Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß in der Sitzungswoche vom 12. Dezember 1994 mit Rücksicht auf die Haushaltsberatungen keine Befragung der Bundesregierung, keine Aktuellen Stunden und keine Fragestunden stattfinden. Sind Sie mit der Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers fort:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache
Ich erinnere daran, daß wir am Mittwoch für die heutige Aussprache vier Stunden beschlossen haben.
Wir beginnen mit den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur.
Das Wort hat unser Kollege Wolfgang Thierse.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung von der Notwendigkeit einer geistigen Standortbestimmung gesprochen. Dem ist durchaus zuzustimmen, auch wenn die Regierungserklärung selbst gewiß kein sonderlich guter Beitrag dazu war. Aber wir wollen sie auch nicht an allzu hohen Erwartungen messen.
Es ist richtig: In den nächsten Jahren geht es in Deutschland nicht nur um eine enorme ökonomische und soziale Aufbau- und Umbauleistung, sondern auch und ebensosehr um eine demokratische und intellektuelle Aufbauleistung, um den Streit und die Einigung darüber, auf welche Art der Zukunftsorientierung für unser Land, auf welche Art von Fortschritt in Wissenschaft und Technik die Gesellschaft sich wird verständigen können. Das hat Politik nicht allein und nicht zuerst zu entscheiden. Sich Rat zu holen ist also nicht verwerflich, im Gegenteil. So will ich denn Ihre Vorschläge zur Bildung eines Technologieratesund einer Deutschen Akademie der Wissenschaften zunächst ganz freundlich interpretieren.Aber manche Äußerungen von Herrn Schäuble und von Ihnen, Herr Rüttgers, nähren das Mißtrauen, ob hier nicht vor allem ein Propagandainstrument für technischen und wissenschaftlichen Fortschritt zur Überwindung von lästiger Technikfeindlichkeit und lästiger Fortschrittsskepsis entstehen soll und weniger ein offenes Diskussionsforum, ob hier nicht auch ein Renommierprojekt in Gang gesetzt werden soll, dessen Gestehungskosten vorhandene Wissenschaftsinstitutionen, vorhandene Akademien zu bezahlen haben.
Sie, Herr Rüttgers, werden Ihre bisher eher vage Idee konkretisieren müssen, um die Zweifel zu überwinden.Meine Damen und Herren, das Bewußtsein der gemeinsamen Herkunft und der Wille zur gemeinsamen Zukunft, so hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt, seien Voraussetzungen für die innere Einheit der Deutschen. Richtig! Er hat hinzugefügt:Dazu gehört, daß wir sowohl die Geschichte der alten Bundesrepublik als auch jene der früheren DDR als untrennbare Teile unserer gemeinsamen Vergangenheit verstehen.
Ich will dem ausdrücklich zustimmen. Aber in Wirklichkeit tun Sie das genaue Gegenteil. Die von Ihnen forcierte Art des Umgangs mit der DDR-Vergangenheit, die gegen die SPD gerichtete Rote-SockenWahlkampfkampagne, das hysterische Gerede von Komplizenschaften — dies alles befördert eben nicht Verstehen, sondern Ressentiments und Vorurteile.
Günter Gaus hat vor Jahren einmal gesagt: Wer über die deutsche Einheit nachdenkt, muß darüber nachdenken, wie Deutschland mit seinen Kommunisten lebt. Als Gaus dies äußerte, waren die Kommu-
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Wolfgang Thiersenisten noch an der Macht. Sie sind es zum Glück nicht mehr.
Aber wir sollten im Gausschen Sinne nachdenken, gelassener als bisher. Denn die Kommunisten sind zwar erheblich weniger geworden, aber sie sind natürlich nicht vollständig verschwunden, sie sind noch da. Ein Teil von ihnen hat sich eine Nachfolgepartei geschaffen, die aus der SED stammt, gewiß, mit dieser aber nicht mehr identisch ist. Mit dieser Partei gilt es, sich politisch auseinanderzusetzen und nicht so kleinkariert und kleinmütig, wie das CDU und CSU in den letzten Tagen z. B. gegenüber Stefan Heym praktiziert haben. Das war peinlich und unangemessen.
Sie werden mir hoffentlich glauben, daß ich nach DDR-Erfahrung und nach der Erfahrung eines ziemlich brutalen PDS-Wahlkampfes gegen mich
keinen Anlaß zu freundlichen Gefühlen gegenüber der PDS habe.
Aber ich sage genauso: Wenn wir die Auseinandersetzung nicht selbstbewußt und offensiv, differenziert und großzügig zugleich und an den demokratischen Grundwerten orientiert führen, dann wird das eben keine Einladung zur Demokratie für diejenigen sein, die der Demokratie immer noch ziemlich fremd gegenüberstehen.
Wenn es nicht gelingt, geschichtliche Prägungen, gewachsene Identitäten der Ostdeutschen zu erkennen und zu respektieren, dann wird das eben immer wieder jene wütende oder beschönigende Vergangenheitsfixierung unterstützen, für die die PDS auch steht.
Stigmatisierung und Ausgrenzung sind der Nährboden, auf dem die PDS gedeiht, und CDU und CSU versuchen, davon zu profitieren.
Es bleibt dabei: Für uns Sozialdemokraten ist die PDS ein politischer Gegner und Konkurrent, mit dem wir uns als Demokraten auseinanderzusetzen haben und auseinandersetzen. Da müssen wir von Ihnen nicht belehrt werden.
Vor allem aber wird diese Auseinandersetzung dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die ostdeutschen Probleme zu lösen, die nicht nur ökonomischer und sozialer Art sind, sondern eben auch moralischer und psychologischer Natur.
Aber Ihre Politik für Ostdeutschland, die uns in den nächsten Jahren erwartet, wird, fürchte ich, für viele wieder zur Enttäuschung werden.
Ich will nur ein paar Beispiele nennen. Wann und wie eigentlich wollen Sie für eine wirkungsvolle Begrenzung der Mietenexplosion in Ostdeutschland sorgen? Wann fällt der unsinnige, lebensfremde und willkürliche Stichtag, der automatisch redlichen von unredlichem Erwerb von Wohnimmobilien unterscheidet?
Wieso halten Sie stur am Privatisierungszwang fest, dem Wohnungsgesellschaften unterliegen, wenn sie Altschuldenhilfe beanspruchen wollen? Wann fallen die nicht zu rechtfertigenden strafrechtlichen Elemente im Rentenüberleitungsgesetz? Wann kapieren Sie endlich, daß Rentenrecht kein Strafrecht sein darf?
Wann endlich ringen Sie sich dazu durch, einer Neuregelung des § 218 zuzustimmen
— nein, nein —, die der Würde der Frauen entspricht und eben auch ostdeutschen Erfahrungen?
Von der Förderung der mittelständischen Unternehmen ist in Ihrer Koalitionsvereinbarung die Rede. Das ist notwendig, aber fast zu spät. Ohne eine Regelung des Altschuldenproblems wird es nicht gehen. Und so weiter und so fort. Das sind Fragen, meine Damen und Herren, für deren Beantwortung man sich in Ostdeutschland brennend interessiert.Wenn Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung davon reden — Herr Krüger hat gestern auch davon geredet —, daß es sinnvoll sei, aus den ostdeutschen Erfahrungen der zurückliegenden Jahre zu lernen, dann stimme ich dem ausdrücklich zu. Das wäre ein Schritt wirklicher Gleichberechtigung. Aber warum muß als Beispiel dafür ausgerechnet das Beschleunigungsgesetz des Herrn Krause herhalten? Ich habe etwas dagegen, daß ostdeutsche Erfahrungen zum Abbau demokratischer Errungenschaften der alten Bundesrepublik instrumentalisiert werden.
Das wäre der falsche Ausdruck des Nutzens ostdeutscher Erfahrungen.Die deutsche Einheit bleibt eine Zukunftsaufgabe, die uns noch bis in das nächste Jahrtausend beschäftigen wird. Deshalb beklage ich, wie wenig Ostdeutschland in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers eine Rolle gespielt hat.
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Wolfgang Thierse— Sie werden mir doch erlauben, über die Themen zu reden, die grundlegende Themen der deutschen Politik sind.
Wann ich das tue, ist doch auch mir überlassen. Seien Sie nicht so kleinlich.Zum Beispiel hätte doch auch der Umstand Aufmerksamkeit verdient, daß 90 % all derjenigen, die in Ostdeutschland im Rahmen wissenschaftlicher und industrienaher Forschung beschäftigt waren, heute dort nicht mehr beschäftigt sind.
Das ist, finde ich, die für die Zukunft Ostdeutschlands schlimmste Zahl.Meine Damen und Herren, in Ostdeutschland liegt ein gigantisches Zukunftspotential brach. Der Schaden, der da angerichtet worden ist, ist enorm. Das ganze Deutschland kann sich vor dem Hintergrund der Standortdebatte die Verschwendung solcher Ressourcen einfach nicht länger leisten.
Ich frage Sie also, was Sie zu tun gedenken, um dieses Potential auszuschöpfen und den betroffenen Wissenschaftlern wieder eine berufliche Perspektive zu verschaffen.Modernisierung und Innovation schafft man doch nur, wenn man die wissenschaftlichen Potenzen eines Landes nutzt und vermehrt. Diese Aufforderung richtet sich eben nicht nur an die deutsche Wirtschaft, die in mancherlei Hinsicht die Zukunft immer noch zu verschlafen scheint; sie richtet sich auch an diejenigen, die für die Politik verantwortlich sind.Sie haben nun ein neues Zukunftsministerium ins Leben gerufen und wollen die Bereiche Bildung, Forschung, Wissenschaft, Technologie und Hochschule integrieren. Ich halte das für eine bemerkenswerte Idee. Sie stammt ja auch von uns. Sie stand in unserem Regierungsprogramm.
Sie haben ebenfalls angekündigt, den Etat für Forschung und Technologie überproportional wachsen zu lassen. Wir begrüßen das. Schließlich ist auch dies eine SPD-Forderung.
Es ist wahrlich an der Zeit, sie einzulösen; denn in Ihrer bisherigen Amtszeit haben Sie es geschafft, den Forschungshaushalt von 2,8 % auf deutlich unter 2 % zu drücken.
Aber — angesichts Ihrer Ankündigung will ich gleich hinzufügen —: Wir haben ja die Erfahrung, daß man Ihren Worten nicht so leicht Glauben schenken darf, sondern erst einmal die Taten abwarten muß. Ich lasse mich gern überraschen, was „überproportional wachsen" heißt. Ich bin gespannt.Meine Damen und Herren, dieses Land braucht wirklich eine forschungs- und technologiepolitische Offensive. Wir müssen das fördern, was Deutschland schon immer stark gemacht hat: den Erfindungsgeist seiner Techniker und Ingenieure, die hohe Motivation und Qualifikation seiner Facharbeiter, die Flexibilität und Innovationsfähigkeit seines Mittelstands, die Entscheidungskraft und Risikobereitschaft des Managements und die Lernfähigkeit und den Lernwillen seiner Menschen. Bildung und Ausbildung müssen in unserer Gesellschaft wieder zu einem herausragenden Thema gemacht werden.
Die notorische Zweitrangigkeit von Bildung und Forschung muß endlich überwunden werden. Wenn Sie dies versuchen, Herr Rüttgers, werden Sie unsere energische Unterstützung finden.Auffallend ist — um noch einmal auf das zuvor genannte Stichwort zurückzukommen —, daß die Wiederherstellung der Industrieforschung in Ostdeutschland in Ihren Ankündigungen so gut wie keine Rolle spielt, obwohl sie nach Jahren des Niedergangs und der Abwicklung höchste Priorität genießen müßte. Ohne industrienahe Forschung wird es in Ostdeutschland keine leistungsfähige mittelständische Industrie geben können, keinen Wiederaufbau industrieller Strukturen und keine sicheren Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe. Der Standort Ostdeutschland hat nur dann eine Chance, wenn es gelingt, durch energische Anstrengungen dorthin Innovations- und Modernisierungspotential zu lenken bzw. aufzubauen.Meine Damen und Herren, kaum ein Land mit einer vergleichbaren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat sein Bildungs- und Hochschulwesen in den letzten Jahren so vernachlässigt wie Deutschland.
Bildung, Ausbildung und Wissenschaft sind unter Ihrer Regierungstätigkeit zum Sparstrumpf der Nation geworden.
Auf diese Weise wird auch die Zukunft unserer Gesellschaft weggespart.Es ist ein billiges Argument, einerseits die langen Studienzeiten zu beklagen — wie in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschehen — und andererseits den Studentinnen und Studenten eine gescheite materielle Absicherung über das BAföG vorzuenthalten und sich seinen Pflichten bei der Hochschulfinanzierung zu entziehen.
Seit Mitte September liegt der Entwurf des Bundesrates zur Novellierung des BAföG vor, der die Bedarfssätze um 4 % und die Freibeträge um 2 % erhöhen sowie einige weitere Verbesserungen noch für dieses Jahr in Kraft setzen will. Die Koalition ignoriert die Lage der Studentinnen und Studenten,
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Wolfgang Thiersewenn sie über das BAföG erst nächstes Jahr entscheiden will. So kompliziert ist der Sachverhalt doch nicht, daß Sie nicht sofort darüber befinden könnten.
Bildung und Ausbildung sind kein Luxus, auch nicht bloß gesellschaftliches Verteilungsinstrument individueller Chancen. Bildung und Ausbildung sind Investitionen in eine friedliche, demokratische und nur dann auch ökonomisch erfolgreiche gemeinsame Zukunft. Deshalb muß Schluß sein mit einer bildungspolitischen Diskussion, in der vor allem nach fiskalischen Gesichtspunkten über den 12- oder 13jährigen Bildungsweg, über mehr oder weniger Unterrichtsstunden und über größere bzw. kleinere Klassen entschieden werden soll. Dies sind alles gewiß keine unwichtigen Fragen. Was wir aber wirklich brauchen, ist eine neue große öffentliche Debatte über die Ziele von Bildung und Ausbildung. Sie ist an der Zeit.Nicht zuletzt die deutsche Einheit und der Zusammenbruch der bipolaren Welt der Systemauseinandersetzung, aber auch die rasanten technologischen und sozialökonomischen Entwicklungen bieten uns Chance und Notwendigkeit zugleich für eine solche Debatte. In Ostdeutschland und auch bei unseren östlichen Nachbarn ist die radikale Umwertung von Werten und Verhaltensgewohnheiten gewiß drastischer, jedenfalls offensichtlicher als im scheinbar weniger berührten Westen. Tatsächlich wissen wir aber auch gesamtdeutsch nicht mehr so genau, was an die Stelle des verlorenen, des unsicher gewordenen Alten treten soll.Lassen Sie mich einige Stichworte nennen, an denen sich die Debatte über eine zweite Bildungsreform oder vielmehr über die erste gesamtdeutsche Bildungsreform orientieren müßte.Erstens. Die Erwerbsarbeit verliert an Bedeutung für die persönliche Identität und Zufriedenheit, ganz gleich, ob dies durch die unerwünschte, aber massenhafte Arbeitslosigkeit erzwungen wird oder ob wir mit genereller Arbeitszeitverkürzung, Teilzeitarbeit, Sabbatjahren oder welchen Modellen auch immer die Folgen der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung gestalten. Mobilität und die Fähigkeit, sich in neue Lebenszusammenhänge zu begeben und alte zu verlassen, müssen entwickelt werden. Wir dürfen es angesichts dieser absehbaren Entwicklung nicht gedankenlos bei einer Vermittlung von Werten belassen, die die Persönlichkeitsbildung, das Selbstbewußtsein und die individuelle Identität vor allem an die erfolgreiche Erwerbsarbeit knüpfen, so unersetzlich diese auch ist.Zweitens. Die Durchdringung, die Gestaltung unserer Gesellschaft durch Technik erfordert eine neue technologische Kompetenz. Wenn Sie so wollen, muß Technikfolgenabschätzung eine allgemein verbreitete Fähigkeit werden. Technik darf uns nicht beherrschen, Technik soll uns lediglich Werkzeuge schaffen. Dabei soll sie keine neuen Machtverhältnisse begründen, sondern uns von lästigen Tätigkeiten befreien, neue Handlungs- und Lebensmöglichkeiten eröffnen. Technologische Kompetenz kann deshalb nicht nur bedeuten, die Technik physisch zu beherrschen, sieweiterzuentwickeln und Neues zu erfinden, sondern auch, sie gesellschaftlich zu beherrschen.
Drittens. Das ökologische Wissen ist in kurzer Zeit gewaltig gewachsen. Wir kennen die Gefahren, aber unser Verhalten hat auf diese Gefahren bisher nur — vornehm ausgedrückt — sehr maßvoll reagiert, eher mit Verdrängung als mit Verhaltensänderung. Ökologische Kompetenz erwerben heißt deshalb, die erforderliche Verantwortung und die Flexibilität zu entwickeln, die zu den notwendigen Verhaltensänderungen führen können.Viertens. In der enger werdenden einen Welt gibt es die tägliche Konfrontation mit dem Fremden, auch mit fremden Menschen und Kulturen. Wir müssen in einer immer mehr medial vermittelten Welt, die uns in hohem Maße mit Klischees und Vereinfachungen versorgt, an Sensibilität, Toleranz, Neugier und Gewaltfreiheit im Umgang untereinander interessiert sein. Wir brauchen Konzepte für eine interkulturelle Erziehung.Fünftens. Wir müssen einen anderen Umgang mit der Zeit — sowohl mit unserer individuellen Zeit als auch mit der Geschichte — lernen. Wenn wir uns daran erinnern, was vor uns war, und wenn wir trauern können um das, was davon verlorengegangen sein mag, dann finden wir auch neue Energien zur Gestaltung der Zukunft. So verstandene geschichtliche Kompetenz und Erinnerungsvermögen nützen auch der Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Orientierung in einer ziemlich schnellen Zeit zu finden.Sechstens. Ich werde den empörten Satz, wir Ostdeutschen hätten Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen, so schnell nicht vergessen — und auch nicht meine Irritation und meine Verärgerung über diesen Satz. Es scheint, daß die Kompetenz für das Ringen um Gerechtigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft immer neu geschaffen werden muß. Pluralismus ist Voraussetzung für wie Ausdruck von Freiheit. Konkrete Gerechtigkeit aber ist nicht statisch und nicht dogmatisch bestimmbar. Sie muß vielmehr immer wieder gesucht und gefunden werden. Wer aber mit einer solchen Aussage die rechtsstaatlichen Regeln für die Suche nach Gerechtigkeit in Zweifel setzt, befindet sich auf gefährlichem Weg.
Die Fähigkeit, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, soziale Demokratie wie rechtsstaatliche Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit anzuerkennen, sind Schlüsselqualifikationen für die demokratische Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, das Bildungssystem wird uns keine politische Entscheidung abnehmen, keinen Konflikt ersparen können und es auch nicht dürfen. Aber es muß unsere Kinder befähigen, soziale Demokratie zu bewahren, zu entwickeln und in der komplizierter und unübersichtlicher werdenden Welt
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Wolfgang Thiersezu leben, die wir ihnen hinterlassen und die sich ständig schneller ändert.Deshalb brauchen wir eine neue Debatte darüber, was zu diesem Zweck von unserem Bildungssystem, von der Grundschule bis zur Universität, von der beruflichen Bildung bis zur Volkshochschule, geleistet werden muß. Ein solches Projekt hätte ich mir von einer Regierungserklärung gewünscht, die auf der Höhe der Zeit sein will. Die erste gesamtdeutsche Bildungsreform ist notwendig.
Als nächster spricht der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Thierse, ich bin Ihnen, wenn ich Ihre Rede richtig erspürt habe, dankbar für die grundsätzliche Zustimmung, die Sie den Punkten gezollt haben, die in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum Thema Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie angesprochen worden sind. Ich glaube, das ist eine gute Ausgangslage, trotz der Kritik, die sicherlich auch zu dieser Debatte gehört.Ich will Ihnen auch ausdrücklich, Herr Thierse, darin zustimmen, daß gerade Bemühungen um die neuen Bundesländer in den nächsten Monaten und Jahren im Vordergrund der Arbeit meines Ministeriums stehen müssen.
Wir haben da hochmotivierte und kochqualifizierte Forscher und Wissenschaftler, die einen Vergleich weltweit nicht zu scheuen brauchen. Deshalb tut jede Anstrengung not, das, was in dieser Umbruchzeit vielleicht unausweichlich war, wieder aufzuarbeiten und hier Chancen zu eröffnen.Ich bin persönlich zutiefst davon überzeugt, daß gerade die Forschungs- und Wissenschaftslandschaft in den neuen Bundesländern auch im europäischen Vergleich in der Zukunft riesige Chancen hat, und ich glaube, wir können sie insgesamt nutzen.Meine Damen und Herren, gestern hat der Deutsche Bundestag über den Wirtschaftsstandort Deutschland diskutiert. Naturgemäß standen bei dieser Debatte die Kostenstrukturen unserer Wirtschaft im Vordergrund. Aber ich glaube, das Kostenproblem ist nur eine Seite. Der Strukturwandel wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, die Innovationsbereitschaft in Deutschland zu erhöhen.Es ist wahr: Leider haben viele Unternehmen in der Rezession die Aufwendungen für Forschung und Ausbildung gekürzt. Es ist auch wahr, daß die öffentliche Hand angesichts der Sonderlasten durch Rezession und Erblast des Sozialismus nicht das Geld zur Verfügung stellen konnte, das wünschenswert gewesen wäre. Aber je weiter der Konsolidierungsprozeß der öffentlichen Haushalte fortschreitet, desto eherwird es möglich sein, das zu ändern. Ich bin deshalb froh, daß die Koalition als ersten Schritt über die schon im Haushaltsentwurf 1995 vorgesehene überproportionale Steigerung hinaus die Steigerung der Haushaltsmittel für Zukunftsinvestitionen in den nächsten Jahren fortsetzen will.Aber, meine Damen und Herren, so wichtig das Geld ist, Geld ist nicht alles. Innovation beginnt in den Köpfen, und Innovationsfähigkeit ist der Schlüssel für Zukunftsfähigkeit.
