Gesamtes Protokol
Ich eröffne die Sitzung.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die vorliegende Tagesordnung erweitert um:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes vom 22. Juni 1954 über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Abkommen über die Vorrechte und Befreiungen der Sonderorganisationen der Vereinten Nationen vom 21. November 1947 und über die Gewährung von Vorrechten und Befreiungen an andere zwischenstaatliche Organisationen ;
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (Drucksache IV/1776).
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Assozilerungsabkommen vom 12. September 1963 zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei sowie zu den mit diesem Abkommen in Zusammenhang stehenden Abkommen .
Das Haus ist damit einverstanden; es ist so beschlossen.
Wir kommen dann zum ersten Tagesordnungspunkt,
Fragestunde
und zwar zunächst zu den Fragen aus ,dem Geschäftsbereich des Bundesministers für das Postnud Fernmeldewesen.
Die Frage IX/1 — des Herrn Abgeordneten Weigel — ist zurückgezogen.
Ich rufe die Frage IX/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Emmert — auf:
Wird der Herr Bundespostminister darauf hinwirken, daß die Versorgung der Pfalz, insbesondere der Westpfalz, mit dem 2. Fernsehprogramm in der Weise verbessert wird, wie es im Saarland bereits der Fall ist?
Bitte sehr, Herr Minister.
Im Regierungsbezirk Pfalz wird die Fernsehversorgung — ähnlich wie im Saarland — dadurch erschwert, daß drei Viertel der Fläche gebirgig ist. Von den Fernsehsendern Donnersberg, Kaiserslautern, Heidelberg und Baden-Baden wird zur Zeit weit über die Hälfte der Bevölkerung in diesem Gebiet mit dem zweiten Programm versorgt. Für die Orte Zweibrücken, Waldfischbach, Kusel, Lambrecht und Elmstein liegen bereits Vorschläge der Oberpostdirektion Neustadt an der Weinstraße für die Errichtung von Fernsehfrequenzumsetzern vor; deren Planung konnte aber bisher noch nicht abgeschlossen werden. Bei der Errichtung dieser Anlagen werden zunächst die Bevölkerungsschwerpunkte berücksichtigt werden.
Die Errichtung von Fernsehfrequenzumsetzern im Saarland mußte vorgezogen werden, weil die Versorgung im Saarland weit geringer war als im Regierungsbezirk Pfalz.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, wieviel Umsetzer für die Verbreitung des zweiten Fernsehprogramms wurden im Jahre 1963 im Saarland und wieviel wurden in der Pfalz, insbesondere in der Westpfalz, in Betrieb gesetzt?
Herr Kollege, die Zahlen habe ich im einzelnen nicht im Kopf. Ich bin gern bereit; Ihnen das schriftlich mitzuteilen. Es ist eine rein statistische Angabe.
Aber ist es nicht so, Herr Minister, daß die Zahl der Umsetzer im Saarland aller Voraussicht nach viel größer war und daß darin eine Benachteiligung der Bevölkerung in der Pfalz zu erblicken ist?
Die Zahl der Umsetzer besagt noch nichts über die Ausstrahlung und die Bestrahlung der Fernsehgeräte durch diese Sender. Die Antwort auf die Frage ergibt sich topographisch. Ein Umsetzer kann einen großen Bevölkerungsteil erfassen, er kann aber auch einen kleineren erfassen. Es kommt ganz darauf an, wie groß, wie stark er ist
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4826 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Bundesminister Stücklenund an welchem Platz er steht. Ich werde Ihnen das gern mitteilen. Eine Benachteiligung der Pfalz ist in gar keinem Falle vorhanden.
Bitte, Herr Abgeordneter, zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, wann ist mit einer Beendigung der Planung zu rechnen?
Das ist nicht abzusehen; denn manchmal ist es nötig, zur Versorgung schwieriger Gebiete zwei oder drei andere Umsetzer aufzustellen. Das kann man heute noch gar nicht sagen.
Ich rufe die Frage IX/3 — des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Emmert auf:
Kann den Rentnern die Entgegennahme ihrer Renten dadurch erleichtert werden, daß mehr Auszahlungstage eingeführt und in den Schalterräumen auch mehr Sitzgelegenheiten geschaffen werden, da die unbare Auszahlung prozentual noch nicht sehr ins Gewicht fällt?
Die Deutsche Bundespost ist dauernd bemüht, die Rentenauszahlung für die Rentner zu erleichtern. Die unbare Zahlung wird gefördert. Die Zahl der Hauptzahltage ist bereits auf vier erhöht worden. Darüber hinaus sind die Postämter angewiesen worden, ein bis zwei weitere Zahltage einzurichten, wenn hierfür ein Bedürfnis vorliegt. Da bisher von dieser Ermächtigung nur für 10 v. H. der Rentenzahlfälle Gebrauch gemacht wurde, kann kein echtes Bedürfnis für die allgemeine Vermehrung der Zahltage vorliegen. Einer solchen widersprechen auch die Versicherungsträger, schon um den Zinsverlust und die Fälle der Überzahlungen in erträglichen Grenzen zu halten; das betrifft die Fälle, in denen die Rentner den Fälligkeitstag der im voraus empfangenen Rente nicht mehr erleben.
Selbstverständlich sind die Postämter angewiesen, für ausreichende Sitzgelegenheiten in den Rentenzahlräumen zu sorgen. Die Rentenzahlung ist soweit wie möglich organisiert. Sie wird für jeden Empfänger auf einen bestimmten Tag und eine bestimmte Stunde angesetzt, so daß Ansammlungen der Empfänger mit Sicherheit vermieden würden, wenn die Rentner in ihrer Gesamtheit die Zahlzeit beachteten. Leider ist dies nicht der Fall. Vielleicht lassen sich die Rentner durch Witterungseinflüsse von der Empfangnahme zur festgesetzten Zeit abhalten.
Eine Zusatzfrage!
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß die Zahl der Sitzgelegenheiten in den Postämtern denkbar gering ist, so daß die Mehrzahl der Rentner — die ja meist sehr alt und krank sind — gar nicht die Möglichkeit hat, sich während der Zeit der Auszahlung zu setzen?
Daß sie sich während der Auszahlung
setzen, ist wahrscheinlich gar nicht möglich. Denn das ist eine Augenblicksangelegenheit, wenn der Betreffende am Schalter zur Auszahlung an der Reihe ist. Sie meinen sicherlich die Wartezeit, bis der Betreffende mit der Auszahlung an die Reihe kommt. Hier besteht die generelle Weisung, daß für ausreichende Sitzgelegenheit zu sorgen ist. Wenn Sie ein oder mehrere Postämter kennen, wo das nicht der Fall ist und ein Bedürfnis nach Sitzgelegenheiten besteht, dann teilen Sie mir das bitte mit. Ich werde dann nach dem Rechten sehen.
Ich werde das gern tun, Herr Minister.
Eine weitere Zusatzfrage!
Herr Minister, ist es nicht möglich, den alten Rentnern die Renten ins Haus überweisen zu lassen?
Herr Kollege Cramer, wir haben diese Möglichkeit geschaffen für Rentner, die gehbehindert oder krank sind oder die ein bestimmtes Alter — ich glaube 70 oder 72 Jahre — überschritten haben. Aber wenn wir die gesamten Renten ins Haus zustellen ließen, dann würde das nicht nur einen ungeheuer finanziellen Aufwand erfordern, sondern auch viele tausend zusätzliche Geldzusteller, die, wie Sie wissen, im Augenblick einfach nicht vorhanden wären. Zum andern wünscht der überwiegende Teil der Rentner gar nicht, daß das Geld ins Haus zugestellt wird, weil sie sich bei den Auszahlungen mit ihren Freunden und Bekannten treffen und hier ganz gern einen Plausch machen. Das ist die Erfahrung, die wir haben.
Herr Abgeordneter Dr. Müller-Emmert zu seiner zweiten Zusatzfrage!
Herr Minister, welche Maßnahmen sind seitens Ihres Ministeriums vorgesehen, um die Rentner dafür zu gewinnen, daß sie in Zukunft viel mehr als bisher von der Möglichkeit der unbaren Auszahlung Gebrauch machen?
Wir haben für die bargeldlose Auszahlung der Renten geworben und werden es weiterhin tun. Mehr als werben können wir nicht. Die Lage ist so: Ein Rentner, der früher schon bargeldlosen Zahlungsverkehr gepflogen hat, ist eher bereit, sich die Rente auf ein Konto — Bankgirokonto, Postscheckkonto usw. — überweisen zu lassen. Wer dagegen nie mit bargeldloser Zahlung zu tun hatte, ist auch nicht bereit, sich im hohen Alter darauf einzustellen. Aber wir werben für diese bargeldlose Auszahlung, denn sie liegt ganz in unserem Sinne.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Fritsch.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4827
Herr Minister, welche konkreten Maßnahmen sind ins Auge gefaßt, um diese unbare Zahlungsweise zu fördern? Dabei wäre zu bemerken, daß eine gewisse Kompliziertheit des unbaren Zahlungsverkehrs sicherlich manchen Rentenempfänger abhält, davon Gebrauch zu machen. Wären Sie aber nicht der Meinung, daß man z. B. die Praxis einiger Landesversorgungsämter übernehmen sollte, die in einer leicht faßlichen Form den Rentenempfängern die unbare Zahlungsweise nahelegen und darauf hinweisen, daß sowohl der Rententräger als auch die Bundespost bereit wären, dem einzelnen hier beratend und unterstützend zur Seite zu stehen?
Ja, auch wir stehen selbstverständlich beratend und unterstützend zur Verfügung. Wir werden auch wieder mit einer Broschüre an die Rentner herantreten und sie bitten, auch für sich von dieser Möglichkeit der bargeldlosen Überweisung Gebrauch zu machen.
Eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Fritsch.
Herr Minister, bis wann könnte mit der Herausgabe dieser Broschüre gerechnet werden?
Ich möchte mich nicht auf einen Termin festlegen; Sie können sich aber darauf verlassen, daß es unverzüglich geschieht.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Büttner.
Herr Minister, sind Sie bereit, diese Werbemaßnahme für den unbaren Zahlungsverkehr gemeinschaftlich mit den Sparkassen- und Bankverbänden durchzuführen? Ich glaube, daß es wesentlich dazu beitragen würde, die Rentner zu veranlassen, der unbaren Überweisung zuzustimmen, wenn die Erleichterungen bekanntgegeben würden.
Sie wissen ja, daß ich selbst Chef einer Girokasse bin — sie heißt bei uns Postscheckdienst —, und Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich meine Werbung in erster Linie auf den eigenen bargeldlosen Zahlungsverkehr richte. Ich vermute, daß Sie mir da zustimmen werden.
Eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Büttner.
Wenn ich dieser Auffassung auch zuzustimmen vermag, dann wäre es nach meinem Dafürhalten doch gut, wenn die Werbung gemeinschaftlich mit den Sparkassenverbänden geschähe, weil das für die Rentner, die sehr oft die Sparkasse näher haben, eine Erleichterung darstellen würde.
Ja, Fragezeichen! Ich bin Herrn Kollegen Rasner sehr dankbar dafür, daß er das Fragezeichen gesetzt hat. Denn in der Regel gibt es überall Postanstalten, während es Filialen oder Hauptstellen der Sparkassen nicht so häufig gibt. Aber ich will auch das gern überlegen. Ich bin keinesfalls etwa wegen der Konkurrenzverhältnisse nicht bereit, auch hier einen vernünftigen Weg einzuschlagen.
Herr Abgeordneter Dürr zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, halten Sie diese Werbung für die Abwicklung unbarer Rentenüberweisungen über den Postscheckverkehr für besonders attraktiv, nachdem der Postscheckverkehr vielleicht doch mehr für häufige Überweisungen im Geschäftsverkehr gedacht ist und deshalb einen „Zinssatz" hat, der nicht gerade als hoch bezeichnet werden kann?
Herr Kollege Dürr, der Postscheckdienst hat keinen Zinssatz; die Gelder auf den Postscheckkonten werden nicht verzinst, im Gegensatz zu den Geldern bei der Postsparkasse, die ja etwa so verzinst werden wie bei allen anderen Geldinstituten. Das ist also eine Frage, die rein von der Praxis, von der Zweckmäßigkeit her geprüft werden muß. Sie dürfen versichert sein, daß ich hier den vernünftigen Weg einschlagen werde.
Ich rufe auf die Frage IX/4 — des Abgeordneten Dr. Kübler —:Wieviel Telegramme gehen jährlich verloren, für die durch Absender oder Empfänger Schadenersatzforderungen an die Deutsche Bundespost gestellt werden?Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Herrn Bundesministers Stücklen vom 7. Januar 1964 lautet:In wieviel Fällen Schadenersatzforderungen im Zusammenhang mit verlorengegangenen Telegrammen jährlich gestellt werden, könnte nur durch sehr langwierige Ermittlungen bei sämtlichen Ämtern der Deutschen Bundespost festgestellt werden, wobei sämtliche Beschwerdeunterlagen einzeln durchgegangen werden müßten. Die Zahl aller in der Bundesrepublik verlorengegangenen Telegramme beträgt jährlich etwa 0,005 Prozent bei einer Gesamtzahl von rd. 33 Millionen übermittelter Telegramme. Eine Haftpflicht könnte aber nicht auf diese Verlustfälle beschränkt werden; sie müßte auch die Fälle der Entstellung, Verzögerung und andere Unregelmäßigkeiten umfassen und würde sich dadurch vervielfachen.Ich rufe auf die Frage IX/5 — des Abgeordneten Dr. Kübler —:Glaubt die Deutsche Bundespost, die Haftpflicht für nichtübermittelte Telegramme nach der Telegraphenordnung vom 30. Juni 1926 unter Ausschluß des BGB noch ablehnen zu können?Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Herrn Bundesministers Stücklen vom 7. Januar 1964 lautet:Der Haftungsauschluß bei der Telegraphenbenutzung ist in der Telegraphenordnung niedergelegt und in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt. Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 14. 1. 1954 die Zulässigkeit des Haftungsausschlusses nach § 29 der Telegraphenordnung ausdrücklich bejaht und ausgeführt:„Der schnelle Abwicklung erfordernde Massenbetrieb der Post,die Notwendigkeit, delen Leistungsfähigkeit zu erhalten, und
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4828 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Vizepräsident Dr. Dehlerdas Bestreben, ihre Gebühren im Interesse der Öffentlichkeit so niedrig wie möglich zu bemessen und deshalb kostspielige Überwachungs- und Versicherungsmaßnahmen zu vermeiden, rechtfertigen auch unter der Geltung des Grundgesetzes die Beibehaltung des in Rede stehenden Haftungsausschlusses."Auch die Fernmeldeverwaltungen anderer Länder kennen grundsätzlich keine Haftpflicht fur Versehen bei der Abwicklung des Telegraphendienstes. Der in der deutschen Telegraphenordnung festgelegte Grundsatz der Nichthaftung entspricht Art. 33 des Internationalen Fernmeldevertrages.Die Bundespost bietet das Optimum der Notwendigkeiten Schnelligkeit, Sicherheit und Billigkeit. Wenn dazu noch gehaftet werden soll, müssen die Gebühren entsprechend erhöht und die Sicherungsmaßnahmen vermehrt werden. Letzteres ginge wieder auf Kosten der Schnelligkeit.Im übrigen steht es dem Absender frei, durch Aufgabe eines Telegramms mit Empfangsanzeige" sich Tag und Stunde der Zustellung angeben zu lassen und dadurch die Ankunft unbedingt sicherzustellen.Die Deutsche Bundespost glaubt daher, eine Haftung für Versehen im Telegraphendienst nicht nur weiter ablehnen zu können, sondern im Interesse der Allgemeinheit ablehnen zu müssen.
Wir kommen dann zu den Fragen I und II — des Herrn Abgeordneten Kubitza — auf der Drucksache 1812:
Welche Gründe sind für das Bundespostministerium maßgebend gewesen, die früher fünf zulässigen Wörter bei gedruckten Glückwunschkarten auf zwei zu reduzieren?
Was hat das Bundespostministerium veranlaßt, die neuerdings nur zwei zugelassenen Wörter bei gedruckten Glückwunschkarten auch noch vorzuschreiben?
Die verbilligte Versandart „Drucksache" ist für die Verbreitung gedruckter, gleichlautender Mitteilungen an eine Vielzahl von Empfängern bestimmt. Nur für diese Zwecke ist die Drucksache gegenüber dem Brief in ,den Gebühren erheblich ermäßigt worden.
Durch zeitbedingte Umstände entfernte sich die Drucksache in den letzten Jahrzehnten aber mehr und mehr von diesem eigentlichen Versandzweck. Je nach Zeit- und Wirtschaftslage wurde die Post gezwungen, mal diesen und mal jenen Teil des Grundsatzes aufzugeben, daß die Drucksache ein Massenkommunikationsmittel für kulturelle Zwecke und ein billiges Werbemittel ist.
Das Zugeständnis, das Änderungen und Nachtragungen bis zu fünf Wörtern zuließ, war nur mit der Einschränkung tragbar, daß die Zusätze in leicht erkennbarem sachlichem Zusammenhang mit der gedruckten Mitteilung ständen.
Dieses und zahlreiche andere Zugeständnisse machten es notwendig, praktisch bei jeder Drucksache nachzuprüfen, ob der Inhalt den Vorschriften für diese Sendungsart entsprach. Außerdem war Folge ,der überaus vielgestaltigen und schwer zu handhabenden Vorschriften über zulässige Nachtragungen, daß die Drucksachenbestimmungen nur noch von wenigen Spezialisten beherrscht werden konnten. Das wiederum hatte zur Folge, daß vorschriftswidrige Drucksachen in beachtlicher Menge unbeanstandet versandt wurden und dadurch erhebliche Gebührenverluste eintraten.
Die Drucksache mußte wieder ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt werden, nämlich Träger gleichlautender vervielfältigter Mitteilungen an einen großen Kreis von Empfängern zu sein. Die Gebührenprüfung mußte radikal vereinfacht werden. Das war nur dadurch zu erreichen, daß hand- oder maschinenschriftliche Ergänzungen des gedruckten Wortlauts überhaupt ausgeschlossen wurden. Dies ist durch die Verordnung vom 22. Januar 1963 mit Wirkung vom 1. März 1963 geschehen. Es bleibt auch weiterhin zulässig, die iinnere Aufschrift und die Absenderangabe — Unterschrift — hand- oder maschinenschriftlich nachzutragen. Weitere Nachtragungen sind weder zulässig noch etwa gar im Wortlaut vorgeschrieben.
Damit auch nicht ein kleines Wörtchen wie z. B. „Dein", das ja jetzt bei den Weihnachtsglückwünschen eine große Rolle gespielt hat, den Anfang für eine Entwicklung geben kann, die unweigerlich wieder zu dem Zustand hinführen muß, der mit der Bereinigung der Drucksachenbestimmungen beseitigt worden ist, muß auch ihm der Zugang zur Drucksache verwehrt bleiben. Am Ende stünde sonst die Notwendigkeit, in absehbarer Zeit die gleiche Reform zu wiederholen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, sind Sie wirklich der Auffassung, daß diese Reduzierungen, insbesondere bei Weihnachtsglückwunschkarten oder Osterwünschen, eine Arbeitserleichterung oder Einsparung für die Bundespost bedeuten?
Vom Gewicht her sicherlich nicht; denn ob „Dein", „mein" oder „Ihr getreuer", „liebender" usw. daraufsteht, ist bei der Beförderung völlig gleichgültig.
Wenn ich aber die Drucksache als Massensendung, als das, wozu sie geschaffen worden ist, behandeln und kontrollieren will, kann ich nicht Zugeständnisse in dieser Richtung machen; denn wenn ich fünf Worte oder zwei oder drei Worte mehr zulasse, muß ich das überprüfen und zählen, und dafür haben wir bei diesem Massenverkehr, insbesondere bei diesem begünstigten Tarif für Drucksachen, eben keine Zeit.
Herr Minister, wollen Sie ernsthaft prüfen, ob Sie nicht wenigstens die persönlichen Fürwörter zulassen können und den Bürger nicht in der Weise gängeln, daß Sie ihm vorschreiben, nur mit dem vollen Namen zu unterschreiben?
Herr Kollege, ich schreibe dem Bürger gar nichts vor! Der Bürger kann selbstverständlich alle Zusätze schreiben, die er machen will; er kann eine ganze Seite Zusatz machen; nur nicht als Drucksache; er muß sie dann als Brief versenden, und ich glaube, Herr Kollege, daß es viel persönlicher und würdiger wäre, wenn man solche Wünsche zum Geburtstag oder zu Weihnachten oder zu Ostern und Pfingsten nicht mit „Drucksache" bezeichnen, sondern als einen persönlichen Gruß senden würde. Lieber weniger solcher persönlicher Grüße, aber in
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4829
Bundesminister Stücklenentsprechender Briefform, als eine Menge von Drucksachen, die bei den Empfängern den Eindruck unpersönlicher Routinewünsche hinterlassen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schwabe!
Herr Minister, welche Erfahrungen haben Sie denn in diesem Zusammenhang mit der Briefdrucksache gemacht?
Wir haben die besten Erfahrungen gemacht. Die Briefdrucksache hat sich ausgezeichnet bewährt. Sie gibt die Möglichkeit, Massensendungen auch mit persönlichen Zusätzen zu versehen, und vor allem — Herr Kollege, das ist ganz besonders begrüßt worden — läuft die Briefdrucksache so schnell wie der Brief. Die Drucksachen dagegen werden erst in Drucksachenverteilstellen gesammelt und danach sortiert, wenn wir das zeitlich, arbeitsmäßig und auch verkehrsmäßig verkraften. Das ist bei der Briefdrucksache nicht so, und deshalb kann ich Ihnen nur sagen, daß sich die Briefdrucksache hervorragend bewährt und eingeführt hat.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schwabe!
Wird aber, Herr Minister, die notwendige Kontrolle der Briefdrucksache auf die Tatsache hin, ob die vielen Worte, die man hinzusetzen kann, auch nicht überzogen sind, nicht in eine irgendwie gefährliche Nähe der Briefkontrolle überhaupt kommen? Das frage ich aus eigenem Erleben!
Herr Kollege, die Briefe, die nicht verschlossen sind — und die Briefdrucksache ist nicht verschlossen —, fallen in diesem Zusammenhang ohne weiteres unter die postalische Kontrolle. Da unsere Beamten auf das Post- und Briefgeheimnis vereidigt sind, wird hier eine Verletzung — und mir ist auch kein einziger Fall bekannt — nicht in Betracht kommen.
Herr Abgeordneter Sänger, eine Zusatzfrage!
Herr Minister, nach wiederholt gemachten Erfahrungen auf Postanstalten darf ich fragen: Ist es richtig daß gedruckte oder vervielfältigte Sendungen, die ins Ausland gehen, nach wie vor mit fünf Wörtern versehen werden können, während sie, wenn sie im Inland versandt werden, als Briefdrucksachen gelten?
Die Drucksachenbestimmung ist einheitlich.
Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.
Frage X/1 — des Herrn Abgeordneten Strohmayr —:
Wie hoch ist die Zahl der noch in Wohnlagern untergebrachten Familien und Einzelpersonen?
Bitte, Herr Minister!
Herr Präsident, lassen Sie mich bitte die Antwort auf die drei Fragen des Herrn Abgeordneten Strohmayr zusammenfassen.
Dann rufe ich auch die Fragen X/2 und X/3 — des Herrn Abgeordneten Strohmayr — auf:
Wie hoch ist der Anteil der Lagerbewohner, die schon seit mehr als einem Jahr in den Lagern leben?
Wie hoch ist der Anteil der über 60 Jahre alten Menschen in den Wohnlagern?
Wohnlager im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es nicht mehr. Es bestehen nur noch Reste ehemaliger Lager, die seinerzeit mit Bundesmitteln winterfest gemacht worden sind. Ihre Insassen genießen keine Gemeinschaftsbetreuung. Sie leben und wirtschaften individuell als Familien oder Einzelpersonen.Am. 1. Januar 1960 wurden auf Veranlassung der Bundesregierung diese Lagerreste,. soweit sie überwiegend mit Vertriebenen und Flüchtlingen belegt waren, erfaßt. Es wurden insgesamt 2281 solche Lagerreste mit 142 602 Bewohnern gezählt. Unter ihnen befanden sich 102 262 Vertriebene, 5806 Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone, 1665 nichtdeutsche Flüchtlinge, 4535 Evakuierte sowie 28 334 sonstige Personen.Für die wohnraummäßige Versorgung der Insassen, die Vertriebene, deutsche oder nichtdeutsche Flüchtlinge bzw. Evakuierte sind, hat die Bundesregierung bis Ende 1963 in vier Jahresraten insgesamt 219,3 Millionen DM als Darlehen und weitere 70 Millionen DM Aufbaudarlehen aus dem Lastenausgleich verfügbar gemacht.Die Länder haben die Verpflichtung übernommen, die rund 28 000 sonstigen Personen — ausgeklagte Mieter, Obdachlose usw. — aus eigenen Mitteln unterzubringen.Mit diesen Mitteln und Landesmitteln konnten bisher rund 68 000 Personen angemessen mit Wohnraum versorgt werden.Gegenwärtig befinden sich noch rund 74 000 Personen in rund 25 000 Ein- und Mehrpersonenhaushaltungen in den genannten Lagerresten. Sämtliche wohnen in ihnen länger als ein Jahr; fast 21 % sind älter als 60 Jahre.Das Lagerauflösungsprogramm befindet sich mitten in der Durchführung. Es wird bis Ende 1965 durchgeführt sein. Gegenwartsnahe genauere Zahlen können nicht genannt werden.
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4830 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Keine Zusatzfrage. Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Wir kommen nun zu den Fragen auf Drucksache IV/1806, zunächst zu der Frage des Herrn Abgeordneten Fritsch zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern:
Beabsichtigt die Bundesregierung, ein Grabmal des Unbekannten Soldaten zu errichten?
Bitte sehr, Herr Minister!
Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, ein Grabmal des Unbekannten Soldaten zu errichten. Jedoch unterstützt sie ideell und materiell mit Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestages eine Planung der Universität Bonn für die Errichtung eines Ehrenmals für die „Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft". Dieses Ehrenmal soll auf universitätseigenem Gelände vor dem Akademischen Kunstmuseum im Hofgarten in Bonn errichtet werden. Mit seiner Fertigstellung ist im Sommer dieses Jahres zu rechnen.
Herr Abgeordneter Fritsch, keine Zusatzfrage? — Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Ich rufe dann auf die Frage des Herrn Abgeordneten Fritsch aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen:
Wann ist mit der Vorlage eines Gesetzes über den Grenzaufsichtsdienst zu rechnen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Überlegungen und Besprechungen über ein Gesetz für den Zollgrenzdienst sind im Bundesfinanzministerium noch nicht abgeschlossen. Außerdem ist bisher weder mit den zuständigen Gewerkschaften Fühlung genommen noch ist die Sache an den Herrn Bundesminister des Innern herangetragen worden. Im gegenwärtigen Zeitpunkt kann deshalb noch nicht übersehen werden, wann ein Gesetzentwurf dem Hohen Hause vorgelegt werden wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fritsch!
Herr Staatssekretär, bleibt gewährleistet, daß die Gewerkschaften rechtzeitig von diesem Gesetzentwurf Kenntnis erhalten, damit sie dann bei der Beratung mitwirken können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Frage kann ich eindeutig bejahen. Die ersten inoffiziellen Fühlungnahmen sind bereits erfolgt. In den nächsten Wochen wird der Gesetzentwurf mit den Gewerkschaften erörtert werden.
Noch eine Frage, Herr Abgeordneter Fritsch!
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß bereits die Absicht, einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, eine erhebliche Beunruhigung unter den betroffenen Beamten ausgelöst hat, so daß es sehr sinnvoll wäre, den Beteiligten alsbald konkrete Vorstellungen mitteilen zu lassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Tatsache ist mir sehr wohl bekannt. Die Zollverwaltung steht ja auch vor einem wirklichen Problem. Etwa ein Viertel der Beamten ist bisher an der Grenze beschäftigt. Infolge eines Strukturwandels der Zollverwaltung im letzten Jahrzehnt ist es leider nicht mehr möglich, die Beamten des mittleren Dienstes in vollem Umfang von der Grenze in den Innendienst zu übernehmen. Daß die betroffenen Beamten beunruhigt sind, weil gewisse Maßnahmen, etwa eine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand ähnlich wie beim Polizeivollzugsdienst, erwogen werden, ist sehr verständlich. Gerade deswegen ist auch mein Haus daran interessiert, möglichst schnell mit den Gewerkschaften und mit dem Bundesminister des Innern als dem zuständigen Beamtenressort Fühlung zu halten.
Herr Abgeordneter Lautenschlager, eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, kann sich der im Zollgrenzdienst betroffene Personenkreis, der noch vom Vorjahre her durch die Aufklärungsreisen eines höheren Ministerialbeamten über den angeblich bestimmt zu erwartenden Kombattantenstatus für den Zollgrenzdienst, neuerdings durch den Erlaß vom 13. September 1963 erheblich beunruhigt ist, frei entscheiden, ob er sich einer völligen Neugestaltung seiner Beamtenlaufbahn, mit der er bei seiner Einstellung nicht rechnen konnte, unterwerfen will oder nicht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gerade das ist ein Problem, das noch sehr eingehender Prüfung und Erörterung bedarf. Es geht letztlich um den Besitzstand derjenigen Beamten, die zu einem Zeitpunkt eingetreten sind, als sie mit einer solchen Änderung noch nicht rechnen konnten. Dieses Problem ist noch nicht abschließend erörtert.
Eine weitere Frage!
Ist bei den in Ihrem Ministerium schon vorhandenen Vorentwürfen die beim Polizeivollzugsdienst bestehende Besoldungsregelung hinsichtlich der Abfindung beim Ausscheiden im 60. Lebensjahr als Muster vorgesehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erwähnte, Herr Abgeordneter, daß uns eine Regelung entsprechend der beim Polizeivollzugsdienst vorschwebt. Deswegen haben wir auch in Erwägung gezogen, eine solche Abfindung gesetzlich zu normieren.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4831
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gscheidle.
Herr Staatssekretär, ist beabsichtigt, in das Gesetz über den Zollgrenzdienst auch den Grenzabfertigungsdienst und den Wasserzolldienst mit einzubeziehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, soweit sind die Erörterungen noch nicht gediehen.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe auf die Frage des Herrn Abgeordneten Cramer aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft:
Ist die Bundesregierung zur wohlwollenden Prüfung der Frage bereit, ob die Gemeinde Nordseebad Wangerooge wieder in das Förderungsprogramm für zentrale Orte aufgenommen werden kann? -
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Cramer, Sie fragen, ob die Bundesregierung bereit sei, die Wiederaufnahme der Insel Wangerooge in das Förderungsprogramm für zentrale Orte zu erwägen. Wangerooge hat zu keiner Zeit zum Entwicklungsprogramm für zentrale Orte gehört, und die Insel kommt nach ihrer Struktur und ihrer geographischen Lage für dieses Programm auch nicht in Frage.
Wahrscheinlich bezieht sich Ihre Frage auf das Förderungsprogramm für Bundesausbaugebiete, auf, wie es früher hieß, Sanierungsgebiete. Aus diesem Programm ist die Insel Wangerooge bei der Neuabgrenzung 1963 ausgeschieden. Leider sehe ich zur Zeit auch keine Möglichkeit, die Gemeinde in dieses Programm wieder hineinzunehmen.
Es sind objektive Kriterien geschaffen worden, die als Voraussetzung für die Einbeziehung in ein derartiges Programm gegeben sein müssen. Dazu gehören z. B. das Sozialprodukt oder die Abwanderungsquote. Die kleinste Gebietseinheit, die in dieses Förderungsprogramm einbezogen werden kann, ist der Landkreis. Wangerooge ist kein Landkreis, es gehört zum Landkreis Friesland. Der Landkreis Friesland erfüllt die Voraussetzungen — ich möchte fast sagen Gott sei Dank — nicht; er ist wirtschaftlich stärker.
Nun bringen solche Abgrenzungen immer Härten mit sich. Aber sowohl der Bund wie die Länder sind sich darüber im klaren, daß deswegen die hart betroffenen Gemeinden keineswegs aus jeglicher Förderung ausgeschlossen werden sollen. Zuständig für die Förderung bleiben dann nur die Länder oder die Kreise.
Da ich persönlich die Lage der Insel kenne und weiß, daß Wangerooge in das Förderungsprogramm für Bundesausbaugebiete nicht einbezogen ist, während die anderen Inseln einbezogen sind — das liegt aber an der jeweiligen Lage der Kreisgebiete —, möchte ich vorschlagen, Herr Kollege Cramer, daß
ich mich mit dem Land Niedersachsen in Verbindung setze und prüfe, welche Förderungsmaßnahmen für Wangerooge ergriffen werden können.
Eine Zusatzfrage?
Herr Minister, Sie hatten richtig vermutet: das Wort „wieder" gehört nicht hinein; wenn das Wort „wieder" gestrichen wird, bekommt die Sache einen anderen Sinn. Sie sind also bereit, über einen Antrag der Gemeinde oder des Nordseebades Wangerooge an den Kreis oder das Land mit den zuständigen Instanzen in wohlwollender Weise zu verhandeln?
Ja, Herr Cramer, mit dem Land Niedersachsen darüber zu sprechen, welche Möglichkeiten bestehen. Aber in das Programm für zentrale Orte kann Wangerooge nach den gegenwärtigen objektiven Maßstäben nicht einbezogen werden. Wir müssen einen anderen Weg suchen, und dazu bin ich bereit.
Keine weitere Frage? — Ich danke Ihnen, Herr Minister.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Ich rufe auf die Fragen IV/1, IV/2 und IV/3 — des Abgeordneten Glüsing —:Trifft es zu, daß die Erträge der Muschelfischereien in einigen westeuropäischen Ländern in den letzten Jahren stark zugenommen haben und daß demgegenüber an der Nordseeküste der Bundesrepublik die Ertragsmöglichkeiten der Musdielfischerei noch keineswegs ausgeschöpft worden sind?Trifft es zu, daß der Absatz der deutschen Muscheln durch ungenügende Entsandung der geernteten Muscheln, d. h. durch mindere Qualität gehemmt wird?Ist die Bundesregierung bereit, die deutsche Muschelfischerei bei der Überwindung der in Frage IV/2 genannten Qualitätsmängel durch eine Förderung von Entsandungsanlagen zu unterstützen, da es sich hier um die Schaffung von Existenzmöglichkeiten für Familienbetriebe handelt?Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Herrn Bundesministers Schwarz vom 3. Januar 1964 lautet:zu l.:Die Erträge der Muschelfischereien einiger westeuropäischer Länder, wie Frankreich und vor allem Spanien, haben in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen. In Spanien liegen die jährlichen Muschelerträge nunmehr bei rd. 80 000 t. Demgegenüber haben die jährlichen Erträge der deutschen Muschelfischerei, die im Durchschnitt der letzten fünf Jahre etwa 10 000 t betrugen, eine stagnierende Tendenz gezeigt. Trotz der starken Abhängigkeit der deutschen Muschelfischerei von witterungsbedingten Einflüssen besteht durchaus die Möglichkeit, eine Steigerung der Muschelproduktion zu erreichen.Zu 2.: Der Absatz der deutschen Muscheln wird insbesondere beim Export nach Frankreich durch eine mindere Qualität beeinträchtigt, die in erster Linie auf eine ungenügende Entsandung zurückzuführen ist. Die Ursache hierfür liegt darin, daß die erforderlichen Muschel-Spülanlagen fehlen. Eine Verbesserung der Qualität der Muscheln ist aber eine notwendige Voraussetzung für ein Steigerung des Muschelabsatzes und der Muschelproduktion.Zu 3.: Die Förderung der Muschelfischerei durch Schaffung von Entsandungsanlagen ist vor allem ein regionales Problem. Hierfür sind daher in erster Linie die Küstenländer zuständig. Gleichwohl bin ich wegen der möglichen Bedeutung dieser Frage für die Strukturverbesserung innerhalb der Kleinen Hochsee- und Küstenfischerei grundsätzlich bereit, mich an Entwicklungsmaßnahmen der Muschelfischerei aus den mir zur Verfügung stehenden Mitteln für die allgemeine Förderung der Fischerei zu beteiligen.
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4832 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Vizepräsident Dr. DehlerWir kommen dann zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Ich rufe auf die Frage V/1 — des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner —:Wie erklärt sich die Bundesregierung den Umstand, daß der Leiter des Flughafens München-Riem, Graf zu Castell, laut Bericht des Münchener Stadtrates Behringer in der Sitzung vom 6. November 1963 ihm persönlich erklärt habe, 80 % (nicht 40 Vol) aller Starts und Landungen könnten zur Entlastung der Bevölkerung nach Osten stattfinden, und bei einer fernmündlichen Rückfrage des Bundesverkehrsministers diese Erklärung widerrief?Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe. mich bemüht, die hier offenbar vorliegenden Mißverständnisse und Irrtümer zu klären, Herr Abgeordneter, und habe folgendes feststellen können. Es hat weder Graf zu Castell Herrn Stadtrat Behringer eine Erklärung zu diesem Problem gegeben, noch hat Herr Stadtrat Behringer in der Sitzung vom 6. Dezember 1963 erklärt, daß er eine solche Äußerung persönlich von Graf zu Castell bekommen habe.
Ich rufe auf Frage V/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner —:
Wie erklärt sich die Bundesregierung den Umstand, daß der Leiter des Flughafens München-Riem, Graf zu Castell, laut Bericht des Münchener Stadtrates Behringer in der Sitzung des Stadtrates vom 6. November 1963 ihm persönlich erklärt habe, die Entlastung der Bevölkerung durch Starts und Landungen in östlicher Richtung scheitere daran, daß die Fluggesellschaften sich weigern, diesen Kurs (den Ostkurs) zu fliegen, weil dies „etwas mehr Benzin koste", und hei einer fernmündlichen Anfrage des Bundesverkehrsministers diese Erklärung widerrief?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Erklärung in dem in der zweiten Frage angegebenen Sinne ist von Graf `zu Castell nicht abgegeben worden. Es könnte sein, daß in den Besprechungen mit Mitgliedern der Bezirksausschüsse eine diesbezügliche Frage an Graf zu Castell gerichtet worden ist. Diese Frage ist aber dann von ihm negativ beantwortet worden. Graf zu Castell hat im Gegenteil immer wieder betont, daß von den Luftverkehrsgesellschaften, wenn es sich um die Minderung des Fluglärms handelt, erfahrungsgemäß notwendigen Forderungen gegenüber Schwierigkeiten nicht bereitet werden. Die Luftverkehrsgesellschaften unterwerfen sich solchen Auflagen um so bereitwilliger, als sie daran interessiert sind, daß ihr Flugverkehr keine Einschränkungen erfährt.
Ich rufe auf die Frage V/3 — des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner —:
Ist die Bundesregierung bereit, nachzuforschen, welche Motive den Grafen zu Castell dazu bestimmt haben, seine früheren, in Fragen V/1, 2 geschilderten Erklärungen in so frappanter Weise zu widerrufen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie ich bereits erklärt habe, kann es sich nicht um. einen Widerruf gemachter Angaben, sondern lediglich um die Richtigstellung einer unklaren und irreführenden Berichterstattung handeln. Das ist hiermit geschehen.
Ich rufe auf die Frage V/4 — des Herrn Abgeordneten Dr. Ramminger —:
Wann gedenkt die Bundesregierung mit Osterreich Verhandlungen aufzunehmen über den Ort des Anschlusses der Autobahn Regensburg — Passau an die geplante österreichische Autobahn Linz — Passau?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In den bisherigen Besprechungen im Rahmen der besonderen Gruppe Deutschland—Österreich innerhalb der europäischen Verkehrsministerkonferenz haben die Vertreter der österreichischen Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, daß Österreich eine Autobahnverbindung von Linz nach Passau in der Rangfolge seiner Autobahnplanungen nicht als besonders vorrangig betrachtet. Ich bin jedoch gerne bereit, diese Frage in künftigen Besprechungen im Rahmen der Ministerkonferenz erneut anzuschneiden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Ramminger.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der Chef der Landesbaudirektion Oberösterreichs, Dr. Wenzl, im Dezember im Landtag die Erklärung abgegeben hat, daß Oberösterreich den Bau der Autobahn betreiben werde und daß. die österreichische Regierung bereit sei, in allernächster Zeit die Trassierung vorzunehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wird sich ja bei dieser Besprechung mit dem österreichischen Kollegen bei der nächsten Ministerkonferenz herausstellen.
Ich rufe auf die Frage V/5 — des Herrn Abgeordneten Dr. Ramminger —:
Ist der Bundesregierung bekanat, daß die oberösterreichischen Landesbehörden im Dezember 1963 eine Änderung der früheren Linienführung der Autobahn Linz — Passau befürwortet haben, wonach die Trasse südlicher verlegt und die Autobahn durch das Rainachtal und Otterbayertal geführt werden soll, so daß die bayerische Grenze zwischen Schärding und Vornbach erreicht wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist nichts Näheres darüber bekannt, Herr Abgeordneter, daß die oberösterreichischen Landesbehörden im Dezember 1963 eine Änderung der früheren Linienführung der Autobahn Linz—Passau befürwortet haben, wonach deren Trasse so geführt werden soll, daß die deutschösterreichische Grenze zwischen Schärding und Vornbach erreicht werde. Da die Überquerung des Inn im Zuge der Autobahntrasse früher bereits festgelegt war, sahen wir bisher keinen Grund, die alte Planung im Bereich des Grenzübergangs als gefährdet anzusehen. Ich bin aber bereit, bei weiteren Besprechungen im Rahmen der besonderen Gruppe der Ministerkonferenz diese Frage klären zu lassen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Fritsch.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4833
Herr Staatssekretär, wären Sie in diesem Zusamenhang bereit, eine personelle Verstärkung des Autobahnamtes München vorzunehmen, nachdem bisher in all diesen Fragen insbesondere der Trassierung der Autobahn Regensburg—Passau erklärt worden ist, daß sie nicht vorgenommen werden könne, weil personelle Engpässe beim Autobahnamt in München vorhanden seien?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich glaube nicht, daß die Vorbereitungsarbeiten für die deutsche Strecke im gegenwärtigen Zeitpunkt so vordringlich sind, daß zu diesem Zweck jetzt eine Verstärkung des Autobahnamtes München in, Frage kommen würde.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Fritsch.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es nicht nur ein österreichisches, sondern vorwiegend ein ostbayerisches Problem ist, das hier zu lösen ist bei der Frage, wann die Trassierung der Autobahn vorgenommen wird und wann mit dem Beginn des Baues der. Autobahn gerechnet werden kann? Ich habe bereits wiederholt in der Fragestunde darauf hingewiesen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich, Herr Abgeordneter. Zu diesem Zweck haben wir die bereits genannte besondere Gruppe im. Rahmen der europäischen Verkehrsministerkonferenz, die von Osterreich und Deutschland besetzt ist.
Ich rufe auf die Frage V/6 — des Abgeordneten Dr. Ramminger — :
Ist die Bundesregierung bereit, die Trasse der Autobahn Regensburg — Passau so zu planen, daß die Stadt Passau nicht viele Kilometer südlich Richtung Schürding umgangen wird, sondern die geplante Autobahn bis an den südlichen Stadtrand von Passau herangeführt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nach der alten Planung sollte die Autobahn etwa 2 km südlich von Passau den Inn überqueren. Sollten künftige Verhandlungen mit Österreich dazu zwingen, nach anderen Lösungsmöglichkeiten zu suchen, so wird selbstverständlich dafür Sorge ,getragen werden, daß Passau so verkehrsgünstig wie möglich angeschlossen wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Ramminger.
Ist Ihnen bekannt, Herr Staatssekretär, daß durch die alte Trassierung der Autobahn von 1939 im Raum Passau und an vielen anderen Orten an dieser Linie der Grundstückskauf und die Grundstücksverwertung zu Bauten bis heute, also seit 25 Jahren, behindert oder unmöglich ist, so daß man notwendigerweise die Trassierung beschleunigt vornehmen sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist natürlich sehr unangenehm, daß die Eigentümer in ihren Rechten so lange und so stark beschränkt werden. Ich habe bereits zwei- oder dreimal versichert, daß wir dieses Gespräch mit der österreichischen Verwaltung bei der nächsten Gelegenheit wieder aufnehmen wollen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fritsch!
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Trassierung der Autobahn im Donautal auf erhebliche grundstücksmäßige Schwierigkeiten stößt, so daß zu fragen ist, ob man nicht bereit wäre, die Autobahn im Bayerischen Wald etwa auf der Linie Cham—Regen—Freyung bis nach Passau zu führen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist eine Frage, die nicht unmittelbar mit der hier gestellten Frage betreffend die Autobahn Regensburg—Passau zusammenhängt. Ich will aber diese Ihre Frage aufgreifen und schriftlich beantworten.
Wir kommen dann zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf Drucksache IV/1812, zunächst zur Frage II/1 des Abgeordneten Dr. Pohlenz —:
Glaubt das Bundesverkehrsministerium die Freigabe des nur auf drei km fertigen, 13,5 km langen Teilstücks Wesel-Hamminkeln der Holland-Autobahn vertreten zu können, obwohl an der Strecke bei günstigstem Wetter noch 6 bis 8 Wochen gebaut werden muß, also für diese Zeit ein Baustellen-Engpaß auf Dreiviertel der Strecke besteht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es bestanden und bestehen weiterhin keine Bedenken, die 13,5 km lange Teilstrecke Wesel—Hamminkeln ab 18. Dezember 1963 in dem bis dahin erreichten Ausbauzustand unter Verkehr zu nehmen und die Restarbeiten auf der westlichen Richtungsfahrbahn unter Teilsperrung der Autobahn durchzuführen. Bei den Restarbeiten, die seit dem 3. Januar 1964 in vollem Umfange weitergeführt werden, handelt es sich hauptsächlich um den Bau der Standspur auf 5 km Länge und um das Einbringen des Gußasphalts auf 10 km Länge. Bei der jetzigen Wetterlage wird der Gußasphalt Anfang Februar eingebracht sein. Die Verkehrsführung auf der östlichen Richtungsfahrbahn hat zu keinerlei Behinderungen oder Unfällen geführt. Nach Mitteilung des zuständigen Autobahnamts ist der Verkehr bislang noch außerordentlich schwach.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Pohlenz!
Herr Staatssekretär, widerspricht nicht diese überhastete Autobahnfreigabe ganz der Auffassung des Bundesverkehrsministeriums, das bisher die Freigabe von unfertigen Autobahnteilstrecken abgelehnt hat?
Metadaten/Kopzeile:
4834 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Verkehrsministerium wird auch weiterhin die Freigabe von unfertigen Autobahnstrecken ablehnen, wenn damit Gefahren für die Abwicklung des Verkehrs verbunden sein sollten. In vorliegendem Fall hat es aber der Ausbauzustand und die verhältnismäßig sehr geringe Dichte des Verkehrs ermöglicht, den Verkehr auf dieser auch dem internationalen Verkehr dienenden Straße jetzt freizugeben.
Frage II/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Pohlenz —:
Ist dem Bundesverkehrsministerium bekannt, daß der Verkehr zwischen der Autobahnabfahrt Hamminkeln und der weiter zum fertigen Autobahnabschnitt Emmerich-Arnheim führenden Bundesstraße 8 über eine zum Zubringer ausgebaute Landstraße 1. Ordnung geleitet werden muß, an der zwar die Fahrbahn fristgerecht fertiggestellt wurde, nicht aber die Geh- und Radwege, die für 260 Kinder auf ihrem Schulweg unbedingt erforderlich sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nördliche Rad- und Fußweg im Bereich der Ortsdurchfahrt Meerhoog im Zuge der Landstraße 466 wurde am 8. Januar dieses Jahres fertiggestellt. Die Fertigstellung des südlichen Rad- und Fußweges ist von dem Abschluß der gemeindeseitig durchgeführten 'Kanalisationsarbeiten abhängig. Für die Schulkinder besteht nach Fertigstellung des nördlichen Rad- und Fußweges keine Gefahr mehr, zumal vom Landkreis Rees drei Polizeibeamte zum Geleit der Schulkinder abgestellt worden sind und nach Aufstellen einer Signalanlage das Überqueren der Fahrbahn sicher erfolgen kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Pohlenz.
Sind es bindende Verpflichtungen aus dem mit Holland abgeschlossenen Staatsvertrag, die den Grund dafür bilden, daß diese Freigabe der unfertigen Autobahn und insbesondere des Zubringers erfolgt ist, was schon zu einem schweren Verkehrsunfall in Meerhoog geführt hat und die Elternschaft veranlaßt hat, ihre Kinder in Meerhoog eine Zeitlang nicht zur Schule zu schicken?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Von bindenden Verpflichtungen ist mir nichts bekannt. Ich erinnere mich nur, daß in den Verhandlungen, die vor einigen Jahren stattgefunden haberl, die Einhaltung eines bestimmten Termins nicht in Aussicht gestellt, aber als möglich dargestellt worden ist. Also, eine Verpflichtung liegt nicht vor.
Was die von Ihnen genannten Beschwerden der Eltern anbelangt, so scheinen diese Befürchtungen der Eltern wohl inzwischen behoben zu sein; denn nach einem Bericht, der mir vorliegt, haben sich die Eltern auf einer Elternversammlung am 7. Januar dieses Jahres mit einer überwiegenden Mehrheit gegen irgendwelche Streik- oder sonstige Demonstrationsmaßnahmen ausgesprochen.
Eine weitere Frage, Herr Dr. Pohlenz.
Herr Staatssekretär, ist dem Ministerium bekannt. daß ein solcher Schulstreik schon einmal wegen der vorzeitigen Freigabe dieses Zubringers stattgefunden hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist mir nicht bekannt. Ich kenne nur den Bericht über diese Sitzung vom 7. Januar.
Ich rufe auf die Frage II/3 der Drucksache IV/1812 — des Herrn Abgeordneten Büttner —:
Hat die Bundesregierung die Absicht, eine Änderung oder Ergänzung der Straßenverkehrs-Ordnung einzuleiten, durch die das Ausschließlichkeitsprinzip des § 45 StVO dahin gehend eingeschränkt wird, daß bei dringendem Bedart landes- oder ortsrechtliche Maßnahmen gegen Dauerparken oder Lärmbelästigung zulässig werden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
ln Übereinstimmung mit den für den Verkehr und die Verkehrspolizei zuständigen obersten Landesbehörden bin ich der Auffassung, daß eine Änderung der Rechtsetzungszuständigkeit nicht zweckmäßig ist, da damit dem Bestreben nach Vereinheitlichung der Verkehrsregeln auf internationaler Ebene entgegengewirkt wird. Außerdem würde eine unterschiedliche Behandlung gerade des Dauerparkens in den einzelnen Bundesländern ortsunkundige Kraftfahrer verwirren. Sie würde es ihnen unmöglich machen, sich über die Rechtslage zu orientieren, da die vorgeschriebene örtliche Regelung nicht immer erkennbar sein dürfte.
Bei den Beratungen über den Vorentwurf der neuen Straßenverkehrs-Ordnung haben die obersten Landesbehörden empfohlen, in die StraßenverkehrsOrdnung eine Verhaltensvorschrift aufzunehmen, die das unnütze Hin- und Herfahren innerhalb geschlossener Ortschaften verbietet, wenn es die Anwohner belästigt. Es wird geprüft, ob durch weitere Verhaltensregeln der Verkehrslärm wirksamer als bisher bekämpft werden kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Büttner.
Herr Staatssekretär, darf ich nach dieser Antwort die Frage an Sie richten, ob Ihnen bekannt ist, daß bestimmte dichtbesiedelte Wohngebiete während gewisser Ruhezeiten aus Gründen der Lärmbekämpfung durch Ortssatzung für Lastzüge nicht gesperrt werden können? Ich darf Sie weiter fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß alle bisherigen Versuche deutscher Städte — z. B. Bremens —, den nicht verkehrserheblichen, aber doch schädlichen Auswirkungen des Dauerparkens durch Ortssatzung zu begegnen, am Ausschließlichkeitsprinzip des § 45 der Straßenverkehrs-Ordnung gescheitert sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist mir bekannt. Was aber die spezielle Frage des Dauerparkens anbelangt, so
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4835
Staatssekretär Dr. Seiermannweiß ich, daß in der letzten Sitzung mit den genannten obersten Landesbehörden lediglich ein Land, und zwar, wenn ich mich recht erinnere, Hamburg, einen solchen Vorschlag gemacht hat, daß sich aber alle übrigen Länder für die Beibehaltung der bisherigen Rechtsetzungszuständigkeit ausgesprochen haben und auch weiterhin aussprechen.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Büttner.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß sich trotz der unschönen Zustände kein einziges Urteil findet, das . die Bestrafung eines Dauerparkers aufrechterhält, der seinen Pkw einer Ortssatzung zuwider abgestellt hat, und daß die Gerichte in diesen Fällen fast einmütig dahingehend entscheiden, daß ein derartiges Dauerparken durch eine örtliche Polizeiverordnung nicht verboten werden kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin über diese Rechtsprechung im einzelnen nicht so genau unterrichtet, daß ich die Frage strikt mit Ja oder Nein beantworten könnte. Ich bin aber überzeugt, daß die Rechtsprechung, die zu diesen Punkten vorliegt, bei den Beratungen des Vorentwurfs der neuen Straßenverkehrs-Ordnung herangezogen und auch entsprechend gewürdigt wird.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. — Damit ist die Fragestunde beendigt.
Ich rufe auf den Punkt 2 der Tagesordnung:
Beratung der Sammelübersicht 24 des Ausschusses für Petitionen über Anträge von Ausschüssen des Deutschen Bundestages zu Petitionen (Drucksache IV/1779).
Es liegt vor der Antrag auf Drucksache IV/1779. Ich nehme an, daß sich dagegen kein Widerspruch erhebt. — Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe dann auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Beteiligungsverhältnisses an der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer (Drucksache IV/1770).
Ich erteile dem Berichterstatter, Herrn Staatsminister Dr. Eberhard, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsvorschlag, über den Sie heute abstimmen, wurde gewissermaßen im zweiten Anlauf erarbeitet. Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte sich der Vermittlungsausschuß mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Beteiligungsverhältnisses an der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer, das ich im folgenden als„Beteiligungsgesetz" bezeichnen darf, befaßt und empfohlen, den Anteilsatz des Bundes am Aufkommen der Einkommen- und der Körperschaftsteuer vom Jahre 1963 an auf 38 % festzulegen. Dieser damalige Vermittlungsvorschlag blieb um 2,5 % bzw. 3,5 % unter den von der Bundesregierung und diesem Hohen Haus beschlossenen Sätzen, die bekanntlich für 1963 auf 40,5% und für die Zeit ab 1964 auf 41,5 % lauteten.Der Deutsche Bundestag hat am 27. Juni 1963 einen Kompromiß auf der Basis von 38 % abgelehnt und an den ursprünglichen Sätzen festgehalten. Ausschlaggebend hierfür war insbesondere die Tatsache, daß der damalige Vermittlungsvorschlag auch für die Zeit ab 1964 einen Bundesanteil von 38% vorsah. Dieser Satz erschien der Bundesregierung und dem Parlament zwar für 1963, nicht jedoch für die späteren Jahre tragbar.Der Bundesrat mußte daher am 12. Juli 1963 erneut über die ursprüngliche Fassung des Beteiligungsgesetzes beschließen. Er hat ihm die Zustimmung versagt. Die Bundesregierung hat daraufhin im November vergangenen Jahres den Vermittlungsausschuß nochmals angerufen. Ihr Begehren ging dahin, „den Bundesanteil an der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer ab 1. Januar 1963 auf 38 v. H. und für die Zeit ab 1. Januar 1964 bis zum 31. Dezember 1965 auf einen Hundertsatz festzusetzen, der es dem Bund ermöglicht, seine unabweisbaren Mehraufwendungen gegenüber 1963 zu decken, mindestens auf 40 v. H. entsprechend dem inzwischen verabschiedeten Entwurf des Bundeshaushalts 1964".Der Vermittlungsausschuß trat daraufhin am 18. Dezember 1963 zusammen. In einer sehr schwierigen, fast fünfstündigen Beratung hat sich der Ausschuß dabei nahezu einstimmig auf einen neuen Kompromißvorschlag geeinigt. Er liegt Ihnen in Drucksache IV/1770 vor. Die, Empfehlung des Vermittlungsausschusses geht nunmehr dahin, den Anteil des Bundes am Aufkommen der Einkommen- und der Körperschaftsteuer auf 38% im Jahre 1963 und auf je 39 % in den Jahren 1964 bis 1966 festzulegen.Für 1963 ist der Ausschuß damit dem Antrag der Bundesregierung gefolgt. Die für die Jahre 1964, 1965 und 1966 vorgeschlagenen 39 % liegen genau in der Mitte zwischen dem auf 38 %; lautenden ersten Vermittlungsvorschlag vom Sommer vergangenen Jahres und den von der Bundesregierung nunmehr geforderten 40 %. Entnehmen Sie hieraus aber bitte nicht, daß der Vermittlungsausschuß nach einem primitiven Einmaleins vorgegangen sei und einfach eine mittlere Linie gesucht habe. Eine solche Schlußfolgerung wäre absolut verfehlt. Der Ausschuß hat um eine Entscheidung hart gerungen.Wie Sie wissen, sind die Sitzungen des Vermittlungsausschusses vertraulich. Ich verletze aber .sicher dieses Prinzip nicht, wenn ich Ihnen sage, daß unsere Verhandlungen bei aller sachlichen Härte in jenem guten Klima stattfanden, um das sich der Herr Bundeskanzler in den Gesprächen mit den Herren Ministerpräsidenten so sehr bemüht hat.
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4836 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Staatsminister Dr. h. c. EberhardDer vom Herrn Bundeskanzler erfolgreich angestrebte neue Stil im Verhältnis von Bund und Ländern hat die Vermittlungsverhandlungen und damit auch die sachliche Einigung wesentlich erleichtert. Um so mehr glaubte der Vermittlungsausschuß einen Vorschlag unterbreiten zu sollen, der nicht nur den sogenannten, von der Öffentlichkeit mit wachsendem Unwillen registrierten „Steuerstreit" beendet, sondern darüber hinaus ganz allgemein zu einer nachhaltigen Entspannung und Befriedung zwischen Bund und Ländern führt. Er hat sich deshalb bei seinem Vorschlag zur Höhe des Bundesanteils von ganz bestimmten Vorstellungen über die Regelung des seit Jahren ungelösten Fragenkomplexes der sogenannten Ausgleichsforderungen leiten lassen. Umgekehrt ist die von ihm aufgezeigte Lösung für die Ausgleichsforderungen unter Berücksichtigung seines Vorschlags zum Bundesanteil entwickelt worden. Wenn man den Vorschlag des Vermittlungsausschusses zur Höhe des Bundesanteils richtig würdigen will, muß man diese Zusammenhänge kennen und berücksichtigen. Ich werde auf die Frage der Ausgleichsforderungen, bei der es um Ansprüche der Länder an den Bund in Milliardenhöhe geht, später noch näher eingehen.Zunächst aber noch einige Worte zu dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zur Höhe des Bundesanteils.Er empfiehlt Ihnen eine Neuregelung des Bundesanteils bis einschließlich 1966. Eine solche relativ langfristige Regelung würde Bund und Ländern über mehrere Jahre hin Klarheit über die verfügbaren Einnahmen verschaffen, erneute Auseinandersetzungen für einen längeren Zeitraum ausschließen und die Voraussetzungen für eine vorausschauende Finanzpolitik ermöglichen.Der Vermittlungsausschuß hat hierbei nicht verkannt, daß sein Vorschlag, insbesondere soweit er sich auf den Zeitraum von 1964 bis 1966 bezieht, von den Beteiligten Einschränkungen und vielleicht auch die Abkehr von mancher liebgewordenen finanzpolitischen Gewohnheit fordert. Die Länder haben für 1964 in ihren Haushaltsplänen einen Bundesanteil von 38 % veranschlagt. Die Erhöhung auf 39 % legt ihnen eine Mehrbelastung von rund 400 Millionen DM auf, die nur durch weitere Schuldaufnahmen oder durch Ausgabekürzungen bei wichtigen Landesaufgaben ausgeglichen werden kann. Der Bund steht vor ähnlichen Schwierigkeiten. Es erscheint zwar nicht unmöglich, die im Haushalts: entwurf 1964 vorgesehenen Einnahmenansätze zu erhöhen und dadurch die Mindereinnahmen aus dem gegenüber der Regierungsvorlage von 40 auf 39 % zu reduzierenden Bundesanteil auszugleichen. Zusätzliche, über die Regierungsvorlage des Haushalts 1964 hinausgehende Ausgabewünsche können jedoch nur erfüllt werden, wenn an anderer Stelle entsprechende Kürzungen vorgenommen werden.Ich darf in diesem Zusammenhang erwähnen, daß einige Mitglieder des Vermittlungsausschusses bestimmte Erwartungen über den Umfang der Verbesserungen der Kriegsopferversorgung ausgesprochen haben.
