Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Die heutige Sitzung habe ich auf Grund eines Antra-
ges der Fraktion der SPD und im Einvernehmen mit den
übrigen Fraktionen gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 des
Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages einbe-
rufen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich
bekannt, daß nach der Mandatsniederlegung des frühe-
ren Kollegen Oskar Lafontaine, die am 16. März er-
folgte, die Abgeordnete Gudrun Roos als Nachfolgerin
am 29. März die Mitgliedschaft im Deutschen Bundes-
tag erworben hat. Ich begrüße die neue Kollegin sehr
herzlich.
Sodann möchte ich einigen Kollegen, die in den zu-
rückliegenden Tagen einen runden Geburtstag feiern
konnten, gratulieren. Ihren 60. Geburtstag feierten der
Kollege Carl-Dieter Spranger am 28. März und der
Kollege Dr. Martin Pfaff am 31. März. Seinen 70. Ge-
burtstag konnte der Kollege Hans-Eberhard Urbaniak
am 9. April begehen. Ich spreche den Kollegen im Na-
men des Hauses nachträglich die besten Glückwünsche
aus.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Eidesleistung des Bundesministers der Finanzen
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom
18. März 1999 folgendes mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für
die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf
Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers den Bundes-
minister der Finanzen, Oskar Lafontaine, aus sei-
nem Amt als Bundesminister entlassen.
Weiterhin hat mir der Herr Bundespräsident mit
Schreiben vom 12. April 1999 mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für
die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute
auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Herrn
Hans Eichel zum Bundesminister der Finanzen er-
nannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid. Herr Bundesminister Hans Eichel,
ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten.
Herr Bundesminister, ich bitte Sie, den Eid zu spre-
chen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich
schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen
Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von
ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun-
des wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissen-
haft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben
werde. So wahr mir Gott helfe.
Meine Damen undHerren, Herr Bundesminister Hans Eichel hat den vomGrundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich darf Ih-nen im Namen des Hauses für Ihr Amt die besten Wün-sche aussprechen.
Zugleich danke ich dem ausgeschiedenen Bundes-minister Oskar Lafontaine für seine Tätigkeit alsMitglied der Bundesregierung und als Mitglied desHauses. Für seine weitere Zukunft wünsche ich ihm al-les Gute.
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2620 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999
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Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:Abgabe einer Regierungserklärung des Bundes-kanzlersAktuelle Lage im KosovoEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derPDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä-rung drei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Herr Bundeskanzler, Gerhard Schröder.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf dem in-formellen Treffen des Europäischen Rates gestern inBrüssel, an der auf meine Initiative auch der Generalse-kretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, teilnahm,haben die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Ent-schlossenheit bekräftigt, das Morden und die Deporta-tionen im Kosovo nicht hinzunehmen. Sie haben eben-falls deutlich gemacht, daß hierzu der Einsatz militäri-scher Mittel nach wie vor notwendig und moralisch undpolitisch auch gerechtfertigt ist. Das Besondere liegt nundarin, daß im Europäischen Rat ja nicht nur die Staats-und Regierungschefs jener Mitgliedsländer der EU ver-treten sind, die zugleich Mitglieder der NATO sind,sondern auch jener, die als neutrale Länder diese Positi-on unterstützt haben. Das macht einmal mehr deutlich,wie sehr in dieser entscheidenden, wichtigen Frage diewestliche Staatengemeinschaft ohne Ausnahme zusam-mensteht, weil der Anlaß für dieses Zusammenstehendie Werte und die Grundorientierungen der Europäer,des europäischen Zivilisationsmodells berührt. Wir wa-ren uns auf diesem informellen Rat einig darüber, wiewir gemeinsam mit unseren Partnern zu einer politischenLösung kommen können, wenn – das ist dick zu unter-streichen – die Voraussetzungen dafür geschaffen wer-den. Ich werde auf das Ergebnis dieses Treffens im ein-zelnen später noch zurückkommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, immernoch und immer wieder hören wir die Frage, warum die-ser militärische Einsatz sein mußte. Wir hören dieseFrage nicht zuletzt deshalb, weil noch keine Bundesre-gierung vor diese schwere Entscheidung gestellt wordenist, deutsche Soldaten – mit allem, was damit an Gefähr-dungen für unsere Soldaten verbunden ist – zu einemmilitärischen Kampfeinsatz gemeinsam mit unserenPartnern innerhalb der NATO zu entsenden. Mir liegtdaran, auch hier vor dem Hohen Hause noch einmal zuerläutern, warum wir letztlich um diesen schwerenSchritt, um diese grundlegende Entscheidung, die sichwirklich niemand in der Bundesregierung und sicherauch hier im Hohen Hause leichtgemacht hat, nicht her-umgekommen sind und warum wir uns zu diesemSchritt haben entschließen müssen. Der gelegentlich ge-äußerte Einwand, daß man zuwenig auf die Möglich-keiten der Diplomatie und zu schnell und zu stark aufdie Möglichkeiten des Militärs gesetzt habe, geht fehl.In den Wochen und Monaten vor Beginn der Luft-schläge hat die internationale Gemeinschaft nichts un-versucht gelassen, um eine politische Lösung des Kon-fliktes zu erreichen. Demjenigen, der versucht, in direk-ten Gesprächen oder durch welche Instrumente auchimmer, eine Lösung zu erreichen, sei gesagt: Milosevicist es gewesen, der jegliche Lösung, die möglich gewe-sen wäre, verhindert hat – und zwar deshalb verhinderthat, weil dieser verbrecherische Präsident sein eigenesVolk, die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovound die Staatengemeinschaft, die nun wirklich bereitwar, auch mit ihm zu verhandeln und eine politische Lö-sung des Konfliktes zu suchen, ein ums andere Malhintergangen, ja betrogen hat. Das ist die traurige Wahr-heit, mit der man sich auseinanderzusetzen hat.Monatelang haben der EU-Sonderbeauftragte Petritschund sein amerikanischer Kollege Hill, dann auch ge-meinsam mit dem russischen Unterhändler Majorski, mitden Konfliktparteien Gespräche geführt und dabei denBoden für ein wirklich faires Abkommen bereitet.In Rambouillet ist mehrere Wochen lang hartnäckigverhandelt worden. Das dort vorgelegte Abkommensollte die Menschenrechte der albanischen Bevölke-rungsmehrheit im Kosovo, aber auch – das gilt es zuunterstreichen – die territoriale Integrität Jugoslawiensgewährleisten. Diesem Abkommen hätten beide Parteien– nicht zuletzt wegen der zuletzt genannten Passage –zustimmen können und nach meiner festen Überzeugungauch zustimmen müssen.Wir haben eine weitere Frist von zwei Wochen einge-räumt, um die Bedenken der Konfliktparteien zu zer-streuen. Nach Ablauf dieser Frist haben wir uns erneutin Paris zu Verhandlungen getroffen. Die Kosovo-Albaner – das ist ein Stück Zeitgeschichte – haben demAbkommen schließlich zugestimmt.Der Bundesaußenminister als EU-Ratspräsident, derrussische Außenminister Iwanow, der OSZE-Vorsit-zende Vollebaek und schließlich Richard Holbrooke alsSondergesandter der Vereinigten Staaten haben Milose-vic bis zuletzt in Belgrad zur Annahme des Abkommensgedrängt. Die Belgrader Führung aber hat alle, wirklichalle politischen Vermittlungsversuche scheitern lassen.Während sie vorgab, über den Frieden zu verhandeln,hat sie jene Mord- und Vertreibungskampagne fortge-setzt, die sie in den vergangenen Wochen systematischverschärft hat.Die jugoslawische Regierung hat von Anfang an anden Feldzug der ethnischen Säuberung geglaubt undihn geplant, einen Feldzug, dessen Zeuge wir heute sind.Das, meine Damen und Herren, kostete bis jetzt Tausen-de von Menschen im Kosovo das Leben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie alleDeutschen sind wir hier im Deutschen Bundestag, binich über die täglichen Bilder vom Flüchtlingselend er-schüttert. Wir haben die Bilder von gesprengten Häuserngesehen, und deportierte Augenzeugen haben unsSchreckliches berichtet. Wer vor diesem HintergrundUrsache und Wirkung verwechselt und meint, er müßteder NATO, der westlichen Staatengemeinschaft, vorwer-Präsident Wolfgang Thierse
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fen, sie habe zu dem Elend beigetragen, der begeht einenschrecklichen Irrtum oder eine bewußte Verleumdung.
Dies alles ist das Werk jugoslawischer Militär- undPolizeikräfte. Gleichgültig, wen man trifft oder in wel-chen Interviews man versucht, es zu bestreiten, es ändertnichts an den Tatsachen: Vertreibung und Mord warenlängst im Gange, als die NATO ihre Militäraktion be-gann, und sie hat sie nur begonnen, um der Deportation,der Vertreibung ein Ende setzen zu können.
– Sie müssen aufpassen, daß Sie sich nicht langsam denVorwurf einhandeln, von der fünften Kolonne Moskauszur fünften Kolonne Belgrads zu werden.
Ich sage hier ohne Wenn und Aber: Diesem Verbre-chen zuzusehen wäre zynisch und verantwortungslosgewesen. Die NATO mußte auf die Eskalation der Ge-walt reagieren. Wir wissen seit Kroatien, Bosnien undHerzegowina mit über 200 000 Kriegsopfern, daß sichEuropa mit Zuwarten erneut schuldig gemacht hätte.Die NATO ist eine Wertegemeinschaft. Gemeinsammit unseren Partnern kämpfen wir im Kosovo für unsereWerte: für Menschenrechte, für Freiheit und für Demo-kratie. Bei unserem Engagement geht es auch darum,wie das Europa des nächsten Jahrhunderts aussehen soll.Wollen wir Europäer es nach den Erfahrungen mit zweischrecklichen Weltkriegen in diesem Jahrhundert wirk-lich zulassen, daß Diktatoren unbehelligt mitten in Eu-ropa wüten können?Die Bundesregierung hat klare Vorstellungen, die siegemeinsam mit ihren Partnern verfolgt. Wir wollen diehumanitäre Katastrophe und die schweren und systema-tischen Menschenrechtsverletzungen möglichst schnellbeenden. Wir wollen eine friedliche politische Lösungfür den Kosovo erreichen.Klar bleibt dabei: Die Bundesregierung wird auchweiterhin mit ihren Partnern in der NATO und in der EUfest zusammenstehen und Gewalt gegen unschuldigeMenschen nicht hinnehmen. Es ist uns klar, daß wir da-bei nicht allein auf militärische Lösungen setzen dürfen;das wollen wir auch nicht. Es ist uns klar, daß wir mitunseren Bemühungen um eine politische Lösung desKonfliktes nicht nachlassen dürfen.Genauso klar ist jedem von uns – Gott sei Dank be-steht darüber in diesem Hohen Hause auch kein Streit –:Bei einer solchen Lösung sollte Rußland eine wichtigeRolle spielen.
Die Bundesregierung steht in engem Kontakt mit derrussischen Führung. Wir sind auch gern bereit, mit demneuernannten russischen Jugoslawien-BeauftragtenTschernomyrdin sehr bald zusammenzutreffen und mitihm zusammen auszuloten, was unter Beteiligung Ruß-lands geht und was nicht. Ich setze darauf, daß sichMoskau noch stärker in die internationalen Bemühungenum eine friedliche Lösung einschaltet. Dies gilt geradeauch für den Beitrag Moskaus im Rahmen der VereintenNationen, also für die Initiative, die der Generalsekretärder UN ergriffen hat. Wir sind uns gewiß alle einig: DieKrise auf dem Balkan darf die guten Beziehungen zwi-schen Europa und Rußland und zwischen Deutschlandund Rußland nicht, aber auch wirklich nicht beeinträch-tigen.
Rußland ist ein wichtiger Faktor der Stabilität und derSicherheit auf unserem Kontinent. Wir wollen deshalbauch den von der russischen Führung eingeschlagenenReformweg nach Kräften weiter unterstützen.In diesem Zusammenhang ist in diesem Hohen Hauseauch klarzustellen: Eine Politik, wie ich sie gekenn-zeichnet habe, funktioniert nur auf der Basis der festenEinbindung in die westliche Staatengemeinschaft, in dieNATO.Es bleibt unser Ziel, so schnell wie möglich die Vor-aussetzungen dafür zu schaffen, daß die Flüchtlinge undVertriebenen sicher in ihre Heimat zurückkehren kön-nen. Solange dies noch nicht der Fall ist, sollten dieMenschen vorrangig in der Region versorgt werden. Dasist aus humanen Erwägungen gerechtfertigt und auspolitischen Gründen notwendig; denn Milosevic darfnicht der Triumph gegönnt werden, seine Politik derethnischen Säuberungen auf indirektem Wege zu reali-sieren.
Das ist aber auch deshalb wichtig, weil die Menschendort kulturell eingebunden sind, dort im wahrsten Sinnedes Wortes ihre Heimat haben und ihre Heimat behaltenwollen. Jede andere Politik würde uns zum faktischenErfüllungsgehilfen der Belgrader Vertreibungspolitikmachen.Albanien und Mazedonien, zwei kleine und wahr-lich arme Länder, tragen derzeit die überwiegenden Fol-gen der skrupellosen Politik Milosevics. Auch dasscheint Teil seines Planes zu sein: die Destabilisierungdieser beiden Länder, ja die Destabilisierung der ge-samten Region. Wir können die Anrainerstaaten mitdem Problem nicht allein lassen. Eine solidarische An-strengung der internationalen Gemeinschaft gegenüberdiesen Ländern ist unabdingbar. Auch dies war Gegen-stand der gestrigen Beratungen in Brüssel und wird er-neut Gegenstand der Beratungen im Rat der Innenmi-nister und im Allgemeinen Rat, also im Rat der Außen-minister, sein.Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang ein Wortder Anerkennung und des Dankes an die vielen Mitbür-gerinnen und Mitbürger, die in dieser Notlage durchBundeskanzler Gerhard Schröder
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Spenden und anderweitige Hilfe ein Zeichen der Solida-rität mit den Unterdrückten gesetzt haben.
Das zeigt deutlich, daß es vielleicht doch nicht richtigist, wenn bezogen auf die Befindlichkeit der Deutschenallzuviel von Materialismus und zuwenig von Solidari-tät, von der Fähigkeit zum Mitleiden und zum Helfendie Rede ist.Die Bundesregierung hat ihrerseits erhebliche Mittelfür die Versorgung der Flüchtlinge und der Vertriebenenbereitgestellt. Auch die Europäische Union hat Sonder-mittel zur Verfügung gestellt, um das Flüchtlingselendzu mildern und eine Destabilisierung der Nachbarländerzu verhindern. Über eine Luftbrücke fliegt die Bundes-wehr nach wie vor Nahrungsmittel, Zelte, Decken undÄrzte in die Region.Wir haben erklärt, daß wir bereit sind – darüber gibtes zwischen den entscheidenden politischen Kräften indiesem Haus und im Bundesrat keine Differenzen –,eine angemessene Anzahl von Flüchtlingen vorüberge-hend, bis zu einer Lösung der Krise dort, in Deutschlandaufzunehmen. Das ist bereits sichtbar geschehen. Auchdas ist ein Zeichen der Solidarität der Deutschen mit de-nen, die unter Vertreibung und Krieg zu leiden haben.Vor dem Hintergrund dessen, was wir leisten, erwartenwir allerdings von unseren Partnern in Europa und in derAllianz, daß auch sie einen angemessenen Teil der La-sten zu tragen bereit sind.Wir sind sehr besorgt über die Lage in Montenegro.Wir unterstützen die demokratisch gewählte Führungdieser jugoslawischen Teilrepublik unter Präsident Dju-kanovic. Ich möchte an dieser Stelle die Belgrader Füh-rung ausdrücklich davor warnen, die Lage in Montene-gro zu destabilisieren. Eine solche Politik müßte weitereernsthafte Folgen für die jugoslawische Regierung ha-ben.Ich bin fest davon überzeugt, daß nur die Geschlos-senheit der gesamten internationalen Gemeinschaft Mi-losevic zum Einlenken bewegen wird. Vor dem Hinter-grund unserer deutschen Geschichte darf es an unsererVerläßlichkeit, an unserer Entschlossenheit und an unse-rer Festigkeit keine Zweifel geben. Die EinbindungDeutschlands in die westliche Staatengemeinschaft istTeil der deutschen Staatsräson. Einen Sonderweg kannund wird es mit uns nicht geben.
So schwer es dem einen oder anderen auch fällt: Wirmüssen erkennen, daß sich Deutschlands Rolle nachdem Zusammenbruch des Staatssozialismus, vor allenDingen nach der Erlangung der staatlichen Einheit ver-ändert hat. Wir können uns unserer Verantwortung nichtentziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldatenzum erstenmal seit dem zweiten Weltkrieg in einemKampfeinsatz stehen. Sie erfüllen eine schwierige undgefährliche Mission mit Gefahren für Leib und Leben,die wir nicht ausschließen können. Ich möchte daherauch vor diesem Hohen Hause noch einmal den Solda-ten, aber auch ihren Familien, die um sie bangen, für ih-re Arbeit, für ihren Einsatz und für das, was sie aushal-ten müssen, herzlich danken.
Sie sollen wissen – sie spüren es an Ihrem Beifall –, daßdieses Hohe Haus ihren Einsatz für die Menschlichkeitund einen dauerhaften Frieden wohl zu würdigen weiß.Der Bundesregierung und allen NATO-Partnern istnatürlich bewußt, daß die jetzige Krisenbewältigung imKosovo eine längerfristige Stabilisierungspolitik fürSüdosteuropa nicht ersetzen kann. Unsere Politik richtetsich nicht gegen die Menschen in Jugoslawien. Wirwollen ihnen vielmehr eine Perspektive und die Zuver-sicht geben, daß sie zu Europa gehören.Der Balkan – das ist klar – braucht europäische Hilfe.Jugoslawien braucht, wie Deutschland 1945, Demokrati-sierung, wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbaueiner wahrlich zivilen Gesellschaft. Umfassende Maß-nahmen zur langfristigen Stabilisierung, zu Sicherheit,zu Demokratisierung und zu wirtschaftlicher Gesundungder Region sind notwendig. Eine Art Marshallplan fürden Balkan muß her. Mir ist bewußt, daß ein solcherPlan nicht zum Nulltarif zu haben sein wird. Europakann und darf sich dieser Aufgabe aber nicht entziehen.Wenn von Kosten die Rede ist, dann gilt allemalmehr und allemal wieder, daß diejenigen Ressourcen,die wir für die ökonomische und die soziale Entwick-lung, für die Entwicklung der Infrastruktur in dieser Re-gion zur Verfügung stellen, besser eingesetzt sind alsdiejenigen Kosten, die wir für leider notwendige militä-rische Interventionen zur Verfügung stellen müssen.
Es muß jedem klar sein: Einen dauerhaften Friedenwird es in dieser Region nur geben, wenn wir den Staa-ten der Region klarmachen, daß sie ein Recht auf Annä-herung an Europa haben und daß wir ihre ökonomischeund soziale Entwicklung nach vorne bringen wollen.Wir wollen sie für das europäische Modell gewinnenund der Demokratie auf dem Balkan und damit demFrieden endgültig zum Durchbruch verhelfen. Das istder Grund, warum die deutsche EU-Präsidentschaft inder vergangenen Woche einen Stabilitätspakt für denBalkan vorgeschlagen hat, einen Pakt, an dem die Part-nerländer mitarbeiten wollen. Es geht der Bundesregie-rung um eine echte Alternative zum fanatischen Natio-nalismus, der die Region nach all den bitteren Erfahrun-gen dieses Jahrhunderts erneut ins Unglück gestürzt hat.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zumSchluß auf das gestrige Treffen der Staats- und Regie-rungschefs der Europäischen Union im einzelnen zu-rückkommen. Wir haben eine intensive und von großemErnst getragene Diskussion mit dem Generalsekretär derVereinten Nationen geführt und in vielen Punkten Über-einstimmung festgestellt. Ich halte es für außerordentlichwichtig, daß nicht nur die NATO und die neutralenStaaten der Europäischen Union, sondern die Staaten-gemeinschaft insgesamt in dieser so grundlegenden undBundeskanzler Gerhard Schröder
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wichtigen Frage mit einer Stimme spricht. Wir warenuns einig in unserer Entschlossenheit, das Morden unddie Deportationen im Kosovo nicht hinzunehmen. Wirsind uns einig, daß der Einsatz schärfster Maßnahmeneinschließlich militärischer Aktionen nach wie vor not-wendig und gerechtfertigt ist.Wir wollen miteinander einen multiethnischen unddemokratischen Kosovo, in dem alle Menschen in Frie-den und Sicherheit leben können. Die jugoslawischenBehörden müssen wissen, daß wir sie für die Sicherheitund das Wohlbefinden der Vertriebenen im Kosovo ver-antwortlich machen. Die Staats- und Regierungschefsunterstützen deshalb die Initiative des Generalsekretärsder UN vom 9. April 1999, die die Forderungen der in-ternationalen Gemeinschaft zusammenfaßt, und habenklargestellt, daß von diesen Forderungen, die Ihnen be-kannt sind und die ich hier nicht weiter erläutern muß,nicht abgegangen werden kann und nicht abgegangenwerden wird. Die Forderungen lauten in der Substanz:sofortige Beendigung aller Gewaltakte, Rückzug allermilitärischen Kräfte – auch der Sonderpolizei – undStationierung internationaler militärischer Kräfte sowiedie Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen.Die Staats- und Regierungschefs stimmen in der Auf-fassung überein, daß es jetzt an den jugoslawischen Be-hörden liegt, die internationalen Forderungen ohne Ab-striche anzunehmen und umgehend mit ihrer Umsetzungzu beginnen. Dies – nur dies und nur in dieser Reihen-folge – würde eine Suspendierung der militärischenMaßnahmen der NATO erlauben und den Weg für einepolitische Lösung öffnen. Dies und nur dies ist auch Ge-genstand der Vorschläge, die der deutsche Außenmi-nister entworfen, gemacht und eingebracht hat. Für dieseInitiative schulden wir ihm alle Dank.
Wir werden uns für die Verabschiedung dieser Prinzipi-en in einer Resolution des Sicherheitsrats der VereintenNationen unter Kapitel VII einsetzen.Die Staats- und Regierungschefs haben ihre Unter-stützung für ein politisches Abkommen über den Koso-vo erneuert, das auf dem aufbaut, was in Rambouilletbereits erreicht war. Sie verständigten sich auf Eck-punkte einer Übergangsordnung im Kosovo, die unmit-telbar nach dem Ende des Konflikts hergestellt werdensoll. Insbesondere soll die Einrichtung einer internatio-nalen Übergangsverwaltung vorgesehen werden; dabeihaben die Staats- und Regierungschefs deutlich ge-macht, daß das Europa der 15 bereit ist, diese Über-gangsverwaltung unter die Obhut der EuropäischenUnion zu nehmen. Auch das macht deutlich, daß Europain außen- und sicherheitspolitischen Fragen mehr undmehr mit einer Stimme spricht. Das ist eine Vorausset-zung, um im Konzert der internationalen Staatengemein-schaft noch ernster genommen zu werden, als es bislangder Fall war.Es geht um den Aufbau einer Polizei im Kosovo, diedie dortige Bevölkerung repräsentiert und nicht kujo-niert. Es geht um die Durchführung von freien und fai-ren Wahlen und um die Stationierung internationalerSicherheitskräfte, die für den Schutz aller Bevölke-rungsgruppen im Kosovo sorgen sollen.Bei dem Treffen bestand Einigkeit über die großeBedeutung einer engen Zusammenarbeit mit der Russi-schen Föderation und über deren Beitrag für eine Lö-sung des Kosovo-Problems. Diesen Beitrag halten wirfür eminent wichtig.Bekräftigt wurden die Beschlüsse des AllgemeinenRats vom 8. April 1999 über die humanitäre Hilfe fürFlüchtlinge und Vertriebene und über die Unterstützungfür die Nachbarstaaten der Bundesrepublik Jugoslawien.Diese können sich – ich sage das noch einmal – der So-lidarität der europäischen Mitgliedstaaten sicher sein.Schließlich waren wir uns darüber einig, daß die Eu-ropäische Union zu einer Konferenz über Südeuropaund Südosteuropa einladen wird, um weitere umfas-sende Maßnahmen zur langfristigen Stabilisierung, Si-cherheit, Demokratisierung und vor allen Dingen zurwirtschaftlichen Gesundung dieser Region zu beschlie-ßen. Alle Staaten der Region sollen nach unseren Be-schlüssen das Recht haben, eine Perspektive auf Annä-herung an die Europäische Union zu entwickeln. DieEuropäische Union ist dazu bereit.Das heißt, die Vertreter der Europäischen Union, derNATO und der Generalsekretär der Vereinten Nationensind sich in der Bewertung der Sachlage und der Vorge-hensweise einig. An diesem Kurs, an dem die Bundesre-gierung, an dem der Bundesaußenminister mitgewirkthat, wird die Bundesregierung ohne Abstriche und ent-schlossen festhalten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun
der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Kollege Wolf-
gang Schäuble.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt die deutscheBeteiligung an den NATO-Aktionen im Kosovo. Ver-treibung, ethnische Säuberung und Völkermord dürfennicht geduldet werden, schon gar nicht in Europa. Eswäre fatal, wenn die zynische Rechnung von Milosevicaufginge.Wir danken den Soldaten der Bundeswehr genausowie den Soldaten der Streitkräfte unserer Verbündetenfür ihren entschlossenen und zugleich beherrschten Ein-satz.
Die Soldaten und ihre Familien können sich auf unsereSolidarität verlassen. Wir wissen um unsere Verant-wortung.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Wir begrüßen und unterstützen die Hilfe für Flücht-linge und Vertriebene vor Ort. Die heimatnahe Versor-gung muß Vorrang haben, damit eine rasche Rückkehrder Flüchtlinge möglich ist und damit wir nicht am EndeMilosevics Vertreibungspolitik noch unterstützen. Na-türlich ist es selbstverständlich, daß auch bei uns in be-grenzter Zahl Flüchtlinge und Vertriebene vorüberge-hend Aufnahme finden müssen. Auch dies unterstützenwir.Ich finde übrigens, wir sollten darauf achten, daß dieAuswahl derjenigen, Herr Bundeskanzler, die für einevorübergehende Unterbringung nach Deutschland oderüberhaupt nach West- und Mitteleuropa kommen, nichtso zufällig und willkürlich erscheint, sondern daß dieje-nigen hierhergebracht werden, denen vor allen Dingenmedizinische Hilfe geleistet werden muß. Das machtviel mehr Sinn, als wenn durch das Zufallsprinzip derAuswahl noch mehr Familien auseinandergerissen wer-den.Im übrigen muß in diesem Zusammenhang klar sein,daß sich europäische Solidarität auch darin verwirkli-chen muß, daß die Europäische Union bei der vorüber-gehenden Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenenals Ganzes in der Solidaritätspflicht steht und daß wirdeshalb auf eine faire und gerechte Lastenverteilungunter allen Mitgliedsländern der Europäischen UnionWert legen.Die Spenden- und Hilfsbereitschaft unserer Bevölke-rung ist groß. Dem Dank, den der Bundeskanzler dafürausgesprochen hat, schließen wir uns ausdrücklich an.Wir danken auch für die Bereitschaft, den geschundenenMenschen durch vorübergehende Aufnahme Schutz undZuflucht zu geben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weil dieSpenden- und Hilfsbereitschaft und auch die Bereit-schaft, in so schwieriger Zeit durch Aufnahme Hilfe undZuflucht zu gewähren, in unserer Bevölkerung so großsind, sollten wir vielleicht doch darüber nachdenken –ich habe es Ihnen diese Woche schon einmal vorge-schlagen –, ob wir angesichts dieser neuen Situation denStreit, der mit der Neuregelung unseres Staatsangehö-rigkeitsrechts bisher notwendig verbunden war, wirk-lich fortsetzen sollen.
Wäre es in dieser Lage nicht wirklich besser, sich fürBeratung und Verabschiedung dieses Gesetzes mehrZeit zu nehmen, als bisher vorgesehen?
Ich appelliere an die Koalitionsfraktionen, auf dennicht zu begründenden Zeitdruck zu verzichten und ge-meinsam einen Weg zu suchen, wie wir Integrationausländischer Mitbürger und Integrationsbereitschaft derdeutschstämmigen Bevölkerung in einem breiten Kon-sens verbessern können. Wenn Ihnen das nicht genugist, dann verweise ich auf die Erklärung, die der BremerBürgermeister Scherf und sein Stellvertreter Perschau indiesen Tagen abgegeben haben. Darin haben sie genaudafür plädiert und im übrigen auch darauf hingewiesen:Bei einigermaßen gutem Willen zum Konsens ist derUnterschied zwischen den beiden Gesetzentwürfen, dieim Hause beraten werden, nicht mehr so groß, daß man,wenn man einen Konsens will, ihn nicht auch findenkann. Wir sind dazu bereit. Ich appelliere an Sie.