Sie ist unser wichtigster Rohstoff.Diese Innovationsfähigkeit ist zugleich eine Herausforderung, die sich — auch das, meine ich, muß man sagen — nicht nur an die Politik richtet. Nicht die Politik allein kann die Fragen beantworten. Dieses Problem geht uns alle an, und es fordert uns alle, vor allem die jungen Menschen, die in der Ausbildung sind und sich für ihr späteres Berufsleben qualifizieren. Es geht ja gerade um ihre Lebenschancen in einer Zeit, die von grundlegenden Veränderungen gekennzeichnet ist. Es geht die Forschungs- und Bildungseinrichtungen an, die Unternehmen und ihre Mitarbeiter, die Selbständigen. Und es geht die Leistungseliten in unserem Land an. Dazu zähle ich den hochmotivierten Facharbeiter genauso wie den Forscher und den Ingenieur. Wenn heute viele eher ängstlich in die Zukunft blicken, dann müssen wir Anwalt sein für diejenigen, die Neues wagen, die den Mut haben, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten.
Deshalb, meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, ist es unsere wichtigste Aufgabe, Zukunft nicht als das Morgen zu begreifen, das dem Heute zwangsläufig folgt, sie nicht als bloße Fortsetzung des Status quo zu verstehen, sondern als Gestaltungsaufgabe, die den Willen zur Veränderung voraussetzt.In unserem Land — auch das wissen wir aus vielfältigen öffentlichen Diskussionen — haben, zumindest in dem, was dann veröffentlicht überkommt, Bedenkenträger Konjunktur. Ich meine, wir müssen sicherlich bedenken und abwägen, was wir in Zukunft wollen. Aber, meine Damen und Herren, dann müssen wir auch zupacken und uns etwas zutrauen.
Die Bundesregierung ist sich ihrer Verantwortung bewußt. Ich glaube, das haben wir mit der Koalitionsvereinbarung und dem neuen Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie unterstrichen.
Meine Damen und Herren, daß dieses neue Ministerium als Zukunftsministerium bezeichnet wird, freutmich; dennoch will ich von vornherein möglichen
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Bundesminister Dr. Jürgen RüttgersFehlinterpretationen vorbeugen. Zukunft ist weder am Reißbrett noch am ministeriellen Schreibtisch plan- und machbar. Das muß immer klar sein.
Was uns zukunftsfähig macht, sind die vielen Menschen, die Ideen haben, die mit Gestaltungsfreude und Leistungsbereitschaft an neue Aufgaben herangehen. Wissenschaft und Forschung brauchen Freiräume. Die Freiheit der Wissenschaft ist mehr als ein verbrieftes Recht. Sie ist Voraussetzung für Kreativität und Erfindungsreichtum, allerdings auch für Verantwortung und selbstkritische Überprüfung.Wenn ich vom Innovationsstandort spreche, geht es mir auch um eine bessere und flexiblere Abstimmung zwischen Bildungssystem und Arbeitswelt, zwischen Bildung und Forschung. Ich glaube, die Zusammenfassung in diesem Ministerium ist Ausdruck dieser Notwendigkeit. Ich verstehe sie zumindest nicht nur als Verschlankung, sondern sie ist Programm.Wo Bruchstellen Austausch und Synergie verhindern, müssen Brücken den Wissenschafts- und Anforderungstransfer gewährleisten. Wir brauchen kurze Wege, meine Damen und Herren, um unsere Flexibilität und Reaktionsfähigkeit zu erhöhen. Wir wollen Menschen zusammenführen, die in unserer vielgliedrigen Forschungs-, Wissenschafts- und Unternehmenslandschaft Großartiges leisten.Seit langem — Sie kennen diese Debatte — wird ja über das Für und Wider strategischer Allianzen diskutiert. Da gibt es die einen, die verweisen auf Japan, und andere beschwören den Wettbewerb. Ich finde, wir haben in Deutschland eine eigenständige Tradition. Wir haben plurale und föderale Strukturen, und ich finde, sie haben sich bewährt.
Aber es gibt natürlich eine lebhafte Diskussion um die politischen Schwerpunkte, und, lieber Herr Schily, das ist nicht die Vergangenheit. Das ist aktuelle Diskussion unter Leuten, die sich auskennen.Wir sollten nicht — das ist eine Botschaft, die heute von hier ausgehen kann — in alten Gräben verharren: hier die Verfechter einer Industriepolitik und dort die Anhänger einer reinen ordnungspolitischen Lehre. Ich finde, wir sollten uns unserer Stärken bewußt sein und darauf aufbauen. Dazu gehört, daß wir den Dialog der besten Köpfe unseres Landes ausbauen, indem wir sie an einen Tisch holen.
Bei den Spitzentechnologien des 21. Jahrhunderts, z. B. bei der Mikroelektronik, liegen wir nicht durchweg an der Spitze. Aber wie man durch gezielte Strategien eine Spitzenstellung erreichen kann, Herr Fischer, zeigt gerade das Beispiel der Umwelttechnologien. Hier sind deutsche Unternehmen international marktführend. Die Exporterfolge zeigen dies überdeutlich.Als Exportnation und Hochlohnland muß sich unsere Wirtschaft auf den Märkten behaupten, auf denen sich mit innovativen Produkten und Dienstleistungen eine hohe Wertschöpfung erzielen läßt. Dassind die Märkte, auf denen die Beherrschung fortgeschrittener Technologien eine herausragende Rolle für die Wettbewerbsposition spielt.Deshalb dürfen wir uns nicht zurücklehnen, wenn etwa Untersuchungen zu dem Ergebnis kommen:Innovationen dauern in Deutschland zu lange, sind realitätsfern und schlecht geplant. Von 1919 Erstideen, die von den Innovationsforschern überprüft wurden, erblickten nur 176 das Licht des Marktes.Dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere an uns vorbeiziehen. Das ist nicht nur eine Frage von politischen Entscheidungen, sondern zuerst einmal eine Frage der Beweglichkeit in den Köpfen.
In vielen Unternehmen hat inzwischen, wenn ich dies recht sehe, ein deutlicher Wandlungsprozeß eingesetzt. Ihr Ziel ist es, die Diskrepanz zwischen den — auch im internationalen Vergleich — hohen FuE- Aufwendungen und den keineswegs optimalen Marktergebnissen abzubauen. Die Wirtschaft hat die Notwendigkeit einer schnelleren Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in wettbewerbsfähige Produkte erkannt. Aber klar ist auch: ohne neue Ideen keine neuen Produkte. Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung widersprechen sich nicht. Sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille.
Wir haben gute Grundlagen. Die großen Wissenschaftsorganisationen haben ihre Leistungsfähigkeit in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt. Sie sind und bleiben unverzichtbare Bestandteile unserer Forschungs- und Wissenschaftslandschaft.Im Bildungsbereich stellt sich daneben die Frage, ob unsere Bildungsgänge mit der schnellen Entwicklung des Wissens und der Fertigkeiten in einer sich wandelnden Berufswelt Schritt halten. Herr Thierse, da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu: Bildung heißt immer auch Persönlichkeitsbildung, heißt Erziehung, heißt Wertevermittlung. Das ist mehr als Technik, das ist mehr als Organisation. Wenn ich auch da die Hinweise in Ihrer Rede richtig verstanden habe, sollten wir in ein Gespräch eintreten über das, was Sie — für meinen Geschmack und mein Gefühl zu groß — als große Bildungsreform bezeichnet haben.Mancher wird sich aus eingefahrenen Denkstrukturen und aus liebgewordenen Organisationsschlachten herausbewegen müssen und zuerst einmal die Debatte über Inhalte führen müssen. Das — auch da will ich zustimmen — ist ganz sicherlich nicht zuerst eine Debatte, die auf dem großen Markt ausgetragen werden kann. Aber vielleicht gibt es dort eine Chance, weiterzukommen.
Wenn Bildung die jungen Menschen zu einer aktiven und eigenverantwortlichen Mitgestaltung im Berufsleben befähigen muß, dann ist dies ein wichtiges und ein zentrales Thema. Ich bin deshalb froh, daß
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Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgersin der Koalitionsvereinbarung ein Bündel von Maßnahmen dazu vorgeschlagen worden ist.Unser Ziel ist, die berufliche und akademische Bildung zu stärken und damit Ansehen und Förderung der beruflichen Bildung aufzuwerten, Ausbildungszeiten zu optimieren und durch neue Elemente der Fort- und Weiterbildung für ein lebenslanges Lernen zu ergänzen.
— Herr Schily, wenn Sie demnächst vielleicht wieder einmal — wenn ich auf Ihren Zwischenruf eingehen darf — mit einem Lehrling sprechen, dann werden Sie merken, vor welchen Anforderungen dieser steht. Das ist also ein ganz wichtiger Punkt.
Ich will hier auch sehr deutlich sagen: Ich beobachte die Aufweichung unseres dualen Bildungssystems mit Sorge. Für viele Unternehmen ist es anscheinend allemal günstiger, statt mehr als 100 000 DM in eine dreijährige Lehrzeit zu investieren, einen Fachhochschulabgänger einzustellen. Aber der schon heute akute Facharbeitermangel — er ist im dualen System die Folge von zuwenig Ausbildung in den Betrieben — kann zur Wachstumsbremse werden. Wenn das duale System ausblutet, dann leidet unsere gesamte Wirtschaft an Kreislaufschwäche.Wir haben uns das Ziel gesetzt, die Attraktivität der beruflichen Bildung nachhaltig zu stärken. Dabei geht es auch um die Gleichwertigkeit von beruflichen und allgemeinbildenden bzw. akademischen Ausbildungsgängen. Ich meine, wir brauchen eine größere Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Ausbildungsangebote, die betriebliche und Hochschulausbildung verbinden, sollen daher gezielt gefördert werden.
Wir werden darüber hinaus die Begabtenförderung in der beruflichen Bildung weiterentwickeln und zugleich die Qualifizierungsmöglichkeiten leistungsschwächerer Jugendlicher und Erwachsener verbessern. Wir streben insgesamt eine Reform der Ausbildungsförderung unter Einbeziehung der beruflichen Aufstiegsfortbildung an, zu der ich alsbald Vorschläge unterbreiten werde.
Die schwierige Lage an den Hochschulen ist allgemein bekannt. Ich glaube, es wäre falsch, sie zu beschönigen. Die Hörsäle sind zu voll, die Bibliotheken überlastet. Ich will jetzt auch nicht einfach nur auf die Erstverantwortung der Länder hinweisen. Dieses politische Spiel ist bekannt und braucht nicht wiederholt zu werden. Es ist manchmal hilfreich, aber nicht immer erfolgreich.
Aber zur Wahrheit gehört: Die Probleme sind nicht nur eine Frage des Haushalts; ich glaube, sie sind vielschichtiger. Deshalb brauchen unsere Hochschulen eine verläßliche Perspektive.Durch eine Änderung des Hochschulrahmengesetzes wollen wir die Situation der Hochschulen verbessern und in Zusammenarbeit mit den Ländern eine Strukturreform erreichen, die zur Verkürzung der durchschnittlichen Studienzeiten führt, der Lehre größeres Gewicht gibt, die Eigenverantwortung der Hochschulen und den Wettbewerb untereinander stärkt. Ich will ausdrücklich sagen: Das ist eine schwierige Aufgabe, die nur in ganz enger Zusammenarbeit mit den Ländern und unter Beteiligung der Hochschulen gelöst werden kann.Meine Damen und Herren, die bestehenden BundLänder-Hochschulsonderprogramme wollen wir gemeinsam mit den Ländern zu einem Gesamtkonzept zusammenfügen. Besondere Bedeutung kommt dabei strukturfördernden Maßnahmen und der Förderung von Frauen in der Wissenschaft zu.
Die gemeinsame Bund-Länder-Hochschulbaufinanzierung soll an die veränderten Rahmenbedingungen angepaßt werden. Ich hoffe, daß es gelingt, durch Konzentration der Förderung neue Handlungsspielräume zu gewinnen.Neben diesen Bemühungen — wenn Sie wollen, Herr Thierse: neben einer Offensive — im Bildungsbereich wollen wir die Schubkräfte für Forschung und Technologie stärken. Die Bundesregierung beabsichtigt, die Haushaltsmittel für Forschung und Technologie überproportional zu steigern, um Spielräume für neue Ideen, insbesondere in den Spitzentechnologien, und die notwendige Förderung der Industrieforschung in den neuen Bundesländern zu eröffnen. Dazu habe ich bereits zu Beginn das Notwendige gesagt.Wo Forschung mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, hat der Bürger ein Recht darauf, daß sie zielorientiert und effizient ist. Wissenschaft und Forschung haben ihrerseits einen Anspruch auf klare Leitziele in der öffentlichen Förderung. Das Instrumentarium der Wissenschafts- und Technologieförderung soll flexibler und einfacher werden, womit vor allem dem wichtigen Beitrag der kleinen und mittelgroßen Unternehmen zum Innovationsprozeß gedient werden soll.
Besonderen Wert werden wir dabei in allen Bereichen der Forschungsförderung auf eine systematische Erfolgskontrolle des Mitteleinsatzes legen. Ich finde, gerade in Zeiten knapper Kassen können wir uns Reibungsverluste und Fehlinvestitionen nicht leisten,
obwohl — auch das muß beachtet werden — Forschung immer mit Unbekanntem zu tun hat, immer mit etwas zu tun hat, dessen Ergebnis nicht von vornherein feststeht. Deshalb kann natürlich nicht am Schreibtisch gesagt werden, was schließlich herauszukommen hat, wenn Geld eingesetzt wird.
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266 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers— Kollege Weng, diese Debatte wird ja zwischen den Forschungs- und Bildungspolitikern und den Haushaltspolitikem seit Jahren geführt.
— Einverstanden, Herr stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Da wird vielleicht die neue Gesamtverantwortung das Blickfeld etwas weiten.Forschung kann beim besten Willen nicht effektiv sein, wenn ihr Fesseln angelegt werden, die ein vernünftiges Arbeiten verhindern und zusätzlichen Kostendruck erzeugen. Wenn wir einerseits Geld für Forschungsprojekte ausgeben und andererseits Gesetze schaffen, Verordnungen erlassen und bürokratische Verfahren zelebrieren, die ein freizügiges und kreatives Forschen und Entwickeln unmöglich machen, dann verhindern wir Wettbewerb und mehr Effizienz in Forschung und Wissenschaft.Ich will das an einem Beispiel deutlich machen, das mir in einem Gespräch mit der IG Chemie vorgetragen worden ist. Dabei ging es um die Erweiterung einer innovativen Anlage mit einem Investitionswert von knapp 40 Millionen DM. Nachdem die umfangreichen Genehmigungsunterlagen vom Unternehmen im Mai 1991 dem Regierungspräsidenten vorgelegt worden waren, begann die große Zeit des Wartens. Bis zum heutigen Tage, meine Damen und Herren, wurde noch kein einziger Spatenstich getan, aber — und das ist ein wichtiger Punkt — allein die Planung hat inzwischen mehr als 6 Millionen DM — bei einem Investitionsvolumen von 40 Millionen DM — gekostet. Das muß sich ändern.
Deshalb ist es unser Ziel, forschungs- und innovationsfreundlichere Rahmenbedingungen zu schaffen.Wir müssen bestehendes Recht und geübte Verwaltungspraxis — und auf das letztere möchte ich besonderen Wert legen; denn manches, was hier in Bonn richtig beschlossen, erdacht und in Gesetzesform gekleidet worden ist, bekommt seine schrecklichen Auswirkungen erst dann, wenn es im Rahmen des Verwaltungsverfahrens verfeinert und so lange durch die Mangel gedreht worden ist, bis zum Schluß keiner mehr die ursprüngliche Intention kennt — auf Innovationshemmnisse überprüfen. Wo immer es möglich ist, müssen diese beseitigt werden.Auch wir im Deutschen Bundestag sollten darauf achten, daß vor der Entstehung neuer Rechtsvorschriften — und das gilt natürlich noch viel stärker für die Ministerien — sensibler über mögliche negative Auswirkungen auf wissenschaftliche Belange nachgedacht wird.
Das gilt auch für europäische Regelungen in Forschung und Entwicklung. Mein Amtsvorgänger hat auch auf diesem Feld mit grobem Einsatz die Zeit der deutschen Präsidentschaft im Europäischen Rat genutzt.
Ich hoffe — dank der guten Vorarbeit —, daß der Forschungsministerrat, Herr Kollege Glotz, am 1. Dezember 1994 weitere zehn Programme verabschieden wird.Meine Damen und Herren, zur europäischen Dimension gehört auch, daß unser Land als Ort der internationalen Begegnung einen hohen Stellenwert und festen Platz hat. Ich glaube, verehrter Herr Thierse, daß die Gründung einer Akademie der Wissenschaften dazu beitragen kann. Wir haben diese Idee als Angebot in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen, damit Bund und Länder, Wissenschaft und bestehende Akademien an einem Strang ziehen. Ich hoffe, Herr Thierse, daß es uns gelingt, darüber breite Übereinstimmung zu erzielen. Ich nehme das Angebot — und so habe ich Ihre „Kritik" zu Beginn verstanden — zum Gespräch über diese Frage an, zumal es nicht darum geht, gegen Bestehendes und Bewährtes zu konkurrieren, sondern beides in gemeinsamer Verantwortung zu ergänzen.
— Das glaube ich, Herr Glotz. Aber das ist eine Diskussion, die wir führen müssen. Ich bin insofern über die Resonanz, die es trotz aller Skepsis auch in der wissenschaftlichen community gibt, froh, denn sie zeigt Offenheit. — Ich bin dankbar, daß heute nicht nur Herr Thierse, sondern auch der ehemalige Vorsitzende des Forschungsausschusses, der Herr Kollege Catenhusen, die Bereitschaft der SPD zum Dialog erklärt hat.Bei allem, was wir an Investitionen in die Zukunft Deutschlands als Innovationsstandort planen und einbringen wollen, ist es notwendig, daß wir uns um den Konsens zwischen Bund und Ländern, zwischen Wissenschaft und Forschung und zwischen Politik und Wirtschaft bemühen. Ich bin für Vorschläge offen, weil Offenheit die Voraussetzung für Innovations- und Erneuerungsfähigkeit ist.Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich ausdrücklich sagen: Ich verstehe diejenigen, die nicht bei jedem Projekt gleich Hurra schreien. Ich weiß, daß Konsens nur zu erzielen ist, wenn vorher offen über Chancen und Risiken diskutiert wurde.Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik darf nicht grenzenlos sein. Es gibt Grenzen, z. B. die Würde des Menschen, die nicht überschritten werden dürfen. Insofern muß sich jeder Forscher, aber auch jeder Politiker die Frage stellen, ob wir eigentlich alles dürfen, was wir heute schon können. Aber angesichts von Hunger und Arbeitslosigkeit, von Umweltschäden und Krankheit müssen wir auch die Frage beantworten, ob wir eigentlich schon alles können, was wir können müßten.
Meine Damen und Herren, ohne Innovations- und Erneuerungsfähigkeit hat Deutschland keine sichere Zukunft. Die Bundesregierung will mit dem neuen Ministerium für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie ein verläßlicher Partner im Bündnis
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 267
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgersder Zukunft sein. Ich persönlich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Manuel Kiper.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundesminister hat in seiner Rede betont, daß Innovationsfähigkeit wesentliches Element der Sicherung des Standorts Deutschland zu sein habe. Mit der Betonung von Innovation und Zukunft versucht die Bundesregierung offensichtlich, sich selber Mut zu machen, wohlwissend, daß sie zu dieser Innovation nicht mehr fähig ist.
Ein Reformprogramm wollen und können Sie doch gar nicht mehr vorlegen; ich werde das hier im einzelnen belegen. Um davon abzulenken, haben Sie nun Herrn Rüttgers zum Zukunftsminister auf geblasen.
Inzwischen ist er auf das Normalmaß eines Bundesministers wieder zurückgeschrumpft worden. Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß es bedauerlich ist, daß bei der Namensgebung dieses Ministeriums der innovative Bereich der letzten Legislaturperiode, nämlich die Technikfolgenabschätzung, einfach unter den Tisch gefallen ist.
Die Gesundschrumpfung des Kabinetts wurde von uns lange gefordert. Die SPD hat gesagt, sie schreibe sich diese Forderung auf die eigenen Fahnen. Wir begrüßen, daß das Kabinett verkleinert worden ist. Wir begrüßen die Zusammenlegung der beiden Ministerien. Aber die einfache Addition der beiden Ministerien ist unzureichend. Die zu einer „Offensive für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur" hochstilisierte Koalitionsvereinbarung ist ungeeignet, um die wissenschaftlichen und technischen Herausforderungen der Zukunft tatsächlich anzupacken.Folgende Punkte möchte ich hier nennen.Erstens. „Weiter so" ist das Motto der Regierungserklärung. Die Bundesregierung hält fest — wir haben das in den letzten beiden Tagen gehört; das steht auch in der Regierungserklärung — am Forschungsreaktor Garching II, obwohl bundesweit Atomphysiker vor den außenpolitischen Risiken der dort geplanten Nutzung von hochangereichertem Uran warnen.