Meine Damen und Herren, darf ich um etwas mehr Ruhe bitten. Ich glaube, die Bedeutung dieses Tagesordnungspunktes erfordert das. — Bitte, Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die vom Vermittlungsausschuß vorgeschlagene Festlegung des Bundesanteils bis 1966 gibt den vom Herrn Bundeskanzler und den Herren Ministerpräsidenten eingesetzten Sachverständigen ausreichend Zeit für ihre Vorarbeiten zu einer Finanzreform. Hierin liegt ein weiterer wesentlicher Vorteil unseres Vorschlags. In diesem Zusammenhang muß auch die im Vermittlungsausschuß getroffene Feststellung gesehen werden, daß der Vermittlungsvorschlag unter der Voraussetzung gemacht wird, daß für die Zeit ab 1. Januar 1967 eine Überprüfung des Verteilungsschlüssels nach Art. 106 des Grundgesetzes, sei es zugunsten des Bundes oder der Länder, erfolgt. Sie gibt einen wichtigen Anhaltspunkt für die Auslegung der nunmehr vorgeschlagenen Fassung des Beteiligungsgesetzes. Sie wissen, daß sowohl im Ausschuß als auch anschließend in der Presse Diskussionen darüber geführt worden sind, wie die vorgeschlagene Formulierung des § 1 des Beteiligungsgesetzes auszulegen ist und ob sie mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Ich habe weder die Ermächtigung noch den Auftrag, namens des Vermittlungsausschusses eine authentische Interpretation zu geben. Fest steht aber, daß der Vermittlungsausschuß von der Verfassungsmäßigkeit seines Vorschlages überzeugt war.Es wäre auch ausgeschlossen, dem Wortlaut des Beteiligungsgesetzes eine mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarende Auslegung zu geben. Der allgemein gültige Rechtssatz, daß ein Gesetz nur verfassungskonform ausgelegt und angewendet werden kann, gilt uneingeschränkt auch für das Beteiligungsgesetz.Ich habe bereits erwähnt, daß der Vermittlungsausschuß die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern als Ganzes gesehen und sich deshalb mit Mehrheit dafür ausgesprochen hat, die Beilegung des sogenannten Steuerstreites mit der abschließenden Lösung des Problems der Ausgleichsforderungen zu verbinden.Ich darf Ihnen nun den Tatbestand, um den es hierbei geht, kurz darstellen.Die Angelegenheit geht zurück auf das Jahr 1959. Damals hat das Bundesverfassungsgericht in einem Normenkontrollverfahren das 1956 erlassene Bundesgesetz über die Tilgung der Ausgleichsforderungen für nichtig erklärt, weil es entgegen der Vorschrift des Art. 120 des Grundgesetzes den Ländern eine vom Bund zu tragende Kriegsfolgelast auferlegte, nämlich die Tilgung der Ausgleichsforderungen. Ein neues Tilgungsgesetz ist bis heute nicht ergangen. Dennoch tilgen die Länder unverändert weiter. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erstattet ihnen der Bund die hierfür entstehenden Aufwendungen. Über die Erstattung der laufenden Tilgungsaufwendungen wurden sich der Bund und die Länder also sehr rasch einig.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4837
Staatsminister Dr. h. c. EberhardDa das Bundesverfassungsgericht den „Schuldendienst" für die Ausgleichsforderungen als Kriegsfolgelast bezeichnet hat, beanspruchten die Länder vom Bund auch Ersatz für den laufenden Zinsaufwand. Außerdem forderten sie die Erstattung der in der Vergangenheit — nämlich vom Beginn der Tilgung im Jahre 1956 an bis zur Nichtigerklärung des Gesetzes im Jahre 1959 — erbrachten Tilgungsleistungen.Nach langwierigen Verhandlungen schlossen Bund und Länder im Jahre 1960 das sogenannte Dürkheimer Abkommen ab. Es sieht neben der — stets unstreitig gewesenen — hundertprozentigen Erstattung des laufenden Tilgungsaufwands vor, daß der Bund für die in der Vergangenheit aufgewendeten Tilgungsleistungen einen pauschalen Abgeltungsbetrag von 200 Millionen DM erbringt und ab 1960 nur bestimmte Teilbeträge des Zinsaufwandes erstattet.Die Länder haben in diesem Abkommen also bereits Zugeständnisse gemacht und sich auf eine nur teilweise Erstattung der Zinsen und der in der Vergangenheit erbrachten Tilgungsaufwendungen beschränkt. Um dies verfassungsrechtlich abzusichern und den Bund vor weiteren Ansprüchen, insbesondere vor dem etwaigen späteren Verlangen einer hundertprozentigen Zinserstattung zu bewahren, wurde vereinbart, dem Art. 120 des Grundgesetzes eine neue Fassung zu geben. Leider konnten das verfassungsändernde Gesetz und das neue Ausgleichsforderungstilgungsgesetz in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet werden. Der Bund erstattet den Ländern bis heute nur den laufenden Tilgungsaufwand. Die im Abkommen vorgesehenen Erstattungen für den Zinsendienst und für die in der Vergangenheit erbrachten Tilgungen hat er nicht geleistet.Der Vermittlungsausschuß war mit Mehrheit der Auffassung, daß die vorgeschlagene Neuregelung des Bundesanteils voraussetzt, daß die Bundesregierung das Pröblem der Ausgleichsforderungen nunmehr einer abschließenden Lösung zuführt. Er sah die Lösung darin, daß die Länder, obwohl sie bereits bei Abschluß des Dürkheimer Abkommens erhebliche Kompromißbereitschaft bewiesen haben, auch noch auf die in der Zeit von 1960 bis 1966 vorgesehenen, bisher nicht erbrachten Zinserstattpngen von insgesamt etwa 900 bis 910 Millionen DM verzichten und außerdem dem Bund auch den Abgeltungsbetrag von 200 Millionen DM für die in der Vergangenheit erbrachten Tilgungsleistungen erlassen.Die Länder hätten also insgesamt auf mehr als 1100 Millionen DM zu verzichten. Sie sollen sich bis 1966 einschließlich damit begnügen, daß ihnen der Bund nur die laufenden Tilgungsleistungen erstattet. Am Zinsaufwand hätte sich der Bund erstmals 1967 in Höhe von 50 % zu beteiligen. Vorausgesetzt wird bei alledem, daß die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen unverzüglich eingeleitet und durchgeführt werden.Die hier skizzierte Lösung hinsichtlich der Ausgleichsforderungen brächte dem Bund nicht nur eineEntlastung von mehr als 1100 Millionen DM; sie würde zugleich die Voraussetzung dafür schaffen, daß die Frage der Kriegsfolgelasten endgültig geregelt werden kann. Die Befürchtung, daß auf Grund des bisher geltenden Art. 120 des Grundgesetzes Kriegsfolgeregelungen für ungültig erklärt werden, schwebt bis zur Stunde noch immer wie ein Damoklesschwert über dem Bund.Wenn der Vorschlag des Vermittlungsausschusses zur Festlegung des Bundesanteils und der aufgezeigte Kompromiß bei den Ausgleichsforderungen verwirklicht werden, dann ist dem Vermittlungsbegehren der Bundesregierung zur Festsetzung des Bundesanteils im Endergebnis fast entsprochen. Der Forderungsverzicht der Länder bei den Ausgleichsforderungen in Höhe von mehr als 1100 Millionen DM entspricht einer Summe von etwa 3% des Aufkommens der Einkommen- und Körperschaftssteuer. Rechnet man diesen Betrag dem vom Vermittlungsausschuß vorgeschlagenen Bundesanteilssatz von je 39% in den Jahren 1964 bis 1966 hinzu, dann ergibt sich für diese Zeit rechnerisch ein Bundesanteil von etwa 40%.Sie mögen aus alledem entnehmen, daß der Vermittl'ungsauschuß um eine Gesamtlösung bemüht war, die beiden Teilen gerecht wird, eine langfristige Klärung bringt und den Beteiligten die Zeit gibt, in Ruhe. Überlegungen für eine grundsätzliche Neuordnung anzustellen. Wenn Sie den Vorschlag des Vermittlungsausschusses zum Beteiligungsgesetz und die von ihm zur Lösung des Problems der Ausgleichsforderungen erarbeitete Kompromißformel zusammenfassend beurteilen, dann bietet sich Ihnen eine geeignete Konzeption, nach der es möglich ist, alle noch offenen wesentlichen finanziellen Streitpunkte zwischen Bund und Ländern zu lösen. Welch eminente politische Bedeutung hierin liegt, brauche ich in diesem Hohen Hause nicht weiter auszuführen.Das Wohl unseres Staates erfordert eine enge, von gegenseitigem Verständnis getragene Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Der Herr Bundeskanzler war sich mit den Herren Ministerpräsidenten darüber einig. Auch in diesem Hohen Hause wird es insoweit keine Meinungsverschiedenheiten geben. Den guten Willen der Länder und ihr ehrliches Bemühen erkennen Sie am deutlichsten daran, daß sie in den letzten Wochen und Tagen rund 880 Millionen DM an den Bund als freiwillige Vorausleistung auf die für 1963 zu erwartende Erhöhung des Bundesanteils entrichtet haben. Die Entscheidung über das Vermittlungsergebnis liegt nunmehr bei den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes. Wenn der Deutsche Bundestag. heute dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmt, dann schafft er damit eine wesentliche Voraussetzung für einen neuen, besseren Abschnitt der finanzpolitischen Beziehungen zwischen Bund und Ländern.Lassen Sie mich deshalb abschließend noch einmal die politischen Ergebnisse der Beratungen des Vermittlungsausschusses und des Inhalts des Vermittlungsvorschlages in den folgenden vier Punkten zusammenfassen:
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4838 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Staatsminister Dr. h. c. EberhardErstens. Dadurch wird der leidige Steuerstreit beendet und das Verhältnis von Bund und Ländern auf diesem Gebiet unter Einbeziehung der Regelung des Fragenkomplexes der Ausgleichsforderungen bereinigt.Zweitens wird damit auch die Möglichkeit geschaffen, die Steuersenkungspläne oder -überlegungen, die der Herr Bundesfinanzminister vorgestern in seiner Haushaltsrede angedeutet hat, ab 1965 zu verwirklichen.Drittens wird Bund und Ländern und vor allem dem Parlament die Möglichkeit gegeben, über die in den kommenden Jahren zu erwartenden Einnahmen rechtzeitig zu disponieren.Es wird viertens — und das scheint mir das Wichtigste zu sein — den Parlamenten von Bund und Ländern hinsichtlich der Ausgabenwirtschaft eine natürliche Grenze gesetzt, was zweifellos im Interesse der Sicherung der Stabilität unserer Währung liegt. Damit, meine ich, könnten nicht nur der Herr Bundeskanzler und der Steuerzahler zufrieden sein, sondern es müßte auch in Ihrem, meine sehr verehrten Damen und Herren, ureigensten Interesse liegen, so zu verfahren, so daß es Ihnen leicht gemacht sein könnte, diesem Vermittlungsvorschlag zuzustimmen, worum ich Sie namens des Vermittlungsausschusses bitten darf.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Von den Fraktionen werden Erklärungen abgegeben. Das Wort hat zunächst der Herr Abgeordnete Dr. Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der CDU/CSU-Fraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, daß durch die wiederholten Besprechungen des Herrn Bundeskanzlers mit den Herren Ministerpräsidenten eine Atmosphäre des guten Willens und der Zusammenarbeit geschaffen worden ist, die einen neuen Weg zu einer Verständigung im Vermittlungsausschuß eröffnet hat. Die CDU/CSU-Fraktion hat den Wunsch, daß diese positive Atmosphäre zwischen Bund und Ländern erhalten bleibt und gepflegt wird.
Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, der Bundestag hätte als letzter, also nach dem Bundesrat, zum Vorschlag des Vermittlungsausschusses Stellung nehmen sollen. Sein Recht, in dieser Angelegenheit den Vermittlungsausschuß anzurufen, ist noch unverbraucht. Würde der Bundesrat den Vorschlag des Vermittlungsausschusses ablehnen, muß daher dem Bundestag das Recht zur erneuten Anrufung verbleiben, auch wenn er heute zustimmt. Diese Zustimmung kann also nur unter Vorbehalt der Wahrung seines Rechtes erfolgen.
Die CDU/CSU-Fraktion kann nur mit Sorge und Bedenken dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmen. Der Vorschlag bringt materiell keine wirkliche Lösung der Probleme.
Die zwangsläufig wachsenden unabwendbaren Aufgaben
des Bundes fordern gebieterisch Mittel, die auch auf der vorgeschlagenen Basis nicht aufgebracht werden können, es sei denn, eine Finanzverfassungsreform bringt Änderungen in der Aufgabenverteilung. Insofern begrüßt die CDU/CSU-Fraktion die im Zusammenhang der Beratungen mit den Ministerpräsidenten eingesetzte Viererkommission, in der Erwartung, daß deren Vorschläge zu politischen Entscheidungen führen werden, die mindestens nach 1966 eine Bund und Länder befriedigende Neuverteilung, möglichst aber eine wirkliche Finanzverfassungsreform, die Bund, Ländern und Gemeinden gerecht wird, bringen werden.
Eine Zustimmung ist der CDU/CSU-Fraktion nur möglich, weil sie davon ausgeht, daß der Prozentsatz von 39 % über 1966 hinaus fortbesteht, bis ein neues Verteilungsgesetz einen anderen — höheren oder niedrigeren — Prozentsatz bestimmt.
Im Neuverteilungsgesetz konnte die zwischen Bund und Ländern schwebende Streitfrage über die Verzinsung der Ausgleichsforderungen nicht angesprochen werden. Die Annahme des Vorschlages hat aber zur Voraussetzung, daß die Länder auf die Verzinsung der Ausgleichsforderungen bis 1966 einschließlich ausdrücklich verzichten. Darüber war sich der Vermittlungsausschuß einig, nachdem die meisten Ländervertreter im Vermittlungsausschuß entsprechende Erklärungen in diesem Sinne abgegeben hatten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben.,1. Nach der bisherigen Rechtslage standen dem Bund von der Einkommen- und Körperschaftssteuer 35 % zu. Mit der Erhöhung auf 38 % erhält der Bund für das abgelaufene Jahr 1963 nachträglich noch von den Ländern den Betrag von rund 1100 Millionen DM. Bei der Durchführung des Haushaltsplanes 1963 ergab sich die Möglichkeit, rund 1500 Millionen DM einzusparen. Durch sogenannte Umschichtungen hat man einen Weg gesucht, das Geld auszugeben und .damit das Haushaltsjahr 1964 von vornherein zu entlasten.Der Herr Bundesfinanzminister führte am 7. Januar 1964 hier von diesem Platze aus dazu wörtlich aus:Die Begrenzung des Haushalts 1964 auf 60,3 Milliarden DM war nur dadurch möglich, daß Vorbelastungen aus dem Rechnungsjahr 1963 weitgehend vermieden wurden. Diesem Ziel dienten u. a. die mit Billigung des Haushaltsausschusses dieses Hohen Hauses im vergangenen Jahr unter Einhaltung des Volumens der
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4839
Dr. SchäferEinzelpläne zugelassenen Umschichtungen im Ernährungs- und Verteidigungsbereich, die Ergebnis eine Entlastung des Haushalts 1964 herbeiführten. Diesem Ziel dient aber auch der jetzt 'dem Hohen Hause vorliegende Entwurf des Haushaltsplanes 1964.Der Bund finanziert also mit den ihm zufließenden Mehreinnahmen für das Jahr 1963 Aufgaben für das Jahr 1964. Wir sind daher der Auffassung, daß damit alle Zweifel beseitigt sein müssen, daß die vom Kriegisopferausschuß vorgelegte Neuordnung in vollem Umfange zum 1. Oktober 1963 auch tatsächlich in Kraft treten muß.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Erhöhung des Bundesanteils für das Jahr 1963 zu in der Erwartung, daß diese Neuregelung der Kriegsopferversorgung zum 1. Oktober 1963 in Kraft tritt.2. Bei dem Ansatz der Einnahmen für das Haushaltsjahr 1964 ging die Bundesregierung bisher von einer Zunahme des Bruttosozialprodukts um 4 bis 4,5%. aus. Wie der Herr Bundesfinanzminister selbst hier am 7. Januar 1964 ausführte, rechnet die Arbeitsgemeinschaft der deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute mit einem realen Zuwachs von 5 % bis 5,5 %. Das heißt, daß die Einnahmeseite des Bundes wahrscheinlich um rund 1 % — das sind mehr als 400 Millionen DM — höher liegen wird, als im Entwurf des Bundeshaushalts 1964 zugrunde gelegt wurde.
— 1964; lesen Sie die Rede nach.
Der Bundesrat hatte in seiner einstimmig angenommenen Stellungnahme vom 20. Dezember schon darauf hingewiesen, daß die ordentlichen Deckungsmittel höher veranschlagt werden können. — Allein schon aus diesem Grunde ist es gerechtfertigt, von dem Antrag der Bundesregierung, den Bundesanteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer ab 1. Januar 1964 auf 40% festzusetzen, abzugehen. Das Volumen des Bundeshaushaushalts wird sich durch die Festsetzung des Bundesanteils auf 39 % nicht ändern.Die SPD-Bundestagsfraktion schließt sich ausdrücklich der einstimmigen Stellungnahme des Bundesrates in seiner 264. Sitzung vom 20. Dezember 1963 an, in welcher es unter Ziffer 2 wörtlich heißt:Der Bundesrat hält es jedoch für möglich, ohne Überschreitung des Haushaltsvolumens von 60,3 Milliarden DM die Verbesserung der Kriegsopferversorgung durchzuführen. Die Durchsicht der Haushaltspläne läßt erkennen, daß durch Ausgabekürzungen und Umschichtungen die noch erforderlichen Mittel gewonnen werden können. Er verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Einzelpläne 11, 32 und 60.Die SPD-Bundestagsfraktion sieht sich in ihrer Auffassung von der Gesamtheit der Länder bestätigt, daß also sowohl im Haushalts 1963 als auch im Entwurf des Haushalts 1964 ausreichende Mittel zur vollen Durchführung der Kriegsopferversorgung vorhanden sind.Wir erwarten daher auch, daß keine Versuche mehr unternommen werden, sogenannte Stufenpläne durchzuführen oder den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes in Frage zu stellen. Im Finanzausschuß des Bundesrates wurde im übrigen in gewissenhafter Arbeit nachgewiesen, daß im Entwurf des Haushaltsplanes 1964 ein Spielraum von 959 Millionen DM vorhanden ist.Wohl zu beachten ist, daß sich mit der Annahme des Vorschlages des Vermittlungsausschusses eine Regelung der Zinslasten für die Ausgleichsforderungen der Länder anbahnt. Der Bund hätte nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diese Lasten zu tragen. Er soll nach der beabsichtigten Vereinbarung erst ab 1. Januar 1967 die Hälfte der Zinslasten übernehmen. Das bedeutet eine Entlastung des Bundes um insgesamt 1100 Millionen DM.Die Festsetzung des Bundesanteils auf 39 % ist bis zum 31. Dezember 1966 befristet. Bis dahin muß eine Klärung der Frage herbeigeführt werden, welche Lasten der Bund und welche die Länder zu tragen haben. Die bislang von verschiedenen Seiten vorgetragenen Zahlen scheinen uns keinen Anhaltspunkt für eine endgültige Regelung zu geben. Wir erwarten, daß die Expertenkommission beim Bundesfinanzministerium nun endgültig eingesetzt wird, damit sie ihre Aufgabe so rechtzeitig lösen kann, daß nach Ende dieser drei Jahre eine alle Teile befriedigende Neuregelung möglich ist, die dem Grundsatz gerecht wird, daß die Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden gleichrangig sind, deshalb auch bei der Verteilung der Finanzmasse gleichrangig zu behandeln sein werden.Der Bundesfinanzminister hat in dem dem Hause vorgelegten Finanzbericht für das Jahr 1964 auf Seite 279 selbst die Erwartung ausgesprochen, daß der Bundestag und der Bundesrat dem vom Vermittlungsausschuß vorgelegten Vorschlag zustimmen werden. Der Herr Bundesfinanzminister geht also selbst davon aus, daß diese Regelung befriedigend ist.In den Erwartungen, die ich vorgetragen habe, wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Imle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Bundestagsfraktion der Freien Demokraten darf ich folgende Erklärung abgeben.Die Fraktion der FDP begrüßt es, daß es den intensiven Bemühungen des Bundesfinanzministers gelungen ist, die Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern
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4840 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. Imle— wir freuen uns, daß diese Bemühungen bei Ihnen eine so freudige Zustimmung erfahren! —
über das Beteiligungsverhältnis an der Einkommen- und Körperschaftsteuer durch einen Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses zu beenden und gleichzeitig praktisch auch die Auseinandersetzung über die Tilgung der Ausgleichsforderung für Bund und Länder befriedigend zu lösen. Damit sind mit einem Schlage zwei wesentliche Streitpunkte zwischen Bund und Ländern bereinigt.Dem Anliegen der Bundesregierung wird für 1963 mit einer Anhebung des Beteiligungsverhältnisses von 35 % auf 38 % Rechnung getragen. Für die folgenden drei Jahre trägt der Beteiligungssatz von 39 % dem Begehren der Bundesregierung nicht voll Rechnung. Die zwangsläufig ständig steigenden zentralen Aufgaben des Bundes sind daher nicht genügend berücksichtigt. Andererseits schafft das Übereinkommen zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Länder über den Auftrag an eine Sachverständigengruppe zur Bearbeitung der Finanzreform Möglichkeiten für dauerhafte Lösungen in der Zukunft.Die FDP-Fraktion wird daher dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmen. Sie geht dabei von der Voraussetzung aus, daß der Rahmen des für 1964 vorgesehenen Haushalts von 60,3 Milliarden DM gehalten wird. Außerdem geht die Fraktion der FDP bei dieser Zustimmung davon aus, daß die vorgeschlagene Festlegung eines Beteiligungssatzes von 39 % auch über 1966 hinaus Geltung hat, es sei denn, der Bund oder die Länder nutzen für die Zeit ab 1. Januar 1967 die Änderungsmöglichkeiten des Grundgesetzes.
Wir kommen zur Abstimmung. Wir stimmen ab über den Antrag des Vermittlungsausschusses, der Ihnen auf Drucksache 1770 vorliegt. Wer zustimmt, gebe bitte Zeichen! — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 3:
a) Aussprache über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1964 (Drucksache IV/1700),
b) Aussprache über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Rechnungsjahr 1963 (Drucksache IV/1699).
Die Vorlagen sind in der 105. Sitzung eingebracht. Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zeitpunkt derHaushaltsdebatte ist dazu angetan, ja er zwingt fast dazu, Rechenschaft über die rückliegenden Monate abzulegen. Ich verwalte mein Amt erst seit drei Monaten; aber in diesen drei Monaten hat sich manches, auch über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus ereignet. Es scheint mir zweckmäßig zu sein, darüber hier einiges auszuführen. Sie wissen, daß sich durch den tragischen Tod des Präsidenten Kennedy in Amerika ein Wechsel in der Präsidentschaft vollzogen hat. Sie wissen, daß in Großbritannien das Amt des Premierministers in der Person von Lord Home neu besetzt worden ist. In Italien ist eine neue Regierung gebildet worden. Da ist es eigentlich fast selbstverständlich, daß man sich nicht nur in unserem Lande, sondern in der Welt fragt, welche Konsequenzen sich hieraus für die Politik ergeben, sei es im nationalen, im europäischen Raum, in der atlantischen Zusammenarbeit oder auch in den Ost-West-Beziehungen.Bevor ich zu der Haushaltsfrage als solcher Stellung nehme, darf ich, obwohl mir kein Votum zusteht, zu der soeben erfolgten Abstimmung folgendes sagen. Die Bundesregierung begrüßt es natürlich außerordentlich, daß es gelungen ist, zwischen Bund und Ländern zu einem besseren Verhältnis zu kommen, und daß damit nicht nur der leidige Streit um die Anteile an der Einkommen- und Körperschaftsteuer beigelegt worden ist, sondern daß auch über die Ausgleichsforderungen eine befriedigende Regelung erzielt werden konnte. Wir haben also jetzt Ruhe, um die Verfassungsreform vorzubereiten. Ich glaube, daß damit ein weiterer Schritt vorwärts in Richtung auf eine Verständigung getan worden ist.Ich wäre aber nicht ehrlich, wenn ich nicht zugleich auch gewisse Bedenken in bezug auf den Ausgleich des Haushalts von 1964 äußerte. Der Haushalt ist bekanntlich auf einem Bundesanteil von 40 % aufgebaut. Der Beschluß, der soeben erfolgt ist, besagt — in Mark und Pfennig ausgedrückt —, daß in einem Bundeshaushalt, der mit 60,3 Milliarden DM abschließt, ein zu deckendes Defizit von rund 400 Millionen DM auftritt.Es ist hier nicht der Ort, die Deckungsfragen zu behandeln. Die Möglichkeiten aber, die zur Verfügung stehen, möchte ich nicht gerade als klassische Mittel der Finanzierung bezeichnen. Also: in meine Freude auf der einen Seite mischt sich aber auch kein Jubel über das erzielte Ergebnis.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor der Haushaltsdebatte darf ich zuerst einmal ein Wort der Verbundenheit und der Anerkennung für den Finanzminister sagen. Wir wollen uns nicht darüber streiten, wem hier die größeren Verdienste zukommen, sei es an dem Zustandekommen des Burgfriedens zwischen Bund und Ländern, sei es an der Haushaltsdisziplin im ganzen; das scheint mir in einer Koalition nicht gemäß zu sein.
Ich weiß es sehr wohl zu würdigen, daß der Finanzminister in gleicher geistiger Haltung und in gleich hohem Verantwortungsbewußtsein an die Bearbeitung und an den schließlichen Erfolg des Haushalts-
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhardausgleichs herangegangen ist. Ihm gilt nicht nur der Dank der Bundesregierung, sondern, ich glaube, das ganze Hohe Haus ist ihm für seine Mühen Dank schuldig.
Sie wissen aus der Regierungserklärung, daß ich in den Mittelpunkt der Bemühungen unserer Politik der Bundesregierung gestellt habe die eiserne Zucht, um die Stabilität unserer Wirtschaft, unserer Währung, den Schutz der Kaufkraft des deutschen Volkes zu gewährleisten.
— Meine Herren von der Opposition, das ist ganz ehrlich gemeint. Wir sind bei dem Haushalt ausgegangen von einer Zuwachsrate von 1963 auf 1964 von realiter 4,5 %; das bedeutet nominell rd. 6 %. Aber darin liegt schon eine gewisse Problematik. Ich finde es gefährlich, wenn hier, sei es von seiten der wirtschaftswissenschaftlichen Institute, sei es von seiten der Bundesregierung oder der Bundesbank, ein Verfahren Platz greift, daß man zwischen realem Zuwachs und nominellem Zuwachs unterscheidet. Denn praktisch beinhaltet das bereits, daß man eine gewisse Preissteigerung von 11/2 bis 2 % als eine gottgewollte Einrichtung hinzunehmen bereit ist.
Ich bin also von seiten der Regierung nicht bereit, über die mit real 4,5 % angenommene Zuwachsrate hinauszugehen.Wir waren schon etwas großzügig, indem wir 6 % nominell eingesetzt haben, weil sonst keine Möglichkeit des Ausgleichs bestanden hätte —
in voller Kenntnis der Gefahren, die daraus erwachsen, wenn wir uns nicht rechtzeitig besinnen. Aber ich lasse mich über die 4,5 % nicht hinauslocken, auch nicht von den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten.
Wir haben die 4,5 % mit ihnen gemeinsam erarbeitet.Ich darf z. B. daran erinnern, daß im Jahre 1963 die tatsächlich erreichte Zuwachsrate Unter den Ansätzen geblieben ist, die im Wirtschaftsbericht des vergangenen Jahres angenommen wurden. Eine verantwortungsbewußte Regierung muß hier vorsichtig operieren. Im übrigen: wenn wir uns auf 5 bis 51/2% realen Zuwachs einließen und sich dann automatisch eine nominelle Steigerung von 3 % ergeben würde, dann bedeutete das, daß wir mit dieser Mehrausgabe des Bundes von 7 % praktisch das Signal für alle Forderungen geben, die im Jahre 1964 laut werden. Ich möchte aber nicht noch einmal erleben, daß man sich draußen im gewerblichen Leben, sei es auf der Arbeitgeber-, sei es auf der Arbeitnehmerseite, immer wieder auf die Haltung und die Politik der Regierung bezieht und sagt:Wenn die da oben nicht sparen, kann man es von uns auch nicht verlangen.
Ich glaube also, daß wir ein Beispiel zu geben haben.Und das nicht zuletzt, meine Damen und Herren, wenn Sie betrachten, was sich rund um Deutschland auf dem Gebiet der Kosten- und Preissteigerung ereignet. Das sollte uns eine ernste Mahnung sein. Wenn die Konjunktur bei uns im Innern auf Sonnenschein steht, vor allen Dingen durch die starke Auslandsnachfrage hervorgerufen, dann wollen wir das nicht so sehr als unser eigenes Verdienst und als Erfolg der Produktivitätssteigerung unserer Volkswirtschaft hinstellen, sondern wir profitieren von den größeren Sünden, die andere begehen.
Inflation ist kein Ordnungselement, meine Damen und Herren, das uns weiterhelfen könnte oder geeignet wäre, die Integration und den Zusammenhalt innerhalb Europas und der freien Welt zu fördern.Wir haben mannigfache Beispiele gerade auch aus der jüngsten Zeit, daß ein Volk nicht nur über seine Verhältnisse leben kann, sondern daß es auch über seine Verhältnisse investieren kann. Ich sage hier ganz deutlich: ich gehöre nicht zu jenen Wachstumsfanatikern — nicht, ohne dieses Streben zu besitzen —, die sich vorher ausrechnen: Soundso viel muß erreicht werden, sei es in einem Jahr oder in zehn Jahren, und dann Gefangene der eigenen Politik, der eigenen Voraussage sind. Dieser Wachstumsfanatismus hat wesentlich dazu beigetragen, in der Welt die inflationäre Entwicklung weiter voranzutreiben.
Mir ist ein etwas geringeres Wachstum bei innerer Stabilität von Wirtschaft und Währung sehr viel sympathischer als große Wachstumsziffern, als diese Großmannssucht, die den Effekt auslöst, daß inflationäre Entwicklungen nur immer stärker voranschreiten.
Sonst nur noch zu dem Haushalt einige ganz wenige Worte, meine Damen und Herren. Ich glaube, daß das, wenn ich die öffentliche Kritik allenthalben lese, zu sagen notwendig ist.Die größte Ausgabensteigerung vor Jahre 1963 auf 1964 entfällt, wie auch der Herr Finanzminister schon ausgeführt hat, auf die Sozialausgaben, die jetzt 3041/4 des gesamten Haushalts ausmachen und die gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von 20 % aufweisen. Das ist die höchste Zuwachsrate in den Sozialausgaben, die wir bisher erreicht haben, und vor allen Dingen die höchste Zuwachsrate, die auch im Haushalt 1964 auf die verschiedenen Kategorien entfällt. Ohne daß ich jetzt die Kriegsopferfrage behandeln will, möchte ich doch sagen: Auch für die Kriegsopfer sind in der Vorlage der
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4842 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. ErhardBundesregierung 15% Mehrausgaben gegenüber dem Jahre 1963 eingesetzt.Die Verteidigungsausgaben haben nur eine Steigerung von 5% erfahren, allerdings, wie auch schon hier dargelegt wurde, nach sehr erheblichen Zuwachsraten in den vergangenen Jahren. Aber wir wissen ja alle, wie wichtig, wie lebensentscheidend, wie schicksalhaft unsere Aufwendungen für die Verteidigung, d. h. unsere Verteidigungsbereitschaft und unser Verteidigungswille sind. Ich glaube, daß alles, was sich im letzten Jahr auf politischem Felde ereignet hat, und alles, was an Entspannung bisher als Realität betrachtet werden kann, uns nicht zu der Auffassung berechtigt, daß wir in unseren Verteidigungsanstrengungen erlahmen dürften. Jedenfalls ist eine Kürzung des Verteidigungshaushalts — um es gleich zu sagen — von dem jetzigen Stand völlig unmöglich und wäre weder politisch aus unserer eigenen Sicht und Verantwortung noch aus der Sicht des westlichen Bündnisses überhaupt zu verteidigen.Ich muß Ihnen auch noch sagen — um alle meine Sorgen loszuwerden —, daß ich nicht alles ernst nehme, was an zusätzlichen Ausgabewünschen im Raum steht; denn wenn ich das alles zusammennehmen wollte und annehmen müßte, daß das uns in diesem Jahr noch beschäftigen wird, dann errechnete sich daraus noch eine zusätzliche Ausgabe von 2,6 Milliarden DM über die 60,3 Milliarden DM hinaus. Daß das nicht ernst gemeint sein, daß aber die Bundesregierung unmöglich bereit sein könnte, solche Mehrausgaben anzuerkennen, das möchte ich jedenfalls nicht verschweigen.Damit, meine Damen und Herren, sei es mit dem Haushalt zunächst genug. Ich sagte Ihnen ja, daß ich einen Rechenschaftsbericht über die politischen Ereignisse dieses letzten Vierteljahres geben will, und ich hoffe, Sie nehmen das so hin, wie es gemeint ist — nämlich nicht polemisch —: als eine Unterrichtung. Ich glaube, es ist eine gute Sache und ist ein guter demokratischer Grundsatz, wenn der Regierungschef auch zwischen den Zeiten Gelegenheit nimmt, das Parlament zu unterrichten.
Ich kann bei dieser Betrachtung nicht streng dem historischen Ablauf folgen. Aber es ist wohl richtig, wenn ich zunächst auf die Beziehungen zu Frankreich zu sprechen komme, die ihren besonderen Ausdruck bei meinem Besuch in Paris gefunden haben. Ich stelle voran — unmißverständlich — das Bekenntnis auch dieser Bundesregierung zu der Freundschaft und Aussöhnung mit Frankreich.
Sie ist das tragende Element unserer Politik, denn es gäbe kein Europa, es gäbe keine europäische Politik, es gäbe keine europäische Integration, und es gäbe zuletzt auch keine atlantische Partnerschaft, wenn nicht auf der Grundlage der Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland das bewegende Element der europäischen Einigung geschaffen worden wäre.
Ich war mir mit dem französischen Staatspräsidenten durchaus einig: Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag soll nichts Exklusives an sich haben, sondern er soll, so möchte ich sagen, zur europäischen Sammlung mahnen. Rein technisch gesehen wäre zu sagen, daß er sowohl eine zentrifugale wie auch eine zentripetale Wirkung auslösen könnte. Es wird unser aller Mühe bedürfen, diesem Freundschaftsvertrag einen zentripetalen Effekt zu geben, d. h. nicht andere abzustoßen und vor allen Dingen den kleineren Ländern nicht das Gefühl zu geben, daß sie zweitrangig beiseite zu stehen haben bzw. daß die europäische Politik nur von diesen beiden Partnern inspiriert wird.
Aber, wie gesagt, da gibt es keine echte Differenz in den Auffassungen.Wir haben in diesem Jahr dann schließlich in Brüssel — und darauf werde ich noch zu sprechen kommen — erfahren, daß die EWG nicht ohne Risiko, am Ende aber zweifellos eine innere Festigung erreicht hat. Wenn ich dem hinzufüge, daß die Freundschaft zwischen den beiden Ländern Frankreich und Deutschland in den Völkern selbst fest verwurzelt ist, dann ergibt sich meiner Ansicht nach auch insofern in gesamteuropäischer Sicht eine neue politische Situation, als wir nicht mehr besorgt zu sein brauchen, daß ein weiterer Partner innerhalb der EWG etwa diese innere Geschlossenheit sprengen könnte oder daß die deutsch-französische Freundschaft gefährdet wäre, wenn auch ein drittes Land uns umarmen möchte. Insofern ruhen die Dinge schon zu sehr in sich selbst, haben ein eigenes Gewicht erlangt, als daß wir nach dieser Richtung eine übergroße Ängstlichkeit an den Tag zu legen bräuchten.Meine Damen und Herren: der französische Staatspräsident weiß ganz genau, daß wir Deutsche das jetzige Europa im Bereich der Sechs nicht als der Weisheit letzten Schluß ansehen. Das ist ja in den Richtlinien der Politik oft genug zum Ausdruck gekommen, nicht zuletzt auch in dem Votum dieses Hohen Hauses selbst. Aber wir sprechen in diesem Augenblick Großbritannien nicht an, und wir erwarten 'in diesem Augenblick auch von Großbritannien keine Antwort. So ist also dieses Problem nicht unmittelbar aktuell, aber es ist auch nicht vergessen und in der deutschen Politik nicht abgeschrieben.Natürlich hat die Frage der künftigen Gestaltung Europas in unserem persönlichen Gespräch eine große Rolle gespielt. Ich sagte dem französischen Präsidenten, daß wir völlig einer Meinung seien, wenn er sich ein starkes und geeintes Europa wünsche. Da mögen wohl Nuancierungen bestehen, daß ein Partner etwa an eine „dritte Kraft" glaube, der andere diesem Europa in dem Weltgeschehen nur das ihm zukommende politische Gewicht verleihen möchte. Daß aber Europa an innerer Stärke und Geschlossenheit gewinnen muß, ist unbestritten. Das
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhardgilt für den französischen Staatspräsidenten wie auch für mich.Allerdings stellt sich dabei sofort die Frage: Was ist vonnöten, um Europa zu dieser Geschlossenheit, auch zu stärkerer politischer Kraft und zu wirksamer Einflußnahme auf das politische Weltgeschehen zu verhelfen? Wir werden nicht umhin können, uns ernste Gedanken darüber zu machen, wie für die Zukunft — so wie die Dinge sich uns im Augenblick darstellen — dieses Europa wieder von der Stelle kommen kann.Schon als General de Gaulle im Sommer dieses Jahres hier in Bonn war, hatte ich Gelegenheit, mit ihm über die Frage zu sprechen, ob es genüge, in Europa eine wirtschaftliche Integration für sich allein fortzuführen. Nach meiner Überzeugung ist das nicht der Fall.
Das mag Ihnen merkwürdig vorkommen, da ich ja aus dem wirtschaftlichen Ressort komme. Aber das habe ich schon immer gesagt, daß mit dem Automatismus im Rahmen der Römischen Verträge, d. h. also auf dem Felde der wirtschaftlichen Integration allein, Europa nicht erstehen wird. Ich habe es auch in unserer Besprechung in Paris wiederholt: Die Annahme, daß allein mit der Weitung der wirtschaftlichen Beziehungen, mit dem Automatismus des Zollabbaus und allem, was noch dazugehört und sozusagen gesetzmäßig abläuft, Europa ersteht, so daß am Ende der Übergangszeit das politische Europa wie eine reife Frucht vom Baume fällt, ist falsch. Das wird nicht der Fall sein. Es wird vielmehr unser aller Anstrengungen, eines originären politischen Willens bedürfen, um Europa nicht allein zu einem technokratischen, sondern zu einem politischen Europa zusammenzufassen.
Diese Meinung bedeutet beileibe keine Kritik an den bisher geschaffenen Einrichtungen, sei es der Montanunion, sei es der EWG oder der EURATOM. Deren Zusammenlegung ist gewiß auch ein Problem. Sie kann nützlich sein; aber man soll sich davon auch kein europäisches politisches Wunder versprechen.Wie sehen denn die Dinge im Augenblick aus? Wir geben eine nationale Zuständigkeit nach der anderen, einen Teil unserer Souveränität nach dem anderen ab an die geschaffenen Organe, insbesondere, wie wir ja um die Weihnachtszeit erfahren haben, nach Brüssel. Das ist alles gut und schön. Aber wir wissen im Grunde nicht, wem wir diese Rechte im letzten übertragen.
Jedenfalls nicht an eine im demokratischen Sinne politisch verantwortliche Körperschaft,
sondern an eine — wenn auch noch so vorzügliche — gemeinsame Verwaltungseinrichtung.
— Jawohl! Dazu komme ich noch.So erhebt sich die Frage: Wer trägt eigentlich die letzte Verantwortung? Wer trägt, solange die nationale Souveränität fortbesteht, d. h. solange keine europäische politische Gestalt im staatsrechtlichen Sinne funktionsfähig ist, die Verantwortung? Können also die nationalen Regierungen und Parlamente vor ihren Völkern noch die ganze Verantwortung für sich tragen, wenn sie ein Teil nach dem anderen abgeben? Kann etwa die europäische Kommission im staatsrechtlichen, politischen, demokratisch-parlamentarischen Sinne diese Verantwortung übernehmen? Ganz bestimmt nicht! Die Frage, wie ein europäisches Parlament geartet und geordnet sein könnte, mit welchen Vollmachten es ausgestattet sein müßte, sei hier nicht beantwortet; aber hier liegt ein ernstes Problem.Nun zu Ihrer Frage wegen des Ministerrates! Der Ministerrat soll sozusagen die Brücke zwischen der Arbeit der europäischen Kommission in Brüssel und den Entscheidungen der nationalen Regierungen sein. Hier ist also, so möchte ich sagen, die politisch-demokratische Nahtstelle. Aber ich mache auch kein Hehl daraus, daß es immer deutlicher wird, wie schwer es für den Ministerrat ist — und damit will ich gewiß nicht seine Würde und den Wert seiner Arbeit schmälern —, seine Funktion zu erfüllen. Er darf nicht Gefahr laufen, eine Art Feigenblatt zu werden, wenn er nicht mehr in der Lage ist, allein dem Volumen nach diese Arbeit zu bewältigen. In unseren einschlägigen Ressorts sind beinahe ein Drittel der Beamten bloß mit den Papieren beschäftigt, die hinüber und herüber produziert werden. Die Minister sind dauernd auf Reisen, auf der Achse. Gestern lasen wir z. B. eine Glosse, daß wegen der Äpfel — es ging um „Jonathan" oder „Marie Luise" oder was weiß ich — viele Minister Hunderte von Kilometern sich bewegen müssen. Hier wird sichtbar, daß Europa Gefahr läuft, in viele tausend Einzelentscheidungen zerfasert zu werden. Aber der Blick für das Ganze geht dabei nur zu leicht verloren.
Nun, was folgt daraus? Ich sagte dem französischen Staatspräsidenten, daß nach meiner Überzeugung eine neue Initiative politischer Art zur Neugestaltung Europas erfolgen sollte. Ich kann darauf verzichten, den historischen Ablauf zu schildern, was sich ereignete, um den Elan zu mindern und einen Stillstand herbeizuführen. Jedenfalls ist eine gewisse Malaise in der europäischen politischen Integration zu verzeichnen. Aber die Müdigkeit darf nicht länger auf Europa lasten. Es scheint mir dringend notwendig zu sein, daß wir einen neuen Anlauf nehmen.Ich kann heute um so freimütiger sprechen, als in der Zwischenzeit auch der französische Staatspräsident und der Ministerpräsident Pompidou sich zur gleichen Frage geäußert haben. Der französische
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4844 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. ErhardStaatspräsident äußerte sich mir gegenüber bereits im November dahin, daß, wenn er auch persönlich keine Initiative entfalten wolle, er doch damit einverstanden sei, wenn ich für ,die Bundesrepublik dieses Thema so etwa bei meinem nächsten Besuch in Rom anschneiden wolle. Ich bin für dieses Gespräch sehr dankbar; denn ich wollte und konnte nicht im Alleingang eine europäische Initiative entfalten. Das ist nur möglich im Einvernehmen mit unseren Partnern, mit unseren Freunden. Der französische Staatspräsident ermächtigte mich, auch in seinem Namen zu sprechen. Er wäre, wie zwischenzeitlich bestätigt, bereit, nach Rom zu kommen, d. h. eine Einladung des italienischen Regierungschefs zu einer Zusammenkunft der Regierungschefs und der Außenminister anzunehmen. Ich kann nur mit großer Genugtuung die Aufgeschlossenheit des französischen Staatspräsidenten verzeichnen; damit glaube ich, daß wir wieder einen Schritt vorwärts tun können.
Ich habe mich wohlweislich gehütet, in vorgenormten Begriffen und Kategorien zu denken, denn irgendwie sind sie alle vorbelastet, ob Fouchet-Plan I oder Fouchet-Plan II. Man sollte also aus der augenblicklichen politischen Situation die Konsequenzen zu ziehen bereit sein.Nun wurde im Zusammenhang mit meinem Besuch in den Vereinigten Staaten die Frage gestellt, wie es um die zweifellos vertiefte Freundschaft zu den Vereinigten Staaten und die Sicherung der Freundschaft und der gesicherten Aussöhnung mit Frankreich bestellt sei. Ich hege in dieser Beziehung gar keine Sorge. Das ist kein Widerspruch, sondern verträgt sich miteinander sehr gut. Ich bin auch nicht eingebildet genug, zu glauben, Deutschland sei der Nabel der Welt. Wir haben nur unseren redlichen Teil zur Versöhnung der freien Welt beizutragen und dann, wenn sie vereint, wenn sie stark ist, das Mögliche und Realistische zu tun, um die Ost-West-Spannungen zu mindern.Wir sprechen nicht doppelzüngig, nicht mit verschiedenen Zungen. Ob wir mit Frankreich sprechen oder mit den Vereinigten Staaten, es ist immer die gleiche innere, die gleiche moralische, die gleiche politsche Haltung, die uns beseelt.
Wir treiben auch keine unwahrhaftige Politik. Deshalb brauchen wir auch nicht besorgt zu sein, daß wir etwa in die Situation kommen, die man profan so bezeichnen könnte: man setzt sich zwischen alle Stühle. Wir werden aber bestimmt nicht „zwischen" den Stühlen sitzen.Es war sehr interessant zu hören, daß es dem französischen Staatspräsidenten gar nicht einfalle, die Bundesregierung etwa vor die Alternative Freundschaft zu Frankreich oder Freundschaft zu Amerika zu stellen; er meinte, daß das geradezu einem schlechten Witz gleichkäme. Frankreich hat durchaus Verständnis dafür, daß für uns die feste Freundschaft mit Amerika — so wie das westliche Verteidigungsbündnis nun einmal geartet ist — ein lebensentscheidendes Element darstellt. Ich kannIhnen umgekehrt sagen, daß der amerikanische Präsident in unserem Gespräch ausdrücklich beteuerte, wie glücklich auch die Vereinigten Staaten seien, daß die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gelungen ist. Präsident Johnson weiß sehr wohl, daß, wenn die atlantische Partnerschaft, wenn vor allem die innere Stärke des westlichen Bündnisses Bestand haben soll, auch und vor allem die deutsch-französische Freundschaft gesichert sein muß.
Im übrigen darf ich darauf verweisen, daß sich schon Präsident Kennedy dahin äußerte — und sein Außenminister hat ,es wiederholt —, daß, so wertvoll die Freundschaft mit Deutschland sei, es nicht Ziel oder Ideal der USA sein könne, ein Koordinatensystem bilateraler Beziehungen zu allen europäischen Ländern zu errichten. Amerika würde viel glücklicher sein, wenn es sozusagen eine Adresse in Europa hätte, an die es sich wenden könnte, — d. h. ein Europa zu wissen, das aus gemeinsamer Haltung, aus gleicher Gesinnung und Verpflichtung an der Gestaltung der freien Welt mitzuarbeiten bereit wäre.Insofern besteht also nicht die geringste Disharmonie. Ich habe das in Amerika in einer großen Pressekonferenz über alle Maßen auch deutlich werden lassen.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß alles uns lehren sollte, wie eng die atlantische Welt zusammenstehen muß, Es ist ganz sicher, daß der französische Staatspräsident die westliche Allianz voll bejaht. Er bekannte sich ausdrücklich als ein treuer Partner und Verbündeter der westlichen Allianz, wie er das z. B. bei dem Fall Kuba ganz deutlich bezeugte. In allen deutschen Fragen ist Frankreichs Haltung von unserem Volke hoch anerkannt. Dazu ist nur auf die Vorkommnisse auf der Autobahn zu verweisen.Daß indessen der französische Staatspräsident in bezug auf die Wirksamkeit und Organisation der NATO unsere Meinung nicht teilt, das brauche ich hier nicht zu erläutern; es ist bekannt genug. Aber das wurde auch klar ausgesprochen. Die Positionen wurden beiderseits eindeutig bezogen, sowohl in den Fragen, in denen wir uns völlig einig sind — im Denken und in den Zielen —, aber auch in jenen Fragen, in denen wir eben nicht ganz beisammen sind, aber doch jeder Partner seine Ansicht zum Ausdruck bringen kann und dann auch respektiert weiß.Ich kann Ihnen — weil es heute schon in der Zeitung steht — auch sagen, daß ich eine neuerliche Einladung des französischen Staatspräsidenten für Mitte Februar erhalten habe. Der General hat den Wunsch, sich vor seiner Lateinamerika-Reise mit mir noch einmal zu unterhalten.Natürlich war es mißlich und bedauerlich, daß sich der Fall Argoud ereignet hat. Ich möchte ihn hier nicht vertiefen; der Außenminister hat darauf vor dem Auswärtigen Ausschuß bereits Bezug genommen. Wir mußten unsere Rechtsposition mit aller Entschiedenheit wahren, aber wir werden ebenso
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhard •besorgt sein, daß von diesem Fall und der Art seiner Erledigung — Sie kennen unsere deutschen Vorschläge — die deutsch-französische Freundschaft nicht ernstlich berührt oder gar bedroht wird.
— Nein, ich sage ja, wir wahren unsere Rechtsposition.
— Wir haben ja bereits zwei Noten an die französische Regierung gerichtet. Eine Antwort auf die letzte Note ist noch nicht erfolgt.Lassen Sie mich nun — weil das alles in einem unmittelbaren Zusammenhang steht — auf die Ereignisse in Brüssel zu sprechen kommen, d. h. auf die Regelungen, die dort im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gefunden wurden.Es kam mir sehr darauf an — und das war ja auch die Politik des vergangenen Jahres —, einen Weg zu finden, um aus der isolierten bzw. detaillierten Behandlung der Dinge herauszukommen. Diese Absicht kam in einem „Papier" vom 9. Mai zum Ausdruck, das vom Ministerrat angenommen wurde und praktisch besagt, daß mit der Regelung der noch ausstehenden Agrarmarktordnungen zugleich auch weitgehende Klarheit und Übereinstimmung über die Haltung bestehen muß, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in der Kennedy-Runde einnimmt. Am Rande spielen auch noch Wettbewerbsverzerrungen eine gewisse Rolle, aber ich glaube, daß ich nicht zu sehr auf Details eingehen sollteUnser Anliegen ist in den Verhandlungen in Brüssel auch berücksichtigt worden. Hinsichtlich der Agrarmarktordnungen konnte im Verfahren der Rahmen gesetzt werden, der zum Teil noch der materiellen Ausfüllung bedarf. Das wird in den nächsten Monaten noch geschehen.Ich habe den französischen Staatspräsidenten ausdrücklich gebeten, er möge den 31. Dezember nicht als ein politisches Datum setzen, während ich ihm das Versprechen gab, daß die Bundesregierung ganz bestimmt keine Verzögerungstaktik betreiben werde. Das haben wir auch nicht getan —, und so haben wir uns denn in Brüssel schließlich auch geeinigt.Es wurde gesagt und war zu lesen, daß es bei diesen Verhandlungen keine Sieger und keine Besiegten gab. Das ist zwar ein beliebter Slogan, aber in diesem Fall trifft die Aussage zu.Uns Deutschen kam es darauf an, vor allen Dingen sicherzustellen, daß mit der inneren Festigung auf dem agrarwirtschaftlichen Gebiet innerhalb Europas unsere Beziehungen zu Drittländern nicht schweren Schaden leiden. Nicht nur in die neuen Agrarmarktordnungen, sondern auch in die 1962 abgeschlossenen wurde eine Klausel aufgenommen, die man in unserer neuen Sprache die Klausel 39/110 nennt. In deutscher Sprache heißt das, daß sowohldie Ziele der europäischen Agrarpolitik zu beachten sind, aber nach den Römischen Verträgen auch sicherzustellen ist, daß die Wirtschaftsbeziehungen, die traditionellen Handelsströme gegenüber Drittländern nicht gestört oder gar zerstört werden.
Dieses Schema hat natürlich auch einen wesentlichen Inhalt der Gespräche in Paris ausgemacht.Es ist nicht zu bestreiten — das ist auch wieder eine völlig natürliche Sache, die sich aus der unterschiedlichen Position der beiden Länder im Welthandel erklärt —, daß wir auf Grund unserer Struktur, auf Grund unserer weltweiten Beziehungen, auf Grund des Gewichts, das dem deutschen Außenhandel im Gesamtrahmen unserer Volkswirtschaft zukommt, stärker daran interessiert sein müssen, offene Märkte in der ganzen Welt vorzufinden, als das bei Frankreich, — ich sage eigens noch hinzu: heute noch der Fall zu sein scheint. Denn die Entwicklung in Frankreich zeigt deutlich, daß auch Frankreich immer mehr in die Weite streben muß und daß das, was wir heute als Beengung empfinden, morgen in Frankreich ebenso in Erscheinung treten wird. Wir haben also die Revisionsklausel in alle Agrarmarktordnungen, insbesondere auch in die schon abgeschlossenen, eingesetzt und glauben, daß dadurch eine beweglichere Politik auch innerhalb der Kennedy-Runde gewährleistet erscheint.Daneben spielen die Zolldisparitäten eine nicht unwichtige Rolle, vor allen Dingen diejenigen zwischen dem Gemeinsamen Markt und den Vereinigten Staaten. Aber ich würde wieder ins Technokratische verfallen, wenn ich darüber an dieser Stelle mehr sagte. Ich möchte dieses Problem nur als Erinnerunsgposten zur Ordnung des Wettbewerbs innerhalb der atlantischen Gemeinschaft anfügen.Im Zusammenhang mit meinem Besuch in den Vereinigten Staaten ist ein Mißverständnis aufgetreten, das ich dann sofort zu beseitigen suchte. Es waren Meldungen, die glauben lassen mußten, daß die deutsche Delegation mit den Vereinigten Staaten einen Sonderpakt oder ein Spezialabkommen in bezug auf die Kennedy-Runde oder auf die Gestaltung der Agrarmarktordnungen innerhalb der EWG geschlossen hätte. Nichts davon ist richtig; es handelt sich vielmehr um ein echtes Mißverständnis. Die Lage war so, daß uns bei unserem Besuch auf. der Ranch in Texas die Papiere von Brüssel noch nicht vorlagen. Daß wir als Hauptagrarimportland innerhalb der EWG für Drittländer besonders interessant sind, ist selbstverständlich. Ich denke z. B. an die Reislieferungen der Vereinigten Staaten und der Entwicklungsländer, aber auch an die Absatzmöglichkeiten für pflanzliche Ole und Fette auf dem deutschen Markt. Nachdem wir darüber keine Auskunft geben konnten, teils weil eben die Ausfertigungen noch nicht vorlagen, teils weil der Rahmen noch nicht mit materiellem Inhalt ausgefüllt war, kamen wir dahin überein, daß wir zu einem gemeinsamen Gespräch bereit seien — es handelt sich ja nicht um Geheimdokumente —, um zu prüfen, welche Konsequenzen sich aus den neuen Regelun-
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhardgen ergeben könnten. Das erfordert keine. Form, keine Institution, kein Abkommen. Wir springen also nicht aus der EWG heraus, sondern wir bleiben ihr treues Mitglied.In bezug auf die Handelspolitik bestehen natürlich innerhalb der EWG Nuancierungen. Sie bestehen aber nicht etwa nur zwischen Frankreich und der Bundesrepublik, sondern auch zwischen anderen Ländern.Ich habe in einer großen amerikanischen Zeitung gelesen, daß jetzt wieder das „neue alte Europa" in der Rückbildung begriffen sei. Ferner wurde behauptet, daß man z. B. in Brüssel nur um nationale Interessen gefeilscht habe. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß diese Deutung und diese Betrachtung unhaltbar, ja falsch ist. Natürlich hat jedes Land guten Grund, seine Belange zur Diskussion zu stellen. Aber das als ein Feilschen in dem alten nationalistischen Geist zu verstehen, wird dem Geist von Brüssel doch nicht gerecht. Von diesem solchem engen Egoismus waren die Brüsseler Verhandlungen denn doch nicht getragen. Wenn angefügt wurde, der Nationalismus feiere in Europa wieder Triumpfe, so kann ich reinen Herzens erklären, daß niemand freier von einem falschen und verlogenen Nationalismus ist, als ich es bin. Niemand wünscht ehrlicher, daß wir in Europa über die Nationalstaatlichkeit hinaus zum Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung und einer gemeinsamen Politik zusammenfinden.
Ich darf nun auf meinen Besuch auf der Ranch in Texas zu sprechen kommen. Natürlich war der äußere Rahmen im Vergleich zu meinem Besuch im Elysée-Palast differenziert genug. Aber die Differenzierung lag mehr in den äußeren Formen als im Geist und der Atmosphäre der Verhandlungen. Auch in Frankreich begegnete ich großer Aufgeschlossenheit, einer Herzlichkeit und dem redlichen Bemühen, von beiden Seiten das zu tun, was notwendig ist, um die Freundschaft zu pflegen. Nun, eine Ranch ist natürlich kein Elysée-Palast, und dieser keine Ranch. Die häusliche Atmosphäre in Texas hat dem Gespräch eine sehr private Note gegeben. Gewiß sind auch die Persönlichkeiten anders geprägt, —aber ist das nicht selbstverständlich? Aber auch hier — ich habe es vorhin schon angedeutet — bezieht sich das nicht auf eine differenzierte Haltung gegenüber Deutschland oder gegenüber Frankreich oder gar ein Konkurrenzverhältnis zwischen diesen beiden Ländern.Das freundschaftliche Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Bundesrepublik Deutschland ist sicherlich gefestigt worden, daran ist gar kein Zweifel. Der amerikanische Präsident weiß und spürt ganz genau, daß Deutschland innerhalb Europas ein gewichtiger Partner ist, nicht nur wegen seiner Verteidigungsanstrengungen, nicht nur wegen der Verpflichtungen, die wir auf dem Felde der Entwicklungshilfe erfüllen, nicht nur wegen unserer Haltung gegenüber den drängenden amerikanischen Problemen wie etwa der Handels- und Zahlungsbilanz oderauch der Währungspolitik, die die amerikanische Öffentlichkeit sehr stark beschäftigen, sondern auch aus der Überzeugung heraus, daß Deutschland auf Grund seiner Lebensnotwendigkeiten und seiner volkswirtschaftlichen Struktur am ehesten in Richtung einer atlantischen Politik als Partner angesprochen werden könnte, — nicht um uns aus Bindungen herauszubrechen, sondern um uns zu ermuntern, unseren eigenen Idealen und Grundsätzen, die wir seit 1948 in der Bundesrepublik verfolgen, treu zu bleiben.Es kommt also nicht darauf an — und das wurde auch vom amerikanischen Präsidenten deutlich gemacht —, die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Europa in erster Linie als ein bilaterales Verhältnis zwischen den USA und Deutschland zu sehen — beileibe nicht! Auch die Amerikaner sagen: alles, was Sie tun können, all Ihr Einfluß, den Sie in Europa ausüben können, um dieses Europa stärker zu verklammern, findet unseren vollen Beifall; je einiger dieses Europa ist, je stärker es in sich selbst ist, um so mehr sind wir bereit und um so mehr können wir es vor unserem eigenen Volk verantworten, die so großen Anstrengungen für die Verteidigung der ganzen freien Welt fortzuführen.Wir dürfen ja nicht vergessen, daß die Vereinigten Staaten immerhin eine Million Soldaten außerhalb ihres eigenen Landes stehen haben, daß sie für den Frieden, für die Freiheit und für die Sicherheit in allen bedrohten Teilen der freien Welt zeugen. Sie sind nicht nur gegenüber uns engagiert, sondern allerorts in fast allen Kontinenten. Aber Sie kennen ja das Kommuniqué, das hinsichtlich der Haltung der Vereinigten Staaten in allen Fragen, die aus unserem deutschen Anliegen entstehen — Selbstbestimmung Wiedervereinigung, Sicherheit und Freiheit Berlins —, keinen Zweifel an der Bündnistreue der Vereinigten Staaten zuläßt. Das ist eine Fragestellung, die in unserem Lande nicht mehr laut werden sollte.
Ich habe auch das Gefühl sowohl aus meiner früheren Verbindung zu dem Präsidenten Kennedy wie jetzt aus meiner Verbindung zu Präsident Johnson, daß jede Frage dieser Art unberechtigt ist, — vor allem dann, wenn auch Europa seine Pflicht tut.Ich mache aber, meine Damen und Herren, gar kein Hehl daraus, daß der amerikanische Präsident mir sagte: Bei dem. hohen Risiko und den hohen Lasten, die wir auf uns nehmen, sind wir selbstverständlich interessiert, in Fortführung der Politik von Kennedy nichts unversucht zu lassen, um die Spannungen in der Welt zu mindern, wobei Sie sicher sein können, daß wir zugleich alles tun, um die Sicherheit, die Freiheit und die Gerechtigkeit in der Welt zu verteidigen und überall für sie einzustehen. — So hat man es in den Vereinigten Staaten auch begrüßt, daß wir Handelsmissionen in den Ostblockstaaten errichtet haben. Man war auch zu der Passierscheinregelung positiv eingestellt, nicht ohne zu übersehen, daß hier unter Umständen doch auch ein Pferdefuß dahintersteckt. Das ist ja auch nicht zu übersehen.
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. ErhardDie Linien der amerikanischen Politik sind deutlich zu erkennen. Auf der einen Seite steht sie ein für die Freiheit in der Welt, gleichzeitig aber bleibt sie darauf bedacht, die Schwelle des heißen Krieges, soweit es ohne Bedrohung unserer Welt erreichbar erscheint, hinauszuschieben. Man erwartet, daß auch wir uns darüber Gedanken machen, ob und in welcher Weise wir dazu einen gemäßen Beitrag leisten können.
Der deutsche Beitrag, zu dem wir uns bereits verstanden, wurde durchaus in diesem Sinne und in dieser Richtung gewürdigt.In den Gesprächen hat natürlich auch die Frage der Verteidigung, und im besonderen des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses, eine Rolle gespielt. In diesem Zusammenhang war natürlich auch die Frage einer multilateralen Atomstreitmacht angesprochen. Bekanntlich haben wir uns positiv eingestellt, aber wir hegen zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten den lebhaften Wunsch, daß auch andere europäische Länder sich dazugesellen möchten und daß es in dieser Sache nicht bei einer bilateralen Verständigung bleiben möchte. Die Gespräche darüber sind bekanntlich im Gange. Ich möchte indessen den Ergebnissen nicht vorgreifen.Meine Damen und Herren! Wir waren uns mit den Vereinigten Staaten auch einig, daß wir nichts unternehmen sollten, um durch die Gewährung langfristiger Kredite die wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder Spannungen — ich will sie nicht charakterisieren, und ich kann sie auch nicht analysieren — zu vermindern. Das hat nichts zu tun mit Kaltherzigkeit. Wir spielen nicht den Shylock, sondern wir sind nur der Meinung, daß die Möglichkeiten, mit Chruschtschow doch auf dieser oder jener Ebene in dieser oder jener Sache in ein fruchtbares Gespräch zu kommen, um so geringer werden, je mehr die sogenannte kapitalistische Welt die Sowjetunion aus zweifellos vorhandenen Schwierigkeiten zu befreien bereit ist.Seien Sie also überzeugt; diese Besuche sowohl in Paris wie in Johnson — —
— Johnson-City, ja, das gibt es auch!
— auf der Ranch in Texas haben uns nicht dazu verleitet, wieder einmal zu glauben, wir Deutsche seien der Mittelpunkt der Welt. Wir sind aber auch kein amerikanisches Protektorat, diese falsche und durchsichtige Kennzeichnung ist jetzt manchmal zu hören. Nein, so fühlen wir uns wirklich nicht. Denn wir sind Freunde der Vereinigten Staaten, und zwar in gegenseitiger Bindung. Aber wenn Sie „Protektorat" so verstehen, daß wir des Schutzes der Vereinigten Staaten bedürfen, dann nehme ich diesen Begriff hin. Er darf nur keine falsche politische Deutung erhalten.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß ich vor weiteren Reisen stehe. Ich habe gestern Herrn Adenauer gesagt: „In einer Beziehung habe ich mich getäuscht, nämlich in der Vorstellung, daß der Bundeskanzler sich vorwiegend mit inneren Fragen befassen müsse.." — Nein, er muß sich in gleicher Art auch der Außenpolitik widmen; denn unsere Zeit und unsere Welt sind nun einmal so geartet. So führt mich also mein Weg in der nächsten Woche nach London, Ende des Monats nach Rom und Mitte nächsten Monats noch einmal nach Frankreich.Zu den inneren Fragen, die da noch anstehen, möchte ich nicht mehr allzu viel sagen. Die Passierscheinfrage ist Ihnen bekannt genug. Ich betrachte sie durchaus nicht nur von einer Seite, ich erkenne die beiden Seiten. Gewiß ist nicht zu verkennen, daß die Begegnung von vielen Hunderttausenden Westberlinern mit ihren Anverwandten in der Ostzone natürlich auch eine politische Kraft bedeutet. Es wäre töricht, das leugnen zu wollen. Denn die Westberliner sind zudem ja auch nicht mit leeren Händen gekommen. Aber was mir noch wesentlicher erscheint, ist das: wir sind doch manchmal in der Welt vor die Frage gestellt worden: Ist die Sehnsucht der Deutschen nach Wiedervereinigung wirklich echt und stark, oder ist das mehr oder minder zu einem Slogan, zu einem Erinnerungsposten in der deutschen Politik geworden? — Gerade darauf ist in Berlin in den Weihnachtsfeiertagen eine eindeutige Antwort gegeben worden!
Aber ich sagte schon: das ist die eine Seite.
Es wäre nämlich völlig falsch, verkennen zu wollen, daß sich hinter dieser Aktion auch ein politisches Problem verbirgt. Sie kennen die Sage vom Trojanisches Pferd. Ja, meine Damen und Herren, die Passierscheine bedeuten schon so etwas wie ein Trojanisches Pferd. Mittels solcher List und Tücke soll die Dreistaatentheorie zu uns hereingeschleust werden. Es geht um den bewußten Versuch, Westberlin von der Bundesrepublik, aus der Verantwortung der Bundesrepublik, aus der Bindung zu der Bundesrepublik zu lösen, ebenso natürlich auch das Verhältnis zu den westlichen Schutzmächten zu lockern. Ich bin sehr glücklich sagen zu können, daß, wenn sich auch manchmal da oder dort in der Pflege der Kontaktnahme bei diesem Geschehen nicht alles ganz vollendet vollzog, doch zwischen der Bundesregierung, dem Berliner Senat, den Botschaftern der Schutzmächte und den Kommandanten von Berlin zuletzt immer ein Einvernehmen hergestellt werden konnte
und daß vor allem die letzte Zustimmung, die wirklich an einem seidenen Faden hing, in sorgfältiger und wirklich höchst verantwortungsbewußter Weise schließlich von allen Beteiligten getroffen wurde. Aber, meine Damen und Herren, die Humanität ist nicht von der Sowjetzone bezeugt worden;
die Humanität ist in dieser Frage von uns bezeugt worden.