Ich habe, Herr Präsident, verehrte Kolleginnen undKollegen, in der vergangenen Woche diese Regierungs-erklärung, die wir begrüßen, und diese Debatte angeregt,weil die Regierung bei aller grundsätzlichen Einigkeit ineiner die Menschen zu Recht so aufwühlenden Frage vordem Parlament als dem Forum der Nation immer wiederRechenschaft ablegen muß, damit im Pro und Kontra derArgumente Transparenz hergestellt werden kann unddamit die Legitimation und die Akzeptanz dieses Einsat-zes unter deutscher Beteiligung möglich bleiben.Die militärischen Aktionen der NATO dauern inzwi-schen schon über drei Wochen. Wir haben vor drei Wo-chen, als wir hier das letzte Mal darüber geredet haben,vermutlich die Hoffnung und die Erwartung gehabt, daßdiese Aktionen nicht drei Wochen dauern würden. Milo-sevic hat die Entschlossenheit und die Geschlossenheitder freien Völkergemeinschaft offensichtlich unter-schätzt, aber, meine Damen und Herren, wir wohl auchseine Hartnäckigkeit, seinem eigenen Volk Schaden zu-zufügen. Auch das muß gesagt werden.Die atlantische Gemeinschaft ist stark und entschlos-sen genug, sich von Milosevic nicht das Gesetz desHandelns aufzwingen zu lassen. Aber wohl kann ange-sichts der Entwicklung auf dem Balkan niemandem sein.Die Fernsehbilder von Flucht und Vertreibung und vontäglichen Bombardements wecken bei den Menschennicht nur Betroffenheit, Hilfs- und Spendenbereitschaft;es wird auch die bange Frage laut, ob die NATO Kriegführt oder ob wir dabei sind, in einen Krieg hineinzu-schlittern.Vor allem die älteren unserer Mitbürger erinnern sichan die Grauen zweier Weltkriege und sind tief beunru-higt. Ich sage ausdrücklich: Solche Parallelen sind un-zutreffend. Nicht die NATO führt Krieg. Wenn Krieggeführt wird, dann führt ihn Milosevic gegen seine eige-ne Bevölkerung. Die Staatengemeinschaft hat sichschwer genug getan und eher zu spät als zu früh ent-schließen müssen, militärische Mittel einzusetzen, umdem Grauen und den Verbrechen Einhalt zu gebieten.
Es geht auch nicht – das unterscheidet diese Lage vonfrüheren Zeiten, auch vom Beginn dieses Jahrhunderts –um eine Veränderung von Einflußzonen auf dem Balkanwie am Beginn des ersten Weltkriegs, sondern einzigund allein darum, daß die internationale GemeinschaftMord und Vertreibung nicht wieder tatenlos hinnimmt.
Das Ziel aller Operationen ist und muß bleiben, denFrieden in der Region wiederherzustellen und die Rück-kehr aller Vertriebenen in ihre Heimat und in gesicherteVerhältnisse zu gewährleisten.Dr. Wolfgang Schäuble
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Auch das bewahrt uns vor der Gefahr von Parallelenzu früheren Zeiten: Wir handeln nicht allein, sondernleisten unseren Beitrag zu internationaler Integrationund Verantwortung, nicht mehr und nicht weniger. So-lange eine weltweit verbindliche Rechtsordnung mit ei-ner ihre Durchsetzung ermöglichenden Gerichtsbarkeitund mit einem entsprechend legitimierten Gewaltmono-pol, solange ein solcher Zustand noch ein Traum bleibt,sind wir zur Wahrung von Frieden und grundlegendenMenschenrechten darauf angewiesen, militärische Ge-walt notfalls, aber nur als Ultima ratio, einzusetzen. Ge-gen zur Anwendung aller Mittel entschlossene Diktato-ren und Verbrecher kann auch am Ende dieses Jahrhun-derts darauf nicht verzichtet werden.Aber die Ultima ratio der Gewaltanwendung nimmtheute keiner mehr für sich allein in Anspruch. Vielmehrhandelt die europäische, die atlantische, die internatio-nale Völkergemeinschaft gemeinsam und integriert. Siehandelt nur dann, wenn sie und soweit sie gemeinsamund integriert handelt. Das ist der eigentliche Friedens-,Sicherheits-, ja Zivilisationsgewinn am Ende diesesJahrhunderts. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ge-nau dies würden wir verspielen, wenn wir unseren Bei-trag dazu verweigern würden. Auch dessen muß sich je-der bewußt sein.
Wenn selbst der Generalsekretär der Vereinten Na-tionen von Völkermord im Kosovo spricht, dann, findeich, kann die Rechtsgrundlage der NATO-Aktionen ein-schließlich der Beteiligung der Bundeswehr nicht wirk-lich in Zweifel gezogen werden. Wer die Beschlüsse desSicherheitsrats der Vereinten Nationen dennoch nichtfür ausreichend und deshalb die Aktionen der NATOnicht für mandatiert halten will, der kann seine rechtli-chen Bedenken letztlich nur aus dem klassischen Inter-ventionsverbot ableiten. Aber darf denn angesichts derUniversalität unseres Menschenrechtsverständnisses ei-ne solche Interpretation des klassischen Interventions-verbots am Ende zum Freibrief für Diktatoren werden,ihre eigene Bevölkerung hinzumorden und zu vertrei-ben, zum Elend der „ethnischen Säuberungen“ am Endedieses Jahrhunderts zurückzukehren?Wie dünn die Argumentation aus dem Interventions-verbot letztlich ist, kann man doch auch daran erkennen:Mit der Anerkennung einer Unabhängigkeit des Kosovowürden alle diesbezüglichen rechtlichen Argumentati-onsketten aufgelöst. Im übrigen: Was heißt eigentlichNichteinmischung in die inneren Angelegenheiten amEnde dieses Jahrhunderts? Sind das wirklich nur innereAngelegenheiten der Jugoslawischen Föderation oderdes Kosovo? Ich finde, nicht nur die Flüchtlingsströmebeweisen doch, daß Völkermord und Vertreibung längstüber jedes betroffene Land hinauswirken. Auch dieFernsehbilder lassen uns doch Tag für Tag spüren, daßauf dieser einen Welt Völkermord und Vertreibung nichtmehr innere Angelegenheit eines Landes sind, sondernwirklich uns alle angehen und betreffen.
Daraus folgt: Weil wir die Lehren dieses Jahrhundertsnicht vergessen und niemals mehr wegsehen wollen– wie oft haben wir dies versprochen und uns geschwo-ren –, weil wir um die Unteilbarkeit von Frieden, Frei-heit und Menschenrechten wissen, darf die Völkerge-meinschaft nicht jedes Verbrechen im Zweifel aus nurformalen Gründen hinnehmen. Hier erwächst geradezueine Pflicht zum Eingreifen. Dieses Handeln hat eigent-lich mit Krieg nichts zu tun, sondern mit der Durchset-zung fundamentaler Menschenrechtsprinzipien.Ich sage es noch einmal: Wir werden nicht in einenKrieg hineinschlittern, weil es auf dem Balkan nicht umdie Verschiebung von Einflußsphären geht und weil sichdie atlantische Gemeinschaft von Milosevic das Gesetzdes Handelns nicht aufzwingen läßt, nicht aufzwingenlassen darf und auch nicht aufzwingen lassen wird. Abergenau deshalb – auch diesen Punkt füge ich mit allemNachdruck hinzu – müssen wir eine militärische Eska-lation vermeiden. Wir jedenfalls wollen sie nicht.Aus diesem Grunde dürfen wir beim Einsatz, vor al-lem beim Einsatz unserer deutschen Soldaten, unter garkeinen Umständen das Entstehen von Grauzonen zulas-sen. Es muß immer und in jedem Stadium der Entwick-lung glasklar sein, wofür sie eingesetzt werden. Eineschleichende Ausweitung ihres Auftrags darf es nichtgeben und würde auf unseren entschiedenen Widerstandstoßen.Deshalb erwarte ich von der Bundesregierung geradeim Zusammenhang mit der Entsendung weiterer Solda-ten nach Albanien, daß sie weiterhin jederzeit sorgfältigprüft, ob eine Erweiterung des Einsatzmandates durchden Deutschen Bundestag erforderlich wird. Selbst einrein humanitärer Einsatz kann ja auf Grund der Unüber-sichtlichkeit der Verhältnisse im Kosovo schneller, alsuns lieb ist, zur Grauzone hinsichtlich des Einsatzeswerden, der dann durch das von uns erteilte Mandatnicht mehr gedeckt wird. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden sehr genau darauf achten,daß keine Automatismen entstehen. Das sind wir allegemeinsam den Soldaten, ihren Familienangehörigenund der Öffentlichkeit, aber auch unseren Rechten undPflichten als Abgeordnete des Deutschen Bundestagesschuldig.
Demokratisch verfaßte Staaten – auch das erleben wirin diesen Wochen – tun sich mit der Anwendung militä-rischer Gewalt schwer. Das ist gut so und muß so blei-ben. Deshalb ist Öffentlichkeitsarbeit durch die NATOund durch die Bundesregierung notwendig. Wenn aberdie Bundesregierung selbst schon einen Grund sieht, dieÖffentlichkeitsarbeit der NATO zu kritisieren, dann mußalles daran gesetzt werden, daß diese Arbeit verbessertwird. Ich füge noch die Bemerkung hinzu: Auch in derÖffentlichkeitsarbeit besteht natürlich ein grundlegenderUnterschied zwischen einer Demokratie und einer Dik-tatur.Aber auch in diesem Bereich sollten wir selbstbewußtsein und das nicht als Nachteil empfinden, sondern unsdazu bekennen. Die NATO kann eben Auskünfte nurDr. Wolfgang Schäuble
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geben, wenn sie sicher ist, daß sie zutreffen. Wir würdendie Bundesregierung kritisieren, wenn sie um des propa-gandistischen Erfolgs willen vorschnell Erklärungen ab-geben würde, die sich hinterher als falsch herausstellten.Der Diktator kann mit seiner Propaganda anders han-deln. Wir sollten jeden Tag an Medien und Öffentlich-keit appellieren, die Unterschiede zwischen verfälschen-der Propaganda und den Versuch, möglichst klar undschonungslos zu informieren, im Bewußtsein einer offe-nen Informationspolitik niemals zu verwischen – auchnicht in den Medien.
Bei aller Notwendigkeit von Öffentlichkeitsarbeit fü-ge ich folgende Bemerkung hinzu: Wir sollten alle dar-auf achten, daß wir uns nicht in ein Übermaß an zuspit-zender Rhetorik hineinsteigern.
Politische Lösungen könnten dadurch noch schwererwerden, als sie es ohnedies sind.Die Empörung über die entsetzlichen Verbrechen, dieMilosevic zu verantworten hat, ist gerechtfertigt. Nichtsdarf verschwiegen oder bemäntelt werden. Aber jederdurch politische oder militärische Verantwortungsträgerangedeutete Vergleich mit Hitler ist nicht nur historischschief, sondern auch gefährlich.
Auch das Entsetzen über Mord und Vertreibung auf demKosovo darf Unvergleichbares nicht angleichen, weilsonst aus einem moralischen Argument die sich selbstrechtfertigende Konsequenz einer nicht mehr be-herrschbaren Eskalation militärischer Gewalt begründetwerden könnte. Totaler Krieg und die Forderung nachbedingungsloser Kapitulation hängen enger zusammen,als mir angesichts solcher Reden gelegentlich bedacht zusein scheint.Ich wiederhole: Die Ziele der NATO und der Völker-gemeinschaft sind klar, und das ist die Grundlage für dieTeilnahme der Bundeswehr an diesen Aktionen. Wirwollen, daß der Friede in der Region wiederhergestelltund die Rückkehr aller Vertriebenen in ihre Heimat imRahmen gesicherter Verhältnisse gewährleistet wird.Aber es reicht für die öffentliche Akzeptanz dieses mi-litärischen Einsatzes – je länger er dauert, um so weni-ger – nicht aus, diese Ziele nur zu proklamieren. Einesolche Akzeptanz setzt vielmehr voraus, daß auch dieErreichbarkeit unserer Ziele plausibel vermittelt wird.Sonst wächst die Sorge der Menschen, man habe etwasangefangen, ohne das Ende zu kennen. Auch darübermüssen wir sprechen.Es muß auch drei Wochen nach Beginn der NATO-Aktionen klar sein, daß die militärische Entschlossenheitund Geschlossenheit in der Unterstützung dieser Maß-nahmen das eine ist. Die Bereitschaft aber, zu jedemZeitpunkt eine politische Lösung im Sinne unserer Zielezu suchen, ist das andere. Beide Ziele müssen uneinge-schränkt vorhanden bleiben, und beide gehören im übri-gen untrennbar zusammen.
Deshalb sind neue politische Initiativen unverzichtbar.Politische Lösungen werden ohne Beteiligung der Ver-einten Nationen und damit auch Rußlands kaum zu er-reichen sein.Das Treffen der amerikanischen Außenministerin Al-bright mit ihrem russischen Kollegen Iwanow in Oslo indieser Woche hat gezeigt, daß die Diplomatie noch nichtabgedankt hat, auch wenn viele Fragen offenbleibenmußten. Die Teilnahme des UN-Generalsekretärs amSondergipfel der EU gibt ebenfalls zu der HoffnungAnlaß, daß es einen Weg gibt, Milosevic nicht nur mitmilitärischer Gewalt zum Einlenken zu bringen. Je mehrmilitärische Gewalt mit der Einsicht verbunden ist, daßdie serbische Führung wirklich überall in der Welt iso-liert ist, um so größer wird die Chance sein, daß er eherfrüher als später zum Einlenken gebracht wird.Ich begrüße auch ausdrücklich, daß sich die Bundes-regierung in ihrer Funktion als amtierende Ratspräsi-dentschaft verstärkt über eine politische Lösung diesesKonflikts Gedanken macht. Aber ich warne vor der nai-ven Annahme, Milosevic könnte mit einer Art Vertrau-ensvorschuß dazu bewegt werden, seine verbrecherischePolitik ethnischer Säuberungen aufzugeben. Er hatschon zu viele Ultimaten höhnisch verstreichen lassen.Wer eine politische Lösung erreichen will, die auchnur einigermaßen nachhaltig ist, darf keine Situationentstehen lassen, die Zweifel an der Ent- und Geschlos-senheit des Westens erlauben könnte. Diese Ent- undGeschlossenheit ist vielmehr Voraussetzung dafür, zu-sammen mit den Vereinten Nationen und Rußland zu ei-ner Lösung zu kommen. Je früher das Ziel einer gesi-cherten Rückkehr der Kosovaren in ihre Heimat durchmilitärische Entschlossenheit und politische Bemühun-gen erreicht werden kann, um so besser ist es.Ich halte im übrigen wenig davon, jetzt öffentlichüber den künftigen Status des Kosovo zu spekulieren,auch wenn ich hinzufüge, daß ich mir nur schwer vor-stellen kann, daß eine Realisierung des Rambouillet-Abkommens noch möglich ist. Aber eines scheint mirunabhängig davon unverzichtbar: Für den Fall, daß dievertriebenen Menschen zurückkehren sollen und kön-nen, ist es – neben der militärischen Absicherung einerPerspektive des Lebens im Kosovo in Sicherheit – vor-rangige Pflicht der Europäischen Union, diese Rückkehrauch durch ein umfassendes und wirksames Hilfspro-gramm zum Wiederaufbau des Kosovo zu begleiten, zuunterstützen, ja überhaupt erst möglich zu machen. Wirfordern die Bundesregierung auf, auch in dieser Rich-tung ihre Bemühungen zu verstärken.
Ich will noch einmal zusammenfassen: DieCDU/CSU unterstützt die deutsche Beteiligung an denNATO-Aktionen auf der Grundlage der Beschlüsse desDr. Wolfgang Schäuble
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Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und der Be-schlüsse des Deutschen Bundestages. Wir danken denSoldaten der Bundeswehr und der Streitkräfte unsererVerbündeten für ihren Einsatz und sichern ihnen sowieihren Familien unsere Solidarität zu. Wir unterstützenund begrüßen die Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebenevor Ort und sind bereit, bei gerechter europäischer La-stenverteilung vorübergehend auch bei uns vor allemkranken Flüchtlingen und Kindern in begrenzter ZahlAufnahme und Zuflucht zu gewähren. Wir wollen keinemilitärische Eskalation. Deshalb werden wir sorgfältigdarauf achten, daß der Einsatz der deutschen Soldatenstets klar definiert und durch das Mandat des DeutschenBundestags abgedeckt ist. Es dürfen keine Grauzonenentstehen.Ziel aller Operationen muß sein, den Frieden in derRegion wiederherzustellen und die Rückkehr aller Ver-triebenen in ihre Heimat und in gesicherte Verhältnissezu gewährleisten. Dabei geht es nicht um eine Verände-rung von Einflußsphären auf dem Balkan. Um bald-möglichst das Leiden und Sterben im Kosovo zu been-den, sind neue politische Initiativen unter Beteiligungder Vereinten Nationen und damit unter EinschlußRußlands unverzichtbar. Gleichzeitig muß die Europäi-sche Union ein umfassendes und wirksames Hilfs-programm zum Wiederaufbau des Kosovo entwickeln.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre nachihrer Gründung, die zugleich 50 Jahre gesicherten Frie-dens in Freiheit waren, steht die NATO heute vor einerneuen, einer schicksalhaften Herausforderung. Vertrei-bung, ethnische Säuberung und Völkermord mitten inEuropa haben die NATO erstmals in ihrer Geschichtezum militärischen Handeln gezwungen. Wir führen kei-nen Krieg, und unsere Aktionen richten sich nicht gegendas serbische Volk. Aber das Morden und die Vertrei-bungen dürfen wir nicht hinnehmen, als gingen sie unsnichts an.Für uns Deutsche ist die Beteiligung an den NATO-Aktionen einer der schwersten Schritte, die wir seit demZweiten Weltkrieg gegangen sind. Aber wir schuldenihn nicht zuletzt unserer Verantwortung vor der Ge-schichte. Wir schulden ihn unserer Solidarität mit unse-ren Verbündeten. Aber vor allen Dingen schulden wirihn unserer Zukunft, damit Mord und Vertreibung keineChance mehr, Menschenrechte, Frieden und Freiheithingegen alle Chancen haben.
Ich erteile das Wort
dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Peter Struck.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Es ist gut, Herr Kollege Schäuble undliebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und von der F.D.P.-Fraktion, daß wir uns indieser für unser Land sehr wichtigen Frage einig sind.
Ich möchte hier allerdings – der Kollege ist zwar ge-rade nicht anwesend – für meine Fraktion deutlich aus-drücken, wie peinlich ich den Vorgang des Besuchesvon Herrn Gysi in Belgrad und seine Begegnung mitHerrn Milosevic finde,
und darauf hinweisen, daß mir hier eine Zeitung vor-liegt, herausgegeben von der PDS im Deutschen Bun-destag, in der der Bundesminister der Verteidigung, HerrKollege Rudolf Scharping, als „Kriegsminister“ diskre-ditiert wird.
Ich weise diese Unerhörtheit deutlich zurück.
Ich nehme das zum Anlaß, an dieser Stelle gerade auchHerrn Verteidigungsminister Scharping für sein sehr be-sonnenes Auftreten in der Kosovo-Krise zu danken.
Seit unserer letzten Debatte haben sich die Ereignisseim Kosovo dramatisch zugespitzt. Wir alle mußten mitansehen, wie das Morden, Zerstören und Vertreiben deralbanischen Bevölkerung im Kosovo durch die serbischeSoldateska eine kaum für möglich gehaltene Dimensionangenommen hat. Fast die Hälfte der albanischen Be-völkerung wurde in die Nachbarstaaten vertrieben unddeportiert. Schätzungsweise 300 000 Kosovaren befin-den sich im Kosovo auf der Flucht vor der serbischenGewaltmaschine. Tag für Tag ein nicht enden wollenderStrom zutiefst traumatisierter Menschen, die die Lan-desgrenzen überqueren: verletzt, gedemütigt, beraubt, inTrauer um ermordete Verwandte, Freunde und Nach-barn, in Sorge um verschleppte Söhne und Ehemänner.Am Ende dieses an Schrecken reichen Jahrhundertsversucht noch einmal ein wahnwitziger, machtbesesse-ner Diktator, eine ganze Volksgruppe zu vertreiben oderauszulöschen und seinem rassistischen Ziel eines „eth-nisch reinen“ Serbiens näherzukommen.Diese Beschreibung der Lage wird von allen Mitglie-dern meiner Fraktion geteilt. In der Beurteilung derKonsequenzen und der zu ergreifenden Schritte gibt esin meiner Fraktion und auch in meiner Partei jedoch ein-zelne Mitglieder, die das, was ich dazu ausführe, nichtteilen und eine andere Auffassung vertreten. Ich haltedies nicht nur für legitim, sondern bekunde ihnen ge-genüber meinen Respekt.
Der NATO ist es bisher nicht gelungen, Milosevicvon diesen Greueltaten im Kosovo abzuhalten. Dies al-lerdings zur Begründung für eine Feuerpause oder einenWaffenstillstand anzuführen bedeutet, Ursache undWirkung für die entstandene Lage zu verwechseln. Seit1989 verfolgt Milosevic seine chauvinistische Idee eines„ethnisch reinen“ Großserbiens. Er hat dafür bisherDr. Wolfgang Schäuble
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Kriege gegen Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina geführt.Ich will an dieser Stelle sagen: Ich empfinde es alseinen großen Mangel unserer Politik, daß wir ihm nichtfrüher, Herr Kollege Schäuble, in Sachen Bosnien-Herzegowina in den Arm gefallen sind. Wir müssen jetztdie Konsequenzen aus diesem Verhalten ziehen.
Seit Frühjahr 1998 führt Milosevic in großem StilVertreibungsaktionen und Dorfzerstörungen im Kosovodurch. Nach und während des Holbrooke-Milosevic-Abkommens ist der Vertreibungsplan „Hufeisen“ ent-worfen und in die Tat umgesetzt worden, währendMilosevic seine Leute am Verhandlungstisch sitzen ließ.Dieser Plan sieht die Entvölkerung des Kosovo vonAlbanern vor. Dies darf nicht zugelassen werden.
Die NATO-Luftangriffe setzten ein, als alle Versu-che der friedlichen Konfliktbeilegung an der fortdauern-den Gewaltpolitik der serbischen Führung gescheitertwaren. Sie jetzt auszusetzen bedeutet, Milosevic freieHand zu geben, ihn ungestört sein Werk zu Ende brin-gen zu lassen. Wenn wir Europa als Kontinent des Frie-dens, der Freiheit und der Demokratie bewahren wollen,dann dürfen wir völkische Gewaltpolitik auf seinem Bo-den nicht zulassen.
Milosevic muß sich darüber im klaren sein: Er wirdseine politischen Ziele nicht erreichen. Wir lassen seinebarbarischen Verbrechen nicht ungestraft geschehen. Jelänger er daran festhält, um so höher wird der Preis, dener bezahlen muß. Ein Ende der Gewalt- und Vertrei-bungspolitik liegt auch im Interesse des serbischen Vol-kes. Es bezahlt seit vielen Jahren für die Machtbeses-senheit seines Präsidenten mit wirtschaftlicher Armut,geringem Lebensstandard sowie politischer Unterdrük-kung und Bevormundung.Wir – ebenso wie die NATO – führen keinen Krieggegen das serbische Volk. Unser Ziel ist einzig und al-lein die Beseitigung des Schreckensregimes der serbi-schen Regierung im Kosovo.Daher ist es richtig, daß die NATO die Luftangriffeverstärkt und der Druck auf Milosevic erhöht wird. Esgeht uns nicht um die Kapitulation Serbiens, sondern umdie Schaffung von Voraussetzungen für eine politischeLösung.Daher unterstützt die sozialdemokratische Bundes-tagsfraktion die Bemühungen der Bundesregierung, inÜbereinstimmung mit der Europäischen Union, derNATO und dem Generalsekretär Kofi Annan, Belgradzu Abmachungen zu bewegen, die beinhalten, daß alleKampfhandlungen sofort und überprüfbar eingestelltwerden, alle militärischen und paramilitärischen Kräftesowie die Sonderpolizei nachprüfbar aus dem Kosovoabgezogen werden, der Stationierung internationaler Si-cherheitskräfte im Kosovo zugestimmt wird, die Rück-kehr aller Deportierten bedingungslos ermöglicht sowieden Hilfsorganisationen ein ungehinderter Zugang zuden Opfern gewährt wird und daß der Versuch einespolitischen Rahmenabkommens für das Kosovo auf derBasis der Abmachungen von Rambouillet unternommenwird. Ein überprüfbares Angehen dieser Punkte würdeunmittelbar zu einer Aussetzung bzw. Beendigung derNATO-Luftschläge führen.Wie wir mit großer Genugtuung verfolgen, HerrBundeskanzler, hat die Bundesregierung eine Reihe vondiplomatischen Aktivitäten in Gang gesetzt, um die Um-setzung dieser politischen Ziele zu erreichen. Ihre In-itiative, den Generalsekretär zum Sondergipfel einzula-den, und Ihre Bemühungen, Herr Außenminister Fi-scher, Rußland über eine G-8-Initiative wieder zur Mit-wirkung am politischen Gestaltungsprozeß für das Ko-sovo zu bewegen, begrüßen wir ausdrücklich. Sie habenunsere volle Unterstützung.
Ich glaube, daß wir alle in diesem Haus uns einigsind, daß eine tragende Rolle Rußlands und eine ent-sprechende Beschlußlage des Sicherheitsrats der Ver-einten Nationen die Aussichten für eine dauerhafte Frie-densregelung für das Kosovo verbessern, wenn nicht garerst ermöglichen werden. Dies vor allem deshalb, weilwir eine Lösung anstreben müssen, die die Interessenund Rechte der albanischen Bevölkerungsmehrheit imKosovo mit den Stabilitätsanforderungen der Regionund ganz Südosteuropas verbindet. Das schließt bis aufweiteres eine Eigenstaatlichkeit und Teilung des Kosovoebenso aus wie seine Unterordnung unter die serbischeStaatsautorität.Daher teile ich die Überlegungen der Bundesregie-rung hinsichtlich ihres Friedensplanes, für einen länge-ren Zeitraum eine von den Vereinten Nationen autori-sierte Übergangsverwaltung einzurichten, deren Autori-tät durch entsprechend mandatierte Friedenstruppen si-chergestellt werden muß. Ich stimme Ihnen zu, HerrKollege Schäuble, daß man nicht zu sehr auf die Detailseingehen sollte, was die künftige Regelung angeht. DieZielrichtung aber ist klar, und in der Zielrichtung sindwir uns einig.Ich will an dieser Stelle betonen, meine Damen undHerren, daß wir nicht nur die Leistungen der mazedoni-schen Regierung, sondern vor allen Dingen der maze-donischen Bevölkerung mit großem Respekt zurKenntnis nehmen sollten, die die Flüchtlinge bei sich zuHause aufgenommen hat.
Wir wissen, wie schwer es gerade für dieses Land ist,diese zusätzlichen Lasten zu tragen. Daß sich daraus füruns eine politische und auch finanzielle Verantwortungergibt, muß uns allen klar sein.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, daß im Au-genblick alle Kräfte auf eine Rückkehr zu einer friedli-Dr. Peter Struck
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chen Konfliktbeilegung im Kosovo konzentriert werden.Es ist richtig, daß wir versuchen wollen, die friedenstif-tenden Wirkungen der europäischen Integration mit denvertrauensbildenden Erfahrungen aus der Entspan-nungspolitik zu verbinden. Wir müssen den Völkern undStaaten in Südosteuropa eine europäische Perspektivebieten, sie nachhaltig in den euro-atlantischen Strukturenverankern. Davon darf kein Staat ausgeschlossen wer-den.Kofi Annan hat in seiner Rede vom 7. April in Genfunter Bezugnahme auf die ethnischen Säuberungen imKosovo darauf hingewiesen, daß eine internationaleRechtsnorm in der Entwicklung begriffen sei, die dasVerbot von gewaltsamer Unterdrückung von Minder-heiten höher einstuft als Belange der Staatssouveränität.Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, ichwünsche mir, daß die Bundesregierung und die Europäi-sche Union diese Einlassungen des Generalsekretärs derVereinten Nationen aufgreifen und durch eine eigeneInitiative verstärken. Wir müssen eine Völkerrechts-situation erreichen, die zukünftig verhindert, daß sichVölkermörder und völkische Gewaltverbrecher hinterdem Schutzschild nationaler Souveränität versteckenkönnen, wie Kofi Annan es treffend ausgeführt hat.
Dies entspricht nicht nur unseren Auffassungen, die wirden Entscheidungen für den NATO-Einsatz im Kosovozugrunde gelegt haben, sondern würde auch dem Kampfum den Schutz der Freiheit und der Würde des Men-schen ein neues historisches Kapitel hinzufügen.Meine Damen und Herren, zusammenfassend kannich – sicherlich für die überwältigende Mehrheit imHaus – festhalten, daß der Deutsche Bundestag fest hin-ter der Bundesregierung und der NATO steht, daß wirdie von der Bundesregierung angeregten diplomatischenBemühungen um eine politische Lösung außerordentlichbegrüßen und hoffen, daß sie möglichst bald zu einemEnde der Gewalt im Kosovo führen.
Unser Dank gilt den selbstlosen Helfern des Techni-schen Hilfswerks und der Nicht-Regierungsorganisa-tionen, die vor Ort den Menschen tatkräftig zur Seitestehen.
Ich spreche sicherlich in unser aller Namen, wenn ichabschließend besonders unseren Soldaten danke, diedurch ihren großen Einsatz zu einem unersetzlichenFaktor der humanitären Hilfe für die vertriebenen undgeschundenen Kosovaren geworden sind.
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender der F.D.P.-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Kollege Struck hat, per-sönlich verständlich und zu Recht, die Frage ausge-drückt, warum Demokratien eigentlich so lange ge-braucht haben, um einem Tyrann in den Arm zu fallen.Das führt mich zurück auf die Feststellung, daß, wiewir alle wissen, Europa selbst lange Zeit hat verstreichenlassen, bis es die tatsächliche Lage so bewertet hat, wiesie bewertet werden mußte. Wir erinnern uns an vieleDebatten, die eher über die alten Bündnispartnerschaftendes zweiten Weltkrieges, die heutigen Verbündeten inden westlichen Demokratien, ausgetragen wurden alsmit Blick auf die tatsächliche Lagebeurteilung.
