Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich . Es gibt heute keine Veränderung der Tagesord-
nung, keine Glückwünsche, Geburtstage oder andere
Feierlichkeiten, sodass wir gleich in die bekannte Tages-
ordnung eintreten können .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Fortentwicklung der parlamentari-
schen Beteiligung bei der Entscheidung über
den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Aus-
land im Zuge fortschreitender Bündnisinte-
gration
Drucksache 18/7360
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Kommis-
sion zur Überprüfung und Sicherung der Parla-
mentsrechte bei der Mandatierung von Auslands-
einsätzen der Bundeswehr
Abschlussbericht der Kommission
Drucksache 18/5000
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Also können wir so verfahren .
Ich sehe auf der Tribüne Mitglieder der Kommission,
denen ich ganz herzlich danken möchte für die Arbeit,
die sie im Auftrag des Deutschen Bundestages geleis-
tet haben . – Ihr Bericht wird den zentralen Gegenstand
unserer heutigen Beratung und der weiteren Befassung
mit diesem Thema ausmachen . Herzlichen Dank . Schön,
dass Sie heute bei dieser Debatte dabei sind .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Frak-
tion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heutenach vielen Jahren wieder das Parlamentsbeteiligungsge-setz . Wir sollten hier nicht nur an die Paragrafen des Ge-setzes denken, sondern auch an den Geist des Gesetzes .Die Soldaten und Soldatinnen, die wir mit mandatiertenEinsätzen beauftragen, schwören, der BundesrepublikDeutschland treu zu dienen und das Recht und die Frei-heit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen . „Tapferzu verteidigen“ heißt, wenn es sein muss, unter Einsatzihres Lebens . Dessen sollten wir uns bei dieser Debattebewusst sein .Wir erleben als Parlamentarier eine Gleichzeitigkeitvon Krisen und debattieren hier vielfach über Einsätze –im Bewusstsein über die Werte und Interessen unseresLandes . Genau zur Wahrung dieser Werte und Interessensetzen wir unsere Soldatinnen und Soldaten ein . DieseGleichzeitigkeit von Krisen hat in dieser Koalition zu ei-ner Reihe von aktiven Handlungen geführt, die ich kurzumreißen möchte .Im Auswärtigen Amt geht es um die Überarbeitung,den sogenannten Review-Prozess, bei dem die Schwer-
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punkte auf Frühwarnung, Krisenprävention und Stabi-lisierung gelegt werden; im Verteidigungsministeriumgeht es um den Weißbuchprozess, bei dem es um Auftragund Aufgaben der Bundeswehr geht, ressortübergreifendaber auch um die Sicherheitspolitik der BundesrepublikDeutschland; und im Entwicklungsministerium geht esum die Agenda 2030, bei der die entwicklungspolitischenZiele mit außenpolitischen Vorhaben verwoben werden .Dies sind Dinge der Exekutive und der Bundesregierung .Wir als Parlamentarier wollen aber nicht nur Schritt hal-ten mit dieser Entwicklung, sondern wir wollen auchbesser informiert werden .Volker Rühe als Vorsitzender der Kommission undWalter Kolbow als sein Stellvertreter haben nach 14 Sit-zungen, zwei öffentlichen Anhörungen, sieben nichtöf-fentlichen Anhörungen und mehreren Dienstreisen bishin zu den Vereinten Nationen ein umfassendes Vor-schlagspaket entwickelt . In dieser Gleichzeitigkeit vonKrisen geht es also um die Handlungsfähigkeit unsererRegierung, um die Handlungsfähigkeit der Bundesre-publik Deutschland im internationalen Verbund und umdie Verlässlichkeit in Bereichen, die nur noch gemein-schaftlich zu finanzieren sind, beispielsweise Aufklä-rung, AWACS, strategischer Lufttransport . Würde sichDeutschland dort zurückziehen, wäre weder die EU nochdie NATO handlungsfähig .Uns geht es um die Handlungsfähigkeit dieser Regie-rung . Aber das hat seinen Preis . Wir erwarten deshalbbessere Informationen und auch eine andere Beteiligungdes Parlaments . Das spiegelt der Kommissionsberichtwider . Wir wollen dies im Rahmen der Anpassung desParlamentsbeteiligungsgesetzes erläutern . Ich möchte Ih-nen das an vier Aspekten deutlich machen .Zunächst fordern wir in dem Gesetzentwurf eine Eva-luierung und Bewertung von Einsätzen . Das ist neu . DieEvaluierung und Bewertung von Einsätzen hat drei Vor-teile: erstens mehr Transparenz über das, was in den Ein-sätzen geleistet wurde, zweitens mehr Handlungssicher-heit für die Soldaten, weil sie aus den Einsätzen lernen,und drittens – ich glaube, wir als Parlamentarier solltengroßen Wert darauf legen – eine bessere Außendarstel-lung der Leistungen unserer Soldaten . Unsere Soldatin-nen und Soldaten stehen mit ihrem Leben, mit ihrer Ge-sundheit für diese Außen- und Sicherheitspolitik ein . Wirwollen, dass das deutlicher und besser dargestellt wird .
Der zweite Aspekt ist, dass wir von der Bundesre-gierung jährliche Berichte erwarten, die zeigen, in wel-chen gegenseitigen Abhängigkeiten sich unser Land beider EU, bei der NATO und bei den Vereinten Nationenbefindet, indem wir viele Leistungen beistellen: Perso-nal, Hauptquartiere und Fähigkeiten wie beispielswei-se AWACS . Über diese Vernetzungen wollen wir einenjährlichen Bericht, um zu wissen, was es bedeutet, wennsich Deutschland bei bestimmten Einsätzen beteiligt oderheraushält . Wir wollen also einmal jährlich einen Berichtüber die wechselseitigen Abhängigkeiten und über dieVerbundfähigkeiten .Es liegt dann an uns Abgeordneten, aus diesem Be-richt Lehren zu ziehen . Wir wollen jenseits der jährlichenDebatten über die 16, 17 einzelnen Mandate eine Ge-samtaussprache über die Außen- und Sicherheitspolitikunseres Landes durchführen . Das bietet der Koalition dieChance, die Positionen darzustellen . Das bietet der Re-gierung die Chance, Anregungen aufzunehmen, und dasbietet der Opposition die Chance zur Kritik . Ich halte esfür äußerst hilfreich, zusätzlich einmal jährlich über dieEinsätze insgesamt zu sprechen statt nur über die einzel-nen Einsätze .Der dritte Aspekt betrifft auch die Stärkung der Par-lamentsrechte, indem wir einfordern, dass bei Einsätzen,die der Geheimhaltung unterliegen, also beispielsweisedes Kommandos Spezialkräfte, das Parlament informiertwird . Das ist bisher so nicht festgelegt . Auch das wollenwir .Der vierte Aspekt . Wir legen großen Wert darauf, dasswir uns einmal Gedanken darüber machen, ob wirklichalle Einsätze geprüft werden müssen . Nicht jeder Einsatzmuss unbedingt mandatiert werden, insbesondere wennes sich um Ausbildungsmissionen oder niedrigschwelligeBeobachtungsmissionen in nicht bewaffneten Konfliktenbzw . in befriedeten Gebieten handelt, wo keine Eskala-tion und keine extreme Gefahr für Leib und Leben derSoldatinnen und Soldaten zu erwarten sind .Der Deutsche BundeswehrVerband hat sich mit eini-gen Schreiben an uns Abgeordnete gewendet und machtdarin andere Vorschläge . Er geht sogar so weit, eineGrundgesetzänderung vorzuschlagen . Dafür halte ich dieZeit noch nicht für reif .
– Eine Grundgesetzänderung halte ich nicht für nötig,weil wir mit der Anpassung des Parlamentsbeteiligungs-gesetzes erheblich größere Fortschritte erzielen können .Ich glaube, es ist sehr klug, bei der Parlamentsbeteili-gung über zwei Bereiche nachzudenken . Ich sehe hier dasBild der Waagschalen . Das eine ist die Waagschale desParlaments, und das andere ist die Waagschale der Regie-rung . Da das Parlament die Regierung kontrolliert, mussdas Parlament etwas mehr Gewicht in seiner Waagschalehaben . Dieses höhere Gewicht erreichen wir, indem wirfrühzeitiger informiert werden, wir mehr – das halte ichfür ganz wichtig – über die Ausrichtung debattieren undder Bundesregierung eben auch Evaluierungsberichte ab-verlangen . Das ist die entscheidende Neuerung .Nun möchte ich hier aber auch ganz offen ansprechen,dass wir im Koalitionsvertrag Folgendes geschriebenhaben: „Der Parlamentsvorbehalt ist keine SchwächeDeutschlands, sondern eine Stärke .“ Ich gebe ganz offenzu, dass ich mit dem Kollegen Andreas Schockenhoff vorvier Jahren einen Vorschlag gemacht habe, der sehr zuge-spitzt war . Wir haben angeregt, zu überlegen, ob es nichtVorratsbeschlüsse geben sollte – wohl wissend, dass esVorratsbeschlüsse nie geben darf . Aber, liebe Kollegin-nen und Kollegen, wir haben damit eine Debatte angesto-ßen, die zu einer Selbstvergewisserung des Parlamentsgeführt hat . Wir sollten deshalb Volker Rühe und WalterKolbow sehr dankbar sein, dass sie eine austarierte Lö-sung angeboten haben . Sie haben im Ergebnis auf der ei-Roderich Kiesewetter
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nen Seite die Rechte des Parlaments nicht nur gesichert,sondern den Parlamentsvorbehalt auch gestärkt, und aufder anderen Seite unsere Handlungsfähigkeit in der inter-nationalen Vernetzung eindeutig gestärkt .Wir haben von Anfang an die Tür für die Oppositionoffengehalten, sich an dieser Kommission zu beteiligen .
Die Linke hat von Anfang an Bedingungen gestellt, dieunerfüllbar waren . Die Grünen waren durch WinfriedNachtwei intensiv vertreten, auch wenn es sich dabei umeinen früheren Kollegen handelt . Ich möchte ihn aber andieser Stelle ausdrücklich loben; denn er hat erheblichdazu beigetragen, dass wir das Thema der Evaluierungund Bewertung von Einsätzen aufgenommen haben .Des Weiteren gab es – da bin ich Frau Haßelmann undHerrn Schmidt sehr dankbar – noch im November eineumfassende Aussprache mit dem Ausschuss für Wahl-prüfung, Immunität und Geschäftsordnung . Wir habenausgelotet, was geht und was nicht . Wir sind überein-gekommen, dass die Opposition ihre Rolle sehr ernstnimmt .
Wir haben auch festgestellt, dass wir als Regierungs-fraktionen in einigen Punkten eine ganz klare Positionvertreten, die wir uns nicht wegverhandeln lassen . Aberes ist wichtig, dass wir im Parlament darüber reden . Ichermutige Sie daher alle, wenn der Gesetzentwurf zur Par-lamentsbeteiligung in die Ausschussberatung geht, kon-struktive Vorschläge zu unterbreiten . Wir wollen, dass amEnde ein Parlamentsbeteiligungsgesetz steht, das nichtnur die Rechte des Parlaments sichert und in bestimm-ten Teilen sogar stärkt, sondern wir wollen auch im Sin-ne von Volker Rühe, Walter Kolbow und der gesamtenKommission, dass wir die Verlässlichkeit Deutschlandsund die internationalen Abhängigkeiten so miteinanderverweben, dass die Handlungsfähigkeit unseres Landesin einer Gleichzeitigkeit von Krisen gewahrt ist und –auch wenn die Lage einmal noch schwieriger werdensollte – unsere Bundeswehr von diesem Parlament mitgutem Gewissen im Sinne unserer Interessen und Werteeingesetzt werden kann .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Für die Fraktion Die Linke erhält der Kollege
Alexander Neu das Wort .
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter HerrPräsident! Die Bürgerinnen und Bürger dieses Lan-des – Sie da oben – werden heute Zeugen davon, wiedie Koalitionsfraktionen parlamentarisch-demokratischeRechte beschneiden . Das wird natürlich mit Nebelker-zen kaschiert, ganz nach dem Motto: Ja, wir werden einebessere Informationspolitik mit Evaluationsberichtenetc . machen . – Es sollte aber eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit sein, dass bei einem Einsatz regelmäßigeBerichte und nach Abschluss eines Einsatzes ein Evalua-tionsbericht vorgelegt werden . Das wollen Sie uns jetztals eine positive Neuigkeit verkaufen . Das führt schon zueinem gewissen Stirnrunzeln bei der Linken .Aber warum wollen die Bundesregierung und die Ko-alitionsfraktionen die Parlamentsrechte beschneiden? Esgibt dafür drei Gründe, die sehr offensichtlich sind .Der erste Grund ist folgender: Die Bundesregierunghat den Überblick über die Vielzahl der Auslandseinsätzequasi verloren . Daher auch die zunehmend peinliche Bit-te um Fristverzicht . Ich kann Ihnen garantieren: Wir wer-den niemals einem Fristverzicht zustimmen – und wenndie Sondersitzung nachts um 3 Uhr stattfinden wird.
Ich möchte Ihnen einen guten Rat geben, HerrSteinmeier und Frau von der Leyen . Gegen einen Über-blicksverlust, der offensichtlich ist, gibt es ein probatesMittel: einfach weniger Auslandseinsätze oder vielleichtauch gar keine Auslandseinsätze mehr .
Der zweite Grund: Die Bundesregierung will dieVielzahl der Einsätze der Öffentlichkeit gegenüber nichtmehr erklären .
Mehr Freiraum für exekutives Handeln, so wird das ge-nannt . Es ist ja auch peinlich, gegenüber den Partnernerklären zu müssen, erst das Parlament fragen zu müssen .Demokratie ist eben schwierig, aber nicht peinlich .
Der dritte Grund: Liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Koalitionsfraktionen, ich kann ja verstehen, dassSie keine Lust haben, quasi jede Woche im Wahlkreisden Bürgerinnen und Bürgern erklären zu müssen, wa-rum Sie wieder einmal einem Einsatz zugestimmt odereinen laufenden Einsatz verlängert haben .
Das verstehe ich ja . Aber das ist der Preis der Demokra-tie .
Um welche Einsatzszenarien handelt es sich, diekünftig nicht mehr der parlamentarischen Kontrolle undder parlamentarischen Entscheidung unterliegen sollen?Dies betrifft zum Beispiel die logistische UnterstützungRoderich Kiesewetter
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von Partnerarmeen, die medizinische Versorgung, Aus-bildungsmissionen – übrigens ein sehr heikles Thema –und Beobachtermissionen .
Diese Ausnahmefälle zeigen aber auch die Konstrukti-onsschwäche des bestehenden Parlamentsbeteiligungsge-setzes. Ein Einsatz ist demnach nur mandatierungspflich-tig, wenn Soldatinnen und Soldaten im ausländischenKonfliktgebiet stehen und eine Einbeziehung in eine be-waffnete Unternehmung besteht oder erwartbar ist .Diese Konstruktionsschwäche wird jetzt von der Bun-desregierung und von den Koalitionsfraktionen miss-braucht, um die Entscheidungs- und Kontrollkompetenzbei allen Einsatzszenarien zu beenden, die diesem Kri-terium nicht entsprechen . Siehe die oben genannten vierFälle .Ausgangspunkt für die Entscheidung darf aber dochnicht die An- oder Abwesenheit von Soldatinnen undSoldaten im Einsatzgebiet bzw . eine bewaffnete Unter-nehmung sein . Der Ausgangspunkt muss doch politischsein . Die Frage muss doch in jedem Einzelfall sein: Darfdie Bundeswehr als Instrument deutscher Außen- und Si-cherheitspolitik genutzt werden? Das ist doch die zentra-le parlamentarische Frage, die in diesem Haus entschie-den werden muss .
Das heißt doch letztendlich: weg vom konkreten Ein-satzszenario hin zur grundsätzlichen politischen Frage .Um mit militärischen Mitteln politische Entscheidungenherbeizuführen, bedarf es weder der direkten Gewaltan-wendung – siehe logistische Unterstützung oder Beob-achtermissionen – noch bedarf es der Anwesenheit oderAbwesenheit von Soldatinnen und Soldaten im Auslandund im Konfliktgebiet, und zwar dank waffentechnolo-gischer Entwicklungen . Beispiel: unbewaffnete Waffen-systeme, allgemein bekannt als Drohnen, oder Cyberat-tacken .In beiden Einsatzszenarien, also bei Drohneneinsät-zen – es sollen ja künftig bewaffnungsfähige, sprich:bewaffnete Drohnen angeschafft werden – und auch beiCyberattacken, sitzt die Soldatin bzw . der Soldat künftigin Deutschland und kann von diesem Land aus weltweitmilitärische und zivile Infrastruktur zerstören oder auchMenschen töten .Was fordert die Linke? Die Linke fordert mehr demo-kratische Mitbestimmung in der Außen- und Sicherheits-politik, aber nicht weniger, wie Sie es gerade anvisieren .
Das heißt konkret: Wir fordern eine grundlegende Kor-rektur des Entscheidungskriteriums . Das heißt, die Ent-scheidung über Auslandseinsätze gehört ausnahmslos inden Deutschen Bundestag,
weil das Militär ein hochgefährliches politisches Instru-ment darstellt .Außerdem fordert die Linke eine Anhebung desQuorums . Es kann doch nicht sein, dass im Zweifelsfallmit einfacher Mehrheit über Krieg und Frieden entschie-den wird . Die Linke fordert als Quorum die Zweidrittel-mehrheit des Deutschen Bundestages .
Die Menschen in diesem Land müssen wissen, ob,wie und mit welcher Qualität Abgeordnete und Bundes-regierung militärische Gewaltmittel befürworten oderauch ablehnen . Die Menschen müssen wissen, ob ihreAbgeordneten und die Bundesregierung rechtswidrigeEinsätze beschließen, wie dies im Dezember beim Syri-en-Einsatz der Fall war . Daher wird die Linke demnächstin Karlsruhe gegen den Beschluss zum Syrien-Einsatzklagen .Ich danke Ihnen .
Das Wort erhält nun die Kollegin Sonja Steffen für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Kommissionsmitglieder! LiebeGäste! Herr Dr . Neu, es ist einfach, sich vehement gegendas Parlamentsbeteiligungsgesetz zu stellen, wenn manjeden Auslandseinsatz der Bundeswehr grundsätzlich ab-lehnt. Ich finde allerdings, dass das Wahrnehmen interna-tionaler Verantwortung anders aussieht .
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist eineParlamentsarmee . Das heißt, der Deutsche Bundestagstimmt darüber ab – und das soll auch so bleiben –, wennunsere Bundeswehr, unsere Soldatinnen und Soldaten, ineinen Einsatz bewaffneter Streitkräfte gehen soll . Wir,der Deutsche Bundestag, übernehmen mit diesen Ent-scheidungen die Verantwortung für den Einsatz unsererSoldatinnen und Soldaten .Wir alle wissen, dass es aktuell mehr Konflikte undKriege auf der Welt gibt als jemals zuvor . Die Welt istviel unfriedlicher geworden, und mehr denn je gilt es,gemeinsam Verantwortung zu übernehmen . NationaleAlleingänge sind der Anfang vom Ende für Europa .Wenn Europa seine Interessen wahren und seiner zu-nehmenden Verantwortung in einer globalisierten Weltnachkommen will, dann wird es seinen wirksamen au-ßenpolitischen und sicherheitspolitischen Beitrag dazuleisten müssen . Es darf keine Alleingänge von Staatender Europäischen Union geben, wie gegenwärtig leiderDr. Alexander S. Neu
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von einigen Staaten im Zusammenhang mit Grenzschlie-ßungen, sondern Integration und mehr gemeinsame Ver-antwortung sind notwendig . Damit entstehen aber auchmehr gegenseitige Abhängigkeiten . Das gilt auch für mi-litärische Einsätze .Genau wegen der zunehmenden militärischen Integra-tion europäischer Streitkräfte hat die Große Koalition inihrem Koalitionsvertrag festgelegt, dass eine Kommissi-on eingesetzt werden soll . Diese sollte prüfen, wie dieParlamentsrechte auf dem Weg fortschreitender Bündnis-integration gesichert werden können .Die Kommission hat nun ihre Ergebnisse vorgelegtund in einem Gesetzentwurf gebündelt . Dieser liegt unsheute in überarbeiteter Form vor . Von den Einigungsvor-schlägen möchte ich einige aufgreifen .Ich beginne mit § 2 a, der neu ist . Die Überschrift lau-tet: „Mitwirkung in militärischen Stäben und Hauptquar-tieren“ . Ich zitiere kurz die Vorschrift . Es heißt hier, dassdie Wahrnehmung von Funktionen in integrier-ten oder multinational besetzten Hauptquartieren,Dienststellen und Stäben der NATO, der EU odereiner anderen Organisation gegenseitiger kollekti-ver Sicherheit . . .keiner Zustimmung des Bundestages bedürfen soll – jetzthören Sie gut zu –,sofern sie sich dabei nicht im Gebiet eines bewaff-neten Konflikts befinden oder dort eingesetzte Waf-fen unmittelbar bedienen .Damit sind beispielsweise – darauf hat der KollegeKiesewetter vorhin schon hingewiesen – auch vieleBeobachteraufgaben im Rahmen einer UN-Mission ge-meint .
Das mag vielleicht auf den ersten Blick wie eine Be-schneidung der Parlamentsrechte wirken, aber ein Blickin die Entstehungsgeschichte des Parlamentsbeteili-gungsgesetzes aus dem Jahr 2005 zeigt, dass wir eineähnliche Regelung schon immer hatten . Sie stand früherallerdings in den Begründungen und nicht ausdrücklichim Gesetzestext . Deshalb dient diese Vorschrift, also dieEinkleidung in das Gesetz, im Grunde genommen nurder Klarstellung . Es geht um Präzisierungen und nichtum die Einschränkung des Parlamentsvorbehaltes .
Die größten Probleme bei den Debatten über den neu-en Gesetzentwurf hat wahrscheinlich § 2 bereitet . Hiergeht es um den Einsatz bewaffneter Streitkräfte . In demneuen Entwurf gibt es nun einen Negativkatalog mitFällen, in denen eine Einbeziehung in eine bewaffneteUnternehmung nicht zu erwarten ist, weshalb keine Par-lamentsbeteiligung erforderlich ist .Um welche Fälle handelt es sich hier? Neben den be-reits im bestehenden Gesetz aufgeführten Fällen ist inunserem jetzigen Gesetzentwurf neu, dass Ausbildungs-missionen „in sicherem Umfeld“ keiner Mandatierungbedürfen . Ich betone: „in sicherem Umfeld“ . Neu istauch, dass Logistikleistungen „ohne Bezug zu Kampf-handlungen“ und die „Bereitstellung medizinischer Ver-sorgung außerhalb des Gebiets eines bewaffneten Kon-flikts“ nicht zustimmungspflichtig sein sollen. Sie sehenalso: Bei diesem Katalog hat sich die Kommission sehrviele Gedanken darüber gemacht und darauf geachtet,dass die Parlamentsrechte nicht beschnitten werden .Allerdings ist hier nach Meinung meiner Fraktion, derSPD-Fraktion, schon noch einmal eine genauere verfas-sungsrechtliche Überprüfung erforderlich, weil es, wiedie meisten von Ihnen wissen, im September 2015 eineEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Liby-en-Einsatz gab .Das Bundesverfassungsgericht hat den Libyen-Ein-satz im Wesentlichen für rechtmäßig erklärt, hat sich aberinhaltlich mit dem Begriff des „Einsatzes bewaffneterStreitkräfte“ auseinandergesetzt . Es hat in diesem Urteilfestgestellt, dass es sich hier um einen verfassungsrecht-lichen Begriff handelt, also nicht um einen unbestimm-ten Rechtsbegriff, und dass dieser Begriff nicht durch eineinfaches Gesetz verbindlich konkretisiert werden kann .Das bedeutet also: Wir werden uns im Rahmen der nunbeginnenden Beratungen mit dieser Frage noch einmalauseinandersetzen müssen .Auf die weiteren Neuerungen des Gesetzentwurfes,die im Wesentlichen die Stärkung der Informationsrechtedes Parlamentes beinhalten, hat Herr Kiesewetter schonhingewiesen . Wir werden uns nun im federführendenGeschäftsordnungsausschuss mit den bereits benanntenverfassungsrechtlichen Fragen beschäftigen müssen .Der Bundestag hat nicht nur das Recht auf Beteiligungbei militärischen Einsätzen, sondern auch die Pflicht. Ichglaube, nicht nur wir, die wir hier sitzen, sondern alleParlamentarier wissen: Wenn es um den Einsatz bewaff-neter Streitkräfte geht, dann ist die Entscheidung, die wirhier zu treffen haben, eine der schwierigsten . Wir ma-chen uns diese Entscheidung weiß Gott nicht leicht .
Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Par-lamentsbeteiligung werden wir diese Rechte auch nichtbeschneiden .Ich möchte abschließend den Mitgliedern der Kom-mission für ihre umfangreiche und sorgfältige Arbeitdanken .Ich bedanke mich fürs Zuhören und freue mich aufdie Debatten .
Frithjof Schmidt ist nun der nächste Redner für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .Sonja Steffen
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen von den Koalitionsfraktionen! Bei der Bil-dung Ihrer – das sage ich ganz bewusst – Kommissionzur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechtebei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bun-deswehr standen hochgesteckte Erwartungen im Raum,wie die von Ihnen sogenannte „Abstufung der Intensitätparlamentarischer Beteiligung“ aussehen sollte . Darangemessen ist das Ergebnis recht überschaubar geworden .
Ich finde es gut, dass Sie auf jeden konkreten Vorstoßzur Änderung der Verfassung verzichtet haben. Ich findees gut, dass die unselige Debatte über Vorratsbeschlüsseoder die Delegation von Abgeordnetenrechten an spezi-elle Ausschüsse nicht mehr vorgesehen ist .
Das haben Sie nach Prüfung der Umstände sicher aus gu-ter Einsicht ad acta gelegt . Aber ich bin mir auch sicher,dass Ihnen dabei die geschlossene und scharfe Kritik dergesamten Opposition in diesem Haus an solchen Vorha-ben eine große Hilfe war .
Wenn diese falschen politischen Ideen nun in Ihren Frak-tionen nicht mehr herumspuken und dauerhaft politischentsorgt sind, dann hatte dieser politische Prozess auf je-den Fall etwas Gutes .
Es gibt in Ihrem Gesetzentwurf drei politische Punk-te, bei denen wir Ihrer Meinung sind . Wir begrüßen aus-drücklich, dass Sie für Bundeswehreinsätze nun einenEvaluierungsbericht vorsehen, der die Wirksamkeit dermilitärischen und zivilen Komponenten der Mission be-wertet . Das haben wir seit vielen Jahren immer wiedergefordert . Es ist gut, dass Sie diese Position jetzt aufneh-men .
Wir begrüßen auch, dass dem Bundestag jährlich einBericht über bestehende multilaterale militärische Ver-bundfähigkeiten vorgelegt werden soll . Das trägt zurTransparenz darüber bei, was alles arbeitsteilig mit ande-ren Ländern militärisch geplant und getan wird . SolcheTransparenz ist immer auch die Voraussetzung für poli-tische Kontrolle .Wir finden auch richtig, dass Sie die Vorgaben desBundesverfassungsgerichtes, die es im Urteil zu unsererKlage zum sogenannten Pegasus-Einsatz in Libyen ge-macht hat, wie denn bei Gefahr im Verzug mit Eilfällenumzugehen ist, sofort übernommen haben . Das schafftdie notwendige Klarheit .
Aber das sind natürlich nicht die zentralen politi-schen Punkte Ihres Gesetzentwurfes . Politisch im Zen-trum steht Ihr Versuch, Einsatztypen zu definieren, die inder Regel nicht mandatspflichtig sein sollen, bei denenalso die Möglichkeit einer Einbeziehung in bewaffneteKampfhandlungen auszuschließen ist .
Sie nennen zum Beispiel Ausbildungsmissionen in siche-rem Umfeld, UN-Beobachtermissionen, logistische Un-terstützung ohne Bezug zu Kampfhandlungen .
Sie wecken damit die Illusion, man könne mit einemsolchen Gesetzestext die notwendige Einzelfallprüfungeines jeden Einsatzes umgehen oder wenigstens mini-mieren .
Ihre These in diesem Gesetzentwurf ist: Der mandats-pflichtige Ausbildungseinsatz ist atypisch, ist die Aus-nahme von der Regel .Schauen wir uns die Praxis an . Die Bundeswehr führtzurzeit vier Ausbildungseinsätze durch: in Afghanistan,Irak, Somalia und Mali . Welchen dieser Einsätze wollenSie denn ohne Mandat durchführen?
Das wäre dann offenkundig die Ausnahme von der Regelund atypisch, also genau andersherum, als Sie es im Ge-setzentwurf formuliert haben . Das ist der Fehler .
Die Wahrheit ist: Sie sind mit dem Versuch gescheitert,eine praxistaugliche Typologie zu finden. Ihre Konstruk-tion ist auch rechtlich fragwürdig . Die Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichtes verpflichtet uns zu einerEinzelfallprüfung, und der Versuch, dies mit irgendwel-chen Regelfällen zu unterlaufen, muss scheitern .
Politisch bedeutet Ihr Gesetzentwurf den Versuch ei-ner Stärkung der Interpretationsmöglichkeiten der Exe-kutive und einer Schwächung der Kontrollmöglichkeitenund der Kontrollfähigkeit der Legislative, das heißt indiesem Fall insbesondere der Opposition .
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Das ist politisch falsch, und das lehnen wir ab .
Auch die Mitwirkung der Bundeswehr in multinati-onalen Stäben oder Hauptquartieren wollen Sie durchdiesen Gesetzentwurf von der Zustimmungspflicht desBundestages bei Kampfeinsätzen ausnehmen .
Nur dann soll die Ausnahme nicht gelten, wenn die Sol-daten sich direkt im Kampfgebiet befinden oder dorteingesetzte Waffen direkt bedienen, also zum BeispielKampfdrohnen steuern .Das heißt, stabsleitende Funktionen von Waffenein-sätzen sollen ausdrücklich keine Einbeziehung in diebewaffnete Auseinandersetzung mehr bedeuten . Das istpolitischer Unsinn: Planung und Befehle sollen per Ge-setz nichts mehr mit dem Einsatz vor Ort zu tun haben?Wem wollen Sie das weismachen?
Das widerspricht auch den einschlägigen Ausführungendes Bundesverfassungsgerichtes . Deswegen sagen wirIhnen: Sie befinden sich damit auf ganz dünnem Eis.Auch diese Gesetzesänderung lehnen wir ab .Danke für die Aufmerksamkeit .
Herr Kollege Schmidt, das Vorhandensein der Opposi-
tion ist demokratietheoretisch natürlich ein prinzipieller
Vorteil .
Demokratiepraktisch ist deshalb wünschenswert, dass
die Opposition auch bei allen einschlägigen politischen
Beratungsprozessen beteiligt ist .
Das hätten wir natürlich auch bei dieser Kommission au-
ßerordentlich begrüßt, und vielleicht hätte das eine oder
andere auch im Bericht seinen Niederschlag finden kön-
nen .
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Uhl von
der CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident, ich bedanke mich für den Hinweis andie Opposition . Ich werde auch darauf zu sprechen kom-men .Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! „DerKaiser hat die Verfügung über die bewaffnete Macht .“ Sostand es in der Paulskirchenverfassung von 1849: „DerKaiser hat die Verfügung über die bewaffnete Macht .“
Das ist eine lange Verfassungstradition, mit der wir beider Abfassung des Grundgesetzes demonstrativ gebro-chen haben . Weder der Kaiser noch das Staatsoberhaupt,sondern wir in diesem Saal, das Parlament, haben dieVerfügung über die bewaffnete Macht .Der Ursprung der heutigen Debatte liegt im Jahr 1994,als das Verfassungsgericht in Karlsruhe ein wegweisen-des Urteil gesprochen hat, mit dem Tenor, der Einsatzbewaffneter Streitkräfte bedürfe grundsätzlich der vorhe-rigen Zustimmung des Bundestages . Das ist gut so .Die demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsord-nung ist der Rahmen, in dem entschieden wird, wie mitdem Machtpotenzial der Bundeswehr umzugehen ist . DerGestaltungsspielraum der Exekutive, des Bundesaußen-ministers und der Verteidigungsministerin, endet bei derAnwendung militärischer Gewalt im Ausland . Bis dahinsind sie selbstständig und eigenverantwortlich zuständig .Nun haben sich die Dinge weiterentwickelt . Nach demrechtsschöpferischen Urteil aus dem Jahr 1994 hat derBundestag im Jahr 2005 das Gesetz zur Parlamentsbe-teiligung beschlossen . Aber seither sind elf Jahre vergan-gen . Die Welt hat sich weiterentwickelt . Deswegen istes gut, dass wir im Lichte zunehmender Bündniszusam-menarbeit dieses Gesetz auf den Prüfstand gestellt haben .Bei dieser Gelegenheit bedanke ich mich bei den beidenVorsitzenden Herrn Kolbow und Herrn Rühe, dass wiruns mit diesem Gesetz sehr intensiv befasst haben . Ichbedauere an dieser Stelle – genauso wie der Präsidentund die Koalition –, dass wir dies ohne die Oppositionmachen mussten . Wir hätten gerne mit Ihnen diskutiert .Viele Missverständnisse, die heute künstlich aufgeblähtwerden, wären nicht entstanden, wenn wir in den letzten14 Monaten mit Ihnen hätten diskutieren können .
Die weite Auslegung des Bundesverfassungsgerichtesbei der Frage der Parlamentsbeteiligung birgt allerdingseine Gefahr . Sie birgt die Gefahr, dass durch diese Be-teiligung ein Einfallstor in zutiefst militärische Entschei-dungen geschaffen wird, das heißt, dass sich Parlamenta-rier in militärpraktische Details vertiefen, was nicht ihreAufgabe ist . Das ist die Aufgabe des Militärs, wenn esum das Wie des Einsatzes geht .Wir haben erreicht – davon bin ich überzeugt; daswerden Sie am Schluss auch zugeben müssen –, dass dieParlamentsrechte durch das neue Gesetz abgeglichen undnicht abgebaut werden . Jedenfalls war das die Leitliniefür die Rühe-Kommission . Über bewaffnete militärischeEinsätze der Bundeswehr entscheidet also nach wie vorDr. Frithjof Schmidt
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 153 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . Januar 201615062
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der Bundestag und niemand anderes . Wir haben uns miteiner Reihe von Experten getroffen, NATO-Stützpunktebesucht, unendlich viele Arbeitssitzungen abgehaltenund haben uns den Dingen im Detail gewidmet .Ich möchte auf drei Dinge hinweisen . Es gibt nun einePflicht zur Unterrichtung des Parlaments. Ich halte es fürwichtig, dass sich der Bundestag als Ganzes einmal imJahr mit den vielfältigen militärischen Verbundfähigkei-ten und unserer diesbezüglichen Einbindung befasst .
Nur gemeinsam im Bündnis können wir unsere Aufga-ben lösen . Derzeit diskutieren wir über Flugzeugeinsätzeoder EU-Battlegroups . Das können wir nur im Verbundmachen .Der Bericht zeigt, in welchen Bereichen wir uns zurBündnissolidarität verpflichtet haben. Wir werden mehrVerantwortung in der Außenpolitik übernehmen müssen .Wir werden ein verlässlicher Partner sein müssen . Dadarf die Parlamentsbeteiligung, die wir ohne Abstrichebejahen, kein Störfaktor sein . Das war die Aufgabenstel-lung .
Herr Kollege Uhl, darf der Kollege Ernst eine Zwi-
schenfrage stellen?
Ungern,
weil ich mir von dem Kollegen nur wenig Konstruktiveserhoffe .Lassen Sie mich fortfahren . Wir sollten mehr Verant-wortung im Ausland übernehmen . Wir müssen ein ver-lässlicher Bündnispartner sein . Dabei geht es darum, dassDeutschland eine Bundeswehr hat, die einsatzfähig ist .
– Das ist eine gute Idee . Wenn Sie, Herr Ernst, eine Kurz-intervention machen, dann können Sie alles darlegen .
Es gab in der Vergangenheit aufrüttelnde Berichte überschwere Mängel bei der Ausrüstung der Bundeswehr .Ich will nicht so weit gehen und das Wort von der Trüm-mertruppe übernehmen . Aber die Bundesministerin derVerteidigung, Frau von der Leyen, hat nun zu Recht eingroßes Programm mit einem Volumen von 130 Milliar-den Euro für die nächsten 15 Jahre aufgelegt .
Ich befürchte, dass wir die Bundeswehr in dieser Größen-ordnung ertüchtigen werden müssen .
Ich habe den Eindruck, dass auch der Bundesfinanzmi-nister dem zumindest dem Grunde nach zustimmt .
Es ging bei unserer Arbeit auch um den Einsatzbe-griff, einen Begriff, den schon das Gericht vielfältig zudefinieren versucht hat. Diesen Begriff wollten wir nocheinmal schärfen: Was ist ein Einsatz, und was ist keinEinsatz? Wenn wir diesen Begriff im Unklaren lassen,riskieren wir, dass die Regierung nicht handlungsfähigist bei ihren vielfältigen Kontakten und Verhandlungenmit den Bündnispartnern . Das Bundesverfassungsgerichtist zunehmend mit der Frage befasst, was ein Einsatz ist .Wir gehen fast regelmäßig davon aus, dass die Linke we-gen jedes Einsatzes vor das Bundesverfassungsgericht inKarlsruhe geht . Dann muss das Gericht entscheiden .Hier befinden wir uns in einem Kernbereich des Poli-tischen . Entscheidungen über Einsätze im Ausland sindzutiefst politische Entscheidungen, die das Bundesver-fassungsgericht nicht zu treffen hat . Das entscheiden wirim Parlament und niemand anders . Es gilt der Grundsatzdes „judicial self-restraint“ . Das Gericht war bisher klugberaten, sich bei diesen Fragen, ob ein Einsatz erfolgenmuss, zurückzuhalten . Ich hoffe, dass dies auch so bleibtin Karlsruhe .Wir haben uns also intensiv mit dem Begriff beschäf-tigt, und wir werden uns jetzt auch weiter im Plenum undin den Ausschüssen mit dem Gesetz befassen . Das istauch gut so .Das, was kein Einsatz ist, haben wir auch herausge-arbeitet: Logistische Unterstützungen oder medizinischeVersorgung außerhalb von Konfliktgebieten sind natür-lich kein Einsatz . Selbst das Gericht hat bereits gesagt,dass die bloße Möglichkeit der Einbeziehung in bewaff-nete Unternehmungen kein Einsatz ist, sondern dass eseine qualifizierte Erwartung an eine solche Verstrickungin militärische Einsätze geben muss . Dann erst entstehtdie Mandatierungspflicht.Auch reine Ausbildungsmissionen sind natürlich keinEinsatz. So können wir – hoffe ich – schnell und flexi-bel auf die Krisen des 21 . Jahrhunderts reagieren, indemwir dort das Parlament befassen, wo es nach Gesetz undRecht erforderlich ist, während in den anderen Fällen dieExekutive handelt .Lassen Sie mich zu einem dritten Punkt kommen: dieSpezialkräfte der Bundeswehr . Jederzeit weltweit ein-satzbereit
stehen sie uns zur Verfügung zur Rettung und Befreiungdeutscher Geiseln im Ausland, um verdeckte Operatio-nen im Ausland durchzuführen – Spezialaufklärung –oder zur Terrorismusabwehr . Ungeheuer wichtig in unse-rer Zeit ist dieses Kommando Spezialkräfte .Wie steht es nun mit der Frage: Was macht das Par-lament in diesen Fällen? Auch hier hat das Gericht zuRecht entschieden, dass natürlich keine vorherige Infor-Dr. Hans-Peter Uhl
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mation über einen solch hochgefährlichen Spezialein-satz erfolgt, dass aber, nachdem der Einsatz hoffentlicherfolgreich zum Wohle der betroffenen Menschen oderGeiseln abgeschlossen ist, selbstverständlich das Parla-ment, und zwar jeder Einzelne von uns, unterrichtet wer-den muss . Und das ist eine kluge, weise Entscheidung,der wir gern folgen .Ich halte es auch für wichtig, dass wir darüber öf-fentlich sprechen, welche Männer und Frauen wir in derTruppe haben, die ihr Leben riskieren, um andere Men-schenleben zu retten . Das sollte ruhig öffentlich disku-tiert werden . Das steht ihnen zu .Wir haben sechs neue Berichtspflichten geschaffen.Das schafft Transparenz, und darum ist der Vorwurf derLinken völlig unbegründet . Der Kollege Schmidt vonden Grünen hat gemeint, dass Sie, die Opposition, einegroße Hilfe für uns waren, weil Sie uns von bestimmtenDingen abgehalten haben . Diese Dinge hatten wir übri-gens gar nie vor,
aber wenn Sie das heftig glauben, dann kann ich Sie nichtdaran hindern .Nein, wir haben eine Vorlage gemacht, auf derenGrundlage man die Probleme aus unserer heutigen Sichtder verbundenen Bundeswehr in der NATO, in der EU,in Aufgaben im Rahmen von UN-Resolutionen, die wirweltweit erfüllen müssen, lösen kann . Dies ist ein Ge-setz, mit dem wir gut weiterkommen, und ich würde Sieeinladen – zumindest die Kollegen der Grünen –, jetztmitzumachen,
nachdem Sie gesehen haben, dass wir auf dem richtigenWeg sind, Herr Schmidt .
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Ernst das
Wort .
Herr Dr . Uhl, ich mache die Kurzintervention nur
sehr ungern, ich hätte mir eher einen direkten Dialog ge-
wünscht . Ich bin kein Militärexperte, aber Abgeordneter,
insofern geht es hier auch um meine Rechte . Deshalb
möchte ich Ihnen sagen, was mir jetzt eigentlich in der
Debatte fehlt .
Es sind im Wesentlichen von der Union zwei Einsatz-
formen vorgetragen worden . Ich hätte erwartet, dass da-
rauf irgendwie eingegangen würde .
Das Erste war der Drohneneinsatz . Er ist beschrieben
worden . Wie ist es nun? Was passiert, wenn derjenige,
der offensichtlich eine Kriegshandlung ausführt, näm-
lich eine Drohne steuert – dabei wissen wir, dass diese
Drohnen inzwischen nicht nur aufklären, sondern auch
etwas abwerfen bzw . schießen können –, dies nicht über
einem Einsatzgebiet tut, sondern über einem friedlichen
Gebiet? Dazu ist doch vorher eine ganz konkrete Frage
von Herrn Dr . Schmidt gestellt worden: Ist ein solcher
Einsatz nun zustimmungspflichtig durch das Parlament
oder nicht? Wenn man so ein Gesetz macht, muss man
doch eine klare Antwort geben können .
Eine zweite Frage wurde aus meiner Sicht ebenfalls
vollkommen zu Recht gestellt: Was ist mit den Einsät-
zen, die jetzt nicht mehr zustimmungspflichtig sein sol-
len? Der Kern dieses Gesetzes besteht doch darin, dass
bestimmte Einsätze nicht mehr zustimmungspflichtig
sein sollen . Jetzt ist von Ausbildungseinsätzen, die nicht
mehr zustimmungspflichtig sein sollen, die Rede gewe-
sen . Wir wissen, dass die Bundeswehr Ausbildungsein-
sätze durchführt . Meine konkrete Frage lautet: Welche
Einsätze, die gegenwärtig unter dem Titel „Ausbildungs-
einsätze“ oder unter anderen Titeln laufen – es sind über
zehn, wenn ich es richtig im Kopf habe –, sind nicht mehr
zustimmungspflichtig?
Das wären meine zwei ganz konkreten Fragen . Ich
würde Sie wirklich bitten, darauf einzugehen, damit sich
auch der Abgeordnete, der kein Militärexperte ist, ein
Bild machen kann, wie es künftig aussehen soll . Werden
wir dann noch beteiligt, oder werden wir dann nicht mehr
beteiligt?