Es gibt Alternativen: Ich erinnere nur an die Neutronenspallationsanlage. Das könnte eine tatsächliche Innovation sein. Aber dazu ringt sich die Bundesregierung nicht durch. Sie hält fest an überholten Forschungsschwerpunkten wie Atomtechnik, Fusionsenergie, bemannte Weltraumforschung und Militärforschung. Herr Rüttgers, Sie werden es nicht fertigbringen, die Sackgassentechnologien von vorgestern unserer Bevölkerung tatsächlich als Innovationen zu verkaufen.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ich möchte einen zweiten Punkt benennen: Sie verschlafen die eigentlichen technologischen Herausforderungen der Zukunft. Sie behaupten „Offenheit für neue Lösungen". Die Sonnenenergie aber führt nicht einmal ein Schattendasein in Ihrem Regierungsprogramm. Für die Bundesregierung bleibt Sonnenenergie ein schwarzes Loch.
Sie parlieren von Spitzentechnologien und angeblichen Schlüsseltechnologien wie der Gentechnik. Sie schwören auf Gott und meinen doch, selber Schöpfer spielen zu dürfen. Sie laufen den Seifenblasen der Gentechnik hinterher. Die gentechnischen Grenzüberschreitungen werden sich ethisch, gesellschaftlich und ökonomisch als ein Riesenverlustgeschäft entpuppen. Entgeht Ihnen denn, daß der gentechnisch verheißene Aids-Impfstoff ein Traum bleibt? Er ist ferner denn je! Entgeht Ihnen denn, daß die ganze Branche in den USA einen riesigen Verlust macht? Die Branche hatte im letzten Jahr ein 2-MilliardenDollar-Verlustgeschäft zu verzeichnen.
— Das ist richtig. Ich möchte hier, meine Damen und Herren, auch betonen, daß die kritische Auseinandersetzung mit der Gentechnik, die Ablehnung der Gentechnik seitens unserer Fraktion nicht eine blinde Herangehensweise an Technik insgesamt ist, daß dies keine Absage unserer Fraktion an Biotechnologie oder Enzymtechnologie ist. Wir sind sehr wohl zu einer differenzierten Prüfung neuer biotechnologischer Verfahren bereit.
Wir werden darüber im einzelnen noch zu reden haben.Meine Damen und Herren, ich möchte drittens sagen: Sie wollen jetzt die hinderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen überprüfen. Wir haben die Deregulierung der Gentechnik erlebt. Wir haben heute im Bundesrat die Gentechniksicherheitsverordnung auf der Tagesordnung. Ich halte es für unverantwortlich, daß von seiten der Bundesregierung — und ich muß hier auch die SPD ansprechen: wohl im Einvernehmen mit SPD-Landesregierungen — das Schutzniveau enorm abgesenkt wird und in Zukunft auch S 1-und S 2-Bereichsabfälle und Abwässer aus Genlabors und Genproduktionsstätten einfach in die Umwelt entlassen werden können. Sie, meine Damen und Herren, bewahren nicht mehr die Schöpfung, sondern offensichtlich ist Ihr neuer Leitspruch: die Schöpfung durch Genzwitter aufmischen.
Ich möchte noch — viertens — sagen: Es ist sehr gut — und wir begrüßen das —, daß in den neuen
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268 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Dr. Manuel KiperBundesländern Anreize für Forschungs- und Entwicklungsleistungen unterstützt werden. Wir möchten auch hier betonen, daß wir die angekündigte überproportionale Aufstockung des Bundeshaushalts für Forschung und Technologie begrüßen. Allerdings: Wenn Sie weiter Sackgassentechnologien hätscheln, werden wohl die angeblich intelligenten Arbeitsplätze der Zukunft eher eine kürzere Restlaufzeit haben als der Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Initiativen der Bundesregierung zur Gründung einer Akademie der Wissenschaften, aber wir warnen Sie, hier einseitig auf Eliten — auf die besten Köpfe, wie Herr Rüttgers sagte — zu setzen. Wir brauchen eine Demokratisierung der Wissenschaft, eine Demokratisierung der Forschungslandschaft. Sie sollten runde Tische, Sie sollten offene Foren machen.Meine Damen und Herren, die Leitlinie der Forschungs- und Technologiepolitik muß Zukunftsfähigkeit sein. Herr Minister Rüttgers, wir wünschen Ihnen, daß Sie nicht ein Angström werden, die kleinste Maßeinheit im Raum. Wir wünschen Ihnen, daß „ein Rüttgers" in Zukunft nicht das Synonym für die kleinste Einheit von Zukunftsfähigkeit wird.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Abgeordnete Dr. Wolfgang Gerhardt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer vor den Folgen der Technologie warnt, muß immer auch die Folgen des Verzichts auf Technologie im Auge behalten. Ein einfacher Hinweis: In den Vereinigten Staaten von Amerika arbeiten im biotechnologischen Bereich 100 000 Mitarbeiter. Damit bestehen 100 000 hochqualifizierte Beschäftigungsverhältnisse, darunter 20 000 mit Wissenschaftlern. In unserem Land, das doch wirklich eine Position zu verteidigen hat, haben wir noch nicht einmal 1 000 Mitarbeiter. Es geht also gar nicht um die Frage der Folge einer Technologie, sondern es geht um die Frage des Verlierens des Anschlusses auf dem Gebiet einer Schlüsseltechnologie und um zukünftige moderne Beschäftigungsverhältnisse.
Wir müssen uns darüber klar werden, vor welchen Aufgabenstellungen wir stehen und in welchem Land wir über diese Themen diskutieren.Diese Bundesregierung, wir alle und die Menschen im Land unternehmen die gewaltige Anstrengung, eine von der SED zur Schrottreife geführte Volkswirtschaft wieder aufzubauen und enorme Mittel zu investieren. Gleichzeitig machen wir uns daran, einen Einstieg in eines der Felder zu suchen, das für unser Land ein Stabilisator ist.Wer über Deutschland spricht — Herr Kollege Thierse hat recht, daß wir da auch über Denkhaltungen sprechen müssen —, der muß wissen, wie wir aus der Katastrophe von 1945 herausgekommen sind: nicht nur mit Überlegungen, welche Technologien uns schaden, sondern mit der Erkenntnis, daß wir technische Höchstleistungsfähigkeit brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Das haben wir dann mit großer Kraftanstrengung auch geschafft.
Darüber sprechen wir bei diesen Themen.Wenn man in Deutschland — nicht nur in diesem Hause, sondern auch außerhalb — solche Debatten führt, bekommt man den Eindruck, daß ein großer Teil der Öffentlichkeit denkt, unsere Zukunft sei mit Beschäftigungsprogrammen, mit Umstrukturierungen, mit großen Gedankengebäuden für Übergangsmodelle und mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu gewinnen. Es haben sich ganze Gruppen mit Inbrunst dem zweiten Arbeitsmarkt gewidmet.Meine Damen und Herren, wir sind in Gefahr, als Gesellschaft insgesamt den Blick für die eigentlichen Grundlagen für Beschäftigung, Wohlstand und Zukunftssicherung zu verlieren. In unserem Land geht es um Fähigkeit zur Spitze, nicht nur um die Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen.
Wir brauchen die technische Höchstleistungsfähigkeit nicht, um andere beiseite zu drängen. Wir brauchen sie, weil wir Arbeitsplätze, die heute im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigungspolitisch gestützt werden, wieder zu wirklich produktiven Beschäftigungsverhältnissen des ersten Arbeitsmarktes machen wollen.
Wenn es einen Unterschied zu Gruppen in der Opposition gibt, dann formuliere ich den, insbesondere für meine Fraktion, so: Nicht Gedankengebäude über eine neue Verteilung werden die Beschäftigung der Zukunft sichern, sondern nur die Fähigkeit und die Kraft einer Gesellschaft zur ständigen Innovation. Das ist der Unterschied zwischen uns!
Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir nicht nur in unserer praktischen politischen Arbeit, sondern auch in unserem Denken einige Steine aus dem Weg räumen. Wir müssen einiges abbauen, was zu Lasten der Innovationen geht. In Deutschland gehen Pioniergewinne verloren, weil wir zu lange verfahren haben, weil wir ein Konglomerat von Vorschriften haben, das lähmt, weil wir zuviel auf Strukturerhalt setzen und den Weg für Neues verbauen. Natürlich hat die F.D.P. nicht die Illusion, daß Privatisierung und Deregulierung sofort wirken. Wir wissen aber, daß sie für den Aufbau neuer Beschäftigungsfelder zumindest begünstigend wirken.Jeder weiß, daß unser Land an Beweglichkeit verloren hat, daß der Staat überfordert worden ist und daß
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Dr. Wolfgang Gerhardtdas Gleichgewicht zwischen Freiheit und persönlicher Verantwortung aus den Fugen geraten ist.
Da müssen wir ansetzen, das müssen wir ändern, weil Qualifizierung und Bildung nichts nutzen werden, wenn in unserem Land das Bewußtsein einer Staatskundschaft gepflegt und der Weg zur Staatsbürgerschaft mit eigener Verantwortung nicht gesucht wird.
Meine Damen und Herren, Forschung und Innovation, Kreativität und wissenschaftliche Neugier, das sind Felder mit Bereitschaft zu außerordentlicher Leistung und zur Herausbildung der Fähigkeit, Höchstleistungen zu erbringen. Das erfordert eine bestimmte geistige Haltung. Notwendig ist die Bereitschaft, Risiken einzugehen, langen Atem in der Grundlagenforschung zu haben, Stärke zu akzeptieren, und sogar darauf aus zu sein, möglichst viele Stärken entstehen zu lassen. Das ist kein Feld für Gleichmacher und für Menschen, die in Vollkaskoversicherungssystemen denken. Im Kern müssen wir weg von den alten Themen des bildungspolitischen Aufbruchs der 60er Jahre in unserem Land, der steckengeblieben ist.
— Nein, wir sind nicht weg. Sehen Sie sich die Länder an! Ich bringe es auf den Punkt: Ihre Partei macht in den Ländern eine Schulpolitik, die immer noch nicht begriffen hat, daß Chancengleichheit zu gewährleisten ist, aber nie gleiche Ergebnisse für alle herauskommen können.
Ich greife das sehr präzise auf: Wir müssen auch über den Begriff Leistung einen offenen Diskurs suchen. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft sind keine Kategorien einer Ellbogengesellschaft. Sie sind Bestandteil der sicheren Lebensführung von Menschen. Sie sind überhaupt erst die Voraussetzung von Verantwortungsübernahme in einer freiheitlichen Gesellschaft. Leistung und soziales Empfinden stehen sich im übrigen nicht diametral gegenüber. Soziale Kompetenz wird nicht in bestimmten Schulformen erzeugt, soziale Kompetenz entsteht im Kopf, nach Begegnung mit anspruchsvollen Inhalten im Unterricht, in der Begegnung mit Menschen, oder sie entsteht nicht. Sie entsteht auf keinen Fall durch Herabsetzung des Niveaus, sondern nur in der Förderung möglichst vieler nach oben.
Wie oft, Herr Kollege Glotz, hat die politische und die gesellschaftliche Auseinandersetzung in unserem Land diesen Sachverhalt so dramatisch verkürzt, wie oft sind in den Ländern ganze Schulformdiskussionen mit völlig falschen Ansätzen über Eliten gepflegt worden! Neid — das möchte ich an dieser Stelle festhalten — ist nie eine Begründung für ein politisches Programm. Neid ist ein Charakterfehler.
Wer, weil er die naturgegebenen Unterschiede der Leistungsfähigkeit verschiedener Menschen leugnet ...,— so formuliert Professor Markl -die Auswahl und Pflege der Begabung verweigert, beseitigt dadurch nicht die Ungleichheit der Talente, er vergeudet sie nur.Das ist der Sachverhalt, über den wir uns im klaren sein müssen, wenn wir einen neuen Anlauf in Bildung und Erziehung, in Forschung und Entwicklung nehmen wollen. Wir müssen unsere Haltung zu diesem Feld klären und nicht nur Fragen der Finanzierung erörtern. Wir müssen Wettbewerb und Vielfalt wieder installieren. Wir müssen akzeptieren, daß es unterschiedliche Leistungsfähigkeit gibt. Wir dürfen stärkere und leistungsfähigere Menschen nicht als Bedrohung für schwächere erklären, sondern wir müssen sie als Glück, als Voraussetzung empfinden, den anderen in den Systemen zu helfen, die wir haben.
Die Koalitionsvereinbarung sieht überproportionale Haushaltssteigerungen vor. Wir werden bei Haushaltsdebatten Gelegenheit haben, diese Erörterungen fortzuführen. Auf eines möchte ich für meine Fraktion aufmerksam machen: Wir werden noch einmal eine Anstrengung bei der Bund-Länder-Finanzierung im Hochschulbau unternehmen müssen. Das angekündigte überproportionale Wachstum muß sich hier konkretisieren.
Wir müssen ganz deutlich sagen, daß von Bund und Ländern noch einmal eine Anstrengung unternommen werden muß, um im Hochschulbau weiterzukommen.
Das ist eine gemeinsame verantwortliche Aufgabe. Unsere Erwartung an die Länder ist, sich zu präzisieren, nicht alles und jedes vorzuschlagen, auch notwendige forschungsintensive Maßnahmen zu entscheiden und im eigenen Kabinett die Entscheidung herbeizuführen.Eines geht nicht: daß die Bundesregierung öffentlich kritisiert wird, weil sie die Mittel noch nicht ausreichend steigert, aber die jeweiligen Landesfinanzminister diese Summe in ihren jeweiligen Kabinetten schon in Abgang gestellt haben, weil sie sich darüber freuen.
Wir wollen eine einheitliche Stellungnahme der Länder haben. Auch die Länder können zu Kostensenkungen beitragen. Ich spreche mich für meine Fraktion für diesen nochmaligen Anlauf zur Steigerung der Mittel aus, weil am Ende Verkürzungen von Studien-
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Dr. Wolfgang Gerhardtzeiten, Strukturreformen an den Hochschulen und auch die Beseitigung von Mängeln im Management der Hochschulen nur gelingen werden, wenn wir auch eine vernünftige Plattform in der Finanzierung haben. Dann können Hochschulen ihre eigenen Hausaufgaben erledigen.Die Stärkung der beruflichen Bildung war in den Verhandlungen das Ziel der F.D.P. Es gibt unbestreitbar eine enge Verknüpfung von Qualifizierung und wirtschaftlichem Erfolg. Meine Fraktion und auch ich sind es leid, daß in Deutschland, wenn über Qualifizierung und Bildung gesprochen wird, ausschließlich von BAföG, von Hochschulen, von Gymnasien und von weiterführenden Schulen die Rede ist. Ein großer Teil der jungen Generation — wir haben nur eine einzige — sucht über den beruflichen Bildungsweg seine Chancen.
Die müssen wissen, daß wir sie im Blickfeld haben.Wer heute sieht, daß berufliche Ausbildung, berufliche Prüfungen schon an so hohen Qualifikationsniveaus hängen, daß viele sie nicht schaffen, und daß solche ohne Zertifikat kaum einen Arbeitsplatz finden, der wird auch das als Feld neben einer BAföG- Diskussion sehen müssen, dem wir uns zuwenden wollen.Wir möchten der jungen Generation, die im beruflichen Bildungssystem ist, ausdrücklich sagen, daß wir ihr Partner sein wollen, daß auch sie für die Zukunft gebraucht werden.
Dazu gehört eben die Förderung der Gleichwertigkeit von beruflichen und allgemeinbildenden Ausbildungsgängen, ebenso die Aufforderung an das Fachhochschulsystem, ein studienbegleitendes Angebot in allen Ländern für diejenigen zu machen, die nach dem Abitur in die Berufsausbildung gehen. Sie sollten parallel dazu studieren können.
Dazu gehört im übrigen auch eine Aufforderung an die Hochschulen, nicht nur diejenigen zu sehen, die mit der traditionellen Hochschulreife, Abitur oder Fachabitur, zu ihnen kommen, sondern auch diejenigen zu sehen, die mit erheblicher Reife nach langer beruflicher Qualifizierung vor den Türen der Hochschulen stehen könnten. Dieses Potential darf nicht verlorengehen.
Herr Gerhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bertl?
Ja; bitte.
Herr Kollege, Sie haben eben von Höchstleistungen gesprochen. Höchstleistung bedeutet Training und Investition.
Ist Ihnen bekannt, daß in einer Fachgruppe beim Deutschen Industrie- und Handelstag im Zusammenhang mit der beruflichen Bildung die Kosten des dualen Bildungssystems als wettbewerbsverzerrend für die deutsche Wirtschaft gesehen werden und daß dort zunehmend englische und französische Modelle von verschulter oder teilverschulter beruflicher Bildung als eine Alternative gesehen werden?
Meine Frage an Sie: Wie stehen Sie zur Verantwortung der deutschen Wirtschaft, auch in der Frage der Investitionen im Bereich des dualen Bildungssystems?
Die hat die Wirtschaft ganz klar, ganz eindeutig. Ich verstehe Ihre Frage in diesem Zusammenhang nicht. Habe ich denn in meiner Rede behauptet, daß ich sie aus der Verantwortung herausnehmen wollte? — Nein, das ist ganz eindeutig.
Herr Gerhardt, es gibt noch eine Frage des Abgeordneten Kuhlwein.
Dann lasse ich auch die noch zu.
Herr Kuhlwein.
Herr Kollege Gerhardt, Sie haben zu Recht von dem hohen Qualifikationsniveau, das sich in der Berufsausbildung ergibt, gesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß Ihre Fraktion in diesem Haus in der vergangenen Legislaturperiode einen Änderungsantrag zum Hochschulrahmengesetz abgelehnt hat, mit dem wir ermöglichen wollten, daß auch Berufserfahrene ohne Abitur grundsätzlich den Hochschulzugang bekommen können?
Herr Kollege Kuhlwein, ich unterstelle jetzt einmal, daß das so war. Dann darf ich Ihnen heute die freudige Mitteilung machen, daß wir in der Koalitionsvereinbarung mit unserem Partner erreicht haben, daß wir jetzt solche Zugangsmöglichkeiten schaffen wollen.
Ich darf zusammenfassen: Wir müssen uns wieder daranmachen, Substanz und Qualität aufzubauen, anstatt ausschließlich von vorhandener Substanz zu leben. Das ist der Auftrag in diesem Feld.Wir müssen die Fähigkeit zur ständigen Innovation über Bildung, Qualifizierung und Forschung schaffen, anstatt in Verteilungsmodellen steckenzubleiben.Wir müssen einen langen Atem in die Grundlagenforschung bringen, auch Rückschläge in Kauf nehmen und exzellente Leistungen geradezu hervorrufen.Wir dürfen wissenschaftliche Neugier nie einengen. Wir brauchen eine neue, stärkere Bewertung der beruflichen Bildung. Es gibt eine einzige junge Generation. Deshalb geht es nicht nur um ein BAföG-
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Dr. Wolfgang GerhardtI Thema, sondern um gleiche Chancen, gleichen Start und gleiche Zuwendung auch für junge Menschen in der beruflichen Bildung.Der größte Technologietransfer vollzieht sich über die Qualifizierung von Menschen. Sie sichern und schaffen nicht nur Produkte und Arbeit, sondern sie stabilisieren auch unsere Demokratie in einer Weltoffenheit, die wir bewahren wollen, durch ihr Können, durch ihre Leistung. Wir, die F.D.P. und diese Koalition, wollen der Partner solcher Menschen sein.Wir wünschen uns, Herr Bundesminister Rüttgers, eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Wir wünschen Ihnen Glück in Ihrem Amt und Erfolg.Ich sage sehr persönlich: Ich danke für meine Fraktion auch Herrn Professor Laermann für die geleistete Arbeit.Auf eine erfolgreiche Legislaturperiode!
Als nächster redet jetzt der Abgeordnete Dr. Ludwig Elm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Bildung, Wissenschaft, Forschung, Innovation und Kultur sind für Gesellschaft und Wirtschaft zentrale Grundlagen der Zukunftsgestaltung. Sie sind unerläßlich für eine auch langfristig innovative Gesellschaft. " Diese Aussage in der Koalitionsvereinbarung wird mit weiteren Feststellungen unterlegt, beispielsweise wenn Bildung, Wissenschaft und Forschung als Schwerpunkte der Zukunftssicherung bezeichnet werden.Der Kanzler sprach in der Regierungserklärung von guten Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft. Die Schlußfolgerungen, die daraus abgeleitet werden, fordern allerdings zum Widerspruch und zur weiteren kritischen Erörterung heraus. Erst wenn man bereit ist — wir haben heute Ankündigungen in diesem Sinn gehört —, daraus für die Haushaltsplanung prinzipielle Konsequenzen und andere Prioritäten abzuleiten, wird es mit dem Wissenschaftsstandort Deutschland wirklich ernst gemeint. Bildung, Wissenschaft und Kultur müssen weg vom Katzentisch auf den Kanzlertisch. Ist der Tisch dieses Kanzlers der richtige für hohe Erwartungen?Jedenfalls gelangte der ehemalige Präsident des Wissenschaftsrates, Dieter Simon, zu einer äußerst skeptischen Beurteilung der Situation und der Aussichten der Hohen Schulen. Er sagte zu den zwei Bildungsgipfeln im November/Dezember vergangenen Jahres — ich zitiere —:Sie erbrachten, daß auf absehbare Zeit Taten nicht auf die Tagesordnung zu setzen seien. Es sei denn, sie kosteten nichts. Im Zeitraffer— so Simon weiter —reduziert sich die gemeinsame Hochschulpolitik des Bundes und der Länder demnach auf die Stichworte: „Öffnen", „Offenhalten" und „Wegsehen". Man könnte es auch Bankrott nennen.