Das war sozusagen das Schild, hinter dem die Zonediese Passierscheinfrage zu politischen Zwecken zu
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Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhardmißbrauchen suchte. Denn wenn die Ulbrichts gewollt hätten, wenn es ihnen um ein humanitäres Anliegen gegangen wäre, hätte von uns aus gesehen jeder Ostberliner jeden Tag nach Westberlin kommen und dort seine Verwandten besuchen können.
Nichts von alledem! Es war vielmehr mit einer penetranten Deutlichkeit zu erkennen, daß mit dieser Passierscheinregelung das politische Ziel, die politische Verselbständigung Berlins, der Weg zur Dreistaatentheorie und die völlige Zerreißung der Bindung zwischen der Bundesrepublik und Westberlin erreicht werden sollte. Da sind wir natürlich auf der Hut gewesen, und das werden wir auch weiter sein.Ich kann Ihnen in diesem Augenblick noch nicht sagen, wie sich der weitere Ablauf gestalten wird. Wir müssen Wert darauf legen, daß nicht nur die Westberliner ihre Verwandten besuchen, daß sich alle Westberliner frei nach Ostberlin bewegen dürfen, sondern daß auch umgekehrt alle Ostberliner frei nach Westberlin kommen können. Auch sollte man die Begegnung nicht nur auf einige Feiertage beschränken, sondern es sollte eine laufende Beziehung hergestellt werden, und man sollte auch in den technischen Fragen zu einer Erleichterung kommen. Ich glaube, das sind berechtigte Anliegen, soweit die Sowjetzone dieses überhaupt ernst nimmt und ihre Aktion eben nicht nur ein politischer Coup gewesen ist.Meine Damen und Herren! Wir selbst haben mit der Passierscheinregelung über alle Maßen deutlich gemacht — sowohl die Bundesregierung wie der Berliner Senat und die Botschafter der Schutzmächte wie auch die Kommandanten in Berlin, die zu unserem Schutze dort stehen —, daß wir damit in keiner Weise auch nur im geringsten eine Änderung oder gar Verschlechterung des derzeitigen Status anzuerkennen bereit sind,
und das werden wir bei weiteren Regelungen noch weiter zu verdichten suchen.In gewissem Zusammenhang damit steht auch die jüngste Note Chruschtschows, die gleichlautend den maßgebenden Ländern zugegangen ist. Daß diese Note natürlich auch eine großangelegte Propagandaaktion bedeutet, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Rußland bietet sich den Asiaten und den Afrikanern sozusagen als der Retter dar, der es so gut meint und aus reiner Menschlichkeit allen helfen möchte, die sich in Nöten befinden. Die Note ist so aufgenommen worden, wie sie es nach meiner Ansicht aus politischer Sicht verdient, nämlich mit kühler Reserve, in nüchterner Prüfung. Ich nehme an, daß die Antworten zwischen den westlichen Alliierten abgestimmt werden und, wenn auch nicht im Wortlaut, so doch im Geiste völlig gleich sein werden.Interessant an dieser Note ist, daß zwar jene Länder, die in der Sprache Chruschtschows noch unter „kolonialer Ausbeutung" leiden, sehr wohl Gewalt anwenden dürfen, ja, daß es sogar ihr geheiligtesRecht ist, Gewalt anzuwenden; daß dieses Recht aber den Ländern verwehrt ist, die gewaltsam getrennt sind. Unsere 17 Millionen Deutschen drüben in der Zone sind nicht gefragt worden, in welchen Lebens-. formen sie leben wollen, sondern die sind wider ihren Willen annektiert worden. Das ihnen aufgezwungene Regime ist nicht mehr als eine Beleidigung der menschlichen Würde und ein Hohn auf Recht und Freiheit.
Wenn unsere deutschen Landsleute die freie Möglichkeit hätten, sich zu entscheiden, dann gäbe es doch nicht den geringsten Zweifel, wozu sie sich bekennen würden.
Herr Chruschtschow sagt, man müsse es diesen getrennten Völkern — er zählt da auf: Deutschland, Korea, Vietnam — überlassen, ohne Einmischung von außen,
ihre innere Ordnung und den Zusammenschluß zu erreichen. Die Zerreißung dieser Völker geschah doch wirklich nicht von ungefähr; dieser Vorgang hat doch eine Geschichte, und diese Geschichte kennen wir, leidvoll genug, sehr gut.Wir sind voll damit einverstanden, daß den Menschen in Deutschland — hüben und drüben — das Recht der Selbstbestimmung eingeräumt wird. Wenn zugesagt wird, die Völker sollen selbst entscheiden, — ja, wir sind damit völlig einverstanden. Die Deutschen hüben und drüben sollen frei entscheiden, was sie wollen. Davor bangt uns nicht. Mit der Selbstbestimmung ist die Frage der Wiedervereinigung zu gleicher Zeit erledigt, meine Damen und Herren.
Nun besteht die Absicht, daß in der ViermächteBotschafterkonferenz auf Grund einer neuen deutschen Initiative die Frage geprüft wird, ob, auf welche Weise, in welchem Verfahren und in welchen Stationen wir der Wiedervereinigung doch näherkommen könnten. Es wird also nicht an unserem guten Willen fehlen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit auch in unserem eigenen Vaterlande, im ganzen deutschen Vaterlande, herzustellen.Herr Chruschtschow sagt ferner, es solle auf Gewalt verzichtet werden. Wir selbst haben bekanntlich den Gewaltverzicht ausgesprochen. Wir werden aber nie darauf verzichten, das Recht auf Selbstbestimmung zu fordern. Herr Chruschtschow sagt, diese Völker selbst sollen ihr Schicksal bestimmen und entscheiden, welchen Weg sie gehen wollen. Ich darf in diesem Zusammenhang eine Warnung aussprechen. Bei allem Verständnis — wer hegt nicht die Sehnsucht, in einem wiedervereinigten Deutschland leben zu können — sollten wir uns doch vor der Illusion hüten, als ob es zwischen so unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaften Systemen, wie dem, das jetzt der Ostzone aufoktroyiert ist, und dem, das wir uns frei gewählt haben, eine Mischung gäbe. Nein, da gibt
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4849
Bundeskanzler Dr. Dr. h. c. Erhardes auch kein arithmetisches Mittel oder eine andere brauchbare Formel.
Wenn wir unser Schicksal in freier deutscher Entscheidung selbst bestimmen sollen, dann darf Herr Chruschtschow aber auch nicht so und so vielen Besuchern sagen: die Deutschen sollen das in sich selbst regeln, aber möglich ist das nur, wenn daraus ein kommunistisches Deutschland entsteht. Das verstehe ich nicht unter der Freiheit der Völker, ihr Schicksal selbst zu regeln.
Ich komme zum Ende und an den Anfang zurück. Meine Damen und Herren, wir werden eine Rolle in der Welt nur spielen können, wir werden die Hilfe der freien Welt für unsere deutschen Anliegen nur behalten, solange dieses Deutschland etwas wert ist. Das heißt aber, daß es in unserer Verantwortung liegt, alles zu tun, um die innere Ordnung, die wirtschaftliche Stabilität, die soziale Sicherheit, aber vor allem auch die Stabilität unserer Währung zu wahren.Sie, Herr Präsident, haben gestern gesagt: Wer die Macht hat, muß einer Kontrolle unterliegen. Natürlich, die Bundesregierung unterliegt der Kontrolle des Parlaments. Aber auch das Parlament unterliegt nicht so sehr einer Kontrolle, wohl aber dem Votum des deutschen Volkes. Und ich bin überzeugt, dieses Parlament wird nicht daran gemessen werden, was die einzelnen Fraktionen tun, um sich für den Augenblick da oder dort populär zu machen, sondern an dem, was dieses ganze Hohe Haus tut, um die Lebensrechte und die Zukunft des deutschen Volkes zu gewährleisten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Ausführungen erklärt, daß er die Gelegenheit dieser Haushaltsdebatte benutzen möchte, um das Parlament über wichtige Ergebnisse seiner politischen Reisen zu unterrichten. Wir begrüßen die uns damit zuteil gewordene Aufklärung, die vor allen Dingen in einigen Punkten doch Erleichterung, insbesondere in meiner Fraktion, hervorgerufen hat. Ich komme darauf noch zurück.Wenn der Herr Bundeskanzler nun auch einige Bemerkungen zur haushaltspolitischen Lage gemacht hat, so wird er Verständnis dafür haben, daß ich ihm hier nicht in demselben Umfang folgen kann, wie das hinsichtlich seiner außenpolitischen Konzeption der Fall ist. Das wäre bei den einzelnen Teilen meiner Stellungnahme zum Bundeshaushalt 1964 zum Ausdruck zu bringen. Aber gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, einige wenige Anmerkungen zu den außenpolitischen Ausführungen desHerrn Bundeskanzlers, wobei ich den Hinweis hinzufüge, daß es meine Fraktion selbstverständlich als eine politische Aufgabe ansieht, sich mit wichtigen Teilen dieser außenpolitischen Konzeption eingehend zu beschäftigen.Der Herr Bundeskanzler hat recht, wenn er auf zwei wichtige Punkte unserer Haltung in der Außenpolitik hingewiesen hat, nämlich auf das Bekenntnis der Aussöhnung mit Frankreich, ohne daß dadurch unsere Beziehungen zum amerikanischen Bündnispartner tangiert werden können.
Das Hohe Haus hat ja erfreulicherweise durch eine Präambel zum deutsch-französischen Vertrag hinsichtlich der einmütigen Haltung der Bundesrepublik Deutschland jeden Zweifel beseitigt,
und die Wirkung in der Weltöffentlichkeit wäre sicherlich noch größer und zwingender, wenn eine ähnliche Präambel auch vom französischen Parlament verabschiedet worden wäre.
Meine Damen und Herren, in allen Gesprächen, die man seit Verabschiedung des deutsch-französischen Vertrages in Amerika führen konnte, wird man auf solche Fragen aufmerksam gemacht, und jeder von uns, der diese Gespräche geführt hat, wird sich veranlaßt gesehen haben, den amerikanischen Freunden zu sagen, wie stark die freie Welt und wie stark insbesondere Amerika daran interessiert ist, daß diese Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ein fester Bestandteil der westlichen Politik bleibt.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auch, daß aus den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers eine Würdigung der Haltung Amerikas, insbesondere der durch den Präsidenten Kennedy eingeleiteten neuen amerikanischen Politik, erkennbar war. Ich hoffe, daß insoweit nicht durch unser Verschulden zu irgendeinem Zeitpunkt neue Mißklänge im deutschfranzösischen Verhältnis bemerkbar werden, daß wir auch hier in diesem deutsch-amerikanischen Verhältnis uns in vollem Umfang von gegenseitigem Vertrauen leiten lassen und daß jedes Mißtrauen im politischen Handeln der beiden großen aufeinander angewiesenen Staaten verschwindet.
Denn, meine Damen und Herren, es ist ja in jeder Weise ein Bündnis auf Gegenseitigkeit. Sosehr wir Deutschen Amerika brauchen und alles zu tun haben, um uns in der Erfüllung dieser großen nationalen Pflicht von keinem Amerikaner überspielen zu lassen, ist auch Amerika daran interessiert, daß dieser europäische Kontinent, der noch frei ist, der also in gefährlichem Sinne eine Vorpostenlinie in der großen Auseinandersetzung zwischen der westlichen Welt und dem Kommunismus darstellt, daß dieser Teil Europas wirklich über eine innere demokratische Stabilität verfügt. Denn nur so groß, wie diese
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerinnere demokratische Stabilität ist, ist der WertDeutschlands und dieses Europas auch für Amerika.
Meine Damen und Herren, es ist selbstverständlich, daß wir bei einer anderen Gelegenheit auf die bemerkenswerten Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zurückkommen werden, die sich mit Brüssel, die sich mit der EWG als Faktor der Weltpolitik beschäftigt haben. Wir teilen in großem Umfang seine Sorgen, ob das Abtreten nationaler Rechte ohne eine ausreichende politisch-parlamentarische Kontrolle auf die Dauer aufrechterhalten werden kann. Alle Ansätze, die in dieser Richtung schon gemacht worden sind, werden dabei einer Würdigung unterliegen. Wie gesagt, wir werden auf diese Ausführungen bei einer anderen Gelegenheit positiv zurückkommen, weil wir glauben, daß hier Wege aufgezeigt werden, die wir notwendigerweise beschreiten müssen. Denn ganz sicher haben doch die Erfahrungen der vergangenen Jahre bewiesen, daß eine wirtschaftliche Trennung des westlichen Europas politische Gefahren heraufbeschwört. Aus dieser wirtschaftlichen Trennung ergeben sich Differenzen, die politische Auswirkungen haben können. Solche politische Auswirkungen sind auf die Dauer einfach nicht zu vertreten.Ganz besonders dankbar — ich glaube, ich kann das für die sozialdemokratische Fraktion erklären, ohne sie besonders fragen zu müssen — sind wir dem Herrn Bundeskanzler für seine eindeutigenAusführungen über die volle Übereinstimmung zwischen der Bundesregierung und dem Senat von Berlin in all den Fragen der letzten Wochen, die ja Gegenstand mancher Erörterungen und mancher Mißdeutungen gewesen sind.
Die eindeutige Haltung, die hier der Herr Bundeskanzler eingenommen hat, wird von uns in vollem Umfang begrüßt, und wir sind davon überzeugt, daß ein solches Zusammenwirken der Bonner Bundesregierung, des Berliner Senats und der westlichen Alliierten immer zu guten Ergebnissen im Rahmen des politisch Möglichen führen wird.Sie, Herr Bundeskanzler, haben nun darauf hingewiesen, daß Ihnen noch manche außenpolitische Reise bevorstehe. Sie dürfen sicher sein, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion Sie mit allen guten Wünschen für beste Ergebnisse begleitet,
aus dem ganz einfachen Grunde, weil wir Sozialdemokraten Sie, Herr Bundeskanzler, nicht als den Bundeskanzler der einen oder anderen Partei, sondern als den Bundeskanzler des ganzen deutschen Volkes ansehen
und Ihnen deswegen für das deutsche Volk den Erfolg wünschen, den unser leidgeprüftes Volk nun wirklich braucht.
Das wollte ich zu den außenpolitischen Bemerkungen und zu den wichtigen außenpolitischen Informationen sagen, die der Herr Bundeskanzler vorgetragen hat.Nun, meine Damen und Herren, hatte ich vor, mich zunächst einmal mit zwei wichtigen haushaltspolitischen Fragen zu beschäftigen, bin aber der Meinung, daß ich das zunächst einmal den Rednern der Koalition überlassen sollte. Ich bin auf die Idee nicht von selbst gekommen, sondern auch durch einige Bemerkungen des Herrn Bundestagspräsidenten über das Gewicht der Kontrolle des Parlaments gegenüber der Bundesregierung. Und da interessiert es uns — ohne daß wir Ihnen vorher einen Waschzettel liefern —, wie Sie zu zwei wichtigen Punkten des Haushaltsgesetzes stehen.Punkt eins ist die Tatsache, daß wieder einmal die Bestimmung des Art. 110 Abs. 2 des Grundgesetzes verletzt worden ist, indem der Haushaltsplan nicht vor Beginn des Rechnungsjahres durch ein Gesetz festgestellt wurde. Das ist seit vielen Jahren leider die Übung geworden, und Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir wissen möchten, wie die Mehrheit des Hauses zu dieser Bestimmung des Grundgesetzes steht und inwieweit sie auf ihre Bundesregierung Einfluß nehmen möchte, diesem Prinzip des Grundgesetzes Geltung zu verschaffen.Ein Zweites. Wir sind der Meinung, daß das Haushaltsgesetz in vielen Punkten so gestaltet worden ist, daß man es beinahe als ein Ermächtigungsgesetz für die Bundesregierung bezeichnen müßte.
Sie werden ja auch bemerkt haben, in wie großem Umfang hier das Etatrecht des Parlaments kastriert werden soll.
Wir möchten wissen, wie die Mehrheit dieses Hohen Hauses — weil wir ja allein nicht ausreichen, wenigstens zur Zeit noch nicht ausreichen, das zu verhindern — nun über dieses Haushaltsgesetz denkt und welche Anträge sie gemeinsam mit uns einzubringen beabsichtigt, um das Etatrecht, das wichtigste Recht eines Parlaments in einem demokratischen Staat, in vollem Umfang wieder herzustellen.
Zwei ganz interessante Aufgaben! Der Herr Kollege Vogel, der mir sagte, er habe nicht vor, heute länger zu sprechen, wird sich ja nun doch wohl etwas eingehender mit dieser Problematik, die man nicht mit ein paar Redensarten abtun kann, zu beschäftigen haben. Ich darf Ihnen versichern, daß wir im Laufe der heutigen Debatte auch noch unseren Beitrag zu diesen beiden Kapiteln leisten werden.Meine Damen und Herren, wer zu einem Haushaltsentwurf des Bundes Stellung nehmen will, der muß die gesamtwirtschaftlichen Aspekte, die für die Etatgestaltung von Bedeutung sind, sorgfältig untersuchen. Nichts kennzeichnet die konjunkturellen Erwartungen für 1964 besser als die Steigerungen der vorausgeschätzten Zuwachsraten für das nominale und reale Sozialprodukt 1964 im Verlaufe der letzten Wochen des vergangenen Jahres. Der im Dezember vorgelegte Wirtschaftsbericht der Bundes-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4851
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerregierung schätzt den nominalen Zuwachs auf 6,4 und den realen auf 4,5 v. H. Die Gemeinschaftsdiagnose der Forschungsinstitute von Mitte Dezember —darauf ist schon hingewiesen worden — veranschlagt die Zuwachsraten auf 7,5 und 5,3 v. H.Ich komme bei einem anderen Punkt meiner Ausführungen noch auf das Bekenntnis des Herrn Bundeskanzlers zurück, daß er nur graduell sündigt, daß er einen Teil der nominalen Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts für die Einnahmeseite des Bundeshaushalts akzeptiert, — aber einen Teil nur, der willkürlich gewählt ist und der nicht der jetzigen Lage entspricht. Es muß überraschen, daß die im Ersten Wirtschaftsbericht der Bundesregierung dominierenden, aber konjunkturpolitisch deplacierten Maßhalterichtlinien im Zweiten Wirtschaftsbericht völlig in den Hintergrund getreten sind. Nun mag zu dem neuen Maßhalten im Moralisieren die Kritik, die der verbale Teil des Ersten Wirtschaftsberichts wegen seines Ideologiegehalts erfahren hat, beigetragen haben. Wichtiger scheint mir jedoch zu sein, daß das neue Steigen der Ausfuhrüberschüsse jedwelcher Art von Restriktion der Binnennachfrage den Boden unter den Füßen weggezogen hat.
Nicht ohne Grund wird hierauf im Zweiten Wirtschaftsbericht mehrmals hingewiesen. Der Schlußabsatz 31 des Wirtschaftsberichts enthält beispielsweise Hinweise auf die Notwendigkeit internationaler Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Preisstabilität.Die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, meine Damen und Herren, auf den Märkten des In- und Auslandes hat, wenn sie bei dem niedrigen Aufwertungssatz im März 1961 je als gefährdet angesehen werden konnte, sich wiederhergestellt, ohne daß die Maßhaltezielsetzungen der Leitlinien respektiert worden sind. Statt einer Orientierung der Ausgaben der öffentlichen Hand an der zu erwartenden Zunahme des realen Sozialprodukts von 3,5 v. H., die ja schon im Zahlenteil des gleichen Berichts nicht mehr ernst genommen wurde, hat es eine Erhöhung der öffentlichen Verbrauchsausgaben — siehe Zahlenteil im Zweiten Bericht! — um 11 v. H., der öffentlichen Einkommensübertragungen um 8,1 v. H. und der öffentlichen Investitionen in zwar nicht quantifizierter Höhe, mindestens aber in Höhe der Bauinvestitionen, nämlich in mit plus 7,2 v. H. anzusetzender Intensität, gegeben. Statt einer Steigerung der Lohn- und Gehaltssumme je Beschäftigten von, wie gefordert, 3 bis 3,5 v. H. hat, wie dem Zweiten Wirtschaftsbericht zu entnehmen ist, die Zuwachsrate der Brutto-Einkommen aus unselbständiger Arbeit je Kopf fast 6% betragen.Diese Feststellungen sind deswegen erfreulich, weil ohne Ignorierung der Leitlinien nicht einmal die bescheidene Zuwachsrate des realen BruttoSozialprodukts von 3 % zu erreichen gewesen wäre, dafür aber für 1964 die Voraussetzungen für einen noch stärkeren Ausfuhrüberschuß entstanden wären. Im zweiten Wirtschaftsbericht wird der Außenbeitrag für 1964 auf 3,8 Milliarden DM geschätzt. Das ist sicherlich zu niedrig. Aus den von den Forschungsinstituten geschätzten Zuwachsraten läßt sich der von ihnen veranschlagte Außenbeitrag auf 6 Milliarden errechnen.Dieser ganze Komplex hat in der Haushaltsdebatte 1963, insbesondere in der ersten Beratung, eine zentrale Rolle gespielt. Es gibt keinen Grund, diesmal anders zu verfahren, wobei nur zu hoffen ist, daß die Bundesregierung nun realistischer in ihrer Verbindung des Beitrags des Bundeshaushalts zur gesamtwirtschaftlichen Stabilität verfährt. Sicher ist das allerdings nicht. Denn nach wie vor wird für die Ausgabensteigerung der öffentlichen Hand ein Limit gesetzt, das nicht aus der außenwirtschaftlichen Situation abgeleitet wird und das daher zu den Leitlinien für private Investitionsnachfrage und private Konsumnachfrage speziell und für die Binnennachfrage im allgemeinen in Widerspruch geraten kann. Dieses Limit wird in der zu erwartenden Steigerung des Bruttosozialprodukts gesehen. Volkswirtschaftlich müßte das Limit zweifellos noch auf andere Kriterien Rücksicht nehmen, um nicht, insbesondere in der jetzigen Situation, durch eigenes Verhalten zu weiter steigenden Ausfuhrüberschüssen zu kommen.Vielleicht bringt schon das Jahr 1965 für den Bundesetat ein, dann aber begründetes Maßhalteerfordernis. Bis dahin kann die scharfe Preissteigerung im Ausland unter Kontrolle gebracht worden sein, so daß dann erstens eine Binnenrestriktion konjunkturpolitisch wirksam würde, und zweitens könnte sich die Investitionsnachfrage der deutschen Unternehmen derart entwickelt haben, daß auch durch Zurückhaltung im öffentlichen Sektor zur erreichbaren Stabilität beigetragen werden muß. Wem wirklich an einer Preisstabilität liegt, hat die einzelnen Herde ihrer ständigen Gefährdung sorgfältig zu unterscheiden. Nicht immer — das haben wir jetzt erlebt — ist eine konjukturelle Überhitzung ihr Anlaß. Das hat sich besonders deutlich im Jahre 1963 gezeigt. Wie wir dem neuen Wirtschaftsbericht der Bundesregierung entnehmen können, ist mehr als die Hälfte des auf rund 3 % geschätzten Anstiegs der Verbraucherpreise — ich zitiere wörtlich — auf „von der Konjunkturentwicklung weitgehend unabhängige Faktoren" entfallen. Neben — ich zitiere wieder — „witterungsbedingten Verteuerungen bei Nahrungsmitteln und Brennstoffen" haben dazu in starkem Maße — das sage ich jetzt — öffentlich veranlaßte Preiserhöhungen bei Bahn und Post, bei Wohnungsmieten und bei .den Nahrungsmitteln beigetragen.Was nützt aber die Einschränkung von Ausgaben im Bundeshaushalt zu idem ausdrücklich erklärten Zweck, Preisstabilität zu bewirken, wenn die gleiche Regierung auf den von ihr unmittelbar zu beeinflussenden Gebieten bewußt Preissteigerungen herbeiführt?
Was nützen dem Verbraucher und was nützen dem Kaufmann Stabilisierungshaushalte und Maßhalteetats, die, wie das letzte Jahr bewiesen hat, Preisstabilität deklamieren, aber nicht zu realisieren imstande sind, vielleicht auch gar nicht imstande sein können, wenn die Quelle der Preissteigerung
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4852 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllereben nicht konjunkturpolitische Überhitzung oder Lohnauftrieb gewesen ist, die mit der Höhe der öffentlichen Gesamtausgaben einer mittelbaren Regulierung fähig wären.Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Teil meiner Ausführungen in leise Zweifel ziehen möchten, empfehle ich Ihnen, die Seite 12 des Wirtschaftsberichts der Bundesregierung aufzuschlagen, die Ziffer 24 vorzunehmen, und Sie werden eine volle Bestätigung meiner Ausführungen dieser Ziffer 24 entnehmen können.Auch 1964 scheint sich an dieser Grundsituation nichts geändert zu haben. Zwischen den Ausführungen im Wirtschaftsbericht des Kabinetts und des Herrn Bundesfinanzministers bei der Einbringung des Etats klaffen in diesem Punkt nicht zu überbrückende Widersprüche. Wenn keine Übernachfrage zu befürchten ist — und darin besteht doch allgemeine Übereinstimmung —, dann gilt es, die außerkonjunkturellen Quellen der Preissteigerung zu verstopfen, und diese liegen zunächst einmal und für die Regierung leicht erreichbar auf agrar-, wohnungs- und verkehrspolitischem Gebiet.In der weiteren Zukunft kann sich das allerdings ändern, und vielleicht — darauf habe ich schon hingewiesen — werden 1965 konjunkturell verursachte Preissteigerungen auch konjunkturpolitisch, d. h. auch durch Zurückhaltung bei öffentlichen Ausgaben, bekämpft werden müssen.Aber gerade diese Überlegungen scheint die Bundesregierung nicht anzustellen. Mit Rücksicht auf die Bundestagswahl versucht sie, jetzt Mittel für 1965 vorzubereiten und flüssig zu machen, obwohl 1964, wie die gemeinsamen Vorausschätzungen der Forschungsinstitute zeigen, ein höheres reales Wachstum ohne ein Mehr an Preissteigerungen möglich ist.Daraus ergibt sich für die sozialdemokratische , Bundestagsfraktion die Forderung: nur eine gegenwartsnahe, sachverständige gesamtwirtschaftliche Prognose kann für die Ermittlung des finanziell Möglichen in der Etatgestaltung maßgebend sein.Was für Folgerungen sind nun aus diesen Überlegungen zunächst für die Einnahmeseite des Bundeshaushalts zu ziehen? Legt man die neue Interessenquote des Bundes von 39 % der Bundeseinnahme zugrunde, so würde der hieraus resultierende Einnahmeausfall durch die zu erwartenden Steuermehreinnahmen im Falle einer Sozialproduktsteigerung um 7,5 % ausgeglichen werden. Wir schätzen, daß sich in diesem durchaus realistischen Fall die gesamten Steuereinnahmen des Bundes auf 53 560 Millionen stellen und damit um 60 Millionen DM höher liegen als der Ansatz des Etatentwurfs mit einer Interessenquote von 40 %. Ich gebe zu, daß insoweit der Herr Bundesfinanzminister bei seiner Rede in einer etwas schwierigen Lage war. Er konnte nicht auf die letzte Gemeinschaftsdiagnose der Forschungsinstitute zurückgreifen, weil dadurch erstens die Einnahmeseite eine Veränderung erfahren haben würde und weil er damit zweitens eine wirkungsvolle Begründung für die Richtigkeit des Vorschlags des Vermittlungsausschusses geliefert hätte.
Der Ansatz für die übrigen Einnahmen — Anleihen zunächst einmal ausgenommen — ist im allgemeinen und aus unserer Sicht nicht zu beanstanden. Allerdings wird bei der Masse der kleineren Einzelpositionen bei den Verwaltungseinnahmen, wie eine genaue Kontrolle der Ansätze in den in Frage kommenden Einzelplänen zeigen dürfte, noch eine Erhöhung von insgesamt etwa 100 Millionen DM entstehen.Für Anleihen hat der Herr Bundesfinanzminister 2150 Millionen DM vorgesehen. Der in der Etatdebatte 1963 viel zitierte Kapitalmarkt hätte natürlich ohne Zinssteigerung mehr an öffentlichen Anleihen zugelassen. In dieser Frage hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ebenfalls recht behalten. Einem Zitat von Herrn Bundesfinanzminister Dr. Dahlgrün — Bundestagsprotokoll der 76. Sitzung S. 3696 — zufolge wurde die Leistungsfähigkeit des Kapitalmarktes für 1963 auf 12 bis 14 Milliarden DM veranschlagt. Im Zeitraum vom Januar bis Oktober — Bundesbank-Bericht vom November 1963, S. 58 — betrug der gesamte Wertpapierabsatz bereits 13,8 Milliarden DM. Er wird in den restlichen Monaten des vergangenen Jahres sicher nicht geringer gewesen sein als im Jahre 1962, so daß effektiv 15 bis 16 Milliarden DM untergebracht werden konnten. Dabei betrifft diese Rechnung nur die festverzinslichen Wertpapiere, obwohl der Herr Bundesfinanzminister in seinen Zahlen die Aktienemission möglicherweise mit eingeschlossen hat. Vielleicht mag 1964 der Auslandsabsatz etwas zurückgehen. Dafür werden aber auf Grund der durch die Devisenzuflüsse verbesserten Bankliquidität von den Banken mehr Papiere gekauft werden können. Der Ansatz im Bundeshaushalt für die Anleiheaufnahme ist daher sicher nicht überhöht.Wir berücksichtigen dabei, daß man in einem, sagen wir, „Schatten-Budget" noch folgende Beträge vor sich herschiebt: 500 Millionen DM Zuschuß an die Rentenversicherungsträger, die in Form von Schuldbuchforderungen entrichtet werden, 350 Millionen DM Straßenbaumittel über die Offa, 200 Millionen DM Entwicklungshilfe, die eine Stelle außerhalb der Bundesverwaltung finanzieren soll, und 132 Millionen DM Berlin-Anleihe. Das sind also 1182 Millionen DM, die neben dem Haushalt herlaufen, sicher aber mindestens intern in den außerordenlichen Haushalt gehören.Auf der Ausgabenseite des Etats zeigen die —allerdings nur zum Teil — geschätzten Ist-Zahlen für 1963, daß es dem Herrn Bundesfinanzminister voll gelungen ist, die pauschal abgesetzten Minderausgaben in Höhe von 1050 Millionen DM im Laufe des Jahres auf die einzelnen Haushaltsstellen aufzuteilen. Sieht man von den neuerdings in den kurzfristigen Ausweisen gesondert gebuchten durchlaufenden Ausgaben im Verteidigungsetat ab, so dürfte im Jahre 1963 ein Betrag von schätzungsweise 56,4 Milliarden DM verausgabt worden sein. Dieser Betrag entspricht genau dem Ausgabe-Soll abzüglich der in ihm enthaltenen Vorgriffe von 400 Millionen DM an Verteidigungsausgaben. Dieses Verfahren, meine Damen und Herren — das möchte ich voraussagen —, wird der Herr Bundesfinanzminister 1964 sicher
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4853
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllermit demselben Erfolg wie im Vorjahr praktizieren können, vor allen Dingen dann, wenn nicht wesentliche Teile des Haushaltsgesetzes eine Änderung erfahren.Daher ließen sich Reserven, von der Ausgabe- und von der Einnahmeseite zusammengenommen, in den Etat einstellen. Die Etatsumme würde sich in diesem Fall auf etwa 60 750 Millionen DM belaufen. Die Steigerungsrate der Etatsumme würde dann noch nicht einmal 7 % betragen und unter der von den Forschungsinstituten geschätzten nominalen Zuwachsrate des Sozialprodukts liegen.Solche Untersuchungen sind für den Teil des Bundestages, der zur Zeit keine Bundesregierungsverantwortung trägt, unerläßlich. Wir beabsichtigen dabei nicht, von uns aus die magische Grenze von 60,3 Milliarden DM zu überschreiten. Inwieweit sie echt ist und bleiben kann, werden die weiteren Beratungen zeigen.Ich will nur auf zwei Punkte hinweisen, um diese magische Grenze von 60,3 Milliarden DM zu beleuchten. Die Übernahme des Defizits aus dem vorangegangenen Haushalt in den Nachtragshaushalt 1963 ist eine Maßnahme, die auch nur erfolgt, um bei dieser magischen Grenze von 60,3 Milliarden DM zu bleiben. Ein viel 'betrüblicheres Beispiel ist die Berlin-Anleihe in Höhe von 132 Millionen DM. Abgesehen davon, daß ich aus rein politischen Gründen nicht glaube, daß der Zeitpunkt richtig gewählt worden ist, den Senat von Berlin gerade jetzt zu veranlassen, eine Berlin-Anleihe aufzulegen, frage ich mich, warum das geschehen ist, wenn, wie der Herr Bundesfinanzminister in seiner Rede erklärt hat, der Bund bereit ist, den Zinsen- und Tilgungsdienst voll zu übernehmen. Man kann doch nur dann eine Antwort auf diese Frage finden, wenn man davon ausgeht, daß auch auf diesem Wege verhindert werden sollte, daß die magische Grenze von 60,3 Milliarden DM in Frage gestellt wird. Eine andere überzeugende Begründung kann nicht gegeben werden. Deswegen fordert die sozialdemokratische Bundestagsfraktion: auch innerhalb von willkürlich gesetzten magischen Grenzen muß das realistische Ziel die der öffentlichen Hand anvertraute Erfüllung lebenswichtiger, für die Existenz des demokratischen Staates unabweisbarer Aufgaben sein.Nun ist ohne jede Einschränkung zuzugeben, daß das auf steuer- und finanzpolitischem Gebiet von den Adenauer-Erhard-Kabinetten der neuen 'Bundesregierung Erhard-Mende hinterlassene Erbe zweifellos besondere Wiedergutmachungsleistungen herausfordert. Zur traurigen Hinterlassenschaft gehört z. B. erstens die fehlende, seit 1953 in den Regierungserklärungen angekündigte Finanzreform. Ich will auf die Leidensgeschichte dieser Finanzreform allein in unserer Legislaturperiode nicht eingehen. Aber wenn Sie einmal das Bundestagsprotokoll vom 17. Januar 1962 zur Hand nehmen und nachlesen, was dort der damalige Bundesfinanzminister Starke ausgeführt hat, dann werden Sie die Berechtigung meiner Feststellung anerkennen müssen. Der Herr Bundeskanzler hat am 18. Oktober in seiner Regierungserklärung gesagt:Die Vorarbeiten für eine Finanzreform, die eine allzu lange Verzögerung erfahren haben,— das stammt nicht von mir, sondern von ihm —werden deshalb unverzüglich aufgenommen.Nun, wir haben heute wieder gehört, es sei damit zu rechnen, daß eine solche Expertenkommission die Arbeit aufnimmt. Daß wir noch gelinde Zweifel anmelden, bitte ich wegen der Erfahrungen aus der Vergangenheit anzuerkennen. Beispielsweise ist ja auch noch immer nicht die Bildung des Sachverständigenrates vorgenommen, eines Sachverständigenrates, der nach Auffassung der Experten für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Bedeutendes leisten könnte. Das Gesetz ist lange verabschiedet. Die CDU hat es beispielsweise fertiggebracht, einen Wirtschaftsausschuß für ihre Partei zu bilden. Aber zu dem Sachverständigenausschuß, der die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in die Hand bekommen und unter Kontrolle bringen soll, der neutrale Daten zu setzen hat, ist es leider noch nicht gekommen.
Deswegen zweitens auch die fehlende Rangfolge in der Aufgabenerfüllung von Bund, Ländern und Gemeinden; daher auch die allzu lange fehlende Verständigung mit den Ländern im Steuerstreit; daher auch die falschen Ausgangspunkte scheinbarer, weil manipulierter Bundesdefizite, die dann auch noch mit dem Zauberstab erhöhter Länderzuschüsse ausgeglichen werden sollen; und daher auch die fehlende Einsicht bei der Mehrheit dieses Hohen Hauses, daß den letzten, z. B. unsere Gemeinden, nicht die Hunde beißen dürfen, sondern daß gerade ihm eine den Prinzipien unseres Grundgesetzes entsprechende sorgende Hilfe zuteil werden muß; daher auch die sich häufenden Fehlanzeigen in der Aufgabenerfüllung, vom Verkehrschaos über die ungenügende Förderung der wissenschaftlichen Forschung bis zum Schweigemarsch der Heimkehrer- und Kriegsopferverbände. Immer wieder handelt es sich um .denselben Bürger, dessen Leben und Schicksal mit den Leistungen seiner Gemeinden, seines Landes und des Bundes unlösbar verbunden bleibt. Nur dieser Bürger darf der für uns alle gemeinsame Ausgangs- und Orientierungspunkt sein.Auch die Regierungserklärung vom 18. Oktober vorigen Jahres hat den großen Spannungsbogen der schwerpunktmäßig nun einmal vorhandenen Aufgabenstellung in der Innen- und Außenpolitik deutlich gemacht, allerdings ohne ausreichend der Sünden der Vergangenheit zu gedenken und ohne mehr zu tun, als den Willen für die Tat in Erscheinung treten zu lassen.Meine Damen und Herren! Die Finanzpolitik ist zur wichtigsten Ausgangsposition für Ausmaß und Zielsetzungen in der gesamten Politik geworden. Die Finanzen sind der Nerv aller Dinge, und der Bundeshaushalt muß sozusagen als Nervensystem der öffentlichen Finanzwirtschaft angesehen werden. Auch an dieser Stelle wiederhole ich: Jeder Etat offenbart die in Geldwert bemessene Regierungspolitik. In den Einnahme- und Ausgabeansätzen hat sich widerzuspiegeln, was in der Regie-
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4854 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerrungspolitik in vollem Umfange getan und wie es finanziert werden soll. So war es auch durchaus verständlich, daß sich in der Erhardschen Regierungserklärung immer wieder Hinweise auf den noch vorzulegenden Haushaltsplan 1964 gefunden haben. Dieses Regierungsprogramm und die jetzt zur Debatte stehende Haushaltsvorlage sind zwei Seiten derselben Münze. Wie man die Münze auch wirft, was immer oben liegt, ob Kopf oder Zahl, hat notwendig das andere zur Rückseite. Die Haushaltsvorlage 1964 gehört zur Regierungserklärung. Beide sind siamesische Zwillinge.Wir Sozialdemokraten haben uns in diesem Bundestag redlich abgemüht, zu verhindern, daß sich die Koalitionsmehrheit in einer finanzwirtschaftlichen Sackgasse festrennt, und haben immer wieder vernünftige Vorschläge zur Debatte gestellt. Wenn nicht allzu oft Rechthaberei als Mittel der Politik angesehen würde, hätte die jetzige Regierung einen besseren Start haben können. Es fehlt seit Jahren die Erkenntnis, die der neue Bundeskanzler in der richtigen Formulierung ausgedrückt hat, daß die Opposition ein notwendiger und vollwertiger Bestandteil des parlamentarisch-demokratischen Systems ist. Das bedeutet, in vollem Umfange Verantwortung tragen, und dieser staatspolitischen Aufgabe gerecht zu werden, ist unser stetes Bemühen. Deswegen die Forderung unserer Fraktion: An Stelle von Rechthaberei und Parteiegoismen muß immer das bessere Argument Mittel der Politik sein.Meine Damen und Herren! Als ich in diesem Hohen Hause am 14. März 1962 in der ersten Beratung zum Haushaltsgesetz 1962 Stellung nahm, habe ich darauf verwiesen, daß noch kein Gesetz vorliegt, das auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 120 des Grundgesetzes d. h. zur Regelung der Kriegsfolgelasten bzw. der Tilgung der Ausgleichsforderungen, notwendig geworden war. Das Protokoll, Seite 856, vermerkt dazu: „Zuruf von der Mitte: Ist längst geregelt!". Die Herren der Mitte, der CDU, die mir diesen Zwischenruf gemacht haben, die also der Meinung waren, es sei schon alles in Ordnung, das Gesetz über die Regelung der Kriegsfolgelasten sei erlassen, die Änderung des Art. 120 des Grundgesetzes sei erfolgt, haben sich gründlich geirrt. Der eine oder andere sitzt heute auf der Ministerbank.Inzwischen, meine Damen kund Herren, ist ja. durch das Beratungsergebnis des Vermittlungsausschusses vom 18. Dezember 1963 bekanntgeworden, welche Rolle dieses Dürkheimer Abkommen spielt. Wir haben, um eine Einigung zwischen Bund und Ländern zu erzielen, die im Vermittlungsausschuß angeregten Vorschläge zur Neutralisierung des Dürkheimer Abkommens und zur Neuordnung auch des Art. 120 akzeptiert, und insoweit sind die Beschlüsse bzw. die Beratungsergebnisse des Vermittlungsausschusses zusammenzufassen. Es handelt sich nicht nur um eine Änderung des Bundesanteils an der Einkommen- und Körperschaftsteuer, sondern natürlich auch um dieses Gentlemen Agreement in der Frage des Dürkheimer Abkommens und auch hinsichtlich einer befriedigenden Regelung derKriegsopferversorgung. Darauf, meine Damen undHerren, möchte ich mit allem Nachdruck hinweisen.Nun will ich nicht untersuchen, wer die Palme erhalten muß für das, was man als Burgfrieden zwischen Bund und Ländern bezeichnet, der Herr Bundeskanzler oder der Herr Bundesfinanzminister. Ich will nur einfach als Realität festhalten, daß im Vermittlungsausschuß auch sozialdemokratisch geführte Länder und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion vertreten sind. Wir haben im Vermittlungsausschuß dieses Ergebnis akzeptiert, trotz der Erklärung des Bundesfinanzministers, das Steueränderungsgesetz mit den Länderfinanzministern in seinen Auswirkungen auf die Einnahmeseite der Etats früh genug zu besprechen. Wir haben aber in der Entscheidung diesen Punkt ausgeklammert, obwohl wir uns darüber klar sind, daß diese Bundestagsmehrheit immer dann mit Steuergeschenken vor den Wahlen sehr großzügig umzugehen versteht, wenn der Ausfall in der Hauptsache die Länder und damit auch die Gemeinden trifft.
Der Herr Bundesfinanzminister hat in seiner Rede u. a. auch einen Appell an die Länder gerichtet, hinsichtlich des Zuwachses des Haushaltsvolumens von 196.3 zu 1964 den Bund als Beispiel zu nehmen und nicht über 6 % hinauszugehen. Ich kann mich darüber nur wundern. Denn dem Herrn Bundesfinanzminister müßte, wenn er diesen Appell aus innerer Überzeugung erlassen hat, unbekannt sein, daß sein eigenes Ministerium Mitte Dezember eine Aufstellung angefertigt hat, aus der hervorgeht, zu welchem Prozentsatz sich das Haushaltsvolumen der Länder insgesamt vom Etatjahr 1963 zum Etatjahr 1964 verändert. Wir haben die Unterlagen vom Bundesfinanzminister; es ist zu beanstanden, daß seine Herren ihm diese Unterlagen nicht auch geben. Denn aus diesen Unterlagen geht hervor, daß sich die Länderhaushalte von 1963 zu 1964 um 5,9% erhöhen, so daß also jeder Appell an die Länder überflüssig ist.
— Ja; es handelt sich um den Durchschnitt der Länder. Ich will das im einzelnen nicht untersuchen, weil man ja wohl zugeben muß, daß die Verhältnisse in den Ländern unterschiedlich sind. Rheinland-Pfalz — um einmal dieses Beispiel zu nehmen, weil dort keine Sozialdemokraten in der Regierung sind — kann schon deshalb keine hohe Zuwachsrate haben, weil die finanzielle Situation dieses Landes außerordentlich prekär ist.Meine Damen und Herren, wir wissen nun, daß das Bundesfinanzministerium die Absicht hat, im Steueränderungsgesetz 1964 bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer Ermäßigungen in Höhe von 2,5 Milliarden DM durchzuführen. Das soll nach den uns gewordenen Informationen der Ausgangspunkt sein. Wir haben ja auch Anträge vorgelegt, allerdings mit Wirkung ab 1. Januar 1964. Hier wiederum der Versuch der Bundesregierung, das alles hinauszuschieben bis zu einem Zeitpunkt, wo die Wählerinnen und Wähler das merken, und der
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4855
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. MöllerHerr Bundeskanzler hat ja gesagt, daß zwar die Bundesregierung der Kontrolle des Parlaments unterliegt, daß es aber auch ein Votum der Wählerinnen und Wähler gegenüber dem Parlament gibt. Wir hoffen, daß diese Wählerinnen und Wähler ihrer Urteilsbildung nicht einige Monate zugrunde legen, sondern die gesamte Legislaturperiode des Deutschen Bundestages.
Da, meine Damen und Herren, muß ich doch folgendes feststellen: Diese 2,5 Milliarden bedeuten für die Bundeseinnahmen einen Ausfall von 2 %, aber für die Länder einen Ausfall von 5 %, oder in Zahlen ausgedrückt für den Bund eine Mindereinnahme von einer Milliarde, für die Länder eine Mindereinnahme von anderhalb Milliarden.
— Mein lieber Herr Zwischenrufer, was Sie mit den Mehreinnahmen alles machen wollen, ist ein großes Rätsel. Denn wenn Sie die dynamische Ausgabenentwicklung, von der der Herr Bundesfinanzminister sprach, einmal berücksichtigen und auch einiges, was sonst noch auf uns zukommt — ich denke nur an den zivilen Bevölkerungsschutz, doch sicher eine Aufgabe, die Sie ernst nehmen —, dann, meine ich, müssen Sie schon ganz gründlich rechnen können und müssen Sie sich wahrscheinlich völlig neue Rechenmaschinen anschaffen, wenn Sie zu dem von Ihnen gewünschten Ergebnis kommen wollen.Meine Damen und Herren, worauf es mir ankommt, ist, festzustellen, daß man von seiten dieser Bundestagsmehrheit bereit ist, Steuernachlässe zu gewähren, wenn der Hauptteil nicht vom Bund, sondern von den Ländern und Gemeinden getragen wird. Sie dürfen nicht vergessen, daß die kommunalen Finanzausgleiche in fast allen Ländern davon ausgehen, daß der Anteil der Gemeinden an der kommunalen Ausgleichsmasse aus dem Teil der Einkommen- und Körperschaftsteuer entsteht, der den Ländern verbleibt, so daß sich jeder Abstrich an dieser Einnahme der Länder auf die Gemeinden durch geringere Zuweisungen entsprechend auswirkt.
Meine Damen und Herren,, Sie haben noch ein anderes Beispiel. Nehmen Sie die Umsatzsteuer! Der Herr Bundesfinanzminister ist mit dem Bundeskabinett der Auffassung, daß wir eine Systemänderung vornehmen sollen — eine Auffassung, die auch wir teilen ---, daß wir von der Allphasensteuer zur Mehrwertsteuer übergehen sollen, jedoch unter der nicht zu erschütternden Voraussetzung, daß der Bund in vollem Umfange dieselben Einnahmen aus der Umsatzsteuer erhält wie bei dem jetzigen System. Das kann doch niemand bestreiten.
Wenn das also der Fall ist, dann, meine ich, ergibt sich damit die Brüchigkeit Ihrer Darstellung hinsichtlich der Haltung bezüglich Steuervergünstigungen. Oder glauben Sie nicht, daß man bei der Änderung im System der Umsatzsteuer einiges bereinigenmüßte, beispielsweise — um nur einmal einen Punkt herauszustellen — in der Umsatzsteuerbelastung verschiedener freier Berufe? Das können Sie doch nicht in Abrede stellen, und wenn Sie dieselben Einnahmen behalten wollen, bedeutet das, daß Sie insgesamt den Prozentsatz erhöhen müssen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Kollege Möller, ich darf Sie folgendes fragen: Wenn es zu einer Änderung des materiellen Umsatzsteuerrechts, d. h. zu einer Systemänderung, kommt, halten Sie dann gleichzeitig eine Änderung der Finanzverfassung für möglich in dem Sinne, daß die Gemeinden am Aufkommen der Umsatzsteuer beteiligt werden?
Das, verehrter Herr- Kollege, kann ich Ihnen nicht sagen, weil man das nicht partiell sehen darf. Ich kann nicht einfach aus Überlegungen darüber, wie das neue Umsatzsteuersystem aussehen wird, schlußfolgern, was für einen Steuerverbund ich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden herstelle. Herr Kollege Dresbach, wir sollten uns darauf einigen, daß die bald zu berufende Expertenkommission mit dem notwendigen Sachverstand die Unterlagen zusammenstellt, die wir benötigen, um eine politische Entscheidung treffen zu können.
Aber, Herr Möller, sind wir uns darüber einig, daß diese Duplizität Gefahren für den Bundeshaushalt hat?
Darüber, Herr Kollege Dresbach, sind wir uns leider nicht einig. Ich würde sagen, die Gefahr besteht, wenn Sie an der Regierung bleiben. Die Gefahr besteht nicht, wenn diese Regierung durch uns abgelöst wird.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesfinanzminister hat dann im Text unter Nr. 57 auf die bei uns ohnehin viel zu hohe Steuerbelastungsquote im Verhältnis zum Sozialprodukt hingewiesen. Ein Blick. in den Finanzbericht 1964 — Seite 92 — zeigt aber, daß bei einem internationalen Vergleich mit den wichtigsten Staaten, die auch unsere Geschäftspartner oder Konkurrenten sind, die Bundesrepublik durchaus nicht mit großem Abstand an der Spitze liegt. Wir liegen ungefähr in gleicher Höhe mit Frankreich, Großbritannien, Schweden, Osterreich. Wir liegen etwas ungünstiger als Amerika, was verständlich ist. Wir liegen deutlich ungünstiger als die Schweiz; aber schließlich haben wir nicht ein solches Friedensjahrhundert hinter uns bringen können, wie das bei der Schweiz der Fall war. Wir meinen also, es kommt nicht darauf an, mit Zahlen mehr oder weniger trefflich zu streiten, sondern darauf, sie so sinnvoll einzusetzen, daß der höchst-
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllermögliche Nutzen für die Gesamtheit. der Bürger im demokratischen Staat mit dem Zielstreben nach sozialer Gerechtigkeit gesichert ist.Bevor ich mich dem Schlußteil meiner Ausführungen, nämlich dem Verteidigungshaushalt zuwende, zwei eindringliche Beispiele, die geeignet sind, die Diskrepanz zwischen der Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963 und dem Entwurf des Bundeshaushalts 1964 festzuhalten! Bekanntlich hat Herr Bundeskanzler Erhard in seiner Regierungserklärung die unverzügliche Durchführung einer Sozialenquete in Aussicht gestellt und eine Sozialpolitik aus einem Guß versprochen. Diese beachtenswerte Ankündigung findet jedoch im Entwurf des Bundeshaushalts 1964 leider keinen Niederschlag. Im Haushaltsplan sind für eine Sozialenquete überhaupt keine Mittel eingesetzt worden, obwohl selbst der Finanzminister in seiner Haushaltsrede erklärt hat, sie sei auch aus finanzpolitischen Gründen eine Notwendigkeit. Es muß weiter festgestellt werden, daß die Ansätze für sozialwissenschaftliche Forschungsaufgaben sogar reduziert worden sind. Aus dem Haushaltsplan ergibt sich mit einer geradezu unwahrscheinlichen Deutlichkeit eine offensichtliche Diskrepanz zwischen der Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963 über die wissenschaftliche Fundierung auch der Sozialpolitik und den Mitteln, die dafür vorgesehen sind.Ich muß zum sozialpolitischen Teil der Haushaltsrede aber auch bemerken, daß es nicht richtig ist,von Sozialleistungen im weiteren Sinne zu sprechen. Mit solchen Manipulationen kann man einen Anteil der Sozialausgaben von 30 % der gesamten Ausgaben des Bundes errechnen, wie das der Herr Bundesfinanzminister getan hat. Wenn wir uns aber, was richtig ist, an den Finanzbericht desselben Bundesfinanzministers halten, so können wir in dem Bericht für 1964 auf Seite 138 feststellen, daß für die Position „Sozialleistungen aus Mitteln des Bundes" für 1964 ein Satz von 25,9 v. H. angegeben ist. Nun hat der Herr Bundeskanzler bereits eine Feststellung des Herrn Bundesfinanzministers berichtigt, der davon sprach, daß die Zuwachsrate annähernd 22% betragen werde. Er hat sie korrigiert auf die richtige Zahl von 20%, was ich auch am Rande vermerken möchte.Was nun die Entwicklung des Sozialhaushalts anbetrifft, ist es doch wichtig, anhand der Zahlen des Finanzberichts festzuhalten, daß es sich für 1964 um den eben angegebenen Anteil von 25,9 % handelt. 1961 waren 26,7 % Sozialleistungen aus Mitteln des Bundes, 1957 30,5 %, 1953 32,8 % und 1950 37,9% ,immer nach dem uns vom Bundesfinanzminister vorgelegten Finanzbericht, Seite 138.Ich bin eigentlich der Auffassung, die in dem Organ der CDU-Sozialausschüsse „Soziale Ordnung" zum Ausdruck kommt. Dort wird in der JanuarAusgabe der CDU und dem Herrn Bundeskanzler der Vorwurf gemacht; daß man es sich in der Frage der Sozialpolitik zu leicht mache, und dem Herrn Bundeskanzler wird nahegelegt, die Dinge — ich zitiere wörtlich — von höherer Warte aus zu beurteilen und zu werten, wenn er auf eine gute finanzielle Grundordnung in der Bundesrepublik abziele.Die Zeit sei vorüber, wo die bestehenden Sozialleistungssysteme als Wohlfahrtseinrichtungen angesehen und die Sozialleistungen als eine der Wirtschaft wesensfremde Soziallast empfunden werden könnten. Man sagt in diesem Artikel noch weiter, eine Gesellschaftspolitik sei nicht in Ordnung, die es zulasse, daß für wichtigste Anliegen der Volksgemeinschaft nicht genügend Mittel zur Verfügung gestellt würden wie im Fall der Kriegsopferversorgung, während auf der anderen Seite Mittel aus dem Sozialprodukt in ungebührlichem Maß nachrangigen privaten Zwecken zuflössen.Meine Damen und Herren, ich bedaure nur, daß diejenigen, die zu den Sozialausschüssen der CDU/ CSU gehören, in dieser Frage hier nie das Wort ergreifen, daß man das nur in Zeitungsartikeln niederlegt. Wo sind denn die Herren der CDU/CSU, die hinter diesen Sozialausschüssen und hinter solchen Proklamationen stehen? Warum melden sie sich hier nicht zu Wort? Dürfen Sie sich nicht zu Wort melden?
Meine Damen und Herren, als zweites gravierendes Beispiel die Erklärung der Westdeutschen Rektorenkonferenz, die in der Presse unter der Überschrift „Westdeutsche Rektorenkonferenz protestiert" erschienen ist. Ich zitiere wörtlich:Die Bundesregierung hat den für den Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen 1964 vorgesehenen Haushaltsansatz von 220 Millionen DM auf die vom Wissenschaftsrat für notwendig erachtete Summe von 250 Millionen DM erhöht. Die Erleichterung der Hochschulen über diesen Entschluß wird jedoch dadurch beeinträchtigt, daß zugleich in einem anderen Ressort die Beträge für die Studienförderung nach dem Honnefer Modell um 27,5 Millionen DM gekürzt wurden. Da so der notwendige Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen aus Bundesmitteln mit Verzicht auf vermehrte Förderung bedürftiger und begabter Studenten Hand in Hand geht, müssen die Hochschulen, die sich als Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden verstehen, solcherart von Schwerpunktbildung gegenüber ihre Bedenken anmelden.Die Westdeutsche Rektorenkonferenz stellt fest, daß die seit langem notwendige Einbeziehung der Kinder aus weiteren Bevölkerungskreisen in die Förderung und die Erhöhung der Stipendien der Anfangsförderung von 195 DM auf 250 DM monatlich unmöglich geworden sind, wenn die Bundesländer nicht für den Ausfall der Bundesmittel eintreten.Die Westdeutsche Rektorenkonferenz erlaubt sich,— und deswegen zitiere ich diese Erklärung —die Bundesregierung vorsorglich an ihre Regierungserklärung zu erinnern, und bittet trotz der finanziellen Belastung, die aus der Vergangenheit herrührt, die Vorbereitung der Zukunft unseres Volkes nachdrücklich voranzutreiben.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4857
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. MöllerWir können uns dieser Mahnung der Westdeutschen Rektorenkonferenz nur in vollem Umfang anschließen. Uns ist es völlig unverständlich, daß die Bundesregierung diese Förderungsmaßnahmen um 27,5 Millionen DM gekürzt hat, obwohl sie doch sicherlich selber weiß, daß an anderen Stellen Beträge vorhanden sind, die diese 27,5 Millionen für die Studienförderung sicherstellen würden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das Thema abschließen mit einem Hinweis auf den Vortrag, den kürzlich Professor Werner Heisenberg hier in Bonn gehalten hat. Dieser Vortrag ist in der „Frankfurter Allgemeinen" am 24. Dezember 1963 unter der Überschrift erschienen: Beteiligung am großen Ziel, Problem bei der Förderung wissenschaftlicher Forschung. Ich meine, daß dieser Vortrag, ich will nicht sagen: eine Anklage, aber doch eine sehr eindringliche Mahnung an Bundesregierung und Bundestag enthält, nun endlich das Notwendige zu tun, um der Wissenschaft und Forschung in der Bundesrepublik Deutschland wieder den Platz zu sichern, den sie einmal vor Jahrzehnten hatten und von dem Wissenschaft und Forschung zum Teil heute noch leben müssen.