Ich erinnere auch an viele Fehleinschätzungen der Ver-einigten Staaten von Nordamerika, die uns immer gerneRatschläge erteilen, wie wir das in Europa handhabenmüssen, aber damals mit einem Fernglas auf Jugoslawi-en gesehen haben, ohne einmal die Lupe zur Hand zunehmen, um zu untersuchen, was sich dort wirklichvollzieht.Der Gang, den Kollege Struck erwähnt hat – überSlowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina –, warja erkennbar. Die Unverträglichkeit und der Haß breite-ten sich ja geradezu mit täglicher Steigerung aus – imübrigen nicht nur bei Milosevic, sondern auch bei ande-ren Erben des früheren Jugoslawien, aber bei Milosevicin ihrer brutalsten Form. Dies hat Europa lange ver-drängt, in der Kette von Slowenien über Kroatien bisBosnien-Herzegowina. Das gilt auch für führende Per-sönlichkeiten, die unsere Verbündeten sind.Deshalb kann nicht darauf verzichtet werden, sich anDebatten, die wir 1995 in diesem Hause über Bosniengeführt haben, zu erinnern. Da war für diejenigen, dienicht blind waren, schon klar, was sich dort vollzieht.Trotzdem war die politische Bereitschaft, ein Mandat fürFriedenserhaltung zu schaffen, auch in diesem Hausenur bei Teilen ausgeprägt. Ich erlebte damals, daß sichder jetzige Außenminister nach meiner Rede komplettgegenteilig aussprach. Das ist kein Vorwurf; denn sol-che Skrupel gehören zu den Wesensmerkmalen einerDemokratie. Aber manche, die heute auf der Regie-rungsbank sitzen, haben in den damaligen Debatten kei-ne Lorbeeren geerntet. Das muß eindeutig gesagt wer-den.
Es ist zum Teil auch von daher verständlich, weil sichdie Deutschen immer international klar geordnete Ver-hältnisse wünschen. Nur leider will sich die Wirklichkeit– das lernen wir ja jetzt wohl kennen – diesen Wünschennach Ordnung, die von netten Leuten gehegt werden,nicht immer so beugen, wie das ordentlichen Leutenwünschenswert erscheint. Als dann urplötzlich die Zei-ten, in denen sich andere – Deutschland war geteilt; esgab die Vier-Mächte-Verantwortung – um die ProblemeDr. Peter Struck
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der Welt kümmerten, vorbei waren, da wurden die Fra-gen für uns sehr drängend, und sie stellten sich sehr klar.Jetzt erleben wir – das muß man doch ungeschminktsagen –, daß die Reaktion der westlichen Staatenge-meinschaft am Ende einer Kette von vielen Verdrängun-gen, von zeitweiligem Wegschauen steht. Es sind in ei-ner Demokratie wichtige Sperren, wenn man Skrupelhat; sie gehören sogar zum Wesensmerkmal einer De-mokratie. Aber die Frage ist schon richtig, warum wirdenn alles bis zur Neige durchleben müssen, bevor wirEntscheidungen treffen können. So ist die gesamteNachkriegsgeschichte westlicher Demokratien abgelau-fen; so stellt sich ihre Fähigkeit zur Reaktion auf Tyran-nen und Despoten dar. Wie in einem Brennglas kannman darin auch die Geschichte der Reaktion auf dasAuseinanderfallen des früheren Jugoslawien sehen.Jetzt befinden wir uns in einer Situation, die man klarbeschreiben muß, wie immer auch diese Beschreibungausfällt. Wir befinden uns in der Situation, daß dort einKrieg stattfindet, in den wir zum erstenmal deutscheSoldaten – legitimiert, mandatiert – entsandt haben. Wirmüssen eigentlich unserer deutschen Gesellschaft eingroßes Kompliment dafür machen, daß sie in einer der-artigen Klugheit, Vielfalt und Eindringlichkeit diesedramatische Situation diskutiert. Man sollte sich nichtöfter solchen Proben unterwerfen. Ich bewundere schonden Reifegrad vieler Diskussionen in einer stabilendeutschen Demokratie.
Es gibt kontroverse Meinungen in der Sache, aber derVorgang ist doch bemerkenswert. Hierbei handelt essich ja nicht um eine der üblichen Debatten, die wir inSituationen des Streits über innenpolitische Vorgängeoder auch über andere große Themen führen. Hierbeihandelt es sich zum erstenmal um eine Debatte, die auchzur Folge haben kann, daß sie Mitbürgerinnen und Mit-bürgern, sprich: die deutschen Soldaten bei einem Ein-satz, das Leben kosten könnte. Daß dies nicht geschehenist, darüber freuen wir uns. Aber daß das Risiko hoch ist,das ist doch jedem bei diesem Thema bewußt. Deshalbmuß der Deutsche Bundestag – da stimme ich mit Kol-legen Schäuble völlig überein; die deutsche Öffentlich-keit tut es ja auch – immer den Druck dahin gehend auf-rechterhalten, daß neben strategischen Luftoperationenauch politische Lösungen angestrebt werden. Es gehtnur in einer Mixtur, in einer Zwei-Wege-Strategie.Ganz entscheidend wird sein, ob die Kräfte Rußlandsausreichen – oder ob man Rußland die Kraft dazu ver-schaffen kann –, einen Weg zu finden, der bewirkenkann, daß man sich in diesem großen Land nicht nurausschließlich damit beschäftigt, den Zusammenbruchder früheren Sowjetunion zu verarbeiten. Die Binnenori-entierung und die Fragmentierung der russischen Politikmüssen überwunden werden. Man fragt heute ja so neu-deutsch, ob dieses Land die Kraft hat, die eigene Demo-kratie zu stabilisieren und andernorts in der Welt mit unszusammen alles dafür zu tun, daß freiheitliche Gesell-schaften sozusagen implementiert werden. Diese ernst-hafte Frage stellt sich.Die alte Rolle kann Rußland nicht mehr spielen. Eskann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinefalsche Selbstvergewisserung mehr betreiben. Das so-zialistische System ist ja wie ein Gletscher gewesen, dersich über alles gelegt hat. Nachdem nun das Eis desGletschers weg ist, suchen manche nach europäischerOrientierung, manche noch nicht. Manche betreiben einefalsche ethnische Selbstvergewisserung. Wir müssenden Kräften helfen, die eine europäische Orientierungsuchen.
Wir müssen sogar ein massives Interesse daran haben,daß sie sie finden, und wir müssen sogar alles dafür tun,damit unser großer Nachbar Rußland im übertragenenSinne die Chance bekommt, auf dem Wege dorthin Er-folgserlebnisse zu haben. Das muß die Haltung deut-scher Politik sein.
Diese müssen wir ausstrahlen; die müssen wir Rußlandauch mitteilen. Es genügt nicht, wenn wir darüber nurim Bundestag debattieren. Jeder von uns muß bei allenBegegnungen – keine Reise dorthin darf uns jetzt eineReise zuviel sein – den russischen Politikern das auchsagen. Wir müssen ihnen sagen: Wir brauchen euch; wirbrauchen Rußland. Das müssen wir Rußland sagen. Oh-ne Rußland wird es zu keiner Lösung dieses Problemskommen. Das ist ausgeschlossen.
Wer das weiß, muß dann entsprechend reagieren.Meine Damen und Herren, militärisch wird entschei-dend sein, ob Milosevic im Kosovo alsbald die Händegebunden werden können. Meine größte Ungeduld giltnahezu täglich der Frage, wann endlich die paramilitäri-schen Organisationen, das jugoslawische Militär aufdem Boden des Kosovo gestoppt werden können. Ichwarte mit Ungeduld auf all das, was bisher angekündigtworden ist. Denn der Kosovo ist ein besonderes Pro-blem: Milosevic standen in allen Teilen Jugoslawiensbisher Strohmänner für den Einsatz von Gewalt zur Ver-fügung, während er jetzt selbst ganz klar der Verant-wortliche für das Vorgehen, und zwar nicht nur für dieRepressionen, für die Plünderungen und Vertreibungen,für die Vergewaltigungen, sondern auch für denschlichten Mord, ist. Er ist kein Staatschef, er ist einKriegsverbrecher. Das ist ganz eindeutig und kein über-höhter Ausdruck.
Ich sage deshalb für die Freien Demokraten: Es gibtkeine Alternative zu der Strategie der NATO, zu demmilitärischen Einsatz. Wir dürfen auch nicht zögern. DerEinsatz muß fortgesetzt werden, und er kann, solangedieser Tyrann wütet und politisch nicht einlenkt, keinenTag ausgesetzt werden. Wir sind in einer Situation – soDr. Wolfgang Gerhardt
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paradox das auch klingt –, in der für die Öffentlichkeit,für die Weltgemeinschaft, für die Menschen dort dieMenschenwürde nicht anders als mit militärischen Mit-teln durchgesetzt werden kann. Alles andere ist in dieserDiskussion keine brauchbare Alternative.Meine Damen und Herren, für eine Lösung des Pro-blems wird es natürlich nicht reichen, die Flüchtlingezurückzuführen. Für eine Lösung des Problems sehenwir heute schon weit über Rambouillet hinaus, daß fürdie gesamte Region ein Stück ökonomische Stabilitätund Lebensperspektiven für die Menschen geschaffenwerden müssen. Das ist seit Bestehen der EuropäischenUnion ihre größte Bewährungsprobe.Das ist eine schwierige Situation, aber es ist für dieEuropäische Union und für uns als Politiker inDeutschland gleichzeitig eine Chance, deutlich zu ma-chen, daß sich die Europäische Union in unserem Ver-ständnis nicht in den Themenbereichen Milchseen, But-terberge, Struktur- und Kohäsionsfonds, ja nicht einmalim deutschen Nettozahlerbeitrag erschöpft, sondern auchzu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fä-hig ist; denn sonst wird sie an Respekt und Ansehenverlieren. Ich sage trotz aller Bemühungen der Bundes-regierung: Die Stimme der Europäischen Union muß indieser Situation kräftiger werden. Sie muß deutlich ma-chen, daß sie auf Krisen glaubwürdig reagieren kann.
Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscherhat einmal gesagt, die Europäische Gemeinschaft sei diemoralische Konsequenz aus der Geschichte europäischerBruderkriege. Er hat hinzugefügt, wenn sie nichts ande-res bewirkt hätten, als daß Kriege unter ihren Mitglie-dern niemals mehr möglich sein werden, dann hätte sichschon deshalb ihre Existenz gelohnt.Deshalb will ich die junge Generation in Deutschlandund uns alle daran erinnern, daß es nicht ausreicht,kleinliche Kritik an der Brüsseler Bürokratie zu üben.Die Europäische Union ist entstanden, weil es Menschengab, die nicht nur aus den Geschichtsbüchern Kenntnis-se über Hitler und Stalin hatten und nie mehr wollten,daß auf diesem Kontinent die alten Dämonen wiederaufwachen und sich Zutritt verschaffen. In einer solchenSituation leben wir. Wir haben es nicht für möglich ge-halten, daß am Ende dieses Jahrhunderts wieder Phäno-mene zur Erscheinung kommen, die den Beginn diesesJahrhunderts so dramatisch gestaltet haben.Niemand darf in Europa mit Haltungen, wie Milose-vic sie prägt, am Ausgang dieses Jahrhunderts Men-schen bedrohen, und wenn es geschieht, darf die Völ-kergemeinschaft nicht tatenlos zusehen. Wenn es vorbeiist, muß den Gesellschaften geholfen werden, die sich soverblenden ließen. Auch dazu gibt es keine Alternative,wie wir Deutschen am eigenen Leib nach 1945 erfahrenhaben.
Wir wissen, was dort getan werden muß, wenn auch dasserbische Volk wieder eine Chance erhalten soll.Die deutschen Soldaten wie auch die Soldaten derVerbündeten und ihre Familien haben unseren Rückhalt.Wir danken ihnen und ihren Angehörigen. Wir bedan-ken uns bei den Hilfsorganisationen für ihre vielenhumanitären Bemühungen. Wir sind – so hat es derBundeskanzler gesagt – dankbar für die große Spen-denbereitschaft in Deutschland.Herr Bundeskanzler, die Bundesregierung hat dieUnterstützung der F.D.P. für den unumgänglichen Ein-satz militärischer Mittel im Bündnis. Wir sind in einemselbstbewußten Parlament, das alle Mittel der parla-mentarischen Kontrolle hat, das Mandatierungen nachLageeinschätzung begrenzt, erneuert oder verändert. Esbleibt aber ständiger Auftrag für das Primat des Politi-schen: Es gibt keinen Automatismus des Militärischen,und es kann ihn nicht geben. Es kann streckenweise Ein-sätze von militärischen Mitteln geben, um politischeZiele durchsetzungsfähig zu machen; am Ende müssenes aber politische Ziele sein. Das heißt – an die Adresseder Bundesregierung gesagt –: Dieser policy mix ausstrategischen Luftoperationen der NATO, zugleich abertäglichen Versuchen politischer Initiativen ist die Regie-rungskunst, die jetzt erforderlich ist. Am Ende darf Mi-losevic nicht siegen. Ich füge sogar persönlich hinzu:Am Ende kann er auch nicht wieder Verhandlungspart-ner werden, nach all dem, was er getan hat.
Herr Bundeskanzler, die politischen Ziele, die not-wendige Haltung und die Bündnisfähigkeit, über die Sievorgetragen haben, werden von der Opposition – ich er-kläre das jedenfalls für meine Kolleginnen und Kollegenaus der Bundestagsfraktion der Freien DemokratischenPartei – voll unterstützt. Ich habe manchmal sogar dasGefühl, daß unsere Unterstützung viel stärker und klarerist als die Unterstützung aus den Reihen der Koalitions-partei, die Sie gewählt haben.
Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen; da kön-nen Sie sich in Ihrer Arbeit entlasten. Die Politik derBundesregierung im Bündnis ist so stabil, weil die Op-position in diesem Hause so stabil ist.
Eine solche Haltung hätte sich die frühere Bundesregie-rung von manchen Kolleginnen und Kollegen, die jetztin der Verantwortung sind, gewünscht, als es ebenfallsum ernsthafte Fragen ging.
Skrupel haben auch wir. Krieg mögen auch wir nicht.Deshalb sind die Einfachheit und Schlichtheit, die HerrKollege Gysi in seiner Argumentation immer verwendet,so absurd. Hier sitzen sich doch nicht Lager in den Al-ternativen Krieg oder nicht Krieg gegenüber.Wahr ist aber auch, was Brzezinski, der Sicherheits-berater des früheren amerikanischen Präsidenten Carter,in einer großen deutschen Tageszeitung einfach, klar,Dr. Wolfgang Gerhardt
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streitig, aber wahrheitsgemäß, ausgeführt hat – ich zitie-re ihn –:Unzweideutig steht mittlerweile mehr auf demSpiel als das Schicksal des Kosovo. Die Vorausset-zungen haben sich an dem Tag dramatisch verän-dert, an dem das Bombardement begann. Ohne zuübertreiben ist festzustellen, daß ein Scheitern derNATO das Ende ihrer Glaubwürdigkeit wäre undgleichzeitig die globale Führungsrolle der Verei-nigten Staaten in Mitleidenschaft geriete. Die Fol-gen wären verheerend für die globale Stabilität.Ich sage diese drastischen Worte ganz klar: Wirmüssen dort gewinnen – und zwar militärisch wie poli-tisch –, um überhaupt Verantwortung in einer Welt, dieauf freiheitliche Gesellschaften zugeht, wahrnehmen zukönnen. Der Tyrann darf nicht siegen – weder militä-risch noch politisch.
Uns, allen Abgeordneten meiner Fraktion, ist das klar.Deshalb bleibt – mit der Begründung unserer Haltungzur Unterstützung der Bundesregierung – am Ende üb-rig, Ihnen, Herr Bundeskanzler, weiterhin viel Erfolg beider Überzeugungsarbeit in Ihren eigenen Reihen, bei Ih-ren Koalitionsparteien, zu wünschen. Die F.D.P. hat, wiealle Demokraten, lange gezögert und sich nicht leicht-getan mit den Entscheidungen, wie wir sie dann treffenmußten. Der frühere Bundesaußenminister Kinkel undder frühere Bundeskanzler Kohl haben in ihrer Verant-wortung Abwägungsprozesse unternommen, die in derQualität in nichts den Abwägungsprozessen nachstehen,die Sie heute bewältigen müssen und die immer positi-ves Kennzeichen von Demokratien sind. Aber sie undauch wir haben in dieser Zeit genau gewußt, daß Demo-kratien nicht nur Sonnenscheinveranstaltungen sind,sondern irgendwann – weil in manchen Völkergemein-schaften menschliche Charaktere das Licht der Welt er-blicken, die politisch nicht so denken, wie es ordentli-chen Menschen wünschenswert erscheint – notfalls auchzu letzten Mitteln greifen müssen, um denjenigen Ein-halt zu gebieten, die plündern, vergewaltigen und mor-den.Ich kann mich nur begrenzt in einer Diskussion auf-halten, in der feinsinnig bedauert wird, daß die alteNachkriegsweltordnung nicht mehr möglich ist, weildieser Einsatz vom Sicherheitsrat nicht in der klassi-schen Form mandatiert worden sei. Das kann ich keinemMenschen vermitteln, der mit einem Gewehr bedrohtwird, dem mit dem Messer die Kehle durchgeschnittenwird, der auf einen Traktor gesetzt wird, fünf MinutenZeit hat, sein Haus zu verlassen – beim Verlassen desDorfes sieht er noch, daß es angezündet wird –, und derdie Demokratien fragt, ob sie denn bei aller Freiheitlich-keit am Ende wehrlos gegenüber solchen Staatsmännernin Form von Terroristen sind. Diese Frage kann ich nurso wie Wolfgang Schäuble beantworten.
Diese Frage ist natürlich schwierig. Man kann unsvorhalten, daß wir uns nicht auf rechtlich sicherer Seitebefinden. Aber ich bin überzeugt, daß wir uns auf dermenschlich sicheren Seite befinden. Darum geht es beidiesem Einsatz.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Kollege Rezzo
Schlauch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als amDienstag vergangener Woche die Meldung „Milosevicbietet einseitige Waffenruhe an“ über die Ticker lief,habe ich – genauso wie wahrscheinlich viele andere –Hoffnung geschöpft. Ich habe Hoffnung darauf ge-schöpft, daß die Vertreibung der Kosovo-Albaner unddas ihnen von Milosevic zugefügte Leid und Leidenendlich ein Ende haben und die NATO ihre militäri-schen Einsätze beenden kann.Es war auch die Hoffnung darauf, daß sich die tag-tägliche Abwägung nicht mehr stellt, ob mit militäri-scher Gewalt den hunderttausendfachen Menschen-rechtsverletzungen an den Kosovo-Albanern Einhalt ge-boten werden muß. Weil diese Abwägung Tag für Tagneu getroffen werden muß, ist es wichtig, daß wir uns indieser Sitzung mit diesem Thema beschäftigen. Dies ge-schieht auch in Verantwortung gegenüber den Soldatenund ihren Familien. Wir schulden den Soldaten für jedenTag ihrer gefährlichen Einsätze Dank, den ich von hieraus zum Ausdruck bringen möchte.
Drei Wochen nach Beginn der Bombardierungendurch den NATO-Einsatz gilt es allerdings auch, poli-tisch darüber zu beraten, was bislang diplomatisch undmilitärisch erreicht werden konnte, was nicht erreichtwerden konnte und was noch erreicht werden muß. Inder Gesellschaft, aber natürlich auch innerhalb derFraktionen gibt es Kritik, Sorgen und Ängste. Diesemüssen wir immer wieder von neuem ernst nehmen,aufgreifen und auch immer wieder auf den Prüfstandstellen. Wir müssen immer wieder begründen, warumwir trotzdem so handeln, wie wir es tun.Viele Menschen sehen das Risiko einer Ausweitungdes Konfliktes, fürchten eine Eskalation der militäri-schen Gewalt und fragen sich, wie die Waffen endlichwieder schweigen können.Wir alle fragen uns, ob es eine Alternative gibt. Wiralle sehen jeden Abend die geschundenen, vertriebenenMenschen im Kosovo und müssen feststellen, daß esnicht gelungen ist, die von Milosevic systematisch orga-nisierte Deportation einer ganzen Bevölkerungsgruppezu stoppen. Annähernd 1 Million Menschen sind auf derFlucht; sie werden aus ihrer Heimat vertrieben und be-raubt; ihre Häuser werden zerstört und die Dörfer demErdboden gleichgemacht. Uns alle treibt die Frage um:Dr. Wolfgang Gerhardt
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Wie können wir das verhindern? Wie kann diese Bar-barei Milosevics gestoppt werden? Wie können wir dieVoraussetzungen dafür schaffen, daß die Menschen inihre Heimat zurückkehren können?Jeder Vorschlag muß aufgenommen, geprüft unddann verworfen oder auch umgesetzt werden. Ich re-spektiere die Motive derjenigen, die nach ernsthafterAbwägung vorschlagen, die NATO-Angriffe teilweiseoder zeitweise auszusetzen, aber ich teile sie nicht. Fürmich verkehrt sich diese Forderung nach einem einsei-tigen Waffenstillstand durch die zynische Logik Milo-sevics in ihr Gegenteil. Ein einseitiger Waffenstillstanddurch die NATO würde nur dazu führen, daß Milosevicdas Brandschatzen, das Morden und den von langerHand vorbereiteten Plan der Vertreibung der Kosovo-Albaner ungestört und vor allem unsanktioniert fortset-zen könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir habengelernt: Dies ist nicht aus der Luft gegriffen. So hat er esin Bosnien gemacht, indem er Feuerpausen und Entge-genkommen ohne Bedingungen immer ausgenutzt hat,um militärische und strategische Vorteile aufzubauen.Krieg ist immer schrecklich. Wir müssen aber genauhinsehen, wer im Kosovo Krieg gegen wen führt undwie die Zielsetzungen dieses Krieges aussehen. Milose-vic führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Sein Zielsind die Zivilisten. Das Objekt der NATO-Einsätze istdas Militär, die militärische Unterdrückungsmaschinerievon Milosevic. Meine Damen und Herren, gerade vonlinks, ich glaube, das ist der gravierende Unterschied,den Sie in Ihre Analysen nicht einbeziehen und auch imvorgelegten Entschließungsantrag nicht berücksichtigenbzw. so verwischen, daß Täter zu Opfern werden undOpfer zu Tätern.
Natürlich ist jede Rakete und jede Bombe, die ihr Zielverfehlt und unschuldige Zivilisten trifft, schrecklich,aber dies ist auf tragisches technisches oder menschli-ches Versagen zurückzuführen. Bei Milosevic ist es aberPrinzip, die Zivilbevölkerung treffen und vernichten zuwollen. Dieses menschenverachtende und menschen-rechtsverletzende Prinzip muß durchbrochen werden.Deshalb sehen wir in der Mehrheit so lange keine über-zeugende Alternative zu den militärischen NATO-Einsätzen, bis es zu einer politischen Lösung kommt.
Es gibt auch Stimmen, die sagen, NATO-Einsätzehätten das Leid der Kosovaren verschlimmert.
Einige wenige sprechen sogar davon, sie hätten es her-vorgerufen.
Ich kann nur davor warnen, Ursache und Wirkung zuverwechseln. Es ist nicht die NATO, vor der die Men-schen fliehen. Es ist die Soldateska von Milosevic.
Nicht die NATO hat den Krieg begonnen, sondern dieNATO will diesen Krieg zu Ende bringen.Ich bin, meine Damen und Herren, jedesmal beein-druckt, wenn ich abends Stimmen aus den Flüchtlings-kreisen höre, die, in ihrem tiefsten Elend befragt, uniso-no sagen: Wir sind dankbar, daß die NATO bombar-diert. Wir begrüßen die NATO.
Dies müssen Sie bei Ihrer Abwägung mindestens genau-so mit einbeziehen
wie die Frage, welche Schäden in Serbien und in Bel-grad entstehen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Verbre-chen von Milosevic gegen die Menschlichkeit von lan-ger Hand geplant waren. Wir wissen, daß im Oktoberletzten Jahres bereits 300 000 Menschen vertrieben wor-den waren – diese Situation hat dann zum Grundlagen-beschluß des Deutschen Bundestages geführt –, in denWäldern des Kosovo auf der Flucht waren und dort aus-geharrt haben. Noch während sich die Völkergemein-schaft im Februar dieses Jahres intensiv um eine diplo-matische Lösung bemühte, hat Milosevic gezielt militä-rische Streitkräfte in großem Umfang in den Kosovoverlegt.Milosevic ist jemand, auf den man sich nicht verlas-sen kann. Das hat die Geschichte gezeigt. Das Abkom-men zwischen Milosevic und Jelzin ist sofort gebrochenworden. Das Friedensabkommen zwischen Holbrookeund Milosevic ist auch sofort gebrochen worden.
Daran kann man erkennen, daß Milosevic auch die Zei-ten, in denen man sich um eine friedliche und politischeLösung bemüht hat, nur genutzt hat, um seine ethnischeKriegsführung vorzubereiten und durchzuführen. Des-halb können für eine Beendigung der NATO-Einsätzevon Milosevic nicht mehr Worte, sondern nur noch Ta-ten zählen. Diese Taten bestehen in der sofortigen Ein-stellung der kriegerischen Handlungen und im soforti-gen Rückzug aller militärischen Kräfte aus dem Kosovo.
Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Frie-densplan bietet noch einmal die Chance zu einer friedli-chen Lösung. Dabei ist es im Interesse der Kosovo-Albaner unverzichtbar, daß Milosevic mit dem Abzugder militärischen Kräfte verifizierbar beginnen muß, be-vor eine befristete Unterbrechung der NATO-Angriffeerfolgen kann.Diese Initiative zeigt auch, daß von seiten der Bun-desregierung nichts, aber auch gar nichts unversuchtgelassen wurde und wird, um im Vorfeld, aber auchwährend der militärischen Auseinandersetzung eineRezzo Schlauch
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politische Lösung zu erreichen. Aber eine politische Lö-sung setzt den glaubhaften Willen zur Politik auf seitenMilosevics voraus. Solange dieser Wille nicht zu erken-nen ist, sieht die überwiegende Mehrheit meiner Frakti-on keine andere Möglichkeit, als Milosevic mit militäri-schen Mitteln die Fähigkeit zur ethnischen Kriegsfüh-rung zu nehmen.Ich glaube, daß es an dieser Stelle notwendig ist – dashaben auch alle meine Vorredner getan –, den Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern der deutschen Hilfsorganisa-tionen, die in den Regionen, in die die Menschen flie-hen, einen unermüdlichen Einsatz leisten, und auch denSoldaten in Mazedonien, die ja humanitäre Hilfe leistenund damit das Leid der gepeinigten Menschen lindern,herzlich zu danken.
Wir müssen alles tun, um die Länder zu unterstützen,in denen die Menschen Zuflucht suchen. Milosevicsteuflischer Plan, durch Vertreibung auch die Nachbar-länder zu destabilisieren, darf nicht aufgehen. Um das zuverhindern, werden auch finanzielle Hilfen nicht ausrei-chen. Die Europäische Union ist aus unserer Sicht nochzu viel größeren Anstrengungen aufgefordert. Sie istaufgefordert, einen geringen Teil – er ist winzig im Ver-gleich zum gesamten Flüchtlingselend – der Flüchtlingevorübergehend aufzunehmen, bis sie wieder in ihreHeimat zurückkehren können. Die Zusage unseres Lan-des, 10 000 Menschen aufzunehmen, ist ein ersterSchritt. Ich glaube, er wird nicht ausreichen.Auch und gerade in unserem Land gibt es eine großeWelle der Hilfsbereitschaft. Menschen spenden Millio-nenbeträge. Viele sind bereit, Flüchtlinge bei sich auf-zunehmen. Das zeigt, daß Deutschland mit seiner Zusa-ge, 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen, noch nicht am En-de seiner Hilfsbereitschaft angelangt ist. Wir dürfen undwir sollten die Hilfsbereitschaft der Menschen nicht insLeere laufen lassen.
Meine Damen und Herren, insbesondere auch von derPDS, im Kosovo kämpft eine Staatengemeinschaft nichtaus egoistischen oder chauvinistischen Motiven, sondernfür die Menschenrechte und die Interessen einer unter-drückten Bevölkerungsgruppe. Die Staatengemeinschaftentscheidet nicht aus deutschem, aus amerikanischemoder aus NATO-Interesse; sie entscheidet einzig und al-lein im Interesse der Menschen im Kosovo, der Kosovo-Albaner und des seit Jahren unterdrückten Volkes.Im Kosovo erleben wir auf unserem Kontinent nachBosnien zum zweitenmal, was wir eigentlich längst fürGeschichte gehalten haben, nämlich das Aufbrechen vonKonflikten auf Grund eines hemmungslosen Nationa-lismus. Europa, ein integriertes Europa, das ist zugleichdie – wenn auch langfristige – Antwort auf die Frage,wie der Balkan dauerhaft zur Ruhe kommen kann. UmFrieden dauerhaft zu schaffen, wird es darauf ankom-men, den Ländern in enger Abstimmung mit Rußlandeine Perspektive zu geben. Wir wissen, daß nur einepolitische Lösung eine dauerhafte Lösung sein kann,und müssen doch feststellen, daß Milosevic alle politi-schen Initiativen bisher nur dazu genutzt hat, seineKriegsführung zu perfektionieren.Wir haben die Forderung „Nie wieder Krieg“ immervertreten und damit natürlich auch gemeint: Nie wiederVölkermord. Milosevic zerreißt mit seinem verbrecheri-schen Handeln die Identität dieser beiden Forderungen.Wir müssen erkennen, daß sich die Durchsetzung derForderung „Nie wieder Völkermord“ in diesem Fall lei-der nur mit militärischen Mitteln erreichen läßt.