Nehmen wir das hochschulpolitische Beispiel stellvertretend für die vom Kanzler gerühmten guten Grundlagen für die Zukunft: Wie ernst meint es die neue Regierung wirklich damit, der Austrocknung des Kulturstaates Bundesrepublik Deutschland entschieden entgegenzuwirken? Hier gelten keine schönen Sprüche, hier zählt einzig und allein der Anteil von Bildung, Wissenschaft und Kultur am Bruttosozialprodukt.Schaut man sich die Zahlen in den Haushaltsplanungen des vergangenen Jahrzehnts an, versteht jeder: Allein mit der Bildung eines Zukunftsministeriums — unabhängig davon, wo dieser Begriff geprägt wurde — ist kein Blumentopf zu gewinnen. Es fehlt der Regierung bisher an Geist, Ideen und Geld, um sich den Aufgaben der Jahrhundertwende angemessen zu stellen.
Um welche Fragen geht es? Angesichts der massenhaften Zerstörung kreativen wissenschaftlichen Potentials in Ostdeutschland seit 1990 ist zu fragen, wann und mit welchen Einsichten die Zukunftsvisionen über den Kanzler und seine Berater gekommen sind. Allerdings war in den neuen Ländern auch das Erbe der Stagnation, veralteter Ausstattungen und ausgebliebener materiell-technischer Erneuerung zu übernehmen. Hinzu kamen Rückstände und Defizite, die aus den langjährig erheblich eingeschränkten internationalen wissenschaftlichen Kommunikationsmöglichkeiten resultierten.Das wertvollste Erbe jedoch war ein vorwiegend hochqualifiziertes, quantitativ bedeutendes und hochmotiviertes Potential von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an den ostdeutschen Universitäten und Hochschulen, in außeruniversitären Einrichtungen — besonders an der Akademie der Wissenschaften — sowie in leistungsfähigen Forschungszentren der Industrie. Ein solches existierte beispielhaft im Carl-Zeiss-Werk in Jena, dessen Nachfolgebetriebe gegenwärtig in kritische Phasen geraten und vermutlich bald weitere hochqualifizierte und hochspezialisierte Kräfte abstoßen werden.Allein zwischen Oktober 1991 und April 1992 wurden in Thüringen 3 700 Arbeitsplätze — das entspricht 55 % — in Forschung und Technologie abgebaut. Übergreifend ist davon auszugehen, daß von 85 000 Beschäftigten in der ostdeutschen Industrieforschung heute nur noch weniger als 10 000 einen entsprechenden Arbeitsplatz haben.
In ehemaligen Akademieeinrichtungen verblieb etwa ein Drittel und an den ostdeutschen Universitäten ca. die Hälfte, mit großen Differenzierungen nach den Wissenschaftsgebieten und Tätigkeitsgruppen.Die Bundesregierung ist mit Nachdruck darauf zu verweisen, daß die Ausschaltung der intellektuellen und der künstlerischen Elite der DDR ihren Preis haben wird. Das Forschungspotential der Industrie, der akademischen Einrichtungen und anderer Institutionen, das in die Wüste geschickt wurde, wurde mit
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272 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Dr. Ludwig Elmunfrommen Sprüchen verabschiedet. Es wird mit frommen Sprüchen nicht ersetzt werden können.
Wenn Sie über den Wissenschaftsstandort Deutschland sprechen, vergessen Sie bitte nicht, daß Tausende von Intellektuellen im Osten Deutschlands in der Arbeitslosigkeit oder im vorgezogenen Ruhestand einer fortschreitenden Dequalifizierung ausgesetzt sind und ihr Wissen und Können zeitweilig oder auf Dauer brachgelegt und entwertet werden. Als Ergebnis erreichen uns beispielsweise allein aus Berlin Nachrichten über einen alarmierenden Anstieg von Langzeitarbeitslosigkeit bei Wissenschaftlern. Beispielsweise sprang sie in Ostberlin von 5 000 im Jahr 1993 auf 13 000 in diesem Jahr, im selben Zeitraum in Westberlin von 14 000 auf 24 000. Welches Land kann sich so etwas leisten? Deutschland offenbar, das sich ohnehin der Welt gern mal als Klassenbester und mal als Schulmeister darstellt.
Kritische Signale und Hinweise auf Defizite und wachsende Schwierigkeiten kommen seit Jahren auch aus den Universitäten und Fachhochschulen der alten Länder, insbesondere zu solchen komplexen Problemkreisen wie den Widerständen gegen eine substantielle Reform der Hochschule, des Studiums, der Studiengänge, und den aus unzureichender Finanzierung resultierenden Problemen ungenügender Ausstattung und daraus erwachsender Überlastung von Lehrkräften, Hörsälen, Labors, Bibliotheken, Studentenheimen, aber auch bezüglich der bürokratisch-administrativen Versuche, Reformen nicht nach wissenschaftlichen, substantiellen Geboten, sondern nach den vom Finanzminister vorgegebenen Zwängen und Grenzen zu vollziehen.Bildungsökonomie ist wichtig; das Wichtigste aber ist eine neue Bestimmung der Bildungsidee für heute und morgen.
Was müssen junge Menschen können und beherrschen? Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten haben sie sich anzueignen, um in der veränderten Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts gut auf das 21. vorbereitet zu sein? Wir brauchen einen Generationenvertrag für Bildung und Jugend, für das Offenhalten der Hochschulbildung, für Chancengleichheit in der Bildung und die Aufwertung der beruflichen Bildung.Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank und darüber hinaus, begreifen Sie doch endlich, daß die überlange Studienzeit in der Bundesrepublik keine primär bildungspolitische, sondern eine soziale Frage ist, daß die bisherigen Umstände und Zustände an den Universitäten und Hochschulen einer rationelleren Studiengestaltung und Studienzeitverkürzungen nicht förderlich sind!
Deshalb steht auch die angemessene Fortentwicklung des BAföG weiterhin vordringlich auf der Tagesordnung.Die Regierung muß forschungspolitische Visionen formulieren und dafür in der Gesellschaft Förderer und Moderator sein. Wir brauchen dringend neue regenerierbare Energien, neue Informationsinfrastrukturen, neue Verkehrs- und Umweltlösungen, Lösungen zur Humanisierung des Arbeitslebens. Die Verantwortung für die Grundlagenforschung ist politisch und finanziell wahrzunehmen. Wir werden die Haushaltsdebatte benutzen, um die spezielleren forschungs- und technologiepolitischen Positionen unserer Gruppe zu unterbreiten.Ich bemerke abschließend: Wir treten dafür ein, schrittweise und zielstrebig eine primär an gesamtgesellschaftlichen und globalen Problemlagen und Interessen orientierte zivile Forschung in den Grundlagen und für die verschiedensten Anwendungsbereiche zu entwickeln.Vorrang haben darin eine verstärkte Friedens-, Sicherheits- und Abrüstungsforschung, eine bescheiden dimensionierte Weltraum- und Luftfahrtforschung, intensivierte Forschung zu ökologischen Problemen und eine Industrieforschung, die auf Beschäftigung und Weiterbildungsmöglichkeiten, auf entsprechende Kommunikationssysteme, umweltfreundliche Verkehrs- und Verfahrensentwicklungen und schließlich auch das dringliche und übergeordnete Ziel einer gerechten, friedensfördernden Weltwirtschaftsordnung ausgerichtet ist.
Vielleicht — lassen Sie mich das zum Abschluß sagen — gelingen uns bescheidene Schritte auf einem schwierigen Weg, dessen eigentliches Ziel Bertolt Brecht durch Galileo Galilei mit den einfachen Worten umschreiben ließ:Ich bin dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Peter Glotz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat gelächelt, als der Kollege Thierse darauf hingewiesen hat, daß die Konzentration der Kompetenzen Bildung und Forschung ein Vorschlag der Sozialdemokraten im Wahlkampf war. Nun sind wir alle vom Glück überflutet, wenn der Kanzler lächelt.
Aber in diesem Fall kann ich nur sagen: Er kann so viel lächeln, wie er will. Dies war der Vorschlag, den Scharping mit seiner Regierungsstruktur gemacht hat. Die Regierung ist ihm gefolgt. Es ist richtig, daß Sie ihm gefolgt sind. Aber es war ein Vorschlag der Sozialdemokraten, meine Damen und Herren.
Die Konzentration der Kompetenzen ist allerdings eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die angekündigte Offensive für Bildung und For-
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Dr. Peter Glotzschung. Der neue Minister muß jetzt im Kabinett die Erkenntnis durchsetzen, daß die Erziehung unserer Kinder und die Stärkung der Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft wichtiger sind als die Beschaffung irgendeines Waffensystems oder irgendeine neue Steuersubvention.
Dafür biete ich Herrn Rüttgers die Kooperation der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion an. Dabei geht es nicht nur um den selbstverständlichen Brauch, Herr Kollege Rüttgers, einem Minister die berühmten 100 Tage Schonfrist zuzubilligen. Herr Bundesminister Rüttgers wird selbst wissen, daß er, trotz einiger Lehrjahre in der Forschung, zuerst einmal als politischer Manager in dieses Ressort kommt. Noch kann er nicht das Renommee von Hans Maier oder Eduard Pestel haben. Aber er hat sich den Ruf eines seriösen Gesprächspartners erworben, auch in unserer Fraktion. Er hat ganz offensichtlich den Rückhalt des Bundeskanzlers und eine starke Stellung in seiner Fraktion.Ich stehe nicht an, zu sagen: Das sind gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tätigkeit in einem schwierigen Ressort. Wenn es Ihnen gelingt, Herr Kollege Rüttgers, die Leerformeln der Koalitionsvereinbarung zu konkreter Politik zu machen, dann können Sie in vielen Sachfragen auf die Unterstützung der Bildungs- und Forschungspolitiker der SPD zählen.
Damit bin ich aber schon bei dieser Koalitionsvereinbarung und der Regierungserklärung. Sie wollen eine Offensive für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur starten. Das ist gut. Schlecht aber ist, daß man weder der Regierungserklärung noch der Koalitionsvereinbarung auch nur die Spur einer Bildungsidee entnehmen kann. Die Bundesregierung beschreibt weder die Probleme, vor denen wir stehen, noch formuliert sie eine Antwort auf diese Probleme. Statt dessen wird Bildungspolitik auf Bildungsökonomie und Forschungspolitik auf den sogenannten Anwendungsbezug reduziert. Das ist dünn, dürr und ärmlich.
Ich möchte mit drei Bemerkungen zur Forschungspolitik beginnen. Mitten in dem tiefgreifenden Prozeß der Verwandlung unserer Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft stecken wir ja in einer strukturellen Krise unserer Wirtschaft. Jedem ist klar, daß Kohle, Massenstahl, Standardschiffbau, Massentextilien die Zukunft nicht bestimmen können. Jedem ist auch klar, daß wir unsere Zusagen gegenüber diesen Bereichen erfüllen müssen, beispielsweise auch gegenüber der Kohle. Dazu ist bisher leider kein Wort gefallen. Das ist falsch.Spätestens in der Rezession 1993 aber haben wir noch entdeckt, meine Damen und Herren, daß die vier großen Industriezweige, die das Wachstum in den letzten Jahrzehnten getragen haben — Maschinenbau, Kraftfahrzeugbau, Elektrotechnik und Chemie —, in ernsten Krisen stecken und ihren Höhepunkt überschritten haben. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts müßten jetzt neue Industrien die Stafette übernehmen. Bloß sind wir bei den leistungsbestimmenden Schlüsselkomponenten der Zukunftsindustrien — ob das jetzt die Telekommunikation, die Industrieautomatisierung, die Autoelektronik oder die Medizintechnik sind — in einem schrecklichen Rückstand.Da genügt es nicht, Herr Rüttgers, daß Sie sagen: Wir sind in der Mikroelektronik nicht durchweg an der Spitze. Nein, wir sind leider in einem schrecklichen Rückstand. Diese Wahrheit muß am Anfang Ihrer Amtsperiode stehen, Herr Kollege Rüttgers.
Andrew Grove, der frühere Präsident von Intel, einer der innovativsten Halbleiterfirmen der Welt, hat schon vor zwei Jahrzehnten gesagt: Das Risiko einzugehen, das 21. Jahrhundert mit einer zweitrangigen Halbleiterindustrie zu betreten, ist reine Narrheit. — Wir sind dieses Risiko eingegangen und haben gleich auch noch andere Basistechnologien drangegeben, z. B. Computertechnik, Unterhaltungselektronik und optoelektronische Techniken.Ich sage: In den letzten zwölf Jahren hat es die Bundesregierung versäumt, auf diese Probleme, die sie als Regierung nicht lösen konnte, aber zu deren Lösung sie hätte beitragen müssen, mit der notwendigen Drastik hinzuweisen.
Statt einer marktwirtschaftlich orientierten Industriepolitik haben Sie sich ordnungspolitischem Predigertum überlassen, und das war ein ganz katastrophaler Fehler.
Jetzt sagen Sie, Herr Rüttgers, Sie wollen sich nicht in den Graben begeben. Das ist der Hinweis auf die Schwierigkeiten in Ihrer Koalition, den ich absolut verstehe. Ich muß Ihnen nur sagen: Ihre forschungspolitischen Vorgänger haben sich meiner Erfahrung nach immer dann, wenn ein Ordnungspolitiker aus der Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums auftauchte, in die nächste Ecke des Zimmers verzogen und, wenn ein Mauseloch da war, sich in dieses verkrochen.
Wir brauchen eine vernünftige, realistische Kooperation von Wirtschaft, Staat, Wissenschaft und Gewerkschaften. Niemand will den Unternehmen in ihre Investitionsentscheidungen hineinreden. Aber über die große Linie muß es statt unverbindlicher Plaudereien auf dem Petersberg einen kontinuierlichen Dialog zwischen diesen unterschiedlichen Lebensmächten — Politik, Wirtschaft und Wissenschaft — geben.
Das ist nicht nur eine Auffassung von uns Sozialdemokraten und angeblicher Planifikateure, sondern die gefestigte Meinung, wie Sie sie inzwischen beim BDI und beim ZVEI, aber eben auch bei Persönlichkeiten
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274 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Dr. Peter Glotzder Wirtschaft, von Jürgen Schrempp bis zu Heinrich von Pierer, von Roland Berger bis zu Gerhard Zeidler, hören können. Diese Herren stehen alle nicht in dem Verdacht, irgendeiner versteckten Form von Sozialismus anzuhängen.Hören Sie auf diese Herren, hochverehrter Herr Kollege Rüttgers! Sie müssen springen, und Sie müssen sich an diesem Punkt auch mit Graf Lambsdorff auseinandersetzen, sonst können Sie keinen Erfolg haben.
Nun hat die Bundesregierung in den letzten Monaten vor der Wahl manches erkannt. Sie hat nämlich erkannt, daß man nicht so weitermachen kann wie bisher. Der Bundeskanzler spricht von einem Technologierat, und Sie sprechen von einer Akademie der Wissenschaften. Die Frage wird lauten: In welchem Verhältnis stehen eigentlich diese beiden Institutionen zueinander?Der Technologierat leidet bisher ein bißchen an der Konzeption. Die Bundesregierung berät sich selbst. Ich kann dazu nur sagen: Haben Sie den Mut, unabhängige Leute, und zwar unabhängig auch von Parteipolitik, in diesen Rat zu berufen und Wissenschaftler nicht nach einem Schnittmuster — ausgewählt von der Koalition — zu bestimmen! Der Rat muß so unabhängig sein wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung.
— „Mindestens so unabhängig" , füge ich hinzu, Frau Kollegin Matthäus-Maier, wenn Sie erlauben.Eine solche Institution kann man dann auch, wenn man will, Akademie der Wissenschaften nennen. Sollten Sie aber nur eine Konkurrenzorganisation zu den Länderakademien beabsichtigen, werden Sie nur Geld zum Fenster herauswerfen, das Sie an anderer Stelle dringend brauchen werden.
Klären Sie die Frage genau mit Ministerpräsident Stoiber und seinen Kollegen ab! Denn was Sie aus den Wissenschaftsorganisationen hören, ist etwas anderes als das, was ich höre. Ich höre derzeit — wenn es das geben sollte — bohrendes Schweigen zu Ihrem Vorschlag mit der Akademie der Wissenschaften.
— Ich höre bohrendes Schweigen. Ich weiß, daß das eine absurde Formulierung ist. Es soll auch eine sein.Ich kann Ihnen nur raten: Erfinden Sie keine reinen Organisationen für Olympier gegen die Betroffenen! Sie scheitern sonst mit dieser Akademie genauso, wie die Berliner Akademie gescheitert ist. Den Fehler sollten wir nicht wiederholen.
Zweitens weise ich darauf hin, daß die Bundesregierung in keinem der Dokumente, über die wir indiesen Tagen diskutieren, auf die Verdreifachung der Zahl der hochindustrialisierten Länder eingegangen ist. Wenn man dies aber nicht bedenkt, kann man keine vernünftige Forschungspolitik betreiben.Im Klub der Reichen befinden sich jetzt 1 Milliarde Menschen, die sich der knappen Ressourcen unserer Erde bedienen. Mindestens 2 Milliarden Menschen in Asien und Lateinamerika schicken sich an, diesen Club zu stürmen. Daraus muß man in der Forschungs- und Technologiepolitik Konsequenzen ziehen.Es ist zu einfach, wie der Bundeskanzler immer wieder schlicht Technikoptimismus einzufordern. Ich stehe nicht im Verdacht eines Kulturpessimisten, aber Ihr Begriff von „Bedenkenträger" ist zu einfach, Herr Kollege Rüttgers.
Ich glaube, daß das in Deutschland weitverbreitete Bewußtsein von der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, von der Notwendigkeit, mit unserer Umwelt und den fossilen Energien sorgfältig umzugehen und die Umwelt zu schonen, keine Schwäche ist, sondern eine Stärke, die dieses Land hat.
Deswegen müssen wir uns umorientieren: weniger Hochenergiephysik, weniger bemannte Weltraumfahrt, mehr Informationstechnik, eine Orientierung unserer Forschungspolitik auf eine Kreislaufwirtschaft auf gutem Wohlstandsniveau. Diese Umorientierung kommt in keinem Ihrer Papiere vor. Dies ist ein großer Fehler.
Damit komme ich zur dritten und letzten Bemerkung zur Forschungspolitik. Was Sie und Herr Gerhardt gesagt haben, nämlich Innovation, ist absolut richtig. Aber unser Land wird von alten Industrieunternehmen bestimmt, die in der ersten Gründerzeit ab 1870 gegründet worden sind. Weltweit operierende Unternehmen wie Apple, SLI Logic, Sun Micro Systems und Microsoft, die in den letzten 20 Jahren entstanden sind, gibt es in Deutschland leider nicht.Ich kann jetzt nicht 20 Punkte aufzählen, die man aufgreifen müßte. Es geht um eine neue Finanzierungskultur, um Risikokapital, um Investmentbanken mit technischem Know-how und um die steuerliche Begünstigung von Investitionen in technologieorientierte neue Unternehmen. Es ist doch absurd, daß man sich in unserem Land dumm und dämlich verdienen kann, indem man in Immobilien in Ostdeutschland investiert, daß man aber nicht vergleichbar verdienen kann, wenn man in technologieorientierte Unternehmen investiert. Das ist falsch.
Der Zukunftsminister und die Koalition werden also daran gemessen werden, ob wir dieses Zukunftsproblem erkennen und entsprechende Lösungsvorschläge machen.
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 275
Dr. Peter GlotzZum Abschluß der Bemerkungen zur Forschungspolitik warne ich nur davor, den Begriff des Anwendungsbezugs zu ideologisieren.
Die Anwendung ist notwendig und sinnvoll, aber spielen wir nicht Anwendung und Grundlagenforschung gegeneinander aus! Ich stimme Herrn Rüttgers darin zu, daß wir ein vernünftiges Gesamtsystem der Förderung von Forschung haben. Das müssen wir beibehalten. Aber auch die Grundlagenforschung darf nicht vernachlässigt werden. Bitte sorgen Sie dafür, daß die Versprechungen, die der Max-PlanckGesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Aufstockung Ihrer Haushalte gegeben worden sind, auch eingehalten werden! Wenn wir diese erwürgen und ihnen keine Stellen mehr geben, wird die Grundlagenforschung darunter leiden. Das darf nicht passieren.
In der Bildungspolitik bekennt sich die Bundesregierung zu einer Aufwertung der beruflichen Bildung. Ich sage ausdrücklich: Das ist eine richtige Zielbestimmung. Wir unterstützen sie. Aber auch hier gilt natürlich: Sie müssen Butter bei die Fische tun. Es ist höchst fragwürdig, die berufliche Aufstiegsfortbildung und die Meisterfortbildung jetzt in das BAföG zu verschieben, nachdem Sie sie vorher im Arbeitsförderungsgesetz kaputtgeschlagen haben.