Deshalb unsere Forderung: Auch die Koalitionsparteien müssen dazu beitragen, daß aus wichtigen Erkenntnissen der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers Erhard die haushaltspolitischen Konsequenzen gezogen werden.Meine Damen und Herren, ich wäre noch gerne auf einige andere Punkte eingegangen, beispielsweise die Leistungen des öffentlichen Dienstes, den Lastenausgleich, den Goldenen Plan, das, was man für den. Sport nicht mehr zu tun bereit ist. Aber mir liegt daran, Ihnen im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion ein paar Gedanken zum Verteidigungshaushalt vorzutragen. Ich wäre den Damen und Herren der Koalitionsmehrheit dankbar, wenn sie sich diesmal dazu entschließen könnten, die den Verteidigungshaushalt betreffenden Überlegungen, die ich nun vortragen will, nicht aus der Sicht Koalition — Opposition zu beurteilen.Ich darf Ihnen diese Haltung erleichtern, indem ich darauf hinweise, daß unsere Ansicht sich im Kern mit der sehr beachtlichen Ansprache deckt, die Herr Bundeskanzler Erhard am 8. November 1963 vor den Kommandeuren der deutschen Bundeswehr gehalten hat. Trotzdem .ein Zitat aus meiner vor einem Jahr veröffentlichten Arbeit „Währung und Außenpolitik" als Ausgangspunkt. Ich habe damals geschrieben — und ich meine, das ist eine Auffassung, die wir wohl alle teilen —:In Zeiten der Atombombe ist ein Krieg keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und keine Möglichkeit einer besseren Lösung. Dennoch bedeutet Rüstung keine Fehlinvestition. Die Ereignisse seit Ende des zweiten Weltkrieges haben die Auffassung bestätigt, daß es besser ist, auch für einen nicht gewünschten, aber möglicherweise unbeeinflußbaren Ernstfall gerüstet zu sein. So gesehen dient die Rüstung der Erhaltung des Friedens, eine Überzeugung, die in der jüngsten Vergangenheit in allen Lagern der westlichen Welt zu einer brennenden Erkenntnis geworden ist. Verteidigungsausgaben sind daher — das ist unabdingbarer Bestandteil westlicher Politik — Investitionen, die eine Weiterentwicklung der Volkswirtschaften in Frieden und Freiheit zum Ziel haben. Wenn die westliche Welt rüstet, so nicht, um mit einer modernen Ausstattung Krieg zu führen, sondern um den Frieden sichern zu helfen.„Was kostet der Friede?" So fragte kürzlich eine große Illustrierte und antwortete, daß Bonn in diesem Jahr für die Verteidigung eines jeden Bundesbürgers 348 DM ausgebe, und dann zitiert man, wie hoch die Kosten pro Kopf der Bevölkerung in den anderen NATO-Staaten sind: in Amerika 1149 DM, in Kanada ' 353 DM, in Frankreich 329 DM, in England 318 DM. Dann fällt es bei den übrigen Staaten ab bis zu 39 DM. Ich habe die Zeitschrift um Quellenangabe gebeten. Ich hatte einige Bedenken, ob diese Zahlen richtig seien. Die Antwort: „Taschenbuch für Wehrfragen 1963/64". Nachprüfung Seiten 21 bis 25. Die Zahlen sind richtig.Bei der Bewertung dieses Komplexes darf nicht übersehen werden, daß für die Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin die Verteidigungsausgaben nicht nur im Einzelplan 14 — Verteidigungshaushalt — zu finden sind. Für uns, d. h. für alle Fraktionen im Deutschen Bundestag, gehören in diese Rubrik die Ausgaben zur Sicherung der Lebensfähigkeit Berlins, die noch unzulänglichen Aufwendungen für den zivilen Bevölkerungsschutz und mindestens ein erheblicher Teil der Kriegsfolgelasten. Es ist dringend, daß der im Mai 1963 in Ottawa trotz des französischen Widerstandes gefaßte NATO-Beschluß realisiert wird und eine Ermittlung aller Daten erfolgt, die insgesamt den Verteidigungsbeitrag des jeweiligen Staates ergeben. Für die Bundesrepublik ist dabei zusätzlich ihre Frontstellung zu bewerten. Das bedeutet, wie ich am Anfang meiner Ausführungen schon sagte: Wir würden im NATO-Bündnis wertlos sein, wenn wir nicht über die innere demokratische Stabilität verfügten, die uns im ideologischen Krieg unangreifbar macht. Auch das kostet Geld.Aber ein anderer wichtiger Punkt ist es, den ich heute vortragen möchte und den ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehle. Ein sorgfältiges Studium der Vorgänge auf diesem Gebiet in Amerika, seit der neue Verteidigungsminister amtiert, ist allerdings unerläßlich. Ich verweise auf die umfangreiche amerikanische Literatur, die naturgemäß Geburtshelfer dieser Überlegungen werden mußte, bis zur letzten großen Rede des amerikanischen Verteidigungsministers, die im Bulletin der amerikanischen Regierung Nr. 322 vom 19. November 1963 nachzulesen ist. Aus ihr darf ich folgenden Kernpunkt zitieren:Wir müssen erst einmal nachdenken,— so führte der amerikanische Verteidigungsminister ,aus —ehe wir uns entscheiden, ob wir unseremArsenal eine neue komplizierte Waffe hinzu-
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4858 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerfügen wollen, ob dies wirklich der beste Weg ist, unter rauhen Einsatzbedingungen zum Erfolg zu kommen. Wir müssen laufend die Möglichkeit einer Zusammenlegung von Funktionen überprüfen, vor allem bei Waffen, die von zwei oder mehr Truppengattungen eingesetzt werden können. Wenn wir die Erfordernisse der Kampfbereitschaft so scharf und realistisch überdenken, sollte es den USA gelingen, diese erhöhte Schlagkraft nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern sogar noch zu steigern, ohne unseren Verteidigungsetat insgesamt zu erhöhen. Wenn sich unser Bruttosozialprodukt und die Produktivität unserer Volkswirtschaft ausweiten,— so sagt der amerikanische Verteidigungsminister —so braucht der Verteidigungshaushalt damit nicht Schritt zu halten. Es scheint in der Tat, als wolle der Verteidigungsetat relativ und vielleicht sogar absolut zur Ruhe kommen oder .gar ein wenig zurückgehen.Soweit das Zitat.Nun meine ich — auf uns übertragen —, daß sich die Notwendigkeit, für die Verteidigungsausgaben in der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie in den USA Wirtschaftlichkeitskriterien zu finden, daraus ergibt, daß auch bei uns die für die Verteidigung verfügbare Mark im Verhältnis zum Sicherheitsbedürfnis „knapp" ist. Da sich unsere Verteidigung gegen ein Gesellschaftssystem richtet, das uns seine Vorstellungen aufzwingen will, müßte ein unbegrenzt hoher militärischer Verteidigungshaushalt, mit dem unvermeidlich eine Vernachlässigung anderer Ausgaben zur Entwicklung und Stabilisierung unserer Gesellschaft verbunden sein würde, die Widerstandsfähigkeit im ganzen eher aushöhlen als stärken. Der für die Verteidigung im engeren Sinne auszugebende Betrag hat sich also in den Rahmen der übrigen Staatsausgaben einzufügen. Außerdem muß dieser Betrag so auf die verschiedenen Teile des Sicherheitsprogramms verteilt werden, daß er ein Maximum an Sicherheit schafft. Oder: Ein bestimmtes Abschreckungs- und Sicherheitsbedürfnis muß mit dem geringstmöglichen Aufwand befriedigt werden. Effizienz des Mitteleinsatzes in der Verteidigungspolitik ist selbst ein wichtiges Stück Verteidigungspolitik, weil sie das System stärkt. Nach den amerikanischen Erfahrungen gelangt man zu dieser Effizienz durch das ständige Abwägen und Ausgleichen von Grenzkosten und Grenzerträgen, d. h. durch die Gegenüberstellung der Kosten und des militärischen Wertes zusätzlicher Programmeinheiten, der verschiedenen Art.Bevor ich die Voraussetzungen eines solchen Vorgehens darstelle, ist noch festzuhalten, daß die erreichbaren Optima je nach der Integration des Bündnissystems verschieden hoch sein müssen.Die entscheidende Frage stellt sich also wie folgt: Was setzt eine Optimierung der Verteidigungsprogramme voraus, einmal bei den Haushaltsentscheidungen, sodann bei der Analyse der Verteidigungsprobleme? Das herkömmliche Verfahren der Verteidigungsplanung erlaubt zweifellos nicht, die aufgestellten Streitkräfte und Waffenprogramme darauf zu prüfen, ob mit demselben ökonomischen Aufwand nicht bessere Sicherheitsmaßnahmen — oder dasselbe Maß an Sicherheit mit geringerem Aufwand — zu verwirklichen wären. Auf der einen Seite erfolgen die Entscheidungen über Waffensysteme und Streitkräfte unabhängig von der Aufstellung des Haushalts; sie gehen dem Haushalt voraus und bilden deshalb seine Ausgangsdaten. Das hat zur Folge, daß die Kosten nicht von vornherein ein Aspekt der Planung sind, sondern daß die militärtechnischen Gesichtspunkte dominieren. Die Erfordernisse der Verteidigung werden auf diese Weise ohne gleichzeitige Kalkulation der wirtschaftlichen Belastung durch Beschaffúng und Unterhalt bestimmter Waffensysteme festgelegt. Auf der anderen Seite muß der Haushaltsplan bestimmte Limite beachten, die wegen der in vertretbaren Grenzen zu haltenden Belastungsfähigkeit der Steuerzahler nicht überschritten werden können. Klafft zwischen den Kosten der militärtechnisch für erforderlich gehaltenen Programme und dem durchsetzbaren Haushaltsbetrag eine Lücke — und das ist doch wohl normalerweise so —, dann beschwören die Abstriche bei den Anforderungen unzweifelhaft die Gefahr herauf, daß die Programme militärisch unausgewogen werden. Diese Gefahr ist um so größer, wenn der Haushalt die Ausgaben nicht nach operativen Einheiten — sozusagen den „outputs" des Verteidigungssektors — gliedert, sondern nach „inputs". Den Fachleuten ist bekannt, was hiermit angesprochen werden soll.Es steht jedenfalls fest, daß den operativen Einheiten der entscheidende militärische Wert beigemessen werden muß. Nur von den operativen Einheiten her läßt sich eine Beziehung zu den Zielen der Verteidigungsplanung herstellen, und diese Beziehung entscheidet über den Wert der Einheiten. Da die Effizienz der materiellen Verteidigungsanstrengungen sich ausschließlich auf dem Wege eines Vergleichs von Kosten und Wert alternativer Verwendungen der verfügbaren Mittel ergibt, der Wert verschiedener Verwendungen sich aber nur auf der Basis operativer Einheiten bestimmen läßt, müssen diese im Mittelpunkt des Systems stehen. Das schließt nicht aus, daß die operativen Einheiten wiederum nach bestimmten Gesichtspunkten in Gruppen zusammengefaßt werden. So gliedern die Amerikaner das Gesamtprogramm z. B. in acht Teilprogramme, die alle von der output-Seite ausgehen.Nur wenn Kosten und Werte der angedeuteten Art bekannt sind, verfügt die entscheidende Stelle über die Informationen, die sie benötigt, um ein Ausrüstungs- und Personalprogramm für den Verteidigungssektor aufzustellen, das aus dem verfügbaren Gesamtbetrag ein Maximum für die Verwirklichung der Verteidigungsziele herauszuholen vermag, das also optimal ist.Die Entscheidung über die Verteidigungszielsetzungen selbst und über die Höhe des für die Verteidigung bereitzustellenden Betrages ist, wie wir alle Wissen, politischer Natur. Expertenaufgabe muß aber
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerwerden die Ermittlung der Kosten und des Wertes zusätzlicher operativer Einheiten der einen oder der anderen Art. Dabei gehört es zur Logik dieses Systems, daß es sich über alle Waffengattungen erstreckt. Ferner ist bei der Zeit, die von der Planung bis zur Verwirklichung verstreicht, nicht denkbar, daß das System anders als auf einer mehrjährigen Basis befriedigend arbeitet. Das Haushaltsjahr ist gerade in diesem Punkt ein willkürlicher und — wie für viele — auch für diese Zwecke ganz sicher zu kurzer Planungszeitraum.Ein solcher Planungsrahmen, der Kosten und Erträge unterschiedlich umfangreicher Gesamtprogramme, Teilprogramme und mehr oder weniger zahlreicher operativer Einheiten alternativ enthält, ist das einzige Mittel mit dessen Hilfe militärische Erfordernisse und finanzielle Möglichkeiten aufeinander abgestimmt werden können, ohne daß das Programm, auf welche Gesamthöhe es sich auch immer beläuft, aufhört, in einem optimalen Verhältnis zu den Verteidigungszielsetzungen zu stehen. Höhe des Verteidigungshaushalts sowie Umfang und Zusammensetzung des zu realisierenden Verteidigungsprogramms werden daher nur auf diese Weise zu größtmöglichem Nutzeffekt harmonisiert werden 'können.Alles in allem ist der Schluß zu ziehen, daß es keinen Grund gibt, die Verteidigung als ein Gebiet anzusehen, das außerhalb der Gesetze von Aufwand und Ertrag steht: Die Festlegung von Zielsetzungen und die Auswahl der zu realisierenden Vorhaben aus dem Angebot der möglichen bleibt auch unter diesen Gesetzen eine politische Entscheidung. Sie setzt aber Informationen voraus, an denen der Nationalökonom mitarbeiten muß: Erarbeitung der für diese Entscheidungsprozesse wichtigen Begriffe, Definition möglicher Ziele und ihrer Kriterien, Kosten und strategische Erträge alternativer Handlungen.Deswegen machen wir folgenden Vorschlag. Es sollte interfraktionell eine Verständigung dahingehend erfolgen, daß nach einem Informationsbesuch der politischen Führung der drei Bundestagsfraktionen — möglichst unter Beteiligung der Bundesregierung — bei der amerikanischen Regierung, insbesondere bei den mit der Planung, Finanzierung und Organisation der Verteidigung befaßten Stellen, die Wirtschaftskriterien festgelegt werden, die in Zukunft für unseren Verteidigungshaushalt maßgebend sind.
Noch ein letztes Wort. Ich könnte nun die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens an Hand von Beispielen belegen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion tut das bewußt nicht; sie will nicht mit solchen Erörterungen den Weg zu dieser aufgezeigten, die weitere Entwicklung wahrscheinlich entscheidend beeinflussenden Lösung wichtigster Probleme des Verteidigungshaushalts verbauen.Betrachten Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, diesen Vorschlag und unsere Stellungnahme zum Entwurf des Bundeshaushalts 1964 insgesamt als den konstruktiven Beitrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zueinem wichtigen Teil deutscher Politik, den wir aus unserer Verantwortung gegenüber dem demokratischen Staat immer zu leisten bereit sind.
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen nun die Sitzung bis heute nachmittag 15 Uhr. Der erste Redner heute nachmittag wird sein Herr Dr. Barzel von der CDU.
Ich unterbreche, die Sitzung.
Die Sitzung ist wieder eröffnet. Wir fahren in der unterbrochenen Tagesordnung fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt es dankbar, daß der Herr Bundeskanzler diese Debatte mit seinem Beitrag eröffnet hat, und begrüßt es sehr, daß damit sichtbar geworden ist, wie sehr, der Herr Bundeskanzler auf die unverzügliche Information des Parlaments und auf das Gespräch mit den Abgeordneten des deutschen Volkes Wert legt. Es ist gut, daß durch diesen Beitrag so für die Debatte ein geziemender Rahmen gesteckt worden ist.
Denn diese Zeit stellt große Fragen, und sie erträgt nicht kleinliches Gezänk.Meine Damen und Herren, es ist bestritten worden, ob dies der rechte Ort dafür sei. Ich möchte dazu nur bemerken, daß die allgemeine Aussprache zum Bundeshaushalt in erster Lesung ohnehin eine politische Aussprache ist; denn der Haushalt ist doch Ausdruck der Gesamtpolitik der Bundesregierung. Ähnlich hat es der Kollege Möller vorhin hier bezeichnet. Auch deshalb ist es gut, daß der Herr Bundeskanzler an dieser Stelle sprach. Wir danken ihm für die Souveränität und den großen Wurf dieser Rede.
Um so mehr bedauere ich, daß die Opposition bisher
die Gelegenheit dieses großen parlamentarischen Gesprächs nur so gering genutzt hat und uns „auf eine andere Gelegenheit" verweist.
Ich bedauere das ein wenig für uns alle, meine Damen und Herren, und zwar auch deshalb, weil dieses Parlament doch nur den Rang haben wird, den es sich selbst gibt und den es selbst voll ausfüllt; und die Debatte und die Antwort an die Regierung gehören dazu.
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4860 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. Barzel— Meine Damen, meine Herren, ich hoffe, nicht fürchten zu müssen, daß die Rede des Bundeskanzlers irgend jemand den Atem verschlagen hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Barzel, würden Sie mit mir einer Meinung sein, daß die in der Sache hier gut aufgenommene und auch von uns gut aufgenommene Rede des Herrn Bundeskanzlers in der Form in Wirklichkeit eine Regierungserklärung war und es besser gewesen wäre, ihr diese Form auch' offiziell in unserer Tagesordnung zu geben?
Herr Kollege Mommer, was ich zu dieser Rede zu sagen habe, habe ich gesagt. Sie haben noch einmal danach gefragt. Ich glaube, ich brauche es nicht zu wiederholen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Bitte schön!
Sind Sie der Meinung, daß in einer Haushaltsdebatte die Ausführungen des Bundesfinanzministers, der einen Haushaltsplan von 60,3 Milliarden DM vorgelegt hat, überhaupt nicht diskutiert werden sollten?
Herr Kollege Erler, das wird diskutiert werden. Aber ich glaube, eine Haushaltsdebatte ist eine politische Debatte.
Wir sind dankbar, daß der Herr Bundeskanzler sofort hierhergekommen ist, um dem Hohen Hause diese Information zu geben.
Meine Damen und Herren, die finanzpolitischen Dinge, die Herr Kollege Möller hier ausgeführt hat, werden vom Kollegen Vogel und von anderen Kollegen der Fraktion noch beantwortet werden. Ich möchte nur eines vorwegnehmen, Herr Kollege Möller. Sie haben sich Sorgen über das traurige Erbe der Kabinette Adenauer in finanzieller Hinsicht gemacht. Nun, Herr Kollege Möller, wir sehen das ein wenig anders. Wir sehen, die Deutsche Mark ist gutes deutsches Geld. Das Erbe Adenauers ist nicht traurig, sondern so, daß uns die Welt auch in finanzieller Hinsicht beneidet.
Wir werden Konrad Adenauer, den Mann wie das Werk, nicht zerreden lassen.
Wir stellen mit großer Freude fest, daß es Ihnen, Herr Bundeskanzler, gelungen ist, in den wenigen Wochen Ihrer Amtsführung Ihren eigenen Stil zu prägen und das feste Fundament des vorzüglich Ihnen überantworteten großen Erbes zu sichern und unser Vertrauen im Inland wie im Ausland weiter zu festigen.
Wir freuen uns, daß die erste Reise des Herrn Bundeskanzlers nach Berlin ging, daß die zweite der Bekräftigung unserer lebenswichtigen und unaufgebbaren Freundschaft zum französischen Volk galt, daß Präsident Johnson den deutschen Bundeskanzler als ersten ausländischen Staatsmann zum Gespräch bat; und wir freuen uns, daß die Freundschaft zu Großbritannien und Italien sich günstig entwickelt.Nun zu einem Punkt, den der Herr Bundeskanzler heute ebenfalls angeschnitten hat und bei dem dieses Parlament die Chance nutzen sollte, an der Willensbildung im eigenen Volk und in der Welt sofort teilzunehmen. Die Sowjetunion hat am Neujahrstag auch hier in Bonn ihre bekannte Note übergeben lassen. Sie wird zusammen mit den Alliierten sorgsam geprüft und hoffentlich, wie es der Herr Bundeskanzler angekündigt hat, gemeinsam — dem Sinne nach wenigstens — beantwortet werden. Aber folgendes muß doch wohl heute schon dazu gesagt werden.Erstens: Diese Note dient nicht der Entspannung, sondern der Verhärtung. Die Sowjetunion tritt wieder härter auf, besonders in der deutschen Frage. Sie will unsere Spaltung sanktionieren und will den Stempel des Rechts für ihr rechtswidriges Tun. Wären wir jetzt ohne Freunde, ohne Verbündete, hätte nicht dieses Haus seit vierzehn Jahren konsequent diese Politik getrieben, so stünde es spätetens jetzt schlimm um unser Volk.
Was nämlich die Sowjetzone Gewaltverzicht nennt, ist in Wirklichkeit dieses: Alle Welt soll die europäische Landkarte rechtlich so fixieren, wie die Sowjets sie gegen den Willen der betroffenen Völker gewaltsam verändert haben. Wir sollen eine Konvention abschließen, die uns verböte, für unsere unterdrückten Landsleute Recht und Freiheit zu fordern und diese Ziele politisch und friedlich zu erstreben.Zweitens: Wir alle miteinander brauchen unsere friedliche Gesinnung nicht erneut unter Beweis zu stellen. Wir haben uns im Grundgesetz und auch sonst endgültig auf Friedfertigkeit festgelegt .und wir unterstreichen, was insoweit der Herr Bundeskanzler heute morgen gesagt hat. Wir legen Wert auf die Feststellung, daß sich auch die Vertriebenen und Flüchtlinge immer wieder einmütig und rückhaltlos zum Verzicht auf Gewalt bekannt haben. Wer gegen dieses deutsche Volk nichts Böses im Schilde führt, hat sich längst von unserer gewandelten Gesinnung unserer Friedfertigkeit überzeugen können. Dagegen sind uns noch lebhaft in Erinnerung die sowjetrussische Intervention in Ungarn, die Berliner Blockade, die Toten des 17. Juni 1953,
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4861
Dr. Barzelder Mord an Bandera und die ganze Gewaltherrschaft in der Zone, um nur dieses zu nennen. Sollte es sich gleichwohl bei dieser sowjetischen Note etwa um einen Wandel in der Gesinnung handeln, so würden wir uns freuen.Darum auch noch ein Drittes: Diese Note fordert eine Übereinkunft — ich zitiere —, wonach Gebiete anderer Staaten auch nicht zeitweilig Ziel irgendwelcher Invasionen, einer militärischen Besetzung oder irgendeiner Zwangsmaßnahme sein dürfen. Das ist, potentiell, ein konstruktiver Gedanke. Die Sowjetunion sollte zeigen, daß sie diese Worte selbst ernst nimmt, und diesen Worten die Taten folgen lassen. Hier in Deutschland kann sie das wirksam tun. Sie sollte die Besetzung der Zone beenden und dort endlich freie Wahlen zulassen.
Sie sollte aufhören, den Menschen der Zone Gewalt anzutun. Die Sowjetunion trägt letztlich die Verantwortung für Mauer und Schießbefehl. Alles das ist Gewalt; und alles das werden wir nie akzeptieren. Hier ist Gelegenheit, diese Politik der Gewaltlosigkeit, die in der Note steht, durch Taten glaubhafter zu machen.Weil in diesen Tagen von diesen Dingen soviel gesprochen wird, auch dieses noch: Mitteldeutschland ist — noch — eine sowjetrussische Satrapie, ist nicht „DDR", sondern SBZ. Der 17. Juni 1953 und die 3 Millionen SBZ-Flüchtlinge beweisen das aller Welt. Für das deutsche Volk und die anderen freienNationen ist die sogenannte DDR ,ein durch rechtswidrige fremde Intervention entstandenes Gebilde, ein der rechtmäßigen deutschen Staatsgewalt vorenthaltenes Gebiet, das die Sowjetunion besetzt hält und von ihr ergebenen Funktionären gegen den Willen der Deutschen verwalten läßt. Zudem sind zahlreiche dieser Funktionäre Staatsbürger der Sowjetunion. Was die Kommunisten „DDR" nennen und was auch einige hier so zu nennen beginnen, das ist eine Tarnbezeichnung, eine Scheinfirma, ein Versuch, abzulenken von der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist, daß Mitteldeutschland SBZ, also sowjetisch besetzte Zone ist. Das ist die Realität.Sollte Moskau uns nicht glauben, so könnte es durch eine freie Abstimmung die Menschen drüben selbst fragen. Wenn die Sowjetunion diese Wirklichkeit von Fremdherrschaft in einem Teil Deutschlands änderte, dann, aber auch nur dann, würde diese Note für uns glaubhafter und interessanter.Meine Damen, meine Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin. Der Ostwind weht wieder härter, und diese Härte gilt vorwiegend uns. Im Angesicht dieser Lage sind etwa Risse im westlichen Bündnis ein lebensgefährlicher Luxus. In nichts, aber auch in gar nicht dürfen wir der Sowjetunion auch nur den Anschein geben, daß unsere Wachsamkeit oder unsere Einigkeit etwa nachließen. Darum sollte die Bundesregierung auch mit großem Nachdruck die Initiativen verfolgen, die bereits eingeleitet worden sind und die zum Teil beim NATO-Rat in Paris liegen, die Initiativen, die eine gemeinsame westliche Politik in Sachen Osthandel, Kulturaustausch usw. zum Inhalt haben.Ich muß an dieser Stelle etwas zurückweisen —ich tue es im eigenen Namen, aber auch in dem der Fraktion —, was in diesen Tagen ein Berliner FDP-Politiker gegen Franz Thedieck, Staatssekretär im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, gesagt hat. Er hat gesagt, Thedieck habe wie Ulbricht Haß geschürt.
Dieser böse Ausspruch richtet den — er ist nicht unter uns —, der ihn tat. Franz Thedieck hat für unser Vaterland, für die Freiheit und gegen die Kommunisten 'hervorragende Verdienste erworben.
Meine Damen und meine Herren, ein Wort zu den Passierscheinen und allen voran dieses: Der Artikel 13 der Menschenrechts-Erklärung der UNO sagt folgendes — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten würde ich ihn gern verlesen —:Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und auf freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates. Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.Dieses Prinzip aus der Menschenrechts-Erklärung der UNO muß, wie ich glaube, an die Spitze jeder Betrachtung zu diesen Dingen gestellt werden. Denn wir wollen nichts anderes, als daß auch in Deutschland, im ganzen Deutschland, dieser Rechtsgrundsatz Wirklichkeit wird.
Zur Sache meinen wir mit der Bundesregierung: alles, was die Wirklichkeit Berlins als deutscher Hauptstadt stärkt, ist auch für das ganze Deutschland gut. Wir freuen uns, daß die Mauer endlich auch für die Westberliner — leider nur für kurze Zeit und leider nicht für alle — ein wenig durchlässiger wurde. Die Begegnungen der zu lange getrennten Familien sind menschlich wie politisch erfreulich. Das Menschliche liegt auf der Hand. Das Politische liegt in der Stärkung des gesamtdeutschen Bewußtseins und auch darin, daß das erneut weltweit sichtbar wurde, wie es der Herr Bundeskanzler heute morgen sagte. Es kommt hinzu, daß viele der Besuchten drüben neuen Mut und neue Kraft gefaßt haben und sich erneut überzeugt haben werden von der Überlegenheit des Westens. Das alles ist gut.Leider gehört zu eben dieser Wirklichkeit der weihnachtliche Mord an Paul Schultz. Wir beklagen diesen feigen Mord als ein brutales Verbrechen wider die Menschlichkeit. Zu eben dieser deutschen Wirklichkeit gehört, daß der Leichnam des Ermordeten nur im Sarg eine Mauer passieren durfte, die lebend zu überspringen er durch Todesschüsse verhindert wurde.Es wäre, meine Damen und meine Herren, unredlich, darüber zu schweigen, daß die Vorgänge und Abreden, die den Passierscheinen vorausgingen und sie zum Teil begleiteten, sorgsamer Überlegung auch hinterher bedürfen. Es wäre aber zugleich wenig sachdienlich, diese notwendige Erörterung
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4862 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. Barzelhier öffentlich zu pflegen. Darum nur so viel: Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt die menschlichen Erleichterungen, die zu den Festtagen in Berlin endlich erreicht wurden. Sie fordert Freizügigkeit für alle Deutschen im ganzen Deutschland. Die gegenseitigen Abreden in Berlin sind die äußerste Grenze dessen, was wir zu tun bereit sein dürfen. Es gibt keinen Anlaß, unsere Deutschlandpolitik zu ändern; und es gibt schon gar keinen Anlaß, diese Dinge anders zu betreiben als in engster ständiger Übereinstimmung zwischen den Alliierten und uns.
Was die Kommunisten wollen, ist klar: sie wollen Berlin vom Bund lösen. Unsere Antwort darauf kann und muß doch nur sein: Zusammenrücken! Unsere Antwort muß sein, die Funktion und den Rang unserer deutschen Hauptstadt Berlin zu stärken und das freie Berlin immer mehr, immer fester mit dem übrigen Bundesgebiet zu verbinden. Der Berliner Senat kann und muß hierbei wesentlich helfen; helfen, um Berlin in den Realitäten nicht nur als einen unaufgebbaren Platz der freien Welt auszubauen, sondern als deutsche Hauptstadt, als Glied des Bundes, als Vorort des ganzen Deutschlands. Wir unterscheiden erneut und zustimmend, was der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung hierzu gesagt hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage.
Bitte schön!
Herr Dr. Barzel, darf ich diese Feststellungen, die Sie soeben getroffen haben — „Der Berliner Senat muß dabei helfen" — als Feststellungen ansehen oder als eine Mahnung, und gäbe es, falls sie als Mahnungen zu verstehen sind, einen Anlaß dazu?
Herr Kollege Wehner, ich würde es als eine Feststellung dessen betrachten, was ist, und als eine Mahnung für die Zukunft, für das, was kommen könnte.
Meine Damen und meine Herren, ich spreche hiervon auch deshalb, weil es einen Hintergrund gibt von gewissen Stimmen und Fragen im Inland und im Ausland. Eben deshalb möchte ich einige weitere Sätze hierzu sagen.Wir haben nichts gegen West-Ost-Sondierungen. Wir sind für Entspannung durch Beseitigung ihrer Ursachen. Wir sind auch bereit, schrittweise den Weg zur Freiheit und Einheit aller Deutschen freizulegen. Wir sind zu Opfern bereit. Wir sind bereit, jedermann Sicherheit zu geben. Wir sind bereit zum menschlichen Vorrang der Sicht mancher Probleme.
Wir sind aber nicht bereit, zu verzichten oder zuverzagen. Wir sind auch nicht bereit, dem Alleingang den Vorrang zu geben vor der Gemeinsamkeit mit den Alliierten auch in dieser Frage.
— Herr Kollege Mommer, ich habe eingangs bemerkt, als hier etwas Unruhe war, während ich diese Passagen vortrug: Es gibt gewisse Stimmen und Fragen in Korrespondenzen und in der Presse im Inland und im Ausland, und deshalb bitte ich zu verstehen, warum ich dazu spreche.
— Ich weiß gar nicht, Herr Kollege Wehner — ich nehme an, daß Sie diesen Prinzipien zustimmen — warum es hier irgendeine Unruhe geben kann.
— Sehr verehrter Herr Kollege Erler, ich habe eine Antwort auf der Zunge, aber ich will die Debatte an dieser Stelle nicht verhärten; denn hier tut Gemeinsamkeit not, wie ich soeben sagte.
Wir bekräftigen, was unsere Verbündeten im Zusammenhang mit dem Teststoppvertrag hierzu sagten. Sie sagten: Allein wir sind befugt, für das ganze Deutschland zu sprechen; weder ist die Zone Regierung; sie amtieren als Instrumente sowjetrusein Staat, noch sind die dortigen Behörden eine sischer Fremdherrschaft in einem Teil Deutschlands.— Das einmal festzuhalten erschien uns wichtig.Meine Damen und meine Herren! Ziel muß sein, das Schicksal aller 17 Millionen Menschen unter sowjetischer Herrschaft zu verbessern. Ich glaube, wir werden uns sehr schnell wieder verständigen — wenn es überhaupt ein Mißverständnis gegeben haben sollte —, wenn ich erkläre, daß man alle diese Dinge — und ich glaube, Sie spüren sehr wohl, warum das hier gesagt werden muß — nicht besser ausdrücken kann als in der Berliner Erklärung vom 29. Juli 1957, in der es heißt — ichzitiere —:Die unnatürliche Teilung Deutschlands und seiner Hauptstadt Berlin ist eine ständige Quelle internationaler Spannungen. Solange Deutschland geteilt ist, kann es keinen Friedensvertrag mit Deutschland und keine Stabilität in Europa geben. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit ist nicht nur eine elementare Forderung der Gerechtigkeit für das deutsche Volk, sie ist darüber hinaus die einzige gesunde Grundlage für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa. Nur eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung kann im Namen eines wiedervereinigten Deutschlands Verpflichtungen überneh-
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Dr. Barzelmen, die anderen Ländern Vertrauen einflößenund die vom deutschen Volk selbst als gerechtund für die Zukunft bindend angesehen werden.Ich glaube, dem stimmen wir alle zu.Meine Damen und meine Herren, die Gespräche, die zum Jahresende in Texas zwischen dem Präsidenten der USA und dem Bundeskanzler geführt worden sind, waren, wie wir glauben, ein weiterer Meilenstein zur Pflege der Freundschaft mit den USA. Wir möchten aber auch dieses sagen: Präsident Kennedy ist hier unvergessen. Auch wir begreifen uns als Miterben seiner Ideen, seiner Prinzipien, seiner Herausforderungen. Wir haben Kuba nicht vergessen, und wir wissen, daß dieser Präsident zugleich die militärische Kraft des Westens stärkte und gesprächsbereit nach Osten war. Präsident Johnson entwickelt das weiter. Wir freuen uns über die gleiche, gemeinsame Gesinnung und sind glücklich, daß es Ihnen, Herr Bundeskanzler, gelang, in so kurzer Zeit ein so gutes Verhältnis zu Präsident Johnson zu finden.Wir wollen die atlantische Partnerschaft, wir begrüßen die Kennedy-Runde, und wir hoffen, daß, wenn ich so sagen darf, der Atlantik immer mehr zu einem Binnenmeer unserer Zeit wird. Dazu ist erforderlich, daß die Engagements — hinüber und herüber, über Politik und Militär hinaus — in den alltagswirksamen Raum des Menschlichen vorstoßen und sich dort, auch mit handfesten Interessen, festsetzen. Das Kommuniqué von Texas enthält ein Bekenntnis zum deutschen Selbstbestimmungsrecht, für das wir danken. Wir stellen auch gern die Einigung darüber fest, „daß kein Abkommen geschlossen werden dürfte, das dazu dienen würde, den Status quo eines geteilten Deutschlands zu verewigen, dessen einem Teil die Grundrechte und Freiheiten vorenthalten werden".Wir haben nicht zuletzt der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers von heute morgen mit großer Freude entnommen, daß nun, anders als vor Monaten, auch in dein USA der deutsch-französische Vertrag anders und richtig gesehen wird, nämlich als ein Beitrag, als ein unerläßlicher, fundamentaler Beitrag für die Festigkeit des Westens insgesamt. Wir wollen — und wir unterstreichen hier, was der Herr Bundeskanzler sagte — die deutsch-französische Freundschaft pflegen, und wir meinen, daß die Konsultationen mehr sein müssen als ein formaler, verbaler Vorgang. Dieser Vertrag muß leben aus dem Geist, der ihn ermöglichte, dem Geist unverbrüchlicher Freundschaft. Wir begrüßen die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers hierzu und haben seine Ankündigung eines erneuten Besuchs in Paris mit Freude zur Kenntnis genommen.Meine Damen und meine Herren, wir begrüßen auch die Brüsseler Einigung vom 23. Dezember. Diese Vorgänge haben die Pessimisten Lügen gestraft. Sie haben den Europäern wieder Kraft und Hoffnung gegeben und die Aussichten der atlantischen Partnerschaft verbessert. Sie werden ihre Auswirkungen auch im unfreien Europa haben. Es ist der Bundesregierung gelungen — und wir sind dankbar dafür —, Kompromisse zu erreichen, dievertretbar sind. Es mußten alle nachgeben; auch wir haben das getan. Wir hätten aber keine Lösung billigen können — und würden das auch künftig nicht tun —, die etwa das Einkommen unserer Bauern schmälerte; denn ein freies Europa muß auch in der Gesundheit seiner bäuerlichen Existenzen sichtbar und überlegen bleiben. Die EWG muß zugleich den Verbrauchern die Vorteile des Gemeinsamen Marktes voll zuwenden. Es bleibt ihr Ziel, den Lebensstandard zu erhöhen.Meine Damen und meine Herren, die Fraktion der CDU/CSU begrüßt die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers zu neuen, auch politischen Initiativen in Europa. Der Gemeinsame Markt der EWG wächst langsam zusammen. Er ist das wirkungskräftig Neue in diesem Europa. Hier wächst aus Einsicht der Freiheit ein guter Kern. Aber dieser Markt ist bei all seinem Vorzug doch nicht das Ganze. Weder umfaßt er Europa weit genug noch kann ein Markt bewirken, was erst eine politische Gemeinschaft können wird. Auch unserer Meinung nach ist es an der Zeit, neue Pflöcke zu stecken und politische Impulse zu geben. Was mancher einem Markt verweigert, wird er leichter bereit sein, einem auch politisch geeinten Europa zu geben.Meine Damen und meine Herren, noch ein Wort zu den innenpolitischen Dingen, soweit nicht die Kollegen nachher dazu sprechen werden. Auch wir meinen, daß die innenpolitische Basis für die gesamte politische Entwicklung entscheidend bleiben wird. Deshalb unterstützen wir lebhaft die Bemühungen der Bundesregierung um finanzielle und innere Stabilität.Wir stimmen grundsätzlich dem Haushaltsentwurf zu und werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um sein Volumen gegen Ausweitungstendenzen zu verteidigen.
Wir sehen in diesem Haushalt das gleichzeitige Bemühen, die Stabilität zu sichern und die Sozialordnung auszubauen. Zu beidem sagen wir gerne ja. Wir danken dem Herrn Bundesminister der Finanzen für seine Haushaltsrede und stimmen dem zu, was der Herr Bundeskanzler heute morgen zu diesen Fragen gesagt hat. In dem Bemühen, Stabilität und gutes deutsches Geld für alle zu sichern, wird die Bundesregierung die Fraktion der CDU/CSU entschlossen an ihrer Seite haben.Da heute morgen erneut die Kriegsopferfrage angeschnitten worden ist, auch dazu ein paar Sätze. Nachdem nun der Haushalt vorliegt und der Finanzstreit mit den Ländern beendet ist, werden wir uns in diesen Wochen bemühen, die Deckung für eine Erhöhung der Kriegsopferversorgung zum frühestmöglichen Termin zu sichern. Wir haben unser Wort gegeben, und wir stehen dazu.
Freilich ist für uns Christliche Demokraten auch die Frage unserer kinderreichen Familien von ho-
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4864 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. Barzelhem Rang. Wir werden dem entsprechen und erforderlichenfalls eigene Initiativen vorlegen.Ich komme zum Schluß; über die anderen Haushaltsfragen werden andere Kollegen sprechen. Präsident Kennedy hat in Berlin den Studenten zugerufen, die Wiedervereinigung werde kommen; aber wann sie kommen werde und wie, das hänge ab von den realen Gegebenheiten Deutschlands als Nation und Volk. Wir glauben, daß die Politik der Bundesregierung — auch in ihrem Haushaltsplan — der Stärkung dieser Realitäten dient. Wir werden das Unsere tun, wir werden das unterstützen, um die realen Gegebenheiten Deutschlands als Nation und Volk zu stärken und freiheitlich zu entfalten. Die neue Bundesregierung ist auf einem guten Wege; sie kann der Unterstützung der Fraktion der CDU/CSU sicher sein.
Das Wort hat der
Abgeordnete Dr. Emde.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns heute in der ersten Beratung des Bundeshaushaltes. Ich beschränke meine Ausführungen auf allgemeine politische Erklärungen zu diesem Etatentwurf. Allerdings ist es notwendig, eine Bemerkung zu den Ausführungen unseres Kollegen Barzel zu machen. Eine Mitteilung, die er vorhin hier vorgetragen hat, hat sich auf eine Rede eines FDP-Politikers bezogen. Es handelt sich um den Landesvorsitzenden der FDP in Berlin, unseren Kollegen Borm, der Mitglied des Abgeordnetenhauses ist, dessen Formulierungen in der Sache zweifelsohne hart waren. Aber das gilt auch für manche andere außerhalb dieses Hauses gehaltene Reden auch von Kollegen der CDU und der CSU. Dieses Parlament sollte nicht Abrechnungsstelle für Reden sein, die an anderer Stelle, insbesondere in Versammlungen, gehalten worden sind.
Kollege Borm hat neun Jahre in sowjetzonalen Zuchthäusern zugebracht. Man muß seine Verbitterung verstehen, insbesondere dann, wenn man daran denkt, wie wenig ihm in dieser Zeit eine gesamtdeutsche Politik geholfen hat.
Lassen Sie mich nun zum Haushalt übergehen. Wir beraten hier zwei Gesetze, das Nachtragshaushaltsgesetz 1963 und das Haushaltsgesetz 1964. Dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des Beteiligungsverhältnisses haben wir heute morgen zugestimmt. Dieses Beteiligungsverhältnis ist Grundlage für unseren Etat 1964. Herr Kollege Möller hat heute morgen festgestellt, daß dieser 9. Januar ein später Termin sei. Wir stimmen ihm zu; es ist ein später Termin, und man muß sagen: Spät kommt ihr, doch ihr kommt. Aber nunmehr ist die Bahn für eine Entwicklung frei, die bis ins Jahr 1966 gehen wird. Es ist müßig, heute zu untersuchen, ob wir nicht bereits im Sommer oder im Herbst des vergangenen Jahres die Änderung des Beteiligungsverhältnisses hätten erreichen können.Wir haben heute keine Zeit mehr, uns mit solchen historischen Fragen zu befassen; die Zeit drängt, und genügend Aufgaben großen Gewichtes liegen vor uns. Doch erscheint es mir notwendig, das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern mit einigen Worten zu würdigen; denn dieses Ergebnis ist ein echter Kompromiß zwischen widerstreitenden Interessen. Insofern ist es glücklich, daß alle Möglichkeiten der Verhandlung zwischen den beiden Beteiligten ausgeschöpft wurden, um diesen Kompromiß zu erreichen. Es ist gut, daß nicht eine Entscheidung erzwungen wurde, die den einen oder den anderen in der Erfüllung seiner Aufgaben entscheidend benachteiligt hätte. Der Bund, der mit einem Anteil von mindestens 40 % gerechnet hatte, sieht sich in seinen Deckungserwartungen nur zum Teil befriedigt; denn dieses eine Prozent — 392 Millionen DM — muß in irgendeiner Weise gefunden werden, wenn nicht die bestehenden Schwierigkeiten des Haushalts unlösbar werden sollen. Für manche Länder aber bedeuten auch 39 % Bundesanteil eine Erhöhung der Ausgaben weit über das erwünschte und erwartete Maß hinaus. Die Tatsache aber, daß dieses Abkommen bis 1966 wirkt, bedeutet, daß Bund und Länder nunmehr Zeit gewonnen haben, ihre widerstreitenden Interessen im Bereich der Steuerbeteiligung und darüber hinaus grundlegend zu überprüfen und zu regeln. Das erscheint uns der wesentlichste Gewinn bei diesem Kompromiß.Dieser Kompromiß ermöglicht auch. die Verabschiedung des Nachtragshaushaltes 1963. Haushalt und Nachtragshaushalt 1963 waren auf einen Bundesanteil von 38% aufgebaut. Das Erreichen dieser Anteilquote wird es möglich machen, ein Rechnungsergebnis für das Jahr 1963 vorzulegen, das selbst bei einem kleinen Defizit in sich, in der Sache geordnet ist. Der Nachtragshaushalt bedeutet nichts weiter als eine Reihe von Umstellungen innerhalb des Haushaltsvolumens, das Vorziehen einer erst für 1964 geplanten Abdeckung des Defizits aus dem Jahre 1962. Damit ist ein weiteres Problem aus der Vergangenheit gelöst, das für 1964 unübersehbare Schwierigkeiten mit sich gebracht hätte.Darüber hinaus konnten im Nachtragshaushalt zusätzliche Mittel für die Bundesbahn bereitgestellt werden. Im Rahmen des Gesamthaushaltes 1963 konnten außerdem zusätzlich Ausgaben wie z. B. das Weihnachtsgeld für Aktive und Versorgungsempfänger im öffentlichen Dienst untergebracht werden. Diese haushaltsmäßige Verarbeitung zusätzlicher Aufgaben ist mir möglich gewesen, weil wiederum eine Reihe von Minderausgaben, insbesondere im Bereich der langfristigen Investitionen und 'im außerordentlichen Haushalt, entstanden sind. Auch die Veränderungen im Verteidigungshaushalt, die sich in einer Reihe von über- und außerplanmäßigen Ausgaben niederschlagen, sind nur durch Minderausgaben an anderer Stelle ,des Verteidigungshaushaltes möglich. Über diese Frage werde ich im weiteren Verlauf meiner Ausführungen noch eingehend sprechen.Es wird deutlich, in welch starkem Maße Haushalt 1963, Nachtragshaushalt 1963 und der Entwurf
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4865
Dr. Emdedes Haushalts für 1964 miteinander verknüpft sind und in welch starkem Umfange sich die Lösung oder Nichtlösung eines Problems in allen drei Haushaltsabschnitten auswirkt.Der Herr Bundeskanzler hat die heutige Aussprache mit einer Grundsatzerklärung über seine Politik begonnen. Wir haben diese Grundsatzerklärung begrüßt. Wir sehen aber auch von unserer Partei aus die Notwendigkeit, einige grundsätzliche Dinge zur Arbeit in diesem Parlament zu sagen.Meine Damen und Herren, der Bundestag wird über diesen Nachtragshaushalt und über den Etat 1964 eingehend beraten. Ich möchte das Wort „beraten" noch einmal wiederholen. In den Dezembertagen ist durch die Erörterungen über die Anwendung des Artikels 113 des Grundgesetzes manchmal der Eindruck entstanden, als ob ,der Bundestag diesen Haushalt hinzunehmen und ihm nur zuzustimmen habe.
Das ist nicht so. Der Bundestag wird diesen Haushaltsplan mit aller Genauigkeit und Sorgfalt überprüfen. Er wird die Veränderungen darin vornehmen, die erforderlich sind, um die Kriegsopferversorgung in vollem Umfange zu gewährleisten,
Änderungen, die er im Hinblick auf diese Aufgabe für vertretbar halten muß.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Dr. Emde, was verstehen Sie unter „Kriegsopferversorgung in vollem Umfange"? Verstehen Sie darunter „1. Oktober 1963", oder was sonst?
Herr Kollege, gestatten Sie mir, daß ich in meinen weiteren Ausführungen diese Frage genau beantworte.
Eine zweite Zwischenfrage!
Wenn Sie dann anworten, Herr Kollege Emde, würden Sie dann, sofern Sie es können, gleich mit sagen, ob Herr Barzel so zu verstehen war, daß die CDU-Fraktion auch für das Inkrafttreten rückwirkend zum 1. Oktober eintritt?
Ich glaube, Sie überfordern den Redner.
Ich bin mit dieser Frage wirklich überfragt; aber ich glaube, auch hierüber wird nachher im Laufe der Aussprache noch manches zu sagen sein. Sinn des Art. 113 des Grundgesetzes kann es nur sein, das Parlament daran zu hindern,
Ausgaben zu beschließen, für die es keine Möglichkeiten der finanziellen Deckung gibt, oder — wie hier in unserem Fall — das Parlament daran zu hindern, über die für den Etat gesetzte Obergrenze hinauszugehen. Dieser Art. 113 ist aber unter keinen Umständen ein Instrument zur Beeinträchtigung der Haushaltshoheit des Parlaments.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Natürlich!
Herr Kollege Emde, ist Ihnen nicht bekannt — ganz unabhängig von der anstehenden konkreten Frage, sondern allein in bezug auf die Verfassungsfrage —, daß der auf Antrag Ihres verstorbenen Parteifreundes Höpker- Aschoff zurückgehende Art. 113 nach Auffassung von Höpker-Aschoff und anderen namhaften Kommentatoren doch ganz anders auszulegen ist, als Sie ihn eben hier interpretiert haben?
Es wird sicherlich eine Fülle von Streitigkeiten über die Auslegung dieses Artikels geben. Aber mir kam es darauf an, festzuhalten, daß die Haushaltshoheit des Parlaments Vorrang vor einer Fülle anderer Überlegungen haben muß.
Es erscheint mir notwendig, in diesem Zusammenhang einige grundsätzliche Feststellungen zum Verhältnis der Organe des Staates untereinander zu machen. Bundespräsident, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben ihren durch die Verfassung festgelegten Rang, und ihre Aufgaben und Rechte sind im Grundgesetz eindeutig dargestellt. Aus dem Grundgesetz ergibt sich, daß finanzielle Zusagen bindend für diesen Staat niemand machen kann, ohne die vorherige Zustimmung der übrigen ihn ergänzenden Verfassungsorgane zu haben. Das bedeutet, daß erst nach Vorliegen verabschiedeter Haushaltspläne im Rahmen der in diesen Haushalten eingestellten Mittel Versprechungen über finanzielle Leistungen gemacht werden können. Vorherige Erklärungen über finanzielle Leistungen sind nichts weiter als persönliche Äußerungen, und ich versichere jetzt für meine Fraktion, daß wir unsere Entscheidung über Ausgaben nur innerhalb der Einzelhaushalte nach der sachlichen Notwendigkeit ausrichten werden und nicht bereit sind, uns durch irgendeine persönliche Erklärung — gleichgültig, wie hoch der Rang des Verfassungsorgans auch sein mag — binden zu lassen.
Eine weitere grundsätzliche Feststellung.
— Nein, nein! Manche Kollegen werden verstehen, was ich meine.
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4866 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. EmdeDas Parlament als Verfassungsorgan steht der Regierung frei gegenüber. Dabei ist Recht und Pflicht der parlamentarischen Kontrolle nicht alleinige Aufgabe der Opposition. Jede Partei in diesem Hause hat die Pflicht, sich als Partner und damit als ein Gegenüber der Regierung. zu empfinden, einer Regierung, die sie kontrolliert, gleichgültig, ob sich die Fraktion dabei im Rahmen der Regierungskoalition als Mitträger der Regierung fühlt oder ob sie als oppositionelle Partei der Regierung gegenübersteht. Eine Regierungspartei ist mehr als die Hilfstruppe ihres Kabinetts. Es kann unter keinen Umständen ihre Aufgabe sein, im Sinne der klassischen Tragödie sich als Chor zu empfinden und nur zur Verstärkung und Erläuterung der Handlungen der Hauptdarsteller auf der Bühne zu agieren. Auch eine Regierungsfraktion hat mitgestaltende Kraft, und der Wert eines Parlaments wird um so höher sein, je klarer die Selbständigkeit des Parlaments in seiner Arbeit zur Unterstützung und Kontrolle der Regierung zum Ausdruck kommt.
Es gibt andererseits keinen Zweifel, daß die Regierungsfraktionen sich ihrem Kabinett verbunden fühlen und in der parlamentarischen Auseinandersetzung in klarer Abgrenzung zur Opposition stehen.
Dabei wird die Arbeit des Parlaments um so wirksamer, je deutlicher die Unterschiede in den Sachauffassungen vorgetragen werden. Im Zuge dieser Haushaltsauseinandersetzung sind die Unterschiede zwischen unserer Fraktion und der Opposition ganz klar herauszustellen.
Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, mit dem Haushalt 1964 volkswirtschaftliche Wirkungen auszulösen. Sie will erstens die Aufgaben des Staates im nächsten Jahr zureichend erfüllen, und sie will zweitens mit der konjunkturpolitischen Auswirkung des Haushalts die Stabilität der Währung verbessern.Voraussetzung für das Erreichen dieses Zieles ist es, den Haushalt 1964 in einem Rahmen zu halten, der dem echten Zuwachs des Sozialproduktes, also der Leistung des ganzen Volkes entspricht. Nun mag es Meinungsunterschiede geben, ob 1964 das Sozialprodukt real um 41/2 oder 5 % wächst, und auf Grund dieser Meinungsunterschiede kann man konjunkturpolitische Prognosen und volkswirtschaftliche Erörterungen tiefschürfender Art veranstalten. Aber hier, meine Damen und Herren, ist eine politische Entscheidung zu fällen, und wir sind nicht der Meinung, .daß man diese politische Entscheidung nach den Prognosen einer Reihe von Konjunkturinstituten ausrichten sollte. Man kann diese Prognosen nicht zusammenzählen, daraus eine Automatik ableiten und aus dieser Automatik heraus dann Politik machen. Hier ist politisch zu entscheiden, in welchem Umfang Regierung und Parlament bereit sind, die Zuwachsquote des Sozialprodukts für dieöffentliche Hand zu mobilisieren. Darum geht es hier!
Schon immer haben wir Freien Demokraten eine Beschränkung der Staatsausgaben gefordert. Wir begrüßen deshalb die Festlegung einer Obergrenze als eine für die Haushaltswirtschaft des Bundes glückliche Entscheidung. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Grenze nun theoretisch 60,2 oder 60,3 oder 60,4 Milliarden DM hätte betragen können. Regierung und Koalition wünschen aus volkswirtschaftlichen Gründen eine Begrenzung des Volumens auf 60,3 Milliarden DM, und eine Reihe von Erklärungen der SPD-Kollegen im Haushaltsausschuß haben gezeigt, daß auch die Opposition — bisher zumindest — dieser Festlegung auf 60,3 Milliarden DM zugestimmt hat.Wir sind überzeugt, daß damit Einflüssen entgegengewirkt wird, die die Währung welter aufweichen könnten. Es ist nicht notwendig, all das zu wiederholen, was im Laufe vieler Jahre über die Bedeutung einer stabilen Währung hier und an anderen Orten von berufenen Sprechern gesagt worden ist. Aber es ist notwendig; noch einmal den politischen Willen auch meiner Fraktion auszudrücken. Nur eine gesunde, stabile Währung ermöglicht eine gesunde Entwicklung der Volkswirtschaft und schafft damit die Voraussetzung der erforderlichen Maßnahmen für die soziale Sicherheit im Innern und die staatliche Sicherheit nach außen.Die Verringerung der Einnahmebeträge bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer durch die Begrenzung des Bundesanteils auf 39 % bringt einen Ausfall von 392 Millionen DM. Wir halten es für vertretbar — und hier kommt einer unserer ersten Vorschläge für die Einnahmeseite; ich glaube, damit leisten wir einen erheblichen Beitrag für die Fortführung der Diskussion — ,diesen Ausfall wettzumachen erstens durch Einstellung von weiteren 280 Millionen DM aus dem Verkaufserlös des Volkswagen-Werkes und zweitens dadurch, daß zur Deckung des Restbetrages von 100 Millionen DM eine Erhöhung des Ansatzes der. Steuereinnahmen für 1964 vorgenommen wird. Wir halten diese Erhöhung um 100 Millionen DM angesichts der Entwicklung des Sozialprodukts im nächsten Jahr für durchaus vertretbar. insbesondere weil wir damit ja auch weiter innerhalb der. 60,3-Milliarden-Obergrenze bleiben.Der Haushalt wirkt auf die Volkswirtschaft, aber nicht nur durch seinen Anteil am Steueraufkommen, sondern auch durch die Ausnutzung der Möglichkeiten des Kapitalmarktes. Ich möchte hier für meine Fraktion erklären, daß wir uns mit allen Mitteln einer weiteren Erhöhung der Darlehensquote widersetzen werden. Die Auswirkungen, die die insgesamt 11 Milliarden DM, um die die öffentliche Hand in diesem Jahr an den Kapitalmarkt gehen wird, haben werden, können nicht präzise vorhergesagt werden. Aber Tendenzen zur Senkung des Zinsniveaus würde damit entgegengearbeitet werden, und der freie Raum für ,die Privatwirtschaft, die ja auch auf den Kapitalmarkt angewiesen ist, würde durch eine weitere Erhöhung der Quote der öffentlichen Hand
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Dr. Emdeeingeschränkt werden. Wir werden deshalb Vorschlägen zur Erhöhung der Darlehensquote hier nicht zustimmen können.Wir sind aber überzeugt, daß die Aufgaben des Staates für das Jahr 1964 im Rahmen des Gesamthaushaltsvolumens — einschließlich der bis jetzt vorgesehenen Darlehensaufnahmen — lösbar sind, wenn man bereit ist, in der Ausgabenwirtschaft die Vernunft walten zu lassen, die jeder gute Hausvater und jeder verantwortungsvolle Staatsmann zur Grundlage seiner Handlungen machen muß. Ich will damit sagen, daß meine Fraktion die Möglichkeit sieht, durch Streichungen an anderen Stellen die Mittel zu beschaffen, die hier und dort in der Konstruktion des Haushaltsentwurfs fehlen.Damit bin ich auf die Frage des Sparens gekommen. Ich glaube, man sollte sich einige Gedanken über das Sparen auch der öffentlichen Hand machen. Sparen liegt in der Mitte zwischen Geiz und Verschwendung. Sparen heißt nicht, notwendige Aufgaben nicht zu erfüllen, sondern Sparen heißt, die höchste Wirkung mit den verfügbaren Mitteln zu erreichen. Wenn ich das, Wort „Sparen" verwende, meine ich damit nicht die extreme Vorstellung, die sich in dem netten schwäbischen Sprichwort niederschlägt: „Hund abschaffe, selber belle."
— Ich bin ja im Ältestenrat und habe inzwischen dort Schwäbisch gelernt, — „Lernt Schwäbisch im Ältestenrat".
Vielmehr meine ich damit tatsächlich den Verzicht auf unnütze oder überflüssige Ausgaben. So sollten wir auch die Beschränkung des Haushalts auf eine feste Grenze nicht nur als Last, sondern auch als Segen empfinden. Denn diese Beschränkung zwingt viele, die bis jetzt über die Verwendung von Geld nur wenig und unzureichend nachgedacht haben, zur Vernunft oder zur Überlegung über die sinnvolle Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel.In zweierlei Weise ist die Vernunft in der Ausgabenpolitik anzuwenden. Die Regierung ihrerseits hat in den letzten Wochen bei den Vorbereitungen des Haushalts den einen Weg beschritten, der durch den anderen nunmehr ergänzt werden muß, den einen Weg, der zum Ziele hat, aufwendige oder im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht notwendige Programme zu stoppen oder zu kappen. Schon dieses Abbremsen von Großprogrammen kann eine staatspolitische Aufgabe ersten Ranges sein. Es muß aber ergänzt werden auf einem zweiten Weg, auf den der Haushaltsausschuß durch Auftrag der Regierung gewiesen ist, durch Sparmaßnahmen an verschiedenen Stellen die Mittel zur notwendigen Umgestaltung des Haushalts zu finden.Dabei sind wir der Meinung, daß trotz aller Bemühungen des Haushaltsausschusses in der Vergangenheit noch nicht alle Rationalisierungsmöglichkeiten im einzelnen ausgeschöpft worden sind. Wir müssen nunmehr bei -diesen Möglichkeiten bis zur äußersten Grenze gehen. Denn zwei große Beträgesind durch den Haushaltsausschuß herauszuwirtschaften: erstens für eine ausreichende Versorgung der Kriegsopfer, zweitens zur Deckung der im Haushalt veranschlagten Minderausgaben. Im Entwurf ist eine globale Minderausgabe von 790 Millionen DM eingestellt, die zur Ausfüllung der in dieser Größe bestehenden Deckungslücke gedacht ist. Es müssen also entweder vom Finanzministerium globale Kürzungen aller nicht auf Gesetz oder Vertrag beruhenden Ausgabenpositionen erfolgen, oder aber der Haushaltsausschuß muß im Rahmen der Haushaltsberatungen durch gezielte Kürzungen diesen Betrag einsparen. Das ist die eine Aufgabe.Die andere liegt in der Erfüllung der Versprechungen gegenüber den Kriegsopfern. Für das zweite Kriegsopferversorgungs-Änderungsgesetz steht im Haushalt eine Finanzmasse von 650 Millionen DM zur Verfügung. Die Beschlüsse des Kriegsopferausschusses erfordern, auf ein Haushaltsjahr berechnet, 1,2 Milliarden DM. Das ist eine Mehrausgabe von insgesamt nunmehr 600 Millionen DM, die auf uns zukommt. Durch die Methode der Antragstellungen und Berechnungen in Verfolg der Änderung der Versorgung wirkt sich aber dieser vom Kriegsopferausschuß beschlossene Betrag für das Jahr 1964 nicht in voller Höhe, sondern in einem erheblich geringeren Betrag aus. Es ist müßig zu untersuchen, welcher Betrag der endgültige sein wird, der vom Arbeitsministerium angegebene Oberbetrag von 1 Milliarde DM oder der vom Kriegsopferausschuß angegebene Betrag von 850 Millionen DM. Entscheidender Tatbestand ist, daß es notwendig ist, eine zwischen 250 und 350 Millionen DM liegende Summe aus dem Haushalt herauszustreichen.Meine Fraktion — hier kommt die Antwort, Herr Kollege Schäfer — geht dabei von der Voraussetzung aus, daß das neue Gesetz über die Kriegsopferversorgung in seiner künftigen Gestaltung spätestens zum 1. Januar 1964 in Kraft tritt. Die FDP hat im Dezember 1963 ihre Entschlossenheit ausgedrückt, das Neuregelungsgesetz zum 1. Januar 1964 in Kraft zu setzen. Da die SPD und erhebliche Teile der CDU/CSU dem gleichen Datum zugestimmt, zum Teil sogar frühere Daten verlangt haben, dürfte also der 1. Januar 1964 der Zeitpunkt für das Inkrafttreten des Gesetzes sein können. Die FDP ist dabei seit vielen Jahren entschieden dafür eingetreten, daß im Rahmen der Kriegsfolgelasten die Kriegsopferversorgung Vorrang vor anderen sozialpolitischen Aufgaben haben muß. Wir sehen in der unverzüglichen Verabschiedung dieses Gesetzes eine Verpflichtung der Menschlichkeit, des Anstands und der nationalen Würde.Da nunmehr dem Parlament die Aufgabe zugewachsen ist, im Rahmen des Gesamthaushaltes die erforderlichen Finanzmittel an anderer Stelle zu beschaffen, hat der Haushaltsausschuß im Laufe der nächsten vierzehn Tage eine schwere, aber schöne Aufgabe. Es wird immer wieder gefragt: Ist das möglich? — Am 3. und am 6. Januar haben die Berichterstatter für die Einzelpläne Justiz- und Finanzministerium, zu denen auch ich mit gehöre, Vorbesprechungen mit den Haushaltssachbearbeitern bei-
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Dr. Emdeder Ministerien geführt. Als Mitberichterstatter für diese beiden Einzelpläne kann ich hier erklären, daß im Bereich des Justiz- und Finanzhaushalts als Ergebnis dieser Vorbesprechungen die Einsparung von 9,2 Millionen DM dem Haushaltsausschuß in seiner Sitzung am 16. Januar 64 vorgeschlagen werden kann. Es handelt sich hier um zwei Haushalte von geringem zahlenmäßigem Gewicht: insgesamt 740 Millionen DM Ausgaben.In den anderen Einzelplänen werden sich zweifelsohne genügend Mittel finden, um die Kriegsopferversorgung zum vorgesehenen Termin finanziell zu dotieren. Die Erfahrung der vergangenen Jahre — der Haushaltsausschuß hat 1962 1,1 Milliarden DM und 1963 rund 700 Millionen DM gestrichen — geben mir persönlich den Mut zu dieser Feststellung.Dazu kommt noch das Problem der Subventionen für kleine und kleinste Aufgaben. Im ganzen Haushalt wird eine Fülle von Einzelgruppen mit kleineren oder größeren Geldbeträgen unterstützt. Zweifelsohne handelt es sich um manche wünschenswerte Ausgabe. Aber „wünschenswert" ist nicht in jedem Fall gleichzusetzen mit „notwendig". Ich bin überzeugt, daß Streichungen an solchen Positionen eine Fülle von Protesten der Betroffenen auslösen wird, möchte aber keinen Zweifel an unserer Überzeugung lassen, daß es nicht Aufgabe der öffentlichen Hand sein kann, Glückstaler über das ganze Land zu verstreuen und an vielen Stellen den Eindruck hektischer Geschäftigkeit zu ermöglichen, die sich dem normalen Bürger dann dadurch offenbart, daß er eine Menge von Informationsblättern, Zeitschriften, Blättchen und Traktätchen ins Haus geschickt bekommt, die zum größten Teil ungelesen vom Briefkasten in den Papierkorb wandern.