Zur Erwiderung der Kollege Uhl .
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! An dem Wortbeitrag des Kollegen wurde über-deutlich, wie falsch die Entscheidung war, sich an derDiskussion in den letzten 14 Monaten nicht zu beteiligen .
Hätten Sie sich beteiligt, dann hätten Sie die Diskussion,die wir über Drohneneinsätze geführt haben, mitbekom-men und hätten sich einbringen können .
Das wollten Sie nicht . Sie wollten sich wahrscheinlichdie Chance nicht entgehen lassen, später im Plenarsaalsolche Reden zu halten, die am Thema vorbeigehen, wieSie es gerade getan haben .
Wir haben über Drohneneinsätze gesprochen und unsheftige Gedanken gemacht, wie man damit umzugehenhat .
Dr. Hans-Peter Uhl
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– Herr Kollege, bewaffnete Drohneneinsätze sind man-datierungspflichtig. Das heißt, Ihren Überlegungen habenauch wir uns gestellt . Deswegen ist es nur wünschens-wert, wenn Sie fortan an der Diskussion teilnehmen undsich nicht verweigern, um hinterher umso heftiger mitMissverständnissen Opposition zu betreiben .
Nun erhält die Kollegin Dağdelen das Wort für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Prä-sident, Sie sagten hier in dieser Debatte, dass es zur De-mokratie gehört, dass sich auch die Opposition an einerParlamentskommission beteiligt . Zu einer Demokratiegehört aber im Wesentlichen, dass es auch Rechte derMinderheiten gibt,
und es gehört nicht dazu, dass die Regierungsfraktioneneinfach eine Kommission gründen, den Auftrag selberbestimmen, einen Closed Shop machen und der Oppo-sition sagen: Ihr könnt gerne zu dieser Kommission mit-kommen .
Das ist aus diesem Grund keine Parlamentskommis-sion, sondern eine Regierungskommission . Das ist dieWahrheit über den Sachverhalt, über den wir hier disku-tieren .
Der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsminis-terium aus der Partei CDU, Herr Willy Wimmer,
hat Folgendes zu diesem Vorgang hier gesagt:Warum eigentlich eine Reform zur Beseitigungdes Parlamentsvorbehaltes? Seit dem sogenanntenAdria-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1994hat die jeweilige Bundesregierung letztlich alle ihreEinsatzvorhaben zum Bundeswehreinsatz realisie-ren können . … Die notwendige öffentliche Dis-kussion über den Einsatz der Bundeswehr ließ dieBundesregierung zögern, wo es wegen der Volks-meinung ratsam zu sein schien . … Anders kann derbeabsichtigte Anschlag der Bundesregierung, mit-tels einer „Vorwandkommission“ den letzten Restder Parlamentsbeteiligung und damit des Volksinte-resses am Einsatz der Bundeswehr zu kippen, nichtgewertet werden .Herr Willy Wimmer sagt ganz eindeutig: Das Vorha-ben von Union und SPD ist der größte Angriff auf dieRechte des Parlaments seit Gründung der Bundeswehr1955 .
Es ist nämlich der Anfang vom Ende der Parlaments-beteiligung . Wenn deutsche Soldaten künftig in NATO-und EU-Stäben an Kriegen teilnehmen, hat der DeutscheBundestag nichts mehr zu entscheiden . Ziel der GroßenKoalition ist es, hier in einem so wichtigen Punkt alleindie Bundesregierung über Krieg und Frieden entscheidenzu lassen .Wer diesem Gesetzentwurf zustimmt, entmachtet dasParlament,
und da macht die Linksfraktion nicht mit .
Wer diesem Gesetzentwurf zustimmt, vergreift sich näm-lich an dieser parlamentarischen Demokratie . Wer die-sem Gesetzentwurf zustimmt,
will Deutschland deutlich schneller, möglichst ungestört,möglichst unbeachtet in neue Kriege führen .
– Darum geht es hier: um ein Vorhaben zur Beseitigungdes Parlamentsvorbehaltes . – Dieses Vorhaben wird aufden entschiedensten Widerstand bei der Linken treffen .
Wir sagen Nein zu diesem Angriff nicht nur auf die par-lamentarische Demokratie, sondern auch auf die Souve-ränität der Bevölkerung . Wir wollen diese Kriege nicht,weder unter der Flagge der EU noch unter der Flagge derNATO .Bei Ihrem Vorhaben schrecken Union und SPD auchnicht davor zurück, die Rechte des Bundestages, wie siein Artikel 23 des Grundgesetzes festgeschrieben wordensind, direkt anzugreifen . Alles, was Sie dem Bundestagin Angelegenheiten der Europäischen Union zugestehenwollen, ist eine gravierende Verletzung des Grundgeset-zes und auch des Gesetzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bundestag in Angele-genheiten der Europäischen Union, des EUZBBG .
Das Grundgesetz ist für Sie augenscheinlich ebennichts mehr wert . Sie wollen nämlich ohne öffentlicheDiskussion, ohne das Licht der Öffentlichkeit deutscheDr. Hans-Peter Uhl
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Soldaten in alle Welt entsenden können . Deshalb sa-gen wir Nein zu dieser neuen, immer abenteuerliche-ren Politik der Entsendung in Auslandseinsätze nach Django-Manier .
Eins muss man sich wirklich einmal vergegenwärti-gen: Selbst im Zeitalter des deutschen Kaiserreichs wur-de im Reichstag über Krieg und Frieden entschieden .Heute wollen Sie die Bundesrepublik in vorparlamenta-rische Zeiten zurückführen, nur damit keiner mehr hierim Bundestag und auch in der Öffentlichkeit über neueKriege diskutiert .
Darum geht es .Von einer Zustimmung aufseiten der SPD und auchder Union muss man bei den Militärinterventionenzwangsläufig immer ausgehen. Sie gehen auch noch soweit, den Rechtsbruch direkt in Ihren Gesetzentwurf hi-neinzuschreiben . Während Sie die EU als ein kollektivesSicherheitssystem bezeichnen, um den Bundestag nichtmehr über die Entsendung von Bundeswehrsoldaten inEU-Stäbe im Kriegseinsatz entscheiden lassen zu müs-sen, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteilüber den Vertrag von Lissabon genau dies ausgeschlos-sen . Die Europäische Union ist kein kollektives Sicher-heitssystem, hat das Bundesverfassungsgericht in seinemUrteil zum Vertrag von Lissabon gesagt .
Sehen Sie sich einfach einmal die Randnummer 390 die-ses Urteils an .Deshalb kann es eben nicht angehen, dass Sie dierechtsstaatlichen Institutionen derart ignorant ins Abseitsstellen . Die parlamentarische Demokratie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, gibt man nicht einfach weg . Wirals Linke werden dafür kämpfen, dass diese parlamen-tarische Demokratie gerade in Zeiten unsicherer Situati-onen weltweit erhalten bleibt, um entscheidende Fragenvon Krieg und Frieden hier im Parlament und nicht nur inder Regierung zu debattieren .Vielen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Niels Annen für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach die-
sem Redebeitrag aus einem Paralleluniversum
versuche ich jetzt, etwas zur Sache zu sagen .
Wenn man Frau Dağdelen zuhört, dann gewinnt man den
Eindruck, dass allein meine Präsenz an diesem Redner-
pult eine große Überraschung ist; denn angeblich wollen
wir das ja unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutie-
ren .
Also, zur Sache . Ich will mich dem Dank an die Mit-
glieder der Kommission anschließen . Ich freue mich da-
rüber, dass Sie, Herr Rühe, Herr Kolbow, heute an dieser
Debatte teilnehmen . Ich glaube, dass Sie eine wichtige
Arbeit geleistet haben .
Ich will deswegen noch einmal daran erinnern, was
der Auftrag war . Dieses Parlament – nicht allein die
Koalitionsfraktionen; es war eine für alle offene Kom-
mission – hat eine Kommission zur Überprüfung und
Sicherung von Parlamentsrechten eingesetzt . Genau das
haben wir getan, und zwar unter dem Eindruck einer
Entwicklung, die wir alle miteinander in den letzten Jah-
ren begrüßt haben, nämlich einer Entwicklung, die man
als eine fortschreitende Bündnisintegration beschreiben
kann . Das klingt technisch, bedeutet aber eigentlich, dass
wir auf dem Weg der Europäisierung darin vorangehen,
auch unsere transatlantischen Strukturen zu stärken .
Natürlich hat es im Vorfeld dieser Einsetzung De-
batten gegeben . Wir haben auch innerhalb der Koaliti-
on über den Auftrag der Kommission gestritten . Es gab
Misstrauen . Das ist von den Oppositionsparteien artiku-
liert worden; das ist ihr gutes Recht .
Deswegen will ich an dieser Stelle sehr deutlich, auch
für meine Fraktion, sagen: Die SPD hat Wort gehalten .
Es gibt keine Vorratsbeschlüsse . Die Rechte des Parla-
ments werden nicht beschnitten, sondern sie werden aus-
gebaut; sie werden gestärkt . Das ist eine ganz wichtige
Entwicklung .
Weil man beim letzten Redebeitrag so ein bisschen
den Eindruck bekommen konnte, wir würden hier in
einer Geheimoperation die Rechte des Parlaments so-
zusagen zusammenstreichen, will ich doch noch einmal
zusammenfassen, was wir uns vorgenommen haben und
was Ihnen heute vorliegt .
Herr Kollege Annen, darf, bevor Sie das zusammen-
fassen, der Kollege Neu intervenieren?
Ja, das darf er natürlich gern .Sevim Dağdelen
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Kollege Annen, ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Frak-
tion miteinander diskutieren . Jedenfalls hat der Kollege
Arnold gesagt, vor einigen Monaten im Verteidigungs-
ausschuss, dass er den Vorratsbeschluss schon drinhaben
wollte,
aber die Juristen der SPD abgeraten hätten .
Wie ist nun der Diskussionsstand in der SPD?
– Das lässt sich vielleicht im Protokoll des Verteidi-
gungsausschusses nachvollziehen, Kollege Arnold .
Ich muss mich manchmal wirklich ein bisschen zu-sammenreißen . Sie können die Protokolle des DeutschenBundestages lesen . Sie können die Presseausschnitteüber die Debatten lesen, die wir geführt haben . Es gabniemals einen Zweifel daran, dass die SPD gegen Vor-ratsbeschlüsse ist .Ich glaube, es gibt da überhaupt kein Problem . DerKollege Kiesewetter hat in seiner Rede auch ein bisschenden Diskussionsverlauf dargestellt . Es gab damals eineöffentliche Auseinandersetzung über ein interessantesPapier von Herrn Kiesewetter und Herrn Schockenhoff .Dazu hat sich auch der Kollege Arnold geäußert; ich bingelegentlich dabei gewesen .Es ist gar kein Problem, dass wir hier unterschiedlicheMeinungen haben . Das ist Teil einer parlamentarischenAuseinandersetzung, Teil von Demokratie . Aber dass Siemit Ihren Fragen, mit Ihren Redebeiträgen diese Platt-form hier nicht nur dazu nutzen, um Ihre Position zu ver-treten – das tun wir auch; das ist in Ordnung –,
sondern auch dazu nutzen, falsche Tatsachen zu präsen-tieren,
die Öffentlichkeit so auch hinter die Fichte zu führen, dasist nicht in Ordnung . Insofern, glaube ich, entlarvt sichdas selber .Zu Ihrer ersten Frage kann ich Ihnen sagen: DieSPD-Fraktion diskutiert immer . Wir haben auch hierüberintensiv miteinander diskutiert . Insofern: Die Einladungbleibt bestehen, auch an Ihre Fraktion . Wir kommen jetztins Gesetzgebungsverfahren . Beteiligen Sie sich an demGesetzgebungsverfahren . Als kleinen Einstieg in dieseBeteiligung lesen Sie vielleicht erst einmal das, was hierzur Beratung vorliegt, meine Damen und Herren .
Weil sich gezeigt hat, dass es notwendig ist, will ichnoch einmal zusammenfassen, worum es geht . Es sollendie Informationsrechte bei geheimhaltungsbedürftigenOperationen – Stichwort „Kommando Spezialkräfte“ –kodifiziert werden. Wir werden bisher über die Obleuteunterrichtet . Das ist eine bewährte Praxis, aber es ist einefreiwillige Praxis . Die SPD-Fraktion war immer schonder Meinung, dass es nicht einen Teil der Streitkräfte ge-ben kann, der von der allgemeinen Unterrichtungspflichtsozusagen ausgenommen ist . Wir verändern das jetzt . Ichglaube, das ist ein großer Fortschritt .Wir werden in diesem Gesetzgebungsverfahren auchdafür sorgen, dass es eine erweiterte Unterrichtungspra-xis zu abgeschlossenen Operationen des KommandosSpezialkräfte gibt . Das ist ein wichtiger Fortschritt .Ich will unterstreichen, dass ich es für eine gute Ent-scheidung halte, dass wir Ihnen, meine Damen und Her-ren, vorschlagen, die Evaluierungspflicht, die bisher inder Begründung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes an-gedeutet ist, in den Gesetzestext aufzunehmen . Das istdann übrigens auch eine Grundlage, um vor der gesamtenÖffentlichkeit darüber zu diskutieren, ob diese Entschei-dungen vernünftig waren, ob der Einsatz richtig konzi-piert war, und eine Grundlage für die weitere parlamen-tarische Beratung und für die Begleitung der wichtigenArbeit unserer Soldatinnen und Soldaten .Für die Frage der internationalen Zusammenarbeit istvon besonderer Wichtigkeit – damit greifen wir eine Ideeaus der Kommission auf –, dass wir die Bundesregierungauffordern, einen jährlichen Bericht – einen Bericht, kei-ne Beschlussvorlage für einen Vorratsbeschluss; um dasan dieser Stelle noch einmal zu unterstreichen – über diemultilateralen militärischen Verbundfähigkeiten vorzule-gen . Wir gehen davon aus, dass dieser Bericht nicht nurhier diskutiert wird, nicht nur von der deutschen Öffent-lichkeit wahrgenommen wird, sondern dass er auch vonder europäischen Öffentlichkeit, von den Kolleginnenund Kollegen in anderen Parlamenten und Regierungenzur Kenntnis genommen wird . Das sorgt für eine poli-tische Absicherung . Das schafft das an Verlässlichkeit,was wir erreichen wollen, und es nimmt vielleicht auchein bisschen von dem Misstrauen, das es in anderen Län-dern gegenüber unserer parlamentarischen Beteiligungs-praxis gibt .Um es noch einmal deutlich zu sagen – Kollege Uhlhat darauf hingewiesen, dass wir darüber sehr intensivmiteinander diskutiert haben, übrigens auch mit Vertre-terinnen und Vertretern anderer Staaten –: Wir möchtennicht, dass sich eine Bundesregierung, wie immer sie zu-sammengesetzt ist, hinter dem Parlament versteckt, wennes auf internationaler Ebene darum geht, über die Betei-ligung an einem Einsatz zu entscheiden . Unsere Beratun-gen haben nämlich ergeben, dass das gelegentlich dochder Fall gewesen ist . Deswegen stellen wir klar: Eine
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frühzeitige Unterrichtung über die konkreten Planungenfür bewaffnete Einsätze deutscher Streitkräfte im Systemgegenseitiger kollektiver Sicherheit soll vor diesem Hin-tergrund einen Beitrag leisten . Auch das ist eine Auswei-tung der Informationsrechte des Parlamentes .Insofern bin ich überzeugt davon – wir beginnen jajetzt mit dem Gesetzgebungsprozess –, dass diese Dis-kussion die Kritiker, die wir heute ja auch wieder gehörthaben, widerlegt, die uns im Vorfeld der Einsetzung die-ser Kommission unterstellt haben, dass die Große Ko-alition den Abbau von Parlamentsrechten beabsichtige .Deswegen kann man an dieser Stelle, glaube ich, eineganz sachliche Diskussion miteinander führen . Ich willohne jede Bitterkeit sagen: Wir haben es wirklich sehrbedauert, dass die Opposition sich gegen die Mitarbeit indieser Kommission entschieden hat .
Trotzdem haben wir das Gespräch gesucht . Wir habenregelmäßig Angebote gemacht, und ich bin sehr froh da-rüber, dass diese angenommen worden sind . Wir haben,wie ich finde, vor allem mit den Kolleginnen und Kolle-gen der Grünen sehr konstruktive Gespräche geführt . Wirhaben auch Anregungen aus diesen Gesprächen aufge-nommen . Ich will Ihnen an dieser Stelle sagen: Wir wer-den es im Gesetzgebungsverfahren genauso halten . DieTür für Anregungen, für Diskussionsbeiträge – über Ihreganz normalen parlamentarischen Rechte hinaus – bleibtnatürlich offen . Wir sind sehr daran interessiert, dass esam Ende vielleicht doch noch dazu kommt, dass wir unsaufeinander zubewegen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich willnoch einen weiteren Aspekt in die Debatte einbringen: Esgibt in Europa nur wenige Parlamente, die über so vieleBeteiligungsrechte beim Einsatz bewaffneter Streitkräfteverfügen wie der Deutsche Bundestag .
Der eine oder andere Abgeordnete anderer Parlamente,mit dem wir gesprochen haben, hat keinen Hehl darausgemacht, dass er sich für sein Parlament manchmal ähnli-che Rechte wünschen würde . Ich glaube, wir müssen mitdem, was wir uns erarbeitet und auch erstritten haben,sehr sorgsam umgehen; denn mit diesen Rechten geht jaauch eine Verantwortung einher . Nicht jeder Einsatz derBundeswehr ist gleich gefährlich; aber kein Einsatz istohne Risiko . Es geht immer auch um das Leben meistjunger Menschen . Deswegen dürfen wir in diesem Parla-ment nicht in einen Routinemodus verfallen . Es ist leiderbei einigen Debatten manchmal fast vorhersehbar, wel-che Diskussion wir führen . Ich glaube, dass das an dieserStelle ganz wichtig ist .Ich möchte zum Schluss doch noch einmal sagen: DerParlamentsvorbehalt – auch diese Debatte zeigt das –schafft Öffentlichkeit und Legitimität und stärkt denSoldatinnen und Soldaten bei ihrer wichtigen Arbeit denRücken . Dabei soll es bleiben .Vielen Dank .
Frau Keul, einen Augenblick noch . – Der Kollege
Gehrcke möchte gerne noch eine Kurzintervention ma-
chen . Dazu soll er Gelegenheit haben . Bitte schön .
Herzlichen Dank, Herr Präsident . – Ich möchte zu
einer Sache eine Klarstellung machen, weil sie immer
wieder, wie ich finde, in einer falschen Art und Weise
wiederholt wird – auch von Niels Annen gerade . Die Ab-
sicht ist erkennbar .
Wir haben bei der Einsetzung der Kommission – das
können Sie im Protokoll nachlesen; ich bedauere sehr,
dass wir nicht einmal den Präsidenten haben überzeugen
können – davon gesprochen, dass wir in den Auftrag der
Kommission auch die Frage nach der Stärkung und dem
Ausbau der Parlamentsrechte aufnehmen wollen .
Das wollten wir ausdrücklich in dem Auftrag der Kom-
mission haben – was Sie gemacht haben, ist eine andere
Sache –, das ist abgelehnt worden .
Man wollte nicht den Auftrag erteilen, dass die Parla-
mentsrechte auch gestärkt und ausgebaut werden . Das
war der Kern der Meinungsverschiedenheiten . Wir woll-
ten nicht das Feigenblatt in einer Kommission, die sich
dieser Aufgabenstellung verweigert, für Sie spielen . Das
hätten Sie gerne gehabt und hätten hinterher sagen kön-
nen: Die waren auch dabei und durften ihre Meinung äu-
ßern . – Entscheiden konnten wir ja sowieso nichts . Des-
wegen bleibt meine Fragestellung, ob dieses Parlament
bereit ist, seine eigenen Rechte auszubauen und damit
die Rechte der Regierung zu schmälern . Das ist der Kern
der Differenz . Dazu müssen Sie sich bekennen, und dazu
brauchen Sie nicht einen solchen Unsinn zu erzählen,
dass wir uns verweigert haben, dass wir nicht wollten
und, und, und .
Ich weiß, dass Sie sich Mühe gegeben haben . Herr
Rühe und Herr Kolbow waren bei uns in der Fraktion .
Das war eine ganz muntere Debatte . Die SPD hat uns
immer zum Kaffeetrinken eingeladen, um mit uns zu
reden . Darum geht es nicht . Es geht darum, ob diese
Kommission den Auftrag vom Parlament zur Stärkung
und zum Ausbau der Parlamentsrechte bekommen hätte
oder nicht . Das haben Sie nicht geleistet, und das wollten
Sie nicht . Das Ergebnis spricht dafür, dass es nicht erfüllt
worden ist . Das wollte ich hier noch einmal klarstellen .
Kollege Annen zur Erwiderung .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Herr Kollege Gehrcke,Sie können nicht von der Tatsache ablenken, dass IhreEntscheidung, sich nicht an einer Kommission zu betei-Niels Annen
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ligen, bei der es auch um die Sicherung von Parlaments-rechten geht – das steht in der Aufgabenbeschreibung –,vor allem darin begründet liegt – das sehen wir in vie-len Debatten, wenn es um Außen- und Sicherheitspolitikgeht –, dass Sie die inneren Widersprüche in Ihrer Frak-tion nicht vor der versammelten Öffentlichkeit darstellenwollen, und dass Sie sich vor allem – ich bedauere dasausdrücklich – nicht an der Detailarbeit, der Gesetzesar-beit in der Kommission beteiligten wollen,
weil das offengelegt hätte, was Sie selber eben präsen-tiert haben: Frau Dağdelen hat gesagt, hier soll das Par-lamentsrecht nicht nur beschnitten, sondern abgeschafftwerden, und Sie sagen, Sie haben sich deswegen nichtbeteiligt, weil in der Überschrift des Kommissionsauftra-ges sozusagen ein Adjektiv fehlt . Ich glaube, das entlarvtsich selber .Beteiligen Sie sich an der Arbeit . Lesen Sie die Do-kumente . Machen Sie konkrete Vorschläge . Dann wer-den Sie in Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit nur gewinnenkönnen .Herzlichen Dank .
Nun hat die Kollegin Keul das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil hiermehrfach das Bedauern über die Abstinenz der Oppositi-on angesprochen worden ist, will ich noch einmal daraufhinweisen, dass es keine Kommissionen des Parlamenteswar, sondern eine Kommission der Regierung .
Das parlamentarische Verfahren beginnt heute . Hier wer-den wir uns jetzt auch beteiligen, wie Sie sehen .Sie legen uns heute einen Gesetzentwurf vor, mit demSie einen Begriff definieren wollen, den das Verfassungs-gericht längst definiert hat. Es geht im Kern um den Be-griff des bewaffneten Einsatzes . Dazu führt das Verfas-sungsgericht in der aktuellen „Pegasus“-Entscheidungaus – Zitat –: Es handelt sich beim Einsatz bewaffneterStreitkräfte um einen verfassungsrechtlichen Begriff, dernicht von einem unter der Verfassung stehenden Gesetzverbindlich konkretisiert werden kann . Und weiter:Mit dem Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ist eine einheitliche rechtliche Schwelle parlamen-tarischer Zustimmungsbedürftigkeit definiert. Füreine zusätzliche militärische Erheblichkeitsschwel-le im Einzelfall ist insoweit kein Raum …
Sie versuchen jetzt trotzdem, mit dem neuen § 2 desGesetzentwurfes gesetzlich zu definieren, wann eineEinbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung nicht zuerwarten ist . Dazu sollen unter anderem gehören humani-täre Hilfsdienste, logistische Unterstützung und Ausbil-dungsmissionen im sicheren Umfeld .Nach dem bisherigen Wortlaut des Gesetzes sind hu-manitäre Hilfsdienste dann nicht zustimmungspflichtig,wenn eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unterneh-mung nicht zu erwarten ist . Das entspricht den Vorgabender Verfassung . Ob eine Einbeziehung in eine bewaffneteUnternehmung zu erwarten ist, bleibt eine Frage der tat-sächlichen Verhältnisse, und diese Voraussetzung könnenSie nicht gesetzlich wegdefinieren.
Und noch einmal ausdrücklich das Verfassungsgerichtin der AWACS-Entscheidung von 2008 – Zitat –:Insbesondere kann das Eingreifen des Parlaments-vorbehalts nicht unter Berufung auf Gestaltungs-spielräume der Exekutive maßgeblich von denpolitischen und militärischen Bewertungen undPrognosen der Bundesregierung abhängig gemachtwerden …Einen solchen Gestaltungsspielraum gibt es auch nichtbei logistischen Einsätzen oder bei Ausbildungsmissio-nen in angeblich sicherem Umfeld .
Auch logistische Unterstützung ohne Bezug zuKampfhandlungen kann grundsätzlich zustimmungs-pflichtig sein, weil es nach der Verfassungsrechtspre-chung gerade nicht darauf ankommt, ob es tatsächlichbereits Kampfhandlungen gibt .
Und die Ausbildung von Streitkräften, die sich in ihremLand aktiv in einem bewaffneten Konflikt befinden, stehtauch dann im Zusammenhang mit diesem Konflikt, wenndie Ausbildung aus Sicherheitsgründen beispielsweise ineinem Nachbarstaat stattfindet. Der Rückzug hinter geo-grafische Landesgrenzen ist gerade kein Ausschlusskri-terium für die Einbeziehung in eine bewaffnete Unter-nehmung .
Deswegen knüpft auch Ihr neuer § 2 a – was die Mit-wirkung in militärischen Stäben und Hauptquartierenbetrifft – an das falsche Kriterium an, wenn Sie daraufabstellen, ob sich die Soldaten auf dem Gebiet eines be-waffneten Konflikts befinden.
Niels Annen
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Wenn man sich die Kriegsführung der Moderne ansieht,wirkt dieses Kriterium geradezu skurril .
Was Sie hier treiben, ist der untaugliche Versuch, aufeinfachgesetzlicher Ebene verfassungsrechtliche Grund-sätze zu unterlaufen . Und wenn Sie glauben, Sie könntenmit Ihrer 80-Prozent-Mehrheit die Verfassung ändern,wie es Ihnen beliebt, kann ich Sie nur davor warnen .
In seinem Lissabon-Urteil aus dem Jahr 2009 hat das Ver-fassungsgericht den Zusammenhang zwischen Demokra-tie und Auslandseinsätzen noch einmal hervorgehobenund festgestellt, dass der Parlamentsvorbehalt zu demnach Artikel 79 Grundgesetz geschützten, unantastbarenKern der grundgesetzlichen Verfassungsidentität gehört .
Leider habe ich in dieser Legislaturperiode zuneh-mend den Eindruck, dass Sie unser bewährtes Grund-gesetz nur noch als lästigen Bremsklotz betrachten, denman halt argumentativ irgendwie aus dem Weg räumenmuss,
sei es beim Einsatz im Nordirak, beim Tornado-Einsatzin Syrien oder beim AWACS-Einsatz über der Türkei .Deswegen zum Schluss noch eine kurze politische Be-wertung aus den Schlussfolgerungen der Kommission„Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“beim Institut für Friedensforschung und Sicherheitspo-litik – Zitat –:Das ParlBG stellt keinen Ballast für eine effektiveSicherheitspolitik dar . Es verhindert auch nicht perse eine stärkere militärische Integration im Bündnis
oder in der EU . … Im Idealfall verhindert die Parla-mentsbeteiligung übereilte Entscheidungen, ermög-licht öffentliche Kontrolle, erhöht die Legitimitätdes Einsatzes und stärkt die Sicherheit Deutsch-lands .
In diesem Sinne verstößt Ihr Gesetzentwurf nicht nurgegen die Verfassung, sondern geht auch politisch in dievöllig verkehrte Richtung .Vielen Dank .
Wilfried Lorenz ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Vielleicht vorab eine kur-ze Bemerkung zu meiner Vorrednerin . Nach meinemKenntnisstand ist die Rühe-Kommission vom Parlamenteingesetzt und damit eine Parlamentskommission undkeine Regierungskommission . Das sollte man vielleichteinmal klarstellen .
Vielleicht noch eine weitere Bemerkung . Ich glaube,man sollte mit unserem Grundgesetz ein bisschen zu-rückhaltender umgehen .
– Vielleicht hören Sie mal zu . Herr Dr . Neu, es wäre sehrhilfreich, wenn Sie nicht nur reden, sondern auch mal zu-hören würden .
Ich glaube, man darf mit der Verfassung nicht einfach sosorglos umgehen und aus dem Beispiel AWACS-Einsatzüber einem NATO-Gebiet schließen, dass wir gegen dieVerfassung verstoßen . Ich glaube, das muss einmal klarund deutlich formuliert werden .
Meine Damen und Herren, die Arbeit der Rühe-Kom-mission hat gezeigt, dass die Beteiligung des Bundes-tages bei Entscheidungen über den Einsatz bewaffneterStreitkräfte im Ausland in der bisherigen Form vomGrundsatz her erfolgreich war und unseren Bündnisver-pflichtungen in keinster Weise im Wege stand. Warum istes trotzdem wichtig und richtig, Änderungen an diesemGesetz vorzunehmen? Erstens, weil natürlich die bestealler Politiken auf Realitätssinn beruht, zweitens, weilGeschwindigkeit keine Hexerei und schon gar kein Teu-felswerk ist .Was meine ich damit, meine Damen und Herren? Ichmeine damit, dass wir bei der Betrachtung der sicher-heitspolitischen Lage wesentlich flexibler, schneller re-agieren müssen . – Jetzt muss ich leider sagen, dass ichmeine Zettel ein bisschen durcheinandergebracht habe,was mir leidtut .
Katja Keul
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 153 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . Januar 201615070
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Das macht gar nichts . Ich bekomme das auch so hin, HerrNeu . Machen Sie sich da mal keine Sorgen!
– Sie können sich darüber totlachen, aber machen Siesich keine Sorgen .Ich glaube, meine Damen und Herren, wir müssenschon genau betrachten, wie sich die sicherheitspoliti-sche Lage um uns herum entwickelt hat . Es geht in dieserDiskussion nicht ausschließlich um die einzelnen Aspek-te des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, die zu Recht vor-getragen worden sind; rechtlich haben es Herr Uhl undandere Kolleginnen und Kollegen im Detail beschrieben .Ich glaube, obwohl sich dieses Verfahren bewährt hat,erfordert eine zunehmend komplexe, unübersichtlicheSicherheitslage – wie ich schon gesagt habe – mehr Re-aktionsschnelligkeit, Flexibilität und HandlungsfähigkeitDeutschlands . Die sicherheitspolitische Lage ist in derheutigen Zeit von parallelen Bedrohungen und von derhäufig raschen Taktung der Entstehung neuer Gefähr-dungslagen gekennzeichnet . Deshalb mussten wir dasVerfahren der Parlamentsbeteiligung auf den Prüfstandstellen .Die Fragen waren: Geht es einfacher und schneller?Muss der Bundestag immer beteiligt werden? Die Ant-wort auf die erste Frage ist: Ja, es geht . Die Antwort aufdie zweite Frage ist: Nein, nicht immer . – Genau das istim Gesetzesentwurf verankert worden: Zunächst einmalwird der Bundestag künftig im Vorfeld schneller – Zi-tat: „möglichst frühzeitig“ – über konkrete Einsatzpläneinformiert . Seine Wächterrolle beim Einsatz deutscherStreitkräfte hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt:Wenn konkret zu erwarten ist, dass deutsche Soldaten inbewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werden,ist vorab die Zustimmung des Parlamentes einzuholen .Entscheidend ist laut Gericht, ob die Soldaten in ei-ner konkreten militärischen Gefahrenlage handeln, inder ein Waffeneinsatz naheliegt, sowie ob Waffen mit-geführt werden und eine Ermächtigung zum Gebrauchder Waffen vorliegt . Aber: Bei Gefahr im Verzug darfdie Bundesregierung Streitkräfte in eigener Hoheit ent-senden . Ein Bundestagsvotum ist dafür – auch nachträg-lich – nicht notwendig . Das Parlament ist allerdings nachBeendigung des Einsatzes – das ist hier schon gesagtworden – unverzüglich und qualifiziert zu unterrichten.Diese exekutive Eilkompetenz soll in kurzfristig auf-tretenden Ausnahmesituationen die militärische Hand-lungsfähigkeit Deutschlands sichern .Mit dieser Ergänzung können unsere Bündnispart-ner noch mehr darauf vertrauen, dass deutsche Anteilean Einsätzen verlässlich und zeitgerecht zur Verfügungstehen. Auch die differenzierte Definition des Einsatzbe-griffes im vorliegenden Entwurf – auch das ist hier schonthematisiert worden – dient dem Ziel der Sicherung desVertrauens innerhalb des Bündnisses . Gleichzeitig dientsie natürlich auch der Klarstellung hinsichtlich der Kom-petenzen von Parlament und Bundesregierung .Nicht zustimmungspflichtig sind nach diesem Gesetz-entwurf Einsatztypen, bei denen das Eskalations- undVerstrickungspotenzial „in der Regel“ gering ist . Hiersind Beispiele genannt worden: Erkundungsmissionen,humanitäre Hilfe, logistische Unterstützung, Ausbil-dungsmissionen . Aber dies gilt natürlich nur, soweit dieEinsätze nicht im Gebiet eines bewaffneten Konfliktesoder mit Waffen durchgeführt werden . Diese Regelungübertragen wir mit diesem Gesetzentwurf auch auf in-tegrierte und multinational besetzte Hauptquartiere derNATO, der EU oder anderer Organisationen gegenseiti-ger kollektiver Sicherheit . Das Merkmal „in der Regel“sollte, so finden wir, in der parlamentarischen Beratungnoch geschärft werden .Neu ist auch, dass die Bundesregierung den Bundes-tag über geheime Sachverhalte zu informieren hat . Auchdarüber ist schon gesprochen worden . Das muss hiernicht mehr ausdefiniert werden.Insgesamt wird das im Entwurf vorgesehene Berichts-wesen – diesen Punkt möchte ich herausarbeiten – in derweiteren parlamentarischen Beratung weiterzuentwi-ckeln sein . Natürlich sind alle Kreise eingeladen, in derparlamentarischen Beratung mitzuwirken und ihre Über-legungen einzubringen .Das Verfahren ist das eine . Damit aber aus dem opti-mierten Verfahren Handlungsfähigkeit entsteht, brauchtes mehr . Wir müssen Einsatzentscheidungen mehr dennje in einem größeren Kontext betrachten . Diese Gesamt-schau muss den Krisenbogen vom afrikanischen Konti-nent über den Nahen Osten bis nach Zentraleuropa imBlick haben . So ist die Terrororganisation Daesh nichtmehr nur in Syrien, dem Irak und in Libyen tätig, sondernin mehr als 20 Staaten . Stark werden kann Daesh aber nurdort, wo das Umfeld schwach ist . Zur Wahrheit gehörtdazu: Künftig werden wir weitere Staaten unterstützenmüssen, die Daesh nicht selbst stoppen oder zurückdrän-gen können . Je nach Einzelfall werden wir schnell han-deln müssen . Gerade hier helfen die neuen Regelungendes Parlamentsbeteiligungsgesetzes .Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, wielange der Kampf gegen Daesh in den verschiedenen Län-dern dauern wird . Aber: Wir kennen die gefährdeten Staa-ten, wir kennen die Regionen der Welt, und wir kennendie Stärke der Terroristen in den jeweiligen Ländern . Wirkennen auch die auf Jahrzehnte angelegte Al-Qaida-Stra-tegie, die vielen der aktuellen Gefährdungen in der Weltzugrunde liegt . Damit haben wir alles in der Hand, umsystematisch und in längeren Zeiträumen zu planen .Die sicherheitspolitische Realität zwingt uns dazu,künftig in einem breiten Spektrum mehr für die Verteidi-gungsfähigkeit unseres Landes zu tun . Deshalb ist es sowichtig, entsprechende rechtliche und verfahrenstechni-sche Grundlagen im neuen Parlamentsbeteiligungsgesetzklipp und klar zu regeln .Sehen Sie bitte das neue Parlamentsbeteiligungsge-setz als einen Schlüssel zur Sicherstellung aktueller wiekünftiger Einsätze im Verbund mit unseren internationa-len Partnern durch Vorgaben, die zeitgerechte Einsätzeermöglichen, durch die Sicherung der Rechte des Deut-schen Bundestages und durch ein rechtliches Gesamt-konstrukt, das die Bündnis- und HandlungsfähigkeitDeutschlands stärkt .Wilfried Lorenz
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Ich bedanke mich .
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Arnold für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach elf Jahren Parlamentsbeteiligungsgesetz ist es ver-nünftig und klug, wenn man angesichts der Veränderun-gen in der Welt dieses Gesetz überprüft; vielleicht solltenwir das öfter, auch bei anderen Gesetzen, tun . Genau daswar der Auftrag der Kommission .Es gab von Anfang an viele Wünsche und auch vie-le Befürchtungen . Keine der Befürchtungen ist am Endeeingetreten . Der Wunsch nach einer Lockerung der parla-mentarischen Rechte, der im Raum stand, der auch mal inBrüssel diskutiert wurde, war für uns Sozialdemokratenvon vornherein ausgeschlossen, völlig ausgeschlossen .
Das haben wir gesagt, und wir haben Wort gehalten . Eswar auch gar nicht nötig; denn die Gespräche, die wirmit der Kommission und auch auf internationaler Ebenegeführt haben, haben eindrucksvoll gezeigt: Der parla-mentarische Vorbehalt ist keinesfalls ein Hemmschuh fürdeutsche Verantwortung in der Welt . Dass sich Regierun-gen manchmal hinter dem Parlamentsvorbehalt versteckthaben, ist für uns Parlamentarier sogar ein richtiges Är-gernis, weil das den guten parlamentarischen Vorbehaltin der Staatengemeinschaft diskreditiert und wir immerwieder erklären müssen, was Sache ist .
Insofern sage ich eindeutig: Der Parlamentsvorbehalt istgut, und er schützt auch Regierungen – da bin ich ganzbei Ihnen – vor vorschnellen und möglicherweise auchfalschen Entscheidungen .Es wurde auch befürchtet, dass der Parlamentsvorbe-halt abgeschafft werden könnte . Davon wurde überhauptnichts realisiert . Wir haben den Parlamentsvorbehalt inkeiner Weise eingeschränkt . Im Gegenteil: An vielenStellen haben wir die parlamentarischen Rechte erweitertund präzisiert .Herr Kollege Neu, was Sie vorhin gesagt haben, dasärgert mich jetzt schon; denn dieses angebliche Zitat istweit von meinem Denken entfernt . Um es klar zu sagen:Ich war einer der wenigen, die damals, bei der erstenFormulierung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, sehrengagiert dabei waren . Schon damals war für mich ganzklar: Wir wollen niemals Vorratsbeschlüsse . Ergänzendhabe ich immer gesagt: Sie sind rechtlich auch nichtmöglich . – Beides ist unsere Position .
Wir erweitern die Rechte, insbesondere an einem ganzwichtigen Punkt, nämlich bei der Unterrichtung des Par-laments . Es ist eine frühzeitige Unterrichtung vorgese-hen, dann, wenn Regierungen anfangen, über Einsätze zureden und zu planen . Das ist wichtig, weil es nicht imErmessen von Regierungen liegt, darüber zu befinden, obein Einsatz mandatspflichtig ist oder nicht. Das ist einparlamentarisches Recht . Deshalb ist es ganz eindeutig:Es ist gut, dass wir dies gesetzlich verankern . Die Regie-rungen müssen mit dem Parlament ventilieren, wie dasParlament den einzelnen Einsatz bewertet . Ich sage esdeutlich: Bei allen Bundesregierungen gibt es, was dasVentilieren anbelangt, Luft nach oben . Deshalb ist es gut,dass wir hier Klarheit schaffen .Wir stärken das Recht des Parlaments im Bereich derInformationen über Einsätze des Kommandos Spezial-kräfte . Auch das ist ein lang gehegter Wunsch . Und esgibt die seit langem eingeforderten Evaluierungen amEnde von Einsätzen . Das ist alles richtig .Nun kommt dieser schwierige Punkt, über den wirlange diskutiert haben: Ist es überhaupt möglich, eineGrenze zu definieren, ab wann ein Einsatz als Einsatz be-waffneter Streitkräfte anzusehen ist und damit als man-datierungspflichtig? Wir haben viele Stunden darüber be-raten . Wir haben gemerkt: Es wird nie eine harte Grenzegeben, sondern es wird immer einen Bereich geben, überden man diskutiert, vielleicht auch politisch streitet . In-sofern ist das, was wir formuliert haben, nur ein Schritt inRichtung einer stärkeren Präzisierung . Das entbindet unsaber in keinem Fall von der Pflicht – hier wurde gesagt:das muss in jedem Einzelfall entschieden werden –, überjeden Einzelfall zu diskutieren und zu entscheiden .Frau Kollegin Keul, das Kritischste sind sicherlichdie Ausbildungsmissionen . Herr Schmidt hat ja ein paarBeispiele genannt: Afghanistan, Mali, Nordirak . Um esganz klar zu sagen: Afghanistan ist kein sicheres Um-feld und Erbil auch nicht . Es gibt ja Indikatoren: WennAusbildungsmissionen militärisch stark geschützt wer-den müssen, wenn deutsche Soldaten von einer starkeneigenen Schutzkomponente begleitet werden, ist dies einstarker Indikator dafür, dass das kein gesichertes Umfeldist . Deshalb sind diese Einsätze zu mandatieren . Da gibtes doch überhaupt kein Vertun .
Daneben gibt es Einsätze, bei denen die Soldaten abendswomöglich sogar ins Hotel fahren und sich vom Objekt-schutz des Hotels bewachen lassen oder sich selbst schüt-zen . Das ist ein sicheres Umfeld . Manchmal wird ja auchin Deutschland oder in Nachbarländern ausgebildet . Wirhaben die Ausbildung von somalischen Kräften in Keniaauch nicht mandatiert . Damals gab es keine Diskussio-nen . Insoweit ist das schon ein Stück weit abgrenzbar .Wilfried Lorenz
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Es gibt noch einen weiteren Aspekt bei Ihrer Ar-gumentation, den wir nicht vergessen dürfen: Für denZweifelsfall – ich bekenne mich ja dazu, dass es immerwieder Zweifel geben wird – hat uns das Verfassungsge-richt etwas Wichtiges ins Stammbuch geschrieben . DasVerfassungsgericht sagt nämlich in seinem Urteil: ImZweifel muss das Parlamentsbeteiligungsgesetz „parla-mentsfreundlich“ interpretiert werden . Das ist juristischso definiert, und das ist – das sage ich deutlich – aucheine sozialdemokratische Grundposition . Deshalb gibtes keinen Grund, Ängste zu schüren oder gar mit Halb-wahrheiten, wie die Linke es tut, die Öffentlichkeit zutäuschen . So können wir über diesen Bereich nicht mit-einander diskutieren . Dazu ist das alles viel zu wichtig,viel zu ernst .
Wir haben ein paar Dinge präzisiert . Das gilt auch fürdie Stäbe . Kollegen von den Linken, die Stäbe musstenbisher auch nicht mandatiert werden . Bisher stand das inder Begründung, und jetzt steht das im Gesetz . Was kannein Parlamentarier schlecht daran finden, wenn die Dingeklargezogen werden? Im Prinzip nichts .Die Kommission hat sich ein bisschen auch mit The-men beschäftigt, die nicht zu ihrem Auftrag gehörten . Eswar aber richtig, dass die Kommission an der einen oderanderen Stelle über den Tellerrand hinausgeschaut hat .Ich will drei Bereiche erwähnen, die ich wichtig finde:Erstens. Die Kommission hat sorgfältig reflektiert,warum Deutschland bei UN-Friedensmissionen so wenigbeteiligt ist. Ich finde, dass dieses ein zentrales Themaist, dass das Gewaltmonopol der Welt bei den VereintenNationen liegt – das müssen wir nicht nur verbal formu-lieren, sondern wir müssen die UN auch konkret unter-stützen, damit dieses Gewaltmonopol durchgesetzt wer-den kann. Die Defizite der UN darf man nicht beklagen,sondern man muss sie beseitigen – dies hat grundsätzli-che Debatten im Parlament verdient .Das Zweite, das die Kommission reflektiert hat, ist:Müssten wir im Deutschen Bundestag nicht mehr überSicherheitspolitik reden?