Wenn Sie jetzt die Fortbildung von 60 000 Meistern über das BAföG finanzieren wollen, müssen Sie das BAföG aufstocken, Herr Kollege Rüttgers. Sonst machen Sie dem Handwerk Versprechungen zu Lasten der Studierenden aus sozial schwachen Familien. Das würde die soziale Gerechtigkeit nicht stärken, sondern würde sie schwächen.
Weil ich gerade bei der Ausbildungsförderung bin, unterstreiche ich das, was hier bereits zweimal gesagt worden ist. Sie wollen im nächsten Jahr darüber entscheiden. Die einzig gerechte Lösung ist, die Bedarfssätze rückwirkend zum Herbst 1994 um 4 % und die Freibeträge rückwirkend zum Herbst 1994 bzw. für 1995 um jeweils 2 % anzupassen. Dies ist eine notwendige Entscheidung.
Ich begrüße ausdrücklich, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung seine Standardpolemik gegen unser angeblich überakademisiertes Bildungswesen unterdrückt hat. Bei uns gehen auch nicht mehr Leute auf Hochschulen als in Japan oder anderen großen Industrieländern. Vor allem aber hat sich etwas geändert: Früher waren 6,5 % der Belegschaft z. B. in der Metall- und Elektroindustrie Auszubildende. Heute ist es im Durchschnitt die Hälfte, und in vielen Betrieben sind wir bei Null. Gerade die Großindustrie nimmt lieber Fachhochschulabsolventen, statt 150 000 DM für einen Auszubildenden zu investieren. Wenn das so ist, ist jede Polemik gegenüber Akademisierung und Hochschulen der pure Zynismus, meine Damen und Herren.
Ja, werten Sie die berufliche Bildung auf, aber bitte packen Sie das nicht nur bei Randproblemen an, wie beispielsweise der absolut sinnvollen Öffnung der Hochschulen für qualifizierte Bewerber ohne Abitur, die die Frau Kollegin Doris Odendahl und viele andere in diesem Hause über viele Jahre gefordert haben, sondern widmen Sie sich den wirklichen Problemen, z. B. der katastrophalen Misere der Berufsschulen in Ostdeutschland!Ich, Herr Kollege Rüttgers, war - da gibt es jaVorbilder — in den Jahren 1974 bis 1977 Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium. Wir haben 1975 auf Anregung des damaligen Ministers Helmut Rohde, und zwar ohne verfassungsrechtliche Probleme mit den Ländern, zwei Programme mit 650 Millionen DM zur Förderung der Berufsschulen in der alten Bundesrepublik aufgelegt. Machen Sie das gleiche jetzt für Ostdeutschland, Herr Rüttgers! Das ist das, was eigentlich notwendig wäre.
Das gleiche gilt für die systematische Förderung überbetrieblicher Berufsbildungsstätten. Ostdeutschland braucht ein tragfähiges Netz solcher überbetrieblicher Einrichtungen, gerade weil es kein volles Netz von Betrieben gibt.Das heißt, ich bin durchaus bereit, die Änderungen, die Sie zum Hochschulrahmengesetz zur Debatte stellen, zu überlegen und auch an vielen Punkten zu unterstützen, obwohl die Länder manches von dem auch selber machen könnten und vielleicht auch selber machen wollen. Ich sage nur: Jede überbetriebliche Berufsbildungsstätte in den neuen Bundesländern, die Sie bauen, schafft wirklich Zukunftschancen, geht über Schnittmusterdebatten hinaus. Das heißt, verdoppeln Sie den Ansatz von 100 Millionen DM und nehmen Sie die zusätzlichen Mittel für die neuen Länder! Begreifen Sie die Aufwertung der beruflichen Bildung nicht als eine ideologische, sondern als eine praktische und als eine soziale Aufgabe!
Uns ist klar, daß das alles Geld kostet. Sie wollen ja ein überproportionales Wachstum des Bundeshaushalts für Forschung und Technologie. Wie abgesunken — von 2,8 % auf 2 % — der Forschungshaushalt ist, hat Herr Thierse dargestellt. Ich will nur illustrativ sagen: Wären wir noch bei einem Anteil von 2,8 %, hätten wir im Forschungshaushalt einen zusätzlichen Spielraum von 4 Milliarden DM. Das ist eine gewaltige Summe.Sie haben einige Prioritäten, und ich stimme Herrn Gerhardt ausdrücklich zu — ich nehme an, auch der bayerische Ministerpräsident wird gleich darauf eingehen —: Sie müssen mindestens 400 Millionen DM mehr für den Hochschulbau ausgeben, damit neue Einrichtungen überhaupt gebaut werden können und damit alte Einrichtungen nicht verrotten. Das gibt es nämlich auch.
Wir haben damals in unserem Regierungsprogramm gesagt, daß wir im Bildungs- und Forschungs-
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276 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Dr. Peter Glotzhaushalt knapp 2 Milliarden DM zulegen würden. Sie, Herr Bundesminister Rüttgers, werden daran gemessen werden, ob Sie diesen sorgfältig berechneten Minimalbedarf für ihr Ministerium bekommen oder ob Sie ähnlich abgespeist werden wie ihre ebenso sympathischen wie bedauernswerten Vorgänger.Einem Aufsatz des deutschen Botschafters in Rom, Konrad Seitz, entnehme ich ein Zitat des amerikanischen Vizefinanzministers Roger Altman, mit dem ich schließen will. Auf einem Treffen des United States Business Council im Oktober 1993 in Williamsburg hat Mr. Altman gesagt:Amerika hat sich der Globalisierung des Wettbewerbs angepaßt. Europa wird zu dieser Anpassung voraussichtlich nicht fähig sein; es hat seine Zukunft hinter sich. Amerika muß sich endlich dahin orientieren, wo die Zukunft ist: Asien.Herr Altman darf nicht recht bekommen, meine Damen und Herren. Er könnte aber recht bekommen, wenn wir unsere Bildungs- und Wissenschaftspolitik nicht radikal reformieren. Unser Land braucht Reformen, nicht Taktik, unkonventionelle Beweglichkeit, nicht Mainstream-Denken. Und es hat nicht mehr arg viel Zeit. Es wäre ein katastrophaler Irrtum, zu glauben, wir könnten die nächsten vier Jahre einfach übertauchen. Wir müssen in diesen vier Jahren handeln.Zukunftsministerium ist ein wunderbarer Name. Aber es geht nicht um den Namen — das hat Herr Rüttgers auch gesagt —, es geht um die Politik. Herr Rüttgers, Sie müssen in diesem Fachbereich einen neuen Anfang machen, weil die alte Politik falsch war. Dann, aber nur dann stehen wir bereit zu einem Bündnis für Innovation über Parteigrenzen hinweg.Herzlichen Dank.
Es spricht jetzt der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Regierungserklärung steht unter dem Thema „Aufbruch in die Zukunft — Deutschland gemeinsam erneuern". Wissenschaft und Technik, das habe ich heute intensiv gehört, werden dabei ein Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sein.Aus der Sicht eines Landes, das seit jeher einen Schwerpunkt auf Wissenschaft und Forschung gelegt hat, möchte ich im Deutschen Bundestag deutlich machen, wie wichtig Forschung, Technologietransfer und Innovation für unsere Zukunft sind.Ich habe das auch aus Ihren Worten, Herr Kollege Glotz, sehr nachhaltig erfahren. Ich habe auch den internationalen Bezug, den Sie hergestellt haben, sehr nachhaltig empfunden. Darüber freue ich mich. Aber wir müssen uns auch über die Bedingungen unterhalten, unter denen gerade in England, Frankreich und Amerika solche wissenschaftlichen Leistungen erzieltwerden, die wir heute in bestimmter Weise nicht mehr erreichen. Das ist eigentlich der entscheidende Punkt. Wir müssen dann manche Eigenheiten, die wir in den letzten zehn oder zwanzig Jahren diskutiert und gepflegt haben — Sie auch —, außerordentlich in Frage stellen.
Im internationalen Wettbewerb müssen wir erkennen, daß im Bereich der Spitzentechnologien die USA und Japan vorn liegen. Ich denke an die Unternehmungen und die Vorstandsvorsitzenden der ganz großen Betriebe — Sie haben Heinrich von Pierer genannt, Siemens, den größten bayerischen Arbeitgeber mit über 250 000 Arbeitsplätzen; Sie haben BMW genannt und Herrn Pischetsrieder, der gerade nach einer erfolgreichen, für uns zum Teil sehr schmerzlichen Investition aus den Vereinigten Staaten zurückkommt — und stelle natürlich auch fest, daß die Bedingungen in diesen Ländern für bestimmte Unternehmungen, die als global player auftreten, unvergleichlich besser sind und daß sie immer mehr Investitionen in einem Land tätigen, wo sie es eigentlich nicht gerne täten. Sie würden es ja zum Teil auch lieber hier tun. Wenn sie aber in den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmte Dinge nicht nutzen, dann können sie mangels Mischkalkulation auch die Arbeitsplätze in München nicht erhalten. Deswegen müssen wir uns über diese Dinge unterhalten.
Sie haben die finanziellen Fragen angesprochen. Ich werde darauf kurz eingehen. Es sind aber nicht nur die finanziellen Mittel, auf die es ankommt. Entscheidend ist die gesellschaftliche Akzeptanz von Wissenschaft, Forschung und technologischer Entwicklung. Wenn sich heute an der Technischen Universität in München Leute, die Atomphysik studieren, in ihrem Umfeld im Grunde genommen gesellschaftlich dafür rechtfertigen müssen, warum sie dies tun — unterhalten Sie sich einmal mit diesen Leuten darüber, wie sie in unserer Gesellschaft häufig angefeindet werden, weil sie eine solche Disziplin studieren —, dann müssen wir uns fragen, woher es eigentlich kommt, daß Leute, die diese Disziplinen studieren, überhaupt angefeindet werden. Ich halte das für bedenklich.
Wir beide gemeinsam billigen wohl Roland Berger ein hohes Maß an Informiertheit über die wirtschaftlichen Zusammenhänge der Welt zu. Nach den Ergebnissen der Umfragen, die ihm vorliegen, haben vor 30 Jahren 25 % der deutschen Bevölkerung technischen und technologischen Entwicklungen skeptisch gegenübergestanden, aber 75 % generell positiv. Im Jahre 1993 ist das gerade umgedreht. Das heißt, wir haben heute 25 % der Bevölkerung, die primär technologischen Entwicklungen gegenüber positiv eingestellt sind,
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 277
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
und 75 % sind pessimistisch, negativ etc. eingestellt und setzen die Bedenken im Grunde genommen zu hoch an.Wenn ich heute wieder das Stichwort Neutronenquelle München-Garching höre, so freue ich mich, daß das Thema in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen worden ist.
Herr Glotz, Sie wissen genau: Unsere Zukunftsfähigkeit hängt von zwei wichtigen Disziplinen, nämlich Materialwissenschaft und Informationstechnik ab, wenn Sie den Sprung von der Industriegesellschaft in die Informationsgesellschaft schaffen wollen. Im Bereich der Informationstechnik sind wir nicht absolute Spitze, wenn ich Amerika und Japan betrachte; Stichwort Privatisierung. Aber wenn ich mir die Materialwissenschaft ansehe und die Neutronenquelle ansehe, glaube ich, daß im Moment nur Bayern in der Lage ist, das überhaupt durchzuführen, weil der bayerische Ministerpräsident bereit ist, dafür 450 Millionen DM aus bayerischen Landesmitteln zur Vorfinanzierung mit unsicherer Rückzahlung zur Verfügung zu stellen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich. Ich will nur den Gedankengang zu Ende führen, Herr Kollege Glotz.
Wenn ich jetzt höre, man solle die Spallationsquelle an die Stelle der Neutronenquelle setzen, dann, muß ich sagen, geht man einfach an dem Verfahren vorbei. Denn das ist jahrelang von denen, die diese Dinge machen wollen, geprüft worden.
Schauen Sie sich einmal an, welche Probleme die Wiener haben, bei denen das projektiert wird und die nicht an die Neutronenquellen der Vereinigten Staaten von Amerika herankommen. Ich halte es einfach für ein Unding, daß Deutsche und Kollegen aus Ihrer Partei amerikanische Quellen benutzen, um gegen das hochangereicherte Uran — Stichwort: Neutronenquelle — Stimmung zu machen,
während die Amerikaner sieben Neutronenquellen mit hochangereichertem Uran betreiben und jetzt eine der größten in Oak Ridge errichten werden, die dreimal so groß sein soll wie die Neutronenquelle in München. Ich vertrete hier nicht in erster Linie amerikanische Wirtschaftsinteressen, sondern deutsche Interessen. Wir müssen in diesem Bereich vorne bleiben.
Bitte.
Herr Ministerpräsident, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein großer Teil des Protestes gegen den Forschungsreaktor München II nicht aus der Gegnerschaft zu Materialwissenschaften herrührt, sondern aus der Gegnerschaft zu diesem Konzept mit hochangereichertem Uran, und daß das Bedenken, daß die Amerikaner das nicht liefern werden, dazu führt, daß man den Uranhandel mit Rußland und mit anderen Quellen fördern muß und daß auf diese Weise große Schwierigkeiten hinsichtlich des Uranhandels entstehen könnten, den Sie genauso bekämpfen wie wir auch?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist völlig richtig. Es tut mir leid, aber wenn die Frage hier schon eine Rolle spielt — sie spielt nicht nur für Bayern eine Rolle, sondern auch für Deutschland insgesamt —, dann muß ich Ihnen natürlich sagen: Wir haben für zehn Jahre hochangereichertes Uran und brauchen also überhaupt niemanden dazu. Darüber hinaus liegen weitreichende Angebote der Franzosen innerhalb von Euratom, also innerhalb der Europäischen Union vor. Das heißt, wir brauchen weder die Russen noch die Amerikaner dazu, dies überhaupt betreiben zu können. Wir wollen das Ganze nur nicht gegen den absoluten Widerstand der Amerikaner betreiben.
Die Amerikaner schieben hier — das sage ich ganz offen, und das habe ich auch dem damaligen Botschafter, Herrn Holbrooke, gesagt — bestimmte Interessen vor. Dahinter stehen natürlich wirtschaftliche Interessen. Ich verstehe nicht, daß Leute in Deutschland die Wissenschaftler nach Grenoble verweisen und sagen: Geht nach Frankreich; dann brauchen wir hier in München keine Neutronenquelle. Wenn ich mit den Leuten rede, dann heißt es: Schaut mal, wie lange deutsche Wissenschaftler brauchen, falls sie überhaupt in Grenoble angenommen werden. Da kommen zunächst einmal die Franzosen, und dann kommen noch einmal die Franzosen. So ist die Realität.
Wir wollen die Wissenschaftler doch nicht hinaustreiben.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lippelt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wird das auf die Redezeit angerechnet?
Nein, das wird nicht angerechnet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Herr Ministerpräsident, ist Ihnen nicht bekannt, daß das Weggehen von dem hochangereicherten Uran auf die Uran-Fuel-Konferenz zurückgeht, die seinerzeit der amerikanische Präsident Carter ohne jede Rücksicht auf amerikanische Wirtschaftsinteressen inauguriert hat und deren Ergebnis genau die Empfehlungen zum Abgehen von Forschungsreaktoren mit hochangereichertem Uran waren?
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278 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie begeben sich da auf ein unsicheres Feld. Ich sage Ihnen eines: Die Amerikaner überprüfen gegenwärtig, was sie vom hochangereicherten zum schwach angereicherten Uran umstrukturieren können. Selbstverständlich kann man auch mit schwach angereichertem Uran ähnliche Ergebnisse erzielen. Das ist nur eine andere Konzeption, die wesentlich teurer ist. Man muß hier ein Mischprodukt haben.
Ich sage noch einmal: Wenn die Amerikaner ihre neueste und größte Neutronenquelle in Oak Ridge mit hochangereichertem Uran errichten, dann halte ich die Kritiker nicht für berechtigt, auf uns mit Fingern zu zeigen und zu sagen, wir würden hier etwas Unsinniges machen. Das sage ich Ihnen ganz offen.
Herr Ministerpräsident, auch der Kollege Kubatschka möchte eine Zwischenfrage stellen.
Herr Ministerpräsident, Sie haben gerade behauptet, daß die deutschen Wissenschaftler in Grenoble Schlange stehen. Halten Sie es dann nicht für verantwortungslos, daß im deutschen Forschungsministerium die Möglichkeit, für 1,1 Millionen DM und Betriebskosten in Höhe von ungefähr 600 000 DM im Jahr zusätzliche Meßplätze einzurichten, nicht genutzt wird, um die angebliche Schlange der deutschen Wissenschaftler in Grenoble abzubauen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sehe hier überhaupt keinen Zusammenhang, Herr Kollege.
Ich habe das in einem anderen Zusammenhang dargestellt. Ich habe doch überhaupt nichts dagegen — ganz im Gegenteil —, daß unsere Leute, wenn sie denn die Möglichkeit haben, an allen internationalen Plätzen forschen können. Nur, der Punkt ist: Das ist nicht so einfach. Wenn ich von denen, die an diesen Lehrstühlen tätig sind, höre, daß sie außerordentliche Schwierigkeiten haben, überhaupt einen Teil ihres Prozesses in Grenoble durchzuführen, muß ich ganz offen sagen: Wir machen zwar europäische Politik, aber wir machen auch deutsche Politik. Wir müssen versuchen, für unsere eigenen Leute die notwendigen Einrichtungen zu schaffen, damit sie sich entwickeln können.
Aber lassen Sie mich meinen Gedankengang fortführen. Noch immer — das kam auch in Ihren Ausführungen, Herr Glotz, zum Ausdruck — wird in der Öffentlichkeit über die Technologiefelder der Zukunft wie Bio- und Gentechnik in erster Linie negativ geredet. Die möglichen Risiken dieser Zukunftstechniken stehen mir zu einseitig im Vordergrund. Jeder Bedenkenträger — das ist für mich das Problem —, der, zu Recht oder zu Unrecht, vor den Risiken warnt, genießt größere Aufmerksamkeit als ein noch sosachkundiger Befürworter neuer Techniken. Da liegt der Hund begraben.
— Schreien Sie doch nicht so. — Der Nutzen der Gentechnik z. B. in der Medizin bleibt diffus im Hintergrund.
— Ich weiß nicht, ob das hier üblich ist. Aber erlauben Sie mir, den Gedankengang zu Ende zu führen.Das führt dann zu dem absonderlichen Ergebnis, daß wir in Deutschland zwar mehr gentechnisch hergestellte Arzneimittel zulassen als in jedem anderen Land — bei uns sind es 24 Stoffe, in Japan 21, in Frankreich 18 und in den USA 15 —, durch die restriktiven Gesetze aber Forschung und Produktion aus dem Lande treiben. Daß das so ist, daran haben Sie, Herr Fischer, einen erklecklichen Anteil.
Aber gleichzeitig beklagen Sie sich dann darüber, daß in den anderen Ländern Zehntausende von Arbeitsplätzen in Betrieben der chemischen Industrie entstehen. Sie brauchen ja nur die Hauptversammlung von Hoechst zu verfolgen, um festzustellen, daß diese Länder schon jetzt ein interessanter Partner sind, weil die Vorstandsvorsitzenden wissen, daß sie das woanders alles billiger machen können. Ich halte es für ein Unding, daß es große deutsche Konzerne der chemischen Industrie gibt, deren Forschungsaktivitäten zu 80 % außerhalb Deutschlands betrieben werden und die noch einmal 6 bis 7 % zusätzlich in andere Länder verlagern wollen. Das ist eine falsche Politik.
1989 wurden 82 % der biotechnologischen Patente in den USA erteilt. Der europäische Anteil betrug 5 %. Ähnlich bedrückend sieht es bei der Produktion aus. In den Vereinigten Staaten gibt es 450 Produktionsanlagen, in Japan 120, in Dänemark 20 und in Deutschland nur sechs Anlagen.
— Das liegt doch daran, daß wir auch notwendige Gesetze zur Reform der Gentechnik im Bundesrat überhaupt nicht durchgebracht haben.
Es ist in diesem Zusammenhang geradezu unglaublich, was der Kollege Fischer tut. Er soll sich seine
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 279
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
eigene Rede im Bundesrat, die ich selbst gehört habe, noch einmal vor Augen führen.
Er hat gegen Erleichterungen im gentechnischen Produktionsverfahren polemisiert. Das ist Widersprüchlichkeit.
Dabei sind die Marktchancen der Biotechnologie riesig.
Fachleute rechnen mit zweistelligen jährlichen Zuwachsraten der biotechnischen Produktion. Nach Expertenschätzungen werden sich schon 1995 40 % des gesamten Pharmamarktes auf gentechnische Produkte stützen.
Bis zum Jahre 2000 wird ein Arbeitsplatzpotential von 2 Millionen Arbeitsplätzen in Europa geschätzt.
Herr Fischer, wollen Sie eine Zwischenfrage stellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können es uns nicht leisten, auf der einen Seite bestimmte Verpflichtungen einzuhalten — Herr Glotz, Sie haben Werften, Kohle und andere Bereiche genannt; Sie wissen ganz genau, daß wir in diesen Bereichen ungeheure Subventionen geben müssen —, wenn wir auf der anderen Seite nicht in der Lage sind, das mit den Mitteln der Industriezweige zu erwirtschaften, bei denen wir echte Vorsprünge haben oder haben könnten. Das ist dann Gen- und Biotechnologie.