Neben diesen kleinen Einsparungsmöglichkeiten besteht aber eine Reihe von Bereichen, die unsere volle Aufmerksamkeit verdienen wegen der in ihnen ruhenden Eigengesetzlichkeit, der sich daraus ergebenden finanziellen Problematik und deren Auswirkung auf die gesamte Volkswirtschaft. Diese Bereiche bestimmen in entscheidendem Umfang das Schwergewicht unseres Haushalts. In den Jahren 1962 und 1963 lag das Schwergewicht der Verteilung der Zusatzquote der Haushaltseinnahmen eindeutig bei der Verteidigung. Der Verteidigungshaushalt behält auch 1964 die vorherrschende Stellung im Etat mit 20,6 Milliarden DM insgesamt und 34 % des Gesamtvolumens. Das bedeutet, daß wir sehr viel Geld für unsere äußere Sicherheit ausgeben. Gewiß nützlich eingesetztes Geld, wenn damit unsere äußere Sicherheit gewährleistet wird, und jedermann wird zustimmen, wenn hohe Anteile unseres Sozialprodukts dazu verwandt werden. Das verpflichtet uns aber, mit aller Sorgfalt zu prüfen, ob mit diesem Geld der höchstmögliche Nutzen erzielt wird. Die Versicherung, alles sei in Ordnung und es könne nichts verbessert werden, kann uns unter keinen Umständen zu parlamentarischer Abstinenz veranlassen. Zu vieles, was völlig klar schien, ist während des vergangenen Jahres strittig geworden: die Schwierigkeiten des deutschen U-Boot-Baues, die politisch und militärisch gleichermaßen unerwünschte deutsch-französische Parallelentwicklung in der Panzerherstellung, die Auseinandersetzung um den Kampftransporter „Transall", die überraschende Liquidierung der Arbeiten am Senkrechtstarter, nachdem bereits 250 Millionen DM ausgegeben waren. Das alles müßte Grund genug sein, die Beratung des Verteidigungshaushalts zu einem der Kernstücke der parlamentarischen Arbeit der nächsten Wochen zu machen.Neben der technischen Problematik der großen Beschaffungsprogramme gibt es aber ein Haushaltsproblem, das erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Planungen hervorrufen muß: das Problem der über- und außerplanmäßigen Ausgaben im Verteidigungshaushalt. Man erwidere nun nicht sofort, die Tatsache, daß über- und außerplanmäßige Ausgaben erforderlich würden, sei ein Beweis für zu geringe Dotierung des Einzelplans 14 in den letzten Jahren. So einfach sind die Dinge nicht. Es wurden über- und außerplanmäßig ausgegeben: 1961 1,3 Milliarden DM, 1962 1,7 Milliarden DM und 1963 1,4 Milliarden DM.Interessant wird dieser Vorgang durch zwei Tatsachen. Das parlamentarische Genehmigungsverfahren sieht bei über- und außerplanmäßigen Ausgaben folgenden Instanzenzug vor: Fachministerium, Finanzministerium, Haushaltsausschuß, und zwar in jedem Fall. Der Fachausschuß, also hier der Verteidigungsausschuß, ist bei ganz entscheidenden Veränderungen des Beschaffungsprogramms — und jede Beschleunigung, Beschneidung oder Umstellung ist eine entscheidende Veränderung — ausgeschaltet. Wir gehen davon aus, daß das Verteidigungsministerium diesen Instanzenzug nicht zur sachlichen Ausschaltung des Verteidigungsausschusses dadurch mißbraucht, daß bei Haushaltsaufstellung kritische Finanzierungen nicht berücksichtigt werden.Aber wir sind hier nicht der Annahme, daß alles gut läuft. Wir müssen die Dinge im einzelnen besprechen. Eine besondere Uberprüfung der Methode der über- und außerplanmäßigen Ausgaben ist auch darum so notwendig — das ist das zweite Interessante an diesem Vorgang —, weil die Deckung der Mehrausgaben an anderer Stelle des Einzelplans 14, und zwar wiederum im Beschaffungsprogramm, gefunden wird. Selbst die Erklärung, daß diese Einsparrungen durch zeitliche Verzögerung der Beschaffung möglich waren, müßte uns beunruhigen; denn in der heutigen Zeit ist es durchaus möglich, den Zeitablauf eines großen und komplizierten Programms so zu bestimmen, daß der Finanzaufwand für die Beschaffungsperiode mit geringen Abweichungen zeitlich genau festgelegt werden kann.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege Dr. Emde, ist Ihnen bekannt, daß in der Behandlung des Verteidigungshaushalts eine andere Praxis besteht als
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Schoettledie, die Sie vorhin dargestellt haben, daß nämlich in jedem Fall der Verteidigungsausschuß — der Fachausschuß — den Beratungen im Haushaltsausschuß vorgeschaltet ist, also nicht ausgeschaltet ist?Dr. Emde .: Er ist nicht immer und in jeder Frage vorgeschaltet gewesen, Herr Kollege. Es gibt eine Reihe von Gegenständen, bei denen er im Laufe der letzten Wochen nicht vorgeschaltet war, und auf diese habe ich angespielt.Es handelt sich nicht entscheidend um zeitliche Verzögerungen, sondern um echte Umschichtungen im Beschaffungsprogramm, und das ist kein Beweis für eine richtige und ausgewogene Planung. Man darf dabei nicht außer acht lassen, daß der Verteidigungshaushalt durch die Beschaffungen im Ausland, durch Käufe bei der Industrie und durch Vergabe von Aufträgen an die Bauindustrie erhebliche volkswirtschaftliche Wirkungen auslöst, die sich u: a. in der Entwicklung der Preise im Hochbau bemerkbar machen können. Eine Abstimmung militärischer Notwendigkeiten mit den übrigen Staatsaufgaben und den Möglichkeiten der Bauindustrie ist ein dringendes Erfordernis für Gegenwart und Zukunft.Aber alle militärische Planung ist auch abhängig von den personalpolitischen Möglichkeiten. Nicht nur die Veränderungen in der Verteidigungskonzeption, sondern auch die Umstellung der Rüstungsprogramme wirken sich einschneidend auf die Personalpolitik der Bundeswehr aus. Die rechtzeitige Ausbildung der Fachleute ist Voraussetzung für das Wirksamwerden der Anpassung unserer Verteidigungsvorstellungen an die militärische Entwicklung. Wir sind überzeugt, daß eingehende Untersuchungen dieser Tatbestände und eine der heutigen militärischen und technischen Situation angepaßte Überprüfung der Beschaffungsprogramme bei verringertem Finanzaufwand, also bei einem weiteren Sinken der Zuwachsquote in der Zukunft, dennoch eine erhebliche Verbesserung unserer Verteidigungsbereitschaft zur Folge haben werden.Wir sollten uns ,ein Beispiel an der amerikanischen Absicht der Rationalisierung der Verteidigung nehmen. Wenn der amerikanische Präsident überzeugt ist, daß selbst bei Kürzung des Verteidigungshaushalts gegenüber den Ansätzen im vorigen Jahr eine höhere Sicherheit gewährleistet werden kann, sollten wir unter allen Umständen den Versuch machen, durch Rationalisierung des gesamten Verteidigungsapparats und durch Überarbeitung der Programme mit weniger Geld mehr Sicherheit zu gewinnen.Das Jahr 1964 bringt in der Verteilung der Mehreinnahmen den Schwerpunkt im Sozialhaushalt. In dreierlei Hinsicht entwickelt sich der Sozialhaushalt: durch das Kriegsopfer-Neuordnungsgesetz, durch das Kindergeldgesetz und durch die automatische Zunahme der Leistungen an die Rentenversicherungsträger.Insgesamt wächst der Sozialhaushalt um 2,6 Milliarden DM, ja, wenn wir die erhöhte Kriegsopferleistung einbeziehen, um 3 Milliarden DM. Bedeutsam sind in diesem Jahr die Auswirkungen, die automatisch für den Bundeshaushalt durch die Zuschußpflicht für die Rentenversicherungsträger entstehen. Runde 670 Millionen DM sind dazu mehr veranschlagt. Wir werden die hier sichtbare Entwicklung mit aller Aufmerksamkeit beobachten müssen. Wir halten es für notwendig, daß möglichst bald die Sozialenquete die Konstruktion der deutschen Sozialpolitik untersucht. Die Summe der insgesamt für Sozialmaßnahmen zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel müßte zusammen mit den Beitragsleistungen ausreichen, um die sozialen Probleme voll zu lösen.Wenn dennoch ständig neue Maßnahmen im Rahmen der Sozialpolitik gefordert und geplant werden, so scheint uns dies ein Zeichen dafür zu sein, daß die Verteilung der aufgebrachten Mittel nicht den höchsten Nutzen erbringt. Eine fortschrittliche Sozialpolitik sollte übersichtlicher, klarer und wirksamer sein als das heutige deutsche System.Die Weiterentwicklung des Kindergeldrechts ist nach unserer Überzeugung eine Maßnahme fortschrittlicher Sozialpolitik. Das Kindergeldgesetz bringt zwei wesentliche Fortschritte, nämlich erstens die Erhöhung der Sätze für die Empfangsberechtigten mit rund 70 Millionen DM und zweitens die Entlastung der bisher für die Aufbringung des Kindergeldes verpflichteten Betriebe durch Übernahme der Leistungen auf den Bundeshaushalt mit weit über 1 Milliarde DM. Dazu tritt die verwaltungsmäßige Verbesserung in der Auszahlungsmethode durch Auflösung der Familienausgleichskassen und Konzentrierung auf die Arbeitsämter.Wir bedauern nur, daß nicht von Anfang an das gesamte Kindergeld aus dem Bundeshaushalt gezahlt wurde, sondern daß über Jahre hinaus der sachlich falsche und die Wirtschaft belastende Umweg über die Familienausgleichskassen gewählt worden ist. Wir freuen uns, daß unsere von Anfang an vorgetragene sachliche und politische Meinung sich im Laufe der Entwicklung als richtig erwiesen hat. Diese Entlastung des Mittelstands durch Übernahme des Kindergeldes auf den Bundeshaushalt mit einer Gesamtjahresauswirkung von 1,5 Milliarden DM ist um so notwendiger, als durch die beabsichtigte Neuregelung der Lohnfortzahlung neue Lasten für die lohnintensiven Betriebe vor der Tür stehen.Hier ist es notwendig, einige Sätze zur Belastbarkeit der deutschen Wirtschaft zu sagen. Jede Erhöhung des Kostengefüges der Wirtschaft wirkt sich, wenn sie nicht durch Rationalisierungsmaßnahmen aufgefangen werden kann, nach allen Erfahrungen auf das Preisniveau aus. Wir Freien Demokraten haben schon seit Jahren immer wieder auf die preispolitischen Auswirkungen neuer Kostenbelastungen der Wirtschaft hingewiesen. Ich möchte an dieser Stelle besonders darauf hinweisen, daß die Vereinigten Staaten von Amerika Steuersenkungen in einem Umfang vornehmen, die sich mit denen, von welchen deutsche Steuerzahler träumen, in keiner Weise vergleichen lassen. Die Steuersenkungen von 11 Milliarden Dollar, wie die amerikanische Regierung sie in ihrem Budgetentwurf und den parlamen-
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4870 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. Emdetarischen Verhandlungen durchzusetzen versucht, sind mit ihren, auf D-Mark umgerechnet, 44 Milliarden ein Faktor von einmaliger wirtschaftspolitischer Auswirkung. Die Konkurrenzlage der amerikanischen Industrie am Weltmarkt wird damit ganz erheblich verbessert werden. Wir in Deutschland mit dem unbestritten höchsten steuerlichen Belastungskoeffizienten können nicht weiter Zeit verstreichen lassen, ohne aus dieser Entwicklung Konsequenzen zu ziehen.Mit der angekündigten Reform des Einkommensteuertarifs verwirklicht die Bundesregierung eine von der Freien Demokratischen Partei seit langem erhobene Forderung. Es ist in besonderem Maße anzuerkennen, daß der Bundesminister der Finanzen dem Parlament einen solchen Vorschlag unterbreitet in einer Zeit, in der die Haushaltslage außerordentlich angespannt ist. Aber er unterbreitet diesen Vorschlag ja in der Erwartung, daß aus der Zuwachsquote des Jahres 1965 ein entsprechender Anteil abgezweigt werden kann — und zwar bei Bund und Ländern —, um eine Steuersenkung vornehmen zu können. Mit Recht hat der Bundesfinanzminister darauf hingewiesen, daß die steuerliche Belastung unseres Volkes die Grenze des Erträglichen erreicht hat. Wir begrüßen deshalb die Maßnahmen der Bundesregierung zur Steuersenkung um so mehr, einer Steuersenkung, die nach unseren Wünschen Zahler der Einkommen- und Lohnsteuer begünstigen wird. Wir sind bereit, das Kabinett auf diesem Wege in jeder Weise zu unterstützen. Das bedeutet, daß wir mit allen im Rahmen der Vernunft anzuwendenden Mitteln bemüht sein werden, nicht durch zusätzliche Ausgabenwünsche im Jahre 1964 die Möglichkeit zu dieser Steuersenkung zu verbauen.Die fühlbare Entlastung der mittleren und kleinen Einkommen hat aber auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung, auf die die Freie Demokratische Partei mit besonderem Nachdruck hinweisen möchte. Das deutsche Volk hat in den Jahren des Wiederaufbaus einen von niemandem erwarteten Sparwillen bewiesen. Dieser Sparwille wird in der ständig wachsenden Zahl von Eigenheimen und Eigentumswohnungen sichtbar. Er ergibt sich aber auch aus den wachsenden Einlagen bei den Sparinstituten und der breiten Streuung der Sparguthaben. Ähnlich ist die Entwicklung auf dem Gebiet der privaten Selbstvorsorge durch ein ständiges Anwachsen der Lebensversicherungsverträge nach Zahl und Volumen. Wir vertreten die Auffasung, die gesellschaftspolitische Zielsetzung der Bundesregierung macht es erforderlich, daß diesem Willen zur Eigentumsbildung jede nur mögliche Förderung durch die Gesetzgebung zuteil wird. Ein sinnvoller Ausbau der vorhandenen Förderungsmaßnahmen für die private Vermögensbildung muß wesentlicher Bestandteil des Steueränderungsgesetzes sein.Wir sind aber darüber hinaus der Meinung, daß es im Zuge dieser Steuersenkung möglich sein sollte, zwei andere Probleme des Steuerwesens zumindest teilweise zu lösen. Es sollte durch eine erhebliche Erhöhung der Lohnsteuerfreibeträge möglichst vielen Lohnsteuerzahlern ermöglicht werden, ohne Schlangenbildung vor den Finanzämtern und langwierigen Formularkram zu ihren Steuerfreibeträgen zu kommen. Eine solche Maßnahme würde kaum zu einer Verschlechterung der Steuereinnahmen führen, da die meisten Lohnsteuerzahler sowieso Einzelanträge auf Steuerermäßigung stellen, darüber hinaus aber eine beträchtliche arbeitsmäßige Entlastung der Finanzämter und einen großen Zeitgewinn für den Lohnsteuerzahler zur Folge haben. Weiter wünschen wir, daß mit der Senkung der Einkommen-und Lohnsteuer verbunden die Abschaffung einiger Bagatellsteuern erlolgt, und zwar solcher, deren Ertrag für den Gesamthaushalt bedeutungslos ist, deren Aufbringung aber dennoch mit einem Verwaltungsaufwand belastet ist, der nicht in einem gesunden Verhältnis zum Nutzen steht.Die Maßnahmen zur steuerlichen Entlastung der Wirtschaft können aber nicht als einzige wirtschaftspolitische Maßnahmen für das Jahr 1964 betrachtet werden. Wir halten es für notwendig, in einem erheblich stärkeren Maße als bisher die Infrastruktur der Wirtschaft zu verbessern. Trotz aller Investitionen im Verkehrssektor ist es bis heute nicht gelungen, die dringendsten Verkehrsprobleme befriedigend zu lösen. Das Nachhinken des Straßenbaues hinter der Motorisierungswelle, der nicht ausreichende Ausbau und die Unterhaltung der Binnenwasserstraßen sind Zeichen der Zeit, die wir nicht übersehen dürfen. Es besteht in unserer Fraktion kein Zweifel daran, daß kommende Haushalte eine erhebliche Verstärkung der Maßnahmen für den Verkehrssektor bringen müssen.Auch das Ansteigen der Leistungen im Wissenschaftshaushalt, das mit einer Zuwachsquote von 15 % weit über der Zuwachsquote des Sozialproduktes liegt, sollte nicht den Eindruck erwecken, als ob hier bereits ein ausreichender Stand der Dotierung erreicht sei. Der tatsächliche Zuwachs des Wissenschaftshaushalts mit 120 Millionen DM auf 900 Millionen DM zeigt, wie wenig aussagefähig die Bezugnahme auf den prozentualen Anstieg ist. Die Tatsache, daß die Bundesrepublik im Jahre 1962 erheblich mehr Patentgebühren an das Ausland gezahlt hat, als sie an Patentgebühren aus dem Ausland bezogen hat, macht klar, in welchem Umfange heute in Deutschland Technik und Wirtschaft von den geistigen Leistungen anderer Völker abhängig sind.Auch im Rahmen der Förderung strukturell benachteiligter Gebiete der Bundesrepublik müssen in der Zukunft die Leistungen erheblich verstärkt werden, um ein ausgewogenes Wirtschafts- und Sozialgefüge im ganzen Land zu haben und die Sozial- und Kulturgefälle, die heute bestehen, abzubauen und auszugleichen. Wir wissen, daß der Haushalt des Jahres 1964 für all diese Dinge keine Möglichkeiten mehr bietet. Zu 'schwer sind die Belastungen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, zugunsten der Kriegsopferversorgung den Betrag von 250 bis 350 Millionen DM zu streichen und die Minderausgaben von 790 Millionen abzudecken.Aber das, was jetzt nicht möglich ist, sollte auf jeden Fall im Jahre 1965 verwirklicht werden können; denn ein längeres Hinauszögern der Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft, Verbesserung
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4871
Dr. Emdedes Verkehrswesens, Steigerung der Leistung der Wissenschaft und Forschung und der Verbesserung der strukturellen Ausgeglichenheit im Lande ist nicht möglich. Das Jahr 1965 sollte das Jahr sein, in dem diese Aufgaben verstärkt angefaßt werden.Ich habe keine Einzelpläne behandelt, aber Veranlassung, einige Bemerkungen zum Einzelplan 23 zu machen. Der Einzelplan des Entwicklungshilfeministeriums scheint mir ein getreues Abbild der derzeitigen Entwicklungshilfe zu sein. Der Einzelplan ist gut strukturiert und läßt deutlich die Fortschritte erkennen, weiche die Entwicklungspolitik der Bundesregierung gerade in den letzten Jahren gemacht hat. Was aber offensichtlich immer noch fehlt — auch die Durchführungsvorschriften in den Erläuterungen zu verschiedenen Titeln zeigen dies —, ist die von allen drei Fraktionen dieses Hauses einmütig und wiederholt geforderte organisatorische Straffung und Konzentrierung der Maßnahmen in einer Hand. Meine Freunde erwarten, daß diese leidige Frage beschleunigt sachgemäß geregelt und daß damit endlich auch die Verantwortung für diese wichtige Aufgabe eindeutig geklärt wird.Der vorliegende Haushaltsentwurf hat seine Schwerpunkte in der Sozialpolitik. Wir begrüßen dies. Wir begrüßen es weiter, daß eine schwerpunktmäßige Ausgestaltung des Haushalts erfolgt ist, denn die großen Aufgaben werden nur dadurch gelöst, daß eine nach der anderen bereinigt wird, nicht dadurch, daß mit kleineren Maßnahmen an allen Ecken und Enden herumgestochert und herumgekleckert wird. Es muß aber jedermann im Volk durch das Verhalten der Regierung und der Parlamentsmehrheit klar sein, daß im Rahmen dieses Schwerpunktdenkens und infolge des Festlegens einer Rangfolge das Ausbleiben der einen oder anderen Maßnahme nichts weiter bedeutet als eine zeitliche Verschiebung. Wenn diese Überzeugung Allgemeingut wird, ist die Voraussetzung dafür gegeben, aus den Pressionsmethoden der Interessengruppen herauszukommen; denn diese Pressionsmethoden werden in den meisten Fällen ja nur deshalb angewandt, weil man befürchtet, nie mehr an den Tisch zu kommen, an dem die Mittel verteilt werden.In der Festlegung der Rangfolge muß aber auch ein System der Gerechtigkeit bestehen. Nach unseren Vorstellungen gehört zu diesem System der Gerechtigkeit, daß vor allen anderen sozialpolitischen Maßnahmen die Vorlage über die Kriegsopferversorgung verabschiedet wird, daß danach die übrigen im Etat vorgesehenen Sozialmaßnahmen in Kraft treten, daß zur Jahreswende die Steuersenkung zur Entlastung der Einkommen- und Lohnsteuerzahler erfolgt und daß daran anschließend die Ansätze für Struktur- und Investitionsmaßnahmen im Bereich des Verkehrswesens, der Wissenschaft und nicht zuletzt im Bereich der Landwirtschaft entscheidend erhöht und diese damit im nächsten Jahr Schwerpunkt der Haushaltspolitik werden. Die Brüsseler Verhandlungen haben erneut die Schwierigkeiten gezeigt, die auf der europäischen Ebene auf dem Gebiete der Agrarpolitik noch zu überwinden sind, Schwierigkeiten, die auch nicht ohne Auswirkungen auf den Bundeshaushalt vermindert oder beseitigt werden können. Das gilt vor allem für die Finanzierung des Ausrichtungs- und Garantiefonds der EWG, zu dem die Bundesrepublik in den nächsten Jahren 31 % beizutragen hat. Bei weiteren Verhandlungen sollte die Bundesrepublik nie über diesen Prozentsatz hinausgehen einschließlich der Abschöpfungsbeträge. Auch sollte die Bundesregierung wie bei den bisherigen Verhandlungen an dem deutschen landwirtschaftlichen Erzeugerpreisniveau festhalten. Über einen direkten oder über die EWG gesteuerten Einkommensausgleich würde der Bundeshaushalt schwer belastet.Es wäre notwendig, daß der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bei der Aussprache über den Einzelplan 11 ein deutliches Wort über seine Vorstellungen über die zukünftige Entwicklung auf diesem Sektor spricht.Voraussetzung aber für eine solche Politik der Rangfolge ist eine vorausschauende Wirtschafts- und Staatspolitik. Wir sind überzeugt, daß diese Regierung die richtige Politik treibt. Und wenn ich sage, diese Regierung, dann meine ich damit unsere Regierung, die von der Fraktion der FDP mitgetragen und als eigene Regierung empfunden wird. Wir tragen diese Regierung, weil wir ihre Politik befürwortend unterstützen als freie Partner unserer Koalitionsfreunde. Wir verteidigen im Parlament diese Regierung, um ihre politische Arbeit zu ermöglichen. Wir kontrollieren diese Regierung als Fraktion dieses Parlaments und werden damit unserer Aufgabe als Parlamentarier gerecht. Die von dieser Regierung eingeschlagene Politik ist mit unsere Politik. Wir glauben, daß der Haushaltsplan des Jahres 1964 in seiner Anlage und in seinen Schwerpunkten unseren politischen Wünschen entsprechend richtig aufgestellt ist. Wir werden ihn unter Berücksichtigung der von mir dargestellten Korrekturen in den einzelnen Bereichen in der 2. und 3. Beratung verteidigen und damit ein Ja zur Arbeit des Kabinetts sagen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Strauß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Barzel hat in seinen einleitenden und grundsätzlichen Bemerkungen eine Forderung aufgestellt oder einen Zustand wiederhergestellt: daß nämlich die erste und die dritte Lesung eines Haushalts in erster Linie der Behandlung politischer Probleme im Zusammenhang mit dem Haushalt dienen sollen. Ich möchte damit. nicht sagen, daß Kollege Möller keine politischen Probleme behandelt hat, wohl aber sagen, daß die Art der Behandlung politischer Probleme diesmal beinahe wie Zustimmung zur Regierungspolitik geklungen hat.Haushalt ist nicht nur Lenkung von Einnahme- und Ausgabeströmen auf Grund der Einnahmeerwar-
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4872 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Straußtungen und der Ausgabeschätzungen, sondern Haushalt ist — ich glaube, das darf man in aller Deutlichkeit und Klarheit feststellen — Abbild und Spiegelbild einer Politik.
Ich darf für diesen Haushalt sagen: Spiegelbild einer kontinuierlichen,
stabilen und guten Politik,
und zwar einer Politik, deren Umrisse gerade in diesem Haushaltsplan 1964 sichtbar werden, wenn auch selbstverständlich nicht in allen Einzelheiten. Die Haushaltsdebatte ist immer eine politische Aussprache über alle Themen, nicht nur über Finanz- und Budgetprobleme. Das gilt auch für die Außen- und für die Sicherheitspolitik. Das, gilt für die weiten Bereiche dessen, was man Innenpolitik nennt und was man in voller Schärfe kaum von dem Bereich der Außenpolitik trennen kann, weil beide Bereiche tief ineinandergreifen.Hier handelt es sich um den ersten Haushalt der neuen Regierung, deren Charakteristikum ein neuer Kanzler, aber nicht eine neue Politik ist. Wir brauchen auch keine neue Politik, sondern wir brauchen zeitgemäße Ideen zur Erfüllung und Fortsetzung der alten Politik.
Diese Politik ist im Jahre 1948 begründet worden. An ihrer Formung hat der neue Kanzler einen alten Anteil, ein gerüttelt Maß an Verdienst und Verantwortung.Wenn man an frühere Haushaltsdebatten denkt — zurückgreifend bis auf den Wirtschaftsrat in Frankfurt — und an die ersten Jahre in diesem Hause, dann muß man an die schweren Auseinandersetzungen denken, die es gerade über den Teil der deutschen Politik gegeben hat, für den der neue Kanzler, damals Wirtschaftsminister, im besonderen verantwortlich war: die sogenannte Marktwirtschaft. Es hat keinen Sinn, und wir haben auch keine Zeit, auf diese erbitterte Diskussion nochmals einzugehen. Aber eine Feststellung ist angebracht und gerechtfertigt: Wir hätten nicht den gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Stand erreicht, wenn wir nicht diese mit dem Namen Erhard verbundene Politik durchgesetzt, diese Auseinandersetzung bestanden und dieser Gesamtpolitik zum Erfolg verholfen hätten.
Man mag, Herr Kollege Möller, im einzelnen an den Einnahme- und Ausgabepositionen und an der Gesamtheit dieses Haushalts aussetzen, was immer man zu Recht oder weniger zu Recht kann oder will, aber wir hätten heute nicht über einen Haushalt von 60,3 Milliarden DM in Einnahmen und Ausgaben zu diskutieren, wenn sich damals Erhard bei dieser großen, unser Volk bewegenden Auseinandersetzung nicht durchgesetzt hätte.
— Ich glaube, daß das deutsche Volk bei einer Reihe von Gelegenheiten in freier Entscheidung dieser Politik trotz ihrer manchmaligen Härten seine überwältigende Zustimmung gegeben hat.
14 Haushalte dieser Politik sind von Bundeskanzler Adenauer vorgelegt worden. Vor uns liegt der 15. Haushalt, der Haushalt des Jahres 1964. Wenn Sie, Herr Kollege Möller, an das deutsche Volk erinnern, so habe ich darauf eine Antwort gegeben.
— Entschuldigen Sie, daß ich auch darauf eingehe. Darf ich auch einen Kollegen von Ihnen zitieren, Professor Dr. Karl Schiller, der am 3. Oktober 1963 in Essen — ich propagiere hier eine Rede, die auf Ihrem Wirtschaftskongreß gehalten wurde — gesagt hat, es sei die wichtigste Aufgabe einer wachstumsbewußten Wirtschaftspolitik — ich zitiere jetzt wörtlich —:die treibenden Kräfte des marktwirtschaftlichen Leistungswettbewerbs, der unternehmerischen Investitionstätigkeit und des technischen Fortschritts in ihrer Eigendynamik zu fördern und die Maßnahmen der staatlichen Wettbewerbspolitik, der Finanz-, Geld- und Kreditpolitik auf das Ziel zu richten, ein optimales Wachstum zu erreichen.
Wenn ich diese Ausführungen in Vergleich — und ich darf wohl auch sagen: in Kontrast — setze zu dem, was über die Wirtschaftspolitik Erhards in den Jahren gesagt worden ist, als man die Streichung seines Gehalts als Minister verlangt hat, dann ist meine Feststellung berechtigt, daß der Kollege Alex Möller sich heute zwar nicht als verlängerter Arm der Regierung, aber immerhin weitgehend als zustimmende Opposition geäußert hat.
Wenn wir von Kontinuität und Stabilität unserer Politik reden und nicht von neuer Politik, dann nicht deshalb, weil der Blick nach rückwärts gerichtet ist, sondern weil Kontinuität und Stabilität, das Festhalten an Grundlagen, essentiellen Elementen und Zielen dieser Politik die Voraussetzungen für den Fortschritt in die Zukunft sind. Nicht ganz zu Unrecht nennt man Unbeständigkeit als einen angeblich geschichtlich erwiesenen Charakterzug der Deutschen und leitet daraus Sorge und Hoffnungen, Furcht oder Erwartungen ab, Sorge und Furcht bei den einen, die Deutschen könnten wieder einmal eine andere politische Entwicklung im Innern und nach außen nehmen, Hoffnung und Erwartung bei
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4873
Dr. h. c. Straußanderen, die Deutschen würden, wenn lange genug mit dem scheinbar Unabänderlichen konfrontiert, zu einer Änderung ihrer Haltung bereit sein, ich meine damit: die Zwei- oder Dreistaatentheorie, sei es auch nur in Raten, anzunehmen, einer Sinnesänderung, die manche als geschichtlichen Realismus empfehlen, manche Befürworter nicht nur jenseits, sondern auch diesseits der unseligen Demarkationslinie, einen Realismus allerdings, der in seiner Pseudoqualität einen Verrat an unseren Rechten und eine geschichtliche Untreue gegenüber unserer Nation darstellen würde. In immer neuer Verkleidung naht sich der Versucher, und in variabler Phraseologie werden seine glatten und scheinbar einleuchtenden Argumente angeboten. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch nicht scheuen, zu sagen, daß wir die Einheit von Phraseologie und pragmatischem Handeln, die Einheit von Wort und Tat beibehalten sollen und daß nicht durch Deklamation der alten Ziele, aber millimeterweises Abweichen eine Diskrepanz entstehen darf, an deren Ende die Aufgabe von Positionen stehen würde, die wir nie aufgeben dürfen, ohne uns selbst zu verraten.
All das — wenn ich die 14 Haushalte der alten Regierung und den ersten der neuen zitiere — findet statt in einer Welt, die sich in einer großen Wandlung befindet — ich darf nur die Stichworte erwähnen: die wissenschaftlich-technische Revolution, die industriell-wirtschaftliche Entfaltung und die politische Entwicklung; sie setzen einander voraus und beeinflussen sich gegenseitig —, in einer Welt, in der wachsende materielle Mittel und neue geistige Kräfte das Antlitz der Erde zu verändern oder zu erneuern sich. anschicken. Die Bundesrepublik Deutschland muß in diesem Koordinatensystem, in dem es nicht nur Ordinate und Abszisse gibt, sondern in dem es eine Reihe von Bezugsgrößen gibt, ihre Position suchen. Diese Bezugsgrößen sind einmal das Verhältnis — um das mildeste Wort zu gebrauchen — Ost-West; das zweite ist die Lebensnotwendigkeit der Einheit oder Einigung Europas; das dritte ist das Verhältnis oder die Partnerschaft Europa—Amerika; das vierte ist — und dafür ist gerade dieser Haushalt ein lebendiges Zeugnis — der soziologische Umwandlungsprozeß, der sich seit Jahren im Namen der sozialen Marktwirtschaft vollzieht. Ich glaube es schon einmal von dieser Stelle aus gesagt zu haben, aber ich darf es wiederholen: Der Gründungsauftrag des demokratischen Sozialismus in einer Welt des ausbeuterischen Kapitalismus war absolut legitim, genauso legitim wie der Gründungsauftrag der christlich-sozialen Idee, wenn auch Voraussetzungen und Ziele verschieden gewesen sein mögen. Es gab einen ausbeuterischen Kapitalismus, es gab den Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, es gab diese himmelschreienden sozialen Zustände der Ungerechtigkeit in der sogenannten Pionierzeit ohne jeden Zweifel. Was man sich aber damals auf seiten des demokratischen Sozialismus zum Ziel gesetzt hat, das ist weitgehend in mühsamer Arbeit unter dem Vorzeichen einer vernünftigen Politik im Zeitalter der Marktwirtschaft erreicht worden.
Herr Kollege Möller, es ist nicht der leiseste Zweifel — und ich wäre der letzte, der das bestreiten wollte —, daß diese Leistung dem deutschen Volke in allen seinen Schichten und Ständen zuzuschreiben ist.
Aber Sie werden mir, ich nehme an, einen notwendigen Zusatz nicht verargen, nämlich den Zusatz, daß Fleiß, Leistung, Können und Lebensmut eines Volkes nur dann einen Sinn haben, wenn vor ihnen das Vorzeichen einer vernünftigen, verantwortungsbewußten Politik steht.
Der fünfte Faktor ist die wissenschaftlichtechnisch-industrielle, man kann wohl sagen: Revolution, in der wir stehen; der sechste ist die Emanzipation der farbigen Völker; der siebte ist der rapide, wenn auch regional unterschiedliche Bevölkerungszuwachs mit seinen unübersehbaren Problemen. Denken wir daran, daß die Weltbevölkerung im Jahre 2000 6 Milliarden Menschen und im Jahre 2050 voraussichtlich 20 Milliarden Menschen umfassen wird, wenn nicht eine Katastrophe diese Entwicklung verhindert, was Gott verhüten möge. Achtens nenne ich die unbestreitbare Veränderung der Dimensionen, daß wir von einer europäischen Großmacht, die Weltmacht werden wollte, aber nie Weltmacht hätte werden können oder werden sollen, zu einer Größe relativ mittlerer Ordnung geworden sind, die nur im Zusammenhang Europa—Amerika ihr legitimes Lebensinteresse durchsetzen kann.Über allen Diskussionen, auch über den Haushaltsplänen der Vergangenheit und über diesem Haushaltsplan steht das große Zauberwort der Gegenwart: Sicherheit, Sicherheit im staatlichen Bereich nach innen und außen, Sicherheit im persönlichen Bereich, Sicherheit in militärischer Hinsicht, Sicherheit in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. In diesen Tagen ist ein Buch in deutscher Sprache erschienen, das mit Recht Anlaß zum Nachdenken gibt. Es ist die deutsche Übersetzung des Buches von Professor Galbraith „The great crash" — „Der große Krach". Das Buch stellt die Vorgeschichte und den Ablauf der Katastrophe des Jahres 1929 dar; es setzt die Katastrophe des Jahres 1929 in eine Relation zu großen geschichtlichen Erschütterungen. In der Einleitung dieses Buches wird ein Zitat von Präsident Coolidge gebracht, das vom 4. Dezember 1928 stammt, also kurz vor Beginn dieses unglückseligen Jahres, dessen Auswirkungen auch bei uns in die Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Radikalismus, politische Verzweiflung und andere schlimme Konsequenzen hineingetrieben haben. An diesem 4. Dezember 1928 hat Präsident Coolidge in seiner letzten Message über die allgemeine Lage der USA an den Kongreß folgendes gesagt; selbst der skeptischste Abgeordnete mußte bei seinen Worten Vertrauen schöpfen.Er sagte:Kein Kongreß der Vereinigten Staaten je zuvor, der die allgemeine Situation der Staaten überblickte, ist mit erfreulicheren Zukunftsaussichten zusammengetreten als den derzeitigen. Im in-
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4874 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Straußnenpolitischen Bereich herrscht Ruhe und Zufriedenheit; es wurde ein Höchststand des Reichtums in einer Folge von prosperierenden Jahren erzielt. Im außenpolitischen Bereich herrscht Friede und Vertrauen zueinander, was von stillschweigendem Verständnis herrührt.Er sagte den Gesetzgebern, daß sie und das Land die Gegenwart mit Zufriedenheit betrachten und der Zukunft mit Optimismus entgegensehen können.Er brach scharf mit der ältesten unserer politischen Spielregel,— so schreibt Galbraith —er unterließ es, dieses Wohlergehen der ausgezeichneten Verwaltung zuzuschreiben, der er vorstand. Er sagte weiter, die Hauptquelle dieses beispiellosen Segens liege in der Integrität und im Charakter des amerikanischen Volkes.Auch wenn man der Meinung sein kann, daß die Weltwirtschaftskrise aus einer Reihe von Gründen ausgebrochen ist, muß einem die Lektüre gerade dieser Zeilen angesichts der Zeitungsüberschriften von heute und der Erfolgs- und Leistungsberichte doch irgendwie beklemmend anmuten und zu der Frage führen, ob so etwas heute wieder möglich ist. Es ist nicht leicht, hierauf in einem Satz eine Antwort zu geben. Ich möchte versuchen, es auf einen im großen und ganzen richtigen Nenner zu bringen, und sagen: so etwas ist nicht wieder möglich, wenn wir den Grundsätzen und Zielen der Politik treu bleiben, die aus dem Trümmerhaufen der damaligen drei westlichen Besatzungszonen den blühenden Wirtschafts- und Sozialorganismus der Bundesrepublik von 1963 geschaffen hat.
Heute liegen die Dinge ohne Zweifel anders. Der Einfluß der öffentlichen Hand ist größer. Die Finanzpolitik ist heute viel mehr ein wirtschaftspolitisches Instrument als die Wirtschaftspolitik im engeren Sinne des Wortes. Der starke Einfluß der öffentlichen Finanzen auf die gesamte Wirtschaftslage beeinflußt wesentlich die Konjunktur, Beschäftigung und Nachfrage.Zu dem Haushalt 1964 möchte ich sagen, daß über ihm drei große Gesichtspunkte stehen: einmal der Gesichtspunkt der freiheitlichen Zielsetzung unseres Staates, der Gerechtigkeitszielsetzung unseres Staates und der Wohlstandszielsetzung unseres Staates. Mehr kann man nach dem, was hinter uns liegt, von einem Haushalt nicht verlangen.
Auch dieser Haushalt bietet — darin hat Kollege Möller natürlich recht — keine perfekten Lösungen und keine ideale Vollkommenheit. Aber wo gibt es, sie im irdischen Bereich und wo gibt es sie bei der Unzulänglichkeit dessen, was mit dem Begriff Mensch nun einmal verbunden ist!Es ist schon gestern im Pressedienst der SPD und heute in den Ausführungen des Kollegen Alex Möller eine Polemik bei der Erörterung der Frage durchgeklungen, ob in der Rede des Bundesfinanzministers und ob im Finanzplan der Bundesregierung dieZuwachsrate realistisch eingesetzt oder ob hier eine stille Reserve, eine stille Ausweitungsmöglichkeit vorhanden sei. Nach den Jahren, die hinter uns liegen, kann man sagen, daß die Prognose des Bundesfinanzministeriums ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit hat. Nach der Entwicklung der allerletzten Monate — man muß die Frage offenlassen, wie lange sie anhält — kann man annehmen, daß ein größeres Wachstum möglich ist. Aber ich glaube, eine Regierung handelt solider und dient damit dem Gesetz der Kontinuität und Stabilität mehr, wenn sie eine vorsichtige Kalkulation anstellt, als wenn sie eine optimistische Kalkulation anstellt, die sich nachher als Illusion erweist.
Es ist auch nicht richtig, daß der Bundesfinanzminister, wie es gestern in einer Presseverlautbarung der SPD stand, bereits die eigenen Grundlagen seiner 'Kalkulation aufgegeben habe. Er hat nur in der Vollständigkeit der Berichterstattung darauf hingewiesen, daß die Arbeitsgemeinschaft der deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute e. V. Bonn, und zwar sechs ihrer Mitglieder, eine andere Prognose aufgestellt hat, die mit 5,5 % und 7,5 % Real- und Nominalzuwachs operiert.Aber der nominale und reale Zuwachs des Bruttosozialproduktes ist allein nicht entscheidend. Das Ganze sind ja Bezugsgrößen. Die entscheidende Frage ist, ob die Haushalte der öffentlichen Hand — dazu kommen Lastenausgleich, Sozialversicherungsträger usw. — überhaupt in einer vernünftigen und auf die Dauer erträglichen Relation zum gesamten Sozialprodukt stehen.
Es ist nicht nur die jeweilige Bezugsgröße, nachdem bereits 14 Haushalte vorliegen, sondern es ist die Frage nach der Relation insgesamt. Hier kann man feststellen, daß sich bestimmte Spielregeln eingespielt haben, die nicht deshalb richtig zu sein brauchen, weil sie schon eine ganze Reihe von Jahren eingehalten werden. Ich darf auf folgende Zahlen hinweisen und für einige Jahre einige Vergleichszahlen bieten. Im Jahre 1963 betrug der Zuwachs des Bruttosozialprodukts zum Marktpreis gegenüber dem Vorjahr 7,8 %, davon der Anteil der öffentlichen Hand — Bund, Länder und Gemeinden; Lastenausgleichsfonds, Sozialversicherungsträger usw. hier nicht berücksichtigt — 28,3 %. 1954 betrug der Zuwachs des Sozialprodukts 7,5 %, der Anteil der öffentlichen Haushalte am Sozialprodukt 28,7 %, mit einem Zuwachs von 9 %. Im folgenden bringe ich bloß noch die beiden Zuwachszahlen zueinander: Im Jahre 1955: Sozialprodukt 14,3 %, öffentliche Haushalte plus 7 %; 1956: plus 10,2%, plus 16,6 %; 1957: plus 8,9 %, plus 10,8 %; 1958: plus 7,0 %, plus 7,8 %; 1959: plus 8,4 %, plus 8,5 %; 1960: plus 12 %, plus 13 %; 1961: plus 10 %, plus 11 %; 1962: plus 8,8 %, plus 11,3 %; 1963: plus 6 %, plus 7,2 %. Aus dieser Reihenfolge kann man entnehmen, daß der Zuwachs des Haushalts in allen diesen Jahren, wenn auch mit gewissen Schwankungen, etwas größer gewesen ist als die Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts. Nachdem wir aber in diese wirtschaftliche Prosperität und konjunkturelle Entwicklung hineingekommen
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Dr. h. c. Straußsind, die wir vielleicht sogar gewünscht haben, soll der Grundsatz der Regierung, die Zuwachsrate des Haushalts mit der Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts in Einklang zu bringen, als eine Maßnahme der Normierung, der Stabilisierung und als eine Maßnahme der langfristigen Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen anerkannt und, gleichgültig wie man zu den einzelnen Positionen steht, begrüßt werden, weil manche Erscheinungen, die uns zur Zeit beunruhigen und von denen Sie, Kollege Möller, mit Recht gesprochen haben, nur dann gebändigt werden' können — mit politischem, moralischem und legalem Rechte —, wenn hier angesetzt wird.
Dazu gehört auch eine Frage, die in diesem Hause in der Vergangenheit, heute und in Zukunft Gegenstand der Diskussion war, ist und sein wird, nämlich die Frage der Steuersenkungen und Steuererhöhungen. Ich glaube, wir stimmen alle darin überein, daß eine Steuererhöhung, weder eine mittelbare noch eine unmittelbare, angesichts der gegebenen Verhältnisse und trotz der bestehenden Konjunktur in Betracht gezogen werden kann.
Ich glaube, daß es auch unser gutes Recht ist, unter diesem Gesichtspunkt die Mehrwertsteuer und die Änderung des Bewertungsgesetzes zu sehen. Ich mache kein Hehl aus meiner politischen Überzeugung, daß Mehrwertsteuer und Bewertungsgesetz auch unter gewissen gesellschaftspolitischen Aspekten nach ihren Auswirkungen gesehen werden müssen, nämlich im Hinblick darauf, daß nicht die ohnehin schon so stark geschmolzene Schicht der mittleren selbständigen Existenzen noch weiter durch solche scheinbar neutralen, aber in Wirklichkeit sich einseitig auswirkenden steuerlichen Maßnahmen vermindert werden darf.
Dem muß unsere Aufmerksamkeit gelten aus Gründen, die weit jenseits einer parteipolitischen Zielsetzung liegen.
Im Haushaltsjahr 1964 liegen die Dinge so, daß die Haushalte der öffentlichen Hand — Bundes- und Länderhaushalte — 100 Milliarden DM ausmachen, die Haushalte der übrigen Gebietskörperschaften 30 Milliarden DM, die Haushalte der öffentlichen Sozialversicherung ohne die Staatszuschüsse — mit Haushaltslastenausgleich — 45 Milliarden DM, zusammen 175 Milliarden DM, bei einem zu erwartenden Bruttosozialprodukt von 400 bis 405 Milliarden DM, d. h. daß bis zu 40% des Sozialproduktes durch die öffentliche Hand vereinnahmt und verausgabt werden. Hier besteht die Gefahr, daß bei weiterer Verschiebung der Relation zugunsten der öffentlichen Hand das System der Marktwirtschaft in einem doch irgendwie kollektivistisch sich auswirkenden Staatskapitalismus Schaden leiden muß.
Wir haben uns gegen die Sozialisierung — gleichgültig, von welcher Seite — gewandt. Das gilt auch für die „kalte Sozialisierung", die Löhne und Einkommen durch den ständig steigenden Anteil der öffentlichen Hand betrifft. Damit ist aber noch nichts über die Frage ausgesagt: wieviel kann der Staat ausgeben? Ich glaube, daß eine objektive, absolute Aussage mit arithmetischer Genauigkeit nicht gegeben werden kann. Ich glaube auch, daß das sonst so oft erwähnte magische Dreieck, nämlich Vollbeschäftigung, Preisstabilität und ausgeglichene Zahlungsbilanz, an sich noch nicht alles aussagt; denn Vollbeschäftigung, Preisstabilität und ausgeglichene Zahlungsbilanz können auch bei nicht voll befriedigenden Lebensverhältnissen erreicht werden.Zu diesem „magischen Dreieck" würde ich die kulturelle Existenz der Gesamtheit unseres Volkes als eines der vier Ziele, die hier im Auge behalten werden müssen, hinzurechnen.
Hier sind natürlich den Ausgaben des Staates bestimmte Grenzen gesetzt. Man kann die Ausgaben nicht beliebig steigern; aber, Kollege Möller, ich sage das gerade im Zusammenhang mit Ihren letzten für mich sehr interessanten Ausführungen: man kann auch die Aufgaben nicht beliebig vermindern. Das ist eine Frage der Schwerpunkte und eine Frage der Prioritäten.In diesem Zusammenhang möchte ich ein Problem anschneiden, dessen Behandlung einem im allgemeinen nicht nur Mißverständnisse, sondern vielleicht noch Ungünstigeres einbringt, nämlich die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Wenn man davon ausgeht, daß der Staat nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt — jedenfalls über einen längeren Zeitraum hinweg, wenn auch gewisse Verschiebungen innerhalb dieses Zeitraums möglich sind —, wenn man davon ausgeht, daß gerade angesichts dieser Situation bestimmte Aufgaben weder gestrichen noch in ihrem Umfang wesentlich vermindert noch auf die lange Bank geschoben werden können, wenn man weiter davon ausgeht, daß bei den bestehenden Steuersätzen und der bestehenden Steuerverteilung jedenfalls Klarheit darüber besteht, daß Steuererhöhungen nicht möglich sind — inwieweit innere Umstellungen möglich sind, ist eine andere Frage; aber allzuviel Hoffnung kann man hier nicht haben —, wenn man von diesen Daten ausgeht, kann man sehr wohl zu der Schlußfolgerung kommen — auch angesichts dieses Haushalts, der Bindungen schon für den Haushalt 1965 und der Vorbelastungen für die Zukunft —, daß die Einnahmen nicht ausreichen, um die auch mit Bescheidenheit ausgedrückt notwendigen Ausgaben zu decken. Dabei gehe ich davon aus, daß „notwendig" nicht durch den Ehrgeiz einer Regierung oder einer politischen Gruppierung bestimmt werden soll, sondern daß es dafür einen halbwegs objektiven Maßstab geben kann. Wenn aber die Einnahmen nicht ausreichen, wenn eine Einnahmeerhöhung durch Steuererhöhung nicht möglich ist und wenn die Ausgaben nicht beliebig zu manipulieren sind — sei es aus diesem oder jenem Grund —, dann muß die Frage,
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4876 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Straußwieweit wir uns noch eine Verminderung des Zuwachses des Sozialprodukts durch Verkürzung der Arbeitszeit leisten können, ich darf sagen, parteipolitisch neutral, im Interesse unseres Gesamtvolkes einmal ernsthaft geprüft werden.
Ich habe vor einigen Tagen die Stellungnahme der IG Metall zu der Verkürzung der Arbeitszeit gelesen, die ja in dem Tarifvertrag ausgehandelt worden ist und deren Einforderung das gute Recht der Industriegewerkschaft Metall war. Wenn es aber dort heißt, daß sich die Verkürzung der Arbeitszeit nicht auf .die Produktion auswirke, dann kann doch niemand in diesem Hause hier, das verantwortlich über diese Probleme zu sprechen hat, sich einem solchen Standpunkt anschließen, gleichgültig, bei welcher Partei er ist. Wenn die Arbeitszeit um eine weitere gute Stunde verkürzt, auf 41 1/4 Stunden begrenzt Wird, wenn .damit die Maschinenauslastung und die Auslastung der Betriebsmittel vermindert wird und wenn damit einfach zwangsläufig — nicht nur von den Löhnen her — höhere Kosten entstehen und wenn das Ausweichen in teuere Investitionen entweder bestimmte Zeit dauert oder höhere Kosten verursacht, dann sind doch hier Ansätze, die man auch im Zusammenhang 'mit dem Haushalt und nicht nur im Zusammenhang mit der Sozialpolitik und der Frage der individuellen Lebenshaltung behandeln muß. Denn hier geht das alles Hand in Hand.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Trifft es nicht zu, Herr Dr. Strauß, daß die Verminderung der Produktion infolge Verkürzung der Arbeitszeit überkompensiert wurde durch ein entsprechendes Ansteigen der Produktivität?
Ich glaube, daß man diese allgemeine Feststellung nicht treffen kann. Eine Erhöhung der Produktivität tritt ein durch eine Verbesserung der Organisation in der Wirtschaft, durch eine Verbesserung des betriebstechnischen Apparates. Das erfordert gewisse Kosten. Aber hier sind auch gewisse Grenzen gesetzt, und ich glaube nicht, daß man diese scheinbare Erfahrungsregel — Gesetz darf man so etwas gar nicht nennen — ad infinitum fortsetzen kann.
Ich frage hier nach nichts anderem als: Wo liegt die Grenze, jenseits derer der Schaden beginnt oder schon begonnen hat?
Ich wende mich hier auch dagegen, daß die Bewertung, ob sich jemand zum sozialen Fortschrittbekennt oder ob jemand eine soziale Einstellunghat, zusammenhanglos einfach mit der Bewertung der Einstellung zur Verkürzung der Arbeitszeit oder zur Erhöhung der Löhne direkt oder indirekt in einen Topf geworfen wird.
— Herr Kollege Wehner, wenn jemand möglicherweise ein marktwirtschaftliches Privatissimum braucht, — bei Ihnen halte ich das fürmöglich!
Aber nach Ihrem Gespräch über die Notwendigkeit, sich mit den Kapitalisten zu unterhalten — ich habe da einen Artikel vorläufig noch in Erinnerung —, glaube ich, daß Sie schon erhebliche Fortschritte erzielt haben.
Ich aber gehöre zu denen, die in dem wirtschaftlichen Vorparlament dieses Hauses in einer scharfen parlamentarischen Auseinandersetzung und in schwersten Kämpfen in der Öffentlichkeit zusammen mit dem heutigen Bundeskanzler die soziale Marktwirtschaft durchgesetzt haben.
— Wem welches Denkmal sicher, das wollen wir getrost der Zukunft überlassen.
— Herr Kollege Wehner, das ist Ihre erste grundfalsche Bemerkung. Bei allen anderen war noch ein gewisses Maß
an Richtigkeit da. Die Frage ist nicht, wer Denkmale kriegt; die Frage ist, wer sie setzt und was darauf steht, Herr Kollege Wehner.
Im Zusammenhang mit der Frage der Arbeitszeitverkürzung ist noch ein Problem unabweisbar: welche menschlichen Reserven, welche Arbeitskraftreserven sind in unserem Volke noch vorhanden? Ich spreche hier auch etwas aus, was vielleicht nicht gerade sehr leicht zu klären oder leicht auszusprechen ist: man soll nicht darauf spekulieren, daß durch wesentliche Umstellungen der Agrarpolitik noch Hunderttausende von Arbeitskräften freiwerden, was gleichbedeutend wäre mit der Zerstörung bäuerlicher Existenzen.
Der Zuwachs, den wir in der Vergangenheit als unvermeidbare Folge des deutschen Schicksals in Gestalt der unglückseligen Menschen hatten, die aus der Sowjetzone nicht so sehr aus materiellen, sondern aus ideellen Gründen geflüchtet sind, ist ja auf ein Minimum begrenzt. Der Zuwachs an Gastarbeitern hat sich allmählich erschöpft, hat die Grenze erreicht; vielleicht ist sogar in wenigen Jahren mit'
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Dr. h. c. Straußeiner rückläufigen Tendenz zu rechnen. Der Zuwachs aus dem natürlichen Volkswachstum ist außerordentlich gering, weil jetzt — kriegs- und nachkriegsbedingt — die schwachen Jahrgänge kommen. Darum ist gerade für die wirtschaftliche Expansion und damit auch für die zukünftige Gestaltung unserer Haushalte die Frage der Arbeitszeit und der Arbeitszeitgestaltung nicht allein Angelegenheit der Tarifpartner und ihrer Kompromisse, sondern eine Frage, die auch Angelegenheit dieses Parlaments und der Regierung sowieso ist.
Natürlich kann man durch Rationalisierung oder Automatisierung manches ausgleichen. Die Frage allerdings, wo hier die Grenze liegt, jenseits der doch die Gefahr einer Arbeitslosigkeit besteht, ist noch nicht eindeutig geklärt. Interessant Ist jedenfalls, daß man in den USA Arbeitszeitverkürzungen von den Gewerkschaften deshalb begrüßt, weil sie ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit durch Verminderung der Arbeitszeit seien. Bei der Freisetzung von jährlich, man sagt: bis zu einer halben Million Arbeitskräften durch Automatisierung ist das drüben ein ernsthaftes Problem, bei uns nicht.Ich lege nur Wert auf die Feststellung, daß die Frage der Arbeitszeit —
— Darauf erlassen Sie mir bitte die Antwort. — Ich wollte jedenfalls darauf hingewiesen haben, daß die Landwirtschaft kein Reservoir mit größerem Umfang mehr darstellt, aus dem Zuwachs für die Industrie gewonnen werden kann.
Ich möchte mich hier auch gegen eine gewisse Schwarz-weiß-Malerei wenden, weil mit dieser Schwarz-weiß-Malerei — ich hoffe, nicht bewußt, aber doch oft leichtfertig — Unzufriedenheit erweckt wird. Wenn ich über dieses Problem spreche, dann wird es mir Kollege Möller nicht übelnehmen, wenn ich ihn zitiere — ich glaube es nicht falsch zu tun —; allerdings ist das schon im Oktober 1962 gewesen, als Kollege M ö 11 e r laut einer Meldung der „Welt" erklärt hat:„Keinen Weg zu neuen tariflichen Arbeitszeitverkürzungen" sieht der sozialdemokratische Finanzexperte Alex Möller. Vor dem Wirtschaftbeirat der bayrischen SPD warnte er eindringlich davor, die „entscheidendste Frage" für die künftige wirtschaftliche Weiterentwicklung, den Engpaß an Arbeitskräften, zu verkennen. Wichtig ,sei vor allem, wie man den Produktionsprozeß in Gang halten könne. „Man kann nur soviel an Sozialprodukt verbrauchen, wie man erarbeitet", . . .Ich glaube, daß jedermann diesen Grundsätzen zustimmen muß, und ich darf sie in Ergänzung Ihrer Rede nachträglich auch hier bringen, weil wir sie ganz gern auch heute von Ihnen gehört hätten.
Wenn ich davon spreche, daß man nicht durch Schwarz-weiß-Malerei oder durch Verallgemeinerungen Unzufriedenheit erwecken soll, indem man vielleicht auch Unkenntnis über die bestehenden Verhältnisse verbreitet, dann meine ich damit z. B. eine Äußerung, die aus einem Interview des Herrn Bernhard Tacke hervorgeht; der gehört ja, soviel ich weiß, meiner Partei an oder steht ihr näher. Er sagte:Das Realeinkommen der Arbeitnehmer ist im vorigen Jahr nicht mehr gestiegen.Es ist ,ein Interview, in dessen Essenz es heißt: „Die Politik der Mäßigung hat sich nicht gelohnt." ich glaube, daß dieses Zitat gerade im Zusammenhang mit den Äußerungen und Appellen, die vom Bundeskanzler kommen, hier aufgegriffen werden muß.Ich glaube, daß sich die Mäßigung, die in dem letzten Jahre zu verzeichnen war, für alle sehr wohl gelohnt hat, weil sonst die Ansätze von Mißständen sich zu echten Mißständen nicht nur hätten verstärken können, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit noch verstärkt hätten. Wir können natürlich wünschen, daß diese Ansätze zur Mäßigung auch im Haushaltsjahr 1964 und in den folgenden Jahren anhalten werden, weil wir durchaus noch Grund haben, bestimmte Sorgen nicht zu vergessen, die heute auch in den Ausführungen des Kollegen Möller angeklungen sind.Ich habe gesagt: man soll auch hier nicht in Schwarz-Weiß malen; denn in der „Welt der Arbeit" vom 3. Januar lese ich:Wirtschaftsbarometer zeigt schönes Wetter an. Über eine halbe Million Arbeitsplätze im Bundesgebiet nicht besetzt. Arbeitsleistung, Produktion, Gewinne und Löhne werden weiter steigen. In 15 Jahren könnte sich unser Lebensstandard verdoppeln.Ich glaube, daß diese Prognose, wenn sie auch etwas kühn klingt, bei Einhaltung der Mäßigung, von der gesprochen worden ist, eher erreicht werden wird als bei einer gegenteiligen Verhaltensweise.
In diesem Sinne ist wohl auch die Neujahrsansprache des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Herrn Rosenberg, zu verstehen und zu begrüßen, weil er sich offensichtlich bemüht, einen Weg der Mitte einzuhalten und auf Mäßigung einzuwirken. Wenn die Löhne und Gehälter im Jahre 1963 um 6 % zugenommen haben, während sie 1962 um 9% und 1961 um 10,6% gestiegen sind, wenn gleichzeitig die Arbeitszeit im Jahre 1963 um 1,5 % im Durchschnitt vermindert worden ist und wenn die Minderung der Kaufkraft bei 3% liegt, dann kann man doch ohne Übertreibung behaupten, daß die Arbeitnehmer an dem Ertrag dieses Jahres beteiligt waren und daß sich ihre Lebensverhältnisse im Durchschnitt gebessert haben. Daß das nicht mehr in stürmischen Sprüngen von früher möglich ist, liegt auf der Hand aus Gründen, die hier im einzelnen nicht mehr zu erwähnen sind.Weil aber das Stichwort von der Kaufkraftentwertung ohne Zweifel ein akutes Stichwort ist, das nicht
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4878 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Straußnur politische Auseinandersetzungen erfüllt, darf ich noch einmal auf eine Rede zurückgreifen, die anläßlich des vorhin erwähnten Wirtschaftskongresses der SPD in Essen von Dr. Heinrich Troeger, dem Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank, gehalten worden ist. Herr Dr. Troeger ist ja aus der politischen Kampfebene, in der er als Fachminister tätig war, auf die höchste Bankebene aufgestiegen, wo er als Experte tätig ist. Seine Rede verdiente es, in ihren wesentlichen Auszügen sogar hier in die Bundestagsprotokolle einzugehen.
— Alle Reden aus Essen. Erlauben Sie mir aber, weil ich es zur Stützung meines Standpunktes und zur Widerlegung Ihrer sehr milden Kritik, Herr Möller, tun muß, einige Sätze daraus zu zitieren. Herr Troeger sagt:Der allgemein übliche Gradmesser dafür ist der vom Statistischen Bundesamt von Monat zu Monat errechnete Index für die Lebenshaltungskosten, der im Jahre 1958 auf eine neuere und breitere Grundlage gestellt wurde . . .Er bringt dann die Zahlen, die üblicherweise genannt werden: Der Bedarf einer vierköpfigen Familie mit einem Verdiener — Index für die Lebenshaltungskosten — habe sich von 1950 bis 1962 um 27,9 % und von 1958 bis 1962 um 8,7 % erhöht. Er fährt dann fort:Hieraus wird im allgemeinen — und das ist nach meiner Überzeugung ein grober, wenn auch durchaus gebräuchlicher Fehler — auf eine entsprechende Entwertung der Deutschen _Mark, d. h. ihrer inneren Kaufkraft geschlossen.So glaube ich,, daß. wir das Phänomen eines Unterschiedes zwischen Preiserhöhung und Entwertung der Kaufkraft sehen müssen, weil es sich hier ohne Zweifel um bewußte — Sie haben es heute schon erwähnt — politische Vorgänge handelt, die auch einen gesellschaftspolitischen Hintergrund haben.Nehmen wir z. B. den Anteil der Mietsteigerung an dem Wachstum des Index heraus,— sagt Troeger —dann ist festzustellen, daß die Mieten allgemein seit 1950 um 47,3 % gestiegen sind, was 16 % der Indexsteigerung ausmacht.Ich meine jedoch, daß das nicht auf eine geringere Kaufkraft der Währung hindeutet, sondern die vom Staate, bewußt herbeigeführte und angeordnete Verlagerung von Kaufkraft von den Mietern auf die Vermieter ist.
Der Grund dafür ist bekannt: Die Mieterhöhung dient ... dem Abbau der Miet- und Wohnungsbewirtschaftung.Ich glaube, daß einmal, wenn auch in vorsichtiger Annäherung, der Zeitpunkt erreicht werden muß, wo auch hier die Gesetze der Marktwirtschaft insozial verantwortbaren Grenzen zum Tragen kommen können, und zwar im Interesse aller.
Hier gibt es nicht eine Mieterpartei oder eine Vermieterpartei! Ich glaube nicht, daß man die CDU/ CSU als Vermieterpartei und die SPD als Mieterpartei bezeichnen kann, sondern ich glaube, daß hier eine gesunde Mischung fifty-fifty besteht, um in der gebräuchlichen Ausdrucksweise, die auch Sie heute verwendet haben, zu bleiben.Herr Troeger sagt weiter:Auf dem Gebiete der Ernährungskosten gilt ähnliches. Wenn der Milchpreis ab 1. Oktober 1963 durch staatliche Maßnahmen von 44 Pfennig auf 50 Pfennig pro Liter loser Trinkmilch erhöht worden ist, dann bedeutet dies zweifellos eine Verteuerung der Lebenshaltung für die Milchkonsumenten. Sie tritt jedoch nicht deswegen ein, weil die innere Kaufkraft der Mark in entsprechendem Maße gesunken ist oder eine entsprechende Steigerung der Nachfrage vorliegt, sondern deswegen, weil der Staat die Preiserhöhung dekretiert, um Kaufkraft, das heißt Einkommen, von den Konsumenten zu den Landwirten zu verlagern.Da es bei allen politischen Richtungen — ich sage es nicht aus Gründen des Wählergewinns, sondern aus politischer Überzeugung — üblich ist, von der Existenzerhaltung unseres Bauernstandes zu sprechen — ich sage dasselbe von der Erhaltung des Althausbesitzes, um den es in der Hauptsache geht —, sollte man sich nicht scheuen, offen darüber zu sprechen und sich dazu zu bekennen: Wenn eine Existenzsicherung durch solche Maßnahmen auf lange Sicht notwendig ist, muß anderswo ein Konsumverzicht zugemutet werden; sonst geht es nicht.
Man kann doch nicht einfach den Eindruck erwekken, als ob man der einen Schicht notwendige Vorteile geben kann, ohne damit einer anderen in der Zwischenzeit kaufkräftig und wirtschaftlich stärker gewordenen Schicht gewisse Lasten und Opfer zuzumuten, wodurch gewisse Verzerrungen beseitigt werden sollen.Herr Troeger sagt noch ein Drittes, und das ist das Allerinteressanteste. Ich möchte hören, ob Sie auch da sagen: „Hört! Hört!"
— Ich bin sicher, Ihre Parteifinanzen sind ausreichend, so daß Sie das tun können. Ich bin nicht befugt, das zu tun. Ich hätte aber nichts dagegen, wenn sich der Präsident dazu entschließen würde.Herr Troeger also sagt:Ich möchte noch eine dritte Art von Preiserhöhungen im Rahmen des Lebenshaltungskostenindex erwähnen, die von Jahr zu Jahr steigende Bedeutung gewinnt; sie liegt noch innerhalb
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4879
Dr. h. c. Straußdes eigentlichen Marktgeschehens, ist aber nicht nur unter ökonomischen, sondern mindestens ebenso unter soziologischen Gesichtspunkten zu betrachten. Ich meine die Dienstleistungen aller Art. Denken Sie z. B. an die Kosten für Körperpflege, für Unterricht und Bildung, für Verkehrsmittel, im Handel und im Bankwesen und an ähnliches. Hier zeigen die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes, die erst seit 1958 angestellt wurden, daß die Kosten für Dienstleistungen bis Mitte 1963, also innerhalb von 41/2 Jahren, um 22 % gestiegen sind, während sich der Index der Lebenshaltungskosten in diesem Zeitraum nur um 11 %. erhöhte. Nach Berechnungen bei der Bundesbank verteuerte sich die Wertschöpfung im sogenannten tertiären Sektor — das sind der Handel, der Verkehr, die Banken, die Versicherungen, die Wohnungsmieten, die staatlichen und sonstigen Dienstleistungen — in der Zeit von 1950 bis 1962 um 65 %. Dabei handelt es sich meist nur zu einem geringen Teil um Kosten für den Materialaufwand, in der Hauptsache um die Entschädigung für die menschliche Arbeit.Wenn man hier einer breiten Schicht unseres Volkes eine Hebung seiner Lebensverhältnisse, eine Stärkung seiner Kaufkraft zumutet, dann muß man dem A auch noch das B hinzufügen und die andere Seite der Medaille in Kauf nehmen, daß damit nämlich anderen höhere Preise zugemutet werden. Es wäre wohl niemand unter Ihnen, der sich gegen die Verbesserung der Lebensverhältnisse 'der hier angesprochenen Schichten wenden würde. Wenn man aber dazu ja sagt, dann muß man auch dazu ja sagen, daß damit nicht eine Kaufkraftentwertung, aber in gewissen Bereichen höhere Preise zwangsläufig verbunden sind.
Es gäbe höchstens einen einzigen Ausweg: den Ausgleich über staatliche Hilfsmaßnahmen zu schaffen. Das würde aber nur eine Verlagerung, eine indirekte Hilfeleistung bedeuten, die direkt dann doch wieder je nach Steuerprogression vom Steuerzahler getragen werden müßte.Das Interessanteste ist für mich die Schlußfolgerung des Herrn Troeger. Er sagt:Dieser Vorgang verdient nach meiner Meinung höchste Beachtung. Er ist kennzeichnend für die Entwicklung in unserer Zeit. Nachdem die gröbsten Schäden •des zweiten Weltkrieges überwunden waren— daher auch die prozentual hohen Soziallasten der Jahre 1950 und folgende, von denen Sie heute gesprochen haben — ,ist eine gesellschaftliche Integration in den demokratischen Industriestaaten Europas in Gang gekommen, die ebenso Folge wie Ausdruck der sogenannten zweiten industriellen Revolution ist. Sie erst hat die ungeahnte Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit und damit die Steigerung der Massenkaufkraft und das Wachstum des Massenabsatzes von Waren ermöglicht.Und er sagt abschließend:Meine persönliche Überzeugung ist, ... daß die innere Kaufkraft der D-Mark von 1950 bis heute um 12 bis 14 % gesunken ist.Er beruft sich hierbei auf zuverlässige amerikanische Quellen. Diese Entwertung will er nicht bagatellisieren oder entschuldigen. Aber er begründet die Differenz zwischen behaupteter Entwertung und wirklicher Entwertung mit einer unabweisbaren Folge der gesellschaftlichen Integration.Man kann also ohne Übertreibung behaupten, daß auch nach der Ansicht eines aus Ihren Reihen stammenden, in allen politischen und fachlichen Gruppierungen anerkannten Experten die wirtschaftliche Integration in bestimmten Bereichen zwar keine Kaufkraftentwertung, aber höhere Preise notwendig gemacht hat. Wir können hier ruhig und offen aussprechen, daß wir uns zu dieser gesellschaftlichen Integration bekennen, weil das der erste Schritt auf dem Wege zu einer demokratischen und gleichzeitig klassenlosen Gesellschaft ist — ein kühnes Wort —, in der die Differenz zwischen dem Generaldirektor und dem Arbeiter wesentlich geringer geworden ist, als sie in der Zeit unserer Väter war.