Meine Damen und Herren Kollegen von der PDS,wenn ich lese, daß Ihr Vorsitzender eine Pressekonfe-renz unter dem Titel „Zur aktuellen Lage im Kosovound die Mitgliederentwicklung der PDS“ abhält, dannmuß ich sagen: Durch diesen Titel werden Ihre Meinungund Ihre Haltung zu diesem Konflikt klarer als durchviele Reden.
Der von Außenminister Fischer vorgelegte Plan weisteinen Weg zum Frieden. Solange Milosevic keinenernsthaften Willen zum Frieden zeigt, bleibt keine ande-re Wahl, als diesem brutalen Diktator militärisch dieMöglichkeit zur Fortsetzung seiner ethnischen Kriegs-führung zu nehmen.Ich bin gerne bereit, meine Meinung zu revidieren,wenn mir jemand eine überzeugende Alternative nennenkann. Die Mehrheit unserer Fraktion sieht sie zum jetzi-gen Zeitpunkt nicht.Danke schön.
Das Wort hat nun
der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben ange-merkt, wir als PDS müßten aufpassen, nicht von derfünften Kolonne Moskaus zur fünften Kolonne Belgradszu werden.
Ich erinnere mich noch gut an eine Zeit, als dieCDU/CSU der SPD vorwarf, die fünfte Kolonne Mos-kaus zu sein. Das war im Rahmen der damaligen Ent-spannungspolitik.
Ich frage mich, was ein solcher Vorwurf eigentlich soll.Rezzo Schlauch
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Wenn ich mich heute auf eine Reise begeben, nachTirana fahren, dort mit politischen Vertretern sprechen,Flüchtlingslager besuchen und mit Flüchtlingen spre-chen würde: Wäre die PDS dann die fünfte Kolonne Al-baniens? Was soll das?Sie wissen, daß es in Italien eine Regierungspartei –wir sind eine Oppositionspartei – gibt, deren Regierungden Krieg der NATO gegen Jugoslawien mit beschlos-sen hat. Italien nimmt also teil. Der Vorsitzende dieserzur Regierung gehörenden kommunistischen Partei heißtCossuta. Er hat das kritisiert, ist dennoch in der Regie-rung und ist unmittelbar nach Beginn des Bombarde-ments nach Jugoslawien gefahren und hat dort mit vie-len gesprochen, auch mit Milosevic. Trotz dieser großenDifferenzen innerhalb der Regierung käme dort niemandauf die Idee, ihn deshalb zur fünften Kolonne zu erklä-ren oder sein Verhalten auch nur schädlich zu finden. ImGegenteil, es wurde begrüßt, und man hat über die Er-gebnisse diskutiert. Warum können wir nicht wenigstenssoviel Kraft aufbringen?
– Sie haben im Laufe Ihrer Geschichte doch mit so vie-len Diktatoren und übrigens auch mit so vielen Men-schenschlächtern gesprochen!
Wer hat denn zum Beispiel ständig Botha empfangen,als er noch in Südafrika metzelte? Ich verurteile dasnicht einmal, weil ich sage: Nur über Gespräche, nurüber Politik und Diplomatie kommt man letztlich zuVeränderungen, kann man Haltung und Verhalten ineiner Gesellschaft ändern.
Ich finde diesen Vorwurf auch deshalb völlig falsch,weil das Bemühen um Frieden, auch wenn es mit ande-ren Ansätzen erfolgt, doch nicht diskreditiert und dis-kriminiert werden kann, wie es hier der Fall ist.
– Das mache ich gerne.
In einer solchen Zeit kann es nicht nach dem Mottogehen, man kenne keine Parteien mehr, nur noch Deut-sche. Jedem, der sich gegen diesen Krieg stellt, wirddann vorgeworfen, sich gegen nationale Interessen zuwenden. Sie, Herr Schlauch, haben gerade gesagt, es ge-he gar nicht um nationale Interessen, sondern um dieMenschenrechte, um die Rechte der Kosovo-Albaner.Dann frage ich Sie: Wie kann der Seeheimer Kreis er-klären, daß ich allein mit einem Besuch nationale Inter-essen verrate? Das ist doch absurd, wenn wir dort garkeine nationalen Interessen verfolgen.
Es geht doch nur darum, den Weg für einen Frie-densprozeß zu öffnen. Der Krieg hat eben bisher nichtzum Frieden geführt. Es ist ein Paradoxon, davon aus-zugehen, daß Krieg zum Frieden oder zur Verwirkli-chung von Menschenrechten führt. Das hat es in derGeschichte noch nie gegeben,
und das wird es auch in diesem Krieg nicht geben.Zum Beispiel hat der Bundeskanzler Milosevic davorgewarnt, die Situation in Montenegro zu destabilisieren.Aber ich darf darauf hinweisen: Im Augenblick ist fürMontenegro weniger Milosevic das Problem als dieBomben, die ja auch auf Montenegro geworfen werdenund natürlich zu einer Stimmungsveränderung in Mon-tenegro führen. Wie kann man gleichzeitig Montenegrobombardieren und hier seine Solidarität mit Montenegrozum Ausdruck bringen?
Zum Beispiel gab es insofern ein interessantes Er-gebnis, als Milosevic gesagt hat, er sei bereit, im Beiseindes UN-Generalsekretärs mit Rugova über die Situationim Kosovo zu verhandeln. Wenn das passieren würde,wüßten wir wenigstens, was an den Erklärungen vonRugova wahr ist und was nicht wahr ist. Denn in Anwe-senheit des UN-Generalsekretärs sieht die Situation na-türlich ganz anders aus.
– Ja, natürlich, an einem anderen Ort. Das können Siedoch gerne machen.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben uns in derZeitung Zweckpazifismus vorgeworfen. Pazifismus ver-folgt selbstverständlich einen Zweck. Aber ich bin garkein Pazifist.
Das habe ich nie behauptet. Aber nur weil eine Parteigegen diesen Krieg ist, darf man sie nicht diskreditieren.Ich glaube, Ihnen und auch Herrn Schlauch und HerrnStruck geht es weniger um die PDS. Vielmehr versuchenSie, auf dem Rücken der PDS die Probleme, die Sie da-mit in Ihren eigenen Parteien haben, auszutragen. Daskönnen wir nicht hinnehmen.
Sie haben übrigens auch gesagt, daß wir gemeinsammit serbischen Nationalisten zu Kundgebungen undDemonstrationen aufrufen. Das hat es in keinem einzi-gen Fall gegeben. Aber wenn wir zu einer Kundgebungaufrufen, Herr Bundesaußenminister, dann kommen na-türlich alle, die kommen wollen. Wir werden nicht Ord-nungskräfte aufstellen und nach Gesinnung, Staatsbür-gerschaft und Nationalität prüfen, wer an der Kundge-bung teilnimmt. Das wollen Sie nicht, und das wollenwir nicht, und das werden wir auch nicht tun.Dr. Gregor Gysi
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Ich muß etwas zum Völkerrecht sagen. Der Frakti-onsvorsitzende der CDU/CSU hat es letztlich als formalbezeichnet. Ich glaube, das ist gefährlich. Wenn man dasRecht immer, wenn man es nicht auf seiner Seite hat, alsformal abtut, aber es als schwergewichtig behandelt,wenn man in Übereinstimmung mit Recht handelt, dannverliert Recht seinen Zweck. Das gilt auch für das Völ-kerrecht. Es ist doch nicht so, daß die Charta der Ver-einten Nationen keine Ausnahmen von Gewaltverbotkennen würde. Nur: Die beiden Ausnahmen, wonachmilitärische Gewalt erlaubt ist, liegen nicht vor. Die eineAusnahme ist durch Art. 51 in Kapitel VII der Chartader Vereinten Nationen gegeben, der besagt, daß mansich im Falle eines Angriffs, auch im Falle eines An-griffs auf einen Bündnispartner, verteidigen kann. Nur:Die Bundesrepublik Jugoslawien hat keinen NATO-Staat angegriffen.
Die NATO hat vielmehr die Bundesrepublik Jugoslawi-en angegriffen. Deshalb ist es kein Verteidigungs-, son-dern ein Angriffskrieg, der nach Art. 26 des Grundge-setzes verboten ist.Es gibt eine zweite Ausnahme, die durch Art. 39ebenfalls in Kapitel VII der Charta der Vereinten Natio-nen gegeben ist. Dort wird gesagt: Wenn der Frieden ge-fährdet ist oder wenn er sogar gebrochen ist, dann kannder Weltsicherheitsrat notfalls militärische Maßnah-men zur Beseitigung der Gefahr oder zur Wiederher-stellung des Friedens anordnen. Dieses Gewaltmonopoldes Weltsicherheitsrates ist ganz bewußt geschaffenworden. Dieses Monopol hat die NATO aber eindeutigverletzt, indem sie gesagt hat: Wir pfeifen auf den Welt-sicherheitsrat; wir sind der Ordnungshüter in Europa undentscheiden, wann militärische Gewalt angewendet wirdund wann nicht. – Diese Haltung soll ja sogar in dieStrategie der NATO Ende April formal aufgenommenwerden.Ich habe auch darauf hingewiesen, daß der NATO-Vertrag selbst verletzt worden ist, weil er nämlich andie UN-Charta gebunden ist. In diesem Zusammenhangwird immer gesagt, es gebe so etwas wie einen außerge-setzlichen Notstand, es gebe eine Nothilfesituation. DieNothilfefälle sind in der Charta geregelt. Wenn sie nichtvorliegen, dann stützt das Völkerrecht das militärischeEingreifen und damit den Krieg eben nicht.Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen.Selbst wenn es außerhalb der Charta der Vereinten Na-tionen eine solche Möglichkeit gäbe, dann, Herr Kinkel– das wissen Sie als ehemaliger Außenminister –, mußman sagen, daß Deutschland bewußt auf eine solcheMöglichkeit verzichtet hat. Denn in Art. 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrages, der die äußeren Bedingungen derEinheit regelt, heißt es am Ende:Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschlandund der Deutschen Demokratischen Republik erklä-ren, daß das vereinte Deutschland keine seinerWaffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Über-einstimmung mit seiner Verfassung und der Chartader Vereinten Nationen.Andere Nothilfefälle und andere Situationen, die einenEinsatz gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, sinddort nicht erwähnt.Es ist also eine klare Beschränkung, die durch dasGrundgesetz und durch die Charta der Vereinten Natio-nen gegeben ist. Diese Bestimmungen haben Sie ver-letzt. Es ist nämlich ganz eindeutig, daß der Art. 2 desZwei-plus-Vier-Vertrages verletzt ist. Wer aber die äu-ßeren Vertragsbedingungen, also die völkerrechtlicheingegangenen Verpflichtungen im Zusammenhang mitder Einheit Deutschlands, verletzt, der stellt natürlichalle äußeren Bedingungen dieser Einheit und damit denganzen Vertrag in Frage. Das halte ich für einen höchstgefährlichen Prozeß.
Ich habe schon über Glaubwürdigkeit gesprochen, diesich aus der Geschichte und auch aus der Gegenwart er-gibt. Im Zusammenhang mit dem Nachdenken über Bo-dentruppen höre ich, daß jetzt auf Grund ihrer Erfah-rungen im Umgang mit serbischen Soldaten in der Ge-schichte insbesondere an die Türkei gedacht wird.Wenn es nicht so tragisch wäre, müßte man sagen: Eswäre doch ein Aberwitz der Geschichte, daß am Endedieses Jahrhunderts türkische Truppen in Jugoslawienfür die Wiederherstellung von Menschenrechten einernationalen Minderheit eintreten, die selbst eine Minder-heit im eigenen Land, nämlich die Kurden in der Türkei,seit Jahren jagen und töten und die Dörfer brandschat-zen, ohne daß jemals die NATO ernsthaft aktiv gewor-den wäre.
In dieser Zeit des Krieges ist es ganz besondersschwer, zwischen Wahrheit, Gerücht und Unwahrheit zuunterscheiden. Das gilt eben nicht nur für eine Seite. Ichnenne Ihnen Beispiele: Es wurde gesagt, im Stadion vonPristina sei ein Konzentrationslager eingerichtet. Dannwird ein Bild veröffentlicht, das zeigt, daß das Stadionleer ist. Gestern hören wir, daß ein Flüchtlingstreck ver-sehentlich durch die NATO beschossen worden sei.Dann wird gesagt, es seien die Serben gewesen. Jetztheißt es wieder, es sei doch die NATO gewesen. Man istvöllig verunsichert in dem, was man eigentlich glaubensoll. Man hat keine Beweise. Es wird gesagt, daß es Bil-der gibt, die aber nicht gezeigt werden. Warum werdendiese Bilder nicht gezeigt, wenn sie doch die Notwen-digkeit des eigenen Handelns unterstreichen könnten?Diese Tatsache spricht dafür, daß es sie nicht gibt. DieSituation ist ungeheuer kompliziert geworden.Es wird ein Hufeisen-Plan vorgelegt. Darf ich Ihnensagen, was an diesem Plan merkwürdig ist? Der Gene-ralinspekteur der Bundeswehr hat die Originalüber-schrift dieses Planes vorgelesen. Diese Überschrift warin Kroatisch und nicht in Serbisch verfaßt. Kann mansich ernsthaft vorstellen, daß das serbische Militär inkroatischer Sprache einen solchen Plan verfaßt? Da sinddoch Zweifel geboten. Man weiß einfach nicht mehr,was man glauben und was man nicht glauben soll.Auch ich gehe davon aus, daß Schreckliches im Ko-sovo passiert, auch wenn es eindeutige Belege und Be-Dr. Gregor Gysi
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weise nicht gibt. Eine Frage konnte mir in diesem Zu-sammenhang noch keiner beantworten: Warum berich-ten wir nicht auch über die Toten und Verletzten inSerbien? Warum kommen diese in Ihren Reden nichtvor? Von Rezzo Schlauch sind sie wenigstens einmalangesprochen worden, aber weder vom Bundeskanzlernoch von Herrn Schäuble, auch nicht von Ihnen, HerrFischer.Wir haben in Serbien bisher 3 000 Verletzte und 300Tote. Das sind überwiegend Zivilisten und bei Militär-angehörigen meistens Wehrpflichtige. Die haben garkeine andere Wahl. Ihnen droht nämlich schärfste Strafe,wenn sie nicht zum Militär gehen.
Warum kann man nicht auch darüber sprechen? Warumkann man sie nicht genauso erwähnen wie andere Ver-letzte und Tote? Das müßte doch in einer Demokratieeine Selbstverständlichkeit sein!
Auch andere Widersprüche sind mir aufgefallen: Aufmilitärischem Gebiet ist genügend Geld vorhanden. Daklappt alles; da klappt die Organisation. Aber wenn esum humanitäre Hilfe geht, dann herrscht erst einmalein großes Durcheinander. Dann berät man lange überQuoten. Dann bleiben Hilfsgüter erst einmal aus. Dannwird die Bevölkerung zu Spenden aufgerufen. – Ich be-grüße die große Bereitschaft, zu spenden, genauso sehrwie Sie. Ich finde es toll, wieviel gespendet wird, umleidenden Menschen zu helfen. – Hier wird deutlich: Fürhumanitäre Hilfe reichen die Mittel der Regierung nicht;da muß die Bevölkerung zahlen. Für das Militär reichtdas Geld immer. Auf dem Gebiet der humanitären Hilfehätte die Regierung wesentlich mehr leisten können.
Hinsichtlich des Hufeisen-Planes stelle ich weiterhinfest: Herr Bundesaußenminister, wenn er echt ist undwenn er tatsächlich seit langer Zeit vorliegt, warum ha-ben Sie dies dann nicht vorher gesagt? Wenn es so ist,daß Milosevic wirklich geplant hat, die Bombenangriffefür Vertreibungen zu nutzen, dann hieße das ja – das wä-re ja noch absurder –, daß der NATO-Angriff in denPlan von Milosevic paßt. In diesem Falle hätten wir esmit einer fast absurden Konstruktion zu tun. Daher frageich: Warum war man dann nicht auf diese Vertreibungenvorbereitet, und warum hat es so lange gedauert, bis manMazedonien und Albanien diesbezüglich Hilfe zuteilwerden lassen konnte?Sie sagen immer, alles sei ausgeschöpft worden, Siehätten alles mit Ihrem Gewissen in Einklang bringenkönnen. Sie sagen, es habe keine weiteren Möglichkei-ten gegeben, es habe bombardiert werden müssen. Darfich Sie fragen: Wieso können Sie jetzt plötzlich eineUN-Hoheit auch für Truppen fordern, wieso war dasin Rambouillet nicht möglich? Wie konnten Sie alsosagen, Sie hätten alles ausgeschöpft?
Für Milosevic wäre es doch viel schwerer gewesen, neinzur UNO als nein zur NATO zu sagen. Das heißt, Siehaben nicht alles ausgeschöpft. Angesichts des militäri-schen Teils des Rambouillet-Abkommens, in dem steht,daß die NATO die gesamte Hoheit über Jugoslawien er-hält, und zwar zu Lande, zu Luft und im Wasser, kannman doch nicht von Ausschöpfen sprechen. Auch einedemokratisch gesinntere Führung in Jugoslawien hätteso etwas niemals unterschreiben können. Deshalb sageich Ihnen: Die Möglichkeiten in Rambouillet sind ebennicht ausgeschöpft worden.
Eine wirklich schwierige Situation entstand mit derPause in Rambouillet, weil Milosevic schon wußte, daßer dieses Abkommen nicht unterschreiben wird, weil erauch wußte, daß er bombardiert wird. Daher galt für ihndas Abkommen mit Holbrooke nicht mehr, und dann ister – auch aus militärischen Gründen – wieder in das Ko-sovo vorgestoßen.
– Ich habe ja gerade gesagt: Das war in der Pause vonRambouillet. Aber er hat ja das Abkommen mit Hol-brooke zunächst eingehalten. Auch Sie haben bestätigt,daß er sich zunächst zurückgezogen hat. Deshalb müs-sen wir zu Verhandlungen zurück und hin zu Ergebnis-sen.Wenn solche Vorschläge jetzt möglich sind – mehrhabe ich nicht festgestellt –, heißt das, daß sie auch da-mals schon möglich gewesen wären, daß die Möglich-keiten damals eben nicht ausgeschöpft worden sind.
Ich warne auch vor der Verwendung falscher Be-griffe. Die Verwendung der Begriffe „Auschwitz“ und„Hitler“ ist falsch. Das alles sollte man nicht tun. Manbagatellisiert damit deutsche Geschichte, nur um eineneigenen Rechtfertigungsgrund zu haben. Vertreibungensind doch schlimm genug. Auch Morden und Töten sindschlimm genug. Warum muß man denn noch andereVokabeln benutzen, nur um zu beweisen: Deutsche Ver-brechen sind nicht einmalig? Sie kommen auch bei an-deren vor. – Das ist falsch. Das ist unangemessen.
Juden, Sinti, Roma und andere sind eben nicht vertrie-ben worden, sondern nach Auschwitz gebracht worden.So schlimm Vertreibung ist: Ich glaube, wenn sie in einanderes Land vertrieben worden wären, wäre das heutenicht mehr so ein Thema, wie es ein Thema ist, weil siein die Gaskammer geführt worden sind. Deshalb sageich: Vergleiche mit den von mir genannten Begriffensind unzulässig und führen uns überhaupt nicht weiter.Sie wissen, daß man mit Übertreibungen politische Lö-sungen nur erschwert und nicht herbeiführt.
Dr. Gregor Gysi
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2638 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999
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Vertreibungen – das wissen Sie ganz genau – habenauch die Siegermächte in bezug auf Hitler beschlossen,und zwar die USA, Frankreich, Großbritannien und dieSowjetunion in bezug auf die Deutschen in den Ostge-bieten. Das war schlimm genug. Deshalb waren Vertrei-bungen bei den Faschisten keine einmalige Sache. Auchdie Siegermächte haben damals leider – Sie wissen,wieviel Leid das bedeutet hat – Vertreibungen beschlos-sen.
Herr
Kollege Gysi, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vertreibungen sind
schlimm, und sie müssen im Kosovo beendet werden.
Aber ich sage Ihnen auch: Wir müssen aus der
Kriegslogik heraus und hinein in die Friedenslogik.
Sie können eine Tatsache nicht leugnen: Noch keine
Bombe, die in Jugoslawien abgeworfen worden ist – ich
habe mir Verletzte, zerstörte Fabriken und Gebäude so-
wie ein Heizwerk angesehen, das beschädigt worden ist,
so daß 200 000 Menschen einer Stadt frieren, weil keine
Heizung mehr funktioniert –, hat etwas genutzt.
– Nein, Sie haben den Einsatz von Bomben beschlossen.
Das nutzt keinem Kosovo-Albaner. –
Noch keine einzige Bombe, die auf Serbien oder auf das
Kosovo gefallen ist, hat das Leid nur eines einzigen Al-
baners gelindert. Darum geht es doch. Deshalb werden
wir in unseren Friedensbemühungen fortfahren.
Herr
Kollege Gysi, ich bitte, nun wirklich zum Schluß zu
kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sage Ihnen: Wir müssen
endlich den Wahnsinn stoppen und an die Stelle des
Wahnsinns des Krieges wieder die Vernunft setzen.
Als nächster Redner hat das Wort der Bundesaußenmi-
nister, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr KollegeGysi, Ihre Rede hat nicht nur eine große Verwirrung derPolitik in Ihrem Kopf gezeigt, sondern auch eine Ver-wirrung der Werte,
auf denen dieses Europa seit 1945 Gott sei Dank steht.Wenn Sie sich hier als Friedenslogiker hinstellen – ge-stern war mit Lukaschenko noch ein weiterer Friedens-logiker in Belgrad –,
dann kann ich Ihnen nur sagen: Krieg, Herr Kollege Gy-si, ist eine furchtbare Sache.Das Furchtbare am Krieg ist, daß er auch und vor al-len Dingen die Unschuldigen trifft. Aber vor dem Hin-tergrund der historischen Erfahrung, die unser Land ge-macht hat, daß es den furchtbarsten Krieg auf dem Kon-tinent, den furchtbarsten Krieg in der Geschichte zu ver-antworten hat, haben die Europäer nach 1945 durch einewerteorientierte, an Demokratie, Frieden und der Herr-schaft des Rechts orientierte Antwort für alle beteiligteneuropäischen Nationen in Westeuropa – und seit demEnde des Kalten Krieges mittlerweile auch in Gesamt-europa – Erfolge erzielt. Diese Antwort ist die Grund-lage eines dauerhaften Friedens, der nicht auf Unterwer-fung und nicht auf einer menschenverachtenden Ideolo-gie beruht.Was Sie gemacht haben, ist keine Friedenslogik. BertBrecht nennt dies das Geschäft des Weißwäschers. Dasmöchte ich Ihnen klipp und klar sagen.
Wir sind am Ende einer Entwicklung angelangt, die1989 im Kosovo begonnen hat.
Dort hat Milosevic das Autonomiestatut aufgehoben.Dort nahm die großserbische Ideologie ihren Anfang,die wesentlich zur Zerstörung Jugoslawiens beigetragenhat. Die Blutspur führt bis heute über mehr als 200 000unschuldige Menschen. Diese kommen in Ihrer Redenicht vor. Sie sprechen vom Völkerrecht. Ich frage Sie:Wo ist das Recht der Ermordeten in den Massengrä-bern? Wo ist bei Ihnen das Recht der vergewaltigtenFrauen? Wo ist das Recht der Vertriebenen?
Ich sage das als jemand, der sich weiß Gott – KollegeGerhardt hat ein Recht darauf, dies anzusprechen –schwer damit getan hat, diese Pest der europäischenVergangenheit, einen großserbischen Nationalismus wieden, den wir mit dem großdeutschen Nationalismus auchhatten, diese Form, die darauf setzt, daß das eigene Volkdas wichtigste ist und deswegen andere Völker vertrie-ben, unterdrückt und massakriert werden dürfen, zu ak-zeptieren. Das hatten wir auch. Ich hatte wirklichSchwierigkeiten damit, zu akzeptieren, daß dies wiederda ist, daß dies eine rohe Form von Faschismus ist. DasDr. Gregor Gysi
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Europa der Demokratie kann diese rohe Form des Fa-schismus nicht akzeptieren.
Ich frage Sie: Wo sind die mehreren tausend Männer ausSrebrenica? In welchem Massengrab liegen sie? Werträgt dafür die Verantwortung?Sie mögen den Plan nennen, wie Sie wollen. Ent-scheidend ist doch die Frage, daß es bereits im letztenJahr angefangen hat. Lesen Sie doch die Biographien derheute nach Deutschland gekommenen Familien, ihreVertreibungsgeschichten. Lesen Sie sie doch! Dannwerden Sie feststellen: Es ging im letzten Jahr los, beimanchen sogar im Frühjahr letzten Jahres.Wir hatten 300 000 Binnenvertriebene, das heißt,die Sache war bereits in vollem Gange. Seselj, der stell-vertretende Ministerpräsident in der Regierung, will undwollte das albanerfreie Kosovo. Das wurde dann umge-setzt. Es kam dann zur Bombendrohung der NATO, derwir alle nur schweren Herzens zugestimmt haben. Eskam zu einem Stillstand. Es gelang, die humanitäre Ka-tastrophe zu unterbrechen – leider nur zu unterbrechen.In der Endphase von Rambouillet hatten wir bereits65 000 neue Vertriebene. Die Aufstellung des serbi-schen Militärs ist heute nachzuvollziehen. Es läuft nachder Devise, die sattsam bekannt ist: Das Militär machtdie militärische Arbeit. Anschließend kommen die Son-dereinheiten – fast hätte ich gesagt: die „Einsatzgrup-pen“ – des MUP und der Paramilitärs, die dann dasschmutzige Geschäft der Vertreibung erledigen.Hätten Sie es für möglich gehalten, daß eine Kriegs-führung wie die der Belgrader Regierung wieder mög-lich wird, mit Deportation – ich wiederhole: Deporta-tion –, also mit zwangsweiser Zusammenführung nachdem Motto: rein in die Züge, raus aus dem Land? HättenSie es für möglich gehalten, daß eine Großstadt wiePristina im Jahre 1999 Gegenstand von Krieg,Kriegspolitik und von Vertreibungspolitik einer Regie-rung in Europa ist? Ich hätte das nicht für möglich ge-halten, aber es ist bitteres, blutiges Faktum, Herr Kol-lege Gysi.
Es geht hier um die Frage: In welchem Europa wol-len wir in Zukunft leben? Da sind wir an einem Punktangekommen, wo wir nicht weiter zurückkönnen. Ihnenmüssen doch die ganzen Spanienlieder, die Sie so seli-gen Auges mit Ernst Busch gesungen haben, im Halsestecken bleiben. „No passarán“, hieß es.
Sie beziehen sich doch auf eine Tradition, in der amManzanares mit der Waffe in der Hand – leider nicht er-folgreich, aber mit großem kämpferischem Einsatz –1936 bis 1938 versucht wurde, die spanische Republikzu verteidigen. Und heute? Heute machen Sie sich hierzum Weißwäscher der Politik eines neuen Faschismus,der auf Vertreibung und ethnische Reinheit für einegroßserbische Politik setzt. Mit linker Politik und Frie-denslogik hat das nichts zu tun.
Ich habe es vorhin gesagt: Es steht hier das Europades Nationalismus – wenn wir diesem nachgeben, dannwerden wir das Erreichte der vergangenen fünf Jahr-zehnte in Frage stellen – gegen das Europa der Integrati-on. Festigkeit auf der einen Seite und die Bereitschaft,den Weg zum Frieden in jedem Augenblick zu betretenauf der anderen Seite, müssen unsere Haltung kenn-zeichnen.Die Festigkeit stellt sich im westlichen Bündnis inden fünf Punkten unseres Friedensplanes dar. Für unsist unannehmbar – darüber kann und darf nicht verhan-delt werden, weil dies hieße, es zu akzeptieren –, daßsich eine Politik der ethnischen Kriegsführung gegen dieZivilbevölkerung durchsetzt. Für uns ist unabdingbar,daß alle Flüchtlinge, alle Vertriebenen, alle Deportiertenin einen friedlichen und demokratischen Kosovo – ohneBedingungen und ohne Einschränkungen – zurückkeh-ren können müssen. Dies ist nur möglich, wenn alle ser-bischen Einheiten, alle bewaffneten Einheiten der Bun-desrepublik Jugoslawien, alle Sonder- und Polizeiein-heiten und Paramilitärs abziehen. Die Menschen werdennicht zurückkehren, wenn die Mörder im Lande bleiben.Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.Aber es geht nicht nur um einen völligen Abzug, son-dern gleichzeitig gilt auch: Wir brauchen eine robusteinternationale Friedenstruppe mit einem klaren Auftrag,um diese Menschen in einem friedlichen, multiethni-schen Kosovo tatsächlich zu schützen. Das sind diePunkte, auf die sich die internationale Staatengemein-schaft verständigt hat.Die Europäische Union – ich möchte hinzufügen:auch und gerade die neutralen Länder in der Union –trägt diesen Entschluß mit. Für mich ist besonders wich-tig, daß im Beschluß der Außenminister auch steht, daßdie Europäische Union nicht bereit ist, den Erfolg einerPolitik der Deportation und der Zerstörung eines Volkesaus brutalen nationalistischen Gründen zu akzeptieren.Die Europäische Union, die NATO und auch der VN-Generalsekretär – das halte ich für sehr wichtig – stehenzu diesen fünf Punkten. Das sind auch die Ziele, für dieunsere Soldaten gegenwärtig kämpfen, für die sie bereitsind, ein sehr, sehr großes Risiko einzugehen. Ichmöchte unseren Soldaten dafür danken.Ihnen, Kollege Gysi, möchte ich eines sagen: Sie ha-ben als Oppositionsabgeordneter natürlich ein Recht aufUrlaub. Ich finde es aber ziemlich übel, wenn Sie mitUmweg über Belgrad direkt von Gran Canaria kommenund den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern humanitärerHilfsorganisationen, des Auswärtigen Amtes und desInnenministeriums vorwerfen, sie hätten versagt, siehätten sich nicht auf Milosevics Kriegsführung vorbe-Bundesminister Joseph Fischer
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reitet, die Bundesregierung habe nicht mobilisiert, wirseien auf die Spenden der Menschen angewiesen. Ichbin froh, daß die Menschen spenden.