Herr Kollege Rüttgers, ein Satz ist mir aufgefallen. Wenn Sie sich den zum Leitbild erheben, dann würde ich mich außerordentlich freuen. Sie haben gefragt, ob wir alles können, was wir können müssen. Das ist leider richtig. Hier müssen wir bei aller Risikoabschätzung, die natürlich intensiv durchgeführt werden muß, ansetzen.
Es gibt kein Land in der westlichen Hemisphäre, wo die Risikoabschätzung in so vielen Verfahren eingenormt ist wie in Deutschland. Deswegen werden Sie, wenn man auf der einen Seite den schlanken Staat — ich höre das alles sehr gerne — anstrebt und sich auf der anderen Seite zur Aufgabe macht, zu prüfen, ob wir alles können, was wir können müssen, auch um bestimmte Reduzierungen von komplizierten Verfahrensbestimmungen nicht herumkommen, weil es die Leute sonst woanders machen werden. Dann werden Sie die Leute nicht hierbehalten.
Ich sage noch einmal: Wir brauchen ein geistiges Klima, das jungen Forschern Mut gibt und ihre Leistungen anerkennt. Das wird nicht eintreten, solange Bürgerinitiativen gegen alles und jedes, was neu ist, mobil machen und eine so große Aufmerksamkeit erreichen, daß sie letzten Endes in der Bevölkerung einen völlig falschen Eindruck erwecken. Es ist eine enorme politische Aufgabe, Herr Kollege Rüttgers, die Sie sich in Zusammenarbeit mit vielen anderen gesellschaftlichen Kräften gestellt haben.
Ich bedaure, daß sich die vielbeschworene geistige Elite unseres Volkes, die Intelligenz, wie man so schön sagt, über diese Fragen viel zu wenig ausläßt. Ich lese in den Feuilletons zu selten, welche Auswirkungen diese oder jene Entwicklung hätte. Da wird über jedes Detailproblem geschrieben, aber mit diesen entscheidenden Zukunftsfragen, auch der Frage, ob wir nicht eine zu umfassende Risikoabschätzung machen, befaßt sich niemand.
Herr Ministerpräsident, der Abgeordnete Tauss hat noch den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen. Sind Sie einverstanden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Herr Ministerpräsident, ist Ihnen bekannt, daß einer der größten Zuwachsmärkte in den nächsten Jahren beispielsweise die Mikrosystemtechnik in Deutschland sein wird, und denken Sie nicht, daß es etwas kurz greift, wenn man die Forschungslandschaft nicht in ihrer Gesamtheit betrachtet, sondern immer nur nach den paar Stöckchen beißt, die gerade das persönliche Hobby sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, so kann man es natürlich auch machen. Wenn man hier auf Einzelfragen, die in der Debatte aufgeworfen worden sind und die ich hier jetzt spontan vertiefe — sei es die Neutronenquelle in München, sei es die Gentechnik —, aufmerksam macht, dann kommen Sie mit der Frage, ob das nicht in einem größeren Zusammenhang gesehen werden muß. Natürlich muß das in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Aber das darf uns natürlich nicht daran hindern, in diesen Einzelfragen einmal Fraktur zu reden und die Spreu vom Weizen zu trennen.
Ich begrüße die Deutsche Akademie der Wissenschaften. Ich habe auch in den Koalitionsverhandlungen alle föderalistischen Bedenken, die man dagegen einwenden könnte, zurückgestellt, weil ich glaube, daß wir insgesamt ein solches Forum brauchen. Es ist jetzt die Aufgabe von Bund und Ländern, dieses Forum gemeinsam als etwas wirklich Neues zu entwickeln. Ich hoffe, daß das, was wir hier alle beklagen, die entsprechenden Unterlagen und die entsprechenden Diskussionen vorantreiben wird, damit wir dann ein Stückchen weiterkommen.Meine Damen, meine Herren, Bildung und Wissenschaft sind der Treibsatz für unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft. Wir können in For-
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Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
schung und Wissenschaft sowie bei der Entwicklung neuer Produkte und Verfahren nur erfolgreich sein, wenn wir die Menschen, die diese Leistung erbringen sollen, dafür entsprechend ausbilden und motivieren. Wir brauchen in Deutschland eine verstärkte Leistungsorientierung. Gehen Sie heute einmal in die größeren Betriebe! Ich kann in besonderem Maße aus bayerischer Sicht sagen: Wenn bei BMW bereits über 10 % des technischen Managements aus dem englischen und aus dem französischen Schulbereich stammen, dann ist das eine außerordentlich bedrückende Feststellung für uns, weil wir viele Leute haben, die diese Arbeitsplätze nicht bekommen. Dann müssen wir wirklich hinterfragen, warum das Ganze so lange braucht.Wenn Sie an die Effizienz der Hochschulen heran wollen — Sie haben ja leider die Verfassungsänderung nicht akzeptiert, um den Ländern eine höhere Autonomie in diesen Fragen einzuräumen; okay, das ist nun entschieden —, dann erwarte ich aber auch, Herr Kollege Rüttgers, daß von Ihnen eine Vorlage kommt — ich bin sicher, daß sie kommen wird —, die entsprechende Effizienzsteigerungen bringen wird. Nur bitte eines nicht: Bei der Frage 13 Gymnasialjahre oder Oberschuljahre ja oder nein liegt nicht das Problem. Das Problem liegt in der Differenz zwischen dem Abitur, das durchschnittlich nach 19,7 Jahren abgelegt wird, und dem Studienbeginn, der bei 22,5 Jahren liegt. Wenn wir dann noch sehen, wie lange das Studium dauert, dann meine ich, daß man hier ansetzen muß, bevor man an die Qualität der gymnasialen Ausbildung geht. Ich kann nur sagen: Wir in Bayern werden an der Qualität des bayerischen Abiturs mit Sicherheit keine Abstriche hinnehmen, auch wenn das alle anderen Länder machen werden. Diese Abstriche müßten Sie hinnehmen, wenn Sie die Gymnasialjahre auf acht Jahre reduzieren.
Eine letzte Bemerkung, die ich hier einfügen möchte: Ich halte es für sinnvoll, die gemeinsame Bund-Länder-Hochschulfinanzierung den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Aber ich muß auch sagen: Das Verfahren — Stichwort Wissenschaftsrat —, bis wir etwas machen können, ist von einer Kompliziertheit, die im Grunde genommen jede Initiative und jede Flexibilität erstickt. Deswegen sage ich auch: Wenn sich der Bund nicht in der Lage sieht — das ist jetzt eine Frage der Haushaltsgesamtbetrachtung —, die entsprechenden Forderungen der Länder zu erfüllen, dann muß man an die Frage herangehen, ob man diese Gemeinschaftsaufgabe aufgibt und die Verantwortung der Hochschulen in dieser Frage wieder an die Länder zurückgibt.
Diese feine Mühle, die wir haben, läuft leer, wenn die entsprechenden Mittel vom Bund nicht bereitgestellt werden können. Es ist doch ein Wahnsinn — ich darf sagen, ich finanziere in Regensburg den dritten Bauabschnitt vor, ich finanziere sieben neue Fachhochschulen in Bayern mit 400 Millionen DM vor, weil ichdas Geld nicht bekomme —, daß ich für diese Angelegenheiten und alles, was damit zusammenhängt, sozusagen noch den Wissenschaftsrat fragen muß und im Prinzip in der Eigeninitiative gehemmt werde, die die Menschen im Grunde genommen erwarten.Deswegen bitte ich sehr, daß wir unvoreingenommen, Herr Kollege Rüttgers — jetzt nicht in der Frage, wer die Kompetenzen hat: Bund oder Land —, wenn Sie es aus der objektiven Situation heraus nicht schaffen, weit über 2 Milliarden DM erreichen zu können, dann in der Tat die Frage angehen: Sollen wir nicht die Kompetenzen im Grundgesetz ändern, um in die Hochschullandschaft in Deutschland vielleicht wieder etwas mehr Variabilität hineinzubekommen? Sie belohnen dann die Länder, die ein entsprechendes Schwergewicht auf die Hochschulausbildung und auf die Qualität der Hochschulausbildung legen. Ich sage Ihnen: Wenn Sie uns den Freiraum geben würden, würden wir ihn jedenfalls in intensiver Weise nutzen.
Eine letzte Bemerkung: Stichwort Gleichwertigkeit beruflicher Bildung und akademischer oder allgemeiner Bildung. Dies ist ein Thema, bei dem wir alle ein Stück Verantwortung haben, warum die Dinge so auseinandergeklafft sind, warum wir fast zehnmal so viel für einen Studenten, wenn ich alles zusammenzähle, ausgeben gegenüber demjenigen, der eine Metzgerlehre oder eine Schreinerlehre macht. Wir müssen hier insgesamt zu einer größeren gesellschaftlichen, aber auch einer politischen Gleichwertigkeit kommen.
Es sind nicht unsere Hochschulen, Herr Rüttgers, was andere Länder anlockt und was sie nachmachen wollen. Das war einmal. Das ist heute nicht mehr der Fall. Heute wollen Europäer oder Außereuropäer von unseren Hochschulen nicht sehr viel übernehmen. Aber was in besonderem Maße in der Welt attraktiv ist, ist das duale Ausbildungssystem.
Das fängt in China an und geht bis England und Frankreich. Die Misere in England z. B. ist gerade, daß sie nicht eine derartige Ausbildung im beruflichen Bereich haben, die sie nachziehen wollen. Dieses muß mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Wenn ich hier höre, man wolle an die Anforderungen der Handwerksprüfung herangehen, dann kann ich davor nur warnen.
Das ist eines der größten Elemente in diesem Bereich. Allerdings müssen wir darüber hinaus unterschiedliche Zertifikate — das habe ich hier in der Debatte gehört — geben. Wir müssen auch denen, die unterhalb dieser Anforderungen liegen, Zertifikate geben. Dies ist ein großes Problem, weil die Ausbildungsanforderungen in der Zwischenzeit so schwierig geworden sind, daß wir in der Praxis von der dreijährigen Berufsausbildung langsam zu einer dreieinhalbjährigen, ja auch schon zu einer vierjährigen Berufsausbildung kommen, weil die theoretischen Anforderungen
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 281
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
sehr, sehr schwer sind. Wenn wir ein oder zwei Bildungsabschnitte in diesen Bereich einbeziehen, dann bekommen wir gerade die Flexibilität auch gegenüber anderen europäischen Ländern, die die Anforderungen der Handwerksprüfung in diesem Sinne nicht haben.
In dem Sinne und mit den kurzen Anmerkungen wünsche ich dem neuen Zukunftsminister alles Gute. Ich darf Ihnen jedenfalls für mein Land, aber ich glaube, ich spreche auch im Namen vieler anderer, eine faire Zusammenarbeit anbieten. Ich glaube, daß wir gerade in diesem schwierigen Feld, wo Bund und Länder zusammenarbeiten müssen, wenn sie die Herausforderungen bewältigen wollen, ein gutes Stück Weges in intensiver Zusammenarbeit gemeinsam gehen sollen.Danke schön, meine Damen und Herren.
Frau Abgeordnete Elisabeth Altmann, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zukunft ist das verbindende Thema dieser Diskussion. Zukunft für Bildung und Wissenschaft ist eng mit den Chancen junger Menschen verbunden. Seit 25 Jahren arbeite ich nun im Bildungsbereich und erlebe dabei hautnah die Sorgen und Probleme der Lehrenden und Lernenden. Deshalb brennt es mir unter den Nägeln, dringend notwendige Reformen anzumahnen. In der Regierungserklärung wurde dem Bildungsbereich lediglich ein Absatz gewidmet; das ist zu wenig.Im übrigen möchte ich ein Zitat zu der von Ihnen, Herr Stoiber, angesprochenen Leistungs- und Elitenbildung anführen. Der Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung sagt: „Leistungsstreben hat in dieser Gesellschaft einen hohen Stellenwert, aber es geht auch zu Lasten anderer, und jene, die nicht mithalten können, werden kalt ausgegrenzt. " — Das ist Realität, auch für den Bereich Bildung und Wissenschaft.Ich möchte mich in meiner Rede auf drei wesentliche Punkte im Hochschulbereich beschränken: erstens auf die Berufsaussichten, zweitens auf überfüllte Hörsäle und drittens auf das BAföG.Zum ersten. In den Plänen der Koalition findet sich als Dauerbrenner seit 1982 die Forderung nach kürzeren Studienzeiten. Wir müssen uns jedoch die Frage stellen, weshalb wir so lange Studienzeiten haben. Lange Studienzeiten sind doch auch ein Ergebnis der schlechten Berufsaussichten vieler Hochschulabgänger und -abgängerinnen.Was heißt hier, Herr Stoiber und Herr Rüttgers, „Bedenkenträger"? In den letzten Jahren, unter der Regierung Kohl, ist die Arbeitslosigkeit insbesondere von Natur- und Ingenieurwissenschaftlern stark gestiegen. Warum sollen z. B. Soziologen und Soziologinnen möglichst schnell die Hochschulzeit durchlaufen, wenn, wie Mitte 1993, nicht einmal für jeden 70. eine Stelle offensteht, d. h. 69 auf der Straßestehen? Darauf müßten doch die politisch Verantwortlichen eingehen.
Ich rede aus eigener Betroffenheit als Mutter eines 28jährigen Sohnes mit gutem Abitur und gutem Mathematikdiplom — Herr Stoiber, Qualitätsabitur in Bayern —, der trotz 80 Bewerbungen bisher keine Stelle gefunden hat. Ebenso erwerbslos sind die meisten seiner ehemaligen Mitstudenten und -studentinnen in Bayern, Herr Stoiber.
Hier besteht Handlungsbedarf, dem wir uns stellen müssen, weil wir die Geschicke des Landes mit zu verantworten haben.Ich frage also noch einmal: Welche Zukunft erwartet die jungen Menschen, vor allem auch im Osten? Ist das nicht ein verantwortungsloser Umgang mit menschlichen Hoffnungen und Kompetenzen und mit investiertem Geld? Es kommt mir schon dreist vor, wenn ich in den Koalitionsvereinbarungen lese, daß beim Personalaustausch in der Wirtschaft neue Wege beschritten werden sollen. Über diese Wege muß schnellstens nachgedacht und die Ergebnisse müssen dann ganz konkret umgesetzt werden. Dringliches dürfen Sie doch nicht auf eine solche Leerformel reduzieren.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben zukunftsweisende arbeitsmarktpolitische Konzepte entwickelt. Wir fordern neue innovative Arbeitsplätze im sozialen und ökologischen Bereich. Nicht Atomkraft und der Reaktor in Garching, Herr Stoiber, nicht die Gentechnologie, sondern erneuerbare Energien und die Reinhaltung von Boden, Wasser und Luft, unseren natürlichen Lebensgrundlagen, sind unsere Zukunft!
Zweiter Punkt: die überfüllten Hörsäle. An der in meinem Wahlkreis liegenden Universität ErlangenNürnberg sind zur Zeit ca. 27 000 Studenten und Studentinnen eingeschrieben. Die Kapazität ist aber nur für 15 000 berechnet. Das ist eine Unterversorgung von 80 %. Dies ist kein Einzelfall. Wenn man im Hörsaal auf dem Boden sitzt oder in den Gängen und Fluren versucht, den Worten der Professoren und Professorinnen zu lauschen, so kommt man sich zwar menschlich näher, aber dem Studienziel wohl kaum. Ich frage Sie: Wo bleibt die Qualität des Studiums? Der Verschiebebahnhof in Richtung Länder, Herr Rüttgers, paßt ins Konzept dieser Regierung.Nun lese ich, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbauförderung sollen „konzentriert und an die veränderten Rahmenbedingungen" angepaßt werden. Wenn ich das richtig interpretiere, heißt es wohl: Die Mittel werden nicht um das notwendige Maß erhöht. Folgt nun auf lean production lean education? Die derzeitigen Mittel reichen nach Meinung von Wissenschaftsrat und Hochschulrektorenkonferenz gerade, um den Bestand zu wahren. Wir warnen vor geistiger Engstirnigkeit und räumlicher Enge gerade in Anbetracht unserer jüngsten Geschichte.
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Elisabeth Altmann
So kann man kein innovatives Klima erzeugen. Wir Bündnisgrünen setzen dagegen: Kooperation, interkulturelles Lernen, Kreativität und Teamgeist, d. h. wesentliche Fähigkeiten für die Welt von morgen.Drittens: BAföG. Nicht nur die mangelnde Ausstattung der Hochschulen belastet die Studierenden, sondern auch das fehlende Geld. Wer z. B. an zwei Tagen oder oftmals auch Nächten in der Woche jobben muß, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, der kann nicht ordnungsgemäß studieren.
Dies verlängert die Studienzeit. Kurieren wir nicht an den Symptomen, sondern gehen wir an die Wurzeln! Wir fordern deshalb eine sofortige Erhöhung der BAföG-Sätze auf mindestens 1 000 DM, wie es übrigens auch das Deutsche Studentenwerk für notwendig hält.
Gerade als Frau möchte ich zum Schluß noch auf ein Thema aufmerksam machen. Mädchen und Frauen werden in dieser Gesellschaft immer noch massiv benachteiligt. Die Frauen im Osten betrifft es besonders. Im wissenschaftlichen Bereich ist dies eklatant: nahezu 50 % Abiturientinnen, 40 % Studentinnen, 18 % wissenschaftliche Assistentinnen und an der Spitze lediglich 4 % Professorinnen. Das ist ein Mißverhältnis sondergleichen.
Wo bleibt da die Gleichberechtigung? Ich sehe nach: Was bietet das Koalitionspapier? Meine Herren, die Antwort ist: Es ist dürftig.Ich fasse zusammen. Im Interesse der Zukunftsperspektiven des Landes müssen wir alles daransetzen, Bildung und Wissenschaft einen höheren Stellenwert zu geben. Ich fordere Sie, Herr Rüttgers, auf, um der jungen Menschen willen gemeinsam mit uns über konkrete Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und diese baldmöglichst umzusetzen.
Herr Kollege Dr. Peter Glotz, Sie haben das Wort.
Bundestagsdebatten sollen Dialoge sein. Deswegen fordert mich die Rede des leidenschaftlichen Bildungspolitikers Stoiber zu drei knappen Bemerkungen heraus.Erstens. Herr Ministerpräsident, Sie waren sicher bei den Koalitionsverhandlungen dabei. Da hätten Sie Gelegenheit gehabt, die Koalition auf die zusätzlichen 400 Millionen DM Hochschulbaumittel zu bringen, die Herr Gerhardt zu Recht gefordert hat.
Es handelt sich ja nicht um Gegner. Eines muß ichschon sagen: Deswegen eine Verfassungsänderungdurchzuführen, weil die Koalition finanzpolitisch diefalschen Prioritäten setzt, das wäre falsch, und das wäre Unsinn.
Zweite Bemerkung: Forschungsreaktor München II. Sie haben nicht eingeräumt, nicht zugegeben, daß es in der Wissenschaftsszene selbst, unter denen, die selber Neutronenforschung betreiben, erhebliche Einwände gegen das Konzept mit hochangereichertem Uran gibt.
Es sind nicht die bösen GRÜNEN oder die bösen Sozialdemokraten, die gegen moderne Forschung oder Materialforschung sind, sondern es gibt eine interne wissenschaftliche Diskussion um das Konzept. Das muß man klar sehen.Zweitens. Wenn der Kollege Fischer oder irgendein anderer Kollege solche Töne zum Thema Amerika gefunden hätte, wie Sie sie gefunden haben, wäre der Kollege Glos ans Pult gekommen und hätte gesagt: Antiamerikanismus.
Also, ich sehe durchaus Ihren Punkt. Es gibt selbstverständlich Eigeninteressen der Amerikaner. Aber ich war bei Martha Krebs, der zuständigen Staatssekretärin im Energieministerium in Amerika. Oak Ridge ist nicht entschieden.Man kann gegen die Amerikaner argumentieren. Aber wie Sie hier mit lautem Technonationalismus argumentiert haben, war mir ein bißchen zu laut und außenpolitisch nicht genügend reflektiert.
Die letzte Bemerkung bezieht sich auf das duale System. Da sind wir inhaltlich völlig einer Meinung: Dies ist einer der ganz großen Standortvorteile unseres Landes.Nur, die Mahnungen müssen wir zuerst einmal an die großen Dienstleistungsunternehmen und die großen Industrieunternehmen richten, die derzeit bei der Ausbildung genauso brutal „lean production" oder was auch immer herunterfahren wie in anderen Bereichen. — Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist sehr interessant. Sie haben hier den Kollegen Haungs sitzen. Er ist der Vorsitzende der ASU, der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmen. Was Sie zum Thema Meisterausbildung gesagt haben, wird genau von diesem Verein gefordert. Also, auch da müssen Sie sich bitte mit Ihren eigenen Leuten auseinandersetzen, Herr Stoiber, nicht so sehr mit uns.
Das dritte ist: Unser Problem beim dualen Ausbildungssystem ist, daß wir es im Osten derzeit nicht durchhalten können, weil das Netz der Betriebe nicht dicht genug ist. Aus diesem Grund müssen wir etwa besondere Anstrengungen bei überbetrieblichen
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Dr. Peter GlotzAusbildungsstätten, besondere Anstrengungen in Ostdeutschland bei Berufsschulen leisten, weil dort die Situation nicht wie in Westdeutschland normal ist.