Ich war enttäuscht, dass die Kanzlerin dies im Verteidi-gungsausschuss von sich gewiesen hat. Deshalb findeich das, was wir jetzt im Gesetzentwurf machen, sehrgeschickt . Denn wir sagen: Überall dort, wo es um ver-bundene europäische oder NATO-Fähigkeiten geht, musssich das Parlament damit befassen, nicht im Sinne vonVorratsbeschlüssen, dass man nicht mehr Nein sagenkann . Es gibt keine juristische Bindung – das ist eindeu-tig –, aber es gibt politische Einsichten, Verpflichtungenund Diskussionen . Diese Diskussionen müssen wir füh-ren . Ich glaube, über diese Brücke zwingen wir in Zu-kunft einmal im Jahr uns alle selbst und die Regierung,indem wir eine sorgfältige sicherheitspolitische Debatteführen .
Ich glaube, das ist im Interesse von uns Parlamentarierninsgesamt .Die dritte Reflexion ist zwar eine heikle, aber ich spre-che sie trotzdem an . Es geht um die Frage: Muss man aufDauer damit umgehen und leben? Juristisch kann mandas . Verfassungsgerichtsurteile sind Verfassung . Aber istes auf Dauer richtig, ein solch wichtiges Thema wie denEinsatz bewaffneter Streitkräfte auf Urteilen basierendzu legitimieren? Wäre es nicht klug, eine Verfassungs-debatte zu führen, die die Urteile, ohne die Rechte derRegierung zu erweitern, im Prinzip eins zu eins in denVerfassungsrang erhebt? Ich muss sagen: Ich treffe sehr,sehr viele Soldaten, die diesen Wunsch haben . Denn un-sere Soldaten sind Staatsbürger in Uniform .
Herr Kollege .
Sie legen Wert darauf, dass nicht der geringste Zweifel
daran entstehen kann, dass das, was sie tun, verfassungs-
konform ist .
Um es klar zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass
diese Koalition ihre satte Mehrheit in diesem Fall für
Verfassungsänderungen nutzen sollte . Ich würde das für
politisch unklug halten, und ich möchte dies auch nicht .
Ich bin aber sehr dafür, dass man einen Tag findet, an
dem Regierung, Opposition und Koalitionsfraktionen
über solche Themen miteinander ins Gespräch kommen .
Recht herzlichen Dank .
Andreas Nick ist der letzte Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasParlamentsbeteiligungsgesetz ist 2005 in Kraft getreten .Der Deutsche Bundestag hat seitdem über 90 Anträgender Bundesregierung auf Entsendung bewaffneter deut-scher Streitkräfte ins Ausland oder deren Fortsetzungzugestimmt. Auch eilbedürftige Entscheidungen fielennach sorgfältiger und intensiver Prüfung innerhalb we-niger Tage . In keinem einzigen Fall haben wir die Zu-stimmung verweigert . Jeder Einsatz fand eine oft breiteMehrheit im Bundestag, getragen häufig nicht nur vonden Regierungsfraktionen, sondern auch aus den Reihender Opposition . Als Parlament können wir mit Fug undRecht festhalten: Wir sind unserer außenpolitischen Ver-antwortung gerecht geworden, und wir haben Verläss-lichkeit auch gegenüber unseren Bündnispartnern unterBeweis gestellt .Mit Zustimmung des Bundestages befinden sich deut-sche Soldatinnen und Soldaten seit Jahren an vielenKrisenherden der Welt im Einsatz . Mit ihrer Leistungs-fähigkeit und ihrer Einsatzbereitschaft leisten unsereSoldatinnen und Soldaten einen vorbildlichen Beitrag fürRainer Arnold
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Frieden und Stabilität weltweit . Dafür sprechen wir unse-ren herzlichen Dank aus .
Wir bekennen uns als Parlament zu unserer Bundes-wehr, und wir sind uns unserer besonderen Verantwor-tung für unsere Parlamentsarmee sehr bewusst . Diesbetrifft nicht nur die sorgfältige Abwägung von Notwen-digkeit und Risiken jedes einzelnen Einsatzes . Es giltvielmehr auch für unsere ganz grundsätzliche Verantwor-tung, nämlich erstens unseren Soldatinnen und Soldatendie bestmögliche Ausrüstung zur Verfügung zu stellenund zweitens im Ernstfall ihre optimale sanitätsdienstli-che Versorgung zu gewährleisten . Ich stelle fest: Nichtzuletzt deshalb genießt unser Sanitätsdienst weltweit ei-nen hervorragenden Ruf .Wir setzen unsere Streitkräfte grundsätzlich nur imRahmen von Mandaten der Vereinten Nationen odergemeinsam mit unseren Partnern in NATO und EU ein .Dies entspricht unserer historischen Erfahrung und un-seren Sicherheitsbedürfnissen als Land im Zentrum Eu-ropas .
Michael Stürmer ruft uns beständig den Leitsatz vonHelmut Kohl in Erinnerung: Bündnisfähigkeit ist Kerndeutscher Staatsräson . – Unsere Bündnisfähigkeit nachaußen und die demokratische Legitimierung nach innengehören deshalb zusammen . Sie sind der doppelte Impe-rativ deutscher Sicherheitspolitik .Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass der Par-lamentsvorbehalt immer wieder als möglicher Unsicher-heitsfaktor beschrieben wird, wenn es um die stärkereIntegration deutscher militärischer Schlüsselfähigkeitenin multilaterale Strukturen geht . Es ist richtig: Partnermüssen darauf vertrauen können, dass Schlüsselfähigkei-ten im Ernstfall auch tatsächlich zur Verfügung stehen .Nur dann sind militärische Zusammenarbeit und Aufga-benteilung mit den Verbündeten auch unter jeweiligemVerzicht auf entsprechende eigene Fähigkeiten möglich .Mit der Weiterentwicklung des Parlamentsbeteili-gungsgesetzes tun wir deshalb zweierlei: Wir untermau-ern Deutschlands Willen zur stärkeren multilateralenZusammenarbeit, und wir stärken gleichzeitig die Rechtedes Parlaments und die demokratische Legitimation un-serer Parlamentsarmee .Ein besonderer Dank gilt der Kommission unter demVorsitz des früheren Verteidigungsministers VolkerRühe, die im Auftrag des Bundestages – des Bundesta-ges! – die Grundlagenarbeit für die Fortentwicklung desParlamentsbeteiligungsgesetzes geleistet hat .Zunächst einmal verschafft die umfassendere Definiti-on des Einsatzbegriffes mehr Klarheit . Nicht mehr man-datspflichtig sind unter anderem: Beobachtermissionender Vereinten Nationen sowie Missionen anderer Syste-me kollektiver Sicherheit, wenn sie keine Befugnis zurbewaffneten Durchsetzung eines Einsatzauftrages haben,die logistische Unterstützung ohne Bezug zu Kampf-handlungen, die Bereitstellung medizinischer Versor-gung außerhalb des Gebiets eines bewaffneten Konfliktsund Ausbildungsmissionen, wenn eine Einbeziehung inbewaffnete Unternehmungen nicht zu erwarten ist . Ent-scheidend – die Kollegen haben in der Debatte schondarauf hingewiesen – ist aber vor allem, dass die Bun-desregierung zukünftig in der Pflicht ist, einen jährlichenBericht darüber vorzulegen, welche konkrete Verantwor-tung für multilaterale militärische Verbundfähigkeitenaus der Bündnissolidarität folgt .Die geplanten Veränderungen stärken deshalb dasVertrauen in die Verlässlichkeit Deutschlands . Sie tragenaber auch dem veränderten Charakter der Einsätze Rech-nung; der Kollege Lorenz hat darauf schon im Einzelnenhingewiesen . Internationale Missionen sind heute vorran-gig nicht mehr nur Ad-hoc-Lösungen für akute Konflikte.Es geht vielmehr immer mehr um die vorausschauendeStärkung regionaler Sicherheitsstrukturen, etwa durchAusbildungsmissionen für lokale Einsatzkräfte .Es ist wahr: Internationale Krisen treten nicht längersingulär auf – wenn sie es denn je taten –, und sie vollzie-hen sich auch keineswegs linear oder sequenziell . Auchin der parlamentarischen Begleitung von Auslandsein-sätzen der Bundeswehr müssen wir uns darauf stärkereinstellen . Als Parlament werden wir uns daher künftignoch frühzeitiger, umfassender und nachhaltiger mit au-ßen- und sicherheitspolitischen Entwicklungen befassenkönnen und müssen . Wir setzen damit einen Prozess fort,der mit dem Review-Prozess und dem Weißbuch-Prozessangestoßen wurde . Ich füge aus meiner Sicht hinzu: Wirmüssen auf Dauer stärker in Richtung einer nationalenSicherheitsstrategie gehen, die wir umfassend hier Jahrfür Jahr beraten .
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, mit derWeiterentwicklung des Parlamentsbeteiligungsgesetzesstärken wir unsere Bündnissolidarität nach außen und diedemokratische Legitimierung der Parlamentsarmee nachinnen . Damit erhöhen wir die Handlungsfähigkeit unddienen den Sicherheitsinteressen unseres Landes .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/7360 und 18/5000 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dannsind die Überweisungen so beschlossen .Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 22:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDIntelligente Mobilität fördern – Die Chancender Digitalisierung für den VerkehrssektornutzenDrucksache 18/7362Dr. Andreas Nick
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss Digitale Agenda HaushaltsausschussAuch zu diesem Tagesordnungspunkt soll es nach ei-ner Vereinbarung der Fraktionen eine Aussprache von77 Minuten geben . – Das ist offenkundig unstreitig . Alsoverfahren wir so .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derParlamentarischen Staatssekretärin Dorothee Bär .
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-
nächst einmal ein herzlicher Dank an die Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD . Wir sind dem Ministerium sehr
dankbar, allein schon für den Titel „Intelligente Mobilität
fördern“ . Denn man muss einmal daran denken, dass es
vor circa zwei Jahren, als das Ministerium nicht nur den
neuen Namen, sondern auch die neue Aufgabe bekom-
men hat, auf der einen Seite für Verkehrspolitik und auf
der anderen Seite für digitale Infrastruktur und für die
Digitalisierung insgesamt zuständig zu sein, immer noch
den einen oder anderen gab, der der Meinung war, dass
Digitalisierung und Infrastruktur weder zusammengehö-
ren noch zusammenpassen .
Ich denke, dass das Ganze sehr schnell Lügen gestraft
wurde . Man hat festgestellt, wenn irgendwo die Digita-
lisierung notwendig ist, wo sie auch perfekt zu vernet-
zen ist, dann ist das in der Infrastruktur der Fall . Wenn
man merkt, wie sich Lebensentwürfe ändern, wenn man
merkt, wie sich unser eigenes Leben, das Berufsleben
und das Privatleben, ändert und meines Erachtens sehr
zum Vorteil wandelt, dann ist das auf die Digitalisierung
zurückzuführen .
Menschen auf der ganzen Welt und gerade auch in un-
serem Land, wo die Mobilität so wichtig ist, verlangen
heute mehr denn je nach einer ungehinderten Mobili-
tät, dies vor allem auch in einer extremen Schnelligkeit .
Wir haben gleichzeitig eine immer dichter verflochtene
Weltwirtschaft . Wir brauchen verlässliche, planbare und
reibungslos fließende Güterströme. Darauf sind wir nicht
nur mit Blick auf unsere Wirtschaft angewiesen, sondern
wir haben auch einen Titel zu verteidigen . Weltweit weiß
jeder, dass wir Fußballweltmeister sind . Die wenigsten
wissen aber, dass wir auch Logistikweltmeister sind . Lo-
gistikweltmeister sind wir auch deswegen, weil unsere
Warenströme so gut funktionieren . Auf diesem Status
quo wollen wir uns aber nicht ausruhen, sondern wir
wollen das Ganze auch weiterführen, weil es immer we-
sentlich schwieriger ist, einen Weltmeistertitel zu vertei-
digen, als ihn zu erringen .
Deswegen werden wir in den kommenden Jahren so
viel Geld wie noch nie zuvor in die Weiterentwicklung
der Verkehrsinfrastruktur investieren . Wir haben dazu ei-
nen Fünf-Punkte-Investitionshochlauf gestartet . Diesen
werde ich jetzt nicht noch einmal im Detail erklären . Ich
denke, das hat der Minister schon so oft getan, sodass das
jeder nachbeten kann .
– Auch Sie, Frau Wilms . – Durch die fortschreitende
Digitalisierung im Verkehrsbereich werden sich in den
kommenden Jahren deutliche Veränderungen zeigen .
Ein Weiteres ist mir sehr wichtig . Bei der Technik sind
wir uns relativ einig, auch wenn es sicherlich noch Nuan-
cen gibt, bei denen man die eine oder andere Stellschrau-
be anders drehen möchte .
Sorge bereitet mir nicht das Geld . Geld ist in unserem
Haushalt vorhanden . Darüber beschwert sich im Moment
zumindest niemand .
Es ist auch nicht so, dass die Technik nicht funktioniert .
Auch da haben wir herausragende Firmen . Wir haben
Weltmarktführer . Der Bereich der Zulieferindustrie ist
herausragend .
Sorgen bereitet mir allerdings, wie wir es schaffen,
die Begeisterung und die Leidenschaft für die Digitali-
sierung insbesondere im Verkehrsbereich in die Bevölke-
rung hineinzutragen .
Schauen wir uns einmal Umfragen zum Thema des
autonomen Fahrens bzw . des automatisierten Fahrens an .
Bei der Frage nach dem Nutzen und der Begeisterung
stellt man fest, dass die Umfragen weltweit wesentlich
euphorischer ausfallen als im eigenen Land . Spannender-
weise sind die Frauen in Deutschland begeisterter als die
Männer . Auch das ist eine positive Nachricht .
– Wer sagt denn hier „Oje, oje“? Ich hoffe, das kam nicht
von hinten .
Ich war es nicht . Ich weiß nicht, warum Sie sich zu
mir umschauen .
D
Sie können es auch nicht gewesen sein, weil Sie ehnicht zugehört haben, weil Sie geschwätzt haben . Dashabe ich ja mitbekommen .
Deswegen weckt das vielleicht auch die Begeisterungbeim Präsidium .Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich bin der Überzeugung, nicht nur für die Gesell-schaft, sondern auch für die Wirtschaft bieten sich enor-me Chancen, die wir auch nutzen können .Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist auf der Basisstarker Netze ein Hochtechnologieland . Wir sind Export-und Transitnation und stehen damit auch an der Spitzein Europa . Die Digitalisierung sorgt insbesondere imVerkehrssektor dafür, dass wir Wirtschaftswachstum unddamit mehr Beschäftigung haben . Außerdem werden wirsicherer werden und umweltschonender sein . Darüberhinaus werden wir inklusiver sein . Das sind doch allespositive Nachrichten . Deswegen müssen wir die Skepsisnoch weiter abbauen .Zum Sicherheitsgedanken im Verkehrsbereich . Eswird immer gefragt, wie wir das mit dem automatisiertenbzw . autonomen Fahren machen . In Deutschland wirddarüber diskutiert, was passiert, wenn das Auto entschei-den muss, ob es in den Kinderwagen reinfährt oder inetwas anderes . Im Silicon Valley in Amerika spricht manimmer davon, was ist, wenn das Auto in drei Nonnenreinfährt . Ich weiß nicht, ob das an einem Mentalitätsun-terschied liegt . Zumindest werden immer irgendwelcheSchreckensszenarien an die Wand gemalt, wie sich dasAuto entscheidet .Wenn man sich aber einmal die Zahlen anschaut undfeststellt, dass 95 Prozent aller Unfälle auf menschlichesVersagen zurückzuführen sind, dann muss man ganzeinfach konstatieren, dass der Risikofaktor Mensch imMoment höher zu bewerten ist als der Risikofaktor Ma-schine . Insofern kann die Digitalisierung für eine größereSicherheit sorgen und ist zudem wesentlich umweltscho-nender und inklusiver . Insofern begrüßen wir diesen An-trag der Koalitionsfraktionen ganz ausdrücklich .
Was kann durch die Digitalisierung noch getan wer-den, was bislang nicht möglich war, um den Menschendas Leben zu erleichtern? Ich nenne unser Ministerium jasehr gerne auch das „Lebenserleichterungsministerium“ .
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber wir wollenChancen und Möglichkeiten eröffnen, beispielsweisedurch die Förderung einer möglichst nahtlosen Reiseket-te – von der Fahrgastinformation über das Ticketing biszum „Tür zu Tür“-Service – und durch die Förderungvon Transportketten im Güterverkehr . Als Koordinatorinder Bundesregierung für Güterverkehr und Logistik sageich: Gerade für den Güterverkehr, für die Logistik undfür die Zukunft des Landes braucht unsere erfolgreicheVolkswirtschaft diese neuen Möglichkeiten noch wesent-lich stärker .Zukünftig wird es zum Beispiel immer mehr Wetter-und Verkehrsinformationen geben . Mit dem DeutschenWetterdienst haben wir hier eine wirklich ganz heraus-ragende nachgeordnete Behörde, die uns täglich sehrwichtige Informationen liefert, und es gibt automatisierteSysteme, die dazu beitragen, dass Gütertransporte undlogistische Abläufe effizienter und wesentlich umwelt-freundlicher gestaltet werden können . Den gesamten Be-reich „Automatisiertes und vernetztes Fahren“ habe ichschon angesprochen .Die Bundesregierung hat letzten September die „Stra-tegie automatisiertes und vernetztes Fahren – Leitanbie-ter bleiben, Leitmarkt werden, Regelbetrieb einleiten“beschlossen. Dadurch wollen wir auch die Verkehrseffi-zienz steigern . Es wird in Zukunft beispielsweise nichtmöglich und auch nicht nötig sein, jede sechsstreifigeAutobahn auf acht Streifen auszubauen . Schon jetzt wer-den teilweise Seitenstreifen mitgenutzt, wenn besondersviel Verkehr ist . Selbstverständlich kann die Anzeige fürden Seitenstreifen sofort wieder auf Rot geschaltet wer-den, wenn beispielsweise ein Unfall passiert ist . Auchdadurch können wir die Verkehrssicherheit erhöhen .Wir stärken auch den Innovations- und Wirtschafts-standort Deutschland . Deswegen hat unser Haus dasDigitale Testfeld Autobahn auf der A 9 eingerichtet,was schon jetzt ein weltweites Erfolgsmodell ist . Wirhaben hier nicht nur national, sondern auch internatio-nal sehr viele Anfragen . Man möchte „on the GermanAutobahn“ – „die deutsche Autobahn“ ist nun einmalweltweit ein absolutes Qualitätsmerkmal – testen . DieCar-to-Car-Kommunikation, also die Fahrzeug-zu-Fahr-zeug-Kommunikation, die Fahrzeug-zu-Infrastruk-tur-Kommunikation und die Rastanlagen der Zukunftwerden getestet, und es erfolgen Falschfahrerwarnungenund Baustellenoptimierungen . Das alles wird auf demDigitalen Testfeld Autobahn erprobt und bewertet, so-dass daraus hoffentlich möglichst bald ein Regelbetriebfür ganz Deutschland entstehen kann .Wir haben ein weiteres Schatzkästchen . Wir sind janicht nur das Lebenserleichterungs-, sondern auch dasDatenministerium .
Das Bundesministerium hat nämlich den sogenanntenMobilitätsDatenMarktplatz, den MDM, errichtet, um dieverschiedenen verfügbaren Onlineverkehrsdaten wei-ter zu bündeln . Damit haben wir erstmalig ein zentralesOnlineportal mit den online verfügbaren Verkehrsdaten .Auch hier können noch einmal neue Potenziale erschlos-sen werden, und zwar durch eine bessere Nutzung derDatenbasis .Für mich ist entscheidend, kein Schreckensszenarioan die Wand zu malen und zu sagen, dass „Big Data“ein wahnsinnig böser Begriff ist . Wir nennen es „SmartData“ . Dabei geht es gar nicht darum, möglichst vieleDaten zu sammeln, sondern darum, die Daten, die vor-handen sind, ganz intelligent und besser miteinander zuvernetzen .Ich komme zu meinem letzten Punkt . Auch wenn wirzurzeit immer sehr stark auf die Großstädte schauen,glaube ich, dass gerade die Digitalisierung im VerkehrParl. Staatssekretärin Dorothee Bär
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eine Voraussetzung und eine sehr große Chance ist, umdie Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im ländli-chen Raum und in den Großstädten, die uns wichtig ist,wesentlich besser zu erreichen . Diese Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse ist eine wichtige Grundlage fürden Zusammenhalt unserer Gesellschaft . Deswegen stel-len wir mit dem Modernitätsfonds auch die strategischenWeichen für eine gewinnbringende Nutzung von SmartData in Deutschland .Im Herbst wird es dann unseren zweiten Hackathon,unseren BMVI Data-Run, geben . Dabei geht es darum,Daten, die schon erhoben wurden, öffentlich zur Verfü-gung zu stellen, um neue Apps oder neue Anwendungenentwickeln zu können .Sie sehen also: Wir tun sehr viel . Ich bin sehr dankbar,dass die beiden Koalitionsfraktionen das Ganze mit demAntrag auch unterstützen, und ich freue mich weiterhinauf eine gute, gewinnbringende Zusammenarbeit .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leidig für
die Fraktion Die Linke .
Guten Morgen, Herr Präsident! Werte Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Vorungefähr 14 Tagen konnte man in der Frankfurter Allge-meinen Zeitung die Überschrift lesen: „Google warnt voreigenen Roboterautos“ . Eigentlich dachte ich, damit istdas Thema weitgehend vom Tisch . Aber nein, weit ge-fehlt . Jetzt kommt die Große Koalition mit einem großenAntrag und spricht von intelligenter Mobilität und Digi-talisierung . – Aha!Was steckt eigentlich dahinter? Sie haben es selbergesagt, Frau Bär: Man muss die Idee in die Bevölkerunghineintragen . – Das heißt, von dort kommt sie nicht . Ichkenne keine einzige Bürgerinitiative, keinen Senioren-klub, kein Rathaus, in dem die Leute sagen: Wir brau-chen jetzt unbedingt mehr Digitalisierung im Verkehr .
Nein, weit gefehlt . Diese Idee kommt von Bitkom, vomDeutschen Verkehrsforum und von den einschlägigenWirtschaftsunternehmen, die sich von einem solchen Ge-schäftsfeld neue Profitmöglichkeiten versprechen.
Daher kommt auch die Überschrift . Frau Bär, dafür brau-chen Sie niemanden zu loben . Sie haben „intelligenteMobilität“ einfach von dem Aktionsplan abgeschrieben,den Ihnen die großen Konzerne wie Telekom usw . prak-tisch in die Feder diktiert haben .
Das kann man natürlich machen. Ich finde aber, das istfalsch;
denn intelligent sind diese Systeme nur für die Kassender Konzerne, nicht für die Allgemeinheit .
Sie wissen ganz genau, dass es 80 Prozent der Bevöl-kerung als einen Zuwachs von Lebensqualität bezeich-nen, wenn es weniger Autos und Verkehr in ihrer Um-gebung gibt . Es gibt einen Beschluss des EuropäischenParlamentes, der übrigens im Vorfeld der Klimakonfe-renz von Paris mit Beteiligung Ihrer Kollegen zustandegekommen ist, in dem eindeutig festgelegt ist: Wenn wirdie Klimaziele erreichen wollen, müssen wir Verkehr re-duzieren .
Weniger motorisierter Verkehr: Das ist intelligent, mo-dern und zukunftsfähig .Was Sie hier vorlegen, ist ein Plan für mehr Verkehrauf der Straße . Sie machen das konkret und deutlich:Wenn man diese intelligenten Informationssystemenutzt, können die Lkws in noch dichterer Folge fahren .
Noch mehr Autos, die durch automatisierte Systeme andie richtige Stelle geleitet werden, können in den Städ-ten parken . – Ich bitte Sie: Was ist das denn für eine Zu-kunftsvision?
Für mich ist das echt der Horror .
Wir haben eine Zukunftsvision, aber die sieht andersaus .
Die sieht nämlich so aus, dass man die Bedürfnisse derMenschen in den Mittelpunkt der Verkehrspolitik stel-len muss . Dabei muss man zur Kenntnis nehmen: DreiViertel der Menschen in Deutschland leben in großenund ganz großen Städten . Von diesen Menschen fahrenimmer mehr mit dem Fahrrad – sie verhalten sich auto-matisch intelligent und vernünftig;
denn es gibt kein effektiveres Verkehrsmittel in derStadt –, während die Autos zu über 95 Prozent stehen undeigentlich als Stehzeuge, nicht als Fahrzeuge bezeichnetwerden müssen. Das ist überhaupt nicht effizient.
Parl. Staatssekretärin Dorothee Bär
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Für diese Gruppe der intelligenten Verkehrsteilnehmerhaben Sie in Ihrem intelligenten Mobilitätskonzept keineinziges Wort übrig . Fahrräder kommen da überhauptnicht vor . Auch Fußgänger kommen überhaupt nicht vor .Was ist das denn für eine rückwärtsgerichtete, fossileDenkart? Wir brauchen Parkraumkonzepte für diejeni-gen, die ihre Kinder und ihre Einkäufe mit dem Fahrradtransportieren . Wo sollen diese denn in Zukunft mit ihrenFahrzeugen bleiben? Darüber haben Sie überhaupt keinWort verloren .
Sie fabulieren von der fahrerlosen Straßenbahn, vonder Vollautomatisierung des öffentlichen Verkehrs . Ichwill Ihnen einmal etwas sagen: Die Sicherheit und derService des öffentlichen Nahverkehrs hängen nicht da-von ab, dass noch mehr Kameras und Sensoren eingebautwerden, sondern davon, dass qualifiziertes Personal zurVerfügung steht, dass man Fragen stellen kann, dass esvernünftige und bezahlbare Angebote gibt .
Das ist intelligente Mobilität der Zukunft . Wir müssendie sozialen Strukturen ändern . Wir müssen den sozial-ökologischen Umbau angehen, statt auf Technologien zusetzen, wie sie VW und andere Autokonzerne einsetzen,um noch mehr Abgase in die Luft zu blasen, während sieversuchen, etwas zu retten, was nicht mehr zu retten ist .Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Arno
Klare das Wort .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einem
ganz kleinen Beispiel beginnen: Wenn man auf der A 57
zwischen den beiden Anschlussstellen Neuss-Reuschen-
berg und Kaarst fährt
– Herr Rimkus wird das schon kennen –, dann fährt
man in aller Regel, wenn der Verkehr normal fließt, fünf
Minuten . Aber zu Peak-Zeiten, wenn der Verkehr rich-
tig dicht ist, braucht man bis zu 18 Minuten . Das ist die
längste gemessene Zeit .
Das Ganze kann man global ausweiten . Ein großer
Hersteller von Navigationssoftware macht das jedes Jahr
mit einem sogenannten Pendlerindex . Er berechnet, wie
groß der prozentuale Unterschied zwischen der normalen
Fließgeschwindigkeit des Verkehrs auf einer Strecke und
der Geschwindigkeit bei ganz dichtem Verkehr ist . Top-
scorer unter allen Städten weltweit ist Istanbul mit 58 Pro-
zent Differenz, gefolgt von Mexiko City mit 55 Prozent .
Düsseldorf liegt leider dorfartig nur bei 22 Prozent, wobei
ich dort manchmal einen anderen Eindruck habe .
Richten wir den Blick auf Deutschland: Wir hatten im
Jahr 2014 474 000 Stauereignisse . Die Menschen stan-
den dabei 285 000 Stunden im Stau . Das sind umgerech-
net über 30 Jahre . Das muss man sich einmal klarmachen .
– Warten Sie ab, Frau Leidig! Ihre Zwischenrufe sind ät-
zend, ehrlich gesagt .
1,2 Milliarden Liter Sprit wurden bei diesen Stauer-
eignissen vergeudet . Wenn man davon ausgeht, dass je-
weils 1 Liter Sprit zu 2,5 Kilogramm CO2-Ausstoß führt,
dann sind das bei 1,2 Milliarden Liter Sprit insgesamt
3 Millionen Tonnen CO2 . Das ist ein Drittel der Jahres-
menge der 10 Millionen Tonnen CO2, die wir bis 2020 im
Verkehrssektor einsparen müssen .
Wenn man dafür Sorge tragen kann, dass intelligente
Steuerung von Verkehr auch nur einen Teil – sagen wir,
die Hälfte – davon entflechtet, und zwar nicht nur da-
durch, dass der Verkehr verlagert wird, sondern durch ei-
nen Umstieg auf andere Verkehrsmittel in Rushhour-Zei-
ten, dann macht das durchaus Sinn . Dann ist das nicht
nur intelligente Mobilitätssteuerung, sondern auch ein
überaus intelligenter Antrag .
Der als Auto-Papst beschriebene Herr Dudenhöffer,
um nur ein Beispiel zu nennen, hat vor Jahren vor der
Grugahalle in Essen Autos die ganze Zeit im Kreis fah-
ren lassen . Sie fuhren bei geringer Geschwindigkeit mit
einem relativ geringen Abstand . Irgendwann trat die Si-
tuation ein, dass ein Fahrer nicht aufpasste und auf den
anderen zu dicht auffuhr . Er trat auf die Bremse . Was pas-
sierte? Der Nächste stand, und dann stand der ganze Kreis .
Was Herr Dudenhöffer beweisen wollte, war: Wenn man
diese Fahrzeuge elektronisch mit Car-to-Car-Kommuni-
kation koppeln würde und sie automatisch den gleichen
Abstand halten würden, dann würden die meisten Staus
auf den deutschen Autobahnen gar nicht erst entstehen .
Auch das ist Teil der intelligenten Mobilität .
Herr Klare, darf die Kollegin Leidig eine Zwischen-
frage stellen?
Nein, das möchte ich im Moment nicht . Danke .
Das Ganze funktioniert auch im Bereich des Trans-portwesens bzw . der Logistik . Wenn wir von Logistik 4 .0und davon reden, dass Güter zu cyberphysischen Syste-men werden, die sich selbst ihren THG-optimierten WegSabine Leidig
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suchen, dann geht das nur mit intelligenter Verkehrssteu-erung, und zwar wohlgemerkt mit einem enormen Ein-sparpotenzial an THG .
Wenn wir die Umweltziele, die wir uns selber ge-setzt haben und die jetzt im Vertrag von Paris kodifiziertworden sind, erreichen wollen, dann wird es mit diesenintelligenten Steuermodellen gelingen, einen Teil davonhinzubekommen . Wenn wir dann sozusagen wieder indie schöne Analogwelt zurückwollen, wo wir ein Vier-ganggetriebe selber schalten und meinen, wir könnten esbesser als das elektronisch gesteuerte Getriebe, dann istdas kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt .
Noch ein Hinweis, damit der ganz große Rahmendeutlich wird: Ende Oktober 2012 war „Sandy“ in NewYork . „Sandy“ ist ein Hurrikan . Er hat dort große Zerstö-rungen angerichtet . Ein Hurrikan gehört nicht nach NewYork . Warum war er überhaupt da? Er war da, weil derJetstream, ein Nordpolarstrom, der von West nach Ostweht, nicht wie sonst den Hurrikan auf den Atlantik ge-trieben hat, wo er über dem kalten Wasser an Kraft ver-liert . Wie wir alle wissen, ist der Jetstream, ökologischbedingt und menschengemacht, volatil geworden . Des-halb war „Sandy“ in New York . Wenn wir dazu beitragenwollen, dass so etwas nicht mehr passiert, dann müssenwir die hier vorgestellten Modelle umsetzen . Insofernsteht unser Antrag in einem großen klimapolitischen undglobalen Zusammenhang . Diesen müssen wir begreifen .Das Begreifen vermisse ich bei Ihnen, Frau Leidig .
Ganz herzlichen Dank . – Als nächster Redner hatStephan Kühn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünendas Wort .Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Es ist richtig, dass wir über die Chancen der Digi-talisierung im Verkehr reden . Allerdings ist der Zeitpunktmehr als verdächtig . Wir hätten erwartet, dass nach mehrals vier Monaten VW-Betrugsskandal diese Koalitionendlich der Öffentlichkeit Vorschläge präsentiert, ausdenen hervorgeht, wie künftig Dieselfahrzeuge nicht nurim Labor, sondern tatsächlich auch auf der Straße saubersind, wie wirksame Prüfungen und Kontrollen stattfindenund wie die Stickoxidbelastung in Städten endlich sinkt .Nichts haben Sie geliefert . Stattdessen befassen wir unsmit diesem Thema .
Wir hätten erwartet, dass Sie sechs Wochen nach derKlimakonferenz in Paris Vorschläge für eine Strategie„Klimaschutz im Verkehr“ mit verbindlichen CO2-Re-duktionszielen und konkreten Maßnahmen vorlegen .Nichts! Sie lenken schlicht und ergreifend von IhrenVersäumnissen ab . In Ihrem Antrag steht: Die Digitali-sierung soll Deutschland zum „Leitmarkt und Leitanbie-ter für die Zukunft der individuellen Mobilität“ machen .Sie bekommen es noch nicht einmal hin, Deutschlandzum Leitmarkt und Leitanbieter der Elektromobilität zumachen. Sie streiten sich wie die Kesselflicker über eineKaufprämie zur Förderung von Elektroautos .Sie beschreiben in Ihrem Antrag des Weiteren die Po-tenziale der Automatisierung und der Vernetzung für dasCarsharing . Sie bekommen aber noch nicht einmal einCarsharing-Gesetz hin, mit dem endlich rechtssicher ge-regelt wird, wie Stellplätze im öffentlichen Raum ange-ordnet werden können . All das legen Sie nicht vor .
Auch wir sehen die Potenziale und meinen, dass In-frastruktur durch Digitalisierung besser genutzt werdenkann, beispielsweise Verkehrstelematik anstatt mehrBeton in der Landschaft . Standspurfreigabe- und Stre-ckenbeeinflussungsanlagen können auf Autobahnen dieKapazität um 25 Prozent erhöhen und für 30 Prozent we-niger Unfälle sorgen . Aber wie viele haben wir davon?Wir haben gerade einmal 180 Kilometer von 13 000 Ki-lometer im Autobahnnetz entsprechend ausgerüstet . Siewollen nun 50 Millionen Euro jährlich hier investieren .Das ist doch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißenStein .
Im öffentlichen Verkehr sehen Sie die Potenziale imvollautomatischen Betrieb von U-Bahnen als Perspektiveund nennen das Beispiel Nürnberg, verschweigen aberden Kostenaufwand für diese digitale Infrastruktur . Wirhaben einen Sanierungsstau von 4 Milliarden Euro beider analogen Infrastruktur im ÖPNV . Das GVFG-Bun-desprogramm ist deutlich überzeichnet . Aber seineFortführung über 2019 hinaus ist nicht gesichert . Siehaben zwar im Rahmen der Haushaltsberatungen einenEntschließungsantrag eingebracht, aus dem hervorgeht,dass Sie das fortführen wollen . Aber das heißt noch langenicht, dass jemand im Ministerium einen Stift in die Handnimmt und ein entsprechendes Gesetz vorlegt . WennSie in diesem Bereich etwas machen wollten, müsstenSie zusätzliche Gelder für die digitale Infrastruktur imÖPNV bereitstellen . Das tun Sie nicht . Fehlstelle!
Wir sehen in der Tat für den öffentlichen VerkehrChancen durch die Digitalisierung . Zugangsbarrierenkönnen abgebaut werden . Der Tarifdschungel entfällt,wenn bundesweit ein E-Ticket eingeführt wird . Einstei-gen und Losfahren wie beim Auto wären dann möglich .Die Verkehrsunternehmen könnten zu Mobilitätsdienst-leistern werden . Es geht nicht nur um den Weg von Anach B, sondern um die ganze Reisekette . Ich glaube,dass die Verkehrsträger künftig nicht mehr so sehr kon-kurrieren, sondern kooperieren . Gerade im ländlichenArno Klare
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Raum, wenn es um aktive Bedienformen geht, kann dieDigitalisierung helfen . Es gibt das schöne PilotprojektMobilfalt im Nordhessischen VerkehrsVerbund, wo manversucht, das Privatauto in den ÖPNV einzubinden, umein besseres Angebot für die Bürger zu schaffen . All daswird möglich sein .Wir sehen auch beim Auto einen Mehrwert durch Auto-matisierung in Verbindung mit Vernetzung der Fahrzeugeund der Infrastruktur, gerade im Bereich der Verkehrssi-cherheitspotenziale . Nehmen Sie den Baustellenassisten-ten, der Sie sicher durch die Baustelle führt, oder nehmenSie Fahrzeuge, die sich untereinander warnen, weil aufder Straße eine Gefahrenstelle droht . Aber alles das istkurzfristig nicht erschließbar, weil die Marktdurchdrin-gung der Systeme Jahre dauern wird . Wer also wirklichbis 2020 die Zahl der Verkehrstoten um 40 Prozent re-duzieren will, der muss andere Maßnahmen durchsetzen .Warten auf die Digitalisierung reicht da nicht .
Die Automatisierung wird in Stufen stattfinden. ImGüterverkehr wird sie vermutlich schneller kommenals im Personenverkehr . Aber es sind noch viele Pro-bleme offen – bis hin zum automatischen Fahren . Unddas haben Sie, Frau Bär, leider ganz verschwiegen . Ichnenne Beispiele: Mensch-Maschine-Interaktion, also derÜbergang, in dem das Fahrzeug die Kontrolle hat, dannaber wieder der Mensch . Technik ist immer auch störan-fällig . Es gab Hackerangriffe auf automatisierte Autos .Das Thema Datenschutz ist aus unserer Sicht in keinerForm geklärt . Wer ist Herr über die Daten? Wem gehörensie? Wo werden sie gespeichert? Wir wollen nicht, dassBewegungsprofile von Bürgerinnen und Bürgern erstelltwerden können .
Haftungsfragen sind offen . Wer ist schuld beim Unfall?Haftet dann, wenn automatisiert gefahren wird, der Her-steller des Systems oder die Versicherung? Und die ethi-schen Fragen kann man auch nicht einfach wegwischen .Wenn ein Unfall nicht mehr zu verhindern ist, wohinweicht das Fahrzeug dann aus? Das muss auch geklärtwerden .Der Minister für Modernität hätte längst eine Strategiezur intelligenten Mobilität vorlegen können . Es ist einArmutszeugnis, dass es eines Koalitionsantrags bedarf,der ihn auffordert, dies jetzt zu tun . Es ist ein reiner Fens-terantrag, den Sie uns hier vorlegen, anstatt für die ei-gentlichen Probleme konkrete Lösungen vorzuschlagen .
Ganz herzlichen Dank . – Als nächster Redner hat
Thomas Jarzombek von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darfvielleicht damit anfangen, dass ich es begrüße, dass unserKoalitionspartner die positiven Aspekte benannt hat, unddass ich mich darüber wundere, dass die Opposition hiernur Nachteile erkennen kann .
Ganz im Ernst: Am Ende müssen Sie sich für irgend-was entscheiden, was Sie jetzt kritisieren, Herr KollegeKühn . Zuerst haben Sie gesagt: Dass wir uns mit solchenThemen hier beschäftigten, wo es doch viel Wichtigeresgäbe! Zum Schluss haben Sie gesagt: Es kann doch nichtwahr sein, dass wir uns erst jetzt damit beschäftigen . –Also, einen Tod müssen Sie sterben, wenn Sie uns kriti-sieren wollen .
Peter Altmaier hat dazu einmal gesagt: Es ist inDeutschland manchmal so, dass wir immer über die ganzgroßen, wichtigen Fragen reden und für nichts anderesPlatz haben, und auf einmal, irgendwann, haben wir dasEnde einer Entwicklung und fragen: Wie konnte es ei-gentlich so weit kommen? Deshalb ist es, – so glaubeich, – ganz gut, dass wir heute auch einmal zur Primetimeanderthalb Stunden über ein Thema reden, das ich sehrwichtig finde, nämlich: Wie digitalisieren wir unsere Ver-kehrsinfrastruktur?Es ist doch klar: Alles das, was heute an physischerStruktur da ist, braucht parallel eben eine digitale Struk-tur, um die Dinge besser zu machen .Mich hat in dieser Woche mein Lokalradio angeru-fen und gefragt, was ich denn dazu sage, dass Seniorenohne weitere Tests weiterhin am Straßenverkehr teilneh-men dürften . Da habe ich geantwortet: Diese Frage stelltsich heute eigentlich gar nicht mehr . Wir haben so vieletechnische Assistenzsysteme und die Entwicklung in dennächsten Jahren wird dazu führen, dass Menschen viellänger als heute weiter mobil bleiben und selbstbestimmtmobil bleiben können . Und das ist eine extrem gute Ent-wicklung .
Assistenzsysteme warnen den Fahrer, wenn Fußgän-ger auf die Straße gehen, oder dann, wenn er einmal ab-gelenkt ist und die drohende Kollision nicht sieht . DieseSysteme wirken . Ich habe gerade in dieser Woche gese-hen, dass in Japan, wo man auch die Nachrüstung solcherSysteme unterstützt – das finde ich ganz interessant –,durch den Einsatz von Assistenzsystemen die Unfallzah-len um 60 Prozent zurückgegangen sind .
Stephan Kühn
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– Stellen Sie gerne eine Frage .
– Gerne . – Frau Präsidentin, Sie sind dran, das zu ent-scheiden . Ich will Ihnen hier nicht die Aufgabe wegneh-men . Der Kollege würde gern eine Zwischenfrage stel-len .
Sie entscheiden natürlich, ob Sie die Zwischenfrage
zulassen . – Bitte .
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Könnten Sie vielleicht etwas zur Marktdurchdrin-
gung der Fahrassistenzsysteme in Deutschland sagen?
Wir haben ja Fahrinformationssysteme, also, sage ich
einmal, Entertainmentpakete, die serienmäßig in den
Fahrzeugen sind . Und die Fahrassistenzsysteme, die Sie
ansprechen, sind nur zu einem Aufpreis – in der Regel
reden wir da von Beträgen von 1 000, 2 000 Euro – er-
hältlich . Können Sie sagen, welche Marktdurchdringung
wir bei diesen Systemen haben?
Herr Kollege Kühn, wir haben gemeinsam daran ge-arbeitet, dass eine Reihe dieser Assistenzsysteme ebennicht mehr aufpreispflichtig sind, sondern inzwischenzur Standardausstattung gehören . Ich nenne ESP als viel-leicht eines der wichtigsten Assistenzsysteme, das vieleUnfälle verhindert . Ich glaube, dass viele Systeme, dieheute noch aufpreispflichtig sind, künftig in die Serien-ausstattung übergehen . So ist die Entwicklung immergewesen .Darüber hinaus, wenn Sie die Frage schon stellen, istes sinnvoll, dass wir über die Nachrüstung von älterenFahrzeugen diskutieren . Wir reden hier nicht nur überNeufahrzeuge . Wir sollten darüber diskutieren, ob wirbei der Nachrüstung älterer Fahrzeuge staatlicherseitsAnreize schaffen sollten .
– Herr Kollege Kühn, wenn wir alles, was denkbar wäre,in diesen Antrag geschrieben hätten, dann würden wir Ih-nen heute ein Kompendium vorlegen .