Und ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung, dieEuropäische Union und der UNHCR haben seit Beginnder Vertreibung rund um die Uhr gearbeitet. Wir habenes nicht nötig, uns nachher von einem Abgeordneten,der sich im Urlaub befunden hat, beschimpfen zu lassen.Das will ich Ihnen im Namen der Mitarbeiterinnen undMitarbeiter sagen.
– Entschuldigen Sie, daß ich hier persönlich und emo-tional reagiere. Ich möchte Ihnen aber einmal klipp undklar sagen: Ich habe erlebt, daß die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter aller Ministerien, auch der nachgeordnetenBehörden, der Bundeswehr wie auch der zivilen Teileunserer Staatsverwaltung, der Europäischen Union, aberauch des UNHCR von Beginn an rund um die Uhr gear-beitet und Großartiges in bezug auf die Abwehr dieserhumanitären Katastrophe geleistet haben. Sie müssenschon entschuldigen, daß ich Ihre Kritik dann als zutiefstungerecht zurückweise.
Meine Damen und Herren, eines muß völlig klar sein:Wir werden im westlichen Bündnis nicht mehr denWorten von Herrn Milosevic trauen, sondern nur nochseinen Taten. Eine einseitige Verkündung einer Waffen-ruhe würde nur zu unendlichen Verhandlungen mit demErgebnis führen, daß Herr Milosevic seine Politik derethnischen Kriegsführung gegen die kosovo-albanischeBevölkerung durchsetzen würde. Eine einseitige Vorlei-stung kann es nicht geben.Wir sind uns im Bündnis einig, daß es wichtig ist, ei-ne Resolution des UN-Sicherheitsrats zu bekommen.Da sich aber der Abgeordnete Gysi hier hingestellt undgefragt hat: Warum habt ihr das nicht von Anfang angewollt?, muß ich sagen: Wir haben es von Anfang angewollt, Kollege Gysi. Rußland ins Boot zu holen istwichtig. Rußland ins Boot zu holen heißt aber, daßRußland seine Blockadehaltung im Sicherheitsrat derVereinten Nationen aufgibt. Und genau daran arbeitenwir. Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daß es un-erläßlich ist, auf der Grundlage einer VN-Resolution ei-nen politischen Lösungsansatz zu suchen; nur dies be-deutet den Einschluß Rußlands. Es liegt aber an Ruß-land, seine Blockadehaltung aufzugeben. Genau darüberläuft gegenwärtig eine, wie ich finde, sehr konstruktiveDiskussion.Die Friedensinitiative muß davon ausgehen, daß eskeine einseitigen Vorleistungen geben kann und darf.Nach einer VN-Sicherheitsratsresolution nach Kapi-tel VII muß Belgrad das Angebot gemacht werden, in-nerhalb einer bestimmten Frist alle seine Truppen ausdem Kosovo zurückzuziehen. Erst wenn mit diesemRückzug verifizierbar begonnen wird, nicht vorher –dies zu begreifen ist wichtig –, halte ich eine einseitigeWaffenruhe für notwendig. Wird der Rückzug innerhalbdieser Frist abgeschlossen, halte ich eine dauerhafteWaffenruhe für notwendig.Als nächster Schritt wird die Implementierung einerinternationalen Friedenstruppe, gründend auf einerentsprechenden VN-Sicherheitsresolution nach Kapi-tel VII, erfolgen. Sie wird eine sehr starke NATO-Komponente beinhalten müssen – das wird sowohl vonder militärischen als auch von der politischen Seite hernicht anders gehen können –, unter Einschluß Rußlands,unter Einschluß der neutralen Staaten innerhalb der EUund unter Einschluß der Ukraine, die ebenfalls eine sehrwichtige Funktion hat. Mit Implementierung der inter-nationalen Friedenstruppe wird es auch zu einer Rück-kehr der humanitären Organisationen kommen könnenund damit zu einer Rückkehr der Flüchtlinge in ein mul-tiethnisches, friedliches Umfeld im Kosovo.Das sind die Ziele, das ist der Plan. Das ist keine Ka-pitulation Belgrads, sondern ein faires Angebot.Darüber hinaus wollen wir einen „Stabilitätspaktsüdlicher Balkan“ erreichen, der die ganze Region sta-bilisiert und eine Perspektive hin zum Europa der Inte-gration eröffnet. Es wird um drei Körbe gehen: erstensum die Sicherheit aller – um die Sicherheit der Grenzen,um die Sicherheit der Minderheiten und um die Herr-schaft des Rechts statt der Gewalt –; zweitens um diewirtschaftliche Entwicklung hin zum Europa der Inte-gration – ein langfristiger Prozeß, bei dem wir in derVerantwortung stehen –; drittens um Demokratie, um diedemokratische Implementierung von Institutionen undeine demokratische Zivilgesellschaft in dieser Region.Alle Nachbarstaaten in dieser Region haben auf dieVorschläge der deutschen Präsidentschaft sehr, sehrpositiv reagiert. Die Voraussetzung dafür ist allerdings,daß die Politik des Europas der Integration in dieser Re-gion Einzug hält. Dazu gehört für uns, so betone ich,auch und gerade das serbische Volk. Serbien wird vonMilosevic zerstört. Das ist eine große Tragödie. Das ser-bische Volk hat selbst am meisten unter Milosevic zuleiden. Die großserbischen Versprechen werden in ei-nem Rumpfserbien enden; das ist eine große Tragödie.Wir dürfen nicht müde werden, zu erklären: DieserKrieg richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Dasserbische Volk gehört zu Europa. Wir müssen ihm denWeg zurück nach Europa in Frieden wieder eröffnen.
Wir haben mit dieser Friedensinitiative klargemacht,daß wir nicht bereit sind, einer Eskalationsautomatik,wie sie vor allem Milosevic betreibt, zu folgen. DiePolitik muß in diesem Konflikt, den wir alle nicht woll-ten, die Verteidigung der Menschenrechte, die Freiheit,das Europa der Integration bestimmen. Das muß auch inZukunft gelten. Keine Eskalationsautomatik, aber auchkein Beugen der Knie vor einer Politik der ethnischenSäuberung! Dies muß und wird der Vergangenheit an-gehören.Bundesminister Joseph Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2641
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Eines sage ich Ihnen klipp und klar: Wenn Sie nichtwollen, daß die nächste blutige Runde in Montenegro, inMazedonien stattfindet, dann muß im südlichen Balkandie Logik des Krieges gebrochen werden.
Es wird dort nur dann Frieden geben, wenn die Logikder ethnischen Säuberung gebrochen wird, wenn dasVertreiben, wenn der Nationalismus dort endgültig eineNiederlage erleidet.Diese Niederlage werden wir Milosevic nicht erspa-ren können und nicht ersparen dürfen. Wenn er Friedenwill, kann er jetzt unser Friedensangebot annehmen.Wenn er Frieden will, dann ist die Rückkehr für Serbienin ein Europa der Integration und des Friedens offen.Wir haben ein Friedensangebot gemacht. Die Antwortliegt jetzt bei Milosevic. Wenn diese Antwort weiterKrieg bedeutet, dann, so kann ich Ihnen nur sagen, wirder auf die Festigkeit, die Entschlossenheit und Geschlos-senheit des Westens, der europäischen und der transat-lantischen Staatengemeinschaft treffen. Die Bundesre-publik Deutschland wird an diesem Punkt nicht wankenund nicht wackeln. Wir sind davon überzeugt: Wenn wirhier nachgeben würden, würden wir nicht Frieden be-kommen, sondern eine weitere blutige Runde des Krie-ges.
Zu einer
Kurzintervention von höchstens drei Minuten hat der
Kollege Gysi das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesaußenminister,
ich habe festgestellt, daß Sie den Weg der Sachlichkeit
verlassen und persönlich werden. Es ist richtig: Ich habe
über Ostern ein paar Tage Urlaub gemacht, wenn auch
nicht in Gran Canaria. Ich glaube, daß mir das nach weit
mehr als einem Jahr ohne Urlaub auch zustand. Das muß
ich mir von Ihnen nicht vorwerfen lassen – schon gar
nicht von Leuten, die ständig in der Toskana Urlaub ma-
chen.
Was also soll das?
Nun zu unserer sachlichen Differenz: Sie haben sich
hier gegen Vertreibung, gegen Morden, gegen Nationa-
lismus ausgesprochen. Etwas anderes hat auch in der
PDS nie jemand getan, und wir werden das weiterhin
tun. Es gibt nicht die Alternative: das eine, was Sie
wollen, oder Krieg. Das ist einfach ein falscher Ansatz.
Herr Fischer, sagen Sie mir: Haben Ihre Bomben Ver-
treibung verhindert? Welche Bombe hat das Leid eines
einzigen Kosovo-Albaners auch nur gelindert?
Seit neun Jahren reise ich durch Europa. Es ist das er-
ste Mal, daß ich wieder eine richtig antiamerikanische,
eine richtig antideutsche, eine richtig antiwestliche
Stimmung in der Bevölkerung gespürt habe. Das wird
wiederum die Generation nach uns austragen müssen.
Wir wissen, daß es dieselben Stimmungen auch in der
russischen Bevölkerung gibt. Es geht doch nicht immer
nur um die Regierungen – die sind doch gar nicht wich-
tig –, es geht um die Bevölkerung. Bisher ist kein einzi-
ger Verantwortlicher in Jugoslawien durch eine Bombe
gestorben.
Darf ich Sie fragen, was ein Albaner davon hat, wenn
Arbeiter einer Nachtschicht wie die in jenem Pkw-Werk
verletzt werden? Der Krieg ist einfach das falsche
Mittel; damit lösen wir kein einziges humanitäres Pro-
blem.
Sie haben am Anfang gesagt, Sie wollen bombardie-
ren, damit Milosevic unterschreibt. Ich habe gesagt, ich
glaube nicht, daß er unterschreibt. Ich habe leider recht
behalten. Sie haben gesagt, Sie wollen bombardieren,
um eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu ver-
hindern. Ich habe gesagt, ich glaube nicht, daß man sie
zum Beispiel dadurch verhindern kann, daß man das
Zentrum von Pristina völlig zerbombt. Ich glaube viel-
mehr, daß das die Katastrophe zuspitzt. – So ist es ge-
kommen. Alles ist danach schlimmer geworden; nichts
ist danach besser geworden.
Jetzt sagen Sie: Die Bomben sollen das Morden im
Kosovo verhindern. Aber Sie können doch nicht Pisto-
len, Messer, Gewehre aus den Händen bomben. Auch
das wird nicht funktionieren. Deshalb sage ich: Die
Bomben haben noch keinem einzigen Albaner geholfen,
und deshalb stimmt Ihre ganze Logik nicht. Wir brau-
chen andere Ansätze, wenn wir Menschenrechte wirk-
lich durchsetzen wollen.
Die Demokratiebewegung in Serbien ist inzwischen
völlig kaputtgemacht worden. Dort steht man jetzt ge-
schlossen gegen die NATO und gegen den Westen. Das
ist eine Tatsache. Ich sage jetzt: Das ist noch verstärkt
worden. Wir hatten große Ansätze für eine Demokratie-
bewegung in Jugoslawien. Heute gibt es sie überhaupt
nicht mehr. Das ist das Problem.
In bezug auf alle die Ziele, von denen Sie vorgeben,
daß sie durch Ihre Mittel erreicht würden, muß man sa-
gen: Damit wird kein einziges Ziel erreicht; sie werden
alle nur beschädigt. Das ist die Wahrheit.
Herr
Bundesminister, wollen Sie erwidern? – Bitte schön.
Mir liegt der Entschließungsantrag der PDS vor. Darinheißt es:Seit Aufnahme der Bombenangriffe der NATO aufdie Bundesrepublik Jugoslawien hat sich die Lageder gesamten Zivilbevölkerung im Kosovo in ex-tremer Weise verschlimmert. Die mit der Kriegs-führung verbundene Brutalisierung hat zu massivenBundesminister Joseph Fischer
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2642 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999
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Flüchtlings- und Vertriebenenströmen aus dem Ko-sovo
in die übrigen Teile Jugoslawiens, nach Albanienund Makedonien sowie innerhalb des Kosovo selbstgeführt.
Berichte über von serbischen Sicherheitskräftenund paramilitärischen Verbänden an Zivilisten be-gangene Grausamkeiten häufen sich. Zivile Gebäu-de und Einrichtungen sowie die gesamte Infra-struktur sind erheblichen Zerstörungen ausgesetzt.Ich habe in diesem Antrag verzweifelt eine Verurtei-lung der Politik der ethnischen Kriegführung gesucht.
– Kollege Gysi sagt gerade, daß diese Beschreibung –der durch das Bombardement hervorgerufenen Brutali-sierungen – zugleich eine Verurteilung sei.
Ich habe in diesem Antrag verzweifelt nach einerauch nur ansatzweise erkennbaren Verurteilung der Po-litik Milosevics gegenüber der albanischen Bevölkerunggesucht.
Insofern ist meines Erachtens jede weitere Gegenredeüberflüssig; ich empfehle die Lektüre dieses Antrags.
Es ist ein Dokument, Herr Kollege Gysi, von dem ichnur sagen kann: Es ist das Dokument einer politischenWeißwäscherei. Das wird nicht gelingen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Ministerpräsident des
Freistaates Bayern, Edmund Stoiber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Die heutige Debatte in diesem Hohen Hausefindet vor dem Hintergrund einer sehr schwierigen undmenschlich zutiefst bedrückenden und außerordentlichgefährlichen Lage in Südosteuropa statt, der vielleichtschwierigsten außenpolitischen und sicherheitspoliti-schen Situation des wiedervereinigten Deutschland. Ichbegrüße diese Debatte, die auf Anregung derCDU/CSU-Fraktion hier heute geführt wird, auch des-wegen sehr, weil unsere Bürgerinnen und Bürger inten-siv mit diesen außerordentlichen Belastungen leben. Sieerwarten natürlich nicht nur die offizielle Informationdurch die Regierung und die Parteien, sondern sie er-warten natürlich auch die Debatte in diesem Hause, umdaraus Informationen zu ziehen.Seien Sie mir nicht böse, Herr Gysi, aber eines mußich Ihnen schon vorhalten: Sie betreiben in der Tat einezynische Friedensrhetorik. Deswegen kritisiere ich das.
Angesichts der dramatischen Herausforderung, diesystematischen und organisierten Menschenrechtsver-letzungen im Kosovo zu beenden, stehen CDU undCSU geschlossen zu ihrer nationalen und europäischenVerantwortung. Wir stehen deshalb hinter der Entschei-dung der Bundesregierung, daß sich Deutschland amEinsatz der NATO zur Durchsetzung der Menschen-rechte im Kosovo mit militärischen Mitteln beteiligt.Dieses Bündnis setzt sich gerade als Wertegemein-schaft im Kosovo nachhaltig für die Wiederherstellungund Einhaltung der grundlegenden humanitären Prinzi-pien ein. Aus der Verantwortung vor der Geschichtewissen wir als Deutsche ganz besonders: Denjenigen,die diese Werte mißachten und denen Humanität, Tole-ranz und das Leben von Menschen nichts gelten, darfkein Freiraum gegeben werden.Die Solidarität des Bündnisses war gerade fürDeutschland über Jahrzehnte hinweg in der Zeit deskalten Krieges von existenzieller Bedeutung, vor allemwährend der Berlin-Blockade und des Mauerbaus, alsDeutschland in vorderster Linie stand. Zu dieser Solida-rität stehen wir voll und ganz. Diese Gemeinschaft istnicht nur eine europäische, sondern auch eine atlantischeWertegemeinschaft. Die USA sind und bleiben deshalbein entscheidender Eckpfeiler für Frieden und Sicherheitin Europa.Zugleich hat der Kosovo-Konflikt erneut deutlichgemacht, daß eine westeuropäische Friedensordnungallein nicht ausreicht, sondern eine gesamteuropäischeFriedensordnung geschaffen werden muß. Diese Anlie-gen genießen heute erfreulicherweise einen noch höhe-ren Stellenwert in der Bevölkerung. Zu einer solchenFriedensordnung gehören die gewachsenen und be-währten Beziehungen zu unserem nordamerikanischenBündnispartner.Bis auf die PDS gibt es eine nahtlose Solidarität inunserem Land mit unseren Bündnispartnern, auch wennsich die Zustimmung zum Einsatz militärischer Mittelniemand leichtgemacht hat.Mit unseren Gedanken sind wir bei den Soldaten derBundeswehr und der NATO, die ihren schwierigenAuftrag im Krisengebiet erfüllen, sowie bei deren An-gehörigen. Ich habe, weil nichts besser ist als persönli-che Information, mit den Soldaten im Lager Lechfeldgesprochen. Es ist in der Tat eine Belastung, wie sie imzivilen Leben überhaupt nicht vorkommen kann. Mankann sich nicht vorstellen, wie sich diese Menschen füruns, für die Menschenrechte einsetzen. Man kann dasBundesminister Joseph Fischer
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nicht oft genug wiederholen und den hohen Stellenwerthervorheben.
Sie sind bereit, dafür größte persönliche Risiken aufsich zu nehmen. Deswegen mein herzlicher Dank in die-se Richtung.Es blieb der PDS und ihren Sympathisanten vorbe-halten, von einer „NATO-Aggression“ gegen Jugosla-wien zu sprechen und der Bundesregierung im „NeuenDeutschland“ imperialistische Absichten zu unterstellen.Ich will hier in dieser Stunde wirklich keine Polemikeinführen, aber die SPD muß sich gerade heute ange-sichts der harten Wortwahl des Bundeskanzlers, der vonder „fünften Kolonne Belgrads“ sprach, schon die Fragestellen lassen, wie sie mit einem solchen Partner politi-sche Bündnisse eingehen kann, der eine derartige Spra-che spricht und Einstellung vertritt,
wenn es um den Einsatz gegen systematische Vertrei-bung und massenhaften Mord geht.Das menschenverachtende Regime Milosevics hat derStaatengemeinschaft letztlich keine andere Wahl gelas-sen, als nun als Ultima ratio den Verbrechen im Kosovomit militärischen Mitteln entgegenzutreten. Den Kriti-kern, die demgegenüber die Verletzung der Souveräni-tätsrechte Jugoslawiens in den Vordergrund stellen– mein Vorvorredner hat das getan –, muß man entge-genhalten: Das Völkerrecht rückt zunehmend – das isteine gute Entwicklung – den Schutz der Menschenrechteund des Lebens in den Mittelpunkt. Die Fixierung aufdie Souveränität eines Staates verliert in Konfliktfällenan zentraler Bedeutung, wenn es um grundlegendemenschliche Werte der Individuen und des Zusammen-lebens geht. Das gilt besonders, wenn man es mit men-schenverachtenden politischen Systemen zu tun hat.Seit zehn Jahren bringt Milosevic Unglück über dieVölker Jugoslawiens. Mit seiner Rede auf dem Amsel-feld vor zehn Jahren, am 28. Juni 1989 – hier ist daraufhingewiesen worden –, entfesselte er vor 3 MillionenMenschen den Ungeist des aggressiven serbischen Na-tionalismus. Jahrelang ist mit ihm auf allen Ebenen ohneErgebnisse über den Kosovo verhandelt worden. Dasmuß ich gerade an die Adresse derjenigen richten, diejetzt den militärischen Einsatz kritisieren. Europa würdeseine Glaubwürdigkeit und seine Identität als ein Konti-nent verlieren, der sich gerade aus den Lehren der Ge-schichte unseres Jahrhunderts Frieden und Menschen-rechten verpflichtet weiß.Die militärische Komponente des NATO-Einsatzesist kein Selbstzweck. Sie war und ist immer nur einMittel, ein Ende der systematischen Verletzung derMenschenrechte im Kosovo zu erzwingen. Der Einsatzmilitärischer Mittel ist ausschließlich zur Erreichungklarer politischer Ziele verantwortbar. Unser Ziel ist ei-ne dauerhafte Friedensordnung in Südosteuropa. DiesesZiel ist nicht ohne Einbindung und Einbeziehung Ruß-lands zu erreichen. Deshalb muß – der Kollege Gerhardthat völlig recht – jedes Gespräch genutzt werden, die eu-ropäische Mitverantwortung Rußlands deutlich zu ma-chen.Der Freistaat Bayern hat auf Grund der Situation nachEnde der Sowjetunion eine besondere Beziehung zu derRegion Moskau. Ich hatte letzte Woche, vom 7. bis zum10. April, zusammen mit dem Kollegen Lamers aufEinladung des Moskauer Oberbürgermeisters LuschkowGelegenheit zu einer lange geplanten Reise in die russi-sche Hauptstadt. Dieser Besuch fand nun im zeitlichenund im politischen Kontext der dramatischen Zuspitzungder Ereignisse in Jugoslawien statt.In dieser schwierigen Situation habe ich mich – ichsage das ganz deutlich – auch mit dem Bundeskanzler-amt und mit dem Außenminister abgestimmt. Es war indieser besonderen Situation unser gemeinsames Ziel, dasgute deutsch-russische Verhältnis, das besonders HelmutKohl in den vergangenen zehn Jahren aufgebaut hat, ge-rade in dieser angespannten Situation zu bewahren.
Dieses gute Verhältnis ist für uns kein Gegensatz zuunserer atlantischen Solidarität. Dieses Verhältnis zwi-schen uns und den Russen ist für uns von größter Be-deutung und darf trotz der unterschiedlichen Bewertungdes NATO-Einsatzes nicht beschädigt werden.Ich glaube, daß die These, die mein VorvorgängerFranz Josef Strauß aus historisch bemerkenswerter Sichtschon zu Zeiten des kalten Krieges 1978 gegenüber Bre-schnew zum Ausdruck gebracht hat, auch heute nochrichtig ist: Wenn das Verhältnis zwischen Rußland undDeutschland gut ist, dann ist das immer gut für die Men-schen in Rußland, in Deutschland und in Europa, undwenn die Beziehungen zwischen diesen beiden Ländernschlecht sind – leider waren sie im letzten Jahrhundertimmer sehr schlecht, phasenweise sogar außerordentlichkritisch –, dann ist das schlecht für Europa und vor allenDingen für die Menschen in Europa, in Deutschland, inRußland und in allen anderen Ländern.Ich habe in Moskau deutlich gemacht, daß sich diepolitisch verantwortlichen Kräfte in Deutschland in die-ser Frage einig sind. Diese Gemeinsamkeit ist ein großesGut. Es wäre geradezu fatal, wenn in unserer Bevölke-rung und im Ausland ein anderer Eindruck entstehenwürde.In meinen Gesprächen mit dem MinisterpräsidentenPrimakow, mit dem Außenminister Iwanow, vor allenDingen mit dem Moskauer OberbürgermeisterLuschkow, dem Vorsitzenden der Staatsduma Selesnjowund dem Vorsitzenden der Jabloko-Fraktion Jawlinskijist für mich deutlich geworden: Erstens. Rußland isternsthaft darum bemüht, an der politischen Lösung die-ses Konfliktes mitzuwirken. Moskau verweigert sichnicht, auch wenn man sich dort, insbesondere zum da-maligen Zeitpunkt – zu Recht oder zu Unrecht – ausge-grenzt fühlte.Zweitens. Die russische Führung will sich nicht in ei-ne militärische Auseinandersetzung hineinziehen lassen,obwohl starke Kräfte im Land dies fordern.Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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Drittens. Die Kritik an Milosevic nimmt deutlich zu.Die Menschenrechtsverletzungen werden zunehmendverurteilt, jedenfalls von der russischen Regierung undden demokratischen Kräften im Parlament.Viertens. Rußland zeigt Bereitschaft, sich aktiv anden Maßnahmen zu beteiligen, die zum Schutz der Men-schen im Kosovo und zur Wiederherstellung derRechtsordnung notwendig sind. Das könnte die Beteili-gung russischer Soldaten an einer gemeinsamen interna-tionalen Schutztruppe bedeuten. Darüber wird ja erfreu-licherweise seit dieser Woche intensiv verhandelt.Fünftens. Aber mir wurde auch gesagt – und zwarvon allen, einschließlich der Demokraten, einschließlichJawlinskij – Rußland würde den Einsatz von Boden-kampftruppen der NATO als eine sehr ernste Entschei-dung mit weitreichenden Konsequenzen und Eskalati-onsgefahren ansehen.Die russische Regierung hat in der Krise bisher be-sonnen reagiert, trotz anderer Mehrheiten im Parlament,in der Duma. Dort verfügen die Kommunisten und dieNationalisten, die etwas ganz anderes als die Verant-wortlichen in der russischen Regierung wollen, über ei-ne große Mehrheit. Die Bereitschaft Rußlands, an einerpolitischen Lösung mitzuwirken, müssen wir ernstnehmen. Natürlich bin ich über deutliche Signale desWestens an Rußland froh, daß seine Mitverantwortunggerade in diesem Raum, zu dem es besondere historischeund kulturelle Beziehungen hat, gebraucht wird.Ich bin überzeugt, daß die russische Regierung ange-sichts der innenpolitischen Lage in einer sehr schwerenSituation wäre, wenn es zu einem Einsatz von NATO-Bodenkampftruppen im Kosovo käme. Aber auch dar-über hinaus wären mit einer solchen Entscheidung derNATO unkalkulierbare militärische Risiken verbunden.Es wird immer wieder gefragt: Warum sagen Sie das inder Situation? Sie signalisieren doch, daß wir es nichtganz ernst meinen, Milosevic konsequent zum Rückzugzu bringen. – Nein, meine Damen und Herren, wir müs-sen die Dinge aussprechen, über die in der Bevölkerungaußerordentlich intensiv diskutiert wird.Wir haben in der Bevölkerung Gott sei Dank – dieneuen Zahlen werden heute abend wieder veröffentlicht– eine große Mehrheit, die hinter unseren Entscheidun-gen steht, Milosevic – das richtet sich nicht gegen dieSerben insgesamt – zur Einhaltung der Menschenrechtemit militärischen Mitteln zu zwingen. Gleichzeitig hateine große, eine überwältigende Mehrheit der deutschenBevölkerung Sorge und Angst vor möglichen Einsätzenvon – so nenne ich sie immer – Bodenkampftruppen.Dies spreche ich in diesem Hohen Haus, in dem Hausder Nation, sehr deutlich aus, damit die Menschen diePositionen kennen.