Wenn Sie das bitte akzeptieren könnten, dann würden wir eine sehr viel sachlichere Debatte miteinander führen können, die wir heute über weite Strecken auch geführt haben.Herzlichen Dank.
Der bayerische Ministerpräsident geht auf das Dialogangebot ein und hat sich noch einmal zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort, Herr Ministerpräsident.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will nur noch eine Bemerkung machen, weil Sie das so in den Mittelpunkt rücken: Gerade in München gehören Sie ja mit zu denen, die ganz erhebliche Einwendungen gegen diese Neutronenquelle erheben
und damit natürlich auch eine ganze Reihe von Menschen beeinflussen.
Wenn Sie jetzt die Bemerkung, die ich zu Amerika gemacht habe, so qualifizieren, dann muß ich ganz offen sagen, Herr Glotz: Sie gehen an der Sache vorbei.
Ihr Parteifreund, der Oberbürgermeister von München, rennt mit einem Papier der Amerikaner herum, ist plötzlich auf der Seite der Amerikaner und übernimmt die amerikanische Position, die zu einem hohen Maß wirtschaftspolitisch bedingt ist. Das bestreitet auch niemand von den Amerikanern, wenn man mit ihnen unter vier oder sechs Augen spricht.
Ich muß ganz offen sagen: Wenn man die Frage diskutiert und die amerikanischen Argumente in die deutsche Diskussion mit einführt, dann muß man auch sagen, daß in den Vereinigten Staaten von Amerika Neutronenquellen auch in Zukunft mit hochangereichertem Uran betrieben werden und daß aller Voraussicht nach — so meine Informationen — Oak Ridge finanziell nur verwirklicht werden kann, wenn es mit hochangereichertem Uran gemacht wird.
Unsere Crux heute ist doch, Herr Glotz, daß wir so lange Verfahren haben, daß wir im Grunde genommen nach sechs, sieben oder acht Jahren der Diskussion am Ende sind und plötzlich ein völlig neues technisches Moment hier hereinbringen.
München ist eben auf hochangereichertes Uran ausgerichtet. Wenn Sie die Konzeption ändern, dann sagen Ihnen alle Verantwortlichen, daß dann der zeitliche Vorsprung, den wir haben, und damit auch ein enormer Standortvorteil im Grunde genommen zu Bruch gehen, weil wir nicht wissen, wann die neue Konzeption mit schwachangereichertem Uran — sollte sie überhaupt in dieser Weise umgesetzt werden können — eingeführt wird.
Ich bin es leid, immer zu hören — das ist vielleicht nicht das ganz richtige Beispiel wegen der Risiken insgesamt im Bereich der Atomwissenschaften —, wie jeder immer dieselben Themen in den Mund nimmt: schlanker Staat, Deregulierung, Abbau von Gesetzen, Abbau von Verfahrenshemmnissen. Wenn es aber konkret wird, wollen wir im Grunde genommen die Verfahren beliebig verlängern, nur um die eigene Meinung durchzusetzen.
Das wollte ich in diesem Zusammenhang sagen, um vielleicht auch zu einem vernünftigen Dialog über die Neutronenquelle in München zu kommen.
Der andere Punkt, den Sie ansprachen, ist so zu einfach dargestellt, Herr Glotz. Sie wissen ganz genau, wir haben natürlich unterschiedliche Länder von unterschiedlicher Finanzkraft und von unterschiedlicher Substanz — um mich vorsichtig auszudrücken. Die größeren Länder fühlen sich natürlich enorm in ihrer Entscheidungsmöglichkeit eingeengt, entsprechend eigener Konzeption Hochschulen zu errichten.
Aus der Sicht Bayerns, eines Landes mit 25 Hochschulen, darunter auch die größeren Hochschulen — in München beispielsweise gibt es über 100 000 Studentinnen und Studenten —, bräuchten wir bezüglich des Ausbaus, der Erneuerung usw. ein höheres Maß an Eigenständigkeit. Es sollte nicht so sein, daß wir durch die Enge des Wissenschaftsrats und aller Gremien, die damit verbunden sind, müssen, um eine vernünftige Regelung zu erreichen.
Man muß auch sehen: Es nützt gar nichts, wenn Sie hier sagen, man hätte in den Koalitionsverhandlungen 400 oder 500 Millionen DM mehr durchsetzen können. Koalitionsverhandlungen sind nun einmal keine Haushaltsverhandlungen. Ich muß natürlich auch die Gesamtsicht akzeptieren, muß berücksichtigen, was der Bund insgesamt an Verantwortung trägt. Da muß man die Frage stellen — ich tue das hier —, ob der Bund überhaupt, obwohl er andere Prioritäten setzen muß, in dieser Art weiterhin an der Hochschulfinanzierung beteiligt sein muß. Es muß erlaubt sein, das in Frage zu stellen. Ich stelle das nicht deshalb in Frage, weil der Bund jetzt nicht zahlen kann, sondern ich stelle das in Frage, weil das Wiederherstellen des Zustands vor der großen Verfassungsreform von 1969 vielleicht zu besseren Ergebnissen führt. Darüber muß man unvoreingenommen diskutieren.
Danke schön.
Zu diesem Themenbereich liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Dann kommen wir zu den Bereichen Wohnung, Bau, Verkehr und Post. Ich erteile als erstem dem Kollegen Achim Großmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht einfach, den Übergang von den Themen Bildung, Forschung und Zukunft zum Wohnungsbau zu finden. Vielleicht kann man es so formulieren: Es gibt eine menschen-
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Achim Großmannwürdige Zukunft für viele nur dann, wenn sie eine bezahlbare Wohnung finden.
Die christlich-liberale Koalition hat in den letzten Jahren einen erheblichen Reformstau verursacht. Jeder kennt die Auswirkungen: Es fehlen 2 Millionen bezahlbare Wohnungen, die Mieten sind explodiert, die Baulandspekulation blüht, es gibt Obdachlosigkeit, verheerende Obdachlosigkeit, sogar unter Kindern.
Viele können die Miete nicht mehr bezahlen, weil wir eine besonders schlimme paradoxe Situation haben: Je geringer das Einkommen ist, desto größer ist der Anteil der Miete am Gesamteinkommen.Im selbstgenutzten Wohneigentum hat die Bundesrepublik die rote Laterne in Europa: Es gibt nirgendwo weniger selbstgenutztes Wohneigentum als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Die Instrumente der Wohnungsbauförderung sind sozial ungerecht, wohnungspolitisch ineffizient und ökologisch blind. Die zentralen wohnungspolitischen Fragen sind von der Koalition in den letzten Jahren entweder verpennt, vertagt, zerredet oder in Kommissionen abgedrängt worden.
Anfang 1991, also vor rund vier Jahren, habe ich Ihnen zu Beginn der vorigen Legislaturperiode in einer ähnlichen Debatte folgendes gesagt; ich zitiere mich einmal selber, das ist ja ein schönes Ereignis.
— Hören Sie zu, Herr Kansy. Sie werden feststellen, daß ich fast prophetische Gaben gehabt habe.Ich habe damals gesagt:Dieses Fördersystem weist enorme Fehlentwicklungen in bezug auf Wirksamkeit, Stetigkeit, Neubauorientierung, Übersichtlichkeit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Komponenten auf. Es bedarf in der kommenden Legislaturperiode einer grundlegenden Überarbeitung und Umorientierung. Steigende Wohnungsnot und zunehmende Knappheit an öffentlichen Mitteln erzeugen einen Handlungsdruck, dem die Wohnungspolitik nicht wird ausweichen können. Der Umbau des wohnungspolitischen Instrumentariums erfordert einen breiten Konsens zwischen den Parteien, zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden und auch mit der Bau- und Wohnungswirtschaft und ihren Organisationen.Das war vor vier Jahren. Ich wiederhole dies, weil ich glaube, daß Sie, Herr Bauminister Töpfer, diese Sätze besser verstehen als Ihre Vorgängerin
Ich sage dies aber auch, um es auf den Punkt zubringen. In den letzten vier Jahren haben wir kaumein wohnungspolitisches Problem gelöst; die letztenvier Jahre waren völlig vertane Zeit für den Wohnungsbau.
Keines der drängenden Reformprojekte wurde angepackt, die Zusammenarbeit der Bauministerin mit den Ländern war katastrophal, und viele Organisationen — ich denke nur an den Mieterbund — sind von dieser Bauministerin systematisch vor den Kopf gestoßen worden.Herr Kansy ist ja nicht unklug und hat schon die ersten Signale ausgesendet, um das zu ändern, was in den letzten vier Jahren abgelaufen ist. Herr Kansy, es ist klar: Sie wollen uns in Ihr Boot ziehen. Das können Sie aber nur um den Preis einer wirklich guten und deutlich besseren Wohnungspolitik zugunsten der vielen Menschen, die keine Wohnung haben.
In Deutschland wurde das Ziel einer sozialorientierten Wohnungspolitik in den letzten Jahren weitgehend verfehlt. Zwar werden erfreulicherweise inzwischen wieder mehr neue Wohnungen gebaut. Nach wie vor haben wir aber akuten Wohnungsmangel und drückende Wohnungsnot. Die Miet- und Wohnkostenbelastungen überfordern vielfach die finanziellen Möglichkeiten von Haushalten, selbst bis in die mittleren Einkommensgruppen hinein. Die bestehende Wohnungsnot und tendenzielle Unbezahlbarkeit des Wohnens führt zu sozialer Ausgrenzung und stellt eines der größten Armutrisiken dar.Das könnte sozialdemokratischer Originalton sein; es ist aber ein wörtliches Zitat aus dem Kirchenpapier, das in dieser Woche veröffentlicht worden ist. Ich denke, es ist in bezug auf den Wohnungsmarkt eine verdammt zutreffende Analyse.
Sie haben den sozialen Wohnungsbau in den letzten zwölf Jahren schwer vernachlässigt. Es gibt kaum noch mietpreis- und belegungsgebundene Wohnungen; es sind weniger als 10 % in Westdeutschland; es werden jeden Tag weniger. Jedes Jahr nimmt das Defizit an Sozialwohnungen zu. Deshalb sage ich: Gehen Sie vorsichtig mit den wenigen Sozialwohnungen um! Versuchen Sie keine Reform im Bestand, die sich im Neubau noch gar nicht bewährt hat! Der klassische soziale Wohnungsbau mit langen Bindungen ist in einer bestimmten Größenordnung nach wie vor völlig unverzichtbar.
Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau. Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum, nicht weniger. Wir brauchen einen sozialen Wohnungsbau, der diesen Namen verdient, und keine Mogelpackungen.Eines will ich in diesem Zusammenhang deutlich sagen: Der Bund darf sich in dieser Frage nicht länger für nicht verantwortlich und nicht zuständig erklären oder sich gar zurücklehnen, wenn es um die Fragen der Obdachlosigkeit und der zunehmenden Woh-
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Achim Großmannnungsnotfälle geht. Lassen Sie uns endlich ein Programm auflegen, das diese verheerende und zunehmende Obdachlosigkeit und Wohnungsnot abbaut! Sonst werden wir große Schwierigkeiten bekommen, auch hinsichtlich des gesamten demokratischen Gefüges unseres Staates.
Meine Damen und Herren, schauen wir uns die wohlfeilen, wolkigen, teilweise schwammigen Formulierungen der Koalitionsvereinbarung einmal näher an.Vier Ziele sind dort formuliert. Zunächst, heißt es, sollen Rahmenbedingungen für eine Verstetigung des Wohnungsbaus geschaffen werden. Die Worte hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. In den letzten zwölf Jahren haben wir es geradezu mit einer Berg- und Talfahrt in der Wohnungspolitik zu tun gehabt, von Stetigkeit keine Spur. Ständig wurde an den finanziellen Ressourcen für den Wohnungsbau herummanipuliert. In den 80er Jahren wurde sehr viel Geld aus dem sozialen Wohnungsbau herausgezogen. Es wurden an den Instrumenten Manipulationen vorgenommen, ohne großen Hintersinn; es wurde keine durchgehende Reform durchgeführt. Sie haben jetzt wiederum beschlossen, daß die Mittel im sozialen Wohnungsbau in den nächsten Jahren um 30 gekürzt werden sollen. Da sprechen Sie von Stetigkeit. Fast 5 Milliarden DM, so allein die Beschlüsse der letzten Monate, wollen Sie dem Wohnungsbau in den nächsten Jahren entziehen. 700 Millionen DM weniger stehen für den sozialen Wohnungsbau in den Ballungsgebieten zur Verfügung. Rund 1,5 Milliarden DM sind in den Kassen von Herrn Waigel gelandet, weil die Mittel für die Bestandsförderung beim Eigentum halbiert wurden. Sie sind also nicht in den Wohnungsbau zurückgeflossen, sondern zur Dekkung von Löchern im Etat verwendet worden. 650 Millionen DM hat Herr Waigel einkassiert, weil es eine steuerliche Begrenzung bei der Förderung von Modernisierung und Instandsetzung gibt. Das Fördergebietsgesetz für Ostdeutschland läuft aus. Das macht ungefähr 1 Milliarde DM. Die Regelungen zum Schuldzinsenabzug beim selbstgenutzten Wohneigentum laufen ebenfalls aus; das macht auch ungefähr 1 Milliarde DM.
Das heißt, Sie nehmen dem Wohnungsbau, obwohl Sie für Stetigkeit sorgen wollen, in den nächsten Jahren Jahr für Jahr 5 Milliarden DM weg. Wie wollen Sie da den Leuten draußen erklären, daß Sie für Stetigkeit stehen?
Zweites Ziel: Sie wollen die Wohneigentumsförderung insbesondere für Familien mit Kindern verstärken. Meine Damen und Herren, da muß man wirklich dreimal schlucken. Seit acht Jahren haben wir hier ständig Gesetze und Anträge eingebracht, um dieses Ziel zu erreichen. Sie haben sie alle abgeschmettert. Sie wissen sehr genau, daß die derzeitige Wohneigentumsförderung sozial ungerecht, wohnungspolitischvöllig ineffizient ist und daß die Kinderkomponente „Baukindergeld" diesen Namen gar nicht verdient.
Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erklären. Zwei Familien, — nehmen wir an, beide haben zwei Kinder — bauen nebeneinander das gleiche Haus. Es kostet das gleiche Geld. Der eine ist vielleicht Gebietsdirektor einer Sparkasse und hat ein Einkommen von 200 000 DM pro Jahr. Er bekommt mit dem § 10e, mit dem Baukindergeld und mit dem Schuldzinsenabzug, der ja noch läuft, zur Zeit 115 000 DM Förderung vom Staat in acht Jahren.
— Im Moment 115 000 DM für acht Jahre.
— Der Großverdiener in acht Jahren.Sein Nachbar, der das gleiche Haus mit den gleichen Kosten baut, auch mit zwei Kindern, hat es leider nicht so weit gebracht. Er ist kleiner Angestellter, und seine Frau arbeitet noch mit, damit sie sich überhaupt das Häuschen leisten können. Sie verdienen 70 000 DM im Jahr. Sie bekommen für das gleiche Haus unter diesen steuerlichen Voraussetzungen, die wir jetzt haben, 60 000 DM Förderung, also nur etwa die Hälfte. So ist das derzeitige System.
— Fast das Doppelte.Schauen wir uns einmal das Baukindergeld an. Eine Familie mit fünf Kindern muß 95 000 DM im Jahr verdienen, um das Baukindergeld überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Das ist die derzeitige Kinderkomponente. Das müssen wir ändern.
Die Ungerechtigkeiten gehen noch weiter. In Ostdeutschland ist es so, daß viele Menschen, weil der § 10 e, der Häuslebauer-Paragraph über die Steuerprogression läuft, diese steuerliche Förderung gar nicht in Anspruch nehmen können, weil ihr Einkommen nicht reicht. Bei der erzwungenen, teilweise unter Druck aufgezwungenen Privatisierung sieht das so aus, daß der eine, der noch Arbeit hat, der noch im Berufsleben steht, den § 10 e bei der Privatisierung in Anspruch nehmen kann, sein Nachbar, der vielleicht mit 55 Jahren frühverrentet worden ist, von dieser steuerlichen Förderung aber überhaupt nichts hat.Das heißt, die Instrumente sind völlig unzulänglich, sie sind sozial völlig ungerecht. Deshalb müssen sie nicht nur auf den Prüfstand, sondern dringend, sofort geändert werden. Das Signal ist da. Lassen Sie uns an die Arbeit gehen!
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Achim GroßmannDas dritte Ziel, das Sie formulieren, heißt, kostensparendes Bauen zu fördern.
— Es ist ja schön, daß Sie zugeben, daß wir recht haben. Aber dann kommen Sie doch endlich mal über, und machen Sie mit uns die notwendigen Gesetze dazu!
Das dritte Ziel, das Sie formulieren, heißt, kostensparendes Bauen zu fördern. Auch da laufen Sie, meine Damen und Herren, der Entwicklung hinterher. Genausogut könnten Sie beschließen, das Rad neu zu erfinden. Es gibt landauf, landab Pilotprojekte und gute Beispiele für kostensparendes Bauen. Und was schreiben Sie in Ihre Koalitionsvereinbarungen? Man wolle Pilotprojekte und eine offensive Öffentlichkeitsarbeit durchführen. Ärmlicher haben Sie es wohl nicht?
Schaffen Sie doch endlich einmal die Instrumente, die wir brauchen, um das durchzusetzen!
Wir wollen nicht länger darüber reden, daß es gut wäre, kostengünstig zu bauen; wir wollen es umsetzen. Dazu brauchen wir Obergrenzen bei der Förderung im sozialen Wohnungsbau.
— Ja, das haben Sie alles bei uns abgeschrieben. Dazu brauchen wir steuerliche Förderungsmöglichkeiten zur Durchsetzung von Typenhäusern auch beim Eigenheimbau. Es muß deutlich ein Marktsegment für Häuser geschaffen werden, die sich ein Normalverbraucher leisten kann. Dazu brauchen wir auch veränderte Baulandstrategien, um die planlose Zerfaserung von Mittelstädten und die damit verbundene Zunahme des Individualverkehrs zu verhindern.Das vierte Ziel schließlich ist, so die Koalitionsvereinbarungen, die Effizienz und soziale Treffsicherheit der wohnungspolitischen Instrumente zu verbessern. Auch da, meine Damen und Herren, hören wir die Worte, allein uns fehlt der Glaube. Ich habe es eben schon angesprochen. Seit Jahren versuchen wir, diese wohnungspolitischen Instrumente zu ändern, sind aber immer an Ihrem Widerstand gescheitert. Sie haben die alleinige Verantwortung dafür, daß wir wiederum mehrere Jahre dadurch verloren haben, daß die Bauministerin gleich mehrere Expertenkommissionen beauftragt hat, das zu prüfen — übrigens nicht nur sie alleine, auch der Finanzminister. Sicherlich werden wir uns die Gutachten genau angucken. Einiges wird bedenkenswert sein. Anderes gehört sicherlich wegen Wirklichkeitsfremdheit in den Papierkorb. Schlimmer noch: Unser Auftrag, die ökonomischen Wirkungen der Wohnungsbauinstrumente — das ist das, was wir wirklich wissen wollten — zu analysieren, ist nicht erfüllt worden.Aber die Ergebnisse dieser Gutachten zeigen, daß wir auf diese Expertenkommission nicht hätten zu warten brauchen: zwei Experten, drei Meinungen. Die Expertenkommission Wohnungsbau schlägt vor, man solle es doch bitte beim Schuldzinsenabzug für das selbstgenutzte Wohneigentum belassen. Die Bareis-Kommission beim Finanzminister sieht das anders. Herr Bareis sagt dazu in einem „Spiegel"Interview:Wenn der Staat den Wohnungsbau fördern will, soll er es offen, z. B. über Zulagen, machen, aber nicht über Einkommensteuernachlässe. Das Teuflische an solchen staatlichen Lenkungsmaßnahmen im Einkommensteuerrecht ist nämlich, daß derjenige, der am wenigsten förderungsfähig ist, das meiste bekommt. Je höher das zu versteuernde Einkommen, desto größer der Effekt des steuerlichen Abzugs.Klar, das wissen wir. Das ist nicht neu. Das haben wir seit acht Jahren gesagt. Jetzt wird es endlich Zeit, daß wir an die Arbeit gehen.
Auch Expertenkommissionen ersetzen also nicht das politische Handeln. Das jahrelange Verschieben der Reform der Wohnungsbauförderinstrumente ist jedenfalls zum Schaden unseres Staats. Sie tragen dafür Verantwortung. Sie haben finanzielle Ressourcen in großem Ausmaß verschwendet.Ich will das an einem Beispiel erklären, nämlich am Beispiel des frei-finanzierten Mietwohnungsbaus. Das heutige System ist völlig absurd und falsch. Was passiert? Dieses System führt dazu, daß permanent zu teurer Wohnraum produziert wird. Das liegt an verschiedenen Faktoren.
Die Architekten bauen natürlich gerne teuer, weil das zu höheren Gebühren über die HOAI führt. Sie sollen auch teuer bauen, weil der Investor sagt: Baut mal schön teuer, denn ich will das Haus ja verkaufen. Dann kriege ich eine höhere Provision.Sie können das auch verkaufen, weil der Käufer natürlich daran interessiert ist, möglichst teuer zu kaufen, weil er dann möglichst viel beim Finanzamt abschreiben kann. Das Ganze ist ökologisch völlig blind, denn ob jemand für eine Million DM drei Mietwohnungen baut oder ein Penthouse — er kriegt dasselbe Geld vom Staat. Er hat dieselben steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten. Der Staat schaut nicht nach dem Flächenverbrauch. Er schaut nicht nach den ökologischen Rahmenbedingungen. Das System muß dringend geändert werden.