Da ist die Frage schon, wo die Abgrenzung zwischender Regierungs- und der Parlamentsarbeit erfolgt . Ichglaube, es ist gut, dass wir hier bestimmte Eckpunkte be-nennen . In unserem Antrag steht klar, dass die Regierungein digitales Straßengesetz vorlegen soll . Darüber wer-den wir gemeinsam beraten und alle Details eines um-fangreichen Werks diskutieren können .Ich glaube, die Digitalisierung ist für die Verkehrssi-cherheit extrem hilfreich . Sie ist auch hilfreich für denöffentlichen Nahverkehr; das wurde vorhin angespro-chen . Der öffentliche Nahverkehr hat so viele Kundenwie nie zuvor . Das liegt vor allem an der Digitalisierung .Statt nachts ewig auf die Bahn zu warten, kann man mitder App jetzt sehen, wann sie wirklich kommt, und dannzielgerichtet zur Haltestelle gehen . Man kann auch se-hen, ob der Bus, den man nehmen möchte, pünktlichkommt oder ob er deutliche Verspätung hat . Dann mussman nicht mehr herumstehen .Es gibt viele Leute, die die Zeit in der Bahn gernedafür nutzen, um möglicherweise mit Facebook, Goo-gle oder anderen Produkten irgendetwas zu machen . Siekönnen das nutzen, und deshalb haben die Bahn und derBus an Attraktivität gewonnen . Wir müssen dahin kom-men, dass auch das Auto mehr von der Digitalisierungprofitiert.Ich sehe hier meinen Kollegen Andreas Rimkus ausDüsseldorf . Bei uns in den Städten gibt es kaum ein grö-ßeres Thema, mit dem Politik konfrontiert wird, als dasThema Lärmschutz . Wie wollen wir mit Lärm, aber auchmit Emissionen umgehen? Ich erinnere an die Stickoxideund das Thema Feinstaub . Wie wollen wir die Werte sen-ken, wenn Autos mit voller Geschwindigkeit an die Am-pel heranfahren, bremsen und dann wieder beschleuni-gen müssen? Das verursacht Emissionen, das verursachtLärm, und das verursacht hohe Verbrauchswerte .
Deshalb brauchen wir eine Vernetzung von Ver-kehrsbeeinflussungssystemen, zum Beispiel von Am-peln, damit ein Auto weiß, wann wo welche Ampelphaseist, auch wenn man die Ampel vielleicht noch gar nichtsehen kann, auch wenn die Ampel vielleicht gerade grünwird, aber das Auto sie nicht erreichen kann . Dann kannes vielleicht schon auskuppeln oder rekuperieren, wennes ein elektrisches Fahrzeug ist, oder es kann eine Ge-schwindigkeit einstellen, mit der es, möglichst ohne zubremsen, durch die Stadt kommen kann . Es ist meinepersönliche Vision und mein Ziel, eine Infrastruktur be-reitzustellen, die Fahrzeugen ermöglicht, durch die In-nenstädte zu fahren, ohne bremsen und beschleunigen zumüssen .Dafür brauchen wir einen Open-Data-Plan . Deshalbbin ich dankbar, dass auch der Bundesvorstand der CDUin der Mainzer Erklärung, in der es hauptsächlich um dieganz großen Fragen gegangen ist, deutlich gemacht hat:Wir wollen ein Open-Data-Gesetz . Das brauchen wirinsbesondere, um Innovationen im Verkehrsbereich zuermöglichen . Das steht auch im Koalitionsvertrag . Dasgilt im Übrigen auch für den öffentlichen Nahverkehr .Ich finde, es ist ein Unding, dass Anbieter von Verkehrs-informationssystemen, von Apps, mit jedem einzelnenVerkehrsanbieter einzelne Vertragsverhandlungen führenmüssen . Der eine bietet Fahrplanarten an, der andere aberkeine Echtzeitdaten . Es stellt sich auch die Frage, wieman ein Ticketing-System machen kann . All das müssenwir gesetzlich vereinheitlichen .Wir müssen uns auch überlegen, wie wir mehr aus denDaten, die wir haben, machen . In dieser Hinsicht war dasThomas Jarzombek
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Verkehrsministerium verdammt gut . Ich glaube, kein an-deres Haus war so innovativ, mit der Gründerszene ge-meinsam ein Hackathon zu machen, bei dem man junge,innovative Gründer mit den Daten zusammengebrachtund einen Wettbewerb gestartet hat, um herauszufinden,welche Innovationen daraus entstehen können . Das istder richtige Weg . Ich kann die Staatssekretärin nur be-glückwünschen und ermuntern, diesen Weg weiterzuge-hen .
Ein weiteres Thema sind die Modellregionen . Wirsehen, wie viel Wirbel aus Marketinggründen gemachtwird, um zu zeigen, was in Kalifornien alles möglich ist .Da fahren die Google-Autos, daher kommen die Tes-la-Autos . Deshalb ist es ebenfalls extrem gut, dass aufder A 9 das Testfeld für digitales Fahren ermöglicht wur-de . In unserem Antrag fordern wir zusätzliche Modellre-gionen, um auch innerstädtische Verkehrssysteme zu er-proben . Mit UR:BAN gibt es da schon ein gutes Projekt,und darauf kann man aufsatteln und weitere Modellregi-onen benennen .Außerdem müssen wir Geld in die Hand nehmen, umdie Nutzung dieser Daten zu ermöglichen . Dafür gibtes im Ministerium 100 Millionen Euro im Moderni-tätsfonds; sie werden dafür auch schon eingesetzt . Daskönnen wir an dieser Stelle ebenfalls nur begrüßen . Wirwerden die Kommunen dabei unterstützen müssen – dasist für uns eine Herausforderung –, ihre Verkehrsleitzent-ralen aufzurüsten . Mit UR:BAN in Düsseldorf, in Kasselund in Braunschweig hat die Bundesregierung so etwasgemacht .Aber es reicht nicht, dass Autohersteller oder auch dieHersteller von Informationssystemen eine Anbindungprogrammieren. Deshalb müssen wir einen Weg finden,den Kommunen zu ermöglichen, ihre Verkehrsleitzen-trale auf den gleichen technischen Stand wie in Düssel-dorf, Kassel und Braunschweig zu bringen . Dabei gehtes um eine Summe von 30 Millionen, 40 Millionen oder50 Millionen Euro . Das ist nicht einmal so viel, wie eineOrtsumfahrung kostet . Ich glaube, das muss schon drinsein, um die Verkehrsleitzentralen zumindest in den 20größten deutschen Städten zu ertüchtigen .Darüber hinaus brauchen wir eine Dateninfrastrukturbei der Schiene . Ich verweise auf ERTMS, also auf einLeitungssystem, das autonom fahrende Züge ermöglicht .Wir müssen auch den öffentlichen Nahverkehr auf die-sem Gebiet weiter unterstützen . Ich denke hier an ein ge-meinsames Ticketing-System: Mit einer entsprechendenApp kann man dann nicht nur in Düsseldorf ein Rhein-bahn-Ticket, sondern auch in Berlin ein BVG-Ticket zie-hen .Das alles mündet in unsere Forderung nach einem di-gitalen Straßengesetz . Dieses digitale Straßengesetz soll-te noch mehr leisten . Der Kollege Kühn hat die sehr rich-tige Frage gestellt: Wem gehören eigentlich die Daten?Im Übrigen ist der Datenschutz ziemlich gut geregelt .
Dafür gibt es ein Bundesdatenschutzgesetz . Gerade hatdas Europäische Parlament den Weg für die europäischeDatenschutz-Grundverordnung freigemacht . Darin ist bisauf das Kleinste geregelt, was mit Daten passieren darfund was nicht . Im Übrigen kann man auch immer mit denDatenschützern reden und nach neuen Wegen Ausschauhalten .Autos mit intelligenten Dämpfern – neue Luxusfahr-zeuge haben sie schon; sie werden wahrscheinlich baldin jedem Fahrzeug vorhanden sein – werden bald durchdie Stadt fahren und genau erfassen können, wo wie vie-le Schlaglöcher sind . Das sind doch Informationen, diefür unsere Bundesverkehrswegeplanung extrem hilfreichsind . Heute erneuern wir die Straßen erst dann, wennsie ein gewisses Alter erreicht haben . Aber wir möchtendoch eigentlich die Straßen erneuern, von denen wir wis-sen, dass sie besonders bedürftig sind .Auf unseren Straßen gibt es 40 Millionen Fahrzeuge .Das sind 40 Millionen potenzielle Sensoren, mit denenman Straßen vermessen kann . Die so erzeugten Datenbraucht auch unser Staat . Diese Daten müssen natürlichanonymisiert sein – das unterstreiche ich dreimal –, inAbsprache mit dem Datenschutzbeauftragten . Das istganz wichtig .Am Ende brauchen wir eben auch eine digitale Struk-tur im Bereich Breitband . Eins ist klar: Die Fahrzeuge,die selber fahren, werden viel besser fahren können,wenn beispielsweise 20 Fahrzeuge synchron und ohneVerzögerung bremsen können . Vorgestern, am Mittwoch,haben wir hier im Deutschen Bundestag über das Digi-Netz-Gesetz diskutiert, das der Bundesminister hier prä-sentiert hat . Dieses Gesetz ist der richtige Weg, um für2020 Leitmarkt zu werden für die fünfte Mobilfunkge-neration, die es als taktiles Internet, als Echtzeitinternet,ermöglicht, selbstfahrende Fahrzeuge zu steuern . Dahermüssen wir anfangen, in jede Laterne, in jede Ampel, injede neue Baumaßnahme Glasfaserkabel zu legen, die fürdieses Internet die Infrastruktur sind .Das brauchen wir im Übrigen auch im ländlichenRaum . Ich wünsche mir schon, dass ein selbstfahrendesAuto, das aus Düsseldorf herausfährt und dann irgendwoin den Tiefen des Kreises Neuss unterwegs ist, genausogut funktioniert wie in unserer wundervollen Metropole .Für den Breitbandausbau gibt es ein mit 2,7 MilliardenEuro ausgestattetes Förderprogramm, das genau dieseEntwicklung unterstützt .Ich glaube, wir haben den richtigen Grundstein gelegt .Ich habe gemerkt: Bei den Grünen ist noch nicht allesverloren . Ich freue mich, wenn sie uns begleiten . Jedegute Idee ist willkommen . Ich freue mich auf die Aus-schussarbeit .Vielen Dank .
Liebe Kollegen, es sei mir auch an dieser Stelle einkleiner Hinweis auf die Uhr am Rednerpult gestattet .Das Zeichen „Präsident“ heißt nicht, dass man einfachThomas Jarzombek
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weiterreden sollte, sondern es heißt, dass man bitte zumEnde kommt, und zwar zügig . So viel für alle, die dasnoch nicht gewusst haben .Jetzt hat der nächste Redner das Wort: Herbert Behrensvon der Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Wer kühne Pläne schmieden will, der sollte auch kühndenken können“, habe ich gedacht, als ich diesen Antraglas .
Im Weiteren habe ich gemerkt: Dieses kühne Denken istauf keiner der 13 Seiten zu finden, obwohl es dieses Den-ken bräuchte, wenn Sie den Titel wirklich ernst nehmenwollten .Gleich vorn heißt es:Der digitale Wandel ist im Begriff, die Mobilität zurevolutionieren .Eine Revolution bedeutet, dass man etwas wirklichgrundlegend verändert, dass man möglicherweise dasUnterste zuoberst kehren muss, weil es verdeckt geblie-ben ist . Aber im Antrag ist das alles anders . Es werdenlediglich vorhandene oder noch zu entwickelnde, fortzu-schreibende Technologien angeführt und zu entwickeln-de Computeranwendungen vorgestellt . Revolutioniertwird aber gar nichts .Beispiele: Verkehrstelematik soll die Parkplatzsuchefür Pkw in Städten erleichtern . Automatisiertes Autofah-ren soll den Menschen als „Risikofaktor Nummer eins“ –auch das steht im Text – ausschalten . SelbstfahrendeZüge sollen den Lokführer überflüssig machen. Auto-fahrer sollen gläsern werden – dort, wo es für die Auto-mobilindustrie von Nutzen ist . Mehr Vernetzung, mehrSensorik – das ist zwar auch eine Zukunft der Mobilität,aber die sollten wir uns wirklich nicht wünschen .
Sie gehen das Thema falsch an . Sie wollen die Zukunftgestalten, ohne die Gegenwart begriffen zu haben; das istmein Eindruck . Wenn Sie den heutigen Stau auf der Au-tobahn durch elektronische oder digitale Verkehrsbeein-flussungssysteme lediglich besser managen wollen, dannhaben Sie doch den Stau schon akzeptiert . Das ist eingrundlegender Fehler .
Wenn Sie Voraussetzungen für automatisiertes Auto-fahren schaffen wollen, dann müssen Sie doch vorher da-rüber nachdenken: Warum fahren so viele Menschen mitdem Auto? Das hat doch möglicherweise etwas damit zutun, dass Wohnort und Arbeitsort weit auseinanderliegenund die Strecke anders kaum überwunden werden kann .Das hat unter Umständen etwas damit zu tun, dass wirin den kleineren Städten oder auf den Dörfern nicht jedehalbe Stunde einen Bus oder eine Bahn zur Verfügunghaben, um unsere Wege zurückzulegen . Wir müssen docherst sagen, ob wir die gegenwärtige Verkehrssituation soakzeptieren, wie sie ist,
und dann darüber nachdenken, mit welchen Mitteln, diewir heute möglicherweise noch nicht haben, man zu Ver-besserungen kommen kann . So wie Sie das angehen, istes falsch .
Mit Interesse habe ich das Kapitel „Automatisierungdes Schienenverkehrs“ gelesen . Ihr Ziel ist, Züge künf-tig ohne Lokomotivführer fahren zu lassen . Das hat we-nig mit den Mobilitätsinteressen der Menschen zu tun .Die Bahnkunden im Nahverkehr und im Fernverkehrwären doch schon sehr zufrieden, wenn sie vernünftigeund garantierte Anschlüsse hätten, wenn sie vernünfti-ge Auskünfte darüber bekämen, wann man zu welchemZeitpunkt wo sein kann, wenn Verspätungen die Ausnah-me und nicht die Regel wären . An dieser Stelle solltenneue technische Möglichkeiten, neue technische digitaleMöglichkeiten genutzt werden, um die Sicherheit undden Komfort zu erhöhen .Lärmschutz . Schon heute ist es möglich, jedes ein-zelne Rad eines Wagens im Betrieb zu kontrollieren, umfestzustellen: Gibt es Flachstellen? Gibt es raue Oberflä-chen? Man kann den Wagen bei der nächsten Möglich-keit rausziehen und instand setzen, damit der Lärmschutzgesichert ist . Das ist ein Fortschritt für die Menschen, densie heute wollen . Dafür brauchen wir Investitionen undkeine großen Ideen wie die, mit denen hier umgegangenwird . Wir brauchen das Geld, damit wir zu vernünftigenVerkehrssystemen kommen . Es bedarf keiner – Zitat –„sanften Einführung vollautomatischer Systeme“ .
Sie liefern keine Vorschläge dazu, wie mit den techni-schen Möglichkeiten schon im Hier und Jetzt handfesteProbleme im Verkehrssektor beseitigt werden können .Stattdessen gibt es ein Sammelsurium von Ideen ohnewirkliche Perspektive . „Wo lassen sich per Computeri-sierung und Vernetzung menschliche Entscheidungenund der Mensch selbst überflüssig machen?“, das ist derKern Ihres Antrags, den wir nicht teilen .
Die Autoren dieses Antrags haben ihrer Fantasie wirklichfreien Lauf gelassen – das ist nachzulesen –, aber sie ha-ben sich nicht an der schnöden Gegenwart abgearbeitet,und das geht nicht .Sie beschreiben hier eine wahre Megamaschine, mitder Probleme gelöst werden sollen, die mancher gar nichthat . Das ist altes Denken, und mit dem werden wir denneuen Herausforderungen überhaupt nicht gerecht .
Wir stehen vor der Aufgabe, Verkehrssysteme zu schaf-fen, die für die Menschen einfach zu benutzen sind, diesie sicher und bequem an ihren Wohnort bringen .Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Einzig im Kapitel „Automatisierung in der Logis-tik“ – ich komme zum Schluss – sind ansatzweise sinn-volle Vorschläge zu finden, etwa die Forderung nach ei-nem elektronischen Frachtbrief und nach verpflichtenderEinführung eines Toter-Winkel-Assistenten für Lkw, umUnfälle beim Abbiegen zu verhindern .Der Antrag vermittelt:Erstens . Die Probleme sollen alle mit Technik lösbarsein .Zweitens . Der Mensch als Stör- und Risikofaktormuss weitgehend ersetzt werden .Das ist mit der Linken nicht zu machen . Ziehen Siedeshalb Ihren Antrag zurück,
um die wirklichen Probleme erkennen zu können und dieInstrumente zu finden, die wir brauchen, um das zu än-dern .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Andreas
Rimkus von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber HerbertBehrens, ich finde, dass man sich nicht nur über intel-ligente Mobilität unterhalten kann, indem man sich ge-genseitig vorwirft, was nicht in einem Antrag drinsteht,sondern auch, indem man vielleicht einmal den Blick da-rauf wirft, was gemacht werden muss, um den Menscheneine gute Mobilität zu geben . Darum geht es doch amEnde; denn es ist in der Tat so, dass die Automatisierungund die Vernetzung der Verkehrssysteme zunehmen . Ichbin sehr dankbar für die lokalen Bezüge, lieber ThomasJarzombek, weil Düsseldorf ein gutes Beispiel für die-se Vernetzung in urbanen Räumen darstellt . Auch ArnoKlare hat darauf hingewiesen .Zur Frage: Wann ist etwas entstanden? Ich weiß nicht,ob Sie es wissen: Es war der Franzose Gabriel Voisin, derein System entwickelte, um bei landenden Flugzeugendas Blockieren der Räder zu verhindern . Das war im Jahr1920 . Das war die eigentliche Geburtsstunde des ABS .Es war das erste Fahrassistenzsystem oder Sicherheits-system, das serienmäßig in einem Fahrzeug eingebautwurde .
Seit 2004 ist es übrigens europäischer Standard . Insofernbrauchen die Dinge ihre Zeit . Aber manchmal ist derFortschritt dann auch sehr klar und deutlich und hilft uns,die Sicherheit voranzustellen .Mittlerweile sind wir fast hundert Jahre weiter . Wir re-den über teil-, hoch- oder vollautomatisiertes Fahren . DieVision eines selbstfahrenden Autos liegt nicht mehr in ei-ner irren Zukunft, sondern sie stellt ein realistisches Sze-nario dar . Mit der Teststecke auf der A 9 ist die Bundes-regierung einen ersten Schritt gegangen . Doch werdenwir in Zukunft den Blick auch von der Autobahn auf dieLandstraße und dann natürlich auf die Königsdisziplin,den urbanen Verkehr, richten müssen . Auch das habenwir im Antrag deutlich gemacht und damit die Forderungnach weiteren Teststrecken verbunden .Doch vergessen wir nicht, dass die Innovationen nichtnur den Straßenverkehr berühren . Es ist schon gesagtworden: In Nürnberg fahren vollautomatische Schienen-bahnen . Dadurch konnte nicht nur die Taktzeit halbiert,sondern auch der Energieverbrauch um fast 15 Prozentgesenkt werden. Auch an Flughäfen finden wir bereitsfahrerlose Bahnen, die die Terminals miteinander verbin-den . Diese Beispiele zeigen doch sehr deutlich, wie ichfinde, dass besonders der Schienenverkehr einen Innova-tionsmotor für diesen Bereich darstellt .Mit dem Fortschritt dieser Technologie müssen sichaber auch die politischen Rahmenbedingungen ändern .Die von uns formulierten Forderungen tragen auf dereinen Seite der Stärkung der Innovationskraft der deut-schen Wirtschaft, auf der anderen Seite aber auch demSchutz der Nutzer Rechnung . Es war uns ein wichtigesAnliegen, den im Koalitionsvertrag verankerten Grund-satz noch einmal deutlich zu machen, dass personenbe-zogene Daten nur mit Zustimmung der Betroffenen undauf der Grundlage bestehender gesetzlicher Rahmenbe-dingungen erhoben werden dürfen .
Bei aller Euphorie darüber, dass unser Alltag durcheine gute Vernetzung deutlich erleichtert werden kann,dürfen wir die Persönlichkeitsrechte der Menschen undihr Recht auf Privatsphäre nicht aus dem Blick verlieren .Freiheit und Selbstbestimmung sollten für uns auch hierimmer an erster Stelle stehen . Es gibt auch Haftungsfra-gen, die noch nicht abschließend geklärt sind: Wer haftetbei einem Unfall? Wie lässt sich das bei unterschiedli-chen Automatisierungsgraden überhaupt rechtlich re-geln?Liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Weichen fürautomatisiertes Fahren zu stellen, brauchen wir nicht nurKlarheit in den Worten und einen gesetzlichen Rahmenbei Datenschutz- und Haftungsfragen, sondern natürlichauch einen Fortschritt beim Aufbau der digitalen Infra-struktur . Es wäre fatal, den Blick auf die einzelnen Berei-che zu richten, ohne das große Ganze zu betrachten . Na-türlich wird es keine Automatisierung ohne ausreichendeBreitbandinfrastruktur geben, und auch die ökologischenVorteile automatisierter Verkehrsflüsse gehen parallel zurIntegration elektrisch betriebener Mobilität .So ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieEinbeziehung intelligenter Stromnetze, Smart Grids,eine Kernaufgabe intelligent organisierter Mobilität . Beider Integration dieser Smart Grids ist die Elektromobi-lität, zu der sich die SPD-Fraktion in dieser Woche klarpositioniert hat, ein wichtiger Baustein . Der Blick aufHerbert Behrens
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das Gesamtsystem lohnt sich . Die Automatisierung aufder einen und die Elektrifizierung auf der anderen Seitegehen so Hand in Hand . So kann die Automatisierunghelfen, Reichweitenvorhersagen zu machen, die Nutzunggemanagter Flotten und Carsharing-Dienste zu verbes-sern . Automatisierte Funktionen können so den Nutzwertund die Attraktivität von Elektrofahrzeugen erhöhen . Soträgt die Elektromobilität zur Energiewende im Verkehrbei, aber gleichzeitig helfen auch die automatisiertenVerkehrsflüsse, diese Wende zu schaffen: Staus werdenreduziert und Fahrweisen effizienter.Dazu gehört natürlich auch Vision Zero . Wir wollen,dass wir möglichst wenig – am besten auf null gesetzt –Tote und Schwerverletzte im Verkehr haben . Da helfenuns telematische Innovationen natürlich besonders .
Auch aus der ursprünglichen Idee von Voisin, mit derStotterbremse Flugzeuge sicher zu landen, ist doch amEnde etwas entstanden – das ist vollkommen klar –, wasLeben schützt und Unfälle verhütet .Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird sicher nocheinige Zeit in der Zukunft liegen, bis wir wirklich vollau-tomatisiert fahren. Aber ich finde, wenn wir – da solltenwir weniger Bedenken haben – die Fragen, über die wirdemnächst debattieren werden, in den Vordergrund stel-len – Datenschutz, Cybersicherheit –, dann wird einigesgelingen . Vielleicht klinge ich wie ein verrückter Profes-sor, ich sage Ihnen aber eins: Wer Pionierarbeit leistet,muss auch das Unbekannte wagen . Deshalb freue ichmich auf die gemeinsame Arbeit .Ich wünsche Ihnen einen schönen Freitag, ein schönesWochenende . Bis bald!
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Valerie
Wilms von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren an den Fernsehern,
auf der Tribüne! Toll, dass Sie sich dieser Debatte wid-men .Bei dem Antrag stellt sich mir eine grundlegende Fra-ge: Was will uns diese Große Koalition eigentlich damitsagen?
Der Text hat jedenfalls recht wenig mit dem zu tun, wasuns ihr Noch-Verkehrsminister quasi täglich präsentiert .Seine Politik ist weder intelligent, noch fördert sie dieMobilität .
Jahrelang hat er uns mit seinem mehr als dummen Bier-tischvorschlag CSU-Maut beschäftigt . Das Ding ist tot –schon lange –, aber er reitet den Gaul einfach weiter .
Bei den wirklich wichtigen Aufgaben liefert er dagegennichts Neues .Zu Carsharing, werte Parlamentarische Staatssekre-tärin – da hilft es nicht, in einer App zu tippen –, findeich noch keine neuen Entwürfe . Wir wollten hier eigent-lich einen Gesetzentwurf haben . Ein Gesetzentwurf istirgendwann auch einmal sozusagen in Blei gesetzt, vonmir aus auch digital, aber er muss einmal da sein . Und woist er? Nichts . Er kommt nicht . Dabei bräuchten wir das .Die Elektromobilität, sozusagen Ihr Leitmarkt – ichfrage mich, ob das mit t oder d geschrieben wird, wahr-scheinlich mehr mit d –, dümpelt so vor sich hin .
Volkswagen wird trotz aller Betrügereien mit Samt-handschuhen angefasst . Beim kombinierten Verkehr,werte Parlamentarische Staatssekretärin – das ist ja Ihrunmittelbarer Aufgabenbereich; irgendwie kann ich michdaran erinnern, dass wir einmal auf einem Podium geses-sen haben,
wo Sie als Logistikbeauftragte der Bundesregierung da-bei waren –, hat Ihnen sogar der Finanzminister das Heftaus der Hand genommen, weil die Mittel liegen bleiben .Und der Bundesverkehrswegeplan als zentrale Aufga-be in dieser Wahlperiode wird immer weiter verzögertund gerät in die künftige Wahlkampfschlacht .
Da kann ich nur sagen: Das Fahren mit Autopilot wärewirklich besser, als den Geisterfahrer Dobrindt weiter amSteuer zu lassen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus dem Antrag leseich ein gehöriges Stück Verzweiflung über den eigenenMinister .
Er kann so viel Geld ausgeben wie kein anderer Ver-kehrsminister vor ihm . Dazu wurde ihm sogar noch dieZuständigkeit für Digitales gegeben . Und jetzt? NichtsAndreas Rimkus
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macht er daraus . Er verhakt sich in der Maut von vorges-tern und redet weiter wie ein Generalsekretär .
Da kann ich nur sagen: Ein bisschen Grünen-Bashing,welches wir ja immer wieder von ihm hören – auch vonIhnen, Herr Kauder, kommt manchmal nichts anderes –,kann Unfähigkeit auch nicht übertünchen . Es zeigt nur,dass die Ideen in dieser GroKo fehlen .
Das Einzige, was der Minister sehr schnell gelernt hat,ist die Beglückung bayerischer Wahlkreise .
Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen las-sen: Der Minister schafft es nicht, Millionenbeträge fürSchienen und Wasserstraßen auszugeben . Und wo landetdas Geld? Zu über einem Drittel in fragwürdigen bayeri-schen Umgehungsstraßen .
Da frage ich mich wirklich, wie lange sich diese Koaliti-on das noch von der CSU-Minderheit bieten lässt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, intelligente Mobili-tät – das klingt ja schön und gut . Leider fehlen die Grund-lagen dazu . Es wäre schon ein großer Schritt, wenn manBus und Bahn ohne große Probleme einfach so nutzenkönnte . Werter Kollege Jarzombek, Sie sprachen vom di-gitalen Straßengesetz . Kümmern Sie sich erst einmal umdas Analoge,
also darum, dass die Schlaglochpisten beseitigt werden,dass wir keine gesperrten Brücken haben, dass es mittler-weile ja ganze Gegenden gibt, in denen nur noch Schülermit dem Bus fahren können, dass wir kein durchgängigesfunktionierendes Ticketsystem für Bus und Bahn haben,und vor allem darum, dass wir eine überteuerte Bahn ha-ben, die zu spät oder gar nicht mehr kommt . Das sinddie Fakten . Da brauchen wir kein digitales Straßengesetz .
Statt sich also um handfeste Probleme zu kümmern,schreiben Sie lieber wenig ambitionierte Schaufenster-anträge .Aber schauen wir doch einmal in die Details . Auchda bleibt vieles fragwürdig . Der Minister hat ein neuesSpielzeug entdeckt: Sein digitales Testfeld Autobahn –das natürlich in Bayern liegen muss . Ich bin gespannt,was dabei herauskommt und ob der Test nicht längst voninnovativen Unternehmen überholt wird . Man kann jabereits Fahrzeuge kaufen, die quasi von allein fahren .
Dazu braucht es keinen Spezial-Audi mit Minister drin .Nutzen Sie einfach mal den Autopiloten von Tesla – derfunktioniert .
Wenn es dem Minister nicht nur um ein paar schö-ne Bilder und weitere Millionen für sein Bayern gehenwürde, dann müsste er sich ernsthaft um den Datenschutzkümmern . Da kommt wirklich eine Aufgabe auf die Po-litik zu . Das wäre politisches Kerngeschäft . Hier gibt esnämlich einen ganz klaren Grundkonflikt: Daten sind dasKapital der Zukunft; die größten Konzerne der Welt ma-chen ihr Geld damit . – Hierfür müssen wir den Rahmensetzen . Wir müssen dafür sorgen, dass Nutzer jederzeit„Stopp!“ sagen können . Das fehlt nämlich derzeit . Nut-zer müssen bestimmen können, was sie in welchem Um-fang nutzen wollen .Also: Bleiben Sie nicht nur bei Ihren Floskeln – HerrJarzombek, da helfen auch 13 Seiten Papier nicht –, son-dern machen Sie genau das, was wir brauchen . GebenSie also dieser Bundesregierung, die Sie ja tragen, einenklaren Auftrag, sich endlich mal um die wichtige Kern-aufgabe Datenschutz zu kümmern . Da gehen Sie mal ran!Wenn Sie das machen wollen, dann kriegen Sie sicherlichunsere Unterstützung, aber nicht für das Ding, das Sie daauf 13 Seiten verewigt haben . Diese Beweihräucherungtragen wir nicht mit .
Als nächster Redner hat Steffen Bilger von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich haben die Redner von der Koalition bereitserklärt, worum es uns in diesem Antrag geht, liebe FrauWilms . Ich will aber trotzdem noch einmal einen Versuchstarten und dabei insbesondere fünf Bereiche ansprechen .Zum einen: Die Umwelt- und Klimabelastung mussreduziert werden . Als Frage formuliert: Womit bewegenwir uns in Zukunft nachhaltig bzw. effizienter voran?Zweitens . Die Zukunft der Automobilindustrie inDeutschland beschäftigt uns alle . Hier geht es schließlichauch um Arbeitsplätze . Der VW-Skandal stellt sicherlichein enormes Risiko für die deutsche Wirtschaft dar . Wirkönnen aber – wir haben verschiedentlich im Bundestagschon darüber diskutiert – auch eine Chance in dieserKrise sehen .Drittens . Der Verkehrslärm stört die Menschen zuneh-mend . Wie können wir Lärm und andere Belastungendurch Fahrzeuge unterbinden und die Betroffenen besserDr. Valerie Wilms
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schützen, um die Akzeptanz gegenüber der Infrastrukturweiter zu erhalten?Viertens . In Zeiten knapper Kassen und zunehmenderVerkehrsströme stellt sich die Frage: Wie können wirweiter Infrastruktur bereitstellen und finanzieren bzw.die bereits vorhandene Infrastruktur effizienter nutzen,und wie kann dabei Mobilität für alle bezahlbar bleiben?Und schließlich – wir haben immer noch zu vieleVerkehrstote und -verletzte –: Wie kann es insgesamt ge-lingen, zu erreichen, dass es deutlich weniger Opfer imStraßenverkehr gibt?Wer unseren Antrag liest, meine Damen und Herren,stellt fest, dass wir auf viele dieser Fragen schon Antwor-ten haben . Die Digitalisierung des gesamten Verkehrsbietet viele Vorteile für unsere Mobilität . Deshalb musssie nun konsequent vorangetrieben werden . Deswegen istes auch richtig, dass Alexander Dobrindt als Minister fürVerkehr und digitale Infrastruktur diese beiden so starkzusammenhängenden Themen mit seiner Staatssekretä-rin Dorothee Bär engagiert voranbringt .
Auf meine erste Frage, auf die Frage nach der Nach-haltigkeit, heißt die Antwort erst einmal: Elektromobili-tät – von elektrisch betriebenen Zügen über Elektroautosbis hin zu – das ist nur langfristig erreichbar – Flugzeu-gen, Schiffen und Lastwagen, die mit Wasserstoff undE-Motor angetrieben werden . So wird nach allem, waswir heute wissen, die Zukunft aussehen .Die Digitalisierung der Mobilitätsmittel hat großesEffizienzpotenzial. Aber wir brauchen zusätzlich eineUmstellung auf Antriebsarten, die nicht nur umwelt- undklimaschonend, sondern auch verträglich sind . Da drängtsich derzeit vor allem der Gedanke an nachhaltig herge-stellten Strom auf . Bis 2050 wollen wir in Deutschland jazu 80 Prozent regenerativ erzeugten Strom nutzen . Elek-tromobilität und Digitalisierung sind somit zwei Seiteneiner Medaille . Denn obwohl regenerativ gewonnenerStrom nachhaltig ist, ist der beste Strom schließlich der-jenige, der gar nicht erst erzeugt werden muss . Da kommtdie Digitalisierung ins Spiel . Nur mit ihr erhalten wir dieEffizienzsteigerungen, die wir zusätzlich benötigen.Aber, meine Damen und Herren, auch von mir nochein Satz zur Elektromobilität . Wir alle haben mitbekom-men, dass die zuständigen Ministerien zurzeit intensiv aneiner Einigung über sinnvolle Fördermaßnahmen arbei-ten .
Ich will auch deutlich sagen: Jetzt muss endlich derDurchbruch kommen . Wir benötigen jetzt die nötigenFördermaßnahmen, um der Elektromobilität in Deutsch-land zum Durchbruch zu verhelfen! Als Bundestag gehenwir mit gutem Beispiel voran . Ich freue mich sehr, dassder Ältestenrat, wie uns der Bundestagspräsident gesternmitgeteilt hat, nun beschlossen hat, unseren Fahrdienstteilweise auf Elektroautos umzustellen . Vielen Dank al-len, die sich dafür eingesetzt haben!
Zurück zur Digitalisierung . Warum sorgt sie für eindeutliches Mehr an Effizienz, und zwar nicht nur beimEnergieverbrauch, sondern ebenfalls bei der Infrastruk-turnutzung, beim Lärmschutz und bei der Verkehrssi-cherheit? Digital vernetzte Verkehrsteilnehmer kommu-nizieren sowohl mit anderen Verkehrsteilnehmern alsauch mit der Infrastruktur . Darin ist die Chance, um diees uns geht, zu sehen . Ein Anfang ist bereits auf vielenBundesfernstraßen gemacht und da auch zu sehen . Wiralle kennen die Telematikanlagen, die Stau und zähflie-ßenden Verkehr erkennen können und durch neue Ge-schwindigkeitsvorgaben den Verkehr besser steuern . InZukunft werden Autos wissen, wer noch auf der Straßeist und wie schnell sich derjenige bewegt . Dadurch kanndie eigene Geschwindigkeit angepasst werden, könnenBremsvorgänge bei Staus hinter einer Kurve eingeleitetwerden und vieles andere mehr . Denkbar ist sogar, dassFußgänger und Radfahrer mit Fahrzeugen kommunizie-ren und dadurch erkannt werden . Wir denken also durch-aus auch an Fußgänger und Radfahrer . Weniger Stausund Unfälle bedeuten nebenbei auch weniger Umweltbe-lastungen und weniger Lärm .Was auf der Straße nützt, ist in der Logistik, im Schie-nen-, Luft- und Seeverkehr ebenfalls sinnvoll . Auch hierschlummern Effizienzsteigerungen im Interesse allerdurch Digitalisierung .Wie schon gesagt: Wir bewegen uns Schritt für Schrittvoran . Teildigitalisierungen sind bereits Standard . FürPkw sind automatisierte Vorgänge bei Automobilanbie-tern im Angebot; über GPS-gestützte Navigationsgerätewird schon jetzt frühzeitig über Staus informiert und eswerden Ausweichrouten angeboten . In der Regel werdensolche Fortschritte zunächst in der Oberklasse angebo-ten; aber wir sehen ja, dass mittlerweile alle von diesenAngeboten profitieren können. So gut wie jeder nutztheute Navigationssysteme . Das zeigt, dass wir jetzt einenrichtigen Schritt unternehmen, indem wir unterstützen,dass diese Technologien in Deutschland eingeführt wer-den .
Trotzdem ist der Weg bis zum autonomen Auto auchbei uns natürlich noch weit . Damit es überhaupt so weitkommt, müssen zuerst die Weichen richtig gestellt wer-den . Wir brauchen eine Vielzahl an kleinen und großenMaßnahmen, um unsere Ziele zu erreichen .Eines der großen Projekte liegt mir dabei besondersam Herzen, und deswegen will ich es hier bewusst an-sprechen: Galileo ist so eine große Maßnahme . InnerhalbEuropas treiben wir ein eigenes Satellitensystem voran,mit dem wir haargenaue Ortsbestimmungen vornehmenkönnen . Außerdem sind wir damit vom US-amerikani-schen GPS unabhängig . Trotz aller Rückschläge kom-men wir bei Galileo voran .Steffen Bilger
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Ein weiteres großes Projekt ist die Änderung des Wie-ner Übereinkommens über den Straßenverkehr von 1968 .Unser Anpassungsvorschlag von 2014 muss nun von denMitgliedern angenommen werden . Nur so ist autonomesFahren letztendlich rechtlich auch erlaubt .Neben Antworten auf weitere rechtliche Fragen brau-chen wir aber auch noch viele Antworten auf technischeFragen . Wir kennen sie noch nicht, müssen aber bereitsjetzt vorausdenken . Denn Verkehr in Deutschland hateine enorme Bedeutung für Industrie und Arbeitsplätze .Wir sind Logistikmeister, Autobauerland, einer der gro-ßen Flugzeughersteller und Schiffbauer . Genau deshalbist es unser Ziel, Leitmarkt und Leitanbieter zu sein . Werhierzulande sieht, was möglich ist, wird unsere Produk-te kaufen . Von daher brauchen wir ebenfalls wie bei derElektromobilität die schon angesprochenen Modellregi-onen, wo der digitalisiert-vernetzte Verkehr greifbar underprobt wird .Wir haben bereits das bayerische digitale Testfeld A 9 .In unserem Antrag fordern wir, dass auch andere Modell-regionen initiiert werden . Für ein Modell zum Beispielmit Straßen unterhalb der Autobahn würde sich aus mei-ner Sicht vielleicht auch eine Region etwas weiter west-lich anbieten .
Ich glaube, unser Fraktionsvorsitzender hat auch schoneinen Vorschlag dazu gemacht . Ich bin jedenfalls gernebereit, bei der Suche zu helfen .
Nur wenn wir beim Standard-Setzen ganz vorne sind,wird unser Standard sich durchsetzen . Das gilt auch fürDatenschutz und Datensicherheit; das wurde ja schon vonvielen Rednern angesprochen . Unternehmen im Marktder Mobilität der Zukunft haben natürlich eigene Inte-ressen, ganz klar . Das ist genauso wenig verboten, wieman den Unternehmen verbieten kann, Profit zu machen.Diese Interessen richten sich vor allem auf Daten . UnserAntrag setzt die richtigen Akzente und weist meines Er-achtens den gangbaren Weg zwischen dem Datenschutz-bedürfnis der Europäer und der durchaus verständlichenNotwendigkeit für Unternehmen, Daten zu erheben .Deswegen will ich Ihnen noch einmal vortragen, was wirganz konkret in unserem Antrag festhalten:Der Fahrer … sollte selbst entscheiden dürfen, werZugriff auf seine personenbezogenen Daten hat .Deshalb bedarf das Auslesen bzw . Übermitteln die-ser Daten aus dem Fahrzeug einer Erlaubnis . Die„Aktivierung/Deaktivierung“ der Datenübermitt-lung muss jederzeit möglich und einfach auszufüh-ren sein .Damit, meine Damen und Herren, stellen wir sicher, dassder Bürger die Hoheit über seine Daten behält .Uns sind all die Bedenken, die der intelligenten Mo-bilität entgegengebracht werden, bestens bekannt . Vor-hin haben wir gehört, die Digitalisierung des Verkehrswürde nicht zur Effizienz beitragen, weil der sogenannteRebound-Effekt nur dazu führen würde, dass dadurchmehr Verkehr entstünde . Ja, grundsätzlich gibt es diesenEffekt, und ja, wir können nicht ausschließen, dass durchweniger Stau mehr Menschen ihr Mobilitätsverhaltenzulasten des Individualverkehrs ändern . Andererseitszeigen solche Kommentare doch auch wieder, wie wenigverstanden wurde .Nachhaltige individuelle Mobilität ist doch zunächsteinmal nichts Schlechtes . Das prognostizierte Wachstumder nächsten Jahre und Jahrzehnte im Verkehr müssenwir eben nachhaltig gestalten und nicht durch Fahrverbo-te oder Ähnliches zu verhindern suchen .Mit dem vorliegenden Antrag zum bedeutendsten Ver-kehrsthema der absehbaren Zukunft zeigt diese Koaliti-on, dass wir Antworten auf die dringenden und wichtigenFragen haben . Ich freue mich auf die Diskussion mit Ih-nen und bitte schon jetzt um Ihre Unterstützung .Vielen Dank .
Als nächster Redner in der Debatte spricht Sebastian
Hartmann von der SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist ja nun nicht so, dass es fraglich ist, ob die Digita-lisierung und damit auch der digitale Wandel stattfindenoder nicht. Er findet statt. Jetzt kommt es darauf an, ihnso zu gestalten, dass wir die Vorteile durch diese Verän-derung, die sehr viele von uns in ihrer Lebensumwelt,auch in der Wirtschaft – das Stichwort „Industrie 4 .0“ seigenannt – erleben, nutzen . Deswegen kann man es sichnicht so einfach machen wie Teile der Opposition, näm-lich einfach die Entwicklung zu negieren bzw . so zu tun,als ob keine Veränderung stattfindet. Das ist aber auchder Hauptunterschied zwischen Ihnen und mir .Ich bin ein progressiver Sozialdemokrat .
Für mich bedeuten Veränderungen in der Zukunft auchVerbesserungen . Die Zukunft kann besser sein als dieVergangenheit . Aber es kommt darauf an, den Wandelzu gestalten . Das tut die Große Koalition, indem sie inihrem Antrag ganz klar definiert, welche Handlungsfel-der es gibt und welche Maßnahmen wir jetzt ergreifenmüssen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen .
Derjenige, der behauptet, dass in diesem Antrag nichtsKonkretes steht und keine Handlungsfelder benannt sind,Steffen Bilger
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hat ihn wahrscheinlich nicht gelesen oder will es nichtwahrhaben . Wir müssen uns aber jetzt auf den Weg ma-chen, um auch die Chancen der intelligenten Mobilität zuergreifen . Wem es zu umständlich ist, 13 Seiten zu lesen,dem kann man es etwas einfacher machen:Erstens . Wir brauchen als Grundlage digitale Infra-strukturen und damit die entsprechende Netzinfrastruk-tur .Zweitens . Wir brauchen verkehrsübergreifende Struk-turen, was Smart-Data-Nutzung angeht . Sie müssen qua-litätsorientiert und interoperabel sein . Es darf nicht mehrdarauf ankommen, wo diese Daten entstehen .Erst auf dieser Basis werden intelligente Mobilitäts-dienste entstehen . Die Große Koalition fängt dabei nichtbei null an . Wir haben nun einfach das, was im parla-mentarischen Raum debattiert wird, in einem Antrag zu-sammengefasst, und bauen auch auf dem auf, was zumBeispiel auf nationalen IT-Gipfeln entwickelt worden ist,auch in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft; denn daskann man mit der Wirtschaft machen, aber nicht gegendie Wirtschaft, meine Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen .
Wir werden die entsprechenden Rahmenbedingun-gen gestalten . Beide Bereiche stellen große Herausfor-derungen dar, und wir werden uns anstrengen müssen .Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat das voreinigen Tagen sehr prägnant beschrieben: Wir werden inden nächsten zehn Jahren Investitionen von 600 Milliar-den Euro brauchen . Er hat im Zusammenhang mit seinemModernisierungspakt für Deutschland gesagt, dass allein100 Milliarden Euro für die intelligente Netzstruktur zurVerfügung gestellt werden müssen . Das sind ambitio-nierte Ziele; aber wer möchte, dass wir mehr als 1,7 Pro-zent Wachstum und mehr als die heute 43,3 MillionenErwerbstätigen haben, der muss jetzt investieren, damitDeutschland vorne bleibt .
Die intelligente Mobilität ist zentral dafür; denn einmoderner Industriestaat, in dem Güter produziert wer-den, muss auch für einen effizienten Transport sorgen.„Güter“ und „Logistik“ sind als Stichworte in diesem Zu-sammenhang zu nennen . Wir haben das Handlungsfeldklar benannt . Ich sage deswegen: Wer 50 Mbit/s als Zwi-schenziel ansieht, will in Wirklichkeit 500 Mbit/s . Wennman eine weitere 5 ergänzen möchte, kann man sagen:Wir brauchen auch den 5G-Standard . Auch er wird in un-serem Antrag als Ziel benannt, nämlich im Handlungs-feld unter Buchstabe d .Aber man darf Technik nicht allein als technischeMaßnahme begreifen . Es gibt vielmehr noch ein zwei-tes Feld, in dem wir als Staat ebenfalls handeln können,indem wir nicht nur Investitionen anreizen, sowohl deröffentlichen Hand als auch privater Investoren – auchandere Akteure als die öffentliche Hand müssen sich en-gagieren; die Markteilnehmer müssen sich einbringen –,sondern wir als Staat auch die Verantwortung wahrneh-men, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaf-fen . Dafür haben wir der Regierung ganz klar Unter-stützung signalisiert bei dem Vorhaben, internationalesRecht anzupassen und einen europaweit einheitlichenRahmen zu schaffen . Es wird nicht nur darum gehen, inDeutschland die besten Rahmenbedingungen zu haben .Wir wollen Leitmarkt sein und damit Standards definie-ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit die Akteurein der Wirtschaft die Chance haben, ihre Produkte in ei-nem freien Binnenmarkt, in einem freien Europa und desWeiteren auf der ganzen Welt anzubieten .Wir werden auch dafür sorgen müssen, dass es für na-tionale Anbieter entsprechende Schutzstandards gegen-über außereuropäischen Mitbewerbern gibt . Auch dafürmüssen wir den Rahmen schaffen . Das ist ein weitererAspekt, den wir als Staat beim Setzen der Rahmenbedin-gungen beachten müssen .Ich sehe, dass die Zeit abläuft; das ist digital nachge-wiesen .
Deswegen möchte ich zum Schluss kommen und zusam-menfassend sagen: Wer behauptet, dass es keinen klarenForderungsteil gibt, der hat den Antrag nicht gelesen .Das Digitale-Straßen-Gesetz ist angesprochen worden;das haben wir benannt . Wir haben hinsichtlich der in-ternationalen Verhandlungen klare Wegmarken für dieRegierung benannt . Ferner haben wir – diesen Punktmöchte ich herausstellen – die Standardisierung und dieoffenen Schnittstellen als zentrale Herausforderungenbenannt, wenn wir Datensätze entsprechend verfügbarmachen wollen .Ich will eines nicht verkennen – die TU Dresden hatdas in ihrer Studie, die für das Wirtschaftsministeriumunter Sigmar Gabriel angefertigt worden ist, prägnant zu-sammengefasst –: Wir wollen nicht, dass das Unfallrisikozukünftig durch das Datenrisiko ersetzt wird .
Das können wir gestalten, liebe Kolleginnen und Kolle-gen .Danke .
Vielen Dank . – Man sieht, digitale Unterstützungssys-teme – um nichts anderes handelt es sich ja bei dieserAnzeige – können hilfreich sein, auch zur Einhaltung derRedezeit .
Sebastian Hartmann
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Als nächste Rednerin hat Daniela Ludwig von derCDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben gestern im Plenum bereits den Jahreswirt-schaftsbericht beraten . Wir haben ihm entnehmen kön-nen, dass unsere deutsche Wirtschaft auf einem soliden,gesunden Wachstumskurs ist . Woran liegt das? Das liegtnatürlich zum einen – auch das haben wir gestern schonfeststellen dürfen – daran, dass wir hier im Land gut aus-gebildete Fachkräfte haben, dass wir, auch in dieser Gro-ßen Koalition, Herr Hartmann, gute politische Rahmen-bedingungen geschaffen haben, und dass wir hier solideTarifpartnerschaften vorfinden. Aber das liegt natürlichebenfalls daran, dass eine gute Infrastruktur nicht nur un-ser Ziel ist, sondern dass wir in den vergangenen Jahrenin diesem Bereich auch schon viel erreicht haben .Wenn wir über eine gute Infrastruktur reden, dannmeinten wir in den vergangenen Jahrzehnten immerStraße, Schiene, Luft und Wasser, also all das, was mansozusagen befahren und nutzen konnte . Wer sich demFortschritt nicht verweigert und in die Zukunft schaut,wer Digitalität und Digitalisierung nicht als Bedrohungsieht, sondern als Chance für den WirtschaftsstandortDeutschland, für unsere Jugend, für diejenigen, die beiuns arbeiten und leben wollen, der muss sich natürlich –das ist das Ziel dieses Antrages – auch mit intelligenterdigitalisierter Mobilität auseinandersetzen .Ich glaube, dass wir es gut schaffen, in dieser Legis-laturperiode einen wundervollen Ausgleich zwischen derErtüchtigung der Straßeninfrastruktur, der Schienen- undWasserwege und des Luftverkehrs und dem Ausbau derdigitalen Infrastruktur hinzubekommen . Es ist deshalbgut und richtig, dass das Verkehrsministerium auch dafürzuständig ist . Liebe Frau Staatssekretärin, Sie haben, wieich finde, in einem sehr runden Ausblick dargestellt, wo-rum es uns da in den nächsten Jahren gehen muss .Der Personen- und Warenverkehr ist ja für eine Ex-portnation existenziell wichtig . Er ist nicht nur auf guteStraßen angewiesen, sondern wird künftig auch von einerguten Digitalisierung des Verkehrs in jeglicher Hinsichtabhängen . Wir sprechen deswegen heute über die digi-tale Vernetzung von Straße, Schiene, Wasserstraßen undLuftverkehr . Wir sprechen heute auch darüber, dass esFahrassistenzsysteme geben muss, dass wir hochautoma-tisiertes Fahren voranbringen wollen und dass wir Test-felder geschaffen haben .Ich kann mich gut daran erinnern: Als es hieß, dass wirein Testfeld auf der A 9 machen, ist der eine oder anderezusammengezuckt und hat plötzlich Roboterautos fahrensehen und vermutlich ganz fürchterliche Vorstellungenvor Augen gehabt .
Jetzt sieht man, wie wichtig dieses Testfeld auf derA 9 ist, und wie wichtig es ist, dass wir es ausbauen,und wie wichtig es ist, dass wir versuchen, wie Kolle-ge Jarzombek gesagt hat, nicht nur auf der Autobahn,sondern auch im innerstädtischen Verkehr die Potenzi-ale dieser Technik zu heben und zu nutzen . Ich glaube,das zeigt, dass dieses Testfeld richtungsweisend für dienächsten Jahre, richtungsweisend für den deutschen Ver-kehr ist . Deswegen haben wir uns in unserem, wie ichfinde, sehr guten und ausführlichen Antrag dazu bekannt,dass wir weitere Modellregionen ausweisen wollen . Ichkann heute nur dazu aufrufen, sich Gedanken darüber zumachen, wo man diese einrichten kann .
Das dient nicht nur einem besseren, flüssigeren Ver-kehr, das dient nicht nur der Lärmreduktion, über die wiruns gestern im Bereich der Schiene so lange unterhal-ten haben und worauf wir als Koalition, aber auch dasfederführende Haus ein ganz großes Augenmerk legen,sondern das dient natürlich auch dem Umweltschutz .Deswegen kann ich nicht so ganz verstehen, meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, dassSie es sich so leicht machen und solch miesepetrigen undablehnenden Reden halten . Sie haben sich offenkundignicht mit unserem mehrseitigen sehr guten Antrag ausei-nandergesetzt .
Ich kann nur sagen: Ich bin dem Verkehrsminister sehrdankbar, dass er den Runden Tisch „Automatisiertes Fah-ren“ ins Leben gerufen hat und diesen auch weiterführenwird . Ich bin sehr dankbar für das Forschungsrahmen-programm „Selbstbestimmt und sicher in der digitalenWelt“ . Auch hier sieht man: Wir schauen in die Zukunft,wir verneinen den Fortschritt nicht, sondern wir stellenuns ihm, und wir versuchen, für uns und für unsere Kin-der und Enkelkinder das Beste daraus zu machen .Deswegen sage ich: Der Modernitätsfonds und auchder Projektplan Straßenverkehrstelematik weisen in dierichtige Richtung und haben unsere volle Unterstützung .Wir als Koalition wollen uns nicht nur auf Regierungs-handeln verlassen –
das auch als Antwort auf diejenigen, die sich gewunderthaben, warum es jetzt eine Parlamentsinitiative ist –, son-dern wir wollen mitmachen und mitgestalten .Wir danken für die gute Zusammenarbeit mit allenbeteiligten Ministerien . Ich glaube, wir haben sehr vielvor uns, um dieses weite Feld zu erschließen . Ich freuemich auf die weitere Zusammenarbeit und auf weiteregute Ideen, die wir als Koalition auf jeden Fall gerne ein-bringen werden .Danke schön .
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Annette Sawade von der SPD-Fraktion spricht als
letzte Rednerin in dieser Debatte .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebes Publikum auf der Tribüne! Vie-les wurde von den Kolleginnen und Kollegen bereitszum Thema „Intelligente Mobilität fördern“ gesagt . Ja,es stimmt: Wir haben allein im letzten Jahrzehnt einentechnischen – präziser: einen digitalen – Wandel erlebt,der weitreichender und umfassender ist als die vielentechnischen Innovationen zuvor . Der Einzug des Fern-sehgerätes in die Wohnzimmer unserer Nation in den50er-Jahren war für die Gesellschaft offenkundig nichtso komplex und in allen Lebensbereichen wirksam wiedie Verbreitung des Internets und der Digitalisierung im20 . und 21 . Jahrhundert .Wir reden heute über fünf Trends, die unsere Gesell-schaft prägen: Globalisierung, demografischer Wandel,Urbanisierung, Nachhaltigkeit und Ressourcenknapp-heit . Unser Antrag „Intelligente Mobilität fördern“zeigt im Bereich der Mobilität Lösungsfelder auf: dieDigitalisierung der Verkehrssysteme, die dazu notwen-dige Weiterentwicklung der Technik und flexibles Ma-nagement . So weit die Theorie . Aber wir, Politik undIndustrie, wollen und müssen jetzt auch praktisch tätigwerden . Da gibt es auf allen Gebieten Handlungsbedarf .Ich beschränke mich heute auf das Beispiel Schienen-güterverkehr .Bei der Mitgliederversammlung des Verbands Deut-scher Verkehrsunternehmen in dieser Woche wurde da-ran erinnert, welche letzten Innovationsdurchbrüche esim Schienengüterverkehr bei der Bahn gab: 1903 kamdie durchgehende Druckluftbremse bei Güterzügen zumEinsatz . Ab 1911 wurde dann auf elektrische Traktionumgestellt . Diese ist übrigens bis heute noch nicht zu100 Prozent umgesetzt .Was ist in den nächsten 100 Jahren zu tun? Das Gü-terverkehrsaufkommen in Deutschland und Europa steigtund führt bereits heute zu Infrastrukturengpässen . Zu-gleich aber sollen Verkehr und Logistik nachhaltiger undenergieeffizienter sein. Das passt nur zusammen, wennes ein Umdenken und Umlenken in der gesamten Kon-zeption gibt .Es ist schon lange unser erklärtes politisches Ziel undauch Inhalt des Koalitionsvertrages, mehr Güter auf dieSchiene zu bekommen . Dazu müssen die Ressourcendieses Transportweges besser und effizienter genutztwerden als bisher . Leerfahrten, Wartezeiten, Lärm undnationale Sonderbestimmungen sollten der Vergangen-heit angehören . Wie könnte das gehen?Eine Lösung wäre autonomes Fahren beim Rangierenvon Güterzügen und später eine Ausweitung auf den Per-sonenverkehr . Im Nahverkehr gibt es diese Züge bereits;mein Kollege Rimkus hat es bereits erwähnt . Allerdingswollen wir – das bitte ich zu beachten – oberirdisch blei-ben und nicht überirdisch werden, wie im Antrag leiderfalsch formuliert .
Es sind die geltenden Gesetze zu prüfen und gege-benenfalls anzupassen . Darüber hinaus gibt es einenenormen Bedarf an einer einheitlichen Regelung vonSicherheitstechnik . Allein rund 20 verschiedene Zug-sicherungssysteme gibt es in der EU . Unser Schienen-güterverkehr bewegt sich aber nun einmal nicht nur inDeutschland, sondern über die Grenzen europaweit hin-weg .Der intelligente Güterwagen von morgen sollte mit ei-nem System ausgestattet sein, das Daten ermittelt, spei-chert und verarbeitet . Diese Intelligenz setzt allerdingsKommunikationsplattformen voraus, die einwandfreiund schnell funktionieren, Stichwort „Mobilfunk 5G“ .Ohne ein System, das EU-weit sicher und verbindlichfunktioniert, brauchen wir über Innovationen wie zumBeispiel fahrerlose Züge gar nicht zu reden .Ein kleines Beispiel: In der westaustralischen Pilba-ra-Region gibt es ein interessantes Projekt . Die Firma RioTinto setzt dort seit letztem Jahr autonome Züge – zumTeil mit über 300 Wagen pro Zug – für den Transport vonEisenerz ein . Überwacht wird das Ganze im 1 500 Kilo-meter entfernten Perth . Die gesamte Strecke bis zu denHäfen im Nordwesten wurde digital aufgerüstet; Bahn-übergänge wurden mit aufwendiger Überwachungstech-nik ausgestattet . Natürlich können wir die Lösungen inAustralien und den USA nicht mit unseren Gemischtver-kehren in Deutschland vergleichen . Aber gerade deshalbsind hier beste IT-unterstützte, intelligente und flexibleSysteme gefragt .Auch die Berufsbilder in der Branche werden sichwandeln . Dabei müssen wir Politikerinnen und Poli-tiker jedoch auch die Menschen und ihre Arbeitsplätzeim Blick behalten . Deshalb dürfen wir Forschungsein-richtungen nicht abbauen . Wir müssen sie aufbauen unddringend dafür werben, dass sich unsere Jugend für eineAusbildung als Ingenieurin oder Ingenieur entscheidet .Das richtet sich auch an die jungen Menschen hier aufder Tribüne .
In Sachen „technisch Innovation“ gäbe es viel aufzu-listen: besserer Informationsaustausch zur Bündelungvon Transporten, durchgängige Elektrifizierung vomStart bis zum Ziel, Multimodalität oder elektronischePrüf- und Zulassungsverfahren für mehr Effizienz, mehrKapazität, mehr Flexibilität und auch weniger Kosten –vorausgesetzt, sie werden entwickelt und kommen zumEinsatz .Wir brauchen den intelligenten Güterwagen undeventuell auch einen Masterplan zur Stärkung des Gü-terverkehrs, die Schiene 4 .0 . Wir müssen die intelligenteMobilität vorantreiben, weil wir sie brauchen, um effizi-enter und umweltschonender transportieren zu können .
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Wir sind schon mittendrin; aber wir werden und müssenweiterentwickeln, ausprobieren und vor allem umsetzen .Ich schließe mit dem ersten Satz unseres Antrags:Die Zukunft der Mobilität in der Digitalen Gesell-schaft hat bereits begonnen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7362 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es dazu Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf .
Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan
Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Bildungsgerechtigkeit für die Einwan-
derungsgesellschaft – Damit Herkunft nicht
über Zukunft bestimmt
Drucksache 18/7049
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist auch das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Wenn die Kolleginnen
und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, kann
auch der erste Redner in der Debatte beginnen . – Erster
Redner in der Debatte ist Özcan Mutlu von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In derGeburtsurkunde steht Kevin, Sevtap, Ludwig oder Marie . Auf dem Papier sind sie alle gleich, in der Kitaauch noch, aber danach nicht mehr . Wahrscheinlich mussKevin doppelt so gute Noten haben wie Ludwig, um Abi-tur machen zu können . Ob Sevtap eine Chance auf dieAusbildung zur technischen Produktdesignerin bekom-men wird, auch wenn sie sich mit dem gleichen Noten-durchschnitt wie Marie bewirbt, steht in den Sternen .Wie erklären Sie sich, dass Deutschland als wohlha-bendes Land es nur selten schafft, die Kinder unabhängigvon ihrer Herkunft zum Erfolg zu bringen? Wir haltendas für problematisch .
Bildungsgerechtigkeit ist nach wie vor die Achillesfersedes deutschen Bildungssystems . Das leidige Kooperati-onsverbot verfestigt diesen Missstand von Generation zuGeneration . Wir sagen: Damit muss Schluss sein!
Wir sagen: Alle jungen Menschen, die hier leben, diein unserem Land aufwachsen, haben ein Recht auf guteBildung . Wir müssen unsere Bildungsinstitutionen nichtnur fit für die Zukunft, sondern auch fit für die Einwan-derungsgesellschaft machen . Die Fehler der strukturellenNichtintegration der Gastarbeitergeneration dürfen wirheute nicht wiederholen .
Sonst drohen uns hierzulande in wenigen Jahren fran-zösische Verhältnisse, die keiner in diesem Saal habenmöchte . Gute Bildung ist meiner Ansicht nach nämlichauch eine Investition in die Sicherheit unseres Landesund in ein friedliches Zusammenleben .
Es ist daher unser aller Pflicht, alle jungen Menschen, in-klusive der Geflüchteten, bestmöglich in unser Bildungs-system zu integrieren und ihnen bestmögliche Chancenzu bieten .
Bereits vor den aktuellen Herausforderungen durchdie Geflüchteten investierte unser Land zu wenig in Bil-dung . Das haben uns etliche Studien mehrfach attestiert .Für mich lautet daher die Frage: Wie kann der potentesteGeldgeber, der Bund, bei dieser wichtigen gesellschaftli-chen Aufgabe mit anpacken, anstatt sich einen schlankenFuß zu machen?
Koordinierungsstellen für Geflüchtete sind sicherlichals erste Maßnahme ein richtiger Schritt . Das ist unse-res Erachtens aber noch lange nicht ausreichend . Geradeangesichts der großen Zahl der Kinder mit Migrations-hintergrund – das sind ein Drittel der unter Sechsjähri-gen in unserem Land – muss interkulturelle Bildung eineSchlüsselkompetenz vor allem für unsere pädagogischenAkteure sein .
Die Vielfalt der Lebensrealitäten und der Lebenswel-ten der Kinder muss sich unbedingt in den Rahmenplänenund in den Schulbüchern abbilden . Gleiches gilt für dieAusbildung der Lehrerinnen und Lehrer . Der Handlungs-bedarf ist groß, wie die „Schulbuchstudie Migration undIntegration“ der Bundesregierung gezeigt hat . Auch heu-te noch sind die Darstellungen in vielen Schulbücherntendenziös, überholt und bedienen Stereotypen . Wir sa-gen: Auch hier haben wir einen großen Handlungsbedarf .
Meine Damen und Herren, nicht erst seit den aktuel-len Entwicklungen – im letzten Jahr sind circa 1 MillionAnnette Sawade
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Menschen nach Deutschland geflüchtet, wie Sie wis-sen – ist die Integration von allen Menschen in unser Bil-dungssystem enorm wichtig und unabdingbar . Wir sagendaher als Grüne: Statt über unsinnige und gesetzeswid-rige Obergrenzen zu diskutieren, brauchen wir jetzt einekonsequente und sofortige Bildungsoffensive; denn Bil-dungspolitik ist Integrationspolitik .
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund for-dert einen Masterplan für Integration auf Bundesebene .Schließlich findet Integration vor Ort statt: in den Städ-ten, Gemeinden und Kommunen; diese dürfen wir beidieser Mammutaufgabe nicht alleine lassen .Das ABC der Integration ist meiner Ansicht nach In-tegration in Arbeit, in Bildung und in Chancengerechtig-keit . Daher muss dieser Masterplan langfristig sowohlinhaltlich als auch finanziell aufzeigen, welche konkre-ten Maßnahmen und Schritte einzuleiten sind, um Inte-gration für alle insbesondere in Bildung und Arbeit zuermöglichen und zu fördern .
Deshalb fordern wir von dieser Bundesregierung undvon der amtierenden Koalition – hierbei sehe ich gernein die Richtung der SPD –: Sorgen Sie mit dafür, dass wirendlich eine Bildungs- und Integrationsoffensive starten,statt nur immer darüber zu reden!
Wenn Sie schon nicht auf uns hören, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Koalition, dann hören Siewenigstens auf die Wirtschaft . Wirtschaftsforscherinnenund -forscher haben erst jüngst erklärt, dass in der aktu-ellen Situation die Investition in eine Bildungsoffensivehöchste Priorität haben muss. Das finden wir Grüne auch.Am Geld sollte es nicht scheitern . Schließlich haben wireinen Überschuss von 12 Milliarden Euro .
Unser Antrag zeigt detailliert auf, was dringend zu tunist . Ich kann nur an Ihre Vernunft appellieren: StimmenSie unserem Antrag zu, damit wir bei dieser wichtigenAufgabe an einem Strang ziehen!
Die Gesamtinvestitionen für eine Bildungsoffensivein eine gute Zukunft für alle in unserem Land liegen bei circa 6 bis 10 Milliarden Euro pro Jahr . Dieses Geld gehtnicht verloren . Im Gegenteil: Es sichert die Zukunft undist auch eine Investition in die Gegenwart . Es ist ein Kon-junkturprogramm ohnegleichen . Lassen Sie uns deshalbhier an einem Strang ziehen . Deutschland muss sich eineBildungsoffensive nicht nur leisten; sie muss sie auchdringlich durchführen – für heute, für die Zukunft und imInteresse der Kinder und Jugendlichen, und zwar unab-hängig von ihrer Herkunft .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Cemile
Giousouf von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Mutlu, im Moment erlebenwir, dass sich die europäische Staatengemeinschaft miteiner Bevölkerung von 508 Millionen Menschen weigert,eine Anzahl von circa 1,5 Millionen Flüchtlingen in ihrenLändern aufzunehmen und zu versorgen, und das liegtnicht an Deutschland . Sie zeichnen in dieser Debatte einBild, das eine Untergangsstimmung weckt . Dieses Bildist nicht nur falsch, sondern geht komplett an den Reali-täten unseres Landes vorbei .
Deutschland ist ein Einwanderungsland . Wir beschu-len nicht erst seit dem Jahr 2015 Flüchtlingskinder, unddie Integration von Deutschen mit einer Einwanderungs-geschichte ist besser als ihr Ruf . Wir sehen das an denFolgegenerationen der Einwanderer, ob es die Aussiedler,die Gastarbeiter oder Kriegsflüchtlinge sind. Sie habenihre Elterngeneration überholt . Insbesondere die Mäd-chen weisen erfolgreiche Schul- oder Berufsabschlüssevor . Auch die Anzahl der Studierenden mit einer Ein-wanderungsgeschichte an Hochschulen nimmt zu . DieMigranten und ihre Kinder sind im Bildungswesen undauf dem Arbeitsmarkt zwar immer noch nicht gleichge-stellt – das ist wahr –; aber der Trend geht nach oben, unddas zeichnet unser Bildungs- und Ausbildungssystem inDeutschland aus . Die Integrationspolitik in diesem Landist ein Erfolg .Vor dem Hintergrund der Neuzuzügler müssen wir unszu Recht die Frage stellen, ob das, was wir bislang anStrukturen haben, tatsächlich ausreicht . Ja, unsere Lehrerbrauchen eine stärkere interkulturelle Kompetenz, undauch die Geschichte der Einwandererkinder muss Einzugin unsere Schulen halten .
Sie müssen gemeinsam lernen, dass die Gastarbeiterge-neration dieses Land mit aufgebaut hat,
dass es vor hundert Jahren Syrer waren, die den verfolg-ten Armeniern Schutz gewährten, dass es Marokko war,das im 11 . Jahrhundert Juden Schutz gewährte, und dassÖzcan Mutlu
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vom 8 . bis zum 16 . Jahrhundert Christen, Muslime undJuden in Andalusien friedlich zusammenlebten .
Dieses unser gemeinsames Erbe ist die Grundlage da-für, dass wir Menschen zu selbstbewussten Demokra-ten erziehen . Jeder in diesem Land soll stolz auf seineHerkunft sein dürfen und gleichzeitig stark genug, umunmissverständlich Demokratie und Menschenrechte zuverteidigen, unabhängig davon, ob es sich um seine eige-nen oder die eines anderen handelt .
Sie müssen lernen, dass sie alle, die sie in diesem Landleben, die Verantwortung für die Geschichte Deutsch-lands haben, egal ob sie eingewandert oder hier gebo-ren sind, und dieser Verantwortung auch gerecht werdenmüssen . Wir müssen starke Persönlichkeiten in unserenSchulen erziehen, die den Rattenfängern des islamisti-schen Terrorismus genauso entgegentreten können wieden Rattenfängern rechtsextremer Gruppen .
Aber was haben wir bislang alles auf den Weg ge-bracht, um diese Zukunft zu sichern? Das Bildungsmi-nisterium ist das Schlüsselministerium für Integration .
Mit dem Anerkennungsgesetz wurden die Weichen fürdie Integration von ausländischen Fachkräften in den Ar-beitsmarkt ermöglicht, und das eben nicht erst seit demZuzug der Flüchtlinge . Es gibt noch Nachholbedarf beider Ausbildung Jugendlicher; das stimmt . Diese Analyseist für uns nichts Neues, lieber Herr Mutlu . Daran arbei-ten wir mit unseren KAUSA-Servicestellen . Mit der Ini-tiative Bildungsketten unterstützen wir Schülerinnen undSchüler, indem wir sie im Übergang von der Schule inden Beruf begleiten .Es ist schade, dass das Avicenna-Studienwerk, die Be-gabtenförderung für muslimische Studierende und die Is-lamische Theologie an Hochschulen, womit Deutschlandeinzigartig in Europa dasteht, in Ihrem Antrag nicht miteinem Wort Erwähnung finden.
An diesen Hochschulen werden Islamkundelehrer undImame ausgebildet,
die in unseren Schulen und den Religionshäusern alsLehrer und Seelsorger arbeiten werden .Das alles zeigt, dass die CDU/CSU-Fraktion bei derBewältigung der großen Integrationsaufgabe auf keineSchnellschüsse setzt, sondern auf Strukturen
wie auch unsere Integrationskurse und die berufsbezoge-ne Sprachförderung .
Zwei Maßnahmenpakete für die Integration vonFlüchtlingen hat unsere Bundesministerin Wanka imHerbst 2015 vorgestellt; das haben Sie vielleicht mit-bekommen . Das erste Paket konzentriert sich auf denErwerb der deutschen Sprache sowie den Zugang zurberuflichen Bildung. Damit Flüchtlinge ein Studiumaufnehmen können, brauchen sie Beratung, sprachlicheVorbereitung und fachliche Unterstützung . Genau hiergreifen die Maßnahmen des zweiten Paketes . Mehr als230 Millionen Euro insgesamt stellt das BMBF für dieseIntegrationshilfen in den nächsten Jahren zur Verfügung .Auch dazu findet sich in Ihrem Antrag keine Zeile.Seitens der Unionsfraktion wurde im Dezember 2015ein von der AG Bildung und Forschung erarbeitetes undmit den Innenpolitikern abgestimmtes Konzept auf unse-ren Seiten veröffentlicht . Es wäre besser gewesen, wennSie vor Erstellung Ihres Antrages einen Blick darauf ge-worfen hätten . Im Vergleich zu Ihrem Wünsch-dir-was-Katalog stehen da nämlich konkrete Punkte, die auchumsetzbar und realistisch sind .
Sei es drum . Gehen wir die einzelnen Punkte Ihres An-trags einmal durch .Ihre Hauptforderung nach Aufhebung des Kooperati-onsverbotes im Bildungsbereich ist altbekannt .
Doch schon heute engagiert sich der Bund in der Bildungfinanziell so stark und umfassend wie nie zuvor: Stich-wort „Hochschulpakt“, Stichwort „QualitätsoffensiveLehrerbildung“, Stichwort „Qualitätspakt Lehre“, Stich-wort „vollständige Übernahme der BAföG-Finanzierungdurch den Bund“ .Cemile Giousouf
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Dann fordern Sie die Erleichterung des Zugangs zumArbeitsmarkt für Flüchtlinge . Diese Forderung ist gut;sie kommt nur zu spät . Bereits im September 2015 hatdas BMBF ein erstes Maßnahmenpaket für Flüchtlingevorgestellt
– ich kann es Ihnen nicht ersparen; wenn Sie immer wie-der die gleichen Anträge stellen, dann müssen Sie sichauch immer wieder die Antworten anhören –,
bei dem der Erwerb der deutschen Sprache sowie die In-tegration in Ausbildung und Beruf im Mittelpunkt stehen .Kommen wir zur Forderung nach Schaffung von Si-cherheit für junge geflüchtete Menschen in der Ausbil-dung . Durch die Neuregelung des am 1 . August 2015 inKraft getretenen Gesetzes zur Neubestimmung des Blei-berechts wurde hier bereits Rechtssicherheit geschaffen .
Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, schafft Pla-nungssicherheit, und zwar sowohl für die betroffenenAuszubildenden als auch für die Ausbildungsbetriebe .Wir sollten aufhören, den Handwerksmeistern vor OrtAngst zu machen,
ihre Schützlinge könnten in der Ausbildung abgeschobenwerden . Dem ist ein Riegel vorgeschoben .
Zu Ihrer Forderung nach schnellerem Zugang zumBAföG für Geflüchtete. Notieren Sie es sich bitte nocheinmal: Die Koalition hat bereits dafür gesorgt, dassInhaber bestimmter humanitärer Aufenthaltstitel nichtmehr eine Vierjahresfrist abwarten müssen . Sie könnenbereits nach 15 Monaten die Unterstützung beantragen .Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Insgesamt sind80 Prozent Ihrer Forderungen bereits erledigt . Wenn Sieschon nicht auf unsere Fraktionsseite schauen, dann wer-fen Sie zumindest einen Blick ins Bundesgesetzblatt .
So aber müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, inden Chor derer einzustimmen, die behaupten, die Inte-grationspolitik der letzten Jahre sei gescheitert . Sie ma-chen es nur von einer anderen, sympathischeren Seite .Die anderen sagen, wir sollten gar nichts mehr machen,und sie wollen einfach mehr Geld reinblasen . Beides istfalsch . Deutschland ist gut aufgestellt .
Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesre-gierung, dass das BMBF und auch ganz persönlich Mi-nisterin Johanna Wanka dieses Thema mit einer großenErnsthaftigkeit behandeln, wie ich sie mir von allen poli-tischen Akteuren wünschen würde .
Diese Konzentration auf das Wesentliche sollte stilbil-dend sein und hätte möglicherweise auch Ihrem Antraggutgetan .Das Einwanderungsland Deutschland ist zuversicht-lich .
Seien Sie es auch!Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Rosemarie
Hein von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! – Vielen Dank, Herr Mutlu . Ich gebeaber zu, dass es mir heute ein bisschen schwerfällt, überdiesen Antrag zu reden, in dem es um Kinder und Ju-gendliche geht, nachdem letzte Nacht die Koalition ihrenAsylkompromiss beschlossen hat .
Es ist ein schwarzer Tag zumindest für jene Familien, diedarauf warten, zu ihren Angehörigen nach Deutschlandziehen zu können . Und das beschließt eine Koalition, dieständig den Wert von Familie hochhalten will. Ich finde,das ist ein Armutszeugnis .
Cemile Giousouf
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Nach einer UNICEF-Studie aus dem Jahr 2014 sind70 Prozent der asylsuchenden Kinder und Jugendlichenunter zehn Jahre alt . Das sieht bei denen, die derzeit aufFamiliennachzug warten, ganz sicher nicht anders aus .Kinder brauchen ihre Familien . Welches Recht habenwir, ihnen das zu verweigern? Keines .
Nun haben Sie sich die Nacht um die Ohren geschla-gen, um auszuhandeln, wie es gelingen kann, Asylsu-chende davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen .Bei der Frage einer besseren Integration und eines besse-ren Bildungszugangs waren Sie nicht so erfolgreich . Dasaber wäre wichtiger gewesen;
denn weder der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz nochdie Durchsetzung der Schulpflicht ist heute in den meis-ten Bundesländern zeitnah gesichert .
Aber alle Kinder haben die gleichen Rechte, egal wo siegeboren sind .
Darum finde ich es richtig, dass der Antrag der Grünendie Bildungsfrage umfassend angeht . Denn nur ein gutesund gut ausgestattetes Bildungssystem wird für alle Kin-der und Jugendlichen gleiche Bildungschancen ermögli-chen, und nur ein gut ausgestattetes Bildungssystem wirddie große Integrationsaufgabe leisten können .Aber das bundesdeutsche Bildungssystem ist nichtgut darauf vorbereitet . Im Antrag sind fast alle Faktenbenannt, und wir unterstützen auch die allermeisten For-derungen. Weitere finden Sie in unserem Antrag „Glei-cher Zugang zur Bildung auch für Geflüchtete“ vom Sep-tember des vergangenen Jahres . Davon ist noch nichtsüberholt . Zum Beispiel haben wir darin etwas ausführli-cher die Forderung erhoben, die interkulturelle Bildungals Bestandteil in die Lehrerbildung aufzunehmen . DesWeiteren haben wir eine stärkere Integration des FachesDeutsch als Zweitsprache gefordert .
Etwas kritisch sehen wir die Hoffnung auf Institutio-nen wie Jugendberufsagenturen . Da sind wir skeptisch,zumal wenn sie nicht anders funktionieren als Jobcenterfür Jugendliche .Auf einen Punkt möchte noch etwas umfassender ein-gehen . Die Grünen fordern in ihrem Antrag die gesetzli-che Verankerung eines Rechtsanspruchs auf einen Ganz-tagsplatz in Kitas oder Tagespflege. Diese Forderungteilen wir, und das seit Jahren . Wir wissen, wie schlechtes um Ganztagsplätze im Bereich der Kinderbetreuungbestellt ist, und zwar bundesweit und am allermeisten imWesten .Ich erinnere mich an die Topmeldung der Bundes-regierung zu Beginn dieses Jahres: Bundesprogramm„KitaPlus“. Ich finde, es ist das falsche Signal. Mögli-cherweise wird es manchen Eltern und Familien als eineLösung erscheinen, dass nun Betreuung in Randzeiten,Wochenendbetreuung und notfalls auch eine 24-Stun-den-Betreuung in Kitas möglich sind . Aber können Siesich ernsthaft vorstellen, Ihr Kind zum Schlafen in dieKita zu bringen? Ich nicht!
Wieso eigentlich soll sich der Lebensrhythmus der Kin-der an den Arbeitszeiten der Eltern orientieren? Eine kin-derfreundliche Gesellschaft würde das genau andershe-rum machen . Deshalb hätte ich es gut gefunden, wennSie statt dieses Programmes einen Rechtsanspruch aufganztägige Betreuung im Gesetz verankert hätten – dieseMöglichkeit besteht –, wie es die Länder Sachsen-Anhaltund Thüringen getan haben . Dort gibt es einen Anspruchauf zumindest bis zu zehn Stunden; in anderen Länderngibt es das nicht . Dies wäre das richtige Signal gewesen,um die Randbetreuungszeiten besser abzudecken unddamit auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zuverbessern . Das ist der Weg, den wir gehen müssen . Mansollte seine Kinder nicht dann abgegeben müssen, wennman gerade im Schichtdienst ist .
– Hören Sie bis zum Ende zu! – Des Weiteren mussman einen Rechtsanspruch verankern, wonach Eltern,die Kinder in einem gewissen Alter erziehen, das Rechthaben, ihre Arbeitszeit entsprechend zu gestalten . Damitkönnten Sie die allermeisten Fälle tatsächlich lösen .
– In einigen wenigen Fällen geht das nicht. Da findet mandann andere Lösungen . – Mit dem, was Sie jetzt machen,senden Sie das Signal aus: Wir sorgen dafür, dass Elternverfügbar sind, wann immer das Unternehmen sie benö-tigt, und die Kinder entsprechend betreut werden . – Dashalten wir für grundsätzlich falsch .Ich glaube, dass wir an dieser Stelle noch viel zu dis-kutieren haben . Gerade an diesem Punkt wird deutlich,dass es noch nicht im Bewusstsein ist, dass der Rechts-anspruch auf einen Kitaplatz ein Rechtsanspruch auffrühkindliche Bildung ist und nicht auf die Aufsicht inAbwesenheit der Eltern .Herzlichen Dank .
Dr. Rosemarie Hein
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Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Karamba
Diaby von der SPD-Fraktion das Wort .
Werte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herkunftdarf nicht über Zukunft bestimmen . Weder der elterlicheGeldbeutel noch die vielfältigen eigenen oder familiärenWurzeln dürfen zu Fesseln werden .
Herkunft darf kein Stigma sein . Die sozialdemokratischeIdee hat sich immer am emanzipatorischen Wert von Bil-dung orientiert: Bildung zur Entfaltung der Persönlich-keit und Aufstieg durch Bildung . Dieser Weg soll für alleoffen sein .
Wir sind ein Einwanderungsland . Wir sind vielfältig . Dasist gut so . Da wir eine Einwanderungsgesellschaft sind,muss diese Alltagsrealität von allen gesellschaftlichenEinrichtungen nachvollzogen werden, auch von unserenBildungseinrichtungen .Es hat sich schon viel in diesem Land bewegt – dieGrünen haben das wahrscheinlich nicht mitbekommen –:
mehrsprachige Kitas und Schulen; Lernbegleiter, die Ge-flüchteten beim Spracherwerb helfen; Schulsozialarbei-ter; interkulturelle Öffnung der Bildungseinrichtungenund mehr vielfältiges Lehrpersonal . – Frau Präsidentin,die Lampe für die Zeit blinkt . Das irritiert mich ein biss-chen .
In dieser Debatte ist mir Folgendes wichtig: Hierzu-lande gilt die Schulpflicht für jedes Kind, gleichwohlob es in einem Krankenhaus in Halle-Neustadt oder inPalmyra geboren wurde . Deswegen ist es gut, dass vie-le Kommunen und Länder die Beschulung aus den Not-unterkünften heraus stemmen . Lassen Sie uns nicht diegleichen Fehler wie mit der sogenannten Gastarbeiterge-neration und ihren Familien wiederholen .
Viele, die zu uns geflüchtet sind, bleiben erst einmal hier.Wir müssen die Weichen stellen, damit die Kinder zurSchule gehen, ihre Ausbildung absolvieren oder ihr Stu-dium aufnehmen können .
– Die Regierung hat sehr viele Weichen gestellt – daswissen Sie ja auch –,
die Weichen dafür, dass die geflüchteten Frauen undMänner schnell in Arbeit kommen .An dieser Stelle appelliere ich auch an meine Kolle-ginnen und Kollegen der CSU: Kehren Sie bitte zurückzur Sacharbeit! Lassen Sie uns das Asylpaket II umset-zen, und stellen Sie Ihren Überbietungswettbewerb inirreführenden Forderungen ein! Gestern haben sich dieParteichefs geeinigt . Die Menschen in diesem Land er-warten von uns, dass wir jetzt das umsetzen, was wir be-schlossen haben .
Nun zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kolle-gen der Grünen . Mich stört, dass Sie in Ihrem Antrag denEindruck erwecken, als müsste das Rad neu erfundenwerden . Dabei leistet diese Bundesregierung schon sehrviel .
Im Antrag fordern Sie zum Beispiel die Verbesserung derfrühkindlichen Bildung . Ja, das ist eine sehr gute Idee .Dabei übersehen Sie aber, was unsere Bundesfamilien-ministerin Manuela Schwesig bereits alles in Gang ge-bracht hat . Der Bund investiert weiter sehr stark in In-frastruktur und Qualität der Kitas . Allein 2015 habenwir knapp 1 Milliarde Euro ausgegeben . Hinzu kommenkünftig noch die Mittel aus dem Betreuungsgeld, die wirauch in diesem Bereich einsetzen . Diese Maßnahmensind gut für die Kinder .
Meine Damen und Herren, darüber hinaus will dieSPD die Länder und Kommunen dabei unterstützen, wei-tere 80 000 Kitaplätze und 20 000 zusätzliche Stellen fürErzieherinnen und Erzieher zu schaffen . Sie sehen, liebeGrüne: Allein in diesem Bereich passiert schon so viel .Oder schauen Sie doch einmal in den Hochschulbe-reich . Bereits im Dezember hat das Bundesbildungs-ministerium viele Maßnahmen auf den Weg gebracht,um potenziellen Studierenden den Hochschulzugangzu erleichtern . Der DAAD unterstützt die Hochschulendabei, vorhandene Kompetenzen und Qualifikationenfestzustellen oder auch die Sprachkenntnisse dieser Men-schen zu verbessern . Und nicht zuletzt: Wir unterstützenstudentische Initiativen, die sich für die Geflüchtetenengagieren . Allein in diesem Jahr stehen für diese Maß-nahmen im Hochschulbereich sage und schreibe 27 Mil-lionen Euro zusätzlich zur Verfügung .
Lassen Sie mich kurz auf das Thema Kooperations-verbot eingehen . Die SPD steht bekanntermaßen dafür
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ein, dass das Kooperationsverbot aufzuheben ist . Das istein langfristiges Ziel . Das würde einiges vereinfachen,und der Bund könnte die Länder und Kommunen besserim Bildungsbereich unterstützen . Das ist unsere Mei-nung . Kurzfristig setzen wir aber darauf, in Abstimmungmit den Ländern gezielt einzelne Bereiche zu fördern .Ich kann mir gut vorstellen, dass wir Schulsozialarbeitoder Integrationsarbeit an Schulen über ein Programmstärken .
Wir plädieren deshalb für einen Aktionsplan „Bildung“ .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bildung zur Ent-faltung der Persönlichkeit und Aufstieg durch Bildung:Dieser Weg soll für alle offen bleiben . Lassen Sie unsgemeinsam daran arbeiten!Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Uda Heller
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren vom Bündnis 90/DieGrünen, Ihr Antrag ist ein breit gefächertes Potpourri vonunspezifischen Forderungen, zahlreichen Vorschriftenund vor allem von dem Verlangen nach mehr Geld . Hierwerden Sie Ihrem Ruf als „Vorschriftenpartei“ erneut ge-recht .
Im Gegensatz zu Ihnen setzt die CDU/CSU-Fraktionnach wie vor auf das Vertrauen in eine eigenverantwort-liche Gesellschaft .Am meisten wundere ich mich über Ihre Aussage,dass Deutschland es angeblich jahrelang versäumt hat,Geld in Bildung zu investieren .
Ich frage mich, ob Sie unsere Haushaltsdebatten vom No-vember schon wieder vergessen haben . Ich kann Ihnendie Zahlen noch einmal in Erinnerung rufen: Für 2016haben wir den Bildungs- und Forschungsetat nochmalsum weitere 1,13 Milliarden Euro auf insgesamt 16,4 Mil-liarden Euro erhöht .
Das zeigt doch eindrücklich, welchen besonderen Stel-lenwert Bildung für uns hat .Doch ich gebe zu, es gibt auch Punkte, bei denen wirübereinstimmen . Deutschland ist ein Einwanderungs-land .