Das ist ohne Zweifel auch ein Ergebnis der Politik, die mit dem Haushalt verbunden ist und die auch mit dem Namen des heutigen wie des letzten Bundeskanzlers unabweislich zusammenhängt.Noch ein letztes Wort zu einigen damit zusammenhängenden Problemen! Die wirtschaftliche Entwicklung des Jahres 1963 war im großen und ganzen zufriedenstellend. Auf manchen Gebieten konnte die Übernachfrage zurückgedrängt werden, ohne daß eine unerwünschte Abschwächung der realen Expansion erfolgte. Auch auf dem Gebiet der Gehälter und Löhne konnte eine Angleichung erreicht werden; Zunahme 1963 6%.Für diese Entwicklung und für die Anerkennung der hinter ihr stehenden Politik durch die Öffentlichkeit, für das Vertrauen, das diese Politik in der Öffentlichkeit genießt, ist von ganz besonderer Bedeutung der Umstand, daß in diesem Jahre die Spartätigkeit der Privaten bei den Sparinstituten besonders stark angewachsen ist.Auch Sie, Herr Kollege Möller, haben über die Kapazität des Kapitalmarktes gesprochen. Sie haben von einer Aufnahmefähigkeit von 15 bis 16 Milliarden DM gesprochen. Das mag so sein. Es gibt auch Schätzungen, die etwas darunter liegen. Wenn Sie aber zusammenzählen, was allein schon die öffentliche Hand: Bund, Länder, Gemeinden, Lastenausgleich, Bahn und Post, davon in Anspruch nehmen, dann finden Sie, daß für die auch von Ihren wirtschaftlichen Experten geforderte technische Modernisierung und verstärkte Investitionstätigkeit auf dem Markt der festverzinslichen Verschuldungen nur noch ein relativ kleiner Spielraum bleibt. Ferner wissen Sie genausogut wie wir, daß der Aktienmarkt in diesem Jahr 1963 brachgelegen hat. Wegen der Ereignisse der Jahre 1961/62, wegen des Risikos der Ungewißheit der wirtschaftlichen Entwicklung und vielleicht auch wegen der Unsicherheit in bezug
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4880 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. h. c. Straußauf die Gestaltung der Aktienrechtsreform ist der Aktienmarkt in diesem Jahr erheblich zurückgegangen. Ich brauche die Zahlen nicht zu nennen. Ich glaube, die öffentliche Hand kann nicht stärker auf das Gebiet der Emissionen gehen, ohne damit wesentliche Interessen der Wirtschaft zu schwächen.
Hier kann nur das Gesamtbild etwas bieten, nicht eine einzelne, vielleicht in den Zahlen richtige Darstellung.Sie haben richtige Zahlen über die Erhöhung des Staatsverbrauchs und der öffentlichen Bautätigkeit gebracht. Man kann insgesamt sagen, daß die Selbstfinanzierungsquote nicht abgenommen hat und daß sich der Rückgang der Unternehmergewinne verlangsamt hat. Die Auftragsbestände sind im großen und ganzen zufriedenstellend. Einen großen Teil davon macht allerdings die verstärkte Nachfrage des Auslands aus. In der Neujahrsnummer des „Volkswirts" ist zu lesen, daß sich das Preisniveau in Italien und in Frankreich im Jahre 1963 um etwa 8 % erhöht hat, daß demgemäß unsere Wettbewerbsfähigkeit gerade auf diesen beiden Märkten stürmisch zugenommen hat und daß von dort her eine verstärkte Nachfrage auf dem Markt in der Bundesrepublik zu verzeichnen ist. Hier sollten wir die Grenze sehen. Wir sollten den Anstieg der Konjunktur nicht als unser Verdienst betrachten, sondern als Folge einer bedauerlichen, hoffentlich möglichst bald zu Ende gehenden Entwicklung in anderen Ländern. Dann würden wir den wirklichen Verhältnissen mehr gerecht. Hier liegt auch die Unsicherheit in der von Ihnen heute als sicher zugrunde gelegten Berechnung von 7,5 bzw. 5,5 % für den nominellen und den realen Zuwachs des Sozialprodukts.Das konjunkturelle Gleichgewicht in unserer Wirtschaft hat schon seit geraumer Zeit aufgehört zu bestehen. Im Jahre 1963 haben sich die branchenmäßigen Unterschiede im Wachstum erheblich vergrößert. Spitzenreiter sind Chemie, Automobilindustrie und Mineralölerzeugung mit 15 und 20% Zunahme.Bei Betrachtung des Lohnniveaus — das ist eine Frage, über die gerade hier immer diskutiert worden ist — ist besonders zu beachten, daß hier große Unterschiede zwischen den einzelnen Arbeitnehmergruppen bestehen. Wenn die Ertragslage in einer Branche höhere Löhne rechtfertigt und wenn sie gewährt werden, ist eine unausweichliche Folge, daß sie, wenn auch nicht in gleichem Umfang, in anderen Sparten ebenfalls verlangt werden. Daraus entstehen Spannungszustände und Schwierigkeiten, die man nicht mit einfachen oder simplifizierten Feststellungen bewerten kann.Nun sind Sie uns aber, Herr Kollege Möller, am Schluß doch noch einiges schuldig geblieben. Auch nach Ihrer Vorsichtsklausel, wie man SPD-Anträge zu bewerten und zu behandeln habe, sind Sie uns auch nur jeden Versuch schuldig geblieben, zu sagen, wie Sie sich die Finanzierung der zahlreichen von Ihnen gebrachten Anträge auf Mehrausgaben oder Steuerverminderungen eigentlich vorstellen,
selbst wenn Sie sagen, Sie könnten nicht nach der Ablehnung eines Antrags so tun, als ob er angenommen worden wäre, und demgemäß maßhalten, und selbst wenn Sie sagen, man sollte sich über Prioritäten unterhalten. Die Unterhaltungen im Haushaltsausschuß und hier sind ja immer Unterhaltungen über Prioritäten. Ich glaube nicht, daß sie interfraktionell stattfinden sollten, sondern daß sie ruhig hier vor dem Forum der Öffentlichkeit stattfinden können.Aus Ihren beiden Steueranträgen ergibt sich nach der Antwort des Bundesfinanzministeriums eine Mindereinnahme für das Rechnungsjahr 1963 — zugrunde gelegt, daß sie bereits angenommen wären — von 1150 Millionen DM, davon 710 Millionen DM bei den Ländern und 440 Millionen beim Bund. Allerdings würden die Mindereinnahmen rascher in Erscheinung treten als die Mehreinnahmen, die infolge der Erhöhung des Plafonds zu verzeichnen wären.Diese Anträge sind, wenn ich sie richtig gelesen habe, auch nur ein Ausschnitt aus Ihren Vorstellungen, die Abzugsfähigkeit der Vermögensteuer aufzuheben oder erheblich einzuschränken und Veränderungen bei der Erbschaftsteuer zu treffen. Ich möchte in gar keiner Weise einem ungerechtfertigten Gewinn das Wort reden. Aber mit dem Plafond und den immer zusätzlichen Belastungen sind wir schon an der Grenze der ernsthaften Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft angelangt. In bestimmten Bereichen der Vermögen- und der Erbschaftsteuer würde die Durchführung solcher steuerpolitischen Pläne zu einer Belastung der mittelständischen Existenzen führen, an deren Ende dann eines Tages der schlichte Ruin für viele stehen würde.
Das ist dabei gerade auch im Hinblick auf die Gesellschaftspolitik zu bedenken.Wenn Sie aber den Ländern 680 Millionen DM und im anderen Jahr 710 Millionen DM Mindereinnahmen zumuten, dann stellt sich doch ganz von selbst die Frage: Wie sollen wir die Zustimmung der Länder zu bestimmten Steuerreformplänen und zu ,einer höheren Bundesquote an der Einkommen- und Körperschaftsteuer bekommen, wenn ihnen hier Mindereinnahmen dieser Art von vornherein zugemutet werden?
Aber auf dem Gebiet kann man reden, da handelt es sich mehr um die Auswirkungen als um die konkreten Größenordnungen.Sie haben ferner gefordert die Beseitigung der Kaffee- und Teesteuer — das geht in einen Bereich von 800 bis 900 Millionen DM hinein —, die Zweckbindung beim Straßenbau, 10 % mehr: 600 Millionen DM, was wir auch gern getan hätten, aber dann unter dem Druck der Lage nicht tun konnten; oder Ihre Forderungen für Wasserstraßen und Bundesbahn: 300 Millionen DM mehr. Das Gesamtfinanzvolumen für die Durchführung des von Ihnen vorgeschlagenen Flüchtlingsgesetzes — Durchführungs-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4881
Dr. h. c. Straußzeit etwa zehn Jahre — 11 Milliarden DM; Wiedergutmachung 1,3 Milliarden DM jährlich mehr. Wissenschaft und Forschung — ohne Zweifel ein ernsthaftes Problem — 800 Millionen DM mehr. Ich bringe hier nur. einen Ausschnitt; es gibt auch Gesamtzahlen darüber, die ich allerdings unter dem Lichte Ihrer heutigen Einschränkungen eben nicht genannt habe. Wenn das alles von Ihnen gefordert wird, hätten wir doch von Ihnen auch Vorschläge erwartet, wo man ernsthaft an den bestehenden Ansätzen einsparen oder wie man die Einnahmen glaubhafterweise erhöhen kann,
damit die von Ihnen vorgeschlagene Pläne, deren sachliche Berechtigung in keiner Weise bestritten werden soll, hier einigermaßen Aussicht haben, verwirklicht zu werden.Ich möchte die Schwerpunkte dieses Haushalts unter drei Gesichtspunkten in wenigen Stichworten gliedern. Auch dieser Haushalt und die Haushaltspolitik müssen im Zeichen von zwei Aufgaben stehen. Die eine Aufgabe ist, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu erhalten und zu stärken, weil sie die Voraussetzung dafür ist, daß der Staat überhaupt seine Leistungen erfüllen, seine Aufgaben bewältigen kann. Zweitens muß auch dieser Haushaltsplan im Dienste der Zukunft stehen, weil wir uns in einem großen soziologischen Umwandlungsprozeß befinden, bei dem sich Aufgaben gemeinsamer Art ergeben. Ich weiß, was Sie Professor Erhard entgegengehalten haben: „Hört, hört!" bei der Regierungserklärung. Sie haben von den Gemeinschaftsarbeiten gesprochen; ich will das, was Sie darüber gesagt haben, gar nicht bestreiten, weil sich hier Zukunftsaufgaben gemeinsamer Art ergeben, die man nur richtig vorausahnen, aber nicht mit Erfahrung allein festlegen kann. Unsere Gesellschaftsordnung wird im Jahre 1975 und, wenn es ohne einen Einschnitt unangenehmer Art so weitergeht, im Jahre 2000 noch wesentlich anders aussehen als heute. Deshalb müssen Sie auch den Mut haben, Prioritäten zu setzen hinsichtlich des Verbrauchs in der Gegenwart und der Investitionen für die Zukunft.
Es ist nicht möglich, beide Seiten mit gleichermaßen attraktiven Parolen anzusprechen: Mehr für die Gegenwart und alles für die Zukunft. Man kann nur sagen: Da und dort weniger für. die Gegenwart, damit mehr für die Zukunft gewonnen werden kann.
Auch dieser Haushalt steht unter den drei Prioritäten: äußere und innere Sicherheit, Ordnung in Freiheit und Voraussetzung für den Wohlstand. Ich glaube, Kollege Möller, Sie und Ihre Freunde haben einen langen Weg zurückgelegt; vielleicht weniger Sie,
indem heute die Schaffung der Voraussetzung für den Wohlstand eine Staatsaufgabe ist, nicht mehr die Herbeiführung des Wohlstandes selbst. Das war ja gerade einer der Punkte, in denen wir uns in denUnterhaltungen in diesem Hause jahrelang unterschieden haben.Ich möchte nicht auf eine Reihe von Einzelheiten eingehen, die von Ihnen gebracht worden sind. Aber wenn Sie bemängeln, daß der prozentuale Anteil des Sozialhaushalts zurückgegangen ist - nicht absolut —, dann darf ich Ihnen etwas entgegenhalten.
— Aber wir kennen schon den Unterton solcher Feststellungen, wir erleben ihn ja auch draußen.
— Nein, Herr Kollege Erler, ich wollte Sie eben zitieren. — Heute ist der Sozialhaushalt nicht mehr ein Notstandshaushalt, sondern er ist ein Wohlstandshaushalt geworden. Daß das mit der Leistung unseres Volkes und mit der Politik seiner Regierung und der Mehrheit zusammenhängt, kann doch wohl nach Maßgabe der Vernunft und Erfahrung nicht ganz bestritten werden, wenn es auch schwerfällt, es zuzugeben.
Sie haben ein Zitat der Westdeutschen Rektorenkonferenz gebracht. Das hat mich eigenartig berührt. Daß die westdeutschen Rektoren eine Verminderung der Leistungen des Bundes für die Erfüllung der Aufgaben des Honnefer Modells beanstanden, ist völlig verständlich. Aber man sollte hier einmal mit offenen Karten in unseren Reihen spielen, und man sollte sagen: wenn man eine klare Trennung der Aufgaben von Bund und Ländern verlangt, wenn alle Ministerpräsidenten der verschiedenen politischen Gruppierungen in Saarbrücken eine Trennung der Aufgaben verlangen, dem Bunde vorwerfen, er gebe drei Milliarden DM für Aufgaben aus, die ihm verfassungsgemäß gar nicht zustehen, dann kann man doch nicht hier dem Protest zustimmen oder ihn als gerechtfertigt bezeichnen an einem Modell, an einem Beispiel, wo zum erstenmal in Reinkultur demonstriert wird, daß es Aufgabe der Länder ist, das Honnefer Modell zu erfüllen, und nicht die Aufgabe des Bundes.
— Ich zitiere gerade eben die einstimmige Meinung der Ministerpräsidenten von Saarbrücken. Ich weiß, daß hier ein weiter Weg von der Theorie zur Praxis ist: man muß immer von Einsparungen reden, man darf nur nie sagen, wo.
Das ist schon eine alte Regel, die weitgehend Beachtung gefunden hat.
Darf ich die Gelegenheit benützen, Sie zu fragen, wo Sie meinen, wo?
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4882 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Ich bin gar nicht der Meinung, Herr Kollege Schmid, daß der Bund in den Bereichen, in denen er aus Gründen der sachlichen Zwangsläufigkeit, aus Gründen der Entwicklung, aus Gründen — ich darf ruhig sagen — der sachlichen Notwendigkeit tätig geworden ist, heute seine Tätigkeit wesentlich einschränken kann. Ich bin mir der Tatsache völlig bewußt, daß eine Verfassung aus zwei ganz verschiedenen Elementen besteht, aus Elementen, die unwandelbar sind, und aus Elementen, deren zeitgemäße Richtigkeit auch immer wieder einmal einer gewissen Uberprüfung unterzogen werden muß. Ich sage das als überzeugter Föderalist. Es gibt Aufgaben in diesem Bereiche, die ohne eine Steuerung oder Koordinierung und, damit selbstverständlich auch verbunden, finanzielle Hilfeleistung nicht erfüllt werden können. Ich sage nur: wenn man davon spricht, daß Bund und' Länder ihre Aufgaben und damit auch ihre Ausgaben sauber voneinander trennen sollen, dann ist das Honnefer Modell dafür geradezu der Exemplarfall. Niemand spricht dafür, die Leistungen zu verkürzen. Wohl aber ist das ein geeigneter Anlaß, die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Beschlüsse von Saarbrücken im Lichte der Realität einmal zu überprüfen.
Wollen Sie den Dialog fortsetzen, Herr Abgeordneter?
Es ist mir ein Vergnügen.
Nur eine kleine Frage noch: Glauben Sie nicht, daß das ernste Problem, wie man dafür sorgen kann, daß den deutschen Universitäten genügend Leute und die richtigen Leute zugeführt werden, den Bund ganz besonders angeht, der, glaube ich, für die Zukunft Deutschlands im besonderen Maße verantwortlich ist? Diese Zukunft liegt weitgehend auf diesem Felde.
Herr Schmid, daß die Aufgabe so gestellt ist, wie Sie sagen, ist außer jedem Zweifel. Ich würde jeden für reaktionär im echten Sinne des Wortes halten, der eine andere Meinung verträte.
Ich möchte aber nicht den Landesregierungen unterstellen, daß sie selber Bedeutung und Tragweite dieser Aufgabe nicht erkannt haben oder daß sie nicht fähig wären, auf diesem Gebiete voll befriedigend tätig zu werden. •
— Ich werde darüber noch reden. Ich habe nur aneinigen Punkten davon gesprochen, daß die Dekkungsmöglichkeiten nicht aufgezeigt worden sind, daß keine Vorschläge gemacht worden sind usw.Ich möchte aber am Schluß, Herr Kollege Möller, Ihr Zitat aus Ihrer, wie Sie sagen, vor einem Jahr veröffentlichten Arbeit „Währung und Außenpolitik" hier mit dem einem Satze erwähnen, daß ich jedem Gedanken, den Sie hier ausdrücken, nicht mehr zustimmen könnte, als ich es auf Grund langjähriger Kenntnis der Sachlage tue. Alles, was Sie hier sagen über das Verhältnis von Währung und Außenpolitik, daß im Zeitalter der Atombombe der Krieg keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mehr sein kann, und zwar aus noch zwingenderen Gründen, als es vielleicht je richtig gewesen ist, ist geschichtlich, moralisch, politisch und ich weiß nicht, nach welchen Maßstäben sonst noch, absolut berechtigt. Die Schlußfolgerungen, die Sie daraus ziehen, müssen allerdings etwas verwundern. Sie stellen die Verteidigungsaufwendungen der einzelnen Länder nach der Kopfquote gegenüber. Die Zahlen stammen aus einer Illustrierten, und die hat sie wieder aus dem „Taschenbuch für Wehrfragen". Ich sehe keinen Anlaß, an der Richtigkeit dieser Zahlen zu zweifeln.
— Dann hat es noch ein besonderes Maß an sachlicher Richtigkeit.
Nun muß man diese Dinge wie immer im Zusammenhang sehen. Es gibt kein einziges Land in der NATO — lassen Sie einmal die große Schutzmacht mit ihrer weltweiten Verantwortung beiseite —, das ein so ausgeprägtes Interesse an der Funktionsfähigkeit des Bündnissystems im Sinne einer abschrekkenden Kraft hat wie das unsrige.
In der Priorität der Werte haben wir deshalb auch -ich behaupte nicht, daß Sie gegenteiliger Meinung sind, aber ich möchte unsere Meinung sehr deutlich unterstreichen — die äußere Sicherheit noch vor alle anderen Aufgaben gestellt, selbstverständlich nicht, ohne sie im Zusamenklang mit der inneren Stabilität, also in der Balance der verschiedenen gestellten Notwendigkeiten, zu sehen.
— Was ich will? Ich will es Ihnen sagen: Ihr Vergleich mit der Input-Output-Analyse ist eine Vermischung von technischen und betriebswirtschaftlichen Vorgängen und ist in dieser Form nicht anwendbar. Eine Reihe von Daten ist vorgeschrieben. Ich gehe einmal einfach davon aus, daß eine nationale Verteidigung heute nicht mehr möglich ist; darüber sind wir uns einig. Ich gehe zweitens davon aus, daß die Funktionsfähigkeit des Bündnisses ohne einen ausreichenden deutschen Beitrag nicht gesichert werden kann. Ich gehe drittens davon aus, daß der Wert des Bündnisses für uns in der Verhinderung des Krieges, nicht in der Fragwürdigkeit
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4883
Dr. h. c. Straußeines militärischen Erfolges liegt. Ich glaube, in den drei Ausgangsdaten sind wir uns einig.Was Sie aber jetzt verlangen, ist eine Planung. auf nationaler Basis.
— So müssen Ihre Ausführungen verstanden werden.
— Ich rede so gut deutsch wie Ihr Kollege Alex Möller. Ich bitte um Entschuldigung, ich muß seine Terminologie übernehmen, um auf der gleichen Etage zu bleiben.
Was ist denn das Kostenoptimum? Das Kostenoptimum ist doch der Punkt, wo sich die Stückkostenkurve mit der Grenzkostenkurve schneidet.
Jetzt sagen Sie einmal, wo sich bei einem militärischen Apparat Stückkostenkurve und Grenzkostenkurve schneiden. Es würde nicht einmal einem wirtschaftswissenschaftlichen Institut gelingen, das genau festzulegen. Zur Erfüllung einer militärischen Aufgabe muß man sich der Mittel der modernen operational research bedienen. Operational research mit den modernen elektronischen Rechenmaschinen setzt voraus, daß man eine Reihe von Daten einführt — das sind die inputs —, um eine Reihe von Ergebnissen oder Vorschlägen — das sind die outputs — zu erhalten.
Diese Methode anzuwenden ist möglich, wenn Sie in der Gesamtheit des Bündnisses angewendet wird. Aber hier handelt es sich um elektronische Vorgänge und nicht um nationalökonomische Vorgänge. Das ist der Unterschied, den ich vorsichtig anmelden möchte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Haushalt steht unter den Zeichen der Fortsetzung der Kontinuität und Stabilität einer erfolgreichen und stabilen Politik. Die Rede, die Sie heute gehalten haben, Herr Kollege Alex Möller, hat für uns — mit einem betriebswirtschaftlichen Begriff gesagt— die Frage des Risikos aufgeworfen. Wenn im nächsten Jahr die SPD die Wahl gewinnen sollte, wäre das Risiko für uns offensichtlich geringer geworden. Wenn ich Ihre Rede aber richtig interpretiere, glaube ich doch, daß Sie sich entschlossen haben, Erhard als Kanzlerkandidaten zu übernehmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das soeben hier vorgetragene Koalitionsangebot war recht interessant. Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei wird sich natürlich demnächst damit beschäftigen.
Ich möchte allerdings meinen, daß die Person des Absenders eine ernsthafte Prüfung ein bißchen erschwert.
Jetzt hat sich das Geheimnis jedenfalls gelüftet,welche Bücher sich auf dem Rücksitz des Wagens
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4884 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Erlerunseres verehrten Kollegen Strauß befunden haben. Ich bin gern bereit, dafür zu sorgen, daß er die noch fehlenden Materialien unserer anderen Kongresse zugesandt bekommt. Wir werden dann sicher hier noch erstaunlichere Offenbarungen hören. Vor allem möchte ich Ihnen die Materialien unseres Parteitages von München zum Thema der zweiten industriellen Revolution zugänglich machen. Damals hat es geheißen, so etwas gebe es gar nicht, das sei eine bodenlose Dramatisierung. Heute haben wir gehört, daß die Bundesregierung unter der Führung der CDU die industrielle Revolution bei uns zustande gebracht hat.
— Darum bemühen wir uns alle. Ich bin erfreut, in welcher Weise sogar die marxistische Terminologie, nachdem sie bei uns etwas in Verruf geraten ist, von Ihnen aufgegriffen wird.
Der Herr Kollege Dr. Emde hat davor gewarnt, das Parlament zu einem Chor der griechischen Tragödie werden zu lassen. Ich glaube, damit hat er recht. Ich habe nur überlegt, wen er damit gemeint hat und ob er Sie, verehrter Herr Kollege Barzel, in diesem Zusammenhang als Chorknaben — in der griechischen Tragödie natürlich — angesprochen hat; die lyrischen Partien Ihrer Rede könnten vielleicht einen gewissen Anlaß dazu gegeben haben. Ich möchte mich deswegen jetzt weniger diesen lyrischen Partien zuwenden, sondern den Problemen, die — das ist das gute Recht dieses Hauses — in diesem Hause im Zusammenhang mit der Haushaltsdebatte zur Erörterung gestellt worden sind.Natürlich halten auch wir es für richtig, daß der Herr Bundeskanzler die erste Gelegenheit nutzt, über wichtige außenpolitische Vorkommnisse diesem Hohen Hause zu berichten. Die allererste Gelegenheit wäre sogar vorgestern gewesen, wenn er vor dem Finanzminister gesprochen hätte. Dann wäre es nicht zu der Schwierigkeit gekommen, daß in der gleichen Reihenfolge, nachdem erst der Finanzminister den Haushalt eingebracht hat, natürlich dann auch seine Ausführungen als erste in der Debatte behandelt werden mußten. Aber das mag das Kabinett unter sich ausmachen, in welcher Reihenfolge künftig die verschiedenen Regierungssprecher hier aufmarschieren, der eine zur Eröffnung der Debatte mit seiner Erklärung und der andere dann gewissermaßen als Partner in der Debatte, wenn er nicht eine besondere Regierungserklärung abzugeben wünscht.Meine Damen und Herren, in dieser Debatte sind einige bemerkenswerte Ausführungen über unser aller gemeinsame Position zum deutschfranzösischen Verhältnis gemacht worden. Wir sollten uns hier wohl — dazu besteht Anlaß — daran erinnern, daß der Bundestag in der einmütig beschlossenen Präambel zum deutsch-französischen Vertragswerk klargemacht hat, einen wie hohen Rang wir der Aussöhnung dieser beiden Völker zumessen und daß wir alles tun wollen, um daraus mit den anderen freien europäischen Staaten eine immer engereGemeinschaft werden zu lassen. Wir haben in dieser Präambel auch klargemacht, daß es sich für uns dabei nicht um einen Sonderbund handelt, daß wir die deutsch-französische Gemeinschaft in die europäische Gemeinschaft und in die atlantische Solidarität hineingestellt wissen wollen. Auch die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers zu diesem Thema haben nicht ohne weiteres alle Sorgen übertönen können, die uns zu diesen drei Gebieten in der letzten Zeit beschäftigt haben. Es handelt sich um das Verhältnis zu Großbritannien, es handelt sich um das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Es handelt sich unter anderem auch um die hier vom Herrn Bundeskanzler vorgetragene Bemerkung, daß es offenkundig in Paris eine gewisse Tendenz gibt, Europa mehr als dritte Kraft aufzufassen, also gewissermaßen gelöst von der engen Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika, von Großbritannien gar nicht zu sprechen. Besondere Sorge — das möchte ich auch dem Kollegen Strauß sagen, der mit Recht darauf aufmerksam gemacht hat, daß die engste Solidarität besonders auf dem Gebiet der Verteidigung erforderlich ist — haben uns allen wohl die Alleingänge unseres französischen Partners auf diesem Gebiet bereitet. Wir müssen dafür sorgen, daß es keine weiteren Risse im westlichen Bündnis gibt. Daher sollte der Einfluß der Bundesrepublik Deutschland bei unserem französischen Freunde auch in dieser Richtung angesetzt werden.
Vom Herrn Bundeskanzler ist kurz die Aussicht auf eine mögliche neue Initiative zur Förderung des europäischen Einigungswerks gestreift worden. Wir wären alle froh, wenn das ins Stocken gekommene Einigungswerk einen neuen Impuls erhielte. Dieser neue Impuls kann bestimmt nicht dadurch geschaffen werden, daß man sich an den Einrichtungen reibt, die nach dem Willen der Regierungen in den Verträgen von ihnen selbst geschaffen worden sind. Diese Einrichtungen können nämlich nichts dafür, daß das europäische Einigungswerk ins Stocken geraten ist. Ganz im Gegenteil, die europäischen Gemeinschaftseinrichtungen, insbesondere die Kommission, geben sich redliche Mühe, das Einigungswerk fortzusetzen. Wenn die Kritik berechtigt ist, daß mit der Übertragung nationaler Zuständigkeiten an übernationale Einrichtungen ein Element der demokratischen Kontrolle entfällt, dann darf die Schlußfolgerung nicht etwa sein, daß wir Gemeinschaftsbefugnisse auf die Nationen zurückübertragen,
sondern dann muß die Konsequenz sein, daß wir die demokratische Kontrolle über die übernationalen Einrichtungen verbessern und stärken.
Wir wissen alle, wo die Widerstände liegen. Auch hier wär es, wenn künftig von politischer Union gesprochen wird, gut, rechtzeitig auf diesen entscheidenden, für uns alle entscheidenden politischen Charakter der Zusammenarbeit aufmerksam zu machen.
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ErlerWer keine Technokratien will, sondern ein demokratisches Europa, der muß für die Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments bis hin zur direkten Wahl zu diesem Parlament eintreten und muß sich auch im Rahmen der Verträge und im Rahmen der Konsultation mit unseren französischen Freunden um die ersten Schritte in dieser Richtung bemühen.Meine Damen und Herren, es sei mir hier auch ein Wort erlaubt zu einem schmerzlichen Vorgang, der im vergangenen Jahr in diesem Hause debattiert worden ist und dessen Abwicklung einen Schatten auf das sonst so freundschaftliche Verhältnis zu unserem französischen Nachbarvolk und seiner Regierung geworfen hat: das ist der Fall „Argoud". Wir haben zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung hier erneut bei unserem französischen Partner vorstellig geworden ist. Wir begrüßen die Absicht der Regierung, alles zu tun, damit unter diesem Fall die deutsch-französische Freundschaft keinen Schaden leidet. Aber wir möchten hinzufügen: ein derartiges Bemühen muß dann auch bei unserem französischen Freund und Partner erkennbar werden.
Die deutsch-französischen freundschaftlichen Gefühle zueinander sind nicht dadurch in Mitleidenschaft gezogen worden, daß es sich die Bundesregierung verbittet, daß andere Regierungen mit Gewalt auf ihrem eigenen Gebiet widerrechtlich Akte vollführen, sondern auf diese Beziehungen ist ein Schatten dadurch geworfen worden, daß ein Freund auf unserem Gebiet widerrechtlich gehandelt und den Nutzen dieser Handlung bis zur Stunde der Bundesrepublik Deutschland gegenüber nicht wiedergutgemacht hat. Das ist der entscheidende Punkt.
Es hat dann hier eine kurze Debatte gegeben über die Ereignisse in Brüssel im Zusammenhang mit der künftigen Entwicklung der Agrarpolitik. Ich habe die Befürchtung, daß die Bundesrepublik Deutschland ihrer eigenen Landwirtschaft im Verhältnis zu den Landwirtschaften unserer Partnerländer in 'der Gemeinschaft dadurch Nachteile zufügt, daß sie sich mit der Anpassung an die Bedingungen des künftigen gemeinsamen Marktes mehr Zeit läßt als die anderen.
Es ist erforderlich, Klarheit zu schaffen für den Verbraucher, für den Erzeuger, für unsere Partner draußen in der Welt, für die Drittländer und unsere Partner in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, welchen Kurs die deutsche Agrarpolitik zu steuern gedenkt; denn als größtem Einfuhrland innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kommt den Wünschen der Bundesregierung auf diesem Gebiet und ihrer Haltung auf diesem Gebiet eine ganz besonders große Bedeutung zu.Ich möchte hier gleich eine Bemerkung zu den Darlegungen unseres Kollegen Strauß über die Zukunft der deutschen Landwirtschaft einfließen lassen. Er hat sicher völlig recht damit, daß wir uns für den Fortbestand gesicherter bäuerlicher Existenzen einsetzen müssen. Aber es hat, glaube ich, keinen Sinn, unseren Landwirten zu versprechen, daß die weiteren Fortschritte rationeller Produktionsweisen in der Landwirtschaft an der deutschen Landwirtschaft spurlos vorübergehen können.
Das werden sie sicher nicht tun. Und da wir alle nicht in beliebiger Menge unseren eigenen Konsum an landwirtschaftlichen Erzeugnissen vermehren können — ohne die Kreislauferkrankungen in unseren eigenen Reihen über Gebühr zu beschleunigen, denn der Nahrungsaufnahme sind gewisse Grenzen gesetzt — ist ganz klar, daß in unserer Landwirtschaftspolitik in der Zukunft das Schicksal eines Teiles des ländlichen Nachwuchses dadurch angepackt werden muß, daß Ausbildungs- und Berufschancen für andere als landwirtschaftliche Berufe in größerem Ausmaß als bisher auf das Land hinausgebracht werden, um künftig auch dort ein anständiges Lebensniveau zu sichern.
In dieser Debatte ist dann über das erfreuliche Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika berichtet worden, wie es sich bei dem Besuch des Herrn Bundeskanzlers beim amerikanischen Präsidenten Johnson manifestiert hat. Wir sind noch einmal erinnert worden an das wesentliche Vermächtnis der Kennedyschen Außenpolitik, die Zweigleisigkeit, die darin besteht, daß man sowohl über die notwendige eigene und gesamtwestliche Kraft verfügen müsse, um nicht von einem überlegenen Gegner ausmanövriert oder zur Kapitulation gezwungen werden zu können, als auch auf der anderen Seite gestützt auf diese Kraft den redlichen Willen haben müsse, um eine Überwindung und Lösung weltpolitischer Probleme und Schwierigkeiten am Verhandlungstisch bemüht zu sein, gestützt auf die Kraft, damit man dort nicht zur Hinnahme von Nachteilen gezwungen werden kann.Manche in Europa haben sich immer nur die eine Seite der amerikanischen Politik ausgesucht. Die einen glaubten, man habe allein auf die militärische Kraft, auf die Stärke zu setzen, und übersahen, daß, wer sich nur darauf verläßt und das für Politik hält, entweder eines Tages einem bewaffneten Austragen eines Konflikts, der am Ende eines blinden Wettrüstens stünde, zutreibt oder günstigenfalls zur Zementierung der bestehenden politischen Verhältnisse einschließlich der unseligen Teilung unseres Landes kommt. Die Stärke muß also ergänzt werden durch die Politik.Es mag auch andere geben, die sich aus der amerikanischen Politik nur den Verhandlungskuchen herausschneiden wollten und nicht gesehen haben, daß die notwendige Kraft und die für diese Kraft notwendigen Anstrengungen die unentbehrliche Ergänzung der Verhandlungsbereitschaft sind, wenn man nicht am Konferenztisch erpreßt werden soll. Ich rufe das in Erinnerung, weil mich dieses Bekenntnis zu den Grundzügen der Kennedyschen Außenpolitik in diesem Hause und der starke Beifall an diesen Stellen so gefreut haben. Denn seien wir doch ehrlich: Hoffentlich bleiben alle diejenigen nun bei der
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ErlerStange, die zu Lebzeiten des ermordeten Präsidenten in unserem Lande mit seiner Politik oft so ganz und gar nicht einverstanden gewesen sind,
wie ein Blick in manche Publikationen von damals uns heute zeigt.Wir haben uns dann hier in diesem Hause heute mit den Ereignissen in Berlin im Zusammenhang mit der Erteilung der Passierscheine beschäftigt. Ich habe kürztlich im Hessischen Rundfunk in ähnlichem Sinne oder, ich möchte sogar sagen: in völlig übereinstimmendem Sinne mit dem Bundeskanzler zu diesem Problem ausführlich Stellung genommen. Ich glaube, daß in Berlin sichtbar geworden ist, daß diese Stadt eine Stadt ist und daß die Deutschen ein Volk sind und e i n Volk bleiben wollen.
Was sich in Berlin vollzogen hat, war eine Volksabstimmung gegen die unmenschliche Trennung und für die nationale Einheit unseres Landes.
Die Wirkung auf das Ausland wollen wir gar nicht gering anschlagen. Es hat viele Menschen draußen gegeben — wer viel herumreist, weiß das —, die immer wieder an einen die Frage gerichtet haben: Wollen denn die Deutschen überhaupt zusammenkommen? Und wenn man jetzt englische Zeitungen liest, merkt man, wie selbst mitunter harte Kritiker an unserem Volke sich durch die Berliner Ereignisse davon haben überzeugen lassen, daß der Wille zum Zusammenkommen und zur Wiederherstellung der Einheit in unserem Volke nicht ausgelöscht ist, sondern über jeden Zweifel erhaben große Energien zu mobilisieren fähig ist. Das ist ein Aktivposten für die deutsche Politik, wenn wir ihn richtig ausnutzen.Manche haben geglaubt, durch diese Möglichkeit einer befristeten Menschlichkeit würde die Mauer verniedlicht. O nein! Gerade die Tatsache, daß die Modalitäten von der anderen Seite so gestaltet wurden, daß die Parallele zu einer Art Gefängnisbesuch immer deutlicher wurde, hat der Welt ein erschütterndes Beispiel für die Lage unseres Volkes und unserer Landsleute in der Hauptstadt gegeben.
Ein Besuch auf Stunden, durch Stacheldraht und Gefängnistore hindurch, mit der Auflage, abends wieder zurücksein zu müssen, — ein Besuch, von dem man wußte, die Zeit, in der überhaupt Besuchserlaubnis gegeben wird, wird auch noch auf eine bestimmte Periode befristet, — ein Besuch, der abhängig gemacht wird vom Vorliegen bestimmter Verwandtschaftsverhältnisse, — all dies machte klar, daß Menschen in Freiheit aufbrechen mußten, um faktisch ihre Landsleute in einem Kerker aufzusuchen.
Das war ein Signal für die Welt und hat für viele den schrecklichen Charakter der Mauer, den sienicht so ganz einsehen wollten, deutlicher als vorher hervortreten lassen.Dennoch war das Ganze aber auch eine Ermutigung für unsere Landsleute. Es haben in Ost-Berlin Hunderttausende von Familientreffen stattgefunden, nicht nur zwischen den Bewohnern beider Teile dieser Stadt, sondern zwischen Bewohnern ganz Deutschlands. Denn da waren auch die Westdeutschen, und da kamen unsere Landsleute aus der Zone. Da ist sicherlich nicht viel über Politik gesprochen worden. Aber das, was die Menschen im ganzen persönlich bewegt hat, das war ein Stück politischer Wirklichkeit unserer Tage.Die Dinge sind den Machthabern drüben sogar etwas über den Kopf gewachsen, sosehr sie auch glaubten, nachher politische Geschäfte damit verbinden zu können. Denn sie wurden vor die Fragen gestellt: Warum heute abend zurück? Warum nur bis zum 5. Januar? Warum nur in einer Richtung? Warum nicht auch aus Ost-Berlin nach West-Berlin? Warum nicht auch aus der Zone nach West-Berlin? Warum nicht überhaupt aus Deutschland nach Deutschland? Das waren für die Machthaber drüben harte Fragen. So versuchen sie nun, die Dinge so darzustellen, daß eine Erneuerung eines ähnlichen Vorhabens mit möglichst vielen politischen Schwierigkeiten behaftet wird.Wir wissen, daß Berlin ein Teil des freien Deutschlands ist und bleibt. Wir wissen, daß wir durchaus miteinander und mit der Bundesregierung bereit sind, abzutasten, was geschehen kann, um unseren Landsleuten in Ost-Berlin und in der Zone ein Höchstmaß an Erleichterungen zu verschaffen.Aber wir wissen auch — und sagen es den Machthabern in Ostberlin —, was nicht geschehen kann. Was nicht geschehen kann, ist ein Annagen der freiheitlichen Position Westberlins und ein Annagen unseres Rechtes auf Selbstbestimmung für das ganze deutsche Volk. Hinter dièse Grenzlinie können wir nicht zurück.
Wir wollen in diesem Zusammenhang, gerade nachdem die volle Übereinstimmung zwischen Bundesregierung, Berliner Senat und Westmächten in diesen Fragen vom Herrn Bundeskanzler in so dankenswerter Weise unterstrichen worden ist, auch der Berliner Bevölkerung und ihrer politischen Führung Dank sagen dafür, wie sie die Fährnisse der vergangenen Jahre und Monate mit ungebrochenem Mute durchgestanden hat.
Die Berliner wissen genau, woran sie mit Ulbricht sind. Denen brauchen wir keine allzu weisen Ratschläge zu erteilen. Wir haben, glaube ich, in diesem Hause auch gezeigt, daß, wo es um das Schicksal Berlins ging, in mancher Schlacht gerade die Sozialdemokratische Partei auf die enge Verbundenheit Berlins mit der Bundesrepublik Deutschland und allen ihren Einrichtungen entscheidenden Wert —
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Erlergegen sogar mancherlei örtlichen Widerstand — gelegt hat.
Ich sage das, weil ich der Überzeugung bin, daß wir angesichts der Übereinstimmung von Regierung, Westmächten und Senat zu den jüngsten Berliner Ereignissen keine Gegensätze konstruieren sollten, die bei den Herren in Ostberlin unter Umständen falsche Hoffnungen auf Nachgiebigkeiten am falschen Punkte zu erwecken geeignet sein könnten. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Interesse.Genau so ist es unser gemeinsames Interesse, in einigen Grundfragen heute schon, obwohl sich die Regierung bis zum Abschluß der Konsultation mit unseren Verbündeten einer begreiflichen Zurückhaltung befleißigt, einige Bemerkungen zu der jüngsten sowjetischen Note zu machen.Wir erstreben — das weiß die ganze Welt, und das sollte auch die Sowjetunion zur Kenntnis nehmen — die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts für das deutsche Volk mit ausschließlich politischen Mitteln. Es gibt niemanden in diesem Hause, der die Durchsetzung dieses Rechtes etwa mit den Mitteln der Gewalt anstreben würde, weil wir alle wissen, daß das keine Wiedervereinigung in gesicherter Freiheit, sondern eine Wiedervereinigung im Massengrabe wäre. Das sollten auch alle anderen draußen wissen, daß es hier um ein politisches Ringen geht. Dieses Ringen geht darum, daß wir Deutsche unsere inneren Angelegenheiten in ganz Deutschland selber und ohne fremde Bevormundung, ohne sowjetische Bevormundung, entscheiden wollen.Man könnte im Zusammenhang mit dieser Note vielleicht die Frage aufwerfen, wie denn die Sowjetunion die von ihr angeregte Haltung zu einem Gewaltverzicht etwa im Zusammenhang mit Ereignissen wie denen in Ungarn 1956 oder in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands am 17. Juni 1953 interpretieren würde,
wie der Gewaltverzicht etwa aussehen würde, wenn es darum geht, von Schikanen und Erschwerungen gegenüber Westberlin und der ungefährdeten Freiheit seiner Bewohner abzusehen.Das wären einige Fragen, die sich stellen, wie auch die andere Frage, ob die sowjetische Regierung den Grundsaz, den sie gegenüber Formosa aufstellt, daß nämlich kein Regime einem Teil eines großen Landes durch Anwesenheit fremder Truppen aufgezwungen werden dürfe, eigentlich nicht auch auf die sowjetische Besatzungszone in Deutschland anwenden müsse, wenn es ihr ehrlich mit diesen Grundsätzen ist.Das wären so ein paar Fragen. Und wenn uns gelegentlich die Formel von der Realität der deutschen Teilung, die es endlich hinzunehmen gelte, entgegentritt, nun, dann erinnere ich an das, was ich soeben über Berlin gesagt habe. Niemand von uns leugnet, daß das Land zerrissen und geteilt ist — gegen unseren Willen. Das ist eine Realität, an der wir uns jeden Tag wund stoßen. Aber der Wille, unsmit diesem Zustand nicht abzufinden, sondern ihn zu überwinden, ist auf die Dauer die stärkere Realität, von der man Kenntnis nehmen muß.
Meine Damen und Herren, damit möchte ich zu einigen Problemen überleiten, die nicht direkt mit der Außenpolitik zusammenhängen, sondern nur insofern etwas damit zu tun haben, als wir zur Lösung unserer großen außenpolitischen Probleme nur fähig sind, wenn unser eigenes Haus in Ordnung ist, wenn wir zeigen, daß unsere freiheitliche, unsere soziale Ordnung die überlegene ist.Es hat hier in den Debatten Kontroversen und Erklärungen zum Thema der Kriegsopferversorgung gegeben. Uns wurde verkündet, die CDU stehe zu ihrem Wort. Da wäre es natürlich wichtig zu wissen: zu welchem Wort eigentlich?
Steht sie zum Wort des Bundeskanzlers, daß über die bewußten etwas über 600 Millionen DM hinaus kein Pfennig mehr bereitgestellt werden könne, sonst müsse von Art. 113 des Grundgesetzes Gebrauch gemacht werden. Steht sie zum Wort des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Strauß, der sich zusammen mit der Kollegin Probst gegen den Stufenplan und für eine Lösung in einem Zuge ausgesprochen hat? Steht sie zum Wort der Mitglieder der CDU/CSU im Kriegsopferausschuß oder im Haushaltsausschuß? Meine Damen und Herren, hier gibt es kein Wort, hier gibt es ein Wörterbuch.
Wir möchten zu diesem Wörterbuch ganz klarmachen, daß die Entschädigung für die Aufopferung von Leben, Gesundheit und Freiheit im Dienste der Gemeinschaft von allen Formen einer Entschädigung für irgendwelche Opfer den höchsten Rang haben muß.
Das ist der Maßstab, von dem wir uns bei der Kriegsopferversorgung wohl leiten lassen müssen, weil es sonst sehr schwierig ist, in unserem Lande die Verteidigungsbereitschaft, die wir ja wohl brauchen, im richtigen Sinne zu sehen.Lassen Sie mich zum Thema Verteidigungsbereitschaft noch einmal auf die Debatten über den Verteidigungshaushalt zurückkommen. Der Kollege Dr. Emde hat gesagt, auch dieser Haushalt müsse genau geprüft werden. Was mein Freund Möller hier vorgetragen hat und was ihm einen gewissen Widerspruch unseres Kollegen Strauß zugezogen hat, war ein Hinweis darauf, daß es dabei um mehr geht als lediglich um eine möglichst genaue buchhalterische Prüfung. Hier geht es um langfristige Vorausschau.Sicher ist es richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der NATO zur Aufstellung einer bestimmten Zahl operativ verwendungsfähiger Einheiten verpflichtet ist, daß wir also gewissermaßen von daher rechnen. Das ist aber nur
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Erlerdie halbe Wahrheit; denn bevor wir uns dazu verpflichten, machen wir unsere Vorschläge für die Planung der künftigen Jahre. Darauf kommt es an, daß wir schon bei diesen vorausschauenden Planungen — aus denen heraus übrigens das Beschaffungswesen sich nicht in der Zuständigkeit der NATO, sondern in nationaler Zuständigkeit befindet, genauso wie sich der ganze Nachschubdienst in nationaler Zuständigkeit befindet — den Versuch unternehmen, auch an den Verteidigungshaushalt nach den modernen Grundsätzen wirtschaftlicher Gestaltung und nicht nur im Sinne kameralistischer Sparsamkeit heranzugehen. Auch dort gibt es Möglichkeiten, bei der Entwicklung verschiedener operativer und Waffensysteme zu prüfen, in welchen strategischen Alternativen im Verhältnis zu den Kasten der höchste Nutzeffekt für die Abschreckung erreicht wird.Es gibt ein dickes Buch, das zu einer Art Bibel im amerikanischen Pentagon geworden ist. Es ist eine Art Leitfaden für den Verteidigungsminister McNamara. Den Mann, der es geschrieben hat, hat er zur Leitung der Finanzpolitik in sein Haus hereingeholt. Er ist dort jetzt das, was man „Controller" nennt. Es ist Mr. Hitch, und sein Buch heißt „Economy of Defence in the Nuclear Age", die Wirtschaftlichkeit der Verteidigung im atomaren Zeitalter. Ich will nicht einfach sagen, man kann daraus abschreiben. Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, wir können nicht so unabhängig planen wie die Amerikaner. Aber wir sollten mindestens versuchen, etwas mehr von der Improvisation wegzukommen.Daher erneuere ich den Vorschlag meines Freundes Dr. Möller, daß es notwendig wäre, sich einmal über diese Art langfristiger Vorausplanung der Verteidigung einschließlich ihrer militärischen, finanziellen und wirtschaftlichen Aspekte dort zu unterrichten, wo ein Minister mit dieser Methode offenkundig greifbare Erfolge erzielt hat. Denn er hat im amerikanischen Parlament ohne Widerspruch darlegen können, daß es möglich gewesen ist, mit dem gleichen finanziellen Aufwand eine wesentlich leistungsfähigere Verteidigungsapparatur für die verschiedenen Aufgaben der Vereinigten Staaten von Amerika innerhalb und außerhalb der NATO zur Verfügung zustellen. Ich halte das nicht für bloße Sprüche. Die Zahlen in den Dokumenten über das, was effektiv an bewaffneten Einheiten und Transportmöglichkeiten, an Schiffen, an Waffen damit beschafft worden ist, ergeben eine eindrucksvolle Liste. So meinen wir, das würde sich lohnen, einfach um unserem Steuerzahler das Gefühl zu geben: Dieser große Aufwand, der im Prinzip für die Sicherheit unseres Landes unvermeidlich ist, wird mit einem Höchstmaß an Wirksamkeit gemacht. Das ist es doch wohl, was man redlicherweise verlangen kann. Das kann man nicht nur im NATO-Rat tun. Denn dieser gibt keine Bestellungen auf, sondern nimmt nur einen Teil der Vorausplanung vor, nämlich die Einigung über die Zielvorstellungen der aufzustellenden Verbände und sonst nichts. Das, was davor liegt, nämlich .die Erarbeitung der eigenen Vorschläge, und das, was nachher kommt: das ganze Beschaffungs-, Finanzierungs-,Produktions- und Einkaufsprogramm, und das, was ganz am Anfang steht, nämlich die Entwicklung künftiger Dinge, die es noch gar nicht gibt und die überhaupt noch nicht beim NATO-Rat gelandet sind, das alles entzieht sich nicht unserem Zugriff und sollte infolgedessen im Lichte der Erfahrungen unseres wichtigsten Verbündeten noch einmal sorgfältig studiert werden. Dahin geht unser Vorschlag. Wir meinen ihn sehr ernst und würden uns freuen, wenn Sie ihn aufgreifen könnten.Die Durchführung dieses Vorschlags hat zwar nicht für dieses Jahr, aber für die Entwicklung kommender Jahre unmittelbare Bedeutung. Man muß beizeiten damit anfangen. Von der Durchführung einer rationellen Verteidigungsplanung hängt nämlich für die Bewahrung dessen einiges ab, was Herr Kollege Barzel das gute Geld genannt hat.Über das gute Geld haben wir ja heute auch ein paar Debatten gehabt. Herr Strauß hat den stellvertretenden Vorsitzenden des DGB, Herrn Tacke, etwas attackiert wegen seiner Bemerkung, die Mäßigung der Lohnpolitik im vergangenen Jahre habe sich gar nicht gelohnt. Nun, laßt uns nicht um Worte streiten, schaun wir uns die Zahlen an! Im Jahre 1959 sind die Preise um 1,1 % gestiegen, im Jahre 1960 um 1,6 %, im Jahre 1961 um 2,7%, 1962 um 3,4 % und 1963 um mehr als 3,6%: Das Jahr mit der geringsten Lohnbewegung hat die größte Preissteigerung gebracht. Im Lichte dieser Zahlen ist die Bemerkung des stellvertretenden DGB-Vorsitzenden doch nicht völlig unberechtigt. Man sollte ihr also ernsthaft nachgehen. War vielleicht dieser Teil der Rede des Kollegen Strauß eine Art inoffizieller Kommentar zum Gespräch des Herrn Bundeswirtschaftsministers Schmücker mit der Gewerkschaftsführung? Ich würde es aufrichtig bedauern, wenn das das einzige Echo von den Regierungsparteien zu diesem wichtigen Gespräch sein sollte.
Da wir nun über die Preisentwicklung gesprochen haben und hier Männer aus dem Bankwesen zitiert worden sind, insbesondere um zu beweisen, daß die Preise zwar gestiegen sind, daß aber außerdem untersucht werden müsse, woher — natürlich, das sehe ich ein, es ist immer ganz gut, wenn man weiß, woher; die Armut kommt manchmal von der Powerteh —, darf ich Ihnen auch noch mit einem Bankier dienen. Der Präsident der Landeszentralbank von Baden-Württemberg, Professor Otto Pfleiderer, hat kürzlich laut „Handelsblatt" vom 3. Dezember bei der Eröffnung einer neuen Zweigstelle der Bundesbank folgendes ausgeführt:Wenn man feststellen müsse, daß die Kaufkraft der deutschen Mark, gemessen am Index der Lebenshaltungskosten, sich in den dreizehn Jahren von 1950 bis heute um nicht weniger als 24 % vermindert habe— das war kein sozialdemokratischer Demagoge, ich wiederhole, das hat der Direktor Pfleiderer geäußert —,
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Erlerso sei es für die davon Betroffenen gewiß nur ein schwacher Trost, wennn sie darüber belehrt würden, daß ein nicht unerheblicher Teil der Erhöhung der Lebenshaltungskosten auf legislative und administrative Maßnahmen wie den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und die allmähliche Hinlenkung des Wohnungswesens auf eine mehr marktwirtschaftliche Mietpreisbildung oder die agrarpolitisch motivierte Hochhaltung der Ernährungskosten zurückzuführen sei.Soweit die nicht zu bestreitenden Feststellungen des Bankpräsidenten.
— Das ist ein kleiner Irrtum. Ich habe leider den Zettel mit den Ernährungskosten auf meinem Tisch da unten; sonst würde ich sie Ihnen gleich nennen. Aber da liegen Sie bestimmt schief.Die Verlagerung der Kaufkraft wurde als einer der Gründe hier angeführt. Sicher, das ist einer der Gründe. Das ist aber auch ein schwacher Trost. Denn entscheidend für den Verbraucher ist doch wohl, ob er sich für seine D-Mark weniger als bisher kaufen, mieten oder an Dienstleistungen leisten kann. Das ist es, was für den Verbraucher zählt. Für ihn ist also die gute Deutsche Mark weniger wert geworden, wie verständnisvoll man das auch immer erklären mag. Das ist einfach der Tatbestand.
— Jetzt habe ich von der D-Mark gesprochen, die der einzelne Verbraucher in der Hand hat.Was das steigende Realeinkommen betrifft, so wäre es allerdings gut, einmal in Erinnerung zu rufen, daß wir ohne jene Lohnpolitik, welche zu steigenden Realeinkommen der breiten Massen der Bevölkerung geführt hat, wohl kaum eine so blühende Automobil-, Kühlschrank- und Fernsehindustrie in unserem Lande hätten,
ohne jene Lohnpolitik, die dann, wenn die Gewerkschaften versucht haben, in dieser Richtung zu wirken, auf Ihrer Seite des Hauses im allgemeinen auf erheblichen Widerstand gestoßen ist.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Thema hinzufügen, das auch in dem Hin und Her von eventuellen Steuersenkungen behandelt worden ist. Es wurde hier in merkwürdiger Weise den Sozialdemokraten vorgerechnet, was sie alles für Geld auszugeben gedenken, und gleichzeitig verschwiegen, daß die Bundesregierung offenbar für die Zukunft so viel Gelderwartungen hat, daß sie glaubt, ein Steuersenkungsgesetz für zweineinhalb Milliarden D-Mark verkraften zu können. Das ist doch wohl ein gewisser innerer Widerspruch. Wir lassen durchaus— das ist im Interesse unserer eigenen Forderungen — den Grundsatz gelten, daß unser Steuerrecht einen Umbau im Sinne größerer steuerlicher Gerechtigkeit dringend nötig hat. Das gilt auch und gerade für die von Ihnen mit Recht genannten Mittelschichten. Der sogenannte Mittelstandsbauch z. B. ist ein Ärgernis für Sie wie für uns. Aber wenn der Her Bundesfinanzminister sagt: „Wenn ihr bei der Änderung des Umsatzsteuersystems neue Maßnahmen einführt, dann muß das Ergebnis für mich der gleiche Steuerbetrag sein; sonst lasse ich nicht mit mir reden, weil ich Einnahmeausfälle nicht hinnehmen kann", dann muß man auch bereit sein, zur Herstellung größerer steuerlichen Gerechtigkeit dafür zu sorgen, daß Steuerausfälle an einer Stelle durch erhöhte Steuereinnahmen an anderer Stelle ausgeglichen werden, weil man sonst unrecht hat, wenn man vor den Staatsbürger tritt und sagt: In meinen Kassen habe ich für die 5 dringend notwendigen Ausgaben nicht die ausreichenden Mittel zur Verfügung.
Wie wollen Sie denn die großen Gemeinschaftsaufgaben anpacken, die nicht nur Mittel des Bundes erfordern und zu denen Sie die Länder und die Gemeinden bitter nötig haben, wenn Sie gleichzeitig die finanziellen Fundamente dafür zerstören, ob es sich um Erziehung, Forschung, Gesundheitswesen, Verkehr, Städtebau oder anderes handelt? Überdies hat unsere Gemeinschaft im Interesse der Modernisierung unseres Lebens neue Aufgaben zu erfüllen. Da ist es keine Zeit — ich sage das ganz hart und deutlich —, unserem Volke vorzugaukeln, daß wir den gemeinsamen Lebensstandard steigern können, wenn wir gleichzeitig unseren Wählern für 1965 allgemeine Steuersenkungen ohne Ausgleich versprechen.
Das läßt sich nicht miteinander vereinbaren, oder aber die Regierungserklärung Ihres eigenen Bundeskanzlers besteht nur aus leeren Worten, und übrig bleibt das Wahlversprechen der Steuersenkung und nichts für die anderen großen Zwecke der Gemeinschaftsaufgaben, gegen deren Notwendigkeit ja auch von Ihnen hier eigentlich kein Widerspruch zu hören war.Hier wird das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika erwähnt. Nun gut. Wozu wird dort eine Steuersenkung betrieben? Um fünf Millionen Arbeitslosen allmählich zur Beschäftigung zu verhelfen; während wir bei uns nach übereinstimmender Meinung des Hauses doch zur Zeit keine Massenarbeitslosigkeit, sondern Überbeschaftigung haben. ist das nicht ein Unterschied.?
— Natürlich; sicher habe ich davon etwas gehört; so dumm bin ich gar nicht.
— Das amerikanische Steuersenkungsprogramm hat aber genau dieses Ziel der Mobilisierung zum Zwecke der Ingangsetzung eines neuen Impulses in der Wirtschaft, zur Gewinnung neuer Arbeitsplätze.
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4890 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
ErlerUnd wenn wir schon mal sagen, was wir alles schon gehört haben — wissen Sie denn, von welch hohen Steuensätzen die Amerikaner eigentlich herunter wollen? Die Steuersätze bei den direkten Steuern gehen dort ibis auf 90 %.
— Sie sprechen vom Durchschnitt; wir unterhalten uns über die Spitzeneinkommen, die bei uns bei 53 % auslaufen, in den Vereinigten Staaten von Amerika bei beinahe 90%.
Selbst nach Senkung der amerikanischen Steuersätze sind sie immer noch höher als bei uns.Was allerdings völlig anders ist bei dem internationalen Steuervergleich, das ist:
daß unsere Belastung, die hinsichtlich der Steuerbelastungsquote ungefähr auf gleicher Höhe mit der in den meisten anderen Ländern liegt, im Schnitt für die Masse der Bürger höher als in den Vereinigten Staaten ist, daß unsere Belastung in einem höheren Ausmaße als bei den im Wettbewerb mit uns stehenden Partnern eine Belastung der Masseneinkommen durch Verbrauchsteuern, Zölle und indirekte Steuern ist.
Deswegen sollen wir ganz nüchtern hier feststellen: Wer bereit ist, dem Mittelstand zu helfen, der muß wissen, daß es für diesen hilfsbedürftigen Mittelstand eine Obergrenze gibt — über deren Abgrenzung wir uns dann ernsthaft miteinander unterhalten müssen —, weil es tatsächlich Einkommen und Vermögen gibt, die keiner fühlbaren Entlastung bedürfen. Das ist unbestritten.
— Sicher! Keine allgemeinen Steuererhöhungen, sondern Ausgleich im Sinne größerer steuerlicher Gerechtigkeit; jawohl. Nehmen wir einmal den interessanten Fall der Abzugsfähigkeit der Vermögensteuer. Herr Kollege Strauß hat behauptet, wenn wir diese Abzugsfähigkeit beseitigen, dann geht der Mittelstand zugrunde.
— So haben Sie es aber hier dargestellt; dann haben Sie es so simplifiziert dargestellt. Unsere Vorlage enthält ausdrücklich die Vorschrift, daß gerade für alle mittelständischen Einkommen die Abzugsfähigkeit bei bestimmten Vermögen mittelständischer Größenordnung erhalten bleibt und daß lediglich bei den idarüber hinausgehenden Beträgen die Vermögensteuer nicht mehr abgezogen werden soll, weil dort durch die Steigerung der Progression bei der Einkommensteuer in wachsendem Ausmaße die Vermögensteuer gar nicht vom Steuerpflichtigen, sondern auf dem Umweg über den Abzug bei der Einkommensteuer vom Finanzamt entrichtet wird. Das ist ungerecht, das muß man beseitigen.
Herr Abgeordneter Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Erler, ist Ihnen klar, daß mit dieser steuerlichen Änderung in Verbindung mit der Änderung des Bewertungsgesetzes sich für ,das, was man ohne Zweifel „gewerblichen Mittelstand" nennt, steuerliche Mehrbelastungen ergeben, deren Auswirkung auf seine Existenzfähigkeit geprüft werden muß, bevor man so einfache, simplifizierte Feststellungen trifft?
Der gewerbliche Mittelstand und das Bewertungsgesetz in dieser Frage haben wohl sehr wenig miteinander zu tun.
Das Bewertungsgesetz ist noch nicht da. — Na ja, gut, mögen die Steuersachverständigen ihre Diskussion untereinander austragen.
— Meine Damen und Herren, ich habe schon in mancher steuer- und finanzpolitischen Debatte hier durchaus mitgesprochen. Ich möchte mich nur gegen eines wehren, daß man nämlich in diesem Hause, wenn jemand, dem man das Brandmal des Wehrexperten aufgedrückt hat, sich zu steuer- und finanzpolitischen Fragen äußert, weil er damit in seinen früheren Beruf zurückkehrt — ich bin nämlich sogar einmal Betriebsprüfer gewesen —, behauptet, er verstehe von diesen Dingen nichts.
Das nur am Rande.
Beim Bewertungsgesetz müssen Sie doch prüfen: was wird aus der Gewerbesteuer, was wird aus den Hebesätzen? Das sind doch Dinge, über die Sie heute, wo Sie bezüglich Höhe, Gestaltung und Auswirkung auf die Steuertarife selber noch keine Vorstellungen haben, hier nicht irgendwelche Berechnungen anstellen können. Das ist doch einfach Unfug.
Meine Damen und Herren, es ist dann hier noch auf unsere Vorschläge für die Inanspruchnahme des Kapitalmarktes einiges gesagt worden. Ich möchte auf einen bescheidenen Sachverhalt aufmerksam machen, der vielleicht Ihren Eigentumspolitikern zu denken geben sollte. Solange vermögenswirksame Ausgaben des Bundes — und das ist wirklich ein
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ErlerPunkt, der in erheblichem Ausmaße mit der gesamten Steuerbelastung zusammenhängt — von Ihnen über die Steuern den Steuerzahlern des laufenden Jahres aufgenötigt werden, berauben Sie allerdings in diesem Ausmaß die Gesamtheit der Steuerzahler der Möglichkeit der Mitwirkung an eben jener Eigentumsbildung, die Sie nämlich auf diese Weise wieder bei der öffentlichen Hand konzentrieren. Damit verstoßen Sie gegen die Grundsätze Ihrer eigenen Eigentumspolitik. Wir werden auch bei den künftigen Haushaltsberatungen auf diesen Punkt immer wieder zurückkommen, weil wir es nicht für vertretbar halten, daß die Lasten des Aufbaues von Einrichtungen für eine ferne Zukunft ausschließlich der jetzt Steuer zahlenden Bürgerschaft aufgebürdet werden. Dann haben Sie auch Margen frei für eine ganze Reihe anderer Aufgaben.Herr Kollege Strauß hat bei der ersten Erwähnung der Marktwirtschaft das Beiwort „sozial" weggelassen. Das tauchte bei ihm erst etwas später wieder auf. Das hat seine guten Gründe, weil nämlich die soziale Komponente der Marktwirtschaft, ohne die sie keine soziale Marktwirtschaft wäre, gerade durch meine politischen Freunde und durch die Gewerkschaften in unsere Gesellschaftswirklichkeit in sehr, sehr vielen Fragen hineingeboxt werden mußte.
— Seien Sie doch nicht so hochmütig; muß das sein?
— Na also; danke schön!Es war z. B. der frühere Bundeskanzler Dr. Adenauer, der uns aus einem wichtigen Anlaß in unserer Parteigeschichte folgendes telegraphiert hat:Ihre Partei ist aus der soziologischen und politischen Entwicklung nicht wegzudenken. Ihre Verdienste um den freiheitlich-demokratischen Aufbau unseres Vaterlandes können von niemandem geschmälert werden.Das nehmen wir mit Fug und Recht auch für die hinter uns liegenden Fragen in bezug auf die soziale Komponente unseres freiheitlichen Staatswesens als Leistung in Anspruch.