Ein solcher Einsatz würde zwangsläufig gerade diepolitischen Optionen verbauen, die wir zur Lösung derProbleme benötigen. CDU und CSU haben sich deshalbebenso wie die Bundesregierung klar gegen den Einsatzvon Bodenkampftruppen der NATO in diesem Konfliktausgesprochen. Wir dürfen keine Mittel einsetzen, diepolitische Lösungen erschweren oder sogar unmöglichmachen und die wir in den Konsequenzen nicht beherr-schen können. Diesen Standpunkt müssen wir nicht nurhier, sondern auch innerhalb des Bündnisses immerwieder deutlich machen.Wir stehen in einer schicksalhaften Auseinanderset-zung und vor schwerwiegenden Entscheidungen, bei de-nen das Parlament als Vertretung unseres Volkes gefor-dert ist. Für den Fall – ich unterstreiche das, was derKollege Schäuble gesagt hat –, daß eine Beteiligungdeutscher Soldaten an einem NATO-Kontingent in Al-banien, über humanitäre Maßnahmen im engeren Sinnehinaus erwogen wird, gehe ich davon aus, daß diesesHohe Haus darüber neu entscheidet. Ein solcher Be-schluß des Bundestages müßte Aufgaben und Grenzendes deutschen Beitrages zu diesem NATO-Kontingent inAlbanien klar definieren.Jetzt schlägt die Stunde der Politik; das ist heuteschon mehrfach angeklungen. Eine Lösung dieses Pro-blems kann nur auf der Basis – Herr Außenminister, Siehaben es angesprochen – von Kapitel VII der UN-Chartagefunden werden. Für diesen Vorschlag habe ich jeden-falls bei meinen Gesprächen in Rußland Aufgeschlos-senheit gespürt. Der jetzt vorgelegte Plan der Bundesre-gierung knüpft meines Erachtens in realistischer Weisean diese Signale aus Rußland an und enthält die unver-zichtbaren Bestandteile einer vor allem für die Men-schen im Kosovo notwendigen Friedenslösung.Unser Ziel muß es aber weiterhin sein, Präsident Mi-losevic zu zwingen, seine Truppen zurückzuziehen, denVölkermord und die Vertreibung der Bevölkerung zubeenden. Er muß den ersten Schritt zu einer Lösung desKonflikts machen und seine bewaffneten Einheiten ab-ziehen. Nur dann ist es möglich, daß die Opfer von Ge-walt und Vertreibung in ihre Heimat zurückkehren kön-nen. Eine Rückkehr dieser Flüchtlinge ohne Absiche-rung durch eine internationale Schutztruppe ist aller-dings nicht vorstellbar. Das ist immer wieder das Pro-blem. Natürlich sagen die Menschen ja zu einer Feuer-pause. Vielleicht kann man 24 Stunden, vielleicht zweiTage verhandeln. Nur, wir haben doch Erfahrungen da-mit gemacht: Das wäre eine Niederlage der NATO undhätte unabsehbare Konsequenzen. Deswegen sage ich esnoch einmal: Den Schlüssel für den Frieden hat Milose-vic und niemand anderes in der Hand.Bis zu einer gesicherten Rückkehr der Flüchtlingemuß die internationale Staatengemeinschaft die unsägli-che Not und das Leid dieser Flüchtlinge lindern, soweitdies irgendwie möglich ist. Vorrangig muß dabei dafürgesorgt werden, daß diese Menschen möglichst in derNähe ihrer Heimat untergebracht werden. Albanien undMazedonien, die selbst unter großer Not leiden, leistenhier Außerordentliches und Beispielhaftes. Es muß eineSelbstverständlichkeit sein, daß die westlichen Indu-striestaaten diesen Ländern bei der Lösung dieser großenhumanitären Aufgabe helfen und sie massiv unterstüt-zen. Jeder ist an seiner Stelle gefordert. Als Beitrag zurLinderung der Not hat beispielsweise der Freistaat Bay-ern vor zwei Tagen beschlossen, 10 Millionen DM fürhumanitäre Hilfsmaßnahmen in diesen Ländern zur Ver-fügung zu stellen.Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
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Militärische Solidarität im Bündnis, Herr Bundes-kanzler und Herr Außenminister, verlangt auch humani-täre Solidarität. Es darf nicht geschehen, daß Deutsch-land wie im Konflikt in Bosnien-Herzegowina die über-wiegende Zahl der Flüchtlinge aufnimmt und die damitverbundenen Belastungen alleine trägt. Es darf sichnicht wiederholen, daß wir mehr aufnehmen als alle an-deren großen und kleinen Länder in der EuropäischenUnion zusammen. Soweit eine Unterbringung in denNachbarstaaten nicht möglich ist, müssen andere StaatenFlüchtlingskontingente aufnehmen. Deutschland hat bis-her die Aufnahme von 10 000 Kosovo-Flüchtlingen zu-gesagt. Wir vermissen aber gleichwertige Beiträge ande-rer großer europäischer Partner.
Ich will, meine Damen, meine Herren, auch daraufhinweisen – ich weiß daß das schwierig ist –, welchenEindruck ich bei der Landung der Menschen aus Alba-nien in Nürnberg hatte. Natürlich stand nach ihrer Lan-dung eine große Zahl von Ärzten und Pflegern bereit,um die Flüchtlinge medizinisch und psychologisch zubetreuen. Das war – ich sage: Gott sei Dank – erstaunli-cherweise überhaupt nicht nötig. Diejenigen, die dortgelandet sind, sind meines Erachtens mit Sicherheitnicht diejenigen, die Hilfe am nötigsten brauchen. Dahaben sich vielleicht einige vorgedrängelt; vielleichtwird auch das eine oder andere über den Tisch gescho-ben. Wir müssen die Ressourcen unseres Landes für diewirklich Bedürftigen verwenden, also für die Kranken,die Alten und die Pflegebedürftigen.
Deswegen geht meine herzliche Bitte und Aufforde-rung dahin, in diese Richtung zu wirken.So dringlich die Lösung des aktuellen Konflikts ist,so wichtig ist auch eine langfristig angelegte Konzeptionzur Herstellung einer stabilen und dauerhaften Friedens-ordnung in Südosteuropa. Dazu müssen sich alle MächteEuropas an den Verhandlungstisch setzen, nicht nur dieunmittelbar betroffenen Staaten der Region.Am Ende des 20. Jahrhunderts ist es für Deutschlandund für die europäische Staatengemeinschaft eine her-ausragende Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen,unter denen die Völker Südosteuropas eine Perspektivefür eine gemeinsame friedliche Zukunft haben.Die Tür zum Frieden hat sich in den letzten Tagen einganz klein wenig geöffnet. Ein kleiner Spalt ist sichtbar.Jetzt müssen die NATO und Europa, jetzt müssen wiralle zeigen, daß wir in der Lage sind, europäische Pro-bleme zu lösen.Herzlichen Dank.
Alsnächster Redner hat das Wort der Bundesminister derVerteidigung, Rudolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istgut zu wissen, daß wir in vielen Punkten übereinstim-men. Das betrifft die klaren Voraussetzungen dafür, un-ter denen die militärischen Maßnahmen der NATO sus-pendiert werden können, nämlich nach dem Stopp desMordens, dem Rückzug der Truppen und der Rückkehrder Flüchtlinge, zu deren Garantie eine internationalemilitärische Präsenz und die Vereinbarung eines Ab-kommens auf der Grundlage der Prinzipien von Ram-bouillet notwendig sind.Wir stimmen offenbar auch darin überein, daß es umeine dauerhafte Stabilität in dieser europäischen Regiongeht und daß zum Erreichen dieses Ziels nicht nur Fra-gen der direkten äußeren Sicherheit gehören, sonderninsbesondere auch Fragen der kulturellen, der sozialenund der ökonomischen Zusammenarbeit. Wir stimmenoffenbar auch darin überein, daß es dafür einer dauer-haften und langfristigen Perspektive und Politik bedarf.Nicht zuletzt stimmen wir darin überein, daß wir insbe-sondere den Menschen für ihre Hilfsbereitschaft, diesich in der Unterstützung der deutschen Hilfsorganisa-tionen oder in der Unterstützung der größten humanitä-ren Hilfsaktion in der Geschichte der Bundeswehr aus-drückt, Dank, Anerkennung und Respekt schulden.Wenn wir in all diesen Punkten übereinstimmen,dann muß man sich die Frage stellen, worüber hier imeinzelnen gestritten wird. Ich will das zunächst an Handder humanitären Situation deutlich machen, und zwarnicht im Sinne des Streits, sondern im Sinne der Vertie-fung der Debatte. Bis heute sind mindestens 900 000Menschen aus dem Kosovo herausgejagt worden. Dassind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, die dort leb-te. Das ist nicht das Ergebnis eines plötzlichen Vorge-hens, sondern einer langfristigen Planung. Ich will dar-auf aufmerksam machen, daß Milosevic in der Kraina,in Bosnien-Herzegowina und in vielen anderen Regio-nen Kriege vom Zaun gebrochen hat, immer mit demZiel der ethnischen Säuberung und der Vertreibung.Auf die Fragen, die auch in den Medien immer wie-der gestellt werden, will ich antworten: Es mag sein –aus meiner sehr persönlichen Sicht ist es auch so –, daßam Anfang der 90er Jahre der eine oder andere Fehlergemacht worden ist. Es mag sein, daß man bei den Ver-handlungen über das Dayton-Abkommen Milosevic ge-wissermaßen noch als Stabilitätsfaktor betrachtet hat.Das mag alles sein. Aber selbst wenn man das als Fehlerbegreift: Wer gibt uns eigentlich das Recht und werverlangt von uns, diese Fehler dauernd zu wiederholen,anstatt aus ihnen Konsequenzen zu ziehen?
Ich denke, niemand gibt uns das Recht, beispielswei-se darüber hinwegzusehen, daß eine Schutzzone derVereinten Nationen – ob in Zepa, in Srebrenica oder inanderen Orten – mit schrecklichen Folgen für die betrof-fenen Menschen überrannt worden ist, daß man Soldatender Vereinten Nationen angekettet und zu ohnmächtigenZuschauern der massenhaften Ermordung von MenschenMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber
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gemacht hat. Niemand gibt uns das Recht, darüber hin-wegzusehen.Vor diesem Hintergrund – der Kollege Gysi ist jetztnicht mehr da; das ist bedauerlich; vielleicht kommt ernoch zurück – möchte ich anmerken: Wer sagt, dieseMenschen flöhen vor der NATO, der muß die Frage be-antworten, warum sie ausgerechnet in die Arme derNATO fliehen. Warum?
Der muß auch die Frage beantworten, ob er die Situationeigentlich noch ernst nimmt.Ich nehme niemandem das Recht zu reisen. Wie kä-me ich dazu? Ich frage mich nur, wieviel Zynismus manaufbringen muß, um sich nicht selbst die Frage zu stel-len: Warum versucht der Mensch, der nach Belgradkommt, um mit Milosevic zu reden, nicht auch, für eineoder zwei Stunden durch den Kosovo zu reisen? Warumverlangt er das nicht von seinem Gastgeber? Warumnicht?
Soll plötzlich alles übersehen werden, was uns Tausendeund Abertausende von traumatisierten Frauen und Kin-dern und alten Menschen erzählen? Sollen all dieSchlächtereien, die es dort gibt, übersehen werden?
Ist das alles nur Erfindung und Propaganda, was Men-schen uns erzählen: daß man die Leichen mit Baseball-schlägern zertrümmert, daß man ihnen die Gliedmaßenabtrennt und die Köpfe abschlägt? Ist das alles nur Pro-paganda, wenn Frauen mit einem toten Kind in den Ar-men über die Grenze kommen? Wieviel Zynismus mußman haben, um so kalt über rechtliche Fragen zu redenanstatt über die Menschen, die Opfer einer mörderischenMaschine geworden sind?
Ich weiß auch, daß Empörung kein Mittel der Politik ist;aber e i n Antrieb kann sie schon sein.Wenn der Kollege Gysi sagt, er habe keine Bilder ge-sehen, zeige ich Ihnen hier eines. Schauen Sie sich dieBilder aus den Tälern und den Wäldern des Kosovo an!Meinen Sie, die Menschen gehen dort hin, weil siewollten? Meinen Sie, sie fressen Gras, weil sie wollten?Meinen Sie, wir würden uns überlegen, wie man sie ver-sorgen kann, mit hohem Risiko? Schauen Sie sich dasan! Es gibt Dutzende solcher Bilder. Ich führe sie Ihnengerne alle vor, so wie ich sie auch den Journalisten vor-führe.Wenn Sie sagen, es gebe Zerstörungen durchNATO-Bomben, sage ich Ihnen: Es ist schon zynischgenug, daß die Gegenseite Wohnblocks sprengt, um denEindruck zu erwecken, eine Bombe habe ihr Ziel ver-fehlt und leider ein ziviles Objekt getroffen. Aber glau-ben Sie denn, das militärisch völlig unbedeutende Ört-chen Studencane sei von auswärtigen Truppen zerstörtworden? Sie können auf solchen Bildern genau sehen,daß jedes einzelne Haus von innen verbrannt worden ist.Vergleichen Sie das einmal mit den Bildern und Erzäh-lungen der Flüchtlinge! Was, meinen Sie, wird bei denMenschen angerichtet, die irgendwo sicher gelebt haben,wenn ihre Türen eingetreten werden, wenn schwarzmaskierte Männer in die Häuser eindringen, wenn dieMitteilung heißt: „In fünf Minuten wirst du das Hausverlassen, oder du wirst erschossen! Pack deine Kla-motten, aber bitte keine Ausweispapiere!“? Weder einAusweis noch eine Geburtsurkunde, noch eine Heirats-urkunde, nichts darf mitgenommen werden. Sogar dieKirchenbücher werden nach Belgrad gebracht, um sie zuvernichten, damit nur ja jeder Nachweis der Identität derbetroffenen Menschen zerstört ist.Dann kommen Sie hierhin und halten solche Reden.Schauen Sie sich die Bilder an! Ich führe sie Ihnen allevor. Es soll niemand den Eindruck haben, man habe dasnicht gewußt. Diese faule Ausrede, nicht zu wissen, daßes Massenmord in Europa gibt, daß es ethnische Kriegs-führung in Europa gibt, die Augen zuzumachen, um sichhinterher als überraschter, durch sensationelle Enthül-lungen plötzlich aufgeklärter Mensch reuig zu zeigen,darf nicht sein, auch nicht in der innenpolitischen Aus-einandersetzung.
Das alles hat mit den Erfahrungen in Bosnien und mitdem zu tun, was wir in der Vergangenheit schon erlebthaben. Auch ich weiß: Empörung ist kein Mittel der Po-litik, aber ein Antrieb. Dazu gehört ein klares Ziel – esist hier mehrfach genannt worden und in der großenMehrheit des Hauses unstreitig –, und dazu gehört ver-antwortungsbewußtes Handeln, damit man dieses Zielerreichen kann.Niemand trifft solche Entscheidungen mit leichtemHerzen, im Gegenteil. Aber wenn wir es nicht schaffen,der Moral die politischen Instrumente zu geben und derPolitik die Moral, dann haben wir genau jene Teilung,vor der ich persönlich Angst habe. Dann wird nämlichdie Reklamation der Moral folgenlos, oder sie läuft Ge-fahr, folgenlos zu bleiben. Dann gerät die Politik zurkalten Technokratie.Was die Hilfsorganisationen und die hilfsbereitenMenschen leisten und was in ganz wenigen Stunden vonKarfreitag nacht bis Ostersamstag morgen aus dem Bo-den gestampft wurde, die Betreuung von mittlerweileTausenden Patienten, von Menschen, die mit Hunger-ödemen, mit schweren Erkrankungen anderer Art in dieLager gekommen sind, das aufgebaute, jetzt in der Er-weiterung befindliche Lager in Mazedonien, das, waswir in Albanien in einem strikt humanitären Einsatz tun:Wenn man wissen und hoffen könnte, daß dieser huma-nitäre Einsatz reichen würde, um die Probleme zu lösen,dann wäre es ja gut. Aber er wird nicht reichen.Albanien hat mehr als 10 Prozent seiner früheren Be-völkerung aufgenommen. Die Situation in MontenegroBundesminister Rudolf Scharping
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ist außergewöhnlich risikoreich. Das zweite jugoslawi-sche Armeekorps ist mobilisiert. Die montenegrinischeRegierung hat entschieden, sich an Maßnahmen der Re-krutierung nicht zu beteiligen. Sie hat ihre Polizeikräfteverstärkt. Es ist kein Zufall, wenn in Montenegro jugo-slawische Armeeverbände die Kasernen verlassen undan bestimmten Punkten postiert werden. Auch das kenntman aus der Vergangenheit. Es gibt vielfältige solcheRisiken.Ich will auch hier im Deutschen Bundestag sagen: Siekönnen ganz sicher sein, die Bundesregierung wird sichum eine umfassende, gründliche Information so wie inder Vergangenheit bemühen. Gerade wegen der enor-men Belastungen für die betroffenen Menschen wird eskeine rechtlichen und auch keine politischen Grauzonengeben. Daß zum Beispiel die NATO in einem entspre-chenden Hauptquartier humanitäre Maßnahmen in Al-banien koordiniert, hat exakt damit zu tun, daß derUNHCR leider nicht in der Lage ist, das zu tun, weil ernicht über die Kapazitäten verfügt. Daß diese Tätigkei-ten von jedem militärischen Einsatz strikt getrennt blei-ben müssen, versteht sich von selbst.Vor diesem Hintergrund wird vielleicht deutlich,warum diese von der Bundesregierung betriebenen Din-ge zusammengehören: die Voraussetzungen schaffen,um die militärischen Maßnahmen einstellen zu können,Stabilität in der Region auch durch humanitäre Hilfevoranbringen und gleichzeitig dem Balkan, dem südöst-lichen Europa eine Perspektive geben. Ich bin davonüberzeugt: Gelingt uns das nicht, schaffen wir nicht inBulgarien, in Rumänien, in Mazedonien, in Albanienoder andernorts gute Beispiele einer positiven wirt-schaftlichen Entwicklung und eines kulturell vielfälti-gen, toleranten Zusammenlebens, dann können wir auchnicht die demokratische Opposition, das europäischePotential innerhalb Serbiens ermuntern. Mit Flugblätternalleine, so wichtig sie sein mögen, wird das nichtgehen.Auch darin wird deutlich, daß Politik sich nicht imMilitärischen erschöpfen darf. Das tut sie Gott sei Dankauch nicht. Ich fand es richtig, daß viele, am beeindruk-kendsten wohl Erhard Eppler auf dem SPD-Parteitag,von der Tragik der Situation gesprochen haben. DieseSituation haben wir zwar nicht herbeigeführt, aber wirmüssen auf sie reagieren. Wenn nach den jahrelangenErfahrungen und den monatelangen Verhandlungen keinanderes Mittel mehr zur Verfügung steht, dann muß manauf diese Weise reagieren.Ich weiß doch, wie der Außenminister und andereverzweifelt versucht haben, in Kenntnis des Charaktersder Politik von Milosevic zu einem Ergebnis zu kom-men. Ich weiß doch um das monatelange Hin- undHerreisen von Hill, Petritsch und anderen. Ich weißauch, wie in den Tagen um Ostern herum das Außen-ministerium, die Mitarbeiter des Verteidigungsministe-riums und die des Ministeriums für wirtschaftlicheZusammenarbeit auch im Interesse der Stabilität derbetroffenen Staaten versucht haben, gegen dieses ge-wissermaßen alptraumhafte Ansteigen der Flut vonVertriebenen einen Damm zu bauen und Hilfe zu orga-nisieren.Damit komme ich zu Fragen – es sind hier schonrechtliche Fragen erörtert worden –, die über den Tagund über den Konflikt hinausweisen: Hat denn nichtauch die DDR die Schlußakte von Helsinki unter-schrieben und ratifiziert? Steht nicht in der Schlußaktevon Helsinki, daß die Menschenrechtssituation eineseinzelnen Staates nicht mehr allein innere Angelegenheitdieses Staates ist? War dies nicht ein großer Fortschrittauf dem Weg hin zu einer europäischen Integration imSinne von gewaltfreiem Austausch und dem Respekt vorden Menschenrechten und vor den Rechten der Minder-heiten?Ist es nicht so – es ist so –, daß die Regierungschefsder im Weltsicherheitsrat vertretenen Nationen 1992ausdrücklich und einstimmig beschlossen haben, daß zurDurchsetzung der Menschenrechte auch Einschränkun-gen der staatlichen Souveränität erforderlich sein kön-nen? Ist es nicht so, daß schon am 9. September 1948die Vereinten Nationen eine Konvention über die Ver-hütung und Bestrafung des Völkermordes verabschiedethaben? Diese Konvention ging auf die schrecklichen Er-fahrungen des zweiten Weltkriegs zurück. Kofi Annanist schon zitiert worden, der mit Blick auf diese Kon-vention am 9. April davon sprach, daß wir unter derdunklen Wolke des Verbrechens des Völkermordes ste-hen. Er hat hinzugefügt: Der Weltsicherheitsrat darfnicht zu einem Refugium derjenigen werden, die unterdem Deckmantel der Souveränität schlimmste Verstößegegen die Menschenrechte vornehmen.Wir sollten nicht vergessen, daß das EuropäischeParlament am 20. April 1994 die Partner der Europäi-schen Union ausdrücklich aufgefordert hat, an einemrechtsbildenden Prozeß mitzuwirken, um das Völker-recht so zu entwickeln, daß man aus humanitären Erwä-gungen und aus Erwägungen bezüglich der Menschen-rechte unter folgenden Bedingungen eingreifen kann:eine außerordentliche und äußerst ernste humanitäreNotsituation – diese liegt vor –, eine Lähmung der Ver-einten Nationen – auch sie liegt zur Zeit leider vor –, dieVergeblichkeit aller anderen Lösungsversuche – es istüber Monate versucht worden, Lösungen zu erreichen –,eine begrenzte militärische Operation unter Wahrungder Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ich will Ihnen sagen,daß die NATO in den letzten 10 Tagen 50 Prozent ihrergeplanten Angriffe nicht durchgeführt hat, weil das Ri-siko ziviler Schäden nicht abgeschätzt werden konnteoder zu groß war. Selbst wenn in Einzelfällen Fehlerpassieren, was schrecklich und bedauerlich ist, so wun-dere ich mich doch über eine Art der Diskussion, die denTausenden von Ermordeten eine geringere Aufmerk-samkeit nur deshalb schenkt, weil die NATO propagan-distische Fähigkeiten und Mittel Gott sei Dank nicht soentwickeln kann und entwickeln will, wie es das RegimeMilosevic mit seiner skrupellosen Propaganda getan hat.Zu den Kriterien des Europäischen Parlaments zählteim übrigen auch, daß die Operation so angelegt seinmuß, daß sie nicht Anlaß gibt, von den Vereinten Natio-nen verurteilt zu werden. Die weiterführende Frage wirdsein: Erlaubt die Souveränität des Staates im Konfliktmit dem anderen Prinzip der Charta der Vereinten Na-tionen, nämlich der Ächtung von Verbrechen gegen dieMenschlichkeit, daß in diesem Staat MenschenrechteBundesminister Rudolf Scharping
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mißachtet werden können? Haben wir es hier nichtvielmehr mit einem objektiven Zielkonflikt zu tun, mitdem man sich auseinandersetzen muß? Erlaubt die Sou-veränität des einzelnen Staates, daß er durch Vertrei-bung einer ganzen Bevölkerungsgruppe die Souveränitätund die Integrität seiner Nachbarstaaten in Gefahrbringt, was im Fall von Mazedonien und Albanien ohneZweifel der Fall ist?Brauchen wir nicht auch stärkere Mechanismen derKrisenprävention? Denn der Kosovo – ich meine nichtdie letzten drei oder vier Wochen; ich meine auch nichtdie letzten drei oder vier Monate – ist ja auch ein Bei-spiel dafür, daß man über Monate und Jahre hat sehenkönnen, was sich dort anhäufte und anbahnte. Wer heutebeispielsweise den Artikel von Felipe González in der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ liest, der wird ent-sprechende Hinweise aus der Sicht eines Beauftragtender OSZE finden.Brauchen wir nicht auch – ich stelle dies bewußt alsFrage – Mechanismen, um das Veto eines Atomwaffen-staates im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationenüberwinden zu können? Oder wollen wir in Zukunft –wie immer die Mechanismen im einzelnen aussehen –wirklich hinnehmen, daß eines der wenigen stabilisie-renden Elemente in dieser Region, nämlich die Grenzsi-cherungsmission der Vereinten Nationen in Mazedo-nien mit dem Namen Unpredep, nur deshalb von Chinablockiert worden ist, weil Mazedonien in chinesischenAugen die Leichtfertigkeit begangen hat, Taiwan völker-rechtlich anzuerkennen?Der Bundespräsident hat gesagt:Indifferenz gegenüber Genozid zerstört die Grund-lagen dessen, was die eigene Gesellschaft zusam-menhält: das gemeinsame Verständnis von Rechtund Moral. Europa würde an seiner Seele Schadennehmen, wenn es Völkermord und ethnische Säu-berungen auf seinem Boden hinnähme.
Es haben schon entsetzlich viele Menschen Schadengenommen. Vielleicht gelingt es uns, in einem jahrelan-gen, dauerhaften Prozeß – angesichts dessen bitte ichschon heute um die notwendige Aufmerksamkeit undKonsequenz, die über Jahre hinweg aufrechterhaltenbleiben muß – diese Folgen bei denen zu lindern, dieüberleben. Vielleicht sind diejenigen, die ermordet wor-den sind, in diesen Jahren der dauerhaften Anstrengun-gen eine stete Mahnung dafür, daß der Balkan und Süd-osteuropa nur dann Frieden gewinnen, wenn die Prinzi-pien der Schlußakte von Helsinki und die Erfahrungenaus der europäischen Integration in geeigneter Weise aufdiesen Teil des europäischen Kontinentes übertragenwerden. Denn Frieden ist nicht allein die Abwesenheitvon Gewalt. Frieden ist die Anwesenheit von Versöh-nung. Das wird verdammt schwer, ist unausweislich undmuß angepackt werden.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Lippmann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Minister Scharping,
Sie haben unterstellt, die PDS-Fraktion habe nichts wis-
sen wollen. Wir würden die Augen verschließen und
einseitig Partei für Milosevic ergreifen.
Dies ist falsch, und dies weise ich im Namen der ge-
samten PDS-Bundestagsfraktion, aber auch im Namen
der Partei der PDS ausdrücklich zurück. Denn wir ver-
urteilen die Menschenrechtsverletzungen im Kosova
ebenso wie die in der gesamten Bundesrepublik Jugo-
slawien, und dies nicht erst heute, sondern schon seit
vielen Jahren.
Der Herr Bundeskanzler wird sich vielleicht daran
erinnern, daß ich 1996 – damals noch im Niedersächsi-
schen Landtag – für die Grünen einen Antrag einge-
bracht habe, der sich dagegen gerichtet hat, daß Bundes-
außenminister Kinkel im Mai 1996 das Rücknahmeab-
kommen mit Herrn Milosevic abgeschlossen hat, das die
Rücknahme aller Flüchtlinge mit jugoslawischem Paß,
darunter serbische Deserteure sowie zu 80 Prozent
Flüchtlinge aus dem Kosova, Muslime aus dem Sand-
schak sowie Roma und Sinti, die alle geflüchtet waren,
vorsah. Daran erinnern Sie sich vielleicht, Herr Bundes-
kanzler. Ihre Partei hat diesen Antrag, der darauf ab-
zielte, das Rücknahmeabkommen nicht zu unterzeich-
nen, sondern über eine Bundesratsinitiative und auf in-
ternationaler Ebene diplomatisch zu verhandeln, mit
dem Ziel, im Kosova eine gewisse Teilautonomie zu-
rückzugewinnen, abgelehnt.
Wir sind nach wie vor der Meinung – und erhalten
dafür viel mehr Unterstützung aus der Bevölkerung als
aus diesem Haus; aber es gibt ja mittlerweile auch eine
breite Unterstützung aus der SPD und den Reihen der
Grünen –, daß die Bombardierungen militärischer und
ziviler Ziele in Jugoslawien und im Kosova nicht das
geeignete Mittel sind, den Frieden, der dringend erfor-
derlich ist, herzustellen. Dadurch wird nicht ein Flücht-
ling nicht vertrieben, nicht ein Mord geschieht weniger.
Wir bedauern dies sehr. Doch Bomben sind nicht das
Mittel, diesen Frieden wiederherzustellen. Deswegen
appellieren wir, dringend politische Verhandlungen zu
führen und auf die UN und die OSZE zu setzen und
nicht weiter einseitig zu bombardieren.
Herr
Bundesminister Scharping, möchten Sie erwidern?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Nein.
Dannerteile ich als nächstem Redner dem Kollegen KarlLamers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.Bundesminister Rudolf Scharping
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Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Ich scheue mich nicht, es zusagen: Der eindrucksvolle Auftritt des Bundesverteidi-gungsministers belegt noch einmal sehr nachdrücklich,daß es nur äußerst selten – wenn überhaupt jemals –eine kriegerische Auseinandersetzung gegeben hat, dieso ausschließlich von moralischen Motiven getragenwar, wie das im Kosovo-Konflikt für die NATO-Länderzutrifft. Selbst in den USA – sonst gut für jeden Ver-dacht – wird von keinem Ernstzunehmendem eingeostrategisches Interesse oder ähnliches unterstellt –welches wohl auch?Von den Kosten, die uns im Prinzip vorher bekanntwaren, will ich ganz schweigen. Damit meine ich nichtin erster Linie die finanziellen Kosten, obwohl sie be-trächtlich sind; vielmehr meine ich die politischen undvor allem die psychischen Kosten. Nein, dieser Konfliktist für den Westen, ist für seine Völker und ihren Zu-sammenhalt eine außerordentliche Herausforderung. Erist eine große Anstrengung, deren Ergebnis ungewiß istund die im besten Fall in ziemlicher Zukunft erst nachweiteren großen Anstrengungen Früchte tragen wird.Also könnte doch trotz aller Mühen oder gerade umihretwillen unser Gewissen ruhig sein. Das sagt uns un-ser Verstand. Aber unser Herz will nicht recht daraufhören. Wir alle sind unsicher und unruhig. Ich meinenicht nur jene Unruhe, welche die Ungewißheit jedenKrieges erzeugt. Es gibt noch eine andere Form von Un-sicherheit in uns. Ich glaube, wir nähern uns ihr, wennwir uns die Frage stellen und zu beantworten suchen,weshalb wir nicht von Krieg sprechen wollen, wenn wirdie Gewaltanwendung der NATO gegen Milosevic mei-nen.Wir verstehen unter Krieg die Auseinandersetzungen,die von Motiven und Zielen im Sinne handfester Interes-sen getragen sind und die hier eben fehlen. Auch dieTerminologie vom „gerechten“ Krieg ist uns verleidet,hat sie doch allzuoft nur zur Bemäntelung solcher hand-festen Interessen gedient. Aber natürlich müssen wir unsdarüber im klaren sein –, auch wenn dies kein Krieg imherkömmlichen Sinne ist – daß doch die Regeln, die denKrieg bestimmen, gelten. Etwa, daß erstens das Unvor-hergesehene das Wahrscheinliche ist, daß zweitens derKrieg zum Äußersten neigt und daß schließlich drittensKlarheit und Wirklichkeitsnähe seiner Ziele über seinenErfolg oder Mißerfolg entscheiden. Das erste haben wirbereits erlebt; vor dem zweiten erschrecken wir, und andem dritten mangelt es uns.Ja, wir haben uns getäuscht, vielleicht weil wir eswollten. Milosevic hat nicht schnell eingelenkt. Es magebensogut sein, daß er es schnell tut oder daß es nochsehr lange dauert. Es funktioniert nicht wie in Bosnien.Das Unvorhergesehene war eben nicht das Unwahr-scheinliche.Böse überrascht sind wir durch das Anschwellen derFlüchtlingszahlen seit den NATO-Luftschlägen. Zornigsind wir wegen der Zahlen und des dahinterstehendenElends, des Leids und der Not, und zutiefst konsterniertsind wir, weil Milosevic die NATO-Luftschläge nutzt,um die schon lange geplante Vertreibung der Albanermit brutaler Konsequenz umzusetzen und so auch nochden Schein eines ursächlichen Zusammenhangs zwi-schen beiden herzustellen, der NATO das Gefühl zuvermitteln, als habe sie das Gegenteil von dem erreicht,was sie bewirken wollte. Meine verehrten Kolleginnenund Kollegen von der PDS, genau diesen Eindruck be-fördern Sie mit Ihrem Antrag. Deswegen bin ich übri-gens dafür, daß wir ihn ablehnen und ihn nicht noch indie Ausschüsse überweisen.