Und ja – das haben viele Kolleginnen und Kollegen vor-her auch gesagt –, die Integration erfolgt am besten überBildung . Es ist richtig, dass der Spracherwerb ein wichti-ger Schlüssel für eine erfolgreiche Integration ist .Wir alle sind uns darüber einig, dass die Flüchtlings-bewegung für Deutschland und Europa zahlreiche He-rausforderungen mit sich bringt . Aber sie birgt auchChancen, und die sollten wir nutzen .
Es ist unsere Aufgabe als Bildungspolitiker, Rahmenbe-dingungen zur Deckung des Fachkräftebedarfs zu schaf-fen . Daher sollten wir die Potenziale der Zuwanderungnutzen und eine erfolgreiche Integration über Bildungund Beschäftigung unterstützen .
Aber das haben wir schon lange vor Ihrem Antrag er-kannt, Herr Mutlu .
Daher werden wir in den nächsten Jahren rund130 Millionen Euro zusätzlich investieren, um die zentra-len Ziele umzusetzen . Erstens: Spracherwerb . Zweitens:Anerkennung von Kompetenzen und Potenzialen . Drit-tens: Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt .Ich kenne so viele Kooperationspartner aus allen Be-reichen, die sich gemeinsam für den Erfolg dieser Zielestarkmachen, beispielsweise die Volkshochschulen, dieStiftung Lesen mit ihren Sprachprogrammen, die Ser-vicestelle Bildungsketten, das KAUSA-Netzwerk, dasProgramm „Kultur macht stark“ in den Kommunen, dieTransferagenturen mit den Bildungskoordinatoren, aberauch die Bildungszentren, die Hochschulen mit den Stu-dienkollegs oder auch die Wirtschafts- und Handwerks-kammern mit ihrem Aktionsprogramm „Ankommen inDeutschland – Gemeinsam unterstützen wir Integrati-on!“ . Nicht zuletzt sollten wir die vielen ehrenamtlichenEngagierten nicht vergessen, die beispielsweise im Rah-men des Programms „Menschen stärken Menschen“ un-begleitete minderjährige Flüchtlinge unterstützen .Ich weiß das, weil ich in engem Kontakt zu Koope-rationspartnern in meiner Region stehe . Beispielsweisewar ich im Bildungs- und Technologiezentrum der Hand-werkskammer Halle . Das ist eines der größten und viel-seitigsten Bildungszentren des Handwerks mit 15 000kammerzugehörigen Betrieben und mehr als 700 Plätzenfür eine gewerblich-technische Ausbildung . Das BTZnimmt als einziges Bildungszentrum in den neuen Bun-desländern an einem Pilotprojekt für junge Flüchtlingeteil . Aktuell werden dort junge Menschen aus Syrien undDr. Karamba Diaby
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Eritrea mithilfe einer Sozialpädagogin und eines Ausbil-ders auf das Erwerbsleben vorbereitet .Nach der Kompetenzfeststellung und einer dreimo-natigen Schulung im Bildungszentrum konnten bereitsalle in ein Praktikum vermittelt werden – bitte hören Siezu! –,
um dann fit genug zu sein, im August dieses Jahres eineBerufsausbildung zu beginnen . Die Schulungen wurdenbereits begonnen, als der Sprachunterricht noch nicht ab-geschlossen war . Denn man hat schnell festgestellt, dasssich innerhalb kürzester Zeit die Sprachkenntnisse durchden alltäglichen Austausch mit deutschen Jugendlichendeutlich verbessert haben .Machen diese Beispiele und die vielen anderen Pro-gramme, die es bereits überall gibt, nicht deutlich, dassdie Integration von Flüchtlingen durchaus eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe ist und auch so wahrgenom-men wird?
Meine Damen und Herren, ich finde, all diese Anstren-gungen haben unsere Anerkennung und unseren Respektverdient .
Glauben Sie wirklich – hören Sie bitte zu! –, dass esder richtige Weg ist, wenn Sie in Ihrem Antrag fordern,dass jeder, der nach Deutschland kommt, ganz unabhän-gig vom Herkunftsland und vom Aufenthaltsstatus, einengesetzlichen Anspruch auf eine Ausbildung, auf ausbil-dungsbegleitende Hilfen sowie ein Bleiberecht währendder Ausbildung und danach hat?
Da frage mich, Herr Mutlu, ob Sie sich über die Konse-quenzen Ihrer Forderungen bewusst sind und einmal überdie finanziellen Folgen nachgedacht haben. Was wollenSie denn noch alles auf den Steuerzahler abwälzen?
Ich sage Nein . Das ist nicht im Sinne unserer Bürgerund auch nicht im Sinne einer verantwortungsvollen Bil-dungspolitik .Gern möchte ich Sie an dieser Stelle auch darauf auf-merksam machen, dass wir einige Ihrer Forderungenlängst umgesetzt haben – das hat auch Frau Giousoufschon gesagt –, beispielsweise mit dem Anerkennungs-gesetz oder dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleibe-rechts, allerdings für junge Menschen mit einer Bleibe-perspektive in Deutschland .Ich sehe es auch als großen Erfolg, dass das Anerken-nungsgesetz als weltweit einziges seiner Art bereits imApril 2012 in Kraft getreten ist . Damit ermöglichen wireinen einfacheren Zugang zur Anerkennung von im Aus-land erworbenen Berufsqualifikationen, schnellere Ver-fahren, einen barrierefreien Wechsel innerhalb der EUund hohe Mobilität . Das Ziel von uns Unionspolitikernist es, Zuwanderer präventiv zu unterstützen und ihnenneue Perspektiven aufzuzeigen, wie sie selbst für ihrenLebensunterhalt aufkommen können und nicht auf Sozi-alleistungen angewiesen sind .
Meine Damen und Herren, ich denke, zusammenfas-send kann man sagen, dass die Koalition ihren Aufgabenverantwortungsvoll nachkommt . Deutschland genießtmit seiner dualen Ausbildung weltweit Anerkennung .Lassen Sie uns diese Erfahrung auch für die Einwande-rungsgesellschaft nutzen . Geredet wird viel . Lassen Sieuns gemeinsam handeln .Vielen Dank .
– Herr Mutlu, hat man Ihnen in der Schule nicht beige-bracht, dass man auch einmal ruhig ist, wenn jemand an-deres spricht?
Als nächste Rednerin hat Elfi Scho-Antwerpes von
der SPD-Fraktion jetzt das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! In der BRD leben Menschen aus 194 Nati-onen . Wir sind schon lange ein Einwanderungsland, einLand kultureller Vielfalt, und das ist gut so –
nicht erst seit dem großen Zustrom von Flüchtlingen inden letzten Monaten .Dass wir auch international als weltoffen und gast-freundlich wahrgenommen werden, das ist ein hohesGut – ein sehr hohes Gut .
Uda Heller
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 153 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . Januar 2016 15099
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Ich sage das hier durchaus auch mit Blick auf die Ge-denkstunde, die wir vorgestern in diesem Hohen Hauseerleben durften und in der wir der Opfer des Nationalso-zialismus gedacht haben .
Umso wichtiger ist es, dass wir unsere teuer bezahl-te Freiheit schützen . Das schaffen wir nur, indem wirden gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken . Niemanddarf sich alleingelassen oder vernachlässigt fühlen . DieGrundlage dafür sind zweifelsfrei eine umfassende undsolide Bildung und ein Höchstmaß an Bildungsgerech-tigkeit für jedes Kind, jeden Jugendlichen und jeden Er-wachsenen in unserem Land .
So ist Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen vonden Grünen, grundsätzlich natürlich zu begrüßen . – Ichfände es gut, wenn Sie zuhören würden . –
Wir bezweifeln nicht ernsthaft, dass Bildung ein wich-tiger gesellschaftlicher Schlüssel ist und dass es beimZugang zur Bildung gerecht zugehen muss . Das gilt üb-rigens auch für Kinder ohne Migrationshintergrund, dieaus anderen Gründen eine schwierige Bildungsbiografiehaben .
Es wäre indes noch begrüßenswerter gewesen, wennSie einen zustimmungsfähigen Antrag formuliert hätten,der unserer Einwanderungsgesellschaft wirklich helfenwürde .
Vieles von dem, was dort angesprochen wird, ist ohne-hin schon auf den Weg gebracht, wie wir ja eben gehörthaben .
Anderes vergessen Sie leider völlig, und ich frage mich,warum .
Ich vermisse beispielsweise die politische Bildung . Wirkönnen doch nur dann eine gefestigte, bunte Gesellschaftsein, wenn wir uns selbst und den anderen kennen, wennwir nicht von Ressentiments geleitet werden, sondernvon gegenseitigem Respekt .
Ich spreche hier nicht nur von den Zugewanderten, diepolitische Bildung benötigen und in unsere Gesellschafthineinwachsen müssen; ich spreche auch und vor allemvon der aufnehmenden Bevölkerung in Deutschland .Meine Heimat ist Köln . Natürlich bin ich seit derSilvesternacht viel vor Ort gewesen, habe mit den Men-schen gesprochen . Seit jeher sind wir eine weltoffene,tolerante Stadt .
Gleichwohl mehren sich – und das ist ein bundeswei-tes Problem, kein kölsches und kein ostdeutsches – dieStimmen derer, die scheinbar kein Wissen über politischeZusammenhänge in unserem Land haben . Es gibt immermehr Menschen, die glauben, wir könnten uns abschot-ten, und die über das so wichtige Asylrecht und überdie Flucht und deren Ursachen keinerlei oder zu wenigKenntnisse haben . Das geht so nicht . Das ist gesellschaft-licher Sprengstoff, liebe Kollegen und Kolleginnen .
Wir müssen Bildung ganzheitlich denken . Die politischeBildung kann und darf da nicht außen vor bleiben .
Lassen Sie uns überlegen, wie weit wir beispielsweisedie Bundeszentrale für politische Bildung noch stärkerunterstützen und einbinden können . Dort wird auf her-vorragende Art und Weise informiert und aufgeklärt . Un-sere Gesellschaft muss für die Situation der geflüchtetenMenschen sensibilisiert werden . Wir müssen die Zusam-menhänge verstehen . Aber wir müssen uns auch unserereigenen Kultur und Werte bewusst werden – ich will jetztnicht wieder auf Silvester eingehen; Sie alle wissen, wasich meine –; immerhin verlangen wir das auch von denzugezogenen Menschen .
Überhaupt tauchen Mittlerorganisationen in IhremAntrag gar nicht auf . Was ist zum Beispiel mit dem Goe-the-Institut, mit den politischen Stiftungen? Was ist mitder Alexander-von-Humboldt-Stiftung? Diese Organisa-tionen erfüllen eine wichtige Funktion bei der Integrati-on von Zugewanderten in unser Bildungs- und Wissen-schaftssystem, damit die Menschen, die zu uns kommen,eine gerechte Chance haben . Exemplarisch erwähne ichhier auch Projekte wie RheinFlanke in Köln und in Ber-lin oder Arrivo Berlin, die sich schon länger aktiv für dieIntegration einsetzen, und das tun sie gut .Lassen Sie uns gemeinsam an einem Strang ziehen!Herr Mutlu hat das eben schon gesagt; wir haben es jetztdreimal gehört . Lassen Sie es uns aber auch tun, undschauen wir, wie wir entsprechenden Einrichtungen fi-nanziell oder personell helfen und sie unterstützen kön-nen .
Elfi Scho-Antwerpes
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bildungsgerechtig-keit ist ein sehr wichtiges Thema, bei dem wir, vor allemmit Blick auf die Flüchtlingssituation, alle – – Sie wis-sen, was ich meine .
– Ich zeige es dir nachher . – Wir alle sollten nicht drohen,sondern tun! Lassen Sie uns alle guten Ideen bündeln,auch Ihre! Der hier vorgelegte Antrag allerdings greiftzu kurz, –
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen .
– und wir werden ihn daher ablehnen .
Danke schön .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7049 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 24 a und
24 b sowie zu Zusatzpunkt 7:
24 . a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Weiterentwicklung des Strommarktes
Drucksache 18/7317
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96
der GO
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie zu dem Antrag der
Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Caren
Lay, Dr . Dietmar Bartsch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutscher Beitrag zu den UN-Klimaver-
handlungen – Kohlendioxid als Umwelt-
schadstoff definieren, Betriebszeiten von
Kohlekraftwerken begrenzen
Drucksachen 18/3313, 18/7277
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordne-
ten Oliver Krischer, Annalena Baerbock,
Dr . Julia Verlinden, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Zukunft des Strommarktes – Mit ökolo-
gischem Flexibilitätsmarkt klimafreund-
liche Kapazitäten anreizen und Kohle-
ausstieg einleiten
Drucksache 18/7369
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das auch so beschlossen .
Ich eröffne die Debatte . Als erster Redner in dieser
Debatte hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe
Beckmeyer für die Bundesregierung das Wort .
U
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir beraten heute das Strommarktgesetz in ers-ter Lesung . Es geht aus unserer Sicht um die wichtigsteund grundlegendste Reform des Strommarktes seit derLiberalisierung der Energiemärkte . Mit gutem Grund:Der Umbau der Stromversorgung ist eine der größtenHerausforderungen dieser Zeit . Wir brauchen deshalb einneues System, das dazu passt .Schon heute wird rund ein Drittel unseres Stroms auserneuerbaren Energien erzeugt . Wir wissen, dass derVolatilität, also den Schwankungen bei der Einspeisungins Netz, natürlich begegnet werden muss . Insofern istmit dem Strommarkt 2 .0 auch ein Instrument geschaffenworden, ebendieser Aufgabe gerecht zu werden . Mit ihmsoll bei hohen Anteilen von erneuerbaren Energien einesichere, kostengünstige und vor allen Dingen umweltver-trägliche Versorgung mit Strom gewährleistet werden .Drei Punkte sind für uns dabei sehr wichtig .Erstens . Wir wollen wieder mehr Markt in der Strom-wirtschaft . Das ist ein klares ordnungspolitisches Be-kenntnis . Wie erreichen wir das? Wir wollen mit demStrommarkt 2 .0 sicherstellen, dass sich die Anbieterüber den Markt refinanzieren. Dazu setzt auch dieserStrommarkt 2 .0 auf eine freie Preisbildung . Der Abbauvon Überkapazitäten und der Ausbau der Erneuerbarenwerden dazu führen, dass die Preisbildung für Investi-tionen auch die richtigen Signale setzt . Darum ist unsdieses Thema der freien Preisbildung am Großhandels-markt außerordentlich wichtig . Wir möchten diese auchgarantieren . So können Verkäufer von Strom in Zeitenvon Knappheit echte Knappheitspreise verlangen . Aberauch für die Käufer von Strom gibt es verstärkte Anreize,sich gegen hohe Preise durch langfristige Verträge abzu-sichern . Diese Verträge wiederum sind die Grundlage fürInvestitionen im Strommarkt . Somit werden nicht alleinElfi Scho-Antwerpes
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Niedrigpreise am Spotmarkt das Investitionsverhaltenbestimmen . Wir sind überzeugt, dass sich hierdurch auchInvestitionen in benötigte Kapazitäten refinanzieren las-sen .Zweitens . Wir wollen Stromerzeugung und Strom-nachfrage kosteneffizient miteinander verbinden; dennin einem modernen Strommarkt brauchen wir flexib-le Stromerzeugung, aber auch eine flexible Nachfrage.Dazu setzen wir auf einen offenen Wettbewerb dieserFlexibilitätsoptionen . Wir werden erleben, dass sich neueGeschäftsmodelle, ob bei Stadtwerken oder anderswo,ob auf der Erzeuger- oder auch auf der Nachfrageseite,entwickeln . Dieser Strommarkt 2 .0 sorgt dafür, dass sichdie effizientesten Lösungen durchsetzen, ohne den Wett-bewerb durch neue Subventionen zu verzerren . Zugleichwerden wir mit den neuen Geschäftsmodellen aber auchAnbieter am Markt haben . Akteursvielfalt ist unser Ziel .Drittens . Wir wollen Versorgungssicherheit auf ho-hem Niveau gewährleisten . Ein in einen europäischenBinnenmarkt eingebetteter Strommarkt trägt dazu bei;denn auch hier sind finanzielle Vorteile zu finden. Wirmüssen weniger Kapazität vorhalten . Versorgungssicher-heit ist nicht mehr rein national buchstabiert . Zusätzlichkönnen so auch Extremsituationen abgesichert werden .Sie sehen: Mit diesem Gesetz sind wir auf einem gu-ten Weg, und wir haben ein gutes Instrument, das auchfunktioniert .Ein Wort zu den Grünen: Der von Ihnen vorgeschlage-ne ökologische Flexibilitätsmarkt wird wenig helfen . Erwürde das Preissignal der Märkte stören
und so den Strommarkt 2 .0 und damit auch die Versor-gungssicherheit untergraben .
Das vorliegende Strommarktgesetz, meine sehr geehr-ten Damen und Herren, schafft einen stabilen Rechtsrah-men mit einem klar marktwirtschaftlich und europäischausgerichteten Blick . Die Stromversorgung wird kosten-effizient umgebaut, zugleich Versorgungssicherheit ge-schaffen und ein Mindestmaß an Regulierung auf hohemNiveau gewährleistet .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Eva Bulling-
Schröter von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Gabriel sagt dieser Tage gerne, der Welpenschutzfür erneuerbare Energien sei beendet, man müsse die Er-neuerbaren jetzt durch Ausschreibungen in einen Wett-bewerb bringen . Wir haben es ja gerade gehört . Ich sageIhnen: So wird das Fördersystem im EEG umgekrempeltund nebenbei die Bürgerenergie totgemacht .
Es geht längst um die Frage, wer die Energiewendeübernimmt . Sind es hauptsächlich große Investoren, dienur am Profit orientiert sind, oder sind es dezentrale klei-ne Akteure, die nah an den Menschen vor Ort sind? Dasmüssen wir den Menschen sagen: Es geht wieder um diegroßen Konzerne und um Profit.Nach Gabriels Plan ist die Bürgerenergie bald raus, soviel ist klar .
Ich sage Ihnen: Die Befürworter der Bürgerenergie wer-den es Ihnen nicht vergessen . Zudem muss ich michschon wundern: Welpenschutz für Erneuerbare wird ab-geschafft, stattdessen pampern Sie die Dinosaurier derStromerzeugung .Für einige Kohlekraftwerke sollen künftig unter demDeckmantel einer Sicherheitsreserve 230 Millionen Eurojährlich gezahlt werden . Das zum Thema Preise unddazu, wer das bezahlt . Eine solche Reserve brauchen wirnicht . Diese sogenannte Sicherheitsreserve ist nichts an-deres als eine Luxusalimentierung für Kohlekraftwerke .Man muss sich immer wieder vor Augen halten: ZehnTage braucht ein Kohlekraftwerk in Sicherheitsreserve,um hochzufahren und im Ernstfall Strom zu liefern . Ei-nen solchen Fall hatten wir in der Bundesrepublik bishernoch nie, und er wird voraussichtlich auch nicht eintref-fen . Sie halten – ich meine das wirklich ernst – die Strom-kundinnen und -kunden wahrscheinlich für bescheuertund lassen sie für diesen Unsinn blechen . Ich sage Ihnen:Das ist unerhört . Das wissen die Leute vor Ort auch .
Zur Wahrheit gehört auch, dass wir bereits im vergan-genen Jahr einen Anteil des Ökostroms an der Stromer-zeugung in Höhe von einem Drittel hatten . Super . Dasist nicht schlecht . Aber leider: Unserer Klimabilanznützt dies gar nichts; denn die Braunkohlemeiler redu-zieren ihre Produktion eben nicht aufgrund des Mehr anÖkostrom . Sie qualmen munter wie nie und exportierenmehr denn je . Kohlestrom ist viel zu billig und über-schwemmt das europäische Ausland . Wenn die Bundes-regierung jetzt den Strommarkt neu ordnen will, müsstesie diese Fehlentwicklung eigentlich im Blick haben .Wir wissen alle, dass die Dekarbonisierung des Strom-sektors in Deutschland seit Paris im Hausaufgabenheftder Bundesregierung steht . Frau Hendricks weiß dies .Deshalb war sie diese Woche auch schon in der Lausitz .Herr Gabriel lenkt momentan noch von seinen unerledig-ten Hausaufgaben ab, indem er sagt, auch andere hättennoch nachzuarbeiten, wie der Verkehrs- oder der Agrar-sektor . Das stimmt zwar, aber auch er muss seine Haus-aufgaben machen .Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer
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Als Linke schlagen wir vor, der Realität ins Auge zublicken und als ersten Schritt CO2 wie in den USA alsSchadstoff zu deklarieren
und dann ein Kohleausstiegsgesetz auf den Weg zu brin-gen .Das kluge Elf-Punkte-Programm zur Dekarbonisie-rung der Agora Energiewende geht übrigens ebenfalls indiese Richtung. Wir finden das gut. Dies hat den Vorteil,dass alle sich auf ein Enddatum, zum Beispiel 2040 oderbesser noch 2035, einstellen können . Beschäftigte in denKraftwerken und Bürgermeister wüssten, welche Meilerbeispielsweise 2020 vom Netz gehen und welche 2030 .Ein solcher schrittweiser Ausstiegsplan bietet Rechtssi-cherheit und Planbarkeit . Genau das brauchen die Betei-ligten endlich .
Eine Neuordnung des Strommarkts, die der Energie-wende dienen soll, müsste aus unserer Sicht dafür sor-gen, dass nicht wieder zentralistische Großstrukturenaufgebaut und große Player gestärkt werden . Sie müsstevielmehr die Stadtwerke als Vertriebsakteure stärken, diedas Zusammenspiel von fossilen und regenerativen Ener-gien vor Ort koordinieren .
Stadtwerke könnten auch wunderbar Manager fürLastmanagement sein, weil sie den direkten Draht zuden großen Verbrauchern vor Ort haben . Bürgerenergieund kleinere kommunale Versorger zu wollen, ist keinSelbstzweck, sondern notwendig für die Akzeptanz derEnergiewende .
Doch die Bundesregierung tut leider alles, um die Bür-gerenergie zu killen . Ich sage: Das ist der falsche Weg .Wir setzen uns dafür ein, die Bürgerenergie und kom-munale Versorger zu stärken . Das wäre der richtige Weg .Danke .
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen!Meine Herren! Liebe Frau Bulling-Schröter, so sieht kei-ne in sich konsistente Energiepolitik aus . Hier kämpfenSie immer für den Braunkohleausstieg, vor Ort sind Siedagegen . Hier kämpfen Sie für den Netzausbau, vor Ortsind Sie dagegen .
So ist keine konsistente Energiepolitik zu machen . Unse-re Energiepolitik ist aus einem Guss und geht auch in dierichtige Richtung .
So ist auch das Strommarktpaket, das auf dem Tischliegt, zu verstehen . Wir sorgen dafür, dass diese Um-wälzung, die in den nächsten Jahren vor uns liegt, auchbewerkstelligt wird . Es kam in den Reden schon zumAusdruck: Wir haben einen enormen Umbruch in un-serer Energielandschaft, und wir haben auch schon sehrgroße Erfolge vorzuweisen . Wir haben einen Anstieg desAnteils der erneuerbaren Energien an der Stromerzeu-gung, der so gar nicht vorhersehbar war und den wir vordrei oder vier Jahren in dem Umfang noch gar nicht vor-hergesehen hatten . Wir sind schon bei einem Anteil von33 Prozent . Ein Drittel unserer Stromversorgung geht auferneuerbare Energien zurück . Das heißt, wir sind schonvier Jahre früher an unserem Ziel und können große Er-folge vorweisen .Auf der anderen Seite schrumpft der Kraftwerksparkder konventionellen Kraftwerke Stück für Stück . Wir ha-ben in den letzten Jahren acht Kernkraftwerke vom Netzgenommen, und es werden in den nächsten vier bis fünfJahren noch weitere acht Kernkraftwerke vom Netz ge-hen. Auch Kohlekraftwerke – sie sind teilweise ineffizi-ent, das ist richtig, Frau Bulling-Schröter – gehen vomNetz. Als Ersatz dafür brauchen wir aber flexible undsaubere Kraftwerke . Auch deshalb machen wir jetzt die-ses Strommarktgesetz und bringen damit die Grundlagefür neue Investitionen auf den Weg .Trotz all dieser Umbrüche haben wir einen enormenGrad an Versorgungssicherheit . Das ist wichtig; denn un-sere Industrie braucht Stromsicherheit . Sie braucht Ver-lässlichkeit und stabile Netze . In den letzten zwei Jahrenhaben wir die Stromunterbrechungen noch einmal redu-ziert . Das heißt, wir haben uns in puncto Verlässlichkeitnoch einmal gesteigert . Nur zum Vergleich, damit maneinmal sieht, was Stromverlässlichkeit bedeutet: EinStromausfall in Berlin würde pro Stunde 23 MillionenEuro kosten . Diese Summe wurde vor kurzem berech-net . Das macht deutlich, wie wichtig Strom tagtäglich ist .Deshalb hat Versorgungssicherheit für uns oberste Prio-rität .Trotz all dieser Erfolge, die ich gerade beschriebenhabe, gibt es Dinge, bei denen wir nachsteuern müssen .Ein Thema ist die hohe umlagefinanzierte Vergütungfür die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Ener-gien, was unsere Strommärkte, die Strombörsen durch-einanderbringt, sodass die Strombörsen nicht mehr dieImpulse bringen, die wir dringend für Neuinvestitionenbrauchen .
Eva Bulling-Schröter
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Allein in den letzten vier Jahren ist der Strompreisauf 22 Euro gefallen . Wir sind derzeit bei knapp über22 Euro je Megawattstunde . Das führt dazu, dass Gas-und Kohlekraftwerke enorm unter Druck geraten, die inden nächsten Jahren aber dringend gebraucht werden, umunsere Versorgungssicherheit zu gewährleisten .Das heute vorliegende Strommarktgesetz ist deshalbein wichtiger Schritt zur Sicherung unserer zukünftigenStromversorgung . Grundlage des Gesetzespakets ist –der Herr Staatssekretär hat es schon angesprochen – dassMarkt und Wettbewerb die Impulse für die nächsten In-vestitionen auslösen müssen . Es müssen auch Überkapa-zitäten abgebaut werden . Wir brauchen eine bessere freiePreisbildung, und wir brauchen ausreichend Signale fürnotwendige Investitionen in Kraftwerke der Zukunft undInvestitionen für mehr Flexibilität . Denn eines ist klar:Auch in Zukunft, auch dann, wenn der Anteil erneuerba-rer Energien an der Stromerzeugung auf 40, 50, 60 oder70 Prozent steigt, brauchen wir noch effiziente und sau-bere Kraftwerke in Deutschland .Mit dem vorliegenden Strommarktgesetz wollen wiruns zum Markt bekennen . Der Markt ist der richtige Ort,um Preise zu bilden, die dann auch Investitionsentschei-dungen beeinflussen. Allerdings sind dazu – auch daswurde schon vom Herrn Staatssekretär gesagt – dringendregulative Maßnahmen notwendig, die dann vorgeschal-tet werden und quasi als Sicherheit für den Strommarktdienen .Ein Argument ist die Kapazitätsreserve . Diese sollmögliche Kapazitätslücken decken . Die Braunkohle-reserve soll die Klimalücke schließen
und die Netzreserve, als bereits bestehendes Instrumenttemporärer Netzanpassung, vor allem in Süddeutschland,abgesichert werden . Alle Kraftwerkreserven, die ich ge-rade beschrieben habe, werden eine ungefähre Größe von15 Gigawatt erreichen . Das ist rund ein Fünftel unsererJahreshöchstlast . Diese Reserven dienen zukünftig derGewährleistung der Versorgungssicherheit .Das ist ein starker Eingriff; aber dieser starke Eingriffist notwendig . Denn Märkte können auch einmal versa-gen, und niemand möchte, dass dieses Versagen dannzu größeren Stromausfällen führt . Aber ich sage auch,dass das Instrument der Kapazitätsreserve, dieser großeEingriff, den wir vornehmen werden, noch einmal ge-nauestens im parlamentarischen Verfahren angeschautwerden muss . Wir brauchen Verlässlichkeit . Es ist not-wendig, dafür zu sorgen, dass die Kosten und auch dieSynergieeffekte, die im Markt wirken, nicht über Gebührstrapaziert werden . Deshalb werden wir uns die Gesetzeim parlamentarischen Verfahren noch einmal genau an-schauen .
Ich nehme auch die Sorgen vieler Experten sehr ernst,die davor warnen, dass die neuen Kapazitätsreserven zurRegulierungsfalle werden und zu mehr Verstaatlichungführen . Deshalb braucht das Instrument der Kapazitäts-reserve klare Grenzen . Die Reserven dürfen nicht zumeigentlichen Strommarkt werden . Das wäre ein Schritt indie Planwirtschaft, was wir definitiv nicht wollen.
Deshalb werden wir darauf drängen, dass der Bun-destag auch zukünftig angemessen an der Ausgestaltungder Reserve beteiligt wird . Im Übrigen ist ein wichti-ger Schritt zu mehr Markt und mehr Verlässlichkeit imMarkt, dass wir die Bilanzkreisverantwortung stärkenund dafür sorgen, dass die Bilanzkreisverantwortlichenden Strom, den sie gehandelt haben, auch anbieten . Auchdadurch sollen in Zukunft mehr Markt und mehr Wettbe-werb entstehen .Meine Damen und Herren, ein weiterer Aspekt ist mirzum Schluss noch wichtig . Ich glaube, wir brauchen auchim Strommarkt einen stärkeren europäischen Ansatz . Dasbringt nicht nur Effizienzvorteile, sondern auch Verläss-lichkeit und Sicherheit für unsere Stromversorger . Wirhaben hier in den letzten Jahren viele Alleingänge gese-hen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in unserenNachbarländern . Das muss sich in den nächsten Jahrenwieder ändern . Wir brauchen einen starken, abgestimm-ten Rahmen in Europa . Denn wenn Dinge wie die Kapa-zitätsreserve im Alleingang implementiert werden, kanndas auch negative Einflüsse auf uns haben. Instrumentewerden möglicherweise ausgehebelt oder laufen unserenVorstellungen sogar entgegen . Das wäre ein Schritt in diefalsche Richtung . Wir brauchen im Bereich des Strom-marktes mehr europäische Ansätze . Das gilt auch fürandere Bereiche der Klimapolitik; auch hier sollten wirmehr auf Europa setzen statt auf nationale Alleingänge .Deshalb halten wir das Braunkohlegesetz, das Sie hiervorschlagen, für einen Weg in die falsche Richtung .Meine Damen und Herren, vor uns liegen wichtigeintensive Beratungen des vorliegenden Gesetzentwurfs .Der Zeitplan ist sehr ambitioniert . Wir wollten eigentlichim März fertig werden; aber das schaffen wir nicht . Wirbrauchen etwas mehr Zeit; das zeigt die Erfahrung derletzten Jahre . Aber ich glaube, wir gehen den Weg in dierichtige Richtung, indem wir den Strommarkt verlässlichmit guten Rahmenbedingungen ausstatten im Sinne einersicheren und auch wirtschaftlichen Energieversorgung .Herzlichen Dank .
Der Kollege Oliver Krischer hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bereits zu Beginn der Legislaturperiode, bei der Grün-dung der Großen Koalition, wurde die Reform desStrommarktes als das große Meisterwerk von SigmarThomas Bareiß
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 153 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . Januar 201615104
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Gabriel gefeiert . Es gab dann Grünbücher, Weißbücher,Blaubücher, Violettbücher, und der Berg kreißte immerschneller – und nun haben wir das hier vorliegen . Wasjetzt herausgekommen ist, hätte ich – das muss ich ehr-lich sagen – nicht einmal von einer Großen Koalition er-wartet, obwohl wir da schon einiges gewohnt sind .Das Ergebnis Ihrer Reform des Strommarktes ist derEinstieg in die subventionierte Braunkohle . Das ist un-glaublich vor dem Hintergrund von Paris und dem über-fälligen Kohleausstieg, den wir eigentlich im Konsensmachen müssten .
Herr Minister Gabriel hat zu Beginn der Debatte denSatz geprägt – als Grüner, und das gilt wahrscheinlichauch für die Linken, käme mir ein solcher Satz gar nichtüber die Lippen –: Es darf kein Hartz IV für Kohlekraft-werke geben . – Ich würde solche Vergleiche nicht ziehen .Aber wenn man in seinem Bild bleibt, dann macht dieGroße Koalition jetzt genau das: Sie gibt Hartz IV fürKohlekraftwerke . Es wäre ja schön, wenn es nur der Re-gelsatz von 404 Euro wäre . Es sind aber 1,6 MilliardenEuro, die Sie den Kohlekonzernen hinterherwerfen fürKraftwerke, die niemand braucht und die die Konzerneteilweise selber stilllegen wollten, und für eine Reserve,die nicht erforderlich ist . Meine Damen und Herren, dasist unglaublich . Das hat mit Markt nichts zu tun . Das istPlanwirtschaft für Kohlekonzerne .
Wie Ihre Planwirtschaft aussieht – Herr Bareiß, HerrBeckmeyer, Sie haben eben so viel von Markt geredet –,das können Sie sich im Gesetzentwurf angucken .Meine Damen und Herren, ich zeige Ihnen hier dieFormel,
nach der die Vergütung von RWE und Vattenfall berech-net wird . Das Verrückte an dieser Formel ist: Die Kon-zerne können in weiten Teilen selber bestimmen, wie vielsie bekommen . Das ist ein Vorgang, der absolut unglaub-lich ist .
Jetzt erzählen Sie – das haben wir gerade wieder ge-hört –: Das Kernelement der Strommarktreform soll sein,dass die Preisspitzen an der Börse für die nötigen Signalefür Investitionen in Erzeugungsleistungen, Speicherlast-management und anderes sorgen . Zu der Überzeugungkann man kommen, dann muss man aber konsequenthandeln wie zum Beispiel der Staat Texas in den USA .Der macht das . Sie sagen: Der Markt soll es regeln, diePreisspitzen sollen Anreize setzen . Das heißt dann in derKonsequenz aber auch, dass der Strom auch einmal aus-fallen kann, wenn Angebot und Nachfrage nicht in Ein-klang zu bringen sind .Sie schaffen jetzt eine Netzreserve, eine Kapazitäts-reserve, eine Sicherheitsreserve, eine Braunkohlereserveund eine Lastabschaltreserve . Meine Damen und Herren,erklären Sie mir, was das mit Markt zu tun hat! Das istPlanwirtschaft in der Energiewirtschaft par excellence,an der Kohlekonzerne verdienen .
Ich sage Ihnen eines: Wenn sich dann an der Strom-börse tatsächlich die hohen Preise zeigen sollten, dannwerden wir von Herrn Pfeiffer, Herrn Bareiß, HerrnFuchs, Herrn Seehofer und allen anderen aus der ener-giepolitischen Todeszone doch wieder hören: Das kanndie Industrie nicht zahlen, die Strompreise sind zu hoch .
Und was wird dann passieren? Dann werden wir die mitMilliarden subventionierten Reservekraftwerke anwer-fen, und dann hat sich das mit Ihrem Strommarkt erle-digt . Das ist doch die Realität: Sie wollen gar keinenStrommarkt!Das eigentliche Problem an diesem Gesetzentwurf istalles das, was nicht drinsteht . Was drinsteht, ist schonschlimm genug . Aber das, was nicht drinsteht, ist dasgroße Problem; denn eigentlich müssten Sie sich jetztauf ein Energiesystem einstellen, in das zu 60 oder70 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien eingespeistwird . Das würde eine wirkliche Strukturreform bedeuten .Dann müsste man aber über neue Finanzierungsmecha-nismen jenseits der Börse reden . Das alles tun Sie abernicht . Ich sage Ihnen auch, warum Sie es nicht tun: Siewollen nämlich gar nicht in die Größenordnung von 60,70 oder am Ende 100 Prozent Strom aus erneuerbarenEnergien kommen .Wir haben vor ein paar Tagen einen Brief bekommen,aus dem hervorgeht, dass es darauf hinausläuft, dass nachPhotovoltaik und Biogas auch der Ausbau von Windener-gie an Land bei null ankommen soll . Das ist das Ziel Ih-rer Politik . Das ist keine Energiewende, das ist das exakteGegenteil davon .
Wir brauchen ein Strommarktgesetz, in dem Flexibi-lität wirklich die neue Währung ist . Wir brauchen eineReform der Netzentgelte . Wir brauchen vor allen Dingenendlich Anreize für den Ausbau von Energiespeichern,Herr Bareiß. Wir brauchen eine Speicherdefinition.
Von alldem ist in dem vorliegenden Gesetzentwurf nichtszu finden. Sie haben dazu allerdings ein paar schlaue Vor-schläge gemacht; das war einer der wenigen Lichtblicke,die aus der Unionsfraktion kamen . Aber dann sorgenSie jetzt bitte schön dafür, dass in den Gesetzentwurfaufgenommen wird, dass Speicher im Strommarkt eineZukunft haben, dass eine Entwicklung nicht weiter blo-ckiert wird . Es kann doch nicht sein, dass im Momentdie Speicher, die wir in Zukunft brauchen werden, abge-Oliver Krischer
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 153 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . Januar 2016 15105
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schaltet bzw . stillgelegt werden, dass selbst Pumpspei-cherkraftwerke stillgelegt werden .Aber die Hoffnung stirbt zuletzt . Vielleicht wird es inden parlamentarischen Beratungen dazu kommen, dassSie aus diesem völlig vermurksten Strommarktgesetzwenigstens in Teilen etwas machen, das uns in Zukunftvoranbringt, das Speicherung, Lastmanagement und Fle-xibilität in einem Energiesystem mit Strom zu 100 Pro-zent aus erneuerbaren Energien statt aus Kohle und Atomermöglicht . Bisher ist das noch nicht der Fall . Vielleichtwird es, wenn wir den Gesetzentwurf verabschieden,besser sein . Angesichts der Erfahrungen, die wir in derVergangenheit gemacht haben, habe ich allerdings wenigHoffnung . Aber wie gesagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt .Danke schön .
Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben heute die erste Lesung . Wenn ichhöre, dass dies der Einstieg in die subventionierte Braun-kohleindustrie sei und Hartz IV für Kraftwerke realisiertsei,
dann frage ich mich: Wie glaubwürdig ist das? Wie ist esmöglich, dass die Grünen in NRW, wo sie an der Regie-rung beteiligt sind, das anders sehen als die Grünen, dieheute hier gesprochen haben?
Und mit Blick auf die Linken frage ich mich: Wie ist daseigentlich in Brandenburg? Dort wird das auch ganz an-ders gesehen .
Letzten Endes können Sie über diese Reservekraftwerkeschimpfen, wie Sie wollen . Im Saldo – das müssen Siezugeben – wird weniger CO2 emittiert, und das ist einegute Maßnahme .Statistisch gesehen haben wir in Deutschland wenigerals zwölf Minuten Stromausfall pro Jahr . Wir verfügenalso über eine enorm hohe Versorgungssicherheit, dieden internationalen Vergleich nicht zu scheuen braucht,die durchaus als Eckpfeiler für den wirtschaftlichen Er-folg Deutschlands definiert werden kann.Diesen Wettbewerbsvorteil wollen wir natürlich er-halten . In einem sich aufgrund der Energiewende schnellund radikal ändernden Marktumfeld wollen wir dieVersorgungssicherheit auch für die Zukunft gewähr-leisten . Menschen sollen sich darauf verlassen können:Der Strom kommt immer aus der Steckdose – immer!Langfristig wollen wir für den Strommarkt Möglichkei-ten schaffen, den Verbrauch an die Erzeugung anpassenzu können . Bislang folgte die Erzeugung von Stromdurch den fossilen Kraftwerkspark im Wesentlichen derVerbrauchskurve . Im Zeitalter der Erneuerbaren mit ei-ner umweltfreundlichen, aber eben auch fluktuierendenEinspeisung soll sich die Verbrauchskurve auch an derStromproduktionskurve orientieren können .Wir produzieren insgesamt mehr Energie, als wir inDeutschland verbrauchen, und auf dem Papier habenwir mehr Kraftwerke, als wir eigentlich brauchen; aberdaraus lässt sich nicht einfach schließen, dass damit dieVersorgungssicherheit automatisch gewährleistet ist . Wirbilden einen Stromverbund mit unseren europäischenNachbarstaaten . Der Strom bewegt sich frei zwischendiesen Ländern . Zum Teil haben Kraftwerke in Deutsch-land Verträge mit dem Ausland, produzieren also garnicht mehr für deutsche Kunden . Deshalb müssen wirVersorgungssicherheit europäisch denken . Das ist einerder Leitgedanken dieses Gesetzentwurfs .Mit der heutigen ersten Lesung stehen wir zwar erstam Anfang des Gesetzgebungsverfahrens, aber nicht amAnfang des Prozesses . Wir sind längst mitten im Prozess .Das Bundeswirtschaftsministerium hat im vergangenenJahr zunächst das Grünbuch mit den ersten Überlegun-gen vorgestellt . Aus den Ergebnissen der Konsultationenentstand dann das Weißbuch, an das sich eine abschlie-ßende Konsultationsphase anschloss . Von einem „Blau-buch“ oder einem „Lilabuch“ ist mir nichts bekannt .
Man kann also sagen, dass alle am EntscheidungsprozessBeteiligten mehrfach die Möglichkeit hatten, ihre Anre-gungen einzubringen .Ergebnis des Prozesses war die Entscheidung, denWeg in Richtung Strommarkt 2 .0 einzuschlagen . Dabeiwird davon ausgegangen, dass sich die notwendigenKraftwerke auf dem Markt refinanzieren können. DieAlternative wäre gewesen, den Betreibern von Kraftwer-ken Geld dafür zu geben, dass sie einfach da sind undim Notfall einspringen können . Das wollen wir nicht .Am Beispiel Großbritannien sehen wir die Folgen einessolchen Kapazitätsmarktes: Es wird überwiegend Braun-kohle verstromt,
und der Strom ist deutlich teurer als gedacht . Die ge-wählte Variante „Strommarkt 2 .0“ ist quasi ein Flexibili-tätsmarkt und aus unserer Sicht deutlich besser . Das ent-Oliver Krischer
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spricht auch den Erfahrungen, die im Ausland gemachtwurden, zum Beispiel in Texas . Der Markt soll das mitmöglichst wenigen regulatorischen Eingriffen regeln .Wenn es um die Preisbildung geht, regeln wir also imGrunde, dass wir nichts regeln .Nebenbei wollen wir mit dem Gesetz auch einen Bei-trag zur Erreichung unserer Klimaziele leisten . Unterder Überschrift „Sicherheitsbereitschaft“ werden Braun-kohlekraftwerke faktisch stillgelegt . Dadurch kommt esnatürlich zu CO2-Einsparungen, die dazu beitragen, dasswir unsere Klimaziele erreichen können .Außerdem wollen wir für mehr Transparenz sorgen .Im Grunde soll sich jeder Interessierte zu Hause an sei-nem Computer über Stromproduktion, Stromverbrauchund jede Menge andere Daten in Echtzeit informierenkönnen, also quasi ein aktiver Verbraucher werden kön-nen .Ein weiteres Ziel ist es, die Bilanzkreistreue derStromvertriebe zu stärken . Im Grunde sollen die Ver-triebe durch die Bilanzkreistreue die Einspeisungenund Entnahmen in und aus dem Stromkreis stets aus-gleichen . Das gilt auch jetzt schon, ist aber unter ande-rem wegen der in zunehmendem Maße fluktuierendenEinspeisung nicht ganz einfach . Der Gesetzentwurfhebt das vorhandene Verbesserungspotenzial . Differen-zen zwischen Einspeisungen und Entnahmen werdenminimiert . Insbesondere soll durch höhere Strafen einAnreiz für mehr Bilanzkreistreue geschaffen werden .Über die obligatorische Bilanzkreistreue wird bereitsjetzt stark diskutiert .Ich möchte klarstellen, dass die Bilanzkreisverant-wortlichen in Extremsituationen nicht für Abweichungenhaften sollen, für die sie nichts können .