Herr Kollege Strauß hat dann noch einige Bemerkungen zur Arbeitszeitverkürzung gemacht. Nun, die Diskussion, um die es sich zur Zeit draußen im Lande handelt, ist ja keine Diskussion über neue Arbeitszeitverkürzungen, sondern eine Diskussion um die Durchführung einer bereits vereinbarten maßvollen Arbeitszeitverkürzung.
Nur darum geht es. Ich möchte in allem Ernst darauf aufmerksam machen, daß wir bei der Diskussion über diese Frage eine andere nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Ich meine den bedauerlichen Tatbestand der Frühinvalidität in unserem Lande. Ich bin fest davon überzeugt — und viele Mediziner sind mit uns einer Meinung —, daß das wachsendeTempo in unserem Wirtschaftsleben mit der Frühinvalidität in einem ursächlichen Zusammenhang steht. Das ist nicht die einzige Ursache, es gibt eine Ursachenkette, aber es ist eine der Ursachen. Angesichts der stärkeren nervlichen Belastung — es handelt sich ja nicht mehr um körperliche Belastung der arbeitenden Menschen — im modernen Produktionsprozeß ist zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit — damit die Menschen eben nicht vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden, damit sie im ganzen mehr Stunden arbeiten können, als wenn sie vorzeitig verschlissen werden, weil sie vorher zu lange gearbeitet haben — eine maßvolle Berücksichtigung dieser Bedürfnisse, über deren Grenzen auch wir uns im klaren sind, unvermeidlich.Ich frage mich, ob die Erörterung dieser Frage in diesem Hause ein Vorläufer für denkbare Eingriffe des Gesetzgebers in die Autonomie der Sozialpartner sein sollte. Ich möchte Ihnen heute schon ankündigen, daß wir uns jedem Versuch in dieser Richtung entschlossen widersetzen würden.
Im übrigen finde ich es recht seltsam, daß Sie zwar die Steuersenkungen von den Vereinigten Staaten übernehmen wollen, aber die Arbeitszeitbedingungen der amerikanischen Wirtschaft offenkundig nicht.
Wir sind uns darüber einig, daß es sich bei dem Staat um uns selber handelt, daß die Bürger, die die Leistung in Anspruch nehmen, dieselben Bürger sind wie die Gesamtheit der Bürger, die die Leistungen aufbringen. Es kommt also darauf an, das, was von der Bürgerschaft erarbeitet wird und in öffentliche Kassen fließt, mit dem höchsten Nutzeffekt so sparsam wie möglich auszugeben. Aber das Notwendige auch zur Gestaltung unserer Zukunft, die der Kollege Strauß hier heraufbeschworen hat, muß getan werden, das kann nicht unterlassen werden.So sind z. B. Investitionen im Erziehungswesen kein hinausgeworfenes Geld, sondern Investitionen zur Steigerung unserer zukünftigen Leistungskraft und zu besseren Lebenschancen für die heranwachsende Generation.
Ich bin überzeugt, daß wir, wenn wir in diesen Fragen an die Einsicht unserer Bürger appellieren, feststellen werden, daß der Gemeinsinn in unserem Lande nicht ausgestorben ist, daß man sehr wohl weiß, daß zu der Stabilität, die wir brauchen, auch die Bereitschaft gehört, neue Aufgaben anzupacken, die nur angepackt werden können, wenn wir eine vorausschauende Politik, die nicht der Stunde verhaftet ist, sondern die auch an morgen und übermorgen denkt, miteinander betreiben. Es ist ein Unterschied, ob man Ruinen wiederaufbaut oder ob man sich darum bemühen muß, ein wiederaufgebautes Wirtschaftsleben auf vollen Touren im Wettbewerb mit anderen Völkern zu halten. Es kommt darauf an, daß wir dann von den modernen Instrumenten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens Gebrauch machen.
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4892 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
ErlerDie ersten Anfänge haben wir ja beim Herrn Bundeskanzler, als er noch Bundeswirtschaftsminister war, erlebt. Er hat sich zum erstenmal bereitgefunden, obwohl ihm das früher gar nicht lag, einen Jahreswirtschaftsbericht vorzulegen. Ich hoffe nach den Einsichten, die heute Herr Strauß hier verkündet hat, daß wir demnächst doch zu volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und einer gewissen globalen Vorausschau im Sinne des Nationalbudgets kommen können. Das ist keine Auflagenwirtschaft, sondern es steckt nur ungefähr ab, in welchen Rahmen die Regierung glaubt, daß die Dinge sich entwickeln werden; das wissen Sie genau wie ich. Nur so werden wir fähig werden, unsere inneren und äußeren Aufgaben zu meistern. Ohne die Bestellung unseres inneren Hauses, die ständige Modernisierung unserer Gesellschaft, die Anpassung an die Bedingungen, wie sie uns in der industriellen Umwelt durch andere Länder aufgenötigt werden, werden wir nicht imstande sein, aus unserer Wirtschaft all das herauszuschaffen, was wir brauchen, um im Verein mit unseren Freunden unsere außenpolitischen Aufgaben meistern zu können, als da sind: die Freiheit zu sichern, den Frieden zu wahren und mit politischen Mitteln unter Verzicht auf Gewalt .das Selbstbestimmungsrecht für das ganze deutsche Volk durchzusetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast wäre ich geneigt, wie der alte Oldenburg-Januschau zu beginnen, der im Reichstag einmal angefangen hat: „Da sprach der alte Pelikan: Nun, Kinder, laßt mich auch mal ran!"
Nach dem, was wir heute an sehr interessanten Reden hier gehört haben, ist es für einen routinierten, für „alle Ewigkeit verdammten" Haushaltsredner schwer, überhaupt noch neue Momente ausfindig zu machen und auf einzelne Punkte näher einzugehen. Ich bin auch nicht entschlossen, hier etwa noch eine einstündige Rede zu halten, geschweige denn, eine solche zu verlesen. Ich werde vielmehr nur einige Bemerkungen zu einzelnen Punkten machen, die vor allen Dingen in der Rede meines Vorredners angeklungen sind und die unbedingt einer Entgegnung bedürfen. Es tut mir furchtbar leid, Herr Kollege Dr. Möller, daß sie dabei zu kurz kommen werden; denn alles, was ich mir vorgenommen hatte, zu Ihrer Rede zu sagen, ist natürlich jetzt schon in etwa involviert, zum Teil in den Ausführungen meines Fraktionsfreundes Dr. Strauß vorweggenommen worden.
Ich möchte zunächst zwei Fragen beantworten, die Sie, Herr Dr. Möller, zu Beginn mir persönlich stellten, die Sie aber auch an die Fraktion stellten. Die erste Frage betraf die rechtzeitige Einbringung des Haushalts. Ich erkläre Ihnen frank und frei, daß auch wir keineswegs sehr glücklich darüber sind, daß dieser Haushalt eingebracht worden ist, nachdem das Haushaltsjahr angelaufen war. Herr Kollege Möller, Sie werden, glaube ich, mit mir darin einig gehen, wenn ich Ihnen gleichzeitig sage, daß man sich nicht nur bei uns, sondern auch in den Landesparlamenten ernstlich fragt, ob die Verlegung des Beginns des Haushaltsjahres auf den 1. Januar auf die Dauer gesehen eine glückliche Sache war oder nicht. Das wissen wir nicht. Eines scheint mir aber sicher zu sein: ohne eine Änderung der Ferienordnung dieses Hauses werden wir aus diesem Dilemma in den nächsten Jahren schwerlich herauskommen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege, geben Sie nicht zu, daß trotz des Termins des 1. Januar die Länderparlamente ihre Haushalte wesentlich früher, zum Teil sogar gesetzesmäßig verabschieden, was bei uns nicht möglich ist?
Da die Länderetats sich zu 80 bis 90 % aus Personalhaushalten zusammensetzen, ist die Situation bei den Ländern einfacher.Nun gebe ich offen zu, es ist nicht ganz einfach, angesichts der politischen Ereignisse, des Kanzlerwechsels, der Regierungsneubildungen — und das innerhalb von zweieinhalb Jahren zweimal — einen Haushalt pünktlich vorzulegen. Ich sehe das Dilemma der Regierung. Ich will Sie deswegen nicht übermäßig schelten. Ich möchte nur feststellen, daß wir wahrscheinlich an eine Änderung der Ferienordnung denken müssen, wenn wir mit diesem Problem zu Rande kommen wollen.Das zweite, wonach Sie gefragt haben: wie wir zu den — wie Sie das ausdrückten — „Kastrierungen" der Haushaltsrechte des Parlaments stehen. Dazu möchte ich Ihnen ganz offen folgendes sagen. Uns scheint die Stabilität der Regierung, wie sie durch die Verfassung von 1949 garantiert worden ist, generell mindestens ein ebenso wertvolles Element der Stabilität des Staatswesens zu sein wie das, was Sie mit Recht für das Parlament fordern. Auf der anderen Seite muß ich an Sie die Frage richten: Glauben Sie nicht, daß mit der von Ihnen gewaltig forcierten Zweckbindung der Mittel genau dasselbe innerhalb des Haushalts bewirkt worden ist, nämlich eine wesentliche Einschränkung der Manipulierfähigkeit dieses Parlaments? Das werden Sie nicht leugnen können.Nun noch ein paar Bemerkungen zu einer Reihe von Problemen, die angesprochen worden sind, bevor ich mich auf meine eigentliche Bemerkung konzentriere, die ich ursprünglich machen wollte. Hier ist das Problem der Preise und Löhne und gleichzeitig das Steuerproblem angesprochen worden. Zu dein eigentlichen Steuerproblem werden Freunde meiner Fraktion Herrn Kollegen Erler noch antworten. Ich möchte zu dem Punkt „Preise und Löhne" in Ergänzung dessen, was Herr Dr. Strauß sagte, noch folgendes hinzufügen. Ihr Finanzexperte Dr. Troeger, den ich außerordentlich hoch schätze und der heute schon zitiert worden ist, hat in einer früheren Schrift — das Datum ist mir nicht gegenwär-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4893
Dr. Vogeltig, ich erinnere mich aber genau an sie — meinem Dafürhalten nach mit Recht bestritten, daß der üblicherweise genannte Satz für die Entwertung der D-Mark, nämlich 24 0/0, zutrifft; er hält ihn in Wirklichkeit für nur halb so hoch. Eine sehr interessante Geschichte, auf die man noch näher eingehen könnte. Aber ein Argument — Streit hin, Streit her — kann von niemandem bestritten werden, nämlich die Tatsache, daß alle deutschen Sparer, gemessen an den Verhältnissen in allen vergleichbaren Ländern der gleichen Währungshärte, pro Jahr 2 % mehr Zinsen erhalten haben, als es in den betreffenden Ländern, vielleicht nur mit Ausnahme von Osterreich, der Fall gewesen ist.
Das ist unbestritten, denn alle unsere Anleihen, alle unsere Zinsen für Hypotheken usw. liegen im Durchschnitt um ungefähr anderthalb bis zwei, manchmal sogar mehr Prozent höher, als es in den vergleichbaren Ländern der Fall ist. Wenn Sie das für die Jahre seit 1948 zusammenrechnen, kann diese Regierung, glaube ich, für sich in Anspruch nehmen, daß der Sparer keine Einbuße seines ersparten Kapitals erlitten hat, und das scheint mir eine eminent wichtige Feststellung zu sein.
Eine zweite Bemerkung zu dem, was hier noch genannt worden ist: Ich möchte namens meiner Freunde mit aller Bestimmtheit erklären: Die CDU-Fraktion hat niemals von sich aus das Recht des Arbeiters bestritten, mit steigenden Zuwachsraten und wachsenden Gewinnen der Wirtschaft auch wachsende Einnahmen zu haben.
Dafür haben wir uns auch in diesem Hause immer eingesetzt. Das Problem lag aber ganz woanders. Das Problem lag bei der Schere oder, sagen wir, bei der Steigerung der Löhne über die normale Wachstumsrate und die Produktivitätsrate der Wirtschaft hinaus. Das war das Problem! Ich habe hier öfters erklärt: Solange die überaus erfreuliche Spartätigkeit der breiten deutschen Massen, die ja vor allem auch im Jahre 1963 gegenüber der schon hohen Quote von 1962 einen neuen Rekord darstellte, anhält, kann dieser sonst unweigerlich inflationäre Effekt abgemildert werden, indem mehr gespart wird, indem das Spargeld der Wirtschaft wieder zur Verfügung gestellt wird. Aber, meine Damen und Herren — und hier muß ich dem Kollegen Erler mit aller Energie widersprechen —, das amerikanische Beispiel würde ich hier nicht anziehen.
Herr Kollege Dr. Deist, Sie heben ja gerade auf diesen Umstand besonders ab. Jeder von uns weiß, daß gerade in Amerika das System der closed shops usw. auf der einen Seite eine heute bereute allzu schnelle Verkürzung der Arbeitszeit und auf der anderen Seite bei der Kapitalstärke der Wirtschaft der Vereinigten Staaten eine noch schnellere Automation zur Folge hatte mit dem Endeffekt, daß es dort jetzt vier Millionen Arbeitslose gibt. Ich glaube,wir sollten unser Volk vor einer solchen Folge bewahren.
Wir sollten vielmehr einen mittleren Weg gehen.
Herr Kollege Dr. Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, gern!
Trifft es nicht zu, Herr Dr. Vogel, daß in Amerika die closed shops seit dem Jahre 1947 illegal sind?
Wie das in der Praxis aussieht, will ich hier lieber nicht vertiefen. Ich möchte auch — dabei stütze ich mich einmal auf das Buch meines verehrten Freundes Goetz Briefs — bestimmte Praktiken des amerikanischen Gewerkschaftslebens unter keinen Umständen auf Deutschland, auf unsere Verhältnisse übertragen.
Ich glaube, die Amerikaner leiden selbst auch darunter. Bitte, Herr Dr. Deist!
Herr Kollege Vogel, würden Sie mir nicht darin zustimmen, daß es angesichts der verschiedenartigen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika und nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa höchst fragwürdig ist, solche Vergleiche zu ziehen?
— Nein, nein! Es ist eine Replik auf Vergleiche, die vorher von Ihrer Seite gezogen wurden. Herr Vogel, ich frage nicht diesen oder jenen, sondern ich frage, ob es nicht zweckmäßig wäre, bei der Unterschiedlichkeit der Verhältnisse auf solche Vergleiche besser zu verzichten, weil sie immer zu Fehlschlüssen führen müssen.
Herr Dr. Deist, ich wäre um so lieber mit Ihnen einer Meinung, wenn ich nicht gerade von Ihnen darauf angesprochen worden wäre und ich mich deshalb für verpflichtet hielt, auf Ihren Vergleich etwas näher einzugehen.Nun komme ich zu einem sehr ernsten Problem, nämlich zu den Verteidigungskosten und zu den entsprechenden Folgerungen, die hier von den Vorrednern Dr. Möller und Erler gezogen worden sind. Fast hätte ich allerdings — Herr Dr. Möller, ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen — die Furcht gehabt, daß Sie unter Umständen am Ende Ihrer Rede noch eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben befürworten würden; aber Sie haben mich dieser Befürchtung enthoben. Eines möchte ich nun einmal mit aller Deutlichkeit erklären im Anschluß an das, was ich hier bereits vor drei oder vier Jahren, glaube ich, an der gleichen Stelle ausgeführt
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4894 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. Vogelhabe. Übersehen Sie doch bitte einen Umstand nicht. Was ist denn nach 1955 geschehen? Wir haben bis 1955 Besatzungskosten gehabt, und zwar in Höhe von 7,2 Milliarden DM im Jahre 1955. Danach fingen wir mit der Verpflichtung an, 12 Divisionen aufzustellen. Jeder von uns weiß, daß wir in den darauf folgenden Jahren gezwungen waren — um unser Gesicht gegenüber unseren Verbündeten zu wahren —, Beträge für die Verteidigung einzusetzen, obwohl wir wußten, daß wir sie nicht würden ausgeben können. Wir haben das einfach tun müssen, um zu verhindern, daß man höhere Besatzungskosten oder die Weiterzahlung von Besatzungskosten von uns forderte: Und was entstand dann? Dann entstand der berühmte „Juliusturm", über den auch heute noch lebhaft gestritten wird. Aber eines ist sicher: daß in der Zwischenzeit die eigentlich für die Ausrüstung dieser Divisionen bestimmten Summen vorwiegend sozialen Zwecken zugeführt worden sind und daß sie heute fehlen. Das ist doch wichtig, wenn man schon Verteidigungslasten aufzählt und ihr Wachsen in den letzten Jahren der Reihe nach schildert. Wären die damals für diese Zwecke von dem Hause beschlossenen Summen nicht anderen Zwecken zugeführt worden, dann hätten wir heute nicht diese steil ansteigende Kurve der Verteidigungsausgaben; dann hätten wir auch manche Scherereien nicht, die wir hier heute zu beklagen haben.Aber noch ein Zweites. Wenn Sie die Verteidigungsausgaben weglassen und dann einmal einen Vergleich der Haushalte von 1950 bis heute anstellen — Sie können auf der Seite 124 des wie immer ausgiebig und glänzend redigierten Finanzberichts für dieses Jahr nachlesen —, dann werden Sie finden, daß die Sozialausgaben nicht abgefallen sind, sondern sich im Gegenteil von 38 auf 39 % erhöht haben. Wenn Sie also mit uns einig sind — und Sie sagen, daß Sie es sind —, daß Sie die Verteidigungsausgaben für absolut und unabdingbar halten — und sie auch halten müssen —, dann müssen Sie auch anerkennen, daß auf der anderen Seite der soziale Teil nicht zu kurz gekommen ist. Das wollte ich hier einmal ausdrücklich festgestellt haben.
Wir hätten es wahrscheinlich in der Haushaltsdebatte wesentlich schwerer, wenn die Regierung sich. — sagen wir mal — unklarer geäußert hätte, als sie es getan hat. Aber nun könnte ich beinahe, wie das der amerikanische General Taylor, glaube ich, getan hat, hier auch den Korinther-Brief zitieren und sagen: „Wenn die Trompete nur ein undeutliches Signal gibt, wer wird sich dann zum Streite rüsten?" Nun, ich muß sagen, der Trompetenstoß, der von Professor Erhard ausgestoßen worden ist, läßt an Klarheit und Deutlichkeit in diesem Punkt nichts zu wünschen übrig. Wir wissen, woran wir mit 60,3 Milliarden DM sind. Wir wissen, daß der Grundsatz — das möchte ich ausdrücklich noch einmal sagen —, 60,3 Milliarden DM auf der voraussichtlichen Wachstumsrate aufzubauen, vernünftig, durchdacht und jederzeit vertretbar ist. Nicht die Wünsche können entscheidend sein, sondern die volkswirtschaftlicheLeistungsfähigkeit und ihr Zuwachs müssen die Ausgaben von unserer Seite aus bestimmen.Nun einiges zu dem Problem der Umschichtungen, wie dieses schöne neue Wort heißt, das jetzt in das Vokabular der Haushaltsreden hineingekommen ist. Darauf muß doch etwas ausführlicher eingegangen werden. Wodurch sind denn die Umschichtungen entstanden? Gegenüber einem meinem Dafürhalten nach sehr gefährlichen Ausdruck in einer Fachzeitschrift, wo es sogar hieß, wir hätten die Summen „verschoben" — dieser Ausdruck ist da gebraucht worden —, möchte ich einmal folgendes feststellen. Keine der Ausgaben, die durch diese sogenannte Umschichtung entstanden sind, hat dem Willen des Parlaments in irgendeiner Weise entgegengestanden. Vielmehr handelt es sich nur um die Umschichtung zugunsten von Ausgaben, die dieses Hohe Haus ausdrücklich beschlossen hatte.Stellen Sie mit mir bitte einmal folgende Berechnung an. Wenn der Verteidigungshaushalt von 1962 auf 1963 um rund 3 Milliarden DM wuchs und wenn der Haushalt 1963 leider erst nach dem Ablauf von sechs Haushaltsmonaten Gesetz wurde, war es meiner Ansicht nach eine durchaus lobenswerte Handlungsweise des Verteidigungsministeriums selbst, sich nach der Decke zu strecken und ein halbes Jahr lang nur ein Zwölftel der Ausgaben von 1962 auszugeben. Aber jeder Kundige wußte doch, daß in dem nächsten halben Jahr unmöglich alles das zusätzlich hätte ausgegeben werden 'können, was formal von uns beschlossen worden war. Bedenken Sie, daß 'die Summe der Umschichtungen — sie beträgt ja noch nicht einmal 10 Vo der Mehrbewilligungen — fast genau dem entspricht, was durch diese natürliche Einschränkung infolge des verspäteten Inkrafttretens ,des Haushalts zwangsläufig nicht ausgegeben werden konnte.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Hermsdorf, uns wird niemals und uns kann gar nicht wohl dabei sein. Es handelt sich aber um eine zwangsläufige Angelegenheit Sie war meinem Dafürhalten nach unvermeidlich. Jeder Bundesfinanzminister muß meiner Meinung nach das natürliche Bestreben haben, seinen Haushalt, so gut er kann, schon im voraus zu entlasten. Er wäre ja töricht, wenn er das nicht täte. Sie würden es genauso tun, Herr 'Kollege Hermsdorf, wenn Sie einmal Bundesfinanzminister wären. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß Sie es genauso machen würden.Ich würde mich auch hüten, die Haushaltsabteilung des Bundesverteidigungsministeriums etwa dafür zu schelten, daß sie die Sparsamkeit sogar so weit trieb, alle Ausgaben über 50 000 DM an sich zu ziehen und damit noch einen erhöhten Druck auf die Ausgaben des Verteidigungsministeriums auszuüben. Wir freuen uns, daß man dort die Gebote der Sparsamkeit so ernst genommen hat, und ich möchte hier in aller Form erklären, daß uns eigentlich gerade dieses Beispiel der Umschichtung zeigt, daß auch innerhalb des Verteidigungsministeriums sehr sparsam mit den Beträgen gewirtschaftet worden ist, die das Hohe Haus bewilligt hat.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4895
Dr. VogelDas enthebt uns natürlich nicht der Notwendigkeit, nach wie vor auch im Haushaltsausschuß darauf zu achten, daß bei der Verteidigung nichts überflüssig ausgegeben wird. Aber, Herr Kollege Erler, eines möchte ich hier doch noch einmal nachtragen, und eine Reihe von Fragen möchte ich hier doch noch einmal stellen. Wer hat im Haushaltsausschuß seinerzeit die stärksten Kürzungsanträge gestellt? Wer hat den Antrag gestellt, die zehn Zerstörer zu streichen, die ursprünglich auf der Planliste waren? Wer hat die Anträge auf Streichung von Stellen für Generäle gestellt? Wer hat verhindert, daß in der ersten damaligen großen Ankaufswelle meinem Dafürhalten nach veraltetes Material gekauft wurde? Es handelte sich damals um einige Milliarden. Wir nehmen für uns in Anspruch, daß wir diese Anträge gestellt haben. Sie wissen das und sind Zeugen dafür. Wir werden das auch in Zukunft so halten und werden uns deswegen auch dagegen wenden, daß man landauf, landab 'erklärt, wir machten beim Verteidigungshaushalt einfach die Augen zu und genehmigten blindlings, was man uns da vorsetze. Das ist einfach nicht richtig, und Sie wissen, daß das nicht richtig ist.
— Ich danke Ihnen für das Kompliment, Herr Wehner!Nun lassen Sie mich noch etwas zu der Kriegsopferversorgung sagen. Meine Fraktion hat in ihrer Erklärung vom Dezember klar dazu Stellung bezogen. Ich wiederhole noch einmal: wir werden uns im Haushaltsausschuß schon am 16. Januar daranmachen. Sie haben schon einzelne Bemerkungen von Kollege Dr. Emde gehört, und ich kenne auch andere Quellen, wo man unter Umständen etwas heranholen kann. Daß das natürlich nicht ohne Streichungen an anderen Stellen abgehen 'wird und natürlich nicht, ohne daß sich Unannehmlichkeiten mit den Betroffenen — oder den hinter diesen Personen Stehenden — ergeben werden, das allerdings müssen auch die Kriegsopfer wissen; und das sollen sie auch wissen, daß das nicht so ganz einfach gehen wird. Daß der Haushaltsausschuß total überfordert war, an einem Haushalt im voraus Streichungen vornehmen zu sollen, der ihm überhaupt noch nicht vorgelegen hatte, sollte in diesem Hause auch nicht bestritten werden..Ein paar Worte noch zur Schuldenaufnahme. Ich habe vor mir die genaue Aufgliederung der 11 Milliarden DM — der Bundesfinanzminister hat diese Zahl genannt —, die die öffentliche Hand 1964 für sich in Anspruch nehmen will. Es sind 2,2 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt, Lastenausgleichsfonds 0,5, Bahn 1,2, Post voraussichtlich 0,8 Milliarden, und dann die Länder — ich rechne die außerordentlichen Haushalte zusammen — 2,7 Milliarden und, nicht zuletzt, die Gemeinden mit 3,5 Milliarden. Ich gehe mit dem Kollegen Möller in der Einschätzung der Leistungsfähigkeit unseres Kapitalmarktes ungefähr einig. Aber im Grunde genommen war das, was Sie sagten, eine Bestätigung dessen, was ich — Sie erinnern sich? — hier warnend vortrug, als ich Ihnen zurief, Sie sollten den Bogen nicht überspannen und der Wirtschaft die Summen nicht entziehen, die sie zwangsläufig braucht, um ihre Verpflichtungen zu erfüllen und das herzugeben, woraus überhaupt ein Sozialhaushalt bestritten werden kann.Dazu einige Zahlen. 1963 gingen die Kapitalerhöhungen der Aktiengesellschaften gegenüber 1962 um ein volles Drittel auf 460 Millionen DM — eine winzige Summe im Grunde genommen — zurück. Effektiv wurden nur 545 Millionen DM, d. h. die Hälfte des sehr geringen Aufkommens von 1962, in jungen Aktien investiert. Umgekehrt aber stieg. der Erwerb von festverzinslichen Werten von 12 auf 16 Milliarden DM. Das ist nach meinem Dafürhalten eine Übersteigerung zuungunsten der Wirtschaft.Die Unterkapitalisierung der Wirtschaft wird von niemandem — höchstwahrscheinlich auch nicht von Ihnen, Herr Dr. Deist — bestritten werden. Ich bin. überzeugt, daß manche sehr unerfreulichen Ereignisse bei großen Firmen im vergangenen Jahr ein deutlich sichtbares Zeichen auch dieser Unterkapitalisierung sind. Eine Unterkapitalisierung in einer jetzt zusammenwachsenden EWG und bei den kommenden großen Zollabbauten dm Zuge der Kennedy-Runde wird ein ungeheuer ernstes Problem im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der Zukunft darstellen.Dazu noch ein zweites, das dazugehört, worüber ich ursprünglich später sprechen wollte. Diese Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ist um so mehr gefährdet, als auch gleichzeitig unsere Wirtschaft nicht im entferntesten die gleichen Möglichkeiten hat, ihre Ausgaben für Forschung und für . Entwicklung von der Steuer abzusetzen, wie 'die Wirtschaft in vergleichbaren Ländern.
Auch dazu einige Vergleichsziffern. Sie können sie nachlesen in „Christ und Welt", in der Nummer vom 20. Dezember, wo sie Wannenmacher dankenswerterweise einmal zusammengestellt hat. Sie stammen, glaube ich, aus dem Finanzbüro der Firma Siemens. Während bei uns die Selbstaufbringungsquote der Wirtschaft 73 % beträgt, liegt sie in Frankreich ungefähr bei der Hälfte, nämlich bei 38 % hier stehen wir vor einem Problem, das wir bei allen künftigen Erörterungen steuerlicher Änderungswünsche unter keinen Umständen aus dem Auge verlieren dürfen, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem internationalen Markte nicht schmälern wollen.Noch eine Bemerkung zu Herrn Dr. Möller, der uns hier vorgeworfen hat, wir machten Ankündigungen über Steuersenkungen nur vor Wahlen. Nun, als wir 1958 die letzte große Steuersenkung machten, war das bekanntlich ein Jahr nach der Wahl von 1957. Ich glaube, man kann uns keineswegs vorwerfen, daß damals diese gewaltige Steuersenkung, die rund 4 Millionen Arbeitnehmer vom
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4896 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. VogelGang zum Finanzamt befreit hat, ein Wahlgeschenk gewesen sei.
— Moment mal, „der Wahlkampf bestritten"? Sie hatten uns aber vorgeworfen, wir machten das, um Wähler zu angeln. Ich stelle nur fest, daß das nicht der Fall war.Ich möchte nun, weil der Vorwurf auf die Länder ausgedehnt worden ist, klar feststellen: In diesem Hohen Hause können keine Steuersenkungen ohne Zustimmung der Länder beschlossen werden. Und auch das möchte ich feststellen: Die Länder hatten zugestimmt; Ich möchte gleichzeitig feststellen, daß die Zuweisungen der Länder an die Gemeinden von 1960 zu 1961, 1962 und 1963 von einem Jahr zum anderen enorm gestiegen sind. Auch das sind unbestreitbare Feststellungen. Man soll uns also hier nicht vorwerfen, wenn wir einen solchen Plan im Auge behalten, daß wir das dann sozusagen zu Lasten der Gemeinden tun wollten.Eine Bemerkung zu unseren Außenhandelsziffern! Meine Damen und Herren, man sollte sich nicht von der ungewöhnlichen Wachstumsrate unseres Außenhandels täuschen lassen. Der Herr Bundeskanzler hat dazu schon das Notwendige ausgeführt: daß der zu erwartende große Überschuß von über 5 Milliarden DM im Grund genommen zu einem wesentlichen Teil auf inflationäre Tendenzen in Frankreich und in Italien zurückzuführen ist.B) Eines möchte ich hier mit aller Deutlichkeit aussprechen. Es ist gar kein Zweifel, daß bei allen künftigen Zahlungsbilanzen Deutschlands der Punkt Arbeitszeitverkürzung insofern auch eine Rolle spielen wird, als jetzt schon der Transfer der Ersparnisse der 850 000 Gastarbeiter in Deutschland weit über 1 Milliarde DM liegt,
— jährlich — die wir gern auch die deutschen Arbeiter hätten verdienen sehen. Also auch diese andere Seite des Problems sollte keineswegs außer acht gelassen werden.Ich wäre sehr froh gewesen, wenn meine Vorredner von der Opposition mit darauf hingewirkt hätten, daß die Überhitzung der Bauwirtschaft, entschieden bekämpft wird. Gerade durch diese Überhitzung spitzt sich das im Mangel an Arbeitskräften liegende Problem so sehr zu. Jeder von uns weiß, daß wir zu einer Eindämmung der heute noch überhitzten Bauwirtschaft nur dann gelangen können, wenn die Länder von ihrer Aufsichtspflicht etwas anderen Gebrauch machen als in der Vergangenheit.
Über das Verhältnis von Bund und Ländern generell werden vielleicht noch andere Kollegen meiner Fraktion sprechen. Wir haben — ich glaube, das kann ich für die Regierungskoalition generell zum Verhältnis von Bund und Ländern sagen — ein Höchstmaß an „good will" bewiesen, indem wir uns in den beiden letzten Jahren die Streichungsvorschläge des Bundesrates weitgehend zu eigen gemacht haben. Aber wir möchten mit aller Deutlichkeit erklären: man sollte diesen „good will" der Regierungskoalition von seiten der Länder nicht zu sehr strapazieren. Denn auf der anderen Seite haben wir deutlich gemerkt, daß bei den Verhandlungen des Bundesrates ein allzu deutlicher Zweckoptimismus bei der Betrachtung der Haushaltslage des Bundes durchklang. Deswegen möchte ich mir gestatten, 'Sie auf einige der Belastungen hinzuweisen, die noch vor uns stehen und die wahrscheinlich zum größten Teil allerdings erst 1965 ihre volle Auswirkung haben werden.Erstens. Die Folgen der Verhandlungen in Brüssel und des Zusammenwachsens der EWG zeigen sich in diesem Haushaltsjahr schon in der Übernahme der Margarine-Mehrkosten von 105 Millionen DM auf den Bundeshaushalt, wahrscheinlich für das erste Halbjahr schon 86 Millionen DM für Hartweizen. Das wären im ganzen Jahr also vielleicht 160 Millionen DM mehr, d. h. zusammen eine runde viertel Milliarde.Zweitens. Der Bundesfinanzminister hat selber erklärt, daß er ein Fragezeichen hinter die Summen für Entwicklungshilfe setzen muß. Er bezweifelt selbst, ob er damit durchkommen wird und ob er da nicht die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit einschalten muß. Bitte lesen Sie einmal die Beschlüsse des 12. FAO-Kongresses in Rom nach, und dann erinnern Sie sich bitte der Haushaltsdebatte, die wir darüber führten, als wir der Regierung bindend mit auf den Weg gaben, in Rom nicht über 15 % mehr beschließen zu lassen, als von der FAO verlangt worden ist. Was ist jetzt passiert? Die unterentwickelten Länder, die empfangenden Länder, haben die Geberländer glattweg wieder überstimmt und haben sie gezwungen, eine 25%ige Erhöhung der Leistungen an die FAO hinzunehmen. Das ist ein Ausschnitt. Die FAO hat sicher keinen überragenden Haushalt. Aber mir erscheint das symptomatisch auch für die Vorgänge auf anderen Gebieten zu sein. Hier muß ich einfach erklären— ich glaube, auch für uns alle —: Wir können unmöglich den Entwicklungsländern einräumen, daß sie bestimmen, was wir zu zahlen haben. Eine solche Umkehrung können wir nicht hinnehmen, sondern es muß unser freier Wille sein. Was wir geben, geben wir gern, aber wir müssen bestimmen, was gegeben wird.
— Völlig einig!Ein weiterer Punkt: die Lage der Bundesbahn. Bereits im Nachtragshaushalt haben wir einen Betriebszuschuß in Höhe von 140 Millionen DM leisten müssen. Aber schon jetzt läßt sich voraussehen, daß angesichts der eingebrachten Gesetze in Erweiterung des werkseigenen Güterverkehrs und der Senkung der Beförderungssteuer bei der Bundesbahn Ausfälle im laufenden Haushaltsjahr von über 200 Millionen DM zu erwarten sind, und die werden am Ende des Jahres unweigerlich von uns wieder auf den Bundeshaushalt übernommen werden müssen.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4897
Dr. VogelDrittens: die Lage der Bundespost. Auch dort steht heute das Eigenkapital in einem ungeheuren Mißverhältnis zu den aufgenommenen Schulden. Das Verhältnis beträgt ungefähr 2 : 8 Milliarden DM. Ich bin mir völlig klar — Sie können von mir nicht erwarten, daß ich einen Antrag stelle oder irgend etwas anrege —, daß die Leistung der Bundespost an den Bundeshaushalt hier eingestellt wird. Der Bundesfinanzminister hat sich jetzt vor dem Postverwaltungsrat verpflichtet, eine Anleihe für die Bundespost schon jetzt zu amortisieren und auch ihre Zinslast zu übernehmen. Das ist ein Zeichen dafür, daß auch der Bundesfinanzminister die Lage bei der Bundespost sieht und von sich aus gewillt ist, daraus einige Konsequenzen zu ziehen.Über die Kosten der Notstandsgesetzgebung ist heute schon gesprochen worden. Jeder von uns weiß, daß sie in die Milliarden hineingehen werden. Wir werden uns noch .in diesem Haushaltsjahr darüber einigen müssen, was wir überhaupt dafür ausgeben können.Weiter sind die im Hause bereits sichtbaren Anträge zur Wiedergutmachungs- und Reparations-gesetzgebung zu nennen.Letzter Punkt: die bereits für 1965 sichtbar werdende volle Jahresbelastung aus dem Sozialpaket. Wir werden 1965 nicht eine um ein Vierteljahrsausgabe geringere, sondern eine volle Jahresausgabe aufzubringen haben.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich — ich komme bald zum Schluß — noch einige Anregungen erwähnen, von denen ich hoffe, daß sie vielleicht sogar den Beifall der Opposition finden werden.Selbst die besten Gesetze, die dieses Hohe Haus in der Angleichung der deutschen Steuergesetzgebung an die EWG-Gesetzgebung beschließen sollte, werden ein Problem nicht lösen, dessen Lösung nach meinem Dafürhalten aber genauso wichtig ist wie gute Gesetze. Es ist das des Steuervollzugs in den verschiedenen Ländern. Es gab früher ein Sprichwort in Baden-Württemberg — und ich glaube, es besteht heute noch —, aus dem die ganze bittere Klage der sparsamen Schwaben über die etwas leichtfertigeren Bayern hervorklingt: Die Gesetze werden in Berlin gemacht, in Bayern gelesen und in Baden-Württemberg durchgeführt
— oder bezahlt. Gott wolle uns davor bewahren, daß es in der Zukunft heißen sollte: Die Steuergesetze werden in Brüssel beschlossen, in Frankreich und Italien gelesen und in Deutschland durchgeführt. Daß es so nicht kommt, dafür zu sorgen, sollte, glaube ich, unser aller sehr ernstes Anliegen sein.Weiter einige Kuriosa. Es scheint Leute in Deutschland zu geben, die sich ungeheure Sorgen über die Unterbringung von überflüssigem Geld machen. Nur so kann ich einen Antrag verstehen, der Ihnen allen zugegangen ist, wir sollten einen Zeppelin bauen und ihn den Vereinigten Staaten schenken. Sie haben ihn sicher auch bekommen, Herr Kollege Ritzel. Die Kosten dafür sollten imHaushalt ausgebracht werden. — Ich hätte umgekehrt eine Anregung an den Herrn Bundesfinanzminister. Es berührt mich schmerzlich, daß ich sie an ihn richten muß; denn ich weiß, daß auch er ein eifriger Jäger vor dem Herrn ist. Aber ich finde, auch der Bundesfinanzminister sollte einmal ernstlich überlegen, ob wir es nicht bei deutschen Hirsch-und Rehgeweihen lassen und dem öffentlichen Ärgernis riesiger Ausgaben für solche Jagdtrophäen aus den kommunistischen Ländern ein für allemal ein Ende setzen sollten.
Noch ein paar Worte zum Honnefer Modell! Ich bedaure, daß Professor Schmid nicht mehr da ist, denn ich bin überzeugt, er würde weitgehend mit mir einig sein. Es sind vorhin Vorwürfe gemacht worden, wir hätten hier gestrichen. Ich möchte hier mit aller notwendigen Deutlichkeit sagen: Wir haben im Haushaltsausschuß den Grundsatz vertreten, daß in weitgehendem Maße Darlehen an die Stelle der Stipendien treten sollten. Dabei wäre ich für meine Person — und meine Freunde werden mir wohl folgen — bereit, jedem Darlehensnehmer, der nach einer angemessenen, nicht zu langen Studienzeit ein ausgezeichnetes Examen ablegt, dieses Darlehen zu erlassen und im übrigen bei der Rückzahlung eine Stufung je nach der Qualität seines Examens vorzunehmen. Wir könnten hier genau das erzielen, was notwendig ist, nämlich eine Steigerung der Qualität der Examen an den deutschen Hochschulen, anstatt uns einer allgemeinen Gleichmacherei hinzugeben, zu der zwangsläufig die Gewährung von Stipendien auch an solche führen muß, deren Begabung gar nicht nachgeprüft werden kann.
Im Honnefer Modell ist vorgesehen, daß nicht nur die Bedürftigkeit, sondern auch die Begabung die entscheidenden Kriterien sind. Jeder von uns weiß, daß mit Ausnahme der Theologieprofessoren und vielleicht einiger Archäologen die Mehrzahl der deutschen Professoren nicht in der Lage ist, die Begabung der sich um ein Stipendium Bewerbenden zu prüfen. Wenn das der Fall ist, sollten wir ein anderes System suchen, das die Möglichkeit schafft, eine Auslese vorzunehmen und den Willen zum Examen zu kräftigen. Denn der Wille zum Studium ist genauso wichtig wie die Begabung. Auf diese Weise wird nach meiner Auffassung auch das soziale Problem besser gelöst, als es bei Stipendien jemals der Fall sein könnte.Es ist heute viel von der Förderung der deutschen Wissenschaft, der Forschung usw. gesprochen worden. Lassen Sie mich an den Bundesfinanzminister und an die Bundesregierung mit allem Nachdruck folgenden Appell richten, und dieser Appell richtet sich gleichzeitig auch an die Länder. Wenn es uns nicht gelingt, in der Zukunft eine der französischen und der englischen Verwaltungselite gleichartige und gleich begabte deutsche Verwaltungselite für die großen internationalen Gremien heranzubilden, werden wir in der Zukunft hoffnungslos überfahren werden.
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4898 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964
Dr. VogelDeswegen sollte es sich die Bundesregierung und speziell Professor Erhard, der diese Problematik kennt, angelegen sein lassen, in den Verhandlungen mit den Ländern darauf zu dringen, daß die Länder nicht eine Hortung der Talente bei sich vornehmen mit der Absicht, sie nach Möglichkeit nicht an den Bund abzugeben. Es sollte das Bestreben aller sein, die bestqualifizierten Leute sozusagen an die Front zu schicken und sie die gemeinsamen deutschen Interessen von Bund und Ländern vertreten zu lassen.
— Herr Hermsdorf, das würde ich nicht so sagen. Ich hoffe, Sie bereuen Ihren Zuruf. — Der deutsche „inspecteur des finances", das ist das, was wir brauchen und solche Kräfte sollten schleunigst herangebildet werden. Das wird Zeit und Geld kosten, aber es wird sich hundertfach bezahlt machen, wenn wir eine solche Elite heranbilden.
Meine Damen und Herren, wir sind nun einmal die stärkste Wirtschaftskraft in Europa geworden. Das erlegt uns bestimmte Verpflichtungen auf. Wir haben eine günstige Entwicklung vor uns. Wir können hoffen, daß uns im Jahr 1964 wirklich ernsthafte Lohn- und Preiskämpfe erspart bleiben. Wir können sie ganz und gar nicht gebrauchen. Wir sollten alles daran setzen, daß sich die beiden Tarifpartner — an deren Autonomie nicht gerüttelt werden sollte; das möchte ich am Schluß noch sagen — so zusammenfinden, daß das, was, gemessen an der Wachstumsrate, notwendig ist, in friedlichen Verhandlungen zuwege gebracht wird und daß sich unsere Entwicklung im Jahre 1964 ungestört vollziehen kann. Nur bei einem ungestörten Wirtschaftsablauf . sind die Leistungen möglich, die dieser Bundeshaushalt vorsieht. Ich glaube, wir alle gemeinsam haben ein Interesse daran, daß diese Leistungen zum Segen des deutschen Volkes erbracht werden.
Das Wort hat Herr von Kühlmann-Stumm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte heute ist dadurch gekennzeichnet, daß der Bundeskanzler im Anschluß an die Rede .des Herrn Bundesfinanzministers eine Regierungserklärung bzw. einen Bericht über die ersten Monate der Tätigkeit des neuen Kabinetts abgegeben hat. Ich möchte jetzt zu den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers bezüglich der Deutschland- und Berlin-Frage Stellung nehmen.Der Herr Bundeskanzler hat in eindrucksvoller Weise über seine Gespräche mit dem französischen Staatspräsidenten de Gaulle und dem amerikanischen Präsidenten Johnson berichtet. Das Ergebnis dieser Gespräche läßt keinen Zweifel daran, daß die neue Bundesregierung in einem unverändert festen Vertrauensverhältnis zu unseren Verbündeten —das gilt in dem gleichen Maße für die englischeRegierung — die Anliegen der deutschen Politik vertreten kann.
Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei sieht in ,den Veränderungen, die sich im Verhältnis der Länder dieser Erde zueinander vollziehen, einen geeigneten Ausgangspunkt für eine deutsche Initiative in der uns alle bewegenden Frage der deutschen Einheit.Die Öffnung der Berliner Mauer für Besuche von Westberliner Bürgern in Ost-Berlin hat der Weltöffentlichkeit das unverändert starke Zusammengehörigkeitsgefühl des deutschen Volkes deutlich gemacht. Sie hat zugleich unsere Auffassung unterstrichen, daß die willkürliche Teilung Deutschlands und seiner Hauptstadt dem Willen des deutschen Volkes widerspricht und daß sich das deutsche Volk mit diesem Zustand niemals abfinden wird. Die Erklärung der Machthaber in Ost-Berlin, daß humanitäre Gründe sie zu der Öffnung der Mauer veranlaßt hätten, beweist, wie inhuman die Errichtung der Mauer ist. Der Besucherstrom in den Weihnachtsfeiertagen hat eine Entwicklung eingeleitet, die in ihrer Eigengesetzlichkeit von niemandem in Deutschland und der Welt geleugnet werden kann. Wir sind unverändert der Auffassung, daß diese Maßnahmen, die notwendig waren, um diese menschliche Begegnung in Berlin zu ermöglichen, unserer rechtlichen und politischen Position in keiner Weise geschadet haben.
Bei der Unterzeichnung des Moskauer Teststoppabkommens haben alle entscheidenden Regierungen dieser Erde festgestellt, daß die Frage der Anerkennung oder Nichtanerkennung des Regimes in Pankow von der Unterzeichnung dieses Teststoppabkommens durch das Ulbricht-Regime in keiner Weise berührt wird. Ich darf Sie daran erinnern, daß anläßlich der Außenministerkonferenz in Genf 1959 der Außenminister der sowjetisch besetzten Zone, Herr Bolz, am Konferenztisch, wenn auch am Katzentisch, gesessen hat. Niemand auf dieser Welt hat daraus in irgendeiner Form eine Anerkennung oder gar eine Aufwertung hergeleitet.
Das gleiche gilt im übrigen auch für die zur Durchführung der Besuche in Ost-Berlin notwendigen technischen Kontakter die nach Gegenstand und Bedeutung der Vereinbarung ungleich weniger gewichtig waren als der Beitritt der sogenannten DDR zum Abkommen von Moskau.Entscheidend für die rechtliche Beurteilung der in West- und Ost-Berlin getroffenen Vereinbarungen ist der übereinstimmend bekundete Wille von Bundesregierung und Senat von Berlin, daß der Berliner Senat bei diesen Verhandlungen in Übereinstimmung nicht nur mit der Bundesregierung, sondern auch mit den für die westlichen Sektoren von Berlin verantwortlichen Schutzmächten handelte. Diese von Bundesregierung, Senat und Schutzmächten zum Ausdruck gebrachte Auffassung entspricht dem durch das Bundesverfassungsgericht bestätigten
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Freiherr von Kühlmann-StummRechtsstandpunkt, daß West-Berlin ein Land der Bundesrepublik Deutschland ist. An dieser Tatsache kann kein Kommentar und keine Interpretation der anderen Seite auch nur das geringste ändern.Es wäre jedoch verfehlt, wenn man in der Eröffnung von Besuchsmöglichkeiten von Westberliner Bürgern in Ost-Berlin allein die Aufgabe deutscher Politik in dieser Stunde sehen würde. Die Bundesregierung sollte jetzt durch eigene Vorschläge die Voraussetzungen für eine westliche Initiative in der deutschen Frage schaffen. Sie kann sich dabei ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten auf die Unterstützung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages berufen. Wir haben mit Freude zur Kenntnis genommen, daß die Note der Bundesregierung, die dem amerikanischen Außenminister im Herbst vorigen Jahres überreicht worden ist, anläßlich des Besuches des Bundeskanzlers in den Vereinigten Staaten auf der Tagesordnung gestanden hat und Gegenstand der Gespräche gewesen ist.In gemeinsamen Erklärungen dieses Hohen Hauses ist nicht nur der Wille zur Wiederherstellung der deutschen Einheit in gesicherter Freiheit zum Ausdruck gekommen, der Deutsche Bundestag hat vielmehr schon in seiner Entschließung vom 1. Oktober 1958 den Weg für die Wiederherstellung der deutschen Einheit durch einen freien Willensentschluß des gesamten deutschen Volkes gewiesen. In dieser Entschließung heißt es:Der Deutsche Bundestag erwartet die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands von einem unmittelbaren freien Willensentschluß des gesamten deutschen Volkes in seinen heute noch getrennten Teilen, der nach Beseitigung der nicht in deutscher Zuständigkeit liegenden Hindernisse herbeizuführen ist.Der Deutsche Bundestag erklärt seine Bereitschaft, jede Verhandlung zu unterstützen, die die Wege zu einem solchen Willensentscheid des deutschen Volkes, sobald eine Vereinbarung der Vier Mächte diese Möglichkeit erschlossen hat, ebnet.Der Bundestag bekennt sich erneut zu seinem einmütigen Vorschlag eines Vier-Mächte-Gremiums, das gemeinsame Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage vorbereiten soll.Diese gemeinsame Auffassung der Par eien des Deutschen Bundestages besteht unverändert fort. Sie muß von jedem Land dieser Welt ebenso zur Kenntnis genommen werden wie das uneingeschränkte Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes, das der Präsident des Deutschen Bundestages am 30. Juni 1961 unter dem Beifall aller Fraktionen abgelegt hat.Diese Erklärung des Präsidenten dieses Hohen Hauses hat zugleich unsere übereinstimmende Auffassung zum Ausdruck gebrach t, daß erst der Friedensvertrag, der, nachdem 18 Jahre verstrichen sind, dem deutschen Volke nicht weiterhin vorenthalten werden sollte, den militärischen und politischen Status des zukünftigen Gesamtdeutschland festlegen kann. Jeder Versuch der Vorwegnahme endgültiger Entscheidungen wird deshalb amWiderstand dieses frei gewählten Parlaments scheitern.
Das gilt auch für den Versuch, notwendige technische Kontakte in die Anerkennung bestimmter politischer Wunschvorstellungen einer Seite umzudeuten.Die Regierung der Sowjetunion wird es sich gefallen lassen müssen, daß Ernst und Wert ihrer jüngsten Note über den Gewaltverzicht, in der davon die Rede ist, daß das Problem der Wiedervereinigung des deutschen Volkes vom deutschen Volk gelöst werden muß, daran gemessen werden, ob die Sowjetunion bereit ist, in Verhandlungen der Vier Mächte die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das deutsche Volk das Recht auf Selbstbestimmung ausüben kann. Wir sind der festen Überzeugung, daß die Bundesregierung unverzüglich auf allen ihr zur Verfügung stehenden Wegen und unter Berücksichtigung aller konstruktiven Vorschläge, die in der Vergangenheit von deutscher Seite und von unseren Verbündeten gemacht worden sind, die Grundlage für ein Gespräch der Vier Mächte schaffen wird. Verhandlungen über die deutsche Frage in ihrer Gesamtheit sind allein in der Lage, den durch die deutsche Teilung in Mitteleuropa entstandenen widernatürlichen Zustand zu beseitigen. Es gibt keine dauerhafte Friedenslösung in Europa; die sich gegen das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes richtet.Die Regierungsfraktionen haben mit ihrem Entschließungsantrag vom 9. Oktober 1962 die Bundesregierung aufgefordert, mit den Verbündeten in Konsultationen einzutreten mit dem Ziel, seitens des Westens der Sowjetunion den Vorschlag zu machen, entsprechend der Verantwortung der Vier Mächte eine gemeinsame Ständige Konferenz zur Lösung der deutschen Frage als Voraussetzung eines dauerhaften Friedens herbeizuführen.Der Herr Bundeskanzler hat in der Erklärung der Bundesregierung vom 18. Oktober 1963 die unbedingte Entschlossenheit der neuen Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, die deutsche Frage einer Lösung näherzubringen. Seine Erklärung, die Bundesregierung werde jede sich bietende Möglichkeit in den West-Ost-Gesprächen ergreifen, um hinsichtlich der Lösung des Deutschlandproblems Fortschritte zu erzielen, findet die uneingeschränkte Unterstützung der Bundestagsfraktion der freien Demokratischen Partei.
Das Wort hat der Abgeordnete Ritzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich in relativ später Stunde eine kleine Spätlese auf Grund der bisher durchgeführten Debatte veranstalte. Ich frage mich,welchen Namen man dem neuen Haushalt eigentlich geben soll. Ich habe mich noch nicht ganz entschieden, aber ich glaube, es könnte richtig sein, zu sagen, daß das ein Haushalt des versuchten Maß-
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Ritzelhaltens ist. Die Berechtigung dieses Namens kann man aber erst feststellen, wenn a) die Verabschiedung der Titel im Einzelplan 60 vollzogen ist und wenn b) das Rechnungsjahr vorbei ist. Bisher hat man verschiedene Namen gehabt und verschiedene Erwartungen und Befürchtungen.Ich erinnere mich noch daran, daß der verehrte frühere Herr Finanzminister Etzel einmal von der „schrecklichen Treppe" gesprochen hat, die jeder Haushalt aufweise. Nun, dieser Haushalt hat auch eine schreckliche Treppe. Es sind nur 3,5 Milliarden DM. Es sind in diesem Hohen Hause auch Wünsche laut geworden, man möchte einen Haushalt am Rande des Defizits erleben. Manchmal kommt es im Leben vor, daß die Wünsche erfüllt sind. Wir sind soweit.Nun darf ich mir einige Bemerkungen zunächst zu den Ausführungen von Herrn Kollegen Vogel — er ist leider nicht da — gestatten. Es handelt sich in erster Linie um ein technisches Problem, das schon von meinem Fraktionskollegen Dr. Möller heute morgen erstmals angesprochen worden ist, nämlich um das Problem der Einbringung und Verabschiedung des Bundeshaushalts. Wir sind gehalten, den Bundeshaushalt so zu verabschieden, daß Art. 110 des Grundgesetzes entsprochen wird, wo es heißt: „Der Haushaltsplan wird vor Beginn des Rechnungsjahres durch Gesetz festgestellt." Das ist die Verpflichtung der Regierung, das ist die Verpflichtung des Parlaments. Ich freue mich, aus einer Übersicht, die ich hier habe, feststellen zu können, daß die Länder in der Bundesrepublik den Haushalt fürdas Jahr 1964 im September, im Oktober, im November eingebracht und ihn bis auf ein einziges Land schon restlos verabschiedet haben. Ich kenne die Gründe dieses Landes nicht. Vielleicht sind sie Herrn Kollegen Strauß besser bekannt; es ist nämlich das Land Bayern, das erklärt, erst im März diesen Haushalt verabschieden zu können.
Nehmen Sie unser Beispiel für das Jahr 1963: Wir haben die Etatberatung am 26. Oktober 1962 begonnen mit der Einbringung durch den Herrn Bundesfinanzminister und haben sie am 27. Juni 1963 beendet. Dieser Haushalt für 1964 — große Entschuldigung: Regierungswechsel — wird nun erst erheblich nach Beginn des neuen Rechnungsjahres, wenn er schon längst verabschiedet und unter Dach gebracht sein sollte, überhaupt vorgelegt.Nun darf ich mir einige Bemerkungen an die Adresse des Herrn Kollegen Strauß gestatten. Er sprach von der Deckung der SPD-Anträge. Herr Kollge Strauß, wenn Sie Mitglied des Haushaltsausschusses wären, dann hätten Sie immer wieder die Gelegenheit, zu beobachten, wie wir uns, allerdings ohne die zureichende Unterstützung durch rechtzeitige vorherige Beratung durch Vertreter der Regierung in fraktionellen oder interfraktionellen Besprechungen, die Deckung unserer Vorschläge vorstellen. Sie sprachen von einer aus unseren Anträgen wachsenden Belastung der Länder. Haben Sie davon Kenntnis genommen, daß jetzt seitens des Herrn Bundesfinanzministers Vorschläge gemacht worden sind, die auch hier in der Debatte erwähnt wurden, die eine sehr erhebliche Beeinträchtigung der Ländereinnahmen in dem Augenblick herbeiführen werden, in dem sie die Billigung des Hohen Hauses und des Bundesrates gefunden haben werden, und zwar durch die für das Wahljahr 1965 geplanten Steuersenkungen?Sie sprachen davon, daß es notwendig sei, Prioritäten zu setzen. Ich stimme Ihnen durchaus zu. Aber Ihre Schlußfolgerung aus dieser Erkenntnis kann ich nicht mitmachen. Sie meinten nämlich: weniger für die Gegenwart und mehr für die Zukunft. Wenn wir uns über ein für unser Volk lebenswichtiges Kapitel verständigen könnten, dann würden Sie mir wahrscheinlich auch zustimmen, wenn ich sage, daß auf dem Gebiete der Forschung und Wissenschaft ein anderer Maßstab angelegt werden muß. Was wir jetzt und gerade jetzt einsetzen, das wird erst in der Lage sein, die Zukunft unseres Volkes zu sichern. Ich habe dieser Tage in einem anderen Kreise darauf hingewiesen, daß wir in Deutschland stolz darauf sein dürfen, daß wir in den vergangenen Tagen in großer Zahl Patente und Herstellungsrechte verkauft haben. Der Zeitpunkt ist bei Gott nicht mehr weit, meine Herren, wo Deutschland vom Ausland die Auswertung ausländischer Patentrechte erwerben wird, erwerben muß, weil wir zur rechten Stunde versäumt haben, die rechte Priorität zu beachten.Herr Kollege Dr. Strauß, ich freue mich sehr — —
— Bitte sehr!
Ist Ihnen dabei nicht entgangen, daß ich nicht gesagt habe: weniger in der Gegenwart und mehr in der Zukunft, sondern daß ich gesagt habe: weniger für die Gegenwart und mehr für die Zukunft? Selbstverständlich in der Gegenwart mehr für die Zukunft.
Ich kann ganz gut stenographieren. Ich habe stenographiert: weniger für die Gegenwart, mehr für die Zukunft. Sie interpretieren es also anders, als ich es tue. Dann ist es vernünftig, daß wir es klarstellen.
— Einverstanden, darüber können wir uns unterhalten, wenn die Individualrechte auf Beteiligung am Konsum in Ihrer Rechnung nicht zu kurz kommen.Ich habe mich sehr gefreut, daß sie die unfreiwillige Muße, der Sie sich zur Zeit unterziehen, zu volkswirtschaftlichen Studien nutzen. Ich weiß nicht, ob Sie bereits zu den letzten Erkenntnissen vorgedrungen sind, aber immerhin, einiges ist sehr interessant. Sie sprachen von dem Spiegelbild einer kontinuierlichen und stabilen Politik und machten vor der Bundesregierung und damit vor Ihrer eigenen Vergangenheit eine entsprechende Verbeugung. Nun frage ich mich: ist diese Verbeugung so sehr begründet?
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RitzelEs wurde heute abend hier über die Frage debattiert, welche Bank und welcher Bankier die besten Unterlagen geliefert habe. Ich habe da einen Gewährsmann: das ist die letzte Veröffentlichung der Bundesnotenbank, die festgestellt hat, daß von 1950 bis 1963 die Verbraucherpreise um 33% gestiegen sind — das entspricht einem Kaufkraftverlust von 25 % —, daß die Baupreise seit 1950 um 100 % erhöht wurden; die Grundstückspreise haben sich in einer uns allen bekannten astronomischen Weise entwickelt, und dabei haben sich der Bund und Ihr früheres Ministerium an der Gestaltung hoher Grundstückspreise lebhaft beteiligt. Ich finde nicht, daß diese Entwicklung die Bezeichnung einer kontinuierlichen und stabilen Politik rechtfertigt.Dann zur Frage der Steuersenkung, die von dem Herrn Bundesfinanzminister angesprochen wurde! Wir Sozialdemokraten fragen uns, warum Sie die Steuersenkung nicht schon 1964, sondern erst 1965 wirksam werden lassen wollen. Wenn kein politischer Grund, sondern ein sachlicher Grund dafür vorhanden sein sollte, dann bedienen Sie sich bitte des vorliegenden Antrags der Sozialdemokraten, der heute hier genügend erörtert worden ist. Wir haben durchaus die Möglichkeit, sogar sehr rasch zu einer Steuersenkung zu kommen, und zwar nicht auf Kosten der Länder — und damit praktisch in einem erschütternden Ausmaße auf Kosten der Gemeinden —, sondern auf Kosten des Bundes: Reduzieren Sie die Umsatzsteuer — Sie haben die Mehrheit dazu —, dann sind Sie sehr rasch bei dem angestrebten Ziel.
— Sie wissen doch, daß wir uns ständig darüber unterhalten. Ich nehme auf die Worte Bezug, die Herr Dr. Vogel gebrauchte, als er wiederholt fragte, wer die Streichungen bei dem und dem gemacht habe. Natürlich haben Sie die Streichungen gemacht; Sie konnten sie vorher mit den Regierungsvertretern vereinbaren. Wir müssen uns das — wie sagt Herr Dr. Conring? — aus unserem eigenen Fleische schneiden, wir müssen auf Grund eigener Überlegungen zu den Erkenntnissen kommen. Daß wir weiter dazu kommen werden, darauf dürfen Sie sich verlassen.Hier ist das Problem der sogenannten Umschichtungen angesprochen worden. Herr Dr. Vogel hat diesem Akt der Staatsfinanzpolitik eine sehr harmlose Deutung gegeben. Ich habe hier die Ausschußdrucksachen des Haushaltsausschusses Nr. 610 und Nr. 616 vorliegen. In der Drucksache Nr. 610 geht es um eine Umschichtung in der Kleinigkeit von 965 Millionen DM und in der Drucksache Nr. 660 um eine solche von 325 Millionen DM. Herr Dr. Vogel meinte, daß da das Recht des Parlaments in keiner Weise beeinträchtigt sei. Darf ich Ihnen daraus — es ist kein Geheimdokument, darum ist es nicht notwendig, den Verfassungsschutz mobil zu machen — einige Zahlen nennen und sagen, was jetzt plötzlich erforderlich ist; oder ich will es kürzer machen, ich will sagen, woher es genommen werden soll. Bei Kap. 14 08 Tit. 966 — Beschaffung von Sanitätsgerät — können 10 Millionen DM eingespart werden, und zwar in dem Haushalt 1963, der am 26. Juni 1963 verabschiedet worden ist. Ferner könnten 20 Millionen DM bei der Beschaffung von Vorräten an Arznei- und Verbandmitteln, Brillen und sonstigem Sanitätsverbrauchsmaterial eingespart werden, 80 Millionen DM beim Ersatz der Bekleidung, 80 Millionen DM bei der Beschaffung von Bekleidung, 30 Millionen DM bei der Beschaffung von Pioniermaterial, 14 Millionen DM bei ABC-Schutzmaterialbeschaffung, 35 Millionen DM bei der Beschaffung von Schiffen, 5 Millionen DM bei der Beschaffung von Betriebswasserfahrzeugen, Booten usw. Das soll umgeschichtet werden. Das ist nicht ein Beschluß des Parlaments. Zwar ist der Etat jeweils eine Vollmacht für die Regierung; aber diese Vollmacht wird in gutem Glauben erteilt. Wenn man uns gegenüber nachweist, daß dieser Betrag notwendig ist, und auf Grund dieses Nachweises die Bewilligung erteilt wird, dann ist es ein ganz besonders zu qualifizierender — aber nach unten zu qualifizierender — Akt, daß man nachher mit einer zustimmenden Kenntnisnahme des Haushaltsausschuses derartige Verschiebungen durchführen will, die ein Schlag ins Gesicht des Haushaltsrechts des Bundestages sind.