Unvorhergesehen – ich sage auch hier nicht: unvor-hersehbar – ist schließlich die – soweit erkennbar – fasttotale Solidarisierung der Serben mit Milosevic. Wir allebetonen – und dies vollkommen zu Recht –: Wir führenkeinen Krieg gegen die Serben. Aber die Serben sehendas anders. Sie glauben zweifelsfrei, einen gerechtenKrieg zu führen. Sicher ist das eine der gefährlichstenFolgen.Wie sind diese Reaktionen möglich? Ich werde dar-auf zurückkommen. Doch zuvor will ich auf die zweiteRegel des Krieges zu sprechen kommen, seine Neigungzum Äußersten, wie Clausewitz sagt, was in unseremFall den Einsatz von Bodentruppen meint. Im Sinne dergrausamen Logik des Krieges läge es, zu behaupten:Wer „A“ sagt, muß auch „B“ sagen. Brecht dagegenmeint: Wer „A“ sagt, muß nicht „B“ sagen. Er muß es inder Tat jedenfalls dann nicht, wenn er es nicht kann. Diedemokratisch verfaßten Völker, die wohlhabenden Völ-ker des Westens können es nicht, weil ihnen die psychi-sche Disposition abgeht, die zum Kriegführen mit Totennotwendig ist, wenn es nicht unmittelbar um ihre eigeneExistenz geht. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob dasein Zeichen von Schwäche oder gar Dekadenz oder imGegenteil von Reife ist. Es kommt darauf an, wie wirdamit umgehen. Jedenfalls will ich nachdrücklich fest-stellen: Niemandes Verantwortung reicht weiter als sei-ne Möglichkeiten reichen. Niemand muß mehr, als erkann. Diejenigen, die uns jetzt sagen: „Dann hättet ihrgar nicht erst anfangen sollen, überhaupt etwas zu tun“,sind doch zumeist dieselben, die uns aufgefordert haben:„Jetzt müßt ihr endlich etwas tun.“ Ich bin sicher, es wä-ren auch dieselben, die uns auffordern würden, ganzschnell Schluß zu machen, wenn es Tote gäbe. Daß esdiese in einer bestimmten Größenordnung gäbe, die ichnicht näher bezeichnen will, dessen bin ich mir sicher.Das gehört zur Ambivalenz der Stimmungen in demo-kratisch verfaßten Gesellschaften. Weil das so ist, ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen, bin ich, wie WolfgangSchäuble, gegenüber einer allzu emotionalen Rhetorikund einem gewissen moralischen Überschuß skeptisch.Beide sind Elemente in dem Prozeß, der den Krieg zumÄußersten treibt. Sie drohen damit, das außer acht zulassen, was möglich und damit das Eigentliche ist, dasheißt, das politisches Ziel sein soll und sein kann. Überdieses kann man in den Verlautbarungen der NATO-Länder nicht allzuviel lesen. Ich meine damit natürlichnicht die klare und vollkommen selbstverständliche For-derung nach dem Ende der Kämpfe, dem Abzug derStreitkräfte der Serben, der Rückkehr der Flüchtlingeund der Stationierung einer internationalen Schutz-truppe. Ich meine nicht alle Anstrengungen zur Beendi-gung von Vertreibungen und der Kämpfe und auch nicht
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das, was jetzt etwas großspurig, wie ich finde, „Frie-densplan“ genannt wird. Das alles ist richtig. Wir unter-stützen dies einschließlich der Bemühungen, die Russenwieder stärker einzubeziehen. Nein, ich meine das, wasdanach kommt, den politischen Zustand nach dem Endeder Kämpfe. Ich meine eine tragfähige Grundlage fürden Frieden. Dazu reichen auch nicht – so richtig es istund sosehr wir es unterstützen – all die Pläne zur Unter-stützung dieses Zustandes des Friedens, also das, wasjetzt unter den Stichwörtern Stabilitätsvereinbarungenund Stabilitätspakt läuft. Solche Vorkehrungen könnennur ein Fundament sichern helfen, welches das Einver-ständnis der Betroffenen findet, auch der Serben. Wiewäre es um dieses Einverständnis aller Betroffenen be-stellt, würden wir unsere Ziele nur gegen diese durch-kämpfen, etwa mit Bodentruppen?Wie steht es also mit diesem politischen Ziel, dessenKlarheit und Wirklichkeitsnähe nicht nur über den Er-folg und Mißerfolg des Krieges entscheidet – das zeigenalle historischen Erfahrungen –, sondern natürlich auchdie Aussichten auf ein Ende der Kämpfe verbessert oderverschlechtert? Wir lesen von einem demokratischen,multiethnischen Kosovo auf der Basis des Rambouillet-Abkommens.Das multiethnische Kosovo wie auch das multiethni-sche Ex-Jugoslawien gab es nur unter Druck, also un-demokratisch. Wie soll ein solches erst nach alldem, wasvorgefallen ist, wieder möglich sein? Niemand kanndaran noch glauben. Das hat übrigens für die albanischeSeite der Außenminister Albaniens soeben in Bonn aus-drücklich bestätigt. Welche Folgen hat das für den poli-tischen Rahmen von Rambouillet, also für die Autono-mie und die völkerrechtliche bzw. staatsrechtliche Zu-gehörigkeit des Kosovo zu Jugoslawien? Beides habendie Albaner, was ich absolut verstehen kann, nie wirk-lich akzeptiert. Sie haben das Abkommen von Ram-bouillet unterschrieben, weil sie wußten, daß die Serbendies nicht tun würden. Aus ein und demselben Grundhaben die einen unterschrieben und die anderen nicht.Von der vorgesehenen Stationierung einer NATO-Truppe befürchteten die Serben, was die Kosovaren er-hofften: daß dies ein erster Schritt zur Loslösung desKosovo von Jugoslawien sein könnte. In einem solchenunabhängigen Kosovo als Zwischenschritt zu einem An-schluß an Albanien würde mit Sicherheit kein Serbemehr leben wollen, selbst wenn wir jedem von ihnenversprächen, ihm einen westlichen Polizisten an dieSeite zu stellen.Übrigens gibt es auch kaum mehr Serben in der kroa-tischen Krajina – etwas, was wir stillschweigend hinge-nommen haben.
Und wie es mit der dauerhaften Rückkehr der bosni-schen Flüchtlinge in ihre jeweiligen Heimatorte miteiner inzwischen anderen ethnischen Zusammensetzungbestellt ist, will ich, verehrte Kolleginnen und Kollegen,nur als Frage aufwerfen.Die Erinnerung an diese Tatsachen weist übrigens aufden Zusammenhang der einzelnen Konfliktfelder imfrüheren Jugoslawien hin. Deswegen brauchen wir end-lich ein Konzept für den Balkan insgesamt, so verständ-lich der Versuch war und ist, die einzelnen Brandherdezu isolieren. Dies haben wir zuletzt im Dayton-Abkommen mit der Ausklammerung des Kosovo ver-sucht. Den Erfolg sehen wir jetzt.Was also bleibt als Lösung für den Kosovo: etwa sei-ne Teilung? Ich will dieser hier nicht das Wort reden,sondern nur darauf aufmerksam machen, daß sowohlunser moralisches Unbehagen, von dem ich eingangssprach, als auch die Unklarheit über unser politischesZiel ein und demselben Dilemma entspringen, nämlichder Unvereinbarkeit unserer wechselseitigen Grundvor-stellungen vom Zusammenleben der Menschen unter-schiedlicher Herkunft in politischen Gemeinschaften.Alle Völker dort, die Kroaten, die Serben, die Bosniakenund die Albaner, wollen nicht gemeinsam in einem Staatzusammenleben. Sie halten diese Einstellung, ein-schließlich der Bereitschaft zu Repression und Gewalt,für moralisch ebenso legitim wie wir das Umgekehrte.Nicht, daß ich hier einem moralischen Neutralismusdas Wort rede. Die Frage ist nur: Lassen sich andere zuihrem Glück zwingen? Gibt es ein objektives Glück?Oder bescheidener: Gibt es zumindest eine objektiveVernünftigkeit?Wir, der Westen, stoßen auf dem Balkan auf eine an-dere Welt. Es ist die Ungleichzeitigkeit zweier Welten,die die Lösung des Problems, vor dem wir im Kosovound in ganz Ex-Jugoslawien stehen, für uns so unglaub-lich schwermacht. Wir werden es nur lösen, wenn wirdie Welt auch mit den Augen derjenigen zu sehen versu-chen, die uns so fremd sind und doch so nah – nicht nurräumlich, sondern auch in bezug auf unsere eigene Ver-gangenheit. Müssen wir nicht auch Lösungen suchen,die der jeweiligen Zeit entsprechen?Ich hoffe wirklich sehr, verehrte Kolleginnen undKollegen, die emotionale, die moralische Erregung, inder wir uns alle befinden, läßt Sie meine Worte nichtmißverstehen, sondern läßt sie begreifen als die Auffor-derung, auch das Schwerste zu wagen, um den Krieg,die Vertreibung, das Elend und Leid zu beenden undFrieden dauerhaft zu begründen, nämlich die eigenenVorstellungen in ihrer Absolutheit in Frage zu stellen:
nicht unsere Werte, sondern unsere Vorstellung von ih-rer Umsetzung in einer ihnen feindlichen Welt.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
nächster Redner hat der Kollege Gernot Erler von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Von dieser Debatte muß ein dop-Karl Lamers
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peltes Signal der Entschlossenheit ausgehen: einerseits,weiter dem Feldzug der serbischen Führung gegen dieeigene Bevölkerung entgegenzutreten, auch mit militäri-schen Mitteln, bis Milosevic seine Entvölkerungspolitikim Kosovo aufgibt; andererseits, alles zu tun, daß dieNotwendigkeit der Luftangriffe so schnell wie möglichdurch internationale politische Anstrengungen abgelöstwird.Der Friedensplan der Bundesregierung – es ist wirk-lich ein Friedensplan, Kollege Lamers – kommt im rich-tigen Moment. Es gibt Ernüchterung darüber, was dieLuftangriffe nach drei Wochen haben bewirken können.Die Feststellung, daß die Ziele, die damit verbunden wa-ren, nicht erreicht worden sind, ist richtig. Aber die Un-nachgiebigkeit, die Entschlossenheit von Milosevic, dasverbrecherische Vorgehen fortzusetzen, dauert an. Auchdiese Erfahrung mußte der Kollege Gysi in Belgradnoch einmal machen. Das bedeutet: Der Druck mußfortgesetzt werden, weil es sonst überhaupt keine politi-sche Lösung gibt.
Das Nadelöhr ist nach wie vor die Beendigung der mili-tärischen Aktionen von Milosevic gegen die eigene Be-völkerung und die Zulassung, daß ein sicheres Umfeldfür die Rückkehr der Flüchtlinge geschaffen wird. So-lange dazu keine Bereitschaft besteht – die gibt es leiderbis heute nicht –, muß der militärische Druck fortgesetztwerden.Wenn es in dieser Düsternis einen Lichtblick gibt,dann ist es der, daß in den letzten Tagen die Dynamik inden politischen Prozeß hineingekommen ist, die wir unsschon lange wünschen. Fast im Stundentakt finden Be-gegnungen statt: zwischen Albright und Iwanow, zwi-schen Fischer und Tarasjuk, zwischen den europäischenRegierungschefs und Kofi Annan. Im Zentrum steht nunein deutscher Vorschlag, der ein UN-Mandat will, derRußland in die politische Arbeit zurückbringen will undder eine Feuerpause bei Beginn des Abzugs der jugo-slawischen Truppen vorsieht.Was sind die besonderen Kennzeichen dieses Frie-densplans? Zunächst: Es soll eine weltweite Verant-wortung für den Konflikt etabliert werden. Der traditio-nelle Freund und Vertrauenspartner Serbiens, nämlichRußland, soll eine entscheidende Rolle spielen. Und –ganz wichtig – eine kontrollierte Unterbrechung derLuftangriffe soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt mög-lich werden. Außerdem sieht dieser Vorschlag der Bun-desregierung vor, Garantien gegen die Einseitigkeit zugeben. Die UCK soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt,nämlich wenn die internationalen Friedenskräfte im Ko-sovo einrücken, entwaffnet werden.An dieser Stelle möchte ich einen Appell an die russi-sche Regierung richten. Ich möchte zum Ausdruck brin-gen, daß wir Grund für einen großen Respekt für dieHaltung von Primakow und der russischen Regierunghaben. Es gehört Mut dazu, dem proserbischen Populis-mus im eigenen Land Widerstand entgegenzubringen.Man muß anerkennen, welche Vermittlungsversucheschon gemacht worden sind – mit der Reise von Prima-kow selbst, aber auch jetzt mit der Einsetzung seinesVorgängers Viktor Tschernomyrdin als Sonderbeauf-tragten.
Ich appelliere jetzt an die russische Führung, anzuer-kennen, daß der Westen bei der Frage der Zusammen-setzung der Sicherheitskräfte sich bewegt hat, daß jetztdie Forderung nach einer Art von Teilnahmeverbot vonNATO-Ländern insgesamt keinen Sinn macht, weil ohnedie technischen Voraussetzungen und Fähigkeiten derNATO eine solche große Operation im Kosovo zumSchutz der Wehrlosen nicht möglich ist und – daraufwurde schon hingewiesen – die Frage des Vertrauensder Rückkehrwilligen tangiert ist. Man kann ihnen ja garnicht zumuten, in ein Umfeld zurückzukehren, wo sienicht eine internationale Garantie für ihre Sicherheit ha-ben. Ich appelliere an die russische Führung, über ihreZustimmung zu dem Friedensplan nun nicht in Belgradentscheiden zu lassen. Das ist nicht möglich; wir wissen,was das bedeutet.Ich appelliere auch an die Vereinigten Staaten und anunsere westlichen Partner: Es kann jetzt nicht um dieFrage des Vaterrechts für bestimmte Vorschläge gehen,die uns aus dem Dilemma herausführen. Wir sind ja be-reit, auch über Änderungen zu reden. Aber ich appellierean sie, daß sie jetzt den Abstimmungsprozeß über diesenFriedensplan beschleunigen mögen.Das Grundkonzept ist doch vernünftig und muß dochkonsensfähig sein, nämlich UN-Mandat, Einbeziehungder Russischen Föderation und frühestmögliche Feuer-pause. Das ist ein Konzept, das jetzt viele Hoffnungenweckt, und sie dürfen nicht enttäuscht werden.
Trotz vieler Hoffnungen, liebe Kolleginnen und Kol-legen – Herr Lamers hat dies eben auch so ausgedrückt–, gibt es ein tiefsitzendes Unbehagen bei vielen von unsdarüber, wie wir überhaupt in diese Situation geratensind. Wie kam es denn, daß nach und nach die politi-schen Optionen immer weniger wurden, daß dann nurnoch eine militärische Drohung übrigzubleiben schienund daß am Ende, weil diese Drohung nicht funktio-nierte, das Angedrohte wahrgemacht wurde? Ein Modellinternationaler Politik, das nach diesen Abläufen funk-tioniert, ist defizitär. Das haben wir nach Beendigungdieses Konflikts aufzuarbeiten.Aber einige wenige Punkte lassen sich heute schonfeststellen. Es gibt ein Mißverhältnis zwischen unserenFähigkeiten zu einer militärischen Intervention auf dereinen Seite und den Fähigkeiten zu vorausschauenderFriedenspolitik und Krisenprävention auf der anderenSeite. Das ist eine gefährliche Entwicklung des interna-tionalen Systems.In der Tat war der Konflikt im Kosovo lange voraus-zusehen. Er hat – das ist eben noch einmal gesagt wor-den – 1989 durch die Abschaffung des Autonomiestatutsangefangen. Danach aber hat schon Milosevic einestrukturelle Vertreibungspolitik gegen die Kosovo-Albaner durchgeführt. Sie hatten keine eigenen Schulenmehr, keine eigenen Universitäten mehr; sie wurden ausGernot Erler
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ihren eigenen Krankenhäusern und von ihren Arbeits-plätzen vertrieben. Lange Zeit hat die Vertretung derKosovo-Albaner im Westen dafür geworben, einenBlick darauf zu werfen, etwas zu tun. Es handelte sichum eine gemäßigte Führung.An dieser Stelle möchte ich eine Forderung zumAusdruck bringen: Wir fordern von diesem Platz imDeutschen Bundestag die serbische Führung auf, HerrnIbrahim Rugova, der der Führer dieser gemäßigten Ver-tretung war, sofort die Freiheit zu geben und seine De-mütigung zu beenden.
Wir wissen, daß der Westen nicht die Kraft gefundenhat, im Kosovo präventiv einzugreifen. Das hat nachherzu der Radikalisierung auch der Kosovo-Vertretung undzur Bildung der Ushtria Climentare e Kosoves, das heißtder Befreiungsarmee des Kosovo, die wir unter der Ab-kürzung UCK kennen, geführt. Das bedeutet: Die Vor-geschichte ist auch die Vorgeschichte des Wegsehens,des Scheiterns von Prävention gewesen. Anders ausge-drückt: Wir sprechen beim Einsatz von militärischenMitteln von der Ultima ratio. Die Frage lautet: Wie ist esum die Stärke der Ratio bestellt, die davorzustehen hat?Wir stellen fest, sie ist zu nackt.Ein Beispiel dafür gibt die OSZE, die Einrichtung,die am ehesten in der Lage ist, präventiv tätig zu wer-den. In diesem Konflikt war die OSZE nicht in der Lage,2 000 unbewaffnete Beobachter innerhalb von fünf Mo-naten in den Kosovo zu bringen. Als die Mission been-det wurde, waren dort 1 380, das sind nur zwei Drittel.Ich klage die OSZE nicht an. Ich sage eher: Für uns istes eine Mahnung, die OSZE endlich zu stärken, damitdie präventiven Aufgaben wahrgenommen werden kön-nen.
Ich begrüße ausdrücklich die wirklich notwendigeInitiative, einen Stabilitätspakt für den ganzen Balkanzu begründen, aber in Zukunft dürfen die Stabili-tätspakte nicht auf die Tagesordnung kommen, wenn esdarum geht, Zerstörungen aufzuarbeiten. Statt dessenhätten wir ihn vorher gebraucht, aber auch das zeigt dieSchwäche der präventiven Fähigkeiten.In diesem Zusammenhang möchte ich noch einenPunkt ansprechen: In der Vorgeschichte des Konfliktshat es die Isolierung der serbischen Regierung gegeben.Die Hauptverantwortung – das möchte ich ausdrücklichbetonen – trägt dafür die serbische Führung selbst, eswar ein Akt der Selbstisolierung. Der Westen aber hat esnicht vermocht zu verhindern, daß sich Isolierung undSelbstisolierung zu einer Situation aufgeschaukelt ha-ben, in der man Milosevic mit politischen Argumenten,auch mit politischen Drohungen, nicht mehr erreichenkonnte. Man nennt so etwas eine No-win-Situation. Dasist eine Situation, in der bei den besten Argumenten dasMotiv fehlt, um positiv zu reagieren, weil nichts mehrvorhanden ist, mit dem politisches Wohlverhalten prä-miert werden kann.Diese Isolierungspolitik hat sich als verhängnisvollerwiesen. Man kann auch sagen: Aus dieser Aufschau-kelung ist Serbien zu einem ersten europäischen „Schur-kenstaat“ geworden. Ich habe den Bedarf, auch mit un-seren amerikanischen Freunden die Rogue-Doktrin, dieSchurkenstaatstheorie zu diskutieren. Diese Politik hatsich als nicht gerade hilfreich erwiesen.Nach dem Systembruch von 1989, nach dem Endedes kalten Kriegs, das mit soviel positiven Erwartungenverknüpft war, müssen wir heute – zehn Jahre danach –feststellen: Die Hemmschwelle, militärische Drohungenoder sogar die Anwendung militärischer Gewalt zurVerfolgung von politischen Zielen zu nutzen, ist gesun-ken. Das ist eine sehr nüchterne Bilanz. Das heißt, es istzu einer Alltagserscheinung geworden, aber die Bilanzist fragwürdig und der Weg gefährlich.
Für mich heißt das: Es gibt keine Alternative zurWeiterverfolgung eines Gewaltmonopols für die Ver-einten Nationen. Es müssen aber andere Vereinte Natio-nen sein als die, die wir jetzt haben. Das Vetorecht derfünf Atomstaaten – ein Relikt aus dem zweiten Welt-krieg – hat sich als verhängnisvoll erwiesen.
Das Verhalten der Chinesen ist schon angesprochenworden. Wir müssen durch eine Reform der VereintenNationen, die wirklich auf der Tagesordnung steht, end-lich erreichen, daß diese wichtige Weltorganisation, dieunverzichtbar ist, tatsächlich die Verantwortung, die sieüber das Gewaltmonopol innehat, wahrnehmen kann.Das ist eine wichtige Zwischenbilanz der Erfahrungender letzten Wochen.Ich komme zu den Aufgaben des Tages zurück. DerFriedensplan der Bundesregierung, die großen Leistun-gen zur Flüchtlingshilfe und der perspektivisch ange-legte Stabilitätsplan für den Balkan besetzen im Augen-blick den Hoffnungsplatz in der aktuellen Situation.Diese drei Ansätze sind eine Handschrift dieser Regie-rung. Ich finde, sie verdienen das Vertrauen und dieUnterstützung des Deutschen Bundestages. Die SPD-Fraktion jedenfalls unterstützt diesen Weg nachhaltig.
Ich möchte abschließen, indem ich mich mit einemWort an die etwa 500 000 Serben in der BundesrepublikDeutschland wende: Ich finde, sie sind in einer sehrschwierigen Lage. Sie haben zwischen verschiedenenSolidaritäten zu entscheiden. Sie erleben übrigens auch– das wird leider zu selten erwähnt –, daß Milosevic imWindschatten der Kriegsereignisse einen radikalen Pro-zeß mit der oppositionellen Intelligenz in Serbien macht– ein Verlust, unter dem Serbien noch lange wird leidenmüssen und den wir ebenso anprangern müssen wie dasGernot Erler
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Vorgehen im Kosovo gegen die dortige albanische Be-völkerung.Ich möchte hier zum Ausdruck bringen: Wir wollen,daß Serbien in Zukunft – so schwer das heute im Kon-text der jetzigen Entwicklung und der Erfahrungen mitMilosevic zum Ausdruck zu bringen ist – Teil der euro-päischen Gesellschaft ist. Wir haben einen hohen Re-spekt vor der Kultur der Serben aus vielen Jahrhunder-ten, vor ihrem kulturellen Beitrag zur europäischen Ge-schichte. Wir wollen den Integrationsprozeß sofortnach der Beendigung des Konfliktes – dieser Punkt be-trifft auch den Stabilitätspakt – fortsetzen. Das ist eineBotschaft an die vielen serbischen Mitbürger unter uns,die auch lauten soll: Es wird kein Krieg gegen Serbiengeführt, sondern ein Krieg gegen ein unverantwortlichesRegime.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach,Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Wir – hier spreche ich für eine Minderheit in meinerFraktion – fordern die sofortige Einstellung der Luftan-griffe der NATO auf Jugoslawien und die Rückkehr anden Verhandlungstisch.
Wir wollen die Einstellung aller Kampfhandlungen er-reichen. Jede diplomatische Initiative, jede internatio-nale Vermittlung, die zu einer politischen Lösung desKonflikts führen kann, hat unsere Unterstützung. NurPolitik kann die Logik der in ihren Konsequenzen un-überschaubaren Eskalationsschritte, die jetzt vor unserenAugen ablaufen, durchbrechen. Militärische Mittel wer-den uns nicht aus der Sackgasse herausführen, sondernnur immer tiefer herein.
Seit inzwischen 22 Tagen steht die BundesrepublikDeutschland zum erstenmal seit Ende des zweitenWeltkrieges in einem Krieg, bombardiert die NATO Ju-goslawien. Das formulierte Ziel, die humanitäre Kata-strophe zu verhindern, hat sie damit nicht erreichenkönnen. Der unsäglichen ethnischen Vertreibungspolitikvon Milosevic hat sie nicht Einhalt geboten. Vielmehrmuß sie sich nach drei langen Wochen der Bilanz stel-len, daß sich während der Luftangriffe die Situation ge-rade für die Zivilbevölkerung und für die inzwischenzahllosen Flüchtlinge noch verschlimmert hat. AuchKrieg ist Menschenrechtsverletzung. Die chirurgischeBombardierung, den sauberen Computerkrieg, der zivileOpfer, Tod und Zerstörung ausschließen würde, gibt esin der Realität nicht.Auch das zweite formulierte Ziel hat die NATO nichterreicht, nämlich die jugoslawische Unterschrift unterdas Rambouillet-Abkommen herbeizubomben. DiesesZiel scheint inzwischen überholt; trotzdem wird weiterbombardiert.Daß die NATO auf das Scheitern ihrer politischenZiele mit der Verstärkung der Luftangriffe reagiert, er-schreckt mich. Wo ist der Ausstieg aus dieser hochris-kanten Eskalationslogik? Ist das Ziel der NATO erst er-reicht, wenn die jugoslawische Regierung fällt? Dashieße nicht nur Bombardierung bis zum Ende, das hießeauch Einsatz von Bodentruppen mit den damit verbun-denen Risiken, die kein Mensch wirklich verantwortenkann. Schon aus unserer historischen Verantwortungheraus müssen wir alles tun, damit es nie mehr zum Ein-satz von Bodentruppen in Jugoslawien kommt.
Das ist die rote Linie, die Rußland markiert hat. Schonjetzt kann der Funke jederzeit in der Region übersprin-gen: nach Albanien, nach Bosnien, nach Montenegro,nach Mazedonien – ein Funke, der zum Brand werdenkann.Wir müssen aus dieser militärischen Eskalationslogik,die die Chancen zu einer tragfähigen politischen Lösungverschlechtert, aussteigen. Die Position von Milosevicist durch die NATO-Angriffe gestärkt worden. DerHandlungsspielraum der serbischen Opposition, die wirdoch genau wie die friedlichen kosovo-albanischenKräfte dringend stärken müßten, ist zunichte gemacht.Der Kollege Hirsch hat von dieser Stelle aus bei derEntscheidung zu „act ord“ der NATO am 16. Oktober1998 seine Befürchtung formuliert, daß durch die völ-kerrechtswidrige Selbstmandatierung der NATO dasVölkerrecht auf den Stand vor der Gründung der UN zu-rückzufallen drohe. Wir beschädigen diejenigen Instru-mente, die wir dringend brauchen, wenn wir internatio-nal handlungsfähig sein wollen, auch und gerade zivilinternational handlungsfähig. Wären sich die West-mächte in den letzten Jahren in ihrer zivilen Jugosla-wienpolitik so einig gewesen, wie es jetzt bei diesemKrieg der Fall ist, dann sähe die politische Situation inder Region mit Sicherheit ganz anders aus.
Um die schon seit langem schwelenden Konfliktewirklich ernsthaft lösen zu können, brauchen wir eineBalkankonferenz unter Federführung der UN und Un-terstützung beim wirtschaftlichen Wiederaufbau. Aberdavor müssen wir alles für die humanitäre Hilfe derFlüchtlinge und dann für ihre gesicherte Rückkehr tun.Ein ausgehandeltes und unterzeichnetes Friedensab-kommen, das wir uns alle wünschen, wird internationaleAbsicherung brauchen. Allerdings kommt dafür nichtdie NATO in Frage; denn sie ist spätestens mit denLuftangriffen zur Kriegspartei geworden.
Gernot Erler
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Auch wenn die OSZE oder die UNO diese Absiche-rung übernehmen würde, sollten die NATO-Staatennicht die tragende Rolle bei einem solchen Einsatz über-nehmen. Der erste Schritt hin zu einem solchen Szenarioist die sofortige Einstellung der Luftangriffe, die Ein-stellung aller Kampfhandlungen und die Rückkehr anden Verhandlungstisch.
Als
nächster Redner hat der Kollege Christian Schmidt von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe
mich noch einmal versichert, daß meine Vorrednerin für
eine Partei der Regierungskoalition gesprochen hat. Die
Töne, die sie angeschlagen hat, passen nicht gerade zu
dem, was ihr Außenminister zu Beginn dieser Debatte in
eindrucksvollen Worten gesagt hat.
Wir jedenfalls unterstützen in tatsächlicher und rechtli-
cher Hinsicht das, was Bundesverteidigungsminister
Scharping auch zu rechtlichen Fragen dargelegt hat.