Zum Beispiel bei dem Stromausfall im November 2006,als die Papenburger Meyer-Werft ein Kreuzfahrtschiffüber die Ems in die Nordsee überführt hat und durch dieAbschaltung der Hochspannungsleitung in großen TeilenWesteuropas der Strom ausfiel, mussten die ÜNBs, dieÜbertragungsnetzbetreiber, die Bilanzkreise nicht ab-rechnen . Nach Verabschiedung dieses Gesetzentwurfsmüssen sie das; denn dann ist das verpflichtend. Durchdie verpflichtende Abrechnung der Bilanzkreise soll ver-mieden werden, dass ein Anreiz geschaffen wird, solcheExtremsituationen erst herbeizuführen . Also noch ein-mal: Die Bilanzkreise müssen auch in Extremsituationenkünftig verpflichtend abgerechnet werden, aber die Bi-lanzkreisverantwortlichen sollen nicht für Abweichun-gen haften, für die sie nichts können .Mit dem Strommarktgesetz, der Digitalisierung unddem EEG 2016 haben wir eine ganze Menge Aufgabenvor uns . Wir haben viel vor . Bei mir zu Hause sagt man:Gifft keen Flees, wor neet ok bunken in sitten . – Es gibtkein Fleisch ohne Knochen . Anders ausgedrückt: Nichtsist ohne Haken . Im Rahmen der parlamentarischen De-batten werden wir gemeinsam sicher die Knochen vomFleisch trennen können . Ich freue mich auf konstruktiveDiskussionen diesbezüglich .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Der Kollege Karl Holmeier hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die Energiewende ist eines unserer größten energiepo-litischen Projekte der Gegenwart und zurzeit natürlicheine große Herausforderung . Wir gehen den Weg in einneues Energiezeitalter, und dieser Weg ist richtig . Wirhaben uns vor Jahren auf den Weg gemacht, die Strom-versorgung in Deutschland komplett zu verändern . Wirgehen weg von Großkraftanlagen hin zu deutschlandweitverteilten Kleinanlagen . Wind, Sonne, Wasser, Biomasseund Geothermie sind künftig die Hauptquellen unsererEnergie von morgen . Dies dient auch einem umfassendenKlimaschutz .Bei unseren Entscheidungen lassen wir uns insge-samt von einem Zieldreieck leiten: Wirtschaftlichkeit,Umweltverträglichkeit und vor allem – es wurde schoneinige Male angesprochen – Versorgungssicherheit . Al-lein mit erneuerbaren Energien schaffen wir das nicht .Wir brauchen Energie, die auch dann verfügbar ist, wennder Wind nicht weht . Wir brauchen Energie auch dann,wenn die Sonne nicht scheint . Der Erfolg der Energie-wende hängt ganz wesentlich davon ab, ob wir Energiejederzeit liefern und damit stets Versorgungssicherheitgewährleisten können .Der Freistaat Bayern wird in den nächsten Jahren wei-ter erhebliche Kernkraftwerkskapazitäten verlieren . Bis2022 werden durch den Ausstieg aus der Kernenergiedeutschlandweit Kapazitäten in Höhe von etwa 10 Gi-gawatt stillgelegt . Diese verlorenen Kapazitäten gilt essinnvoll zu ersetzen . Es ist daher ein zentrales Anliegender Union und vor allem auch von uns Bayern, dass dieVersorgungssicherheit stets gewährleistet ist . Was zumBeispiel ein Stromausfall von einer Stunde kostet, habenwir vorhin schon gehört . Die Versorgungssicherheit hatfür uns also oberste Priorität .CDU, CSU und SPD haben mit den energiepolitischenGrundsatzentscheidungen am 1 . Juli des letzten Jahresden Weg in ein neues Energiezeitalter weiter abgesichert .Durch das Strommarktgesetz, das wir heute in die Be-ratung einbringen, werden die richtigen Rahmenbedin-gungen geschaffen . Die Stromversorgung wird volks-wirtschaftlich, kosteneffizient und umweltverträglichweiterentwickelt . Mit dieser größten Reform des Strom-marktes seit der Liberalisierung des Energiemarktes vor20 Jahren machen wir den Strommarkt fit für die kom-menden Generationen .Johann Saathoff
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Das Strommarktgesetz hat im Wesentlichen folgendeSchwerpunkte – auch das wurde bereits angesprochen –:Die bestehenden Mechanismen des Strommarktes wer-den gestärkt . Kern eines weiterentwickelten Strommark-tes und entscheidendes Marktinstrument ist das Preissig-nal . Benötigte Kapazitäten können sich am Strommarktrefinanzieren. Marktpreissignale sollen künftig möglichstunverzerrt wirken .
Dazu werden die Ziele und Grundprinzipien des weiter-entwickelten Strommarktes in das Energiewirtschaftsge-setz aufgenommen . Wir sichern eine faire und freie wett-bewerbliche Preisbildung .Generell gilt: Nur wenn die Akteure dem Markt trau-en, wird das Projekt gelingen . Wir müssen einen Marktmit so wenig Regulation wie nötig und so viel Wettbe-werb wie erforderlich schaffen . Wir bauen Eintrittsbarri-eren für Anbieter von Lastmanagementmaßnahmen undEEG-Anlagen im Regelleistungsmarkt ab . So könnenbestehende Kapazitäten kosteneffizienter und umwelt-verträglicher eingesetzt werden . Der Einsatz von Flexibi-litätsoptionen wird damit erleichtert . Wir reduzieren dieKosten des Netzausbaus durch effiziente Netzplanung.Durch eine Anpassung des Energiewirtschaftsgesetzesund des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2014 kann dieAbregelung von Erneuerbare-Energien-Anlagen in Zei-ten hoher Stromeinspeisung bei der Netzausbauplanungberücksichtigt werden .Wir erhöhen die Transparenz am Strommarkt . Trans-parente und aktuelle Strommarktdaten können künftig ef-fiziente Erzeugungs-, Verbrauchs- und Handelsentschei-dungen fördern . Ganz wichtig ist: Wir gewährleisten dieVersorgungssicherheit . Auch gerade wegen der veränder-ten Bedingungen am Markt soll der Strommarkt 2 .0 miteiner Kapazitätsreserve abgesichert werden .
Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu einer sicheren undwirtschaftlichen Stromversorgung in einem zunehmendvon erneuerbaren Energien geprägten europäischenMarkt . Die Reserve kommt zum Einsatz, wenn trotz frei-er Preisbildung an der Strombörse kein ausreichendesAngebot existiert, um einen Ausgleich zwischen Ange-bot und Nachfrage zu ermöglichen .Dazu werden wir Erzeugungskapazitäten außerhalbdes Strommarktes vorhalten und bei Bedarf einset-zen . Die Regelungen der Netzreserve werden über den31 . Dezember 2017 hinaus verlängert . In der Netzreservewerden seitens der Betreiber zur Stilllegung vorgesehe-ne, aber systemrelevante Kraftwerke zur Überbrückungvon Netzengpässen außerhalb des Strommarktes vorge-halten .Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der am 1 . Juli2015 vereinbarte Bedarf von weiteren 2 Gigawatt geradein Süddeutschland, der durch neue Kraftwerke gedecktwerden soll, verankert wird . Diese Kraftwerke sind fürSüddeutschland vorgesehen . Dabei ist wichtig, dass dasGaskraftwerk in Irsching weiter betrieben wird .
Wir müssen bei der Fortentwicklung des Strommark-tes und dem neuen EEG 2016 die Chancen nutzen, dieBiogas für die Grundlast bietet . Biogas muss eine Zu-kunft haben . Dies gilt insbesondere für den Bestand, dadie 20-jährige Förderung in den nächsten Jahren aus-läuft .
Weiter wollen wir das nationale Klimaschutzziel für2020 erreichen . Dazu werden wir beginnend ab 2016bestimmte Braunkohlekraftwerke schrittweise aus demMarkt nehmen und auch vorläufig stilllegen. Das betrifftBraunkohlekraftwerke mit einer Leistung von 2,7 Giga-watt . Das sind etwa 13 Prozent der in Deutschland instal-lierten Braunkohlekraftwerkskapazität .Schließlich verbessern wir das Monitoring der Versor-gungssicherheit . Der Bericht zur Versorgungssicherheitan den Strommärkten soll künftig mindestens alle zweiJahre erscheinen . Vor allem soll er Deutschland im Kon-text der europäischen Strommärkte betrachten .Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Umset-zung der Energiewende ist das bedeutendste energiepoli-tische Großprojekt der Gegenwart . Es ist eine Herausfor-derung für uns alle, und wir werden es packen .Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen . Ichwünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag und einschönes Wochenende und bedanke mich für die Auf-merksamkeit .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/7317 und 18/7369 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dannsind die Überweisungen so beschlossen .Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit demTitel „Deutscher Beitrag zu den UN-Klimaverhandlun-gen – Kohlendioxid als Umweltschadstoff definieren,Betriebszeiten von Kohlekraftwerken begrenzen“ . DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/7277, den Antrag der Fraktion Die Lin-ke auf Drucksache 18/3313 abzulehnen . Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen .Karl Holmeier
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDInnovative Arbeitsforschung für eine Huma-nisierung unserer Arbeitswelt und mehr Be-schäftigungDrucksache 18/7363Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss Digitale Agenda HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der KollegeDr . Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren!Im Oktober 2014 titelte die Welt: „Eltern bereitet dieDigitalisierung große Sorgen“ . Die Digitalisierung wer-de die Arbeitswelt radikal verändern . Eltern fürchtetendaher um sichere Jobs für ihre Kinder . So das Ergebniseiner Umfrage des Allensbach-Instituts .Damit sind wir auch schon mitten im Thema unsererheutigen Debatte, meine Damen und Herren, nämlichbeim Antrag der Koalitionsfraktionen zur innovativenArbeitsforschung .Drei Viertel aller Eltern rechnen mit zunehmendemLeistungsdruck, 70 Prozent mit steigenden Anforderun-gen für die Arbeitnehmer im Zuge der Digitalisierung .Doch wird es tatsächlich auch so kommen? Wie wirktsich die Digitalisierung, aber auch der Trend zur Indivi-dualisierung und zur Flexibilisierung auf die Arbeitsweltvon morgen konkret aus? Wie können wir die Prozessepositiv beeinflussen?Mit diesen wichtigen Fragen beschäftigt sich schonvon jeher die Arbeitsforschung . Ein erstes Programmder Bundesregierung gab es bereits 1974 . Damals hießdas „Humanisierung des Arbeitslebens“ . Das Programmwurde 1989 abgelöst durch das Programm „Arbeit undTechnik“ . 2001 folgte das Programm „Innovative Ar-beitsgestaltung – Zukunft der Arbeit“ . 2007 folgte „Ar-beiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln“ .Bestimmendes Element für die tiefgreifenden Verän-derungen der nächsten Jahre ist ohne Zweifel die Digi-talisierung . Wie lassen sich zum Beispiel angesichts vonArbeitsprozessen rund um die Uhr familienfreundlicheArbeitszeiten sichern oder gute Weiterbildung organisie-ren? Stichwort „lebenslanges Lernen“ .Gerade global agierende Unternehmen haben oft denBedarf, dass die Beschäftigten über die Kernarbeitszeit„nine to five“ hinaus verfügbar sind, beispielsweise umdie Kommunikation mit Zulieferern und Kunden in ande-ren Zeitzonen zu gewährleisten . Information, Feedbackund Kommunikation erfolgen also zunehmend in Echt-zeit .Andererseits wollen aber auch immer mehr Menschennicht mehr zu den üblichen Zeiten arbeiten, zum Beispielum sich ihrer Kinder anzunehmen oder sich um ihre An-gehörigen zu kümmern . Die zeitliche Entgrenzung derArbeit hat also viele Motive .Klar ist: Hinter allen neuen Techniken steht letztlichein Mensch, der sich verändern möchte oder muss, derNeues erdenkt und entwickelt, der nutzt, fühlt und ent-scheidet .Neben der Digitalisierung ist daher die Individuali-sierung ein zentraler Trend. Biografien sind Multigrafiengeworden . Lineare Lebensstile und -wege verschwindenzunehmend . Individualität ersetzt Uniformität . Dies zeigtsich nicht zuletzt auch in der rasanten Zunahme der Zahlindividualisierter Produkte und Dienstleistungen in dervirtuellen, aber natürlich auch in der realen Welt .
Auch Unternehmensstrukturen und Arbeitsräume ver-ändern sich . Wissens- und Kreativarbeiter rücken immermehr ins Zentrum des Wirtschaftens . Wir werden zuneh-mend selbstständig, auch wenn wir fest angestellt sind .Der Mitarbeiter wird zum Kunden, zum Partner oderauch zum Mitgestalter . Traditionelle Strukturen von Hie-rarchie lösen sich auf .Damit sind beispielsweise auch die Entwicklung offe-ner Arbeitsstrukturen und Managementkonzepte, die Au-tomatisierung von immer komplexeren Arbeitsaufgabenund flexible Modelle für Führung und Bindung gefragt.Der Trend „New Work“ hebt den Arbeitsbegriff auf eineganz neue Ebene . Diese neue Arbeitswelt der Zukunftverunsichert und fasziniert die Menschen gleichermaßen .Diese Unsicherheit gilt es zu überwinden und überholteGeschäftsmodelle loszulassen . Liebe Kolleginnen undKollegen, interessanterweise werden dabei Start-up-Kul-turen zu Vorbildern für etablierte Unternehmen .
All diese Themen fokussieren wir in dem Antrag, denwir vorgelegt haben . Die fünf zentralen Punkte will ichkurz herausgreifen .Erstens . Wir unterstützen ausdrücklich das vom Bun-desministerium für Bildung und Forschung im September2014 angekündigte Rahmenprogramm „Innovationen fürdie Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ .
Zweitens . Wir wollen den Wissenstransfer aus demArbeitsforschungsprogramm gerade zu den kleinen undmittleren Unternehmen sicherstellen; denn diese sindVizepräsidentin Petra Pau
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von ganz besonderer Bedeutung beim Wandel zur digi-talen Gesellschaft .Drittens . Wir wollen im Rahmen der Förderung vonProjekten zu Industrie 4 .0 Wissenslücken und Erkennt-nisbedarfe im Bereich der Arbeitsgestaltung und auchder Anforderungen an Sicherheit und Gesundheit der Be-schäftigten identifizieren.Viertens . Wir wollen, dass auch bei der Umsetzungder Hightech-Strategie der Bundesregierung Fragen derArbeitswelt der Zukunft und der Arbeitsbedingungen,beispielsweise eine verbesserte Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf, stärker berücksichtigt werden .Fünftens . Wir wollen die Fragen im Zusammenhangmit der Arbeitsforschung auch europäisch adressieren,das heißt, darauf hinwirken, dass sie in der EU-For-schungsförderung stärker Berücksichtigung finden; dennschließlich haben wir mit Horizon 2020 das nach wie vorgrößte Rahmenprogramm für die Forschungsförderungauf EU-Ebene aller Zeiten .
Meine Damen und Herren, der Antrag trägt mit diesenwichtigen Fragestellungen auch dazu bei, die Innova-tions- und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit unseresLandes zu sichern . Apropos Wettbewerbsfähigkeit: Ausaktuellem Anlass möchte ich noch drei Anmerkungen zurExzellenzinitiative und zu dem heute Morgen vorgestell-ten Imboden-Bericht machen:Erstens . Der Bericht hat nochmals klar bestätigt, wasExzellenz bedeutet . Exzellenz besitzen in Deutschlandbisher nur einige wenige Universitätsstandorte, die in-ternational von Bedeutung sind und als AushängeschildDeutschlands weltweite Bekanntheit haben .Zweitens . Entscheidend für den Erfolg von Exzellenz-konzepten ist eine starke Governance an den Hochschu-len . Das hat Herr Imboden heute noch einmal ausdrück-lich bestätigt . Diese ist nicht überall vorhanden . Das hater auch ausdrücklich so gesagt .Drittens . Bei der Bildung von Forschungs- oder Zu-kunftsclustern sollten wir auch darüber nachdenken, dassmehrere Unis gemeinsam antragsberechtigt sind .Im Lichte dieser Ergebnisse und auch der Diskussionauf Bund-Länder-Ebene sollten wir uns hier im Parla-ment rasch auf Eckpunkte für eine Neuausrichtung derExzellenzinitiative einigen . Eines sollte uns aber auchklar sein – und das sollten wir auch kommunizieren –:4 Milliarden Euro für diese Exzellenzinitiative sind einklares Signal dafür, dass wir, wenn es um die Exzellenzgeht, nicht nur kleckern, sondern auch in Zukunft weiterklotzen wollen .
Ich darf noch einmal zur Arbeitsforschung zurück-kommen . Mit der Gesamtausstattung des neuen Arbeits-forschungsprogramms von immerhin 1 Milliarde Eurosetzen wir hier international Maßstäbe; das muss ich aucheinmal sagen . Wir sind hier wirklich mehr als ordentlichaufgestellt, und ich finde, dazu dürfen wir uns als Parla-mentarier auch einmal alle selbst beglückwünschen .Abschließend noch ein ausdrückliches Lob für diesehr gute Zusammenarbeit an Sie, Kollege René Röspel .Man möchte sich fast wünschen, dass das häufiger so gutfunktioniert .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-
tion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Es geschehen Wunder bei der Großen Ko-alition . Ihr Antrag „Innovative Arbeitsforschung für eineHumanisierung unserer Arbeitswelt und mehr Beschäf-tigung“ benennt richtige und notwendige Schwerpunktefür die Forschung im Bereich Arbeit und Beschäftigung .
Sie folgen damit endlich den Vorschlägen der Linksfrak-tion,
die beispielsweise in dem Antrag „Soziale Innovationenund Dienstleistungen erforschen und fördern“ und indem Antrag „Europäische Forschungsförderung in denDienst der sozialen und ökologischen Erneuerung stel-len“ eingebracht wurden . Opposition wirkt also .
Hut ab! Nach dem Motto: „Überholen ohne Einzuho-len“ gehen Sie in Ihrem Antrag weiter, als ich es Ihnen jezugetraut hätte .
Dass Sie von der Union über Ihren Schatten springen undsogar die Frage, wie Mitbestimmung bei Heimarbeit undIndustrie 4 .0 erfolgen soll, als Forschungsthema benen-nen, überrascht .
Endlich auch eine Bestandsaufnahme zu starten, welcheAuswirkungen die Digitalisierung auf die ArbeitsweltDr. Stefan Kaufmann
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und verschiedene Berufe und Branchen haben wird, waslängst überfällig war, findet unsere Fraktion auch gut.
Allerdings vergessen Sie einen Bereich der Arbeits-welt nach wie vor völlig .
Zu einem innovativen und menschlichen Standort gehörteben auch eine innovative und menschliche Verwaltung .
Forschungsvorhaben bezüglich der Frage, wie die Di-gitalisierung in Behörden und in der Verwaltung effizi-ent, mitarbeiter- und bürgerfreundlich umgesetzt werdenkann, fehlen völlig, und auch die Forschung darüber, wiesich die Digitalisierung auf die Arbeitsbedingungen, dieMitbestimmung und die Arbeitsabläufe in Ämtern undMinisterien auswirkt, haben Sie schlichtweg vergessen .Betrachte ich also diesen Antrag für sich allein, könn-te ich jetzt die Rede mit einem „Befriedigend“ und demHinweis zur Überarbeitung zum öffentlichen Sektor be-enden .
Aber es reicht leider nicht, die richtigen Fragen zu stel-len, und es reicht auch nicht, nur die richtigen Forschun-gen in Auftrag zu geben . Entscheidend ist, wie die Ergeb-nisse der Forschung dann in Form von Taten umgesetztwerden .
Da versagt diese Koalition komplett .
So ist der Wissenschaft längst bekannt, dass Armut zuKonflikten, zu Krieg, Vertreibung und Flucht führt. Wasmacht diese Bundesregierung? Sie ignoriert das und ver-fehlt das Ziel, 0,7 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt fürEntwicklungshilfe bereitzustellen –
– seit Jahren –, konstant und klar mit 0,4 Prozentpunkten .
Damit verursacht diese Regierung letztlich weitereFlüchtlingsbewegungen .Aus der Friedensforschung ist längst bekannt, dassDiskriminierung zu schweren Konflikten führt.
Trotzdem schweigt diese Regierung zur Diskriminierungder Kurden in der Türkei .
Es ist schon erstaunlich, wie sich die Koalition hier feiertund gleichzeitig die Ergebnisse ihrer Forschung lockerignoriert .Schauen wir auf das Thema Arbeit und Bildung .
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizinund das Bundesinstitut für Berufsbildung ermittelten,dass häufige Wochenendarbeit körperlich und emotionalstärker erschöpft, zu höherem Stresslevel und Schlafstö-rungen führt und damit Gesundheitsrisiken wie Herz-infarkte und Depressionen steigen . Doch statt Wochen-endarbeit einzuschränken, fordert die Union in meinemHeimatland Thüringen, das Gesetz, welches Beschäftig-ten im Einzelhandel zwei freie Samstage je Monat garan-tiert, wieder abzuschaffen .
So ignoriert die Union die Ergebnisse der Wissenschaft .
Aber unsere linke Landesregierung wird den Beschäftig-ten das Recht auf freie Samstage erhalten;
denn wir berücksichtigen in unserem Handeln die For-schungsresultate zum Wohle der Menschen .Ein zweites Beispiel . Seit Jahren stapeln sich die Be-lege, dass das Kooperationsverbot im Bildungsbereich,
also das Verbot, dass der Bund Gelder für Bildung an dieLänder zahlt, für unseren Nachwuchs schädlich ist .
Trotzdem hat die Koalition dieses Verbot nur im Hoch-schulbereich aufgehoben .
Warum Sie erneut Erkenntnisse ignorieren, müssen Sieeinmal nachvollziehbar erklären .
Ralph Lenkert
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Wir Linke sind für die Aufhebung des Kooperationsver-botes in allen Bildungsbereichen .
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, den Antragwerden wir im Ausschuss wohlwollend begleiten . Siekönnen sich auf die starke Opposition verlassen . Wirwerden Sie an Ihre Vorhaben erinnern und zur Umset-zung der Forschungsergebnisse treiben .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, dass uns gerade ein sehr bunterStrauß unterschiedlichster Themen, die mit dem eigentli-chen Thema sehr wenig zu tun haben, präsentiert wurde .Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Sie schlichtneidisch darauf sind, dass wir im Bereich Arbeits-,Dienstleistungs- und Produktionsforschung wirklich einStück weitergekommen sind .
Anders als die Linken warten wir nicht auf Wunder,sondern wir krempeln die Ärmel hoch und setzen uns zu-sammen, was in einer Koalition nicht immer einfach ist .Aber, Herr Kaufmann, Ihr Lob kann ich Ihnen zurückge-ben . Wir haben das geschafft . Wir sind auf dem Weg hinzu einer guten Arbeitsforschung in den letzten Monatenein großes Stück weitergekommen . Das wird ein neuerImpuls werden .
Schaffung menschengerechter Arbeitsbedingungen:ein Ziel staatlicher Forschungsförderung . – Diesen Satzhat vor 40 Jahren – ich will auf das Urheberrecht hinwei-sen – der damalige Forschungsminister Hans Matthöfergesagt, als er das wirklich wegweisende Projekt – Kolle-ge Kaufmann hat es erwähnt – „Humanisierung des Ar-beitslebens“ auf den Weg gebracht hat .Dabei ging es um die Frage: Wie gehen wir mit die-sem technologischen Wandel, den wir erleben, um? Da-mals bezog sich das Programm eher darauf, den Arbeits-und Gesundheitsschutz für Arbeitnehmer tatsächlichzu verbessern oder überhaupt erst herzustellen und denJugendarbeitsschutz zu berücksichtigen . Man war nochnicht so weit, dem technologischen Wandel wirklich vo-rauszugehen . Aber vielleicht war damals der technologi-sche Wandel spürbarer als heute .Ich erinnere mich – einige von Ihnen vielleicht auch –:Meine Familie hat gegenüber einer Kohlenhandlung ge-wohnt . Als Kind habe ich jeden Tag gesehen, wie zweioder drei starke, kräftige Kerle – wahrscheinlich Männerohne Ausbildungsberuf – jeden Tag Zentner von Kohlenbewegt haben . Ich habe manchmal meiner GroßmutterKohlen bis unter das Dach im fünften Stock geschleppt,weil sie einen Kohlenofen hatte . Was war ich froh, alsendlich die Zentralheizung kam! Das bedeutete aber,dass die Kohlenhandlung irgendwann verschwundenwar, weil keiner mehr Kohlen brauchte .Das hatte einen großen Strukturwandel zur Folge . Ichkomme aus dem Ruhrgebiet, wo wir in den 50er-Jah-ren 500 000 Bergleute hatten . Heute sind es knapp über5 000 . Es hat also dramatische gesellschaftliche Auswir-kungen, wenn man das nicht vernünftig begleitet .Den Kohlenhändler gibt es nicht mehr . Aber im Be-reich des Sanitär-, Klempner- und Heizungswesens hates einen richtigen Schub an Technologie gegeben . Dasheißt, Arbeitsbedingungen und Technologie wandelnsich . Darauf muss sich die Gesellschaft vorbereiten .Es ist übrigens richtig: Nachdem von 1974 bis 1980das wichtige Programm „Humanisierung des Arbeits-lebens“ gelaufen ist, wurde es in den 80er-Jahren, von1984 bis 1989, von einem Forschungsminister fortge-setzt, der dann das Programm „Arbeit und Technik“ aufden Weg brachte, dem sogar ein breiter Innovations-begriff zugrunde lag und das nicht nur die Technik imBlick hatte . Wenn er anwesend wäre, würde ich HeinzRiesenhuber jetzt persönlich dafür loben . Aber er kannes im Protokoll nachlesen . Es war ein sehr weitsichtigerSchritt, Arbeits- und Dienstleistungsforschung fortzuset-zen . Er hat damals gesagt – ich zitiere –:Wer immer nur an Technik denkt, wenn von Inno-vationen die Rede ist, braucht sich über Misserfolgenicht zu wundern .Das heißt, der Innovationsbegriff ist beim Technologie-wandel viel breiter zu sehen als nur unter dem Gesichts-punkt, welche neuen Technologien wir haben .
Leider ist das in den 90er-Jahren in der Arbeitsfor-schung in den Hintergrund gerückt und hat an Bedeutungverloren . Deswegen bin ich sehr froh, dass es uns ge-meinsam in der Koalition gelungen ist, in den Koalitions-vertrag aufzunehmen, dass wir in enger Abstimmung mitden Sozialpartnern, weil Arbeitgeber und Gewerkschaf-ten wichtig sind und sich sehr gut damit auskennen, einneues Programm für Arbeits-, Dienstleistungs- und Pro-duktionsforschung auf den Weg bringen werden, und dasmachen wir . Mein Dank gilt dem BMBF, dass bis 2020 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt werden, damitwir erforschen können, wie sich Arbeit und Produktionverändern werden und wie der Technologiewandel mög-licherweise dazu beitragen wird, dass auch Lebenskon-zepte sich verändern, weil bestimmte Berufe vielleichtnicht mehr gebraucht werden .Herr Kaufmann hat auf die Ängste hingewiesen, diedamit verbunden sind, und einige Beispiele genannt . DenKohlenhändler gibt es nicht mehr, und wir werden se-hen, was sich noch alles verändern wird . Wir werden dreiEbenen im Blick behalten, die betroffen sind: den Men-schen – den Arbeitnehmer wie auch den Arbeitgeber –,
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die Gesellschaft und den Staat . Wir müssen uns anschau-en, wie sich die veränderten Produktionsbedingungen je-weils auf sie auswirken .Wichtig für den Menschen ist: Wie geht er mit einerDigitalisierung des Arbeitsplatzes um? Wie ist es, wennauf einmal die Vorstellung einer menschenleeren Fa-brik aufkommt? Von der Fraunhofer-Gesellschaft gibt esschon ein Pilotprojekt zur menschenleeren Fabrik . Sinddann nur noch Roboter am Werk? Was braucht man fürQualifizierungen, um in einer solchen Arbeitswelt einenArbeitsplatz zu finden oder behalten zu können? Vor allenDingen ist es auch wichtig, zu beachten, welche Verände-rungen das bei den Arbeitsbedingungen mit sich bringt .Die Kohlenzentner brauchen nicht mehr geschleppt zuwerden, aber die Auswirkungen von großem Stress unddie Folgen der Digitalisierung können auch sehr negativsein . Das bekommen wir im täglichen Leben zu spüren .Genau da setzen wir mit den Programmen an . Wichtigist es auch für Unternehmer, zu wissen, wie Arbeitsbe-dingungen aussehen müssen . Was bedeutet es, wenn demErfahrungswissen eines gut ausgebildeten Facharbeitersdie Algorithmen des Roboters gegenüberstehen? Wiemuss man das vernünftig vernetzen, damit gute Produktedabei herauskommenAm Ende ist die Frage – das mag das Beispiel derSteinkohle im Ruhrgebiet zeigen –: Was bedeuten dieseVeränderungen in der digitalen Welt, in der Technisie-rung, bei neuen Technologien bis hin dazu, dass man miteinem dreidimensionalen Drucker Unikate ausdruckenkann und die große Fabrik, die Tausende von Produktenherstellt, vielleicht nicht mehr gebraucht wird, für eineGesellschaft, und welche Antwort werden wir gebenmüssen?Deswegen ist es, glaube ich, ein großer Fortschritt,dass wir das jetzt mit dem Programm „Innovationen fürdie Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“auf den Weg gebracht haben . Wir werden selbstverständ-lich auch die Fragen von Partizipation, Teilhabe an Ent-scheidungen und Mitbestimmung beleuchten . Das gehörtnämlich dazu .
Ich darf zum Schluss meiner Rede Hans Matthöfer zi-tieren . Er hat 1976 gesagt:Der Kampf um menschengerechte Arbeitsbedin-gungen, um die Behauptung der Würde des Men-schen in der industriellen Arbeitswelt wurde nichterst heute begonnen und wird morgen nicht beendetsein . Er begleitet den gesamten Prozess der wirt-schaftlich-technischen Entwicklung .Heute würde man das vielleicht ein bisschen anders for-mulieren . Aber recht hat er gehabt . Diese Mahnung neh-men wir mit als Auftrag .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn Digitalisierung zu Umbrüchen in der Arbeitsweltführt, dann muss sich auch die Arbeitsforschung wan-deln . Der vorliegende Antrag der Koalition stellt hier-zu eine sinnvolle Diskussionsgrundlage dar, die jedochein paar blinde Flecken aufweist . Ihre Beschreibung derarbeitspolitischen Chancen und Herausforderungen istleider recht selektiv . Deshalb möchte ich Sie auf einigeblinde Flecken hinweisen .Erstens. Es findet sich kein Wort zur zunehmendenDiversität und Vielfalt der Belegschaften . Dies ist geradeangesichts unserer modernen Einwanderungsgesellschaftund der Debatten über Flucht und Integration mehr alserstaunlich .Zweitens . Das Thema Gleichstellung von Frauen undMännern taucht nur indirekt auf, und zwar wieder imZusammenhang mit der so wichtigen Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf . Es ist schade, dass die Koalition diesewichtigen Felder von Arbeitsforschung – Diversity undGleichstellung – nicht als Forschungsgegenstand klar be-nennt .
Dabei könnten Sie gerade hier Ratschläge der Wissen-schaft dringend brauchen; denn eine gerechtere Arbeits-welt und gute Arbeit für alle wird es nur geben, wenn wirBenachteiligungen gezielt abbauen und Forschungskon-zepte dies noch stärker berücksichtigen .
Drittens . Neue Smart Services sind nur dann nach-haltig, wenn sie neben effizientem Ressourceneinsatzfaire Beschäftigungsbedingungen bieten . Digitalisierungdroht sich genderspezifisch auszuwirken: Es ist auf demWeltwirtschaftsforum in Davos festgestellt worden, dassbesonders Arbeitsplätze von Frauen gefährdet sind . Eskann also durchaus dazu kommen, dass es nicht, wie esder Titel Ihres Antrags proklamiert, mehr Beschäftigunggeben wird, sondern weniger und anders verteilte . Wis-senschaft muss solche vielschichtigen Entwicklungenanalysieren, Empfehlungen entwickeln und in den gesell-schaftlichen Diskurs einspeisen . Sie müssen dann Konse-quenzen ziehen in Ihrer Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- undSozialpolitik .
Viertens . Wir teilen den Ansatz, die Forschungsagen-den gemeinsam mit den Sozialpartnern zu entwickeln .Das ist ein durchaus wichtiger Punkt .
Aber dabei dürfen Sie nicht diejenigen Betriebe undBranchen vernachlässigen, in denen es keine oder kaumMitbestimmung gibt . Genau dort bleibt das Risiko, dassdie Digitalisierung nicht zur Humanisierung der Arbeitführt, sondern zu Arbeitsverdichtung sowie zu ProblemenRené Röspel
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mit ständiger Erreichbarkeit und beim Datenschutz . Dasist ein wichtiger Punkt der Arbeitsforschung und offen-sichtlich ein blinder Fleck bei Ihnen .
Zur Realität gehört auch, dass es weiterhin Jobs mitgeringen Qualifikationsanforderungen gibt, häufig dannals prekäre Beschäftigungsverhältnisse . Die Arbeitsbe-dingungen dieser Beschäftigten dürfen nicht ignoriertwerden, sondern müssen intensiver erforscht werden, umLösungen zu finden, ihre Arbeitsbedingungen zu verbes-sern .Fünftens . Für den Transfer der Arbeitsforschungser-gebnisse nennen Sie als wichtige Zielgruppe kleine undmittlere Unternehmen . Das teilen wir . Leider führen Sienicht aus, wie die KMUs erreicht werden können . Eswäre hochgradig spannend, zu erfahren, wie das gelingensoll . Im Forschungsausschuss haben uns Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler von der Schwerfälligkeitder Antragsverfahren berichtet . Es wäre erfreulich, wennoffenere Programmstrukturen zu schnelleren Fördermög-lichkeiten führen würden .Nicht vernachlässigt werden darf bei aller Praxisori-entierung der Arbeitsforschung die Grundlagenforschungan sich, die Sie ebenfalls in Ihrem Antrag nicht adres-sieren . Deren Förderung ist vor allem unsere staatlicheAufgabe, weil einzelne Unternehmen diese in der Regelso breit nicht leisten . Bei der Suche nach kreativen Re-aktionen auf epochale Veränderungen in der Arbeitsweltkönnen wir darauf nicht verzichten .
Sechstens. Betrachtet man allein unsere Verpflichtungnach der Pariser Klimakonferenz, wird deutlich, dasswir unsere Produktionsweisen, Konsumgewohnheitenund Arbeitsweisen grundlegend verändern müssen . DasForschen für den Wandel und die Schaffung arbeitsöko-logischer Innovationen sind deshalb ein Gebot der Stun-de . Plakativ gesagt: Wir brauchen auch mehr Arbeitsfor-schung für eine Green Economy, damit wir den Wandelschaffen .Siebtens . Gerade bei der Technisierung personenbezo-gener Dienstleistungen stellen sich verstärkt ethische undsoziale Fragen, zum Beispiel bei den Branchen Pflege undMedizin, Stichwort „Pflegerobotik“. Diese Chancen undRisiken müssen in unserer Gesellschaft breit und fundiertdiskutiert werden . Deshalb bedarf es gerade auch bei derArbeitsforschung ethischer und sozialer Fragestellungen .Da kann sie einen wichtigen Beitrag leisten .
Es ist insgesamt, meine Damen und Herren, eine in-teressante Initiative der Koalitionsfraktionen, die wirjetzt hier im Plenum diskutiert haben . Wir sind gespannt,wie die Bundesregierung die Ergebnisse der Arbeitsfor-schung in ihrem politischen Handeln aufgreifen wird . Ichfreue mich auf die Debatte in den Ausschüssen .
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Rachel .
T
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Deutschland ist eine der führenden Wirt-schaftsnationen der Welt und ohne Zweifel ein sehr in-novatives Land . Wir möchten, dass das so bleibt . Aberunsere Art, zu wirtschaften, verändert sich – tiefgreifend,schnell . 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werdenin Deutschland mit Dienstleistungen erarbeitet, rund25 Prozent an den Produktionsstandorten .Die nun stattfindende Zusammenführung von Produk-tion auf der einen Seite und Dienstleistung auf der an-deren Seite führt zu einer neuen Art der Wertschöpfung,übrigens über Regionen und Kontinente hinweg . Durchhöhere Informationsflüsse und Vernetzung übernehmenMaschinen immer komplexere Aufgaben in den Unter-nehmen . Wirtschaftliche Transaktionen können praktischin Echtzeit geschehen .Zusammen mit den neuen Fertigungsmethoden wiedem 3D-Druck führt dies auch zu einer stärkeren Flexi-bilisierung der Produktion hin zur Individualisierung derProdukte . Ja, unser Standort ist stark . Innovationsfähig-keit, Sozialpartnerschaft, sozialer Zusammenhalt – alldies zeichnet unser Land aus .
Wir möchten gern, dass der Produktionsstandort,aber auch der Dienstleistungsstandort Deutschland starkbleibt . Manche befürchten aber den Verlust von Arbeits-plätzen durch die Digitalisierung der Arbeitswelt . Ja, eswerden auch Arbeitsplätze wegfallen, aber es werdenauch viele neue entstehen . Wir können und wir wollengenau diese Entwicklung mitgestalten . Wir müssen dieChancen der Digitalisierung durch kluge Innovationennutzen und gleichzeitig die Veränderungen so gestalten,dass wir am Ende mehr Arbeitsplätze erhalten und diesesogar noch menschengerechter gestalten können .
Wir haben mit dem großen Forschungsprogramm „In-novation für die Produktion, Dienstleistung und Arbeitvon morgen“ bis 2020 eine Investition von 1 MilliardeEuro vorgesehen . Das ist wahrlich ein großer Aufschlag .
Mit unserer Forschungsförderung waren wir übrigens dieErsten, die „Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwi-ckeln“ integrativ gedacht haben . Ich denke an die Fragedes Verhältnisses von Stabilität und Wandel, die heute imKontext von Industrie 4 .0 gestellt wird, aber schon 2009untersucht wurde, oder an die Rolle des präventiven Ar-beits- und Gesundheitsschutzes, die heute in aller Mundeist, die wir aber schon 2006 in unserer Forschungsförde-rung bearbeitet haben .Kai Gehring
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Die nunmehr anstehende Veröffentlichung des For-schungsprogramms „Zukunft der Arbeit“ greift die neu-en Herausforderungen am Arbeitsmarkt auf; denn für unssteht der einzelne Mensch im Mittelpunkt – und das auchin der digitalisiert veränderten Welt .
Wir haben das Programm in enger Abstimmung mitdem Arbeitsministerium, mit den Sozialpartnern, denGewerkschaften und den Arbeitgebern entwickelt undkonzipiert – ein neuer, ein qualitativer Schritt .Ziel der Arbeitsforschung ist es, mit wissenschaft-lichen Ergebnissen einen Beitrag zur Verbesserungder Arbeitsbedingungen in Deutschland zu leisten undgleichzeitig beschäftigungsfördernd zu sein . Das For-schungsprogramm „Zukunft der Arbeit“ zielt darauf ab,technologische und soziale Innovationen gleichermaßenvoranzubringen . Wir haben einen Gestaltungsanspruch,nämlich neue Methoden der Qualifizierung, der Gesund-heitsprävention, der Arbeitsgestaltung und -organisationin und mit den Unternehmen und den Beschäftigten zuentwickeln und sie in pilothafter Umsetzung in die Praxiszu überführen – und dies möglichst branchenübergrei-fend .Qualifizierung und Kompetenzentwicklung sind nachmeiner festen Überzeugung die entscheidenden Schlüs-sel, um sowohl die wirtschaftlichen als auch die sozialenPotenziale, die in der Digitalisierung stecken, zu heben .Die Kernfrage lautet deshalb: Welche Kompetenzen be-nötigen Beschäftigte und Unternehmen, um den Struk-turwandel für gute Arbeit und für wettbewerbsfähigeProdukte und Dienstleistungen zu nutzen?Wir verstehen dies als Gestaltungsauftrag . UnsereForschungsförderung will eben nicht nur das Phänomen„Industrie 4 .0“ beschreiben oder neue technologischeEntwicklungen ermöglichen, nein, wir wollen gleichzei-tig den Wandel gesellschaftsverträglich mitgestalten .
So werden wir eine Industrienation sein, die an der Spit-ze des Fortschritts steht, ein humanes Miteinander erhältund gleichzeitig ihre Wettbewerbsfähigkeit stärkt .Herzlichen Dank .
Der Kollege Dr . Ernst Dieter Rossmann hat für die
SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Kaufmann, Kollege Röspel, Sie haben HansMatthöfer erwähnt . Ich will das insoweit vertiefen, alsman von Hans Matthöfer wissen muss, dass er ausgewie-sener IG-Metall-Gewerkschafter war und zuletzt die Bil-dungsabteilung der IG Metall geleitet hat . Deshalb würdeer sich gefreut haben, wenn er gewusst hätte, dass es indem jetzigen Forschungsprogramm zu Dienstleistungund Arbeit ein ausdrückliches Kapitel gibt – Staatsse-kretär Rachel hat es eben angesprochen –, das den Titelträgt: „Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln“ .Nun muss man dazu sagen: Das steht zunächst aufdem Papier . Auch Hans Matthöfer würde kritisiert ha-ben: Wenn das die Auffassung der Sozialpartner und derBundesregierung ist, weshalb war es dann, verdammtnoch einmal, möglich, dass die IG Metall in ihrem letztengroßen Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustriedie Qualifizierung nicht so durchsetzen konnte, wie esfür die Zukunft nötig gewesen wäre? Wir müssen auchden Schritt von der Forschung in die Wirklichkeit schaf-fen . Das ist der Auftrag, auch vorgegeben durch das For-schungskonzept .
Hans Matthöfer wäre im Übrigen auch jemand, derauf der Basis der Mitbestimmung ein Konzept der Huma-nisierung der Arbeitswelt mitentwickelt hätte . Uns fälltauf, dass das Parlament hier präziser sein kann, als es dieRegierung wollte oder durfte; denn in dem Regierungs-programm steht neben sehr vielem Guten als Adressatimmer die Wirtschaft . In unserem Antrag sprechen wirvon Sozialpartnern und Mitbestimmung . Das ist präziser .
Das stellt einen Auftrag dar und ist eine Prämisse, un-ter der wir dieses Programm mitentwickeln wollen . Ichwill allerdings der Regierung auch ausdrücklich Aner-kennung zollen . Das Programm ist zusammen mit denSozialpartnern entwickelt worden, es ist mit den Ge-werkschaftsvorsitzenden zusammen vorgestellt worden .Aber der Geist, dass es keine nebulöse Wirtschaft gibt,sondern dass auch Interessengegensätze im Bereich derEntwicklung von Arbeit auszutragen sind und man nachbesten Wegen für gute Arbeit zu suchen hat, ist in unse-rem Antrag stärker ausgeprägt .Hier wurde viel Lob ausgesprochen . Der KollegeSchulz wartet schon die ganze Zeit auf ein Lob für dieHaushälter . Ich muss das Lob für die Haushälter mit einerkleinen Kritik verbinden . Schauen wir uns die Entwick-lung von 1974 bis 2016 an . Da hat es eine Phase gegeben,in der die Arbeits- und Dienstleistungsforschung nicht soetatisiert worden ist, wie sie es verdient gehabt hätte . Eshat dann einen neuen Einstieg mit einem neuen Rahmen-programm in der Regierungszeit von SPD und Grünengegeben . Wir dürfen auch feststellen, dass dann, wenndie SPD zusammen mit der CDU regiert, es besser fürdie Arbeits- und Dienstleistungsforschung ist, als wenndie CDU mit der FDP regiert .
