrigkeit käme keiner unserer Mitbürger in seinem Berufsleben durch.