Ich möchte eines unterstreichen: Frau Kollegin Bun-
tenbach, Ihr Verdikt, die Weltordnung würde auf die
Zeit vor der Verabschiedung der Charta der Vereinten
Nationen zurückgeworfen, entbehrt jeder Realität, weil
die Lückenhaftigkeit dieser Ordnung – sie war schon in
ihrem Zustandekommen angelegt – bis heute nicht völlig
beseitigt ist. Ich bin dem Verteidigungsminister sehr
dankbar, daß er hier einige Fundstellen genannt hat, die
darauf durchaus bezogen werden können.
Gehen wir von der uns alle bewegenden Frage, wie
wir die Menschenrechte dort schützen können, über zur
Frage, welche Gefahren für den Frieden in Europa, für
Montenegro, möglicherweise für Albanien und für Ma-
zedonien von einer uneingedämmten Entwicklung im
Kosovo à la Milosevic ausgehen. Wir kommen zur Fra-
ge des europäischen Interesses an der Eindämmung ei-
nes solchen Konfliktes.
Die Gefahr der Internationalisierung, die nicht nur
theoretisch-abstrakt besteht, sondern seit dieser Woche
mit den Übergriffen auf albanische Dörfer praktisch ge-
worden ist, haben wir bereits vor einiger Zeit, bei unse-
ren Diskussionen im letzten Jahr, behandelt. Damals ha-
ben wir gesagt: Hinsichtlich einer tragfähigen Rechts-
grundlage kommen wir in die Reichweite des Art. 51 der
Charta der Vereinten Nationen, den Sie alle gut kennen.
Es geht dort um das Recht auf kollektive Selbstvertei-
digung, also um den Schutz vor Aggressionen.
In diesem Punkt stimmt das europäische Interesse
durchaus mit dem Interesse der Weltgemeinschaft über-
ein. Deswegen ist es nicht mehr als konsequent, daß der
Generalsekretär der Vereinten Nationen der NATO-
Initiative nicht widersprochen hat, sondern ganz im Ge-
genteil bereit ist, mit seinen Mitteln und Möglichkeiten
für eine Vermittlungsaktion zur Verfügung zu stehen.
Diese Aktion kann nur dann als vermittelnd bezeichnet
werden, wenn das Recht durchgesetzt wird. Nicht nur
die Tatsachen, sondern auch das Völkerrecht sprechen in
diesem Vorgehen der NATO für sich.
Man braucht hier kein schlechtes Gewissen zu haben.
Das schlechte Gewissen liegt bei Herrn Milosevic. Die
Schuld für die Toten liegt auch bei Herrn Milosevic.
Um aber der Gefahr einer stufenweisen Eskalation bis
hin zu einem Pulverfaß Balkan, das nicht nur in diesem
Jahrhundert, sondern auch schon in den vergangenen
Jahrhunderten viele Konflikte in Europa verursacht hat,
zu entgehen, müssen wir in unserem eigenen Frie-
densinteresse jetzt handeln. Daß es dabei keine Auto-
matik des Handelns geben darf gemäß der Vorstellung,
ein erster Schritt ist getan und im Sinne eines unerbittli-
chen Ablaufes müßte die Eskalation ad infinitum voran-
gehen, ist ein anderer Punkt. Die Politik muß nach wie
vor die Aktivitäten beherrschen und auch die Weisheit
und Klugheit besitzen, sie zu kanalisieren, wenn sie
nicht mehr kontrollierbar sind. Diese Frage ist nach
dem, was wir hören, berücksichtigt. Wir unterstützen die
Bundesregierung und das Bündnis, die NATO insge-
samt, in dieser Frage.
Wir wissen, daß bei allen weiteren Entscheidungen
der Bundestag noch einmal gehört werden und entschei-
den muß. Wir werden dann, wenn der Bundestag noch
einmal gefragt werden muß, in aller Sorgsamkeit und
mit Bedachtsamkeit autonom entscheiden, welche an-
gemessenen Möglichkeiten und welchen Rahmen wir
für unser Handeln im Kosovo sehen.
Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Eberhard Brecht von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen! Ich glaube, die erneute Debatte am heutigen Tageüber das Thema Kosovo ist überfällig. Der Konfliktselbst ist so brennend, daß sich das Parlament nicht her-aushalten darf. Wir müssen die Exekutive bei diesemProzeß kritisch begleiten. Die Entwicklung der letztenTage und Stunden hat, wie ich denke, gezeigt, wiewichtig diese Debatte ist.Parallel dazu gibt es auch eine Debatte in der deut-schen Bevölkerung, die sehr emotional geführt wird,weil sie das eigene Selbstverständnis betrifft. Diese De-batte wird an Hand von drei Kriterien geführt: Es ist dasKriterium der völkerrechtlichen Legitimation, es ist dasAnnelie Buntenbach
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Kriterium der Effektivität dessen, was wir tun, undschließlich ist es das Kriterium der Moral.Zum ersten Kriterium: Ich warne davor, daß wir trotzpersönlicher Betroffenheit und Emotionalität das Di-lemma hinsichtlich der völkerrechtlichen Legitimationeinfach nicht anerkennen wollen, wie es eben bei HerrnKollegen Schmidt der Fall war. Natürlich gibt es keinenseriösen Völkerrechtler, der sagt, diese Legitimation seiklar und eindeutig vorhanden. Es gibt sie in der ge-wünschten Eindeutigkeit nicht. Wir sind gut beraten,wenn wir diese rechtliche Debatte nicht beiseite schie-ben und sagen, das sei politikferner Legalismus und dieWeltgeschichte sei kein Amtsgericht, sondern wir müs-sen uns dem Dilemma stellen. Die Debatte am 16. Okto-ber letzten Jahres hat ja auch gezeigt, daß die Mehrheitder Befürworter eines Einsatzes und seiner Androhungdieses Dilemma tatsächlich auch so gesehen hat.Als Konsequenz aus diesem Dilemma müssen wiruns die Frage stellen, wie wir in Zukunft mit ähnlichenSituationen umgehen. Wir sind gut beraten, wenn wirdie vielen Vorschläge, die von seiten der Politikwissen-schaft und von Völkerrechtlern unterbreitet wurden, einehumanitäre Intervention völkerrechtlich zu legalisieren,auch aufnehmen und endlich in einen internationalenDiskussionsprozeß über diese ganz wichtige Frage ein-treten.Ein zweiter Diskussionsstrang betrifft die Effektivi-tät dessen, was wir tun. Auf der einen Seite besteht einhohes Risiko für die Soldaten und das Risiko der Eska-lation. Das ist hier heute mehrfach erwähnt worden. Au-ßerdem haben die westlichen Staaten einen sehr hohenmateriellen Aufwand zu erbringen.Auf der anderen Seite stehen die Ziele, die wir ei-gentlich erreichen wollen. Es ist zu Recht gesagt wor-den, diese Ziele sind bisher nicht erreicht worden. DasAbkommen von Rambouillet ist nicht unterschrieben,und das Töten und Vertreiben geht weiter.Umgekehrt muß man aber einmal fragen: Was hättedenn passieren sollen? Hätten wir mit Bodentruppeneinmarschieren sollen oder die Belgrader Luftabwehrignorieren und ein hohes Risiko für die deutschen Sol-daten eingehen sollen? Das wäre eine unverantwortlichePolitik. Ich kann nur davor warnen, mit diesem Tot-schlagargument die NATO abstrafen zu wollen.Viel wichtiger ist – ich glaube, das ist der wichtigstePunkt in der innerdeutschen Diskussion – die Frage dermoralischen Legitimation. Hier treffen zwei Grunder-fahrungen, die die Nachkriegsgenerationen gewonnenhaben, aufeinander: Die eine besagt, Deutsche solltennie wieder an einem Krieg beteiligt sein. Die andere be-sagt, nie wieder wegzuschauen, wenn man an Au-schwitz, Majdanek oder an andere Konzentrationslagerdenkt. Ich denke, beide Ansätze sind legitim. Man solltesie sehr ernst nehmen, weil sie aus einer persönlichenBetroffenheit herrühren. Aber ich habe wenig Verständ-nis dafür, wenn die Gegner der NATO-Luftangriffe,Teile der Friedensbewegung in der PDS, die NATO kri-tisieren, aber die Vertreibungen und das grauenhafteMorden, die durch Milosevic und seine Soldateska ge-schehen, nicht einmal erwähnen. Diese Haltung hat derEntschließungsantrag der PDS wieder einmal deutlichgemacht.
Ich kann auch nicht akzeptieren, wenn Herr KollegeGysi hier sagt, die Datenlage sei so schwach. Natürlichgibt es auch gefälschte Daten. Natürlich hat auch dieUCK ein Interesse an gefärbten Informationen.
Aber die Daten, die als gesichert angenommen werdenkönnen, reichen aus, um hier klar Position zu beziehen.Ich habe auch ein Problem mit der Reise von HerrnGysi nach Belgrad. Man mag darüber schwadronieren,ob es sehr sinnvoll ist, als Vertreter einer sehr kleinenOppositionspartei in dieser Situation mit Herrn Milose-vic zu reden. Aber ich habe kein Verständnis dafür,wenn Herr Gysi nach Belgrad reist und sich dort demon-strativ in einer zerstörten Autofabrik filmen läßt. Dasbedeutet doch nichts anderes, als daß wir die These vonMilosevic – so ist es auch im serbischen Fernsehen dar-gestellt worden – stützen, die NATO führe einen Krieggegen das serbische Volk und gegen seine ökonomi-schen und zivilisatorischen Grundlagen. Genau das be-absichtigt die NATO nicht.
Deswegen denke ich, daß uns Herr Gysi hier einenschlechten Dienst erwiesen hat.
Als jemand, der am 16. Oktober letzten Jahres ausgrundsätzlichen Erwägungen heraus dem damals nochhypothetisch erscheinenden Einsatz der NATO nicht zu-gestimmt hat, möchte ich eines noch klarstellen: Ichhalte nichts von der von Frau Kollegin Buntenbach undanderen Abgeordneten geforderten sofortigen Unterbre-chung der NATO-Luftangriffe. Genau dies würde dazuführen, daß die Vertreibungen weitergehen.
Genau dies würde wiederum den Druck zurücknehmen,den wir auf Milosevic ausüben müssen, um tatsächlichzu einer Annahme des Friedensplanes zu gelangen
Ich sehe in dem jetzt vorliegenden Fischer-Plan einereale Chance für eine noch in weiter Ferne befindlicheBefriedung des Kosovo. Es gibt zum einen die Gefahrdes Kombattantentums der NATO. Mit jedem Tag, andem dieser Krieg weitergeführt wird, mit jeder Bombe,die auf eine militärische Einrichtung fällt, und mit jedemzerstörten serbischen Panzer werden wir mehr zu Kom-battanten der UCK. Unser Ziel ist es nicht, Partei zu er-greifen oder die Kriegsziele der einen oder anderenDr. Eberhard Brecht
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Konfliktpartei zu unterstützen; vielmehr haben wir einInteresse an der Wiederherstellung der Menschenrechte,am Stopp des Vertreibens und am Ende des Tötens.Des weiteren sehe ich, daß Milosevic eine Chancehat, ohne Gesichtsverlust diesem Plan zuzustimmen. DieUNO ist einbezogen und damit auch Rußland. Schließ-lich ist die Frage des Status des Kosovo bewußt offen-gelassen worden, um ihn im Rahmen einer Friedenskon-ferenz zu klären. Die bisherigen Reaktionen auf den Fi-scher-Plan sind nicht so heterogen, als daß man mit ihmnicht Hoffnungen verbinden könnte. Ich hoffe, wirkommen zu einem guten Ende.Die offene Frage des Status ist natürlich ein Risiko.Kollege Lamers hat vorhin zu Recht auf einen Umstandhingewiesen: Es ist für uns heute sehr schwer, sich vor-zustellen, daß die Konfliktparteien, nachdem so viel Blutgeflossen ist, wieder miteinander leben können und daßes wieder ein multiethnisches Miteinander gibt, das Op-fern und Tätern ein Zusammenleben ermöglicht. Das istwirklich sehr, sehr schwer vorstellbar, auch nach den Er-fahrungen, die wir in Bosnien-Herzegowina gemachthaben.Unsere Zielstellung darf aber nicht sein, daß wir imPrinzip zu einer Atomisierung des Balkan kommen,sondern unsere Zielstellung muß sein, Menschenrechteund Minderheitenrechte durchzusetzen und nicht neuestaatliche Einheiten, die möglicherweise zur Ursache fürneue Instabilitäten werden.Ich kann der Bundesregierung und der NATO nurwünschen, daß sie mit der neuen Initiative des Bundes-außenministers erfolgreich ist. Wir als Parlament solltendie Bundesregierung zwar kritisch begleiten, sie auf die-sem Weg aber auch ganz ausdrücklich unterstützen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kol-lege Lamers, Sie haben sich mit Recht beeindruckt ge-zeigt von der großen Rede Rudolf Scharpings. Ichmöchte Ihnen meinerseits zu Ihrem sehr nachdenklichenBeitrag gratulieren. Ich glaube, er hat diese Debatte be-reichert.
Die Kosovo-Krise – meine Damen und Herren, daswissen wir – hat der Bundesrepublik Deutschland undder internationalen Staatengemeinschaft eine sehrschwerwiegende Verantwortung auferlegt. Dieser Ver-antwortung werden wir nicht gerecht, wenn wir es nichtzugleich als unsere selbstverständliche Pflicht betrach-ten, den aus dem Kosovo Vertriebenen beizustehen so-wie die Not und das Elend nach Kräften zu lindern. DieLeiden der Menschen – unter ihnen viele Kinder und Ju-gendliche – dürfen uns nicht gleichgültig lassen.Meine Damen und Herren, die Kosovo-Krise hatnicht – wie wir alle wissen oder jedenfalls wissen kön-nen – erst in diesem Jahr begonnen. Auch die Vertrei-bungen haben nicht erst in diesem Jahr begonnen.Innerhalb der Europäischen Union besteht seit jeherEinmütigkeit, daß Hilfe für die Vertriebenen in ersterLinie in der Region geleistet werden soll. Gleichwohlhat in der Vergangenheit eine große Anzahl von Flücht-lingen, die auf hunderttausend Menschen geschätzt wer-den, in Westeuropa Zuflucht gefunden. Der Grundsatz,daß die Hilfe vor Ort absoluten Vorrang haben muß,gilt nach wie vor. Ich habe in den Gesprächen mit derEU-Kommission, mit Frau Bonino und Frau Gradin, undden EU-Innenministern in dieser Frage volle Überein-stimmung festgestellt. Auch der UNO-Flüchtlings-kommissar stimmt diesem Grundsatz zu. Alle Hilfsmaß-nahmen für die Vertriebenen, die rasch und unbürokra-tisch in Gang gekommen sind, haben sich daher auf dieBereitstellung von Hilfsgütern und die Betreuung in derRegion konzentriert.Die Gründe, die für den Vorrang der Hilfe vor Ortsprechen, hat Bundeskanzler Schröder in der heutigenDebatte bereits genannt. Ich muß sie nicht wiederholen.Ich darf aber hinzufügen, daß die Vertriebenen selbstund auch die albanische Regierung eine Evakuierungausdrücklich ablehnen. Auch das sollte man, wie ichfinde, zur Kenntnis nehmen.Kurz vor Ostern ergab sich in Mazedonien allerdingseine besondere Situation: Der Zustrom von Flüchtlingennach Mazedonien war so angewachsen, daß die Lageunter den spezifischen politischen Bedingungen in Ma-zedonien außer Kontrolle zu geraten schien. In dieserSituation war die Evakuierung von Flüchtlingen aus derGrenzregion von Mazedonien in andere Länder unaus-weichlich.Ich habe daraufhin parallel zwei Hilfsaktionen in dieWege geleitet: Ich habe mich mit den Bundesländern derBundesrepublik Deutschland auf die Aufnahme von10 000 Flüchtlingen geeinigt; zugleich habe ich die EU-Innenminister zu einer Dringlichkeitssitzung eingeladen.Im Vorgriff auf die Beratungen in dieser Dringlichkeits-sitzung habe ich telefonisch bei meinen EU-Innen-ministerkolleginnen und -kollegen dafür geworben,ebenfalls Flüchtlinge ohne vorherige Beschlußfassungaufzunehmen. Ich bin sehr dankbar dafür, daß unter an-derem Schweden und Österreich jeweils 5 000 Kosovo-Vertriebene aufgenommen haben.Dazu darf ich bemerken, daß wir sicherlich Anlaßhaben, vielen Menschen in Deutschland für ihre Hilfsbe-reitschaft zu danken.
Ich habe sicherlich auch Anlaß, dafür zu danken, daßwir zwischen Bund und Ländern bei der Frage der Auf-Dr. Eberhard Brecht
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nahme von Flüchtlingen schnell zu einer Einigung ge-langt sind. Aber zu Überheblichkeit besteht kein Anlaß.Wir sollten nicht übersehen, daß andere Länder mit einersehr viel kleineren Bevölkerungszahl vergleichsweisesehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als wirbisher. Auch das sollte, denke ich, an dieser Stelle nichtübersehen werden.Die Aufnahme der 10 000 Vertriebenen in Deutsch-land ist zügig umgesetzt worden. Ich habe eine Gruppevon Beamten des Bundesgrenzschutzes nach Skopje ent-sandt, die ihre Aufgabe in sehr engagierter und umsich-tiger Weise erfüllt hat, so daß bis Ende dieser Woche dieVerbringung der Flüchtlinge nach Deutschland abge-schlossen sein wird. Den BGS-Beamten möchte ich fürihre hervorragende Arbeit sehr herzlich danken,
insbesondere dem Leiter der BGS-Gruppe, HerrnSeeger, der sich auf meine Bitte am Samstag vor Osternspontan bereit erklärt hat, diese schwierige Aufgabe zuübernehmen. In den Dank schließe ich auch die Mitar-beiter meines Hauses ein, die sich in Tag- und Nachtar-beit bei der Steuerung der Hilfsmaßnahmen wirklichbewährt und Verdienste erworben haben.
Meine Damen und Herren, die Auswahl der Flücht-linge, die in Deutschland aufgenommen wurden, istselbstverständlich nicht willkürlich erfolgt. Ich weißnicht, wie der Kollege Schäuble – er ist nicht mehr da –zu dieser Behauptung gelangt ist. Die Auswahl wird vonVertretern des UNO-Flüchtlingskommissars vorgenom-men. Ich habe in meiner Verantwortung angeordnet,darauf hinzuwirken, daß in erster Linie Kranke, Kinder,Frauen und ältere Menschen berücksichtigt werden. Esmußte aber auch beachtet werden, daß nach MöglichkeitFamilien nicht auseinandergerissen werden.Die Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes haben sichin Zusammenarbeit mit dem UNO-Flüchtlingskommis-sar nach Kräften dafür eingesetzt, daß diesen Kriteriengenügt wurde. Sie haben dafür das ausdrückliche Lobeiner in humanitären Fragen wirklich sachverständi-gen Persönlichkeit, nämlich Rupert Neudeck von CapAnamur, erhalten. Auf dieses Lob können die Kollegendes Bundesgrenzschutzes besonders stolz sein. Sie kön-nen daher kleinliche Kritik von dem Vorsitzenden einerOppositionsfraktion ertragen.
– Herr Repnik, ich sage Ihnen das, und ich bezieheHerrn Stoiber in den Vorwurf ein. Herr Stoiber hat sichnicht gescheut, sogar von Bestechung zu reden. Was istdas für eine Unterstellung gegenüber diesen Beamten,die unter Einsatz ihres Lebens in Skopje ihre Pflicht ver-richten?
Da muß ich mich vor die Beamten stellen. Herr Repnik,das werden Sie sicherlich verstehen.
Meine Damen und Herren, in der Dringlichkeitssit-zung der EU-Innenminister konnten sich einige EU-Mitgliedsländer aus grundsätzlichen Erwägungen leidernicht zur Festlegung von Kontingenten für die Aufnah-me von Vertriebenen entschließen. Ich bitte Sie aber, zuverstehen, meine Damen und Herren, daß es mit Blickauf das Flüchtlingselend der denkbar ungeeignetsteZeitpunkt war, einen Grundsatzstreit auszutragen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Repnik?
Nein, ichlasse keine Zwischenfragen zu.Deshalb haben wir uns wie andere Staaten dazu ent-schlossen, Flüchtlinge ohne Rücksicht darauf aufzu-nehmen, ob andere es uns gleichtun.In Befolgung des Grundsatzes, daß die Hilfe vor Ortabsoluten Vorrang hat, habe ich mich parallel zu denBemühungen, Flüchtlinge in Westeuropa aufzunehmen,dafür eingesetzt, daß zur Entlastung von Mazedoniendas Nachbarland Albanien weitere Flüchtlinge auf-nimmt. Bei meinen Gesprächen mit der albanischen Re-gierung am Ostersonntag konnte ich erreichen, daß sichAlbanien bereit erklärt, weitere 100 000 Flüchtlinge ausder Grenzregion von Mazedonien aufzunehmen.Selbstverständlich war diese Zusage Albaniens an dieBedingung geknüpft, daß die technischen, organisato-rischen und finanziellen Voraussetzungen für die Un-terbringung der Vertriebenen von der internationalenStaatengemeinschaft übernommen werden. Dementspre-chend habe ich dafür gesorgt, daß der personelle Einsatzdes Technischen Hilfswerks in Albanien erheblich ver-stärkt wird und daß andere humanitäre Organisationen,wie unter anderem der Arbeiter-Samariter-Bund, massivunterstützt werden. Vom Technischen Hilfswerk undvon anderen deutschen humanitären Organisationenwerden in diesem Zusammenhang etwa 40 000 Plätzeunter schwierigsten Bedingungen zur Unterbringung vonFlüchtlingen bereitgestellt. Das ist eine großartige Lei-stung, für die ich und wir alle dankbar sein müssen.
Die EU-Innenminister, aber auch die Innenministerder deutschen Bundesländer haben ausdrücklich be-grüßt, daß auf Grund der von mir in Tirana geführtenGespräche eine zusätzliche Unterbringung der Flücht-linge in Albanien ermöglicht wird. Es war in diesem Zu-sammenhang ein Zeichen ungeteilter europäischer Soli-darität, daß sich alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtethaben, durch finanzielle, personelle, logistische und or-Bundesminister Otto Schily
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ganisatorische Hilfsmaßnahmen für die Umsetzung deralbanischen Zusage zu sorgen.Ich warne davor, die Hilfe anderer EU-Mitglied-staaten geringzuschätzen. Nicht zuletzt Italien hat großeAnerkennung für die umfassende Hilfe verdient, die esin Albanien zur Verfügung stellt. Ich habe deshalb auchdie enge Zusammenarbeit mit der italienischen Regie-rung bei den Hilfsmaßnahmen gesucht und in diesemZusammenhang Gespräche mit meiner Kollegin Jervoli-no und dem italienischen Ministerpräsidenten D´Alemageführt.Aber ebenso haben sich alle anderen EU-Staatenmassiv bei der humanitären Hilfe engagiert. Auch dieEU-Kommission ist daran in vorbildlicher Weise betei-ligt. Ich darf darauf hinweisen, daß die EU-Kommission150 Millionen Euro für die humanitären Organisationenund weitere 100 Millionen Euro für Hilfsmaßnahmenzugunsten der in großen Schwierigkeiten befindlichenNachbarstaaten des Kosovo zur Verfügung stellen wird.Wenn hier also von der PDS-Fraktion der Vorwurfgeäußert worden ist, es werde nur auf die private Hilfegesetzt, dann ist das die reine Unwahrheit.
Die von mir genannten Länder brauchen unsere Un-terstützung übrigens auch hinsichtlich einer sehr wich-tigen Frage, die manchmal übersehen wird, nämlichhinsichtlich der Frage der Gewährleistung der innerenSicherheit. In einer so schwierigen und kompliziertenSituation, in der sich beispielsweise Albanien befindet,ist es hilfreich – jenseits aller anderen Fragen, die in die-sem Zusammenhang berechtigterweise diskutiert wor-den sind –, daß die NATO in Albanien Militärkräfte sta-tioniert. Das Kontingent, das jetzt nach Albanien ent-sandt wird, ist gerade für die Unterstützung der huma-nitären Arbeit hinsichtlich der Gewährleistung der inne-ren Sicherheit von großem Wert.Meine Damen und Herren, wir wissen, daß alles Geldder Welt nicht ausreicht, wenn sich nicht Menschen be-reit finden, tatkräftig persönlich vor Ort die notwendigehumanitäre Hilfe zu leisten. Deshalb gilt zum Ab-schluß mein Dank noch einmal den vielen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern der humanitären Organisatio-nen: des Deutschen Roten Kreuzes, der OrganisationCap Anamur, des Technischen Hilfswerkes, der GTZ,des UNHCR, des Arbeiter-Samariter-Bundes, der vie-len kirchlichen Hilfsorganisationen, des Malteser-Hilfs-dienstes und vieler anderer Organisationen.Sie dienen in exemplarischer Weise dem Frieden undder Menschlichkeit. Diese Friedensarbeiter sind für micheine Hoffnung für die Gegenwart und für die Zukunft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Repnik das Wort.
Herr Bundesmini-
ster Schily, ich bedauere, daß Sie, wie ich finde, in einer
Überreaktion auf den Debattenverlauf an einem Punkt
eine gewisse Schärfe hineingebracht haben, die wirklich
nicht angezeigt ist.
Deshalb möchte ich zunächst auf folgendes hinwei-
sen: Unser Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble
hat völlig zu Recht auf die bedrängte Situation der
Flüchtlinge in der Krisenregion hingewiesen und hat
angesichts des starken Andrangs dieser Flüchtlinge in
Richtung Westeuropa und die Bundesrepublik Deutsch-
land seine Sorge dahin gehend zum Ausdruck gebracht,
daß man mit ganz besonderer Sorgfalt darauf achten
möge, vordringlich solche Menschen bei uns aufzuneh-
men, die krank sind und die einer besonderen medizini-
schen Betreuung bedürfen. Dies ist doch selbstverständ-
lich. Ich billige es jedem Kosovaren in dieser Region zu,
daß er den Versuch unternimmt, hierher nach Deutsch-
land bzw. Westeuropa zu kommen. Wir können nicht
alle aufnehmen. Dies hat Herr Schäuble zum Ausdruck
gebracht.
Ich möchte auf einen weiteren Sachverhalt hinweisen:
Er hat gerade den Beamten und Hilfsorganisationen, die
unter schwierigsten Bedingungen ihrer Verantwortung
vor Ort gerecht werden, gedankt. Es kann nicht die Rede
davon sein, daß hier ein Zweifel an der Integrität dieser
Menschen gesät worden ist. Daß das Gegenteil der Fall
ist, können Sie der Rede von Herrn Schäuble entneh-
men.
Ferner möchte ich folgendes feststellen – nur deshalb
habe ich jetzt noch um das Wort für diese Kurzinterven-
tion gebeten –: Zumindest was das Verhalten zwischen
der Regierung und der größten Oppositionsfraktion an-
belangt, haben Sie doch eigentlich allen Grund, die Un-
terstützung, die Sie von uns erfahren, dankbar zur
Kenntnis zu nehmen. Deshalb habe ich Ihre Schärfe so
sehr bedauert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung,
Herr Bundesminister Schily, bitte.
Herr Kolle-ge Repnik, ich bedanke mich für Ihren sachlichen Bei-trag. Aber ich muß auf folgendes hinweisen: Ich habeein gutes Gedächtnis. Kollege Schäuble hat davon ge-sprochen, die Menschen, die bei uns aufgenommen wür-den, seien willkürlich ausgesucht worden. Ich habe auchnoch die Worte von Ministerpräsident Stoiber im Ohr,der sich sogar zu der Behauptung verstiegen hat, eskönnten dabei Geldzuwendungen eine Rolle gespielthaben.Ich habe die Pflicht – für den Fall, daß meine diesbe-zügliche Anmerkung zu scharf ausgefallen ist, bemüheich mich jetzt um einen sachlichen Tonfall –, die Be-amten, die in der Krisenregion wahrlich gute Arbeit ver-richten, vor jedem Vorwurf – auch nur Anschein desVorwurfs –, daß eine solche Willkür herrsche oder daßbei der Art und Weise, wie die Flüchtlinge zu uns kom-men, womöglich strafbare Tatbestände eine Rolle ge-spielt hätten, zu schützen.Bundesminister Otto Schily
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Deshalb bitte ich Sie, Herr Kollege Repnik, die RedeIhres Fraktionsvorsitzenden noch einmal nachzulesen
und Herrn Schäuble vielleicht zu veranlassen, diesenVorwurf zurückzunehmen, den er wahrscheinlich in Un-kenntnis des Sachverhalts – das kann ich ihm mögli-cherweise zugute halten – gemacht hat. Vielleicht kanner diesen Vorwurf korrigieren. Denn das bin ich meinenBeamten, die in Skopje tätig sind, wahrlich schuldig.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der PDS auf der Drucksache 14/755. Die Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben
beantragt, den Entschließungsantrag zur federführenden
Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitbe-
ratung an den Verteidigungsausschuß zu überweisen.
Die Fraktion der PDS verlangt hingegen sofortige Ab-
stimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstimmung
über den Überweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Überweisungsvorschlag der Koalitions-
fraktionen zustimmen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Über-
weisungsvorschlag gegen die Stimmen der PDS–Frak-
tion angenommen, und wir stimmen heute in der Sache
nicht ab.
Wir sind am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Montag, den 19. April 1999, 12 Uhr ein.
Diese Sitzung findet, wie Sie alle wissen, in Berlin statt.
Die Sitzung ist geschlossen.