Wir haben jetzt wieder ein hohes Niveau mit Tendenznach oben . Das wollen wir gerne anerkennen . Wir wollengar nicht darüber sprechen, dass das noch weiter verste-tigt werden muss, weil sich auch dieser Bereich durchneue Fragestellungen erweitern wird .Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
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Kollege Gehring, Sie haben vieles angesprochen, undwenn die Opposition einen Fachantrag derart behandelt,dann zeugt das schon von viel Zustimmung. Ich finde,wir vergeben uns auch nichts, wenn wir akzeptieren, dassSie und Herr Lenkert darauf hinweisen, dass man dieVerwaltung mit einbeziehen könnte; denn die Produkti-vitätssteigerung in Bezug auf die Dienstleistungen – ichnenne die neuen Strukturen, neue Kommunikationssys-teme, technologische Systeme, Arbeit, Entwicklung, Re-paratur, Vermittlung und Vernetzung – betrifft auch dieVerwaltung .Wenn wir eine leistungsfähige und moderne Verwal-tung haben wollen, dann muss dies auch in der Arbeits-forschung auftauchen . Das ist eine gute parlamentarischeAufgabe . Das ist im Übrigen eine Aufgabe, die auch diegesamte Regierung angeht .Ich will dazu nur noch einen kleinen Hinweis geben .Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller, Sie sitzen dort,weil auch das Arbeitsministerium unter anderem mitdem Grünbuch Industrie 4.0 Wesentliches mit entwickelthat, und das wird auch in diesem Konzept angesprochen .Die Botschaft kann also eigentlich nur sein: Was die Re-gierung vorgelegt hat, wird jetzt vom Parlament so ernstgenommen, dass es über einen differenzierteren Antragweiter begleitet wird . Ich will dazu nur sagen: Das hätteauch Hans Matthöfer gefreut .Im Übrigen gibt es einen wirklichen Wandel . Damals,in den 1970er-, 1980er-Jahren – Kollege Röspel hat esschon angesprochen –, ging es faktisch um Automa-tisierung; jetzt geht es um Vernetzung . Damals, in den1970er-Jahren, als diese Programme aufgelegt wurden,konnte man vom Technologischen her noch gar nicht anVernetzungsstrukturen denken, wie sie jetzt allgegenwär-tig sind . Insoweit geht es darum, den Ball aufzunehmenund die Humanisierung der Arbeit in der Industriegesell-schaft sowie in der Dienstleistungs- und Wissensgesell-schaft voranzutreiben . Das ist die Botschaft dieser ge-meinsamen Initiative .Danke schön .
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für
die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen undKollegen! Digitalisierung und Vernetzung, mobile End-geräte, selbstfahrende Autos, ständige Erreichbarkeit,Nachrichten und Informationen in Sekundenschnelleweltweit, Roboterproduktionsstraßen – wir haben in denvergangenen Jahren durch die zunehmende Digitalisie-rung einen rasanten Wandel erlebt, einen Wandel, der alleLebensbereiche umfasst .Schauen wir nur in unser direktes Umfeld: Die Kom-munikation verändert sich durch E-Mails und Kurznach-richten, auch wenn, zugegeben, in den vergangenen Wo-chen doch wieder der Brief an Bedeutung gewonnen hat .
Die Kommunikation hat sich auf jeden Fall verändert .Über Mobiltelefone können wir Wohnungen steuern .Während man früher von Geschäft zu Geschäft laufenmusste, um Preise zu vergleichen, schaut man heute insInternet und bestellt vielleicht auch online .Die Digitalisierung macht vor Fabrik- und Firmento-ren selbstverständlich nicht halt, und das ist auch gut so;denn die Digitalisierung, die Vernetzung von Wirtschaftund Industrie bieten viele Chancen .
Die Fertigungsprozesse werden flexibler, effizienter,nachhaltiger; sie lassen sich besser auf die Bedürfnisseder Kunden abstimmen . Neue Tätigkeitsfelder und inno-vative Geschäftsmodelle entstehen . Prozesse laufen ineiner nie dagewesenen Präzision und Geschwindigkeitfast in Echtzeit ab . Für unser Land ist die Digitalisierungvon herausragender Bedeutung . Wir müssen die Chancennutzen, und wir können es auch . Wer, wenn nicht wir?Viele fragen sich nun: Wie weit geht diese Digitalisie-rung? Wie sieht der Arbeitsplatz von morgen, die Fabrikvon übermorgen aus? Das sind sehr berechtigte Fragen,wie ich finde; denn schließlich sind fast 43 MillionenMenschen in Deutschland erwerbstätig, so viele wienoch nie in der Geschichte unseres Landes . Zwei Drittelvon ihnen erleben bereits heute den Wandel der Arbeits-welt durch Digitalisierung .Selbstverständlich erzeugen diese Veränderungen Un-sicherheiten, Fragen, Ängste: Werden durch den Einsatzvon intelligenten Robotern massenhaft Arbeitsplätzevernichtet? Wird es in Zukunft menschenleere Fabrikengeben? Wird der Mensch vielleicht sogar überflüssig inder Produktion? Gerade deshalb ist es mir wichtig, zubetonen: Wir wissen, dass der digitale Wandel nicht nureine technologische Dimension hat, sondern eben aucheine soziale .Wir sehen aber auch, dass die Digitalisierung vieleChancen und Verbesserungen gerade auch für den Men-schen bietet . Der Mensch wird auch weiterhin gebrauchtwerden – davon bin ich überzeugt –, nur eben anders alsheute . Es werden neue Berufsbilder und Anforderungenentstehen. Hier müssen wir vonseiten der Politik flexibelreagieren und auch unterstützen . Gerade deshalb ist dervorliegende Antrag zur Arbeitsforschung wichtig, näm-lich um die Frage nach dem Wie zu beantworten: Wiesieht die Arbeit in Zukunft aus?
Dabei ist es nicht so – das möchte ich betonen; es istauch schon angesprochen worden –, dass wir neu imFeld der Arbeitsforschung sind . 1974 wurde das ers-te Programm dazu auf den Weg gebracht . Jetzt stehendem Bildungs- und Forschungsministerium 1 MilliardeDr. Ernst Dieter Rossmann
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Euro – auch der Staatssekretär hat es angesprochen –für das Programm „Innovationen für die Produktion,Dienstleistung und Arbeit von morgen“ zur Verfügung .Im Haushalt 2016 sind für die Forschung für Produktion,Dienstleistung und Arbeit 89 Millionen Euro vorgesehen .Das sind nur zwei Zahlen aus dem Bildungsministerium .Andere Projekte sind bereits angesprochen worden . Auchdas Arbeitsministerium hat hierzu Programme .Mit unserem heute vorliegenden Antrag zur Arbeits-forschung führen wir also konsequent fort, was wiruns schon im Rahmen der Digitalen Agenda selbst insHausaufgabenheft geschrieben haben . Wir wollen dieneuen Herausforderungen gemeinsam mit Wirtschaft,Wissenschaft und Sozialpartnern angehen . Den digitalenWandel, den Wandel in der Arbeitswelt, können wir nurgemeinsam schaffen . Ich bin davon überzeugt: Wir wer-den die Megatrends der Arbeit wie Digitalisierung undVernetzung, Globalisierung, Flexibilisierung der Arbeit,der Arbeitszeit und der Arbeitsabläufe, demografischeEntwicklung, Qualifizierung und Qualitätssicherung, Be-schleunigung, Ökologie, Gesundheit und Kreativität derMitarbeiter, um nur einige Punkte zu nennen, hinbekom-men . Wer, wenn nicht wir?
Der vorliegende Antrag trägt wesentlich dazu bei .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7363 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie zu dem Antrag der Abgeord-
neten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin
Kassner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Energienetze zurück in die öffentliche Hand –
Rechtssicherheit bei der Rekommunalisie-
rung schaffen
Drucksachen 18/4323, 18/5274
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Florian Post für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Viele Kommunen stehen vor der Frage, ob sie ihre Netzeeinem privaten Netzbetreiber oder einem kommunalenBetrieb anvertrauen oder ob sie, als dritte Option, dazueine öffentlich-private Partnerschaft eingehen . Die SPDglaubt, dass gut durchgeführte Rekommunalisierungenvon Stromnetzen den Bürgern, den Kommunen und nichtzuletzt dem Wettbewerb dienen .Allein in Bayern laufen 2017 circa 200 Konzessions-verträge aus. Es gilt, eine effiziente und sichere Strom-versorgung auch in der Zukunft zu sichern . Grundsätz-lich können dies Kommunen genauso gut wie Private .Seit 2007 haben 80 Kommunen eigene Stadtwerke neugegründet und haben bereits 200 Gemeinden eine Kon-zession für das Stromnetz wieder selbst übernommen .Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit; ichhabe es eingangs angesprochen . Ich nenne die bayerischeMittelstadt Weiden in der Oberpfalz mit 42 000 Ein-wohnern . Dort hat der SPD-Oberbürgermeister Kurt Seggewiß den Weg gewählt, eine Kooperation mit derprivaten Bayernwerk AG einzugehen, wobei die Auftei-lung so ist, dass die kommunale Gesellschaft die kauf-männische Verantwortung trägt, aber die technische Be-triebsführung dem privaten Partner übertragen wurde,wodurch der Wunsch nach öffentlicher Kontrolle und derWunsch nach Expertise privatwirtschaftlicher Unterneh-men am besten zusammengeführt werden konnten .Die Rahmenbedingungen für Rekommunalisierungenmüssen klar geregelt sein . Ganz klar ist, dass wir gegeneine bedingungslose Rekommunalisierung sind . Hier giltes, objektive und damit nachprüfbare Kriterien einzuhal-ten .Die von den Linken in ihrem Antrag geforderten Klar-stellungen wird es geben . Schikanen von Altkonzessio-nären – zum Beispiel zu hoch angesetzte Kaufpreise, zuhohe Entflechtungskosten – werden von der SPD nichtakzeptiert werden . Die Konsequenz wären jahrelangeRechtsstreitigkeiten, die die Kommunen natürlich ver-meiden wollen, weshalb sie oftmals von einer Rekom-munalisierung Abstand nehmen .Auch werden wir regeln, dass künftig für die Kauf-preisermittlung grundsätzlich der Ertragswert maßgeb-lich sein muss . Es geht um den optimalen Netzbetrieb inStädten und Gemeinden . Mit „optimal“ meine ich: DieKriterien Effizienz, Verbraucherfreundlichkeit und Um-weltverträglichkeit müssen im Mittelpunkt stehen undgleichermaßen erfüllt werden . Einen Blankoscheck aller-dings, wie ihn die Linke in ihrem Antrag fordert, könnenund werden wir nicht ausstellen . Das Einzige, was nachunserem Dafürhalten von den Kommunen verlangt wer-den soll, ist, dass sie, wie gesagt, die Kriterien Effizienz,Umweltverträglichkeit und Verbraucherfreundlichkeiteinhalten . Die Kommunen erhalten nach unserem Vor-schlag sogar die Möglichkeit, diese Ziele frei zu gewich-ten und darüber hinaus als Nebenkriterium kommunaleEigeninteressen vorzusehen .Aber das kann kein Selbstzweck sein . Sollte sich he-rausstellen, dass eine Kommune diese Kriterien für eineDr. Wolfgang Stefinger
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Rekommunalisierung schlechter erfüllen kann als einPrivater, gibt es keine Rechtfertigung, warum trotzdemdie Kommune automatisch den Vorzug erhalten soll;denn das wäre nicht im Interesse der Bürgerinnen undBürger . Wir sind für einen gesunden, offenen und dis-kriminierungsfreien Wettbewerb, der keine Gräben zwi-schen öffentlicher und privater Wirtschaft aufreißt . DieGemeinde- und Stadtwerke sorgen überall in Deutsch-land für hohe Versorgungsqualität in vielen effizientgeführten Netzen . Damit das so bleibt, müssen wir denAntrag der Linken ablehnen . Wir werben natürlich fürunseren Vorschlag, der hier noch beraten werden wird .Danke schön .
Die Kollegin Caren Lay hat für die Fraktion Die Linke
das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstgestern konnten wir in der Zeitung lesen, was passierenkann, wenn private Konzerne die Energienetze in derHand haben: In Berlin steht Vattenfall im Verdacht, miteinem simplen Buchhaltungstrick den Bürgerinnen undBürgern zu hohe Netzentgelte abgeknöpft zu haben . Hierwird offenbar „geschummelt“ . Das ist ein Beleg dafür,dass „Strom- und Gasnetze besser in öffentlicher als inprivater Hand aufgehoben sind .“
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle hätte ichnicht nur Zwischenrufe von der CDU erwartet, sondernauch Applaus von der SPD . Denn das war gar nicht mei-ne Wortwahl, sondern die des SPD-Kollegen aus demBerliner Abgeordnetenhaus, Nikolaus Karsten .
Da hat er recht; denn Netze in öffentlicher Hand habenviele Vorteile: Sie sichern den Verbrauchern bezahlbarenStrom, den Kommunen eine gute Einnahmequelle . Wirals Linke wollen ökologische, demokratische Stadtwerkeals zentrale Akteure der Energiewende . Das ist der Weg .
Das Beste ist: Viele Kommunen wollen ihre Netzezurückhaben, auch Kommunen, deren Bürgermeister einCDU-Parteibuch haben; das möchte ich an dieser Stelleexplizit sagen, bevor Sie uns, wie bei den letzten Debat-ten zu diesem Thema, wieder die Zwangskollektivierungder Energienetze vorwerfen . Viele Kommunen wollenihre Netze zurück, und sie sollen sie auch rechtssicherzurückbekommen können .
Vielen Kommunen bietet sich gerade jetzt eine gro-ße Chance dafür . Die Konzessionen laufen aus . Bisherscheitert es an der Rechtssicherheit, die sie bei der Re-kommunalisierung nicht haben . Sie haben sie nicht, weildie alte Bundesregierung unter Beteiligung der Uniondas Gesetz ganz bewusst so geändert hat, dass den Pri-vaten die Möglichkeit eröffnet wurde, immer wieder vorden Gerichten gegen die Kommunen zu klagen . Das tunsie häufig mit Erfolg.
Das muss geändert werden . Das steht auch im Koaliti-onsvertrag. Das finde ich gut. Aber ehrlich gesagt: Bisherhaben Sie diese wichtige Chance verpasst .Wir als Linke stellen jetzt schon zum dritten Mal die-ses Thema hier zur Abstimmung . Ich selber frage seiteineinhalb Jahren bei der Regierung nach, wo denn dieNovelle des Gesetzes bleibt . Man wurde vertröstet . Wennich die Antworten ernst nehme, dann komme ich zu demSchluss: Es hätte hier schon vor einem Jahr ein Gesetz-entwurf vorliegen sollen . Alles, was wir bisher haben, istein Referentenentwurf, der irgendwo herumliegt, abernoch nicht hier eingebracht ist und noch nicht einmal in-nerhalb der Regierung fertig abgestimmt ist . So geht esnicht, meine Damen und Herren .
Ich glaube inzwischen, dass diese Verbummelungsstrate-gie nicht Unfähigkeit ist, sondern Absicht . Es scheint jaTeile in der Koalition zu geben, die einfach nicht wollen,dass die Kommunen in dieser Frage Rechtssicherheit ha-ben . So sieht es doch aus .Es stand schon vor ein paar Monaten in der Zeitung –ganz konkret: im Spiegel, wo genau darüber berichtetwurde –, dass selbst Minister Gabriel möglicherweise einInteresse hat, auf die Bremse zu drücken,
um den privaten Energiekonzernen ihre lukrative Ein-nahmequelle nicht zu nehmen . Die Netzentgelte sindnämlich ein schöner Goldesel, mit einer sicheren Renditevon 9 Prozent . Das sind die Interessen, die dahinterste-hen .Der Referentenentwurf, den Sie erwähnt haben undder auch mir bekannt ist, wird nach meiner Lesart nichthelfen . Die Inhousevergabe wird dort explizit abgelehnt .Nun ehrt es mich und meine Fraktion, dass wir in derBegründung des Gesetzentwurfs mit unseren parlamen-tarischen Initiativen auch erwähnt sind . Besser hätte ichFlorian Post
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es natürlich gefunden, die Argumente von uns und denkommunalen Spitzenverbänden hätten Sie überzeugt .
Die Inhousevergabe ist nach EU-Vergaberecht mög-lich . Und das ist auch kein Blankoscheck, Herr Kolle-ge, das ist kommunale Selbstverwaltung – kommunaleSelbstverwaltung, wie sie das Grundgesetz garantiert .Und genau die wollen wir stärken .
Es ist richtig, dass kommunale Belange berücksichtigtwerden sollen, aber auch nur dann, wenn sie den markt-freundlichen Zielen nicht widersprechen . Im Ergebnisbleibt es für die Kommunen unklar; im Ergebnis wirddas weiter vor den Gerichten ausgetragen . Ich kann diegroße Verbesserung für die Kommunen an dieser Stellebeim besten Willen nicht erkennen .Anderswo – ich komme zum Schluss – ist die De-batte schon weiter . Zum Beispiel hat das Land Berlinbeschlossen, das Land möge im Bundesrat für klarererechtliche Regelungen einschließlich der Möglichkeitder Inhousevergabe eintreten . Dieser Empfehlung einerEnquete-Kommission haben alle Fraktionen zugestimmt,außer der Union, aber auch der SPD, die in Berlin wie imBund mit der CDU gemeinsam regiert . Also: Fassen Siesich bitte ein Herz: Stimmen Sie heute unserem Antragzu! Die Kommunen werden es auch Ihnen danken .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Matthias Heider für die
CDU/CSU-Fraktion .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In fünf Mi-nuten ist so viel durcheinandergeraten, dass wir das ersteinmal sortieren müssen .
Um es vorweg zu sagen: 750 Stadtwerke in Deutschlandsind ein verlässlicher Partner . Sie sind verlässlich beimNetzbetrieb, bei der Energielieferung, beim Stromsparenoder bei Energiedienstleistungen . Stadtwerke spielen inder Gemeindewirtschaft eine große Rolle . Das tun sieseit vielen Jahrzehnten: Etwa seit Mitte des 19 . Jahrhun-derts sind Energieversorgungsdienstleistungen auch vonder öffentlichen Hand selbst angeboten worden . Nur, dieRahmenbedingungen haben sich im Laufe der Jahrzehn-te, insbesondere mit der Liberalisierung des Strommark-tes in Europa, verändert .Das unserer Wirtschaftsordnung zugrundeliegendeLeitbild ist das der sozialen Markwirtschaft . Es umfasstinsbesondere die Idee des Wettbewerbs auf den Märkten .Seit den 90er-Jahren haben wir in Deutschland einen li-beralisierten Strommarkt . Hier gibt es einen funktionie-renden, wenn auch regulierten Wettbewerb . Die Linkenwollen mit Ihrem Antrag diesen Wettbewerb beseitigen .Sie wollen mal eben das Grundprinzip unserer Wirt-schaftsordnung beseitigen und auf dem Energiesektoreinfach außer Kraft setzten .
Das Prinzip „fairer Wettbewerb“ muss jedoch auch beider Konzessionsvergabe gelten . Es muss oberste Prioritäthaben .
Auch die kommunalen Unternehmen müssen sich die-sem Wettbewerb stellen . Das Europäische Parlament hateine Systementscheidung getroffen: Netze müssen imWettbewerb vergeben werden . Das gilt auch bei uns inDeutschland .
Liebe Kollegen von der Linken: Haben Sie aus demVerfahren des Bundeskartellamtes gar nichts gelernt?Das Bundeskartellamt musste mehrfach wegen Wettbe-werbsbeschränkungen der Kommunen zulasten Dritterin die Vergabepraxis bei den Kommunen eingreifen . DieKommunen sollten daher bei der Vergabe der Wegenut-zungsrechte nicht ausschließlich zugunsten ihres eigenenStadtwerkes handeln .Schauen wir uns einmal an, was zwei Jahre vor Ver-gabe eines Konzessionsvertrages passiert . Die Vergabewird zunächst einmal bekannt gemacht . Es werden Aus-schreibungen gemacht, es wird verhandelt, verschiede-ne Anbieter werben für ihr Angebot . Meine Damen undHerren, da findet Wettbewerb statt. Da wird nicht einfacheiner ausgeguckt, der dort zu Hause ist, nämlich das ei-gene Stadtwerk, sondern es wird derjenige ausgesucht,der das wirtschaftlichste Angebot macht . Das erwartendie Verbraucherinnen und Verbraucher, nämlich dass einwirtschaftliches Angebot zum Zuge kommt .
Das hat auch der Bundesgerichtshof in seinem Urteilvom Dezember 2013 so gesehen . Er hat entschieden, dasseine Gemeinde, die den Netzbetrieb an einen Eigenbe-trieb übertragen möchte, sich gerade nicht auf die Grund-sätze der Inhousevergabe berufen kann . Nach Auffas-sung der Kartellbehörden und des Bundesgerichtshofesist die Kommune bei der Vergabe der Konzession in ihrerStellung marktbeherrschend, da nur sie die Wegerechtehat und diese an einen Netzwerkbetreiber vergeben kann .In einem solchen Fall ist es daher zwingend, dass wir dasVerfahren der Vergabe diskriminierungsfrei ausgestalten .Sie haben eben die Inhousevergabe genannt . Washeißt das eigentlich, Inhousevergabe? Da gibt es zweiKriterien: Es gibt zum einen die Kontrolle: Sie müssenüber ein Netzversorgungsunternehmen die Kontrolle wieüber eine eigene Dienststelle haben . Jetzt frage ich Sie:Caren Lay
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Welcher Bürger möchte das denn schon, dass seine Ener-gielieferung wie eine Dienststelle behandelt wird? Undes gibt zum anderen das Wesentlichkeitskriterium: DerAuftraggeber muss über den Auftragnehmer ganz we-sentlich die Kontrolle behalten können . Auch das ist mitWettbewerb so nicht zu vereinbaren .Die Einbeziehung der Grundsätze der Inhousevergabean dieser Stelle ist nicht nur risikoreich, sie ist auch euro-parechtlich nicht möglich, weil das energierechtliche Re-gime in Europa dort gerade diese Maßgabe nicht zulässt .Unser Bestreben ist es, zu einer wettbewerbsgemäßenVergabe zu kommen . Die Kommunen sollen nach IhrerAuffassung weitere Ziele, weitere gemeindewirtschaftli-che Ziele bei der Vergabe berücksichtigen können . Maß-stab bei der Netzübergabe müssen aber gerade objektiveKriterien sein, wie sie der Kollege Post gerade angespro-chen hat . Diese sind im § 1 des Energiewirtschaftsgeset-zes festgelegt: Versorgungssicherheit, Preisgünstigkeit,Verbraucherfreundlichkeit und Umweltverträglichkeit .Es sind Kriterien, die im Sinne der Verbraucherinnen undVerbraucher sind . Die gehören in ein solches Gesetz hi-nein .Im Übrigen sieht das auch der Referentenentwurf desBundeswirtschaftsministeriums zur Änderung des § 46EnWG vor, und die Frage ist, welche Interessen darüberhinaus noch als kommunale Belange Berücksichtigungfinden können. Nun, das können ganz einfache Dingesein, etwa beim Straßenbau: Wer hat sich als Bürger nichtschon mal darüber aufgeregt, dass achtmal die Straßeaufgerissen wird, um eine Gasleitung, eine Stromleitung,eine Wasserleitung und auch noch ein Kabel zu verlegen?All diese Dinge können bei einer Vergabe Berücksichti-gung finden. Auch deshalb wird es an dieser Stelle etwasmehr Rechtssicherheit geben .Zum wettbewerbsrechtlichen Aspekt . Sie, die Linken,suggerieren durch Ihren Antrag, die Rechtssicherheitkönne den Wettbewerb übertrumpfen, ja geradezu aus-schalten. Dazu ist zu sagen: Es findet auch beim Netzbe-trieb Wettbewerb statt . Stromlieferung und Netzbetriebsind schon getrennt . Es werden sich jedenfalls keine wei-teren Vorteile durch eine Inhousevergabe ergeben . DerNetzbetrieb ist an Regulierungsvorschriften gebunden:Um die Netzentgeltverordnung und die Anreizregulie-rungsverordnung kommt auch eine Gemeinde nicht he-rum .Als weiteres Moment nennen Sie die Investitionen indie Netze . Wir werden in den nächsten Jahren, bis 2030,23 Milliarden Euro in Netze investieren müssen . Dawünsche ich mir als Bürger, dass solche Entscheidungenim Wettbewerb getroffen werden und dass bei einer In-housevergabe nicht etwa nur die eigene Gemeinde zumZuge kommt . Das ist auch im Interesse niedriger Netz-entgelte . Denn sie wirken sich auf den Gesamtpreis aus,zu dem der Haushalt mit Strom versorgt werden kann .
Meine Damen und Herren, es ist letztendlich aucheine grundsätzliche Frage, wie weit die Gemeindewirt-schaft ausgeweitet werden kann – gerade vor dem Hin-tergrund, welche Züge das heute Morgen im Bundesratangenommen hat . Die Entsorgungswirtschaft stand dain Rede . Die Mehrheit der Bundesratsvertreter forderteeinfach einmal eben die Verstaatlichung aller dualen Sys-teme in Deutschland . Sie wissen: Das sind diejenigen,die im Rahmen der Verpackungsverordnung die System-dienstleistungen gewähren .
Wir brauchen nicht mehr Staat im Wettbewerb, wir brau-chen weniger Staat im Wettbewerb, damit diese Leistun-gen günstiger werden .
– Ich freue mich, dass Sie das Thema auch als wichtigerkannt haben und Sie sich noch einmal zu Wort meldenwollen .Im anstehenden Gesetzgebungsverfahren – da kommeich gerne zur Regelung des § 46 EnWG zurück – werdenwir keine Verstaatlichung der Netze weiter vorantreiben,sondern werden die kommunalen Belange, die vertretbarsind, mit einer besonderen Positionierung versehen . Eskann nur um Regelungen gehen, die auf Kosteneffizi-enz, auf Versorgungssicherheit gerichtet sind – jedenfallskeine anderen . Wir werden als Koalition dazu beitragen,dass es mehr Rechtssicherheit bei der Übergabe undÜbernahme von Netzen gibt . So haben wir es im Koaliti-onsvertrag vereinbart .Herzlichen Dank .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dr . Julia Verlinden das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Dieses Jahr droht die Energiewendezum Stillstand zu kommen; denn dreckige Kohlekraft-werke kriegen Milliardensubventionen und die erneu-erbaren Energien eine Obergrenze . Wenn es nach denPlänen der Union geht, dann sollte am besten gar keinWindrad und gar keine Solaranlage mehr gebaut werden .Was für ein herber Rückschlag, und was für eine wirt-schafts- und klimapolitische Kurzsichtigkeit!
Heute beraten wir einen Antrag zur Rekommunalisie-rung der Energienetze . Es existiert nach wie vor eine gro-ße Rechtsunsicherheit für Kommunen bei der Übernah-me der Verteilnetze . Das Engagement der Bürgerinnenund Bürger und auch der Kommunen vor Ort ist enormwichtig für die Akzeptanz und auch für den Antrieb derEnergiewende . Das hört eben nicht bei den Versorgungs-Dr. Matthias Heider
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anlagen für erneuerbare Energien auf; die Menschenwollen auch Mitbestimmung hinsichtlich der Infrastruk-tur für die Energiewende erhalten . Das wollen wir Grünemit ermöglichen .
Das Volksbegehren in Hamburg im Jahr 2013 zumBeispiel hat gezeigt: Die Hamburger wollen die Strom-,Fernwärme- und Gasleitungsnetze wieder vollständig inöffentlicher Hand sehen . Das Ziel einer sozial gerech-ten, klimaverträglichen und demokratisch kontrolliertenEnergieversorgung aus erneuerbaren Energien bekam dieMehrheit . So viel zu dem, was Sie eben gefragt haben:Wer von den Menschen will das denn? Sehr viele Men-schen wollen das offenbar, wie das Hamburger Ergebnisgezeigt hat .
Das überrascht mich in Zeiten von Handelsabkommenwie TTIP und CETA auch gar nicht, in denen sich Kom-munen vermehrt zu Wort melden und fordern, dass ihrewirtschaftliche Betätigung im Bereich der Daseinsvor-sorge und der kommunalen Infrastruktur nicht weitereingeschränkt wird und so zentrale Dinge wie die Trink-wasserversorgung nicht liberalisiert werden .Manche Kommunen arbeiten bezüglich der Energie-netze gut mit privaten Betreibern zusammen . Ande-re wollen es lieber selbst machen . Wieder dritte sehenin einer gemeinsamen Partnerschaft das beste Modell .Wichtig ist uns Grünen, dass a) die Kommunen selbstentscheiden können, welchen Weg sie gehen möchten,und b) dieser Weg dann auch rechtssicher ist . Denn dasgehört zu unserem Verständnis von verantwortungsbe-wusster öffentlicher Daseinsvorsorge .
Nach unserer hitzigen Debatte vor knapp einem Jahrsind wir bis heute nicht weitergekommen . Die Bundes-regierung hat die Rechtsunsicherheit, die sich für Kom-munen bei der Übernahme der Verteilnetze aus dem § 46Energiewirtschaftsgesetz ergibt, immer noch nicht besei-tigt . Im Übrigen sind diese Rechtsunsicherheiten auchfür Genossenschaften und private Unternehmen wenighilfreich .Staatssekretär Beckmeyer hat uns im letzten Märzversprochen, dass es bis zur Sommerpause einen Entwurfder Bundesregierung und dann auch ein parlamentari-sches Verfahren geben soll . Damals dachte ich, er meinedie Sommerpause 2015 . Da habe ich mich offenbar ge-täuscht .
Inzwischen liegt zwar ein Entwurf vor, der vielleichtnächsten Monat vom Kabinett beschlossen wird, aberwann das parlamentarische Verfahren startet und wanndie neuen Regelungen in Kraft treten können, das stehtin den Sternen .
– Ja, ich bin gespannt, Herr Post . – Aber das ist doch keinZustand .
Die Koalition scheint in der Energiepolitik ausge-brannt und zerstritten zu sein . Auch andere energiepoli-tische Vorhaben werden immer weiter nach hinten ver-schoben . Sie sollen aber doch die anstehenden Aufgabenlösen und nicht ständig alles vertagen .Sie von der Bundesregierung scheinen den Kommu-nen nicht zuzutrauen, selbst zu entscheiden, ob Sie diewichtige Aufgabe des Netzbetriebs übernehmen wollen .Denn eine Inhousevergabe wollen Sie in Ihrem Entwurfnicht zulassen .Darüber hinaus schaffen Sie neue Rechtsunsicherhei-ten . Zum Beispiel heißt es im Referentenentwurf zu § 46Absatz 4 EnWG:Bei der Gewichtung der einzelnen Auswahlkriterienist die Gemeinde berechtigt, den Anforderungen desjeweiligen Netzgebietes Rechnung zu tragen .Das wird in der Praxis zu einer erheblichen Rechts-unsicherheit führen, weil dann in jedem Einzelfall ein-gewandt werden kann, dass die Gewichtung den Anfor-derungen des Netzgebiets womöglich nicht Rechnunggetragen hat . Ich frage Sie: Soll das die neue Rechtssi-cherheit sein? Das ist nicht Ihr Ernst!Dass Sie die Rekommunalisierung der Verteilnetzenicht erleichtern wollen, das haben Sie von den Koali-tionsfraktionen ja schon in der ersten Lesung zu diesemAntrag im März letzten Jahres mehrfach angemerkt .Aber mehr Rechtssicherheit schaffen Sie mit diesem Ge-setzentwurf auch nicht .
Wir setzen uns seit Jahren dafür ein, dass endlicheine Rechtslage herbeigeführt wird, die Klarheit für dieKommunen schafft, die die Stromnetze selbst betreibenwollen . Denn Energiewende, sei es bei den erneuerbarenEnergien, bei der Energieeffizienz oder bei den Energie-netzen, geht nur zusammen mit den Bürgerinnen undBürgern und gemeinsam mit den Kommunen .Vielen Dank .
Der Kollege Johann Saathoff hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Im vergangenen Jahr haben wir an dieser Stel-le oft über die Verfahren zur Konzessionsvergabe gespro-chen . Wir Koalitionsabgeordnete haben betont, dass wirdas, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, baldDr. Julia Verlinden
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umsetzen wollen . Wir sind jetzt auf der Zielgeraden, mankann auch sagen: quasi einen Wimpernschlag vom Zielentfernt .
Der Referentenentwurf aus dem Ministerium ist Ih-nen nicht nur vermutlich, sondern, wie wir heute in derDebatte gehört haben, allen bestens bekannt . Die Län-der- und Verbändeanhörung ist abgeschlossen, und jetztlaufen die Arbeiten für einen Kabinettsbeschluss . Das istsehr wichtig für uns; denn es kann für die Legislative keinbefriedigender Zustand sein, wenn die Gesetzgebung derRechtsprechung hinterherhinkt . Deshalb bin ich froh,dass wir diesen Zustand in diesem Jahr beenden werden .„De Driever un de Esel denken selten gliek“ – derTreiber und der Esel denken selten gleich –, das gilt auchfür das Verhältnis von Alt- zu Neukonzessionär .
Wir wollen, dass es in vielen Bereichen der Konzessions-vergabe mehr Rechtssicherheit geben wird, sei es beimAuskunftsanspruch von Gemeinden, bei der Vergütungbeim Netzübergang oder bei den Rügeobliegenheiten .Außerdem muss die Konzessionsabgabe bei einer Ver-zögerung des Netzübergangs vom Altkonzessionär unbe-fristet weitergezahlt werden . Hier einfach zu behaupten,es sei keine Rechtssicherheit eingetreten, finde ich ge-rade in diesem Punkt nicht angemessen und nicht fair .Damit wären viele Streitpunkte in dem Entwurf und dierechtlichen Unsicherheiten entschärft .Beim Bewertungsverfahren – das gebe ich zu – seheich dringenden Handlungsbedarf, gerade im Fall einerRekommunalisierung . Egal ob die Kommune einen vielzu hohen Betrag an den Altkonzessionär zahlen mussoder ob sie wegen des vermeintlich zu geringen Betra-ges verklagt wird: Beide Fälle bedeuten für Städte undGemeinden ein enormes finanzielles Risiko. Von diesemDamoklesschwert wollen wir sie befreien . Gerade in Zei-ten, in denen die Kommunen ohnehin schon vor enormenHerausforderungen stehen, haben es die Kommunen ver-dient, dass wir sie in solchen Verfahren vor Unsicherhei-ten schützen .Beim Netzübergang vom Alt- auf den Neukonzessio-när besteht der Streit meist darin, dass sich Ersterer aufden Sachzeitwert beruft . Vereinfacht dargestellt bleibtdas Netz Eigentum der Gemeinde; denn diese entscheidetam Ende des Konzessionszeitraums darüber, wie es wei-tergeht . Der Neukonzessionär wird zwar formal Netz-eigentümer, es ist ihm aber eben nicht möglich, das Netzzu verkaufen und so den Sachzeitwert auch tatsächlich zuerlösen . Daher ist es für einen Konzessionär maßgeblich,welchen Gewinn er im Konzessionszeitraum erzielenkann, und deswegen wollen wir den objektiven Ertrags-wert als Richtschnur für den Netzübergang vorgeben .Davon unberührt bleiben sollen natürlich einvernehmlichRegelungen zwischen dem Alt- und dem Neukonzessi-onär . Dass Altkonzessionäre die Zahlungen einstellenkönnen, obwohl sie selbst der Bremsklotz sind, das hal-te ich für falsch . Auch hier wollen wir die Stellung derStädte und Gemeinden verbessern .Manchmal waren die Altkonzessionäre auch deshalbein Bremsklotz, weil sie sich geweigert haben, Kom-munen, die die Absicht hatten, ihre Netze neu auszu-schreiben, die notwendigen Daten über das Gas- unddas Stromnetz zur Verfügung zu stellen . Ich habe dieseErfahrung selbst gemacht . Als ich vor einigen Jahren alsBürgermeister die Konzession neu ausschreiben wollte,haben wir vom Altkonzessionär über Jahre hinweg keineDaten über das Netz erhalten . Wir mussten uns behel-fen und anhand der Straßen die Länge der Leitungen ab-schätzen . Das ist aber zum Beispiel in einer Fehngemein-de äußerst kompliziert, wo auf beiden Seiten der KanäleStraßen verlaufen . Das ist fast nicht möglich, zumindestmit enormen Unsicherheiten verbunden . Rechtssicher-heit im Sinne der Kommunen herzustellen, ist also drin-gend geboten . Es kann nicht sein, dass Kommunen durchdie Vorenthaltung der Daten und die damit verbundenenUnsicherheiten davon abgehalten werden, ihr Netz tat-sächlich zu rekommunalisieren .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Energieversorgungist Daseinsvorsorge; darüber sind wir uns einig . Auchin ländlichen Regionen, wo die Landschaft zwar toll,die Menschen aber rar sind, sollen alle mit Strom undGas versorgt werden, und zwar möglichst störungsfrei .Ich habe das eben in meiner Rede zum Strommarktge-setz schon einmal gesagt: Strom muss aus der Steckdosekommen – immer . Dazu muss das Netz in einem gutenZustand sein, und die Frequenz muss stimmen .Aber einem ökologischen Anspruch, den Sie im ver-gangenen Jahr auch schon gefordert haben, liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Linken, kann man mitdem Netzbetrieb nicht gerecht werden; denn den Flussdes Stroms kann man nicht beeinflussen. Einem ökolo-gischen Anspruch kann man nur durch den Ausbau dererneuerbaren Energien gerecht werden .
Das soll aber nicht bedeuten, dass die Kommunen beider Ausschreibung keine weiteren Kriterien berücksich-tigen können oder sollen als die fünf Ziele in § 1 EnWG:möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundli-che, effiziente und umweltverträgliche Energieversor-gung . Das können sie sehr wohl . Es kommt aber auf dieArt und die Gewichtung der Kriterien an . Hier herrschtmeiner Meinung nach erhebliche Unklarheit . Mit dieserFrage müssen wir uns im weiteren Verfahren noch be-schäftigen . Hier halte ich eine Klarstellung für dringendnotwendig .Nachdem wir im vergangenen Jahr mehrfach über den§ 46 EnWG gesprochen haben, werden wir das auch indiesem Jahr wieder tun, allerdings mit einem Gesetzent-wurf als Gesprächsgrundlage . Ich freue mich auf kon-struktive Diskussionen .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Johann Saathoff
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Das Wort hat der Kollege Dr . Andreas Lenz für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem
Antrag der Linken geht es um eine Bevorzugung der
Kommunen bei der Vergabe von Netzen . Die Linken
wollen wieder einmal den Wettbewerb einschränken, ja
aushebeln . Dabei schafft Wettbewerb Wohlstand .
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich habe über-
haupt nichts gegen Rekommunalisierung, aber nur dann,
wenn sich die Kommunen bzw . die kommunalen Unter-
nehmen dem Wettbewerb mit den privaten Unternehmen
stellen . Sie fordern in Ihrem Antrag eine grundsätzliche
Rekommunalisierung der Energienetze, konkret sollen
etwa Direktvergaben ohne Auswahlverfahren an kom-
munale Unternehmen zulässig sein, die sogenannten In-
housevergaben . Das würde zu einer Einschränkung des
Wettbewerbs um die Strom- und Gasnetze führen . Es ent-
stünde so die Gefahr steigender Nutzungsentgelte, also
steigender Strompreise für die Letztverbraucher . Anders
gesagt: Sie wollen Staatswirtschaft, wir wollen Markt-
wirtschaft . So schaut es doch aus .
Bei der Auswahlentscheidung ist die Gemeinde den
Zielen des § 1 Energiewirtschaftsgesetz verpflichtet; wir
hörten es gerade . Ziel ist eine möglichst sichere, preisgüns-
tige, effiziente und umweltverträgliche Versorgung der All-
gemeinheit mit Elektrizität und Gas . Das schließt wirksa-
me Klimaschutzkonzepte überhaupt nicht aus . Schon jetzt
haben die Kommunen bei der Vergabe nach § 46 EnWG
Spielraum bei der Formulierung von Auswahlkriterien . Sie
können natürlich auch selbst per Eigenbetrieb oder durch
ein kommunales Unternehmen an der Vergabe teilnehmen .
Letztlich geht es darum, dass nicht die Kommune von der
Ausschreibung profitiert, sondern der Kunde.
Zweifelsohne gibt es einen Trend zur Rekommunali-
sierung . Über 120 neue Energieversorgungsunternehmen
wurden seit 2005 gegründet, mehr als 200 Konzessionen
von kommunalen Unternehmen übernommen . Das ist
überhaupt nicht schlecht, das ist sogar sehr oft sehr gut .
Rekommunalisierung muss möglich sein und wird auch
möglich bleiben . Aber es ist immer eine Einzelfallent-
scheidung . Die Kommune muss immer prüfen, ob sie ein
Netz übernehmen kann, die Mittel und das Know-how
dazu hat . Das ist eben nicht immer der Fall .
Ich möchte noch auf Ihren Vorwurf der Missachtung
der kommunalen Selbstverwaltung eingehen . Kommunale
Selbstverwaltung heißt nicht, dass eine Rekommunalisie-
rung erfolgen muss . Ziel muss es sein, den Regulierungs-
rahmen so zu setzen, dass eine sichere, preiswerte und um-
weltverträgliche Energieversorgung gewährleistet wird .
Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Urteilen –
Kollege Heider hat darauf hingewiesen – klargestellt,
dass sowohl die Pflicht der Gemeinden zur Durchfüh-
rung eines Vergabeverfahrens wie auch die Bindung an
die Ziele des § 1 Energiewirtschaftsgesetz mit der kom-
munalen Selbstverwaltung in Einklang stehen . Es ist
nicht so, dass der Netzbetrieb eine kommunale oder eine
hoheitliche Aufgabe wäre . Die aktuelle gesetzliche Rege-
lung beschränkt also die Gemeinden nicht, sondern stellt
sie mit privaten Unternehmen gleich . Jede Kommune
kann mit einem eigenen Unternehmen oder einem Eigen-
betrieb am Wettbewerb teilnehmen und den Netzbetrieb
gegebenenfalls selbst übernehmen .
Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, die Vergabe und
den Netzübergang hinsichtlich der Verteilnetze eindeutig
und rechtssicher zu regeln . Das Bundeswirtschaftsminis-
terium hat hierzu einen Referentenentwurf vorgelegt . Im
Rahmen der parlamentarischen Behandlung des Gesetz-
entwurfes können wir hierzu gerne noch einmal diskutie-
ren . Es gibt durchaus bei der einen oder anderen Stelle
Diskussionsbedarf .
Der Entwurf sieht insgesamt eine Konkretisierung
der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsverträ-
gen vor . So werden für die beteiligten Unternehmen und
Gemeinden die Rechts- und auch die Planungssicherheit
beim Netzübergang verbessert . Außerdem wird dadurch
die für die Energiewende notwendige Modernisierung
der Verteilnetze beschleunigt .
Wir stehen also für Wettbewerb, Sie für Zwangsver-
waltung . Wettbewerb hat eine heilsame Wirkung; denn
er zwingt zu Effizienz und Kostendisziplin und sichert
dadurch den Verbrauchern die beste Leistung zum besten
Preis . So ist das in der Marktwirtschaft . Ihren Antrag leh-
nen wir deshalb ab .
Schönes Wochenende und herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Energienetze zurück in die öffentliche Hand – Rechts-
sicherheit bei der Rekommunalisierung schaffen“ . Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5274, den Antrag der Fraktion Die Lin-
ke auf Drucksache 18/4323 abzulehnen . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 17 . Februar 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen alles
Gute bis dahin .