Meine Damen und Herren, wir haben wiederholt erklärt und keinen Zweifel daran gelassen, daß wir ein Tabu für den Einzelplan 14, den Verteidigungshaushalt, nicht anerkennen können. Wir bejahen die Landesverteidigung. Das wissen Sie, und es wird Ihnen auch kein Argument geliefert werden, das Ihnen ermöglicht, etwa zu sagen, wir Sozialdemokraten seien Feinde der Bundeswehr. Aber wir halten uns an Leute, die auch etwas von den Dingen verstehen und vermutlich mehr als wir. Mit diesem „wir" meine ich das Hohe Haus. Ich lese mit großem Interesse von Vorschlägen des Generals Trettner, der qualifizierte Einsparungen im Gesamtbereich der Bundeswehr empfiehlt. Wenn dem so ist — und ich habe keinen Anlaß, daran zu zweifeln —, dann ist das ein weiterer Beweis dafür, daß in bezug auf die kontinuierliche Entwicklung des Verteidigungshaushalts doch einiges sehr Kritische zu sagen ist und daß der von Ihnen, Herr Dr. Strauß, zurückgewiesene Verdacht, daß man hier improvisiere, in weitem Umfange zutrifft.Gestatten Sie nun noch einige wenige Bemerkungen zum Haushalt selbst. Nach den Mitteilungen im Finanzbericht der Bundesregierung enthält dieser Haushalt die Summe von 20 Milliarden an Subventionen. Wir werden intensiv zu prüfen haben, was auf diesem Gebiet eingespart werden kann. Wir haben erstaunlicherweise — ich unterstreiche das „erstaunlicherweise" — eine Steigerung der Anforderungen für Geheimfonds, auch für Geheimfonds, über die der Herr Bundeskanzler verfügt, zu verzeichnen. Ich glaube, daß es durchaus begründet ist, hier in eine intime Unterhaltung mit der Bundesregierung einzutreten, um erstens diese Steigerung rückgängig zu machen, zweitens eine Senkung gegenüber dem Vorjahr zu erreichen, drittens eine Auflösung in das, was wirklich geheim ist, und das, was nicht geheim ist, herbeizuführen und so zu
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Ritzel1 einer vernünftigen Entwicklung dieses netten Kapitels, das uns seit Jahren beschäftigt, zu gelangen.Eine weitere Bitte haben wir in bezug auf den stärkeren Kampf gegen die Prozeßsucht der Behörden. Der Herr Bundesfinanzminister und auch der Herr Bundesschatzminister wissen darüber Bescheid. Wir haben in einem erschreckenden Ausmaß die Tatsache zu verzeichnen, daß der Bund bei Auseinandersetzungen mit dem Bürger bereit ist, bis zur letzten Instanz zu gehen. In diesem Fall wird er durch die hohe Bürokratie vertreten, die ja kein Obligo irgendeiner Art zu übernehmen hat. Verliert man, zahlt's der Bund; gewinnt man, dann hat man seine Pflicht getan, und der Bundesrechnungshof ist zufrieden. Es gab einmal einen Zeitpunkt — ich weiß nicht, wie es augenblicklich steht —, in dem weit über 1000 Prozesse des Bundes liefen. Das ist ein Unding in einem Rechtsstaat. Es ergibt sich die Notwendigkeit, auf diesem Gebiet eine vernünftige Politik zu treiben.Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich noch eine Bemerkung machen. Sie haben unter Ihren Drucksachen den Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1964. Es ist zunächst die grüne Drucksache verteilt worden. Seit gestern ist sie weiß, also wirklich maßgeblich. In diesem Haushaltsgesetzentwurf haben wir eine erstaunliche Entwicklung zu verzeichnen. Man nimmt dieses Gesetz in Anspruch, um einen illegalen Zustand zu legalisieren. Es handelt sich um den Zustand der sogenannten Umschichtung. Im übrigen aber wird in einem wirklich erschütternden Ausmaß das durch die Reichshaushaltsordnung gesetzte Recht außer Kraft gesetzt, und es werden Vollmachten an den Haushaltsausschuß und an den Finanzminister erteilt, die dem Budgetrecht des Parlament in jeder Hinsicht Hohn sprechen. So kann man kein Haushaltsgesetz machen. Wir werden uns sehr ernsthaft über die Dinge im einzelnen unterhalten müssen. Ich will Sie in dieser späten Abendstunde nicht mit Einzelheiten, mit der Aufführung und Benennung der einzelnen Paragraphen langweilen. Aber ich glaube, daß es notwendig ist und daß dies eine Frage ist, die Herr Dr. Möller heute morgen den Herren von der CDU gestellt hat, auf die aber bis jetzt nicht geantwortet worden ist; vielleicht tun es die Herren freundlicherweise noch. Es wird sich zeigen, ob die Regierungsparteien wirklich gewillt sind, eine derartige „Vollmachtenwirtschaft" — es fiel der Ausdruck „Ermächtigungsgesetz" — zu treiben. Für Sie ist die Situation relativ einfach; Sie in der Regierungskoalition sind im Haushaltsausschuß nichts weiter als der verlängerte Arm der Regierung. Sie stimmen sich mit der Regierung ab; was Sie wollen, wird Gesetz.
Wir wollen aber, daß das ganze Haus und der ganze Haushaltsausschuß den Einfluß auf die Dinge ausüben, der dem Parlament zusteht. Es wird eine sehr naheliegende Probe aufs Exempel zu machen sein, um zu erfahren, wie die CDU in Wirklichkeit denkt und wie sie handelt.Im ganzen gesehen, meine Damen und Herren, ist dieser Haushalt ein Haushalt der Fragezeichen, vielfach ein Haushalt der Ungewißheiten. Ich glaube, daß die obere Grenze dieses Haushalts von 60,3 Milliarden DM, von der auch wir hoffen, daß sie nicht überschritten wird, nur schwer zu halten sein wird. Wir werden bestimmt das unsere tun, um durch — wenn ich das Wort verwenden darf — Umschichtungen die Mittel freizumachen, die nach unserer Auffassung benötigt werden, um diesem Haushalt andere Inhalte zu geben, so wie sie uns vorschweben. Aber ich frage mich, ob die Regierung nicht mindestens schon bei der Behandlung des Einzelplans 60, bei der Fixierung der Einnahmen und im übrigen auch durch die Notwendigkeit der Deckung ,der nachfolgenden Einzelanträge der Gefahr unterliegt, ihr eigenes Gebäude zu sprengen. Wir warten ab und denken uns das übrige und werden entsprechend handeln.
Das Wort hat der Abgeordnete Althammer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir können mit dem Gesamtverlauf der heutigen Debatte durchaus zufrieden sein. In großen Zügen ist die ganze Problematik der Politik, mit der wir es zu tun haben und die — wie ja wiederholt festgestellt worden ist — sich auch im Haushalt widerspiegelt, in etwa aufgezeigt worden. Ich möchte es besonders begrüßen, daß der Herr Bundeskanzler von Anfang an bei den Auseinandersetzungen über diesen Etat 1964 sich hinter seinen Finanzminister gestellt hat und keinen Zweifel daran gelassen hat, daß er den Willen zum Sparen, zum Maßhalten — wie jetzt schon so viel zitiert worden ist — auch in diesen Fragen durchhalten will. Ich glaube, es ist auch in dieser Debatte schon klargeworden, worum es im Grundsätzlichen geht. Es ist die Entwicklung in unseren Nachbarländern angesprochen worden, und man darf vielleicht noch einmal mit ein paar Worten darlegen, daß z. B. in unserem großen Nachbarland Frankreich in der letzten Zeit eine Entwicklung immer mehr an Schnelligkeit gewonnen hat, die durchaus bedrohlich ist. Wir haben seit 1958 in Frankreich — so nachzulesen im Finanzbericht — eine Preissteigerung von 26 %. Allein für das vergangene Jahr wird mit einer Steigerung von 6 % gerechnet. Im Finanzbericht wird darauf hingewiesen, daß hier ganz eindeutig inflationistische Tendenzen zu verzeichnen sind. Und wie sich die Stabilisierungsmaßnahmen schließlich auswirken werden, ist noch abzuwarten.Blicken wir nach Italien! Eine ganz ähnliche, eine noch etwas bedrohlichere Situation! Dort wird mit einem Preissteigerungsindex von 8 bis 9 Vo für das abgelaufene Jahr gerechnet, die Zahlungsbilanz wird negativ, Kapitalflucht ins Ausland und auch hier inflationistische Sogwirkungen..Tun wir einen weiteren Blick auf ein kleines, sozialistisches Land in unserer Nachbarschaft, auf Dänemark, so sehen wir, wohin diese Konsequenzen
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964 4903
Dr. Althammerführen. Dänemark hat ebenfalls eine enorme Preissteigerung zu verzeichnen: 9 % sind in etwa angegeben. Dänemark hat sich gezwungen gesehen, einen Lohnstopp, einen Preisstopp, einen Dividendenstopp, die Wiedereinführung der staatlichen Mietpreisbindungen durchzuführen und eine Zwangssparanleihe auszuschreiben.Ich glaube, aus all diesen Tatsachen geht ganz klar hervor, daß es für uns in der Bundesrepublik darauf ankommt, nicht ebenfalls in diesen Sog zu geraten. Wenn wir mit den genannten Daten das vergleichen, was uns in der Bundesrepublik die Wirtschaftsberichte aufzeigen, sehen wir, daß hier zwar manche sehr entscheidende Unterschiede bestehen, daß aber in den großen Punkten doch nur ein gradueller Unterschied festzustellen ist. Die Gefahr, daß wir in diesen Sog hineingeraten können, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Erinnern wir uns an das, was z. B. im Wirtschaftsbericht zur Anheizung der Baukonjunktur ausgeführt ist! Im Wirtschaftsbericht für das Jahr 1963 ist ganz eindeutig der öffentlichen Hand die maßgebliche Verantwortung für die weitere Anheizung der Baukonjunktur gegeben worden. Daran sehen wir ganz klar, wie wichtig die Konjunkturpolitik auch auf diesem Gebiet ist. Zwar ist der Bund selbst nur zu etwa 10 % an dem gesamten Bauvolumen der öffentlichen Hand beteiligt. Wir müssen aber das Ganze sehen und feststellen, daß vor allem die Gemeinden nicht immer und überall die Wirkung ihrer Investitionsmaßnahmen auf dem Bausektor auf das Gesamte sehen, sondern sich mehr von ihren örtlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen leiten lassen.Von mehreren Abgeordneten, vom Kollegen Möller, jetzt zuletzt vom Kollegen Ritzel und auch vom Kollegen Emde, ist die Frage angeschnitten worden, inwieweit dieses Parlament — wir als Abgeordnete — sich in etwa das Etatrecht beschneiden lassen sollte. Kollege Ritzel hat eben gefragt, ob die Regierungsparteien keine Antwort darauf geben wollten, ob wir diese Ermächtigungen, wie sie im neuen Haushaltsgesetz enthalten sind, etwa so stehenlassen wollten. Dazu möchte ich sagen, daß wir uns selbstverständlich, wie das jedes Jahr geschehen ist, darüber unterhalten müssen, was wir dem Finanzministerium bzw. der Regierung im Haushalt bewilligen und wo wir auf unserem Etatrecht bestehen wollen. Aber, meine sehr verehrten Kollegen, diese Frage hat auch ihre Kehrseite. Wenn man so großen Wert auf das Etatrecht dieses Hohen Hauses legt, muß man sich auf der anderen Seite auch daran erinnern, was dieses Etatrecht im Grundsätzlichen beinhaltet.
Denken wir zurück! In vergangenen Zeiten war dieses Etatrecht gerade dadurch gekennzeichnet, daß die Parlamente der Regierung Mittel verweigerten. Es haben sich heftige Verfassungskonflikte gerade an diesem Willen des Parlaments, Bewilligungen nicht auszusprechen, entzündet.Wenn wir heute die Bilanz ziehen, müssen wir leider Gottes sehr oft feststellen, daß gerade in diesem Hohen Hause nicht überall dieser exakte Sparwille, dieser Wille zur Verweigerung gewisser Mittel besteht. Leider Gottes hat sich hier die Front weitestgehend umgekehrt. Der Finanzminister und Gott sei Dank jetzt auch der Bundeskanzler stehen auf der Seite derjenigen, die bei den Ausgaben der öffentlichen Hand sparen wollen. Sie werden von den Abgeordneten des Haushaltsausschusses im wesentlichen unterstützt. Aber ich glaube, es wird auf die Dauer nicht genügen, daß die Parlamentarier bloß ihren Beifall spenden, wenn hier von einer Begrenzung der Ausgaben die Rede ist, sondern es wird sich für jeden Abgeordneten die Gewissensfrage stellen, ob er in der Zukunft im wesentlichen weiter so verfahren will, daß er sagt: Zwar im allgemeinen sparen, ja; aber auf dem Sektor, auf dem ich tätig bin, in dem Fachausschuß, in dem ich meine Arbeit leiste, wird weiter bewilligt, sollen weitere Ausgaben beschlossen werden; sparen kann man ja auch anderswo. — Auch hier wird das Parlament, wenn es auf dem Etatrecht und auf seiner Souveränität bei der Ausgabenbewilligung in der Öffentlichkeit glaubhaft bestehen will, beweisen müssen, daß es mehr als bisher den Sparwillen auch in die Praxis umsetzt.Wenn von einer Wende gesprochen worden ist, wenn auch der Kollege Ritzel davon gesprochen hat, daß wir tatsächlich jetzt bei dem Punkt angekommen sind, wo es ins Defizit geht, dann hat das natürlich Konsequenzen. Es ist eine Tragik, daß man natürlich den Haushaltsleuten so wenig wie dem Finanzminister es ohne weiteres abnimmt, weil in den vergangenen Jahren eben sehr oft davon gesprochen worden ist, daß wir an dieser Grenze seien. Aber auch ich bin der Überzeugung, daß es diesmal mit dieser Grenze wirklich ernst ist.Es kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Wir werden gar nicht umhinkönnen, da und dort eine härtere Kraftprobe mit gewissen Interessenverbänden durchzustehen. Der bequeme Weg, daß man schließlich doch immer wieder nachgibt, wird sich auf die Dauer nicht gehen lassen. Wir werden einmal die vielberufene Diskussion über die wirkliche Einflußmöglichkeit dieser Interessentenverbände führen müssen, eine Diskussion, die in der staatsrechtlichen Literatur geführt wird, die auch die Menschen draußen in der Öffentlichkeit — unser Volk — sehr beschäftigt. Wir werden auch hier im Parlament, glaube ich, standfester sein müssen, als es in der Vergangenheit da und dort der Fall war.Ich möchte zum Ausgangspunkt der heutigen Sitzung zurückkommen, zu der Frage des Verhältnisses Bund—Länder. Es ist gerade für uns in der CSU sehr erfreulich gewesen, festzustellen, daß von beiden Seiten, vom Bundeskanzler sowohl wie von Vertretern der Länder, heute hier erklärt worden ist, daß sich jetzt gute Ansatzpunkte für ein besseres Zusammenleben, für eine bessere Verständigung abgezeichnet haben. Dieser Verständigung kann es nur dienlich und förderlich sein, wenn auch in diesem Hause ein klares Ja, tein klares Bekenntnis zur föderalistischen Struktur unserer Bundesrepublik abgegeben wird. Wir wollen hier bestätigen, daß der Föderalismus, wie er sich im Grundgesetz repräsentiert, nicht etwa eine von der Besatzungsmacht
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Dr. Althammeraufgezwungene Staatsform ist, sondern daß auch wir vom Bund her diesen Föderalismus, der als Wesenszug unserer demokratischen Staatsordnung im Grundgesetz festgelegt ist, festhalten und vertreten wollen.Aber es besteht auch kein Zweifel darüber — Herr Kollege Strauß hat schon darauf hingewiesen—, daß dieser Föderalismus tagtäglich neu gelebt werden muß und daß es neben den tragenden und bleibenden Bestandteilen auch wandelbare Bestandteile geben wird. Gerade bei den Haushaltsausgaben ist ein solcher Punkt, wo sich die Gewichte verschieben. In den vergangenen Auseinandersetzungen sind manchmal harte Worte gegen die Handhabung des Bundes gefallen. Es ist von der Herrschaft der „goldenen Kugeln" gesprochen worden. Damit war gemeint, daß der Bund sich über Dotationen, über Finanzzuweisungen dort Kompetenzen zu verschaffen suche, wo nach dem Gesetz echte Gesetzgebungskompetenzen für ihn nicht vorhanden seien. Man muß um der Gerechtigkeit willen auch feststellen, daß diese Entwicklung — daß der Bund sich mehr und mehr um Aufgaben gekümmert hat, die primär den Ländern zustehen — keineswegs auf reines Machtreben des Bundes zurückzuführen war, wenn auch in den vergangenen Jahren die bessere Haushaltslage natürlich leichter Veranlassung dazu gegeben hat. Vielmehr haben auch die Länder berechtigte Wünsche gehabt. Sie haben erklärt: Wir sind mit Aufgaben belastet, die nicht wir aus unserer Landesentwicklung zu vertreten haben. Denken Sie an die ganzen Probleme der Zonenrandlage. Hier waren Situationen allgemein staatspolitischer Art gegeben, die die Länder nicht von sich aus allein bewältigen konnten. So gibt es eine Reihe von Aufgaben, bei denen es notwendig war, von der Zentrale her etwas zu tun.Es ist heute wiederholt davon gesprochen worden, daß man in diesen drei Jahren, die man durch den Finanzausgleich gewonnen hat, zu einer Flurbereinigung, zu einer klaren Aufgaben- und Ausgabenverteilung zwischen Bund und Ländern kommen will. Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn damit etwa die Vorstellung verbunden wird, es könne völlig rein getrennt werden — hier nur Bundesausgaben und dort nur Länderausgaben —, so möchte ich sagen: das wird sich nicht durchführen lassen. Eine Bereinigung kann unseres Erachtens nur so erfolgen, daß zunächst einmal auf seiten des Bundes alles durchforstet und dann festgestellt wird, was an Aufgaben vom Bund voll und ganz abgegeben werden kann, wo also keine Mittel mehr vom Bund ausgegeben werden müssen. Wir haben heute die Diskussion über das Honnefer Modell gehabt und dabei erlebt, daß in dem Augenblick, wo es um konkrete Beträge geht, die Diskussion plötzlich ganz anders verläuft. Wir werden auf der anderen Seite festzustellen haben, was an reinen Länderaufgaben bestehenbleibt. Für die sogenannten Gemeinschaftsaufgaben, die auch in der Äußerung der Ministerpräsidentenkonferenz in Saarbrücken angesprochen sind, werden wir dann eine Regelung zu finden haben, die beide Seiten, den Bund und die Länder, befriedigt.Ich glaube, wir werden ein gutes Stück vorangekommen sein, wenn wir diese Aufgabe leisten und den Streit beenden können, bei dem von den Ländern dem Bund verwehrt wird, dort tätig zu werden, wo nicht eine reine Bundesgesetzgebungszuständigkeit besteht, und wenn wir auf der anderen Seite die Gefahr bannen können, daß sich die Länder zusammentun und Institutionen schaffen, die quasi eine dritte Ebene bilden würden, also die Gefahr, daß sich etwa Hoheitsträger über den Rahmen eines einzelnen Landes hinaus auftun. Die Staatsrechtslehrer sagen dazu, daß hier ein sehr unklares Gebilde entstehen könnte, daß diese „dritte Ebene" im leeren Raum stünde, da ja auch vom Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt wurde, daß es neben dem Bund und neben den Ländern kein sonstiges Gebilde, etwa .ein Zentralstaatsgebilde, geben kann.Wenn wir diese Unklarheiten und diese Reibungspunkte beseitigen können, werden wir in dem Verhältnis von Bund und Ländern einen guten Schritt vorangekommen sein. Ich hege keinen Zweifel daran, daß die Spannung zwischen Bund und Ländern bestehenbleiben wird, glaube aber, daß auf der anderen Seite ein guter Ansatz dafür geschaffen ist, das Spannungsfeld auf das sachlich, aus der Natur der Angelegenheiten heraus unbedingt Gebotene zurückzuführen und Reibungsflächen auszuscheiden, die nicht unmittelbar in der Sache. begründet sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dichgans.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu drei Punkten. Zunächst zu dem. Thema Bund und Länder, das Herr Kollege Althammer soeben angesprochen hat. Die Flurbereinigung ist in der Tat dringend erforderlich! Herr Präsident, ich habe hier ein Originaldokument, aus dem sich ergibt, daß der Bund dem Land Nordrhein-Westfalen noch im Jahre 1963 einen Kredit von 1300 DM gewährt hat. Sie haben recht gehört: nicht 130 Millionen, sondern 1300 DM. — Acht Nebenabdrucke sind verteilt worden.Es liegt auf der Hand, daß die Verwaltungskosten eines solchen Kredits höher sind als das Kapital. Dazu möchte ich dem Herren Bundesfinanzminister einen konkreten Vorschlag machen. Der Bund sollte die Bearbeitung solcher Bagatellfälle sofort einstellen, die Mittel aus den Fonds, die dafür zur Verfügung stehen, global auf die Länder verteilen und den Ländern die Erledigung überlassen. Der Bund ist keine Gemeindeverwaltung.
Der nächste Schritt sollte eine allgemeine sachliche Bereinigung sein. Diese erfordert Klarheit über das Ziel der Bereinigung. Dazu möchte ich die These aufstellen, daß wir radikal die Aufgaben des Bundes von denen der Länder trennen sollten. Ich folge weithin der Auffassung des Ministerpräsidenten Meyers. Das ist meine persönliche Meinung, die sich
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Dr. Dichganskeineswegs mit der Meinung meiner politischen Freunde deckt. Selbst die Länder haben teilweise protestiert, und auch der Kollege Althammer, an dessen untadeliger föderalistischer Gesinnung doch kein Zweifel sein kann, hat wesentliche Einschränkungen gemacht. Ich möchte diese These trotzdem vertreten und begründen, auch auf die Gefahr hin, daß ich hier in den Ruf eines Superföderalisten komme, der ich in keiner Weise bin.Daß die radikale Abgrenzung zu einer Verwaltungsvereinfachung führt, ist wohl nicht zu bestreiten. Es wird aber geltend gemacht, die Präsenz des Bundes sei notwendig. Was heißt das? Präsenz des Bundes heißt in vielen Fällen zunächst schlicht finanzielle Präsenz. Im Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft von 1959 ist dieser Tatbestand sehr unbefangen geschildert. Da heißt es nämlich: Nachdem die Länder in Finanzschwierigkeiten kamen, mußte der Bund einspringen. Meine Damen und Herren, ich bin nicht der Meinung, daß das eine Rechtfertigung ist. Wenn die Finanzkraft aufgeteilt werden muß, so muß das über Art. 106 des Grundgesetzes erfolgen, aber nicht über Einzelzuweisungen °aus einzelnen Haushaltspositionen.Präsenz des Bundes heißt aber weiter: zusätzlicher horizontaler Finanzausgleich. Diese Art der Zuwendungen bedeutet nämlich, daß bestimmten Ländern, und zwar vorzugsweise den finanzschwachen Ländern, zusätzliche Mittel zugeführt werden. Ich halte auch dieses Verfahren für sehr problematisch. Den finanzschwachen Ländern muß geholfen werden, aber auf dem Wege über einen geordneten horizontalen Finanzausgleich, nicht auf dem Wege über Einzelzuweisungen. Einzelzuweisungen müssen zu Willkür führen. Wenn der Bund in dem einen Land eine Universität baut, in dem anderen keine, wenn der Bund zu dem Atomreaktor des einen Landes Zuschüsse gibt, zu dem eines anderen nicht, dann entstehen Verärgerungen, Ungerechtigkeiten, die wir vermeiden sollten.Präsenz des Bundes heißt endlich Koordinierung. Eine Koordinierung ist zweifellos notwendig. Sie darf sich bei uns nicht durch Befehl und auch nicht durch überhebliche Belehrung vollziehen, sondern nur durch sachliche Überzeugung. Im Bundesstaat erfordert Koordinierung Koordinierungsbereitschaft, und Koordinierungsbereitschaft erfordert Vertrauen. Wird dieses Vertrauen durch gezielte Finanzzuweisungen aus dem Bundeshaushalt erhöht? Ich fürchte, nein.Die Koordinierung der Länder untereinander ist schwer genug. Aber die Koordinierung wird noch schwerer, wenn sie von der Befürchtung überschattet wird, daß der Bund durch Finanzzuweisungen zusätzlichen Einfluß erreichen will, wie das Herr Kollege Althammer hier eben schon richtig geschildert hat. Vertrauen setzt Verständigung voraus. Die Geldzuwendungen mit Dotationsverpflichtungen, die wir hier beschlossen haben, Zuwendungen an bestimmte Länder unter Umgehung anderer, sind jedoch geeignet, eher Mißtrauen zu säen. Ich halte eine Koordinierung für notwendig, bin aber der Meinung, daß die gezielten Finanzzuweisungen ein untaugliches Mittel sind. Wir sollten uns nicht inden Verdacht bringen, daß wir Einfluß kaufen wollen; das ist unter unserer Würde.Meine Damen und Herren, Koordinierung der Länder ist nicht Gegenstand des Bundeshaushalts. Aber wir haben eine andere Aufgabe der Koordinierung, nämlich die der Koordinierung der Gruppen. Der Haushalt muß viele Bedürfnisse befriedigen, in der Verteidigung und der Wissenschaft, in der Landwirtschaft und bei den Kriegsopfern, bei Beamten und der Mineralölwirtschaft. Diese Anliegen sind inkommensurabel. Wir müssen sie aber alle in Geld umrechnen. Es entsteht das Problem der austeilenden Gerechtigkeit, mit dem sich bereits der Heilige Thomas von Aquin vor 700 Jahren befaßt hat. Die Aufspaltung der Gesetze in Regelungen für bestimmte Gruppen ist unvermeidlich. Aber es geht nicht nur um die Gerechtigkeit innerhalb der Gruppen, um die wir uns ja sehr bemühen, sondern auch um die Gerechtigkeit der Behandlung der Gruppen im Vergleich zueinander, und der Ort einer solchen Betrachtung sollte für mein Gefühl die Haushaltsdebatte sein. Der Haushalt muß entscheiden, was für die einzelnen Anliegen verfügbar ist.Ich bitte, zu erwägen, ob wir nicht unsere Geschäftsordnung ändern sollten, indem wir die Ausschußberatungen spalten. Die Ausschußberatungen sollten zunächst nur bis zu einem Zwischenbericht führen, in dem der Ausschuß vorschlägt, was er glaubt tun zu müssen. Diese Zwischenberichte wären dann zu einem Haushalt oder einem Nachtragshaushalt zusammenzuführen, wobei zu beschließen wäre, was nun für die einzelnen Anliegen zur Verfügung steht. Darauf wären diese Zwischenberichte den Ausschüssen wieder zurückzuverweisen, die dann den Betrag, den der Haushaltsausschuß zur Verfügung gestellt hat, gerecht in ihrem Sektor verteilen.Eine solche Gesamtschau aller Anliegen ist aber auch noch aus einem anderen Grunde wichtig. Bei der unvermeidlichen Aufspaltung der Gesetzgebung nach Gruppen müssen wir uns stets die Frage vorlegen: Was wird eigentlich aus denjenigen, die nicht zu einer Gruppe gehören?Wenn wir die Ruhegehälter der Beamten aufbessern, so müssen wir an die Fälle denken, in denen ein Ministerialreferent nach fünfzehnjähriger Leitung eines Referates und zehn Jahren Militärdienst mit einer Versorgung in der Größenordnung von 200 bis 400 DM ausscheidet, weil er aus irgendwelchen zufälligen Gründen nicht verbeamtet worden ist. Wenn wir über Ersatzzeiten in der Sozialversicherung diskutieren, müssen wir an folgendes denken: Für die Sozialrentner übernimmt der Bund die Versicherungsbeiträge für die Kriegszeit, und er hat im Rahmen der Dynamisierung eine Aufwertung durchgeführt, die normalerweise bis auf 200 % geht. Ein kleiner Gewerbetreibender, etwa der Inhaber eines Standes auf dem Markt, erhält nichts, obwohl er ebenso wie der Arbeiter im Krieg nicht in der Lage war, für seine Alterssicherung zu sorgen. Diese Folgen hat Frau Heddy Neumeister in einem Aufsatz über die nichtdynamischen Renten in sehr bemerkenswerter Weise geschildert. Wenn wir bei4906 Deutschei Bundestag — 4. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Januar 1964Dr. DichgansFlutkatastrophen und Massenunfällen Beträge bewilligen, müssen wir uns die Frage vorlegen: Macht es für das Opfer eines Ereignisses, eine Witwe, eine Waise, einen Unterschied, ob der Mann, der Vater bei einem Ereignis umgekommen ist, das zu dem von uns geregelten Bereichgehört, oder ob das Ereignis ein einzelner Unfall war? Es ist das legitime Recht der Gruppen, sich für ihre Interessen einzusetzen. Es ist aber die Pflicht des Parlaments, für alle Mitbürger zu sorgen, auch und gerade besonders für diejenigen, für die sonst niemand sorgt.Zum Schluß erlauben Sie mir noch einige wenige Worte zu den Ausgaben für die Wissenschaft. Wenn in einem deutschen Parlament das Wort Wissenschaft fällt, so folgen Beteuerungen der Hochachtung für die Wissenschaft.
In diesem Chor möchte ich nicht fehlen. Aber ich habe das Gefühl, daß die allzu häufige Beteuerung der Hochachtung zur Gefahr einer Illusion führt, nämlich zu der Illusion, als sei bei der Wissenschaft alles in bester Ordnung. Wenn wir bei der deutschen Wissenschaft international nicht mehr den Rang haben, den wir haben möchten, so liegt das nach meiner Überzeugung gar nicht am fehlenden Geld, sondern es liegt vielmehr an der unzweckmäßigen Organisation unseres Bildungs- und Wissenschaftswesens. Wir tun in Deutschland unser Möglichstes, um unsere Jugend von der höheren Bildung abzuschrecken. Wir halten unsere jungen Akademikerbis aber den 30. Geburtstag hinaus im Stande eines unterbezahlten oder tauch völlig unbezahlten Lehrlings fest.
Das ist ein einsamer deutscher Weltrekord.Ähnlich liegt es beim Nachwuchs für die Hochschullehrer. Auch hier geschieht alles, um aktive und tüchtige Leute abzuschrecken. Neben der wissenschaftlichen Neigung und Begabung sind in Deutschland folgende Eigenschaften für einen künftigen Hochschullehrer unerläßlich: eine unendliche Geduld, die Bereitschaft, sich bedingungslos für viele Jahre einem Ordinarius unterzuordnen, sich bedingungslos von den Sympathien und Antipathien einer Fakultät abhängig zu machen und das eigentlich unzumutbare Risiko auf sich zu nehmen, daß eine vieljährige Vorbereitung auf eine akademische Laufbahn plötzlich zunichte wird, weil ein neuer Ordinarius erscheint, der neue Leute mitbringt und die Mitarbeiter seines Vorgängers abschiebt. Dürfen wir uns bei dieser Lage wundern, daß die deutschen Universitäten in manchen Fakultäten nicht einmal genügend Nachwuchs für die bestehenden Lehrstühle produzieren? Hat es einen Sinn, neue Lehrstühle zu errichten, solange viel zu viele der vorhandenen unbesetzt sind? Hat es einen Sinn, neue Universitäten zu bauen, solange die Universitäten in Deutschland nur in 22 von 52 Wochen — das ist in 42% der möglichen Zeit — in vollem Betrieb sind? Auch das ist ein einsamer deutscher Weltrekord.Meine Damen und Herren, das sind Fragen, die unmittelbar an den Haushalt heranführen. DieHochschulreform ist überfällig. Daß sie bisher nicht zustande gekommen ist, sollte man nicht den Wissenschaftlern vorwerfen. Die deutsche Wissenschaft leistet auch heute noch Hervorragendes. Es wäre aber unbillig, von den Wissenschaftlern zu erwarten, daß sie gleichzeitig gute Verwaltungsmänner und gute Organisatoren sind. Die Zuständigkeit und die Verantwortung für diese Aufgaben liegen bei der Konferenz der Kultusminister, die sich jetzt energisch dieses Anliegens annimmt. Wir wollen hoffen, daß ein neuer Wilhelm von Humboldt ersteht, der uns ein modernes, vorbildliches System schafft, so wie das Humboldtsche System hundert Jahre lang vorbildlich gewesen ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Artzinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre sicher Gott und den Menschen wohlgefälliger, wenn ich auf meine Wortmeldung verzichtet hätte und dadurch die ohnehin schon lange Rednerliste verkürzt hätte. Ich kann Ihnen nur versprechen, daß ich es sehr kurz machen werde. Aber wir halten es für notwendig, zu einigen Bemerkungen, die der Herr Kollege Erler gemacht hat, zur Steuer der Wahrheit Stellung zu nehmen.Herr Kollege Erler hat zunächst unseren Eigentumspolitikern empfohlen, sich in ihrer Fraktion stärker in dem Sinne durchzusetzen, den außerordentlichen Haushalt auszuweiten, um die Eigentumsbildung zu ermöglichen. Nun, das geht in die Richtung der Opposition, und es ist das gute Recht des Herrn Kollegen Erler, die Politik seiner Fraktion zu stützen. Lassen Sie mich ohne jede Bosheit darauf hinweisen, daß es in der Fraktion der SPD darüber offenbar verschiedene Auffassungen gibt.Ich zitiere aus dem Protokoll der Sitzung vom 8. November 1962, in der der Kollege Dr. Möller folgendes ausführte:Die Bundesschuld ist, gemessen an internationalen Maßstäben, . . . unverhältnismäßig niedrig. Das ist eine große Leistung der deutschen Finanzpolitik, wenn man berücksichtigt, was wir . . . haben wiederaufbauen müssen . . Ich wiederhole, wenn man das berücksichtigt, dann muß jeder anerkennen, daß das eine gewaltige Leistung gewesen ist, die wir bei diesem Schuldenstand in erheblichem Umfange der nach uns kommenden Generation abgenommen haben.Ich hoffe, Herr Dr. Möller, daß Sie sich dieses Passus noch entsinnen.In der Sitzung vom 15. Mai 1963 aber sagte der Kollege Seuffert folgendes:Was in der Tat geschehen ist, ... ist, daß Ihre — nämlich der Koalition, insbesondere der CDU —Finanzminister und Ihre Regierungen bisherregelmäßig in allen Jahren nicht einmal die
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Dr. Artzingervom Haushaltsgesetz vorgesehenen und vom Parlament bewilligten außerordentlichen Haushalte ausgeführt haben, sondern daß Sie immer wieder diese Lücken aus den ordentlichen Steuereinnahmen gedeckt und damit gleichzeitig nicht nur das Haushaltsbild verschleiert und die künstlichen Ausgleiche vorgenommen, sondern auch den Weg zu Steuerreformen und insbesondere auch zu Steuersenkungen verbaut haben.Der Abgeordnete Dr. Vogel rief dazwischen: „Ist es ein Verbrechen, keine Schulden zu machen, wenn man sie nicht machen muß?" Darauf Dr. Seuffert: „Es ist ein Fehler, sie nicht zu machen."Wie man sieht, ist auch das Gebiet der Finanzpolitik vom kurzfristigen Wechsel der Überzeugungen nicht ausgenommen. Aber ich will das gar nicht gegen die Opposition ausspielen; man kann in guten Treuen verschiedener Meinung sein, wie man einen Aufwand, insbesondere einen Investitionsaufwand, finanzieren soll.Ich darf dazu als eine objektive Stimme die des Professors der Finanzwissenschaft Haller, der ja der Opposition kein Unbekannter ist, weil er auf der Wirtschaftstagung der SPD in Essen ein Referat hielt, zitieren. In dem Aufsatz: „Zur Problematik der Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben" im „Finanzarchiv" 1959 sagt er:Bisher hat jede Generation von der vorangegangenen mehr übernommen, als diese selbst übernahm, jedoch nur, um auch ihrerseits mehr an die folgende weiterzugeben, als sie selbst erhielt. Ein Lastenausgleich zwischen den Generationen ist nur geboten, wenn es sich um tatsächlich einmalige Sonderbelastungen handelt.Ich glaube daher, daß unsere Finanzierungsart, wie wir sie bisher durchgeführt haben, auch vor einem objektiven Kritiker, wie es dieser Vertreter der Finanzwissenschaft ist, durchaus standhalten kann, und ich glaube, daß wir gut daran tun, uns die Schuldenfreiheit des Bundes als eine letzte Konjunkturreserve offenzuhalten.Ich komme zu einer weiteren Bemerkung des Kollegen Erler, in der er den amerikanischen Einkommensteuertarif zu unserem deutschen Steuertarif in Vergleich stellte und auf den Spitzensatz von 91 % in den Vereinigten Staaten hinwies. Meine Damen und Herren, es ist nachgerade ein Gemeinplatz, daß man einen Steuervergleich so nicht vornehmen kann, indem man nämlich schematisch die Sätze des Tarifs vergleicht. Denn der Tarif ist bekanntlich nur ein Teil, und sicherlich nicht der bedeutendste Teil eines Steuergesetzes. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Capital gains in Amerika durchgängig mit nur 25 % besteuert werden.
— Bei uns gar nicht?
— Ich darf darauf hinweisen, daß der Satz von 53% eine Augenauswischerei ist; denn dazu kommtdie Vermögensteuer, kommt die Gewerbesteuer, kommt die Kirchensteuer, kommt der Lastenausgleich, so daß sich eine Gesamtspitzenbelastung von etwa 65 % ergibt. Ich glaube, man sollte endlich aufhören, diesen 91-Prozent-Satz des amerikanischen Steuertarifs immer wieder ins Feld zu führen; denn man wird — entschuldigen Sie — unwahr, wenn man nicht zugleich darauf hinweist, daß wenige Promille des amerikanischen Steueraufkommens aus den Sätzen des Einkommensteuertarifs stammen, die über 50 % liegen.Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß Herr Kollege Dr. Möller in Essen auch über die Steigerung des Spitzensatzes gesprochen hat. Er hat von einer vorsichtigen Erhöhung gesprochen. Ich will das jetzt nicht wörtlich zitieren. Im Sinne dieser Ausführungen kann man darüber streiten, ob eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 58 %, wie sie die Steuervorlage der Opposition vorsah, noch in diesem Rahmen liegt oder nicht. Herr Dr. Möller hat aber auch gesagt, daß wir darauf achten müßten, uns im Rahmen der EWG von den Regelungen unserer Nachbarn nicht zu entfernen. Dazu darf ich bemerken, daß in keinem Land der EWG der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer höher liegt als 50%.Meine Damen und Herren, der Redner der Opposition bei der Vorlage der Steuergesetze, Kollege Seuffert, hat damals darauf hingewiesen, daß es ja nur 70 000 Leute seien, die von diesem Spitzensteuersatz betroffen würden. Das mag richtig sein. Ich kann im Augenblick nicht prüfen,. ob diese Zahl zutrifft. Aber selbst wenn es nur 70 000 sind, bin ich der Meinung, daß wir kein Recht haben, über 'die Belange dieser 70 000 zur Tagesordnung überzugehen.
— Ja, wo wollen Sie es hernehmen? — Ich habe nach den Darlegungen des Herrn Kollegen Erler den Eindruck gehabt, als er sich darauf berief, daß im Sinne der Gerechtigkeit sei, den vielen die Steuer zu erleichtern, aber dafür von den wenigen Hochverdienern um so mehr zu nehmen, daß das Motto dieser Steuergerechtigkeit lautet: gerecht ist die Steuer, die die anderen zahlen müssen.
Ich bin der Meinung, daß man so nicht verfahren kann,
ganz abgesehen davon, daß jedes Prozent über 53% hinaus uns sage und schreibe 35 Millionen DM Steueraufkommen mehr bringt. Bei einer Steigerung um 5 % sind das also 175 Millionen DM, und das ist angesichts einer Senkung um 21/2 Milliarden DM kein Objekt.Aber wir wollen dieses Zahlenspiel einmal beiseite lassen. Ich erinnere Sie an das, was wir soeben von Kollegen Dichgans über die austeilende Gerechtigkeit gehört haben. Da liegt sicherlich ein sehr schwieriges Problem. Aber so, wie Herr Erler hier es
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Dr. Artzingerakzentuiert hat: gerechte Steuer ist die, die die anderen zahlen müssen, so kommen wir nicht weiter.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß mich gegen die Unterstellung des Herrn Kollegen Artzinger wenden, die er gegenüber dem Kollegen Erler und gegenüber seinen Ausführungen zu unseren Steuervorschlägen gemacht hat. Das Protokoll wird nachweisen, daß diese Unterstellung in keiner Weise berechtigt ist.Ich darf feststellen, daß wir uns in der Steuerdebatte ausreichend über diese Problematik unterhalten haben. Wir haben bei dieser Gelegenheit schon darauf aufmerksam gemacht, daß nicht nur wir so denken, sondern daß z. B. auch der Mittelstandskreis der CDU/CSU und auch die Sozialausschüsse der CDU/CSU ähnliche Vorstellungen über einige von uns im Interesse der Steuergerechtigkeit eingebrachte Anträge haben wie wir. Sie können doch nicht leugnen, daß die Frage der Abzugsfähigkeit der Vermögensteuer bei der Einkommensteuer auch für Sie ein ernstzunehmendes Problem ist und daß es da auch bei Ihnen Meinungsverschiedenheiten gibt, und Sie können nicht leugnen, daß das gleiche auch für die Körperschaftsteuer und die Änderungen gilt, die wir in dieser Richtung vorgeschlagen haben.In diesem Zusammenhang ein Wort zu Herrn Kollegen Strauß. Er hat ja mit seinem heutigen Auftritt das Geheimnis, das um diese Kleine Anfrage an die Bundesregierung wegen unserer drei Anträge lag, gelüftet. Herr Kollege, Sie hätten es einfacher haben können. Wären Sie zu uns gekommen, hätten wir Ihnen die Zahlen genannt.Meine Damen und Herren, Sie wissen — das ist Ihnen wahrscheinlich nicht unbekannt — seit den Gesprächen, die wir mit den Herren des Bundesfinanzministeriums gestern gehabt haben, daß hinsichtlich dieser Endzahl durchaus Meinungsverschiedenheiten vorhanden sind. Es ist noch nicht erwiesen, ob die in der Antwort der Bundesregierung angegebene Zahl von 950 Millionen oder die von uns in der Pressekonferenz vor einiger Zeit genannte Zahl von 500 Millionen stimmt. Wir sind von Schichtungstabellen ausgegangen, die wir vorzulegen bereit sind. Wir werden ja bei Behandlung dieser Steueranträge im Finanzausschuß die Unterlagen des Bundesfinanzministeriums erhalten und dann feststellen können, inwieweit unsere Schätzung zutrifft oder inwieweit die Schätzungen des Bundesfinanzministeriums zutreffen.Herr Kollege Strauß, ich habe mir notiert, daß Sie folgendes gesagt haben: Wenn Sie aber den Ländern — und damit haben Sie uns angesprochen — 680 Millionen DM und im anderen Jahr 710 Millionen DM Mindereinnahmen zumuten, dann stellt sich doch ganz offen die Frage: Wie sollen wir die Zustimmung der Länder zu bestimmtenSteuerreformplänen bekommen, wenn ihnen hier Mindereinnahmen dieser Art von vornherein zugemutet werden?
— Vor Änderung der Bundesquote? Nein, die Änderung der Bundesquote war vorher schon beschlossen. Sie waren hoffentlich dabei. Hier handelt es sich bei Ihnen um die Feststellung, daß unsere Steueranträge diesen Steuerausfall für die Länder zur Folge haben würden.Bei Ihren weiteren Ausführungen handelt es sich um die Ermäßigung der Einkommen- und Körperschaftsteuer durch das Steueränderungsgesetz 1964 und den. dabei in Erscheinung tretenden Betrag von 2,5 Milliarden DM. Das ist zunächst die Vorstellung des Bundesfinanzministeriums nach allem, was man hört. Auch wenn es 2 Milliarden DM sind, bleibt es so, und das möchte ich feststellen, daß man nur das eine oder das andere machen kann: Entweder, Herr Kollege Strauß, folgt man dem von uns vorgeschlagenen Weg und nimmt diese Veränderung vor, wobei wir ja zum Ziel der höheren Steuergerechtigkeit noch einige Anträge vorgelegt haben — dann sind Vorlagen des Bundesfinanzministeriums uninteressant —, oder man lehnt unsere Anträge ab, und dann steht die Vorlage des Bundesfinanzministeriums im Steueränderungsgesetz 1964 mit Wirkung für 1965 zur Debatte. Insofern haben Sie hier Äpfel und Birnen zusammengerechnet. Das paßt also auf keinen Fall.Meine Damen und Herren, Herr Artzinger hat gemeint, zwischen den Äußerungen des Herrn Kollegen Erler, denen des Herrn Kollegen Seuffert und meinem Zitat einen Gegensatz konstruieren zu können. Lesen Sie sich das, was ich in dieser Bundestagsrede gesagt habe, einmal genau durch. Dann werden Sie feststellen, daß es sich dabei um eine ganz andere Problematik gehandelt hat. Es hat sich dabei allein darum gehandelt, die große Wiederaufbauleistung des deutschen Volkes festzustellen
und dabei festzuhalten, daß das um so bedeutsamer ist, als keine ins Auge fallende Verschuldung des Bundes vorliegt. Ich kann Sie nur daran erinnern, was der jetzige Bundeskanzler bei Vorlage des ersten Wirtschaftsberichtes hier im Hohen Hause sinngemäß ausgeführt hat: Daß man sich überlegen müsse, ob die bisherige Finanzierung der Aufgaben der öffentlichen Hand richtig gewesen sei.Dabei kommen wir zu dem Kernpunkt: ob man vermögenswirksame Ausgaben nur durch Steuern zu finanzieren hat. Dann darf man sich nicht, wie Herr Kollege Strauß es getan hat, darüber beschweren, daß der Anteil der öffentlichen Hand an der Vermögensbildung immer größer wird. Denn wenn wir vermögenswirksame Ausgaben über Steuern finanzieren, muß sich die Eigentumsbildung im deutschen Volk zugunsten der öffentlichen Hand vollziehen. An dieser Tatsache kommen Sie doch nicht vorbei.
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. MöllerDeswegen haben wir immer wieder übereinstimmend erklärt, daß man im Rahmen des Möglichen und Vertretbaren den Kapitalmarkt in Anspruch zu nehmen hat. Ich habe immer wieder gesagt und muß' es jetzt noch einmal wiederholen: Die Alternative ist nicht, über Anleihen zu finanzieren oder nicht zu finanzieren, sondern das, was notwendig ist, über Anleihen oder mit Steuermitteln zu finanzieren. Da wir alle hinsichtlich der steuerlichen Inanspruchnahme der Bevölkerung eine Grenze zu respektieren haben, werden wir an einer Inanspruchnahme des Kapitalmarktes nicht vorbeikommen. Dazu hat übrigens Ihr Kollege Burgbacher, einer Ihrer Eigentumspolitiker, einen sehr interessanten Aufsatz veröffentlicht. Da Sie heute hier so viele Aufsätze von Sozialdemokraten zitiert haben, darf ich mich wohl auf Herr Burgbacher beziehen und ihn bitten, auch Ihnen diese Ausführung zur Verfügung zu stellen.Nun noch ein Wort zu den Vergleichen! Ich habe dazu schon heute vormittag einiges ausgeführt. Ich glaube, daß es nicht ganz zweckmäßig ist, soviel Aufwand wegen des von uns vorgelegten Antrages zu betreiben, die Spitzensätze in der Einkommen- und Körperschaftsteuer zu erhöhen. Sie haben selber ausgerechnet, es sei ein Betrag, der zwischen 150 und 200 Millionen DM liege. Sie brauchen sich gar nicht zu ereifern, denn Sie haben die Mehrheit hier im Hohen Hause.
Ich wehre mich vor allen Dingen gegen diese Zusammenrechnung, die ich für unvertretbar halte. Ich zahle auch Kirchensteuer. Aber diese Kirchensteuer ist nicht mit der Steuer zu vergleichen, die der Staat erhebt, gegen die ich mich nicht wehren kann. Das, was ich der Kirche als Abgabe zahle, ist meine Privatsache.
— Ihre nicht? Das kann ich nicht ändern. Aber ich würde sehr empfehlen, diesen Punkt aus der Diskussion und aus der Addition einfach herauszuhalten.
— Das haben wir Ihnen in der Steuerdebatte alles auseinandergesetzt. Sie können nicht erwarten, daß wir diese Ausführungen, die Sie im Protokoll nachlesen können, in dieser Abendstunde für Sie noch einmal wiederholen.Herr Kollege Strauß, was ich mit dem im Auftrag der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion vorgetragenen Vorschlag hinsichtlich des Verteidigungshaushaltes sagen wollte, hat Herr Kollege Erler noch einmal wiederholt und klargestellt. Ich habe Verständnis dafür, daß Sie sich als früherer Bundesverteidigungsminister besonders angesprochen fühlten. Aber es ist ja auch wohl verständlich, daß Sie nicht mehr wie früher in Verbindung zu den Spitzen der Bundeswehr stehen. Ich darf mal aus einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Persönlichkeit des neuen Generalinspekteurs der Bundeswehr zitieren, der, wie es hier heißt, in moderner Mann sein soll und der Nationalökonom ist. Herr Kollege Strauß, über diesen Generalinspekteur also schreibt die Frankfurter Zeitung u. a.:Der Nationalökonom Trettner schließlich sorgt sich um den Militärhaushalt. Er will demnächst einen Vorschlag vorlegen, mit dem zur Sparsamkeit angeregt wird.
Dabei wird nicht von kleinlicher Knauserei die Rede sein. Volkswirtschaftlich formuliert sollen aber finanzieller Einsatz und meßbarer Nutzen auch in den Streitkräften mehr aufeinander abgestimmt werden.Genau das wollen wir mit unserem Vorschlag auch erreichen, und Sie sollten sich nicht zu früh festlegen, sondern sich einmal der Mühe unterziehen, diesen Vorschlag sorgfältig und nach den von uns gegebenen Kommentaren zu überprüfen.Das, meine Damen und Herren, wollte ich zum Schluß zur Berichtigung einiger Bemerkungen insbesondere der Kollegen Artzinger und Strauß sagen.
Das Wort hat der Abgeordnete Seuffert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem sich in diese Haushaltsdebatte teilweise auch noch eine Steuerdebatte eingeschoben hat, möchte ich trotz der späten Stunde mit einigen Sätzen auf die Bemerkungen des Herrn Kollegen Artzinger über die „Steuer, die der andere zahlt", eingehen.Herr Kollege Artzinger, es ist erstaunlich, mit welch schwerem Geschütz unser Antrag betreffend die sechsstelligen Einkommen hier immer beschossen wird. Zuerst haben Sie gesagt: Da wird die Wirtschaft kaputt gehen. Das haben Sie im Ernst nicht wiederholen können.
— Lieber Herr Kollege Etzel, erstens einmal ist die Frage, was man unter kleinen Leuten versteht.
— Zuerst haben Sie gesagt, dann würde die Wirtschaft kaputtgehen — wegen dieser 70 000 Einkommen! Das können Sie im Ernst nicht wiederholen. Auch das können Sie im Ernst nicht sagen, daß es der Leistungsfähigkeit der Leute nicht entspricht, einige Prozente mehr auf einen Teil ihres Einkommens — denn nur darum handelt es sich doch — zu zahlen.Jetzt sagen Sie einfach: Das ist die „Steuer des anderen", und es ist unanständig, sie zu verlangen. Erstens muß jede Steuer dort genommen werden, wo sie entsprechend der Leistungsfähigkeit ohne
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SeuffertSchaden getragen werden kann. Das gilt wohl immer.
Was diese „Steuer des anderen" anlangt, so will ich Ihnen unsere Meinung dazu sagen. Jede Mark an Steuern, die der kleine Mann zahlt, die ihm weh tut und die er deswegen zahlen muß, weil ein anderer, der sie besser zahlen könnte, nicht zahlen will, jede Mark Steuerersparnis oder Steuersenkung, die ihm verweigert wird, weil ein anderer die Steuer, die er gut zahlen könnte, nicht zahlen will, oder die ihm deswegen verweigert wird, weil an sich auch von Ihnen in ihrer Richtigkeit nicht bestrittene Tarifverbesserungen verweigert werden, die zur Herstellung der Gerechtigkeit an anderer Stelle zu Lasten einiger Leute vorgenommen werden können, ist eine Steuer, die er für einen anderen zahlt, und das wollen wir nicht.
Das Wort hat der Herr Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zettelberg, der sich im Laufe des Tages vor meinem Platz angesammelt hatte, ist bis auf vier Zettel zusammengeschmolzen. Ich glaube, ich kann noch zwei weitere einsparen. Ich nehme an, daß Sie einverstanden sind, wenn ich einige wenige Punkte, bei denen ich es für nötig halte, hier in Stichworten noch einmal vortrage, damit sie im Protokoll festgehalten werden. Wir können die Debatte darüber in der zweiten Lesung und vorher im Haushaltsausschuß weitgehend und ausgiebig führen.Eine große Rolle haben die Höherschätzungen der wirtschaftswissenschaftlichen Institute bei den Zuwachsraten für das Sozialprodukt auf real 5,5 %, nominal 7% oder noch mehr gespielt, die vom Wirtschaftsbericht der Bundesregierung auf 4,2% bzw. 6% geschätzt worden sind. Ich will dazu folgendes sagen. Sehr verehrter Kollege Dr. Möller, ich könnte die ganze Geschichte sehr schnell dadurch erledigen, daß ich sage: Unterstellen wir einmal, die wirtschaftswissenschaftlichen Institute hätten recht; dann könnten wir also die Steuern so, wie Sie es vorgeschlagen haben, erhöhen. Da muß ich Sie allerdings darauf aufmerksam machen, daß es nicht nur auf die Einnahmen ankommt, sondern auch auf die Art, wie ich das Geld ausgebe; denn ein Zuwachs im Jahre 1964 nutzt gar nichts, wenn ich lang andauernde, jährlich wiederkehrende Leistungen damit bezahlen will. Und wenn mir Herr Kollege Dr. Möller für das Jahr 1965 schon einen Rückgang dieser Zahlen ankündigt oder mindestens — genauso wie ich — aus der Tatsache ihrer Herkunft — Exportüberschüsse usw. — Bedenken für das Jahr 1965 anmeldet, dann, muß ich Ihnen sagen, können Sie nicht im Jahre 1964 damit Ausgaben finanzieren, die in späteren Jahren ansteigen werden. Darüber müssen wir uns unterhalten.Herr Kollege Dr. Möller, Sie haben mir vorgehalten, daß ich verkehrt geschätzt hätte, das Anleihevolumen des Jahres 1963 belaufe sich auf 11 bis 12 Milliarden DM, während die Bundesbank 15 bis 16 Milliarden DM veranschlagt habe. Ich muß Sie — leider zu Ihrem Pech, Herr Kollege Möller — darauf aufmerksam machen, daß Sie das kleine Wort „brutto" nicht gelesen haben, das hinter der Veröffentlichung der Bundesbank steht. Das bedeutet nämlich, daß in den 15 bis 16 Milliarden DM brutto selbstverständlich alle Umschuldungsmilliarden, d. h. 4 bis 4,5 Milliarden DM, enthalten sind. Wenn Sie diese von 16 Milliarden DM abziehen, sind Sie genau bei meiner Schätzung von Anfang des Jahres.Sie haben sich in Ihren Ausführungen aber auch noch in einem anderen Punkt verschätzt, nämlich mit Bezug auf den Zuwachs oder den Vergleich der Sozialausgaben — vgl. Finanzbericht Seite 138. Über die Begriffe „engere Sozialausgaben", „weitere Sozialausgaben" wollen wir uns heute nicht mehr unterhalten; ich meine jetzt wie Sie die Sozialausgaben im engeren Sinne. Sie haben gesagt, das seien 20 oder 25%; es habe Jahre gegeben, wo die Prozentzahlen sogar sehr viel höher gewesen seien. Nun, Herr Dr. Möller, diese Prozentzahlen darf man nicht nehmen, wenn man sich ein Bild machen will, sondern Sie müssen auf Seite 138 des Finanzberichts nur eine Zeile höher gehen. Dann stellen Sie nämlich fest, daß die Sozialausgaben im engeren Sinne von 1950 mit 4,6 Mrd. DM = 37 % des Haushalts auf 15,1 Mrd. DM, nämlich um 300% = 25,9 % für das Jahr 1964 angestiegen sind.
So darf man es natürlich nicht machen. Sie müssen die Zeile darüber auch mit vorlesen.Sie haben auch die Frage gestellt, warum das Gesetz zur Änderung des Art. 120 des Grundgesetzes nicht erlassen worden sei. Sie haben gesagt. das hätten Sie schon 1962 gefordert. Ich muß leider feststellen, daß dieses Gesetz am Widerspruch der sozialdemokratischen Fraktion gescheitert ist, die nicht bereit war, die verfassungsändernde Mehrheit herzustellen. Daran hat es doch gelegen,
daß das Gesetz zur Änderung des Art. 120 des Grundgesetzes nicht fertig geworden ist.Sie haben auch beanstandet — wobei auch wieder verschiedene Auslegungen möglich sind: Prozentsätze der Zuwachsraten in den Länderhaushalten aus eigenen Mitteln oder einschließlich der Mittel des Bundes; das will ich hier nicht vertiefen, darüber können wir uns später auseinandersetzen —, daß ich bei einer Durchschnittszuwachsrate von 5,8% — meine eigenen Zahlen im Finanzbericht — einen Appell an die Länder und Gemeinden gerichtet hätte, sie-sollten sich der konjunkturgerechten Gestaltung der Haushaltspläne, wie sie der Bund anstrebt, anschließen. Sie haben gesagt, das sei nicht richtig, denn man habe sich doch in den Ländern mit 5,8% im Rahmen des Bundes gehalten. Herr Kollege Dr. Möller, wenn ich einen Durchschnittssatz von 5,8 % zugrunde leere, muß ich sagen, daß ein paar Länder zum Teil erheblich darüber hinausgegangen sind. Im übrigen habe ich mit
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Bundesminister Dr. Dahlgründiesem Appell an die Länder auch nicht die absolute Zahl — hier ist einmal der Ausdruck „magische Zahl" gefallen — der Zuwachsrate gemeint. Es kommt auch entscheidend auf die Art an, wie diese Mittel verwendet werden. Es ist ein Unterschied, ob ich eine Schule, ein Krankenhaus, eine Sportstätte, ein Theater, eine Kongreßhalle oder sonst etwas baue und wann ich es baue — nämlich konjunkturgerecht, auch in den Wintermonaten.Noch ein Punkt! Verschiedene Redner, soweit ich mich erinnere, Herr Kollege Dr. Möller, Herr Kollege Erler, aber auch Herr Kollege Ritzel, haben von den großzügigen Steuersenkungsplänen des Bundes auf Kosten der Länder, zu Lasten der Länder usw. gesprochen. Ich begreife eigentlich nicht, Herr Kollege Dr. Möller, daß ausgerechnet Sie als Mitglied des Vermittlungsausschusses in dieser Weise Stellung genommen haben. Ich erinnere mich allerdings nicht, ob Sie an der entsprechenden Sitzung teilgenommen haben. Wenn Sie an ihr teilgenommen hätten, hätten Sie gesehen, daß zwischen Bund und Ländern über die Notwendigkeit, eine Steuerreform, und zwar noch im Laufe dieses Jahres, durchzuführen, überhaupt kein Streit besteht.
Es gehört auch zu der Klimaverbesserung, zu der besseren Aussprache, die wir zustande gebracht haben, ,daß man sich über solche Dinge unterhält.
— Auch die sozialdemokratisch geführten Länder, Herrr Kollege Wehner — die lassen doch Ihre Fraktion nicht im Stich! —, sind sich an sich darüber einig, daß auf dem Wege der Steuerreform etwas gemacht werden muß.Meine Damen und Herren, ich sitze mit den Ländern schon etwas länger als seit vorgestern zusammen. An dieser Steuerreform arbeiten Bund und Länder schon seit dem Spätsommer. Die Länder sind von mir über alles genau unterrichtet worden. Es ist also wirklich ungerecht, hier zu sagen: auf Kosten der Länder. Es dreht sich um folgendes. Die Referenten von Bund und Ländern haben gemeinsam in etwa den Rahmen dieses Gesetzes festgelegt. Die Ausfüllung, die Höhe, das Volumen ist letzten Endes eine politische und finanzielle Entscheidung der Minister. Ich kann Ihnen verraten, daß am 20. Januar dieses Jahres die letzte Besprechung hier in Bonn und voraussichtlich in der Bundesratswoche im Februar, am 6. Februar, die Abschlußbesprechung mit den Ländern stattfinden werden.Es geht doch einfach schlicht um folgendes. Es gibt eine Traumgrenze, die können Sie so hoch setzen, wie Sie wollen — Steuersenkung, Steuererleichterung; die Steuerbürger würden sagen: am liebsten überhaupt keine Steuer! —, und es gibt eine untere Grenze, wo die ganze Geschichte wirkungslos sein würde. Bund und Länder haben sich im Vermittlungsausschuß bei der Besprechung des Beteiligungsgesetzes geeinigt: wir wollen in gemeinsamer Überlegung die Linie zwischen der Traumgrenze und der unteren, wirkungslosen Grenze finden, die richtige Grenze, die Bund und Länder sich unterBeachtung der Belange der Gemeinden leisten können.Herr Kollege Dr. Möller, wenn Sie etwas von 21/2 Milliarden gehört haben, so weiß ich nicht, ob wir uns 21/2 Milliarden leisten können; das möchte ich nicht allein entscheiden, das möchte ich mit den 11 Ländern zusammen in vernünftiger Weise hinbringen. Ich glaube, daß Sie alle damit zufrieden sein sollten, wenn wir das so machen.
Zum letzten Punkt auch nur in Stichworten: der Verlust von 1 % Bundesanteil auf der Einnahmenseite. Es ist wichtig, daß Sie nicht vergessen: hier ist das Loch nicht durch Mehrausgaben, durch Mehrbewilligung auf der Ausgabenseite gerissen worden, sondern auf der Einnahmenseite fehlen mir — bei 40 % zu 39 % also 1 % — 392 Millionen DM im Jahre 1964. Herr Kollege Dr. Emde hat in seiner Haushaltsrede heute morgen oder heute nachmittag Vorschläge über die Deckung dieser Lücke von 392 Millionen DM gemacht. Ich werde rechtzeitig dem Haushaltsausschuß entsprechende Vorschläge oder eine Stellungnahme zu den Vorschlägen von Herrn Dr. Emde zu den Beratungen auf den Tisch legen. Ich glaube, daß ich heute abend nichts weiter sagen sollte, auch nichts sagen kann.Ich danke allen Teilnehmern an dieser Debatte für ihre Bereitschaft und Ihnen hier im Saal für ihre Bereitschaft, so lange auszuhalten. In den Dank nach Abschluß der ersten Lesung des Haushalts schließe ich auch meine Damen und Herren im Finanzministerium ein, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, bis zu diesem Punkte zu kommen.
Ich schließe die Aussprache der ersten Beratung. Vorgesehen ist Überweisung an den Haushaltsausschuß. — Es ist so beschlossen.Ich rufe den ersten Zusatzpunkt auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes vom 22. Juni 1954 über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Abkommen über die Vorrechte und Befreiungen der Sonderorganisationen der Vereinten Nationen vom 21. November 1947 und über die Gewährung von Vorrechten und Befreiungen an andere zwischenstaatliche Organisationen
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (Drucksache IV/1776).Der Schriftliche Bericht des Herrn Abgeordneten Dr. Wahl liegt vor. Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Eine Ergänzung ist nicht gewünscht, auch keine Aussprache.Ich rufe auf Art. 1, — Art. 2, — Art. 3, — Einleitung und Überschrift. — Wer zustimmt, gebe bitte Zei-
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Vizepräsident Dr. Dehlerchen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme. Ich schließe die zweite Beratung und eröffne diedritte Beratung.Wer dem Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung zustimmt, möge sich vom Platze erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Assoziierungsabkommen vom 12. September 1963 zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei sowie zu dem mit diesem Abkommen in Zusammenhang stehenden Abkommen .Aussprache ist nicht erforderlich. Es ist Überweisung an den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten — federführend —,an den Außenhandelsausschuß und den Wirtschaftsausschuß—mitberatend — vorgesehen. — Ohne Erinnerung; es ist so beschlossen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung weiterhin um folgenden Gegenstand ergänzt werden:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Strafrechtsänderungsgesetzes .— Das Haus ist damit einverstanden; es ist so beschlossen.Wir treten in die Behandlung ein. — Aussprache wird nicht gewünscht. Vorgesehen ist die Überweisung an den Rechtsausschuß. — Kein Einwand; es ist so beschlossen.Damit sind wir am Ende der Tagesordnung.Die für morgen, Freitag, den 10. Januar, vorgesehene Plenarsitzung entfällt. Die Präsenzpflicht ist aufgehoben.Ich berufe die nächste Sitzung auf Mittwoch, den 22. Januar, 9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.