Meine Damen und Herren, es gibt etwas, das mir wirklich sehr weh tut, wenn ich die Koalitionsvereinbarung lese. Sie finden kaum Worte zu Ostdeutschland. Völlig enttäuschend für uns — besonders aber für die Menschen in den neuen Bundesländern — ist Ihre völlige Sprachlosigkeit zum AltschuldenhilfeGesetz. Kein Wort steht dazu in den Koalitionsverein-
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Achim Großmannbarungen. Es gibt kein Wort zu dem dringenden Korrekturbedarf dieses Gesetzes.Die SPD wird diese Sprachlosigkeit beenden. Wir haben dazu einen Gesetzentwurf eingebracht, der — kurz zusammengefaßt — erreichen will, daß die progressive Erlösabführung, die auch ökonomisch keinen Sinn macht, weil sie nur in die Preise geht, abgeschafft wird, daß die Wohnungsgenossenschaften in Zukunft nur noch an ihre Genossenschaftsmitglieder veräußern sollen, daß die Ausgründung von Genossenschaften aus kommunalen Wohnungsgesellschaften und aus großen Genossenschaften möglich ist und als Privatisierung anerkannt wird und daß man Härtefälle berücksichtigt, d. h., daß es bei bestimmten Härtefällen möglich sein muß, daß die 15- %-Hürde im Zusammenhang mit Zwangsprivatisierung unterschritten werden darf. Das werden wir — da bin ich ziemlich sicher — durchsetzen, weil das nämlich in allen Koalitionsvereinbarungen — auch der Regierungen, die sich nach den Landtagswahlen in den neuen Bundesländern gebildet haben — steht.
Völlig unzureichend ist auch der lapidare Hinweis auf den Übergang in das Vergleichsmietensystem im Laufe des Jahres 1995. Es ist unverantwortlich, ohne einen entsprechenden zeitlichen Vorlauf und ohne die dringend notwendige Einbeziehung der Mieterverbände, der Wohnungswirtschaft und der betroffenen Länder, Städte und Gemeinden sicherzustellen, also quasi im Hauruckverfahren über Nacht den Mieterinnen und Mietern ein System über den Kopf zu stülpen, das zu gravierenden Konsequenzen führen kann.Seit Monaten fordern wir die Bundesregierung auf, endlich ein konkretes Konzept auf den Tisch zu legen, damit wir in aller Öffentlichkeit und auch in aller Ruhe über diesen wichtigen Schritt reden können. Hier geht es darum, daß wir im Dialog Ängste abbauen und Vertrauen aufbauen.Meine Damen und Herren, wir dürfen uns die handwerklichen Fehler, die in der Vergangenheit unter der Federführung einer Bauministerin passiert sind, nicht länger leisten. Wir müssen diese schwerwiegenden Eingriffe in das Leben vieler Mieterinnen und Mieter in Ostdeutschland besser vorbereiten. Wir müssen mit ihnen darüber diskutieren. Wir müssen Vertrauen dafür schaffen, daß diese Maßnahme sozial und gerecht abgefedert durchgeführt werden kann.
Das versäumen Sie, wenn Sie nach wie vor mit konkreten Vorschlägen hinterm Berg halten.
Herr Kollege Großmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kansy? — Bitte, Herr Kollege Kansy.
Herr Kollege Großmann, bei den entsprechenden politischen Konstellationen in diesem Land zwingt uns die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern zur Zusammenarbeit. Warum sprechen Sie im Zusammenhang mit Ostdeutschland nur von einer Ministerin, wenn doch der sogenannte Magdeburger Kompromiß von allen ostdeutschen Ministerpräsidenten quergeschrieben worden ist? Sie kennen dieses Papier, auf dem sechs Unterschriften stehen, nämlich die der ehemaligen Bundesbauministerin sowie die aller ostdeutschen Ministerpräsidenten.
Beschränken Sie sich deshalb bei dem, was Ostdeutschland und die neuen Bundesländer betrifft, nicht auf Schuldzuweisungen, sondern versuchen Sie, einen neuen Anfang in der Verantwortung für beide Teile Deutschlands zu machen!
Ich akzeptiere dies als Frage. Ich habe angedeutet, daß es in der Vergangenheit handwerkliche Mängel gab. Das wissen Sie auch. Teilweise haben wir schwierige gesetzgeberische Vorhaben im Hauruckverfahren durchführen müssen. Dies ging bis hin zum Wohngeldsondergesetz Ost kurz vor der Bundestagswahl.
Dies waren Nacht-und-Nebel-Aktionen, obwohl wir frühzeitig Anträge eingebracht haben und dies hätten früher regeln können. Ich gebe nur den Hinweis — ich hoffe, er kommt an —, dies in Zukunft nicht mehr zu tun.Gerade beim Übergang zum Vergleichsmietensystem ist es besonders schwierig und notwendig, diesen Prozeß mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam durchzuführen, sie zu informieren und eine soziale Begrenzung zu erreichen, so daß es zu keiner Mietenexplosion kommt. Darum geht es mir.
Auch bei der Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums und des frei finanzierten Mietwohnungsbaus in den neuen Bundesländern müssen wir neue kreative Lösungen finden. Das Fördergebietsgesetz läuft aus, aber die Anstrengungen bei der Instandsetzung und Modernisierung sind noch nicht abgeschlossen.Meine Damen und Herren, zu drei aus meiner Sicht sehr wichtigen Teilen fehlt in der Koalitionsvereinbarung jedes Wort. Es gibt keinen Satz zum Baugesetzbuch. Wir müssen das Baugesetzbuch aber novellieren. Es gibt keinen Satz zur Städtebauförderung West und schließlich keinen Hinweis auf die Notwendigkeit einer stärkeren ökologischen Ausrichtung der Wohnungsbauförderung.Sie wissen, daß wir neben dem Baugesetzbuch ein Maßnahmengesetz haben. Es gibt befristete Maßnahmen, die 1997 auslaufen. Auch das Baugesetzbuch selbst enthält befristete Maßnahmen. Wir müssen also das Baugesetzbuch novellieren. Dies ist eine ganz wichtige Aufgabe. Wir müssen dies übersichtlich gestalten. Es geht nicht nur darum, sich zu überlegen, wie es mit dem städtebaulichen Vertrag oder mit dem Vorhaben- und Erschließungsplan weitergeht. Es geht auch um eine Regelung betreffend Schichtenbaupläne. Es geht vor allen Dingen darum — das werden wir als SPD auch in das Gesetz einbringen —,
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288 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Achim Großmannden Städten endlich wirkungsvolle Instrumente zur Baulandmobilisierung an die Hand zu geben.Der gesamte Bereich der flankierenden steuerlichen Maßnahmen zur Baulandmobilisierung ist nicht geregelt, weil Sie in den letzten vier Jahren gekniffen haben, als es um diese Fragen ging. Die Städte und Gemeinden brauchen das zonierte gemeindliche Satzungsrecht für baureife Grundstücke. Die Gemeinden brauchen ein preislimitiertes Vorkaufsrecht; sonst können sie die Baulandfrage nicht klären. Dazu gibt es kein Wort.
Es gibt auch kein Wort zur Städtebauförderung West. Sie wissen alle, daß sich viele Städte und Gemeinden im strukturellen Wandel befinden. Die Städtebauförderung Ost ist geregelt. Die Städtebauförderung West ist nicht geregelt. Es gibt dafür lapidare 80 Millionen DM. Dies reicht bei weitem nicht aus, aber das wissen Sie. Wenn in einer Stadt die im Zentrum liegende Zeche geschlossen wird oder wir militärische Konversion betreiben müssen, d. h. in den Städten Kasernen- und Übungsgelände umwidmen, städtebaulich erschließen wollen, brauchen wir Städtebaufördermittel für Westdeutschland. Dazu gibt es kein Wort in Ihrer Koalitionsvereinbarung. Ich halte dies für verheerend, denn dabei geht es auch um sehr viele Arbeitsplätze. 1 DM staatlicher Fördermittel zieht bis zu 7 DM privates Kapital nach sich. Zudem gibt es neue Arbeitsplätze. Ich würde mich daher freuen, von Ihnen etwas dazu zu hören.Bemerkenswert ist, daß Sie einige Vorschläge der SPD aufgegriffen haben: Reform des § 10e EStG, Verbesserung der Förderung des genossenschaftlichen Wohneigentums. Endlich ist auch die Novellierung des Wohngeldgesetzes angekündigt.Ich kann Ihnen nur sagen: Mit den mageren Worthülsen aus der Koalitionsvereinbarung allein werden Sie die vielfältigen Probleme nicht lösen können. Mein Vorschlag: Legen Sie dieses Papier schnell zur Seite, und machen Sie sich mit uns gemeinsam an die Arbeit! Die SPD wird im Bundestag und im Bundesrat für ihre Positionen kämpfen, weil wir die besseren Lösungen haben. Wir stehen für gute Lösungen, wir stehen für gute Kompromisse. Wir stehen nicht für faule Kompromisse und nicht für Mogelpackungen.
Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum. Der soziale Wohnungsbau — über Reformen lassen wir mit uns reden — ist kein Auslaufmodell; im Gegenteil: Er ist weiterhin eine der tragenden Säulen des Wohnungsbaus.Wir brauchen eine sozial gerechte, wohnungspolitisch effiziente und kinderfreundliche Regelung zur Schaffung von mehr Wohneigentum. Wir brauchen eine Änderung der steuerlichen Förderung beim frei finanzierten Mietwohnungsbau. Wir brauchen dort mehr Effizienz und Treffsicherheit.Wir brauchen eine intensive Beschäftigung mit den Problemen der neuen Bundesländer. Dazu gehört der Wille, nachzuarbeiten und Gesetze zu novellieren.Wir brauchen ein neues Wohngeldrecht.Die Städtebauförderung in Westdeutschland muß finanziell deutlich besser ausgestattet werden. Die Kriterien für die Bewilligung der Städtebaumittel müssen überarbeitet werden.Bei der Baulandausweisung müssen wir den Städten und Gemeinden bessere Instrumente an die Hand geben.Schließlich müssen wir den neuen ökologischen Rahmenbedingungen, die beim Wohnungs- und Städtebau notwendig sind, einen deutlich größeren Stellenwert geben.Ob die bisher in der Wohnungspolitik so zerstrittene Koalition mit ihren äußerst schmalen Mehrheiten zu einer derartigen Gewaltanstrengung in der Lage ist, bleibt abzuwarten. Wir Sozialdemokraten jedenfalls kämpfen darum, daß die Menschen in unserem Land wieder bezahlbaren Wohnraum finden, daß sie sagen können: Wir können uns eine Wohnung leisten, die unseren Einkommensverhältnissen entspricht.Vielen Dank.
Frau Kollegin Hannelore Rönsch, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Familienministerin hat gestern eine bemerkenswerte Rede zu einer zukunftsorientierten Familienpolitik gehalten.
Ich bin sehr dankbar, daß auch die Wohnungspolitik in Ihrer Rede, Frau Nolte, einen zentralen Punkt eingenommen hat. Familie muß lebbar sein, und wir brauchen bezahlbaren, kindgerechten Wohnraum und auch ein entsprechendes Wohnumfeld. Dies haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich gemacht und auch die Politik entsprechend eingerichtet.
Ich freue mich, lieber Herr Großmann, daß wir auch in Zukunft wieder in der Wohnungspolitik die Klingen kreuzen können. Gleichzeitig denke ich, daß wir aber trotzdem das eine oder andere gemeinsam in aller Vernunft regeln werden.Es erstaunt mich dann allerdings doch, wenn Sie jetzt sagen, daß der soziale Wohnungsbau in den letzten zwölf Jahren vernachlässigt wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, waren wir mindestens vier Jahre gemeinsam im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. In der Zeit davor dürfte Ihnen auch nicht verborgen geblieben sein, daß es Ihre Fraktion war, die immer wieder gefordert hat, man möge doch das Bauministerium und den Bauminister abschaffen. Das war etwa 1985/1986.
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Hannelore Rönsch
— Herr Reschke, Sie waren doch unter denen, die das gefordert haben.
— Nein, Sie haben „abschaffen" gefordert.Dann kam der Skandal um die „Neue Heimat", und da hatte die Wohnungspolitik eine neue große und schlimme Aktualität für die Mieter in unserem Lande.
Wir mußten die Mieter vor einem gewerkschaftseigenen Unternehmen schützen.
Diesen Mieterschutz werden wir auch in der Zukunft weiter ausbauen.
— Herr Reschke, Sie waren doch dabei.
Frau Kollegin, gestatten Sie?
Aber gern.
Frau Rönsch, welcher Schutz der Mieterinnen und Mieter war es denn, als zum 1. Januar 1990 die Gemeinnützigkeit aufgehoben worden ist?
Wir haben Mieter immer geschützt, und wir werden es auch in Zukunft tun.
Wir haben von 1991 bis heute 1,7 Millionen Wohnungen fertiggestellt.
Der beste Schutz für Mieter ist ein entsprechendes Angebot auf dem Wohnungsmarkt. Dies werden wir auch in der Zukunft tun. Momentan wird jede Minute eine Wohnung fertiggestellt. Ende 1994 werden wir 550 000 Wohnungen fertiggestellt haben.
Wir werden im nächsten Jahr mit Sicherheit ein noch größeres Angebot der neuen Wohnungen erreichen, weil in den neuen Bundesländern die Zahl der Fertigstellungen noch einmal deutlich zunimmt.
Ich gestehe Ihnen durchaus ein, daß wir die Wohnungsbaufördermittel 1994 und auch 1995 reduzieren.
Frau Kollegin, es gibt ein weiteres Fragebegehren.
Aber gern.
Frau Rönsch, wissen Sie, wie viele von diesen neu fertiggestellten Wohnungen leer stehen, weil sie unbezahlbare Mieten haben?
Wissen Sie, wie hoch die Mieten dieser neu fertiggestellten Wohnungen sind und wie viele Menschen in diesem Land diese Wohnungen überhaupt anmieten können?
Sie kennen sicher das Wohngeldgesetz, das Instrument des Wohngeldes, das für Mieter greift.
Ich komme aus dem Rhein-Main-Ballungszentrum und muß erleben, daß Wohnungen leer stehen, daß sie von Mietern im sozialen Wohnungsbau nicht angenommen werden, weil z. B. eine Straße vorbeiführt,
Wohnungen, in denen bis vor einem Jahr z. B. Amerikaner gewohnt haben. Ich denke, daß man sich bei Knappheit auf dem Wohnungsmarkt auch hier einmal umschauen muß.
Wir werden weiterhin die Fertigstellungszahlen erhöhen und damit die Angebote für die Mieter auf dem Wohnungsmarkt ausweiten. Denn das Beste für eine Familie ist, daß sie zwischen mehreren Angeboten auswählen kann.
Ich gestehe Ihnen durchaus ein, daß es in Ballungszentren absolute Probleme gibt. Aber wo liegen die? Hier weisen Kommunen, meistens sozialdemokratisch geführt, große Gewerbeflächen aus. Aber wenn es um das Wohnbauland geht, versagen die Städte und Gemeinden. Das Bauland wird nicht entsprechend ausgewiesen.
Hier müssen wir nacharbeiten und die Kommunen in die Pflicht nehmen.
Frau Kollegin Rönsch, die Kollegin möchte eine weitere Frage stellen.
Wir haben vier Jahre Zeit, Frau Kollegin. Ich nehme an, Sie kommen in den Raumordnungsausschuß. Wir können uns dort gerne über diese Thematik unterhalten. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie in der Wohnungspolitik zugunsten der Familien konstruktiv mitarbeiten würden.
Der Kollege Dr. Weng wollte auch eine Frage stellen.
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Frau Kollegin Rönsch, Sie hatten sie fast schon beantwortet. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir in der Auffassung zustimmen, daß die beklagten hohen Mietpreise ganz wesentlich von den hohen Grundstückspreisen abhängen und diese hohen Grundstückspreise in vielen Bereichen der Kommunen daran hängen, daß wegen grüner Blockade nicht in notwendigem Umfang Bauland ausgewiesen wird.
Herr Dr. Weng, ich kann Ihnen nur voll beipflichten. Auch hier müssen wir in der Gesetzgebung Änderungen vornehmen, damit endlich diese Blockadepolitik aufhört, die auf dem Rücken der Mieter ausgetragen wird.
Wie ist denn die Wohnungspolitik in den Ballungszentren? Dort gibt es immer mehr junge Singles, die in zukunftsorientierten Berufen arbeiten, z. B. im RheinMain-Zentrum, und die natürlich die hohen Wohnungsmieten bezahlen können. Sie nehmen eine Altbauwohnung, eine traditionelle Wohnung für eine Familie, sanieren diese und haben 100 m2 oder 120m2 Wohnfläche. Dadurch wird eine Familie verdrängt.
Deshalb müssen wir mit den Gewerbeflächen auch das entsprechende Wohnbauland ausweisen.
Denn das Problem ist, daß sich die Kommunen aus der Verpflichtung herausgenommen haben. Kommunen sind für die Baulandausweisung zuständig. Aber, meine Damen und Herren von der SPD, Sie tun so, als wäre nur der Bund für die finanzielle Förderung des sozialen Wohnungsbaus verantwortlich. Das sind aber in erster Linie die Bundesländer. Was passiert denn da?
- „Das tun sie auch". Na, das ist ja fantastisch. Da hätten Sie gestern einmal Ihren Ministerpräsidenten aus Niedersachsen fragen sollen. Er hat die Mittel für die Wohnungsbauförderung in seinem Bundesland um 50 % reduziert. Es ist ein Skandal, was hier passiert.
Deshalb möchte ich Sie an dieser Stelle doch wirklich bitten, daß Sie diejenigen in die Verantwortung nehmen und daß Sie diejenigen heranziehen, die tatsächlich einen Stau im sozialen Wohnungsbau verursachen.
— Keine weiteren Zwischenfragen mehr!
In meinem Bundesland, Hessen, meistens Spitzenreiter, wenn es um Negatives in der Politik geht, hier nur an zweiter Stelle, werden die Mittel um 38 % gekürzt. Ich muß Ihnen sagen, daß ich es deshalb schon ein bißchen merkwürdig gefunden habe, als Sie heute morgen hier mit relativ viel Radau den Wohnungsbau fördern wollten. Tun Sie dort etwas, wo Sie die Möglichkeiten haben!
— Nordrhein-Westfalen ist natürlich ein größeres Flächenland. Aber, Frau Matthäus-Maier, wir werden uns dann doch einmal darüber unterhalten — —
Einen Moment, Frau Kollegin! — Es gibt Situationen, in denen ich mir wirklich wünsche, daß es nicht nur eine Bonner Redner-, sondern auch eine Bonner Zuhörerschule gäbe.
Es muß doch möglich sein, daß die Rednerin zumindest verstanden wird. Zurufe sind in Ordnung, aber Chöre von Zurufen sind nicht in Ordnung.
Herr Präsident, ich bin Ihnen für diese Unterstützung herzlich dankbar. Ich verstehe es schon, daß es die Sozialdemokraten tief im Innern trifft,
wenn sie Sozialpolitik einfordern und nachgewiesen bekommen, daß ihre eigenen Ministerpräsidenten diese von uns, vom Bund, eingeforderte Sozialpolitik nicht erbringen.
Machen Sie Ihre Hausaufgaben, dann dürfen Sie auch hier wieder laut sein.Wir wollen den Wunsch von Familien, besonders mit kleinen Kindern, auf Eigentum unterstützen. Daß dieser Wunsch sehr zentral vorhanden ist, merkt man, weil die Zahl der Bausparverträge jährlich ansteigt. Das Ziel der Familien ist ein eigenes Heim, und sie sollen ihren Bausparvertrag auch umsetzen können.Ich denke, daß wir eine besondere Verpflichtung haben, den Eigentumsgedanken dieser Familien finanziell umzusetzen.
Wir müssen ihnen frühzeitig helfen. Wir werden sie auch finanziell, steuerlich unterstützen müssen. Wir haben hierzu einige Grundsätze in der Wohnungspolitik formuliert, Herr Reschke, die ich Ihnen vortragen werde. Wenn Sie die Koalitionsvereinbarung gelesen haben, wird Ihnen jetzt auch vieles bekannt vorkommen. Ich muß sagen: In dem, was Herr Großmann hier vorgetragen hat, findet sich vieles, was auch in der Koalitionsvereinbarung steht. Ich denke, wenn wir Familien tatsächlich zu mehr Eigentum und zu mehr
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Hannelore Rönsch
Wohnraum verhelfen wollen, dann sollten wir in der Zukunft an dieser Stelle versuchen, noch mehr Gemeinsamkeit zu entwickeln.Der erste unserer Grundsätze in der sozialen Wohnungspolitik für die nächsten Jahre ist das Festhalten am sozialen Wohnungsbau. Es ist mit Sicherheit eine grundlegende Reform zwingend erforderlich. Aber die bisher auf den Weg gebrachten Maßnahmen der individuellen Förderung müssen auch auf den sozialen Wohnungsbestand übertragen werden.Ich denke, daß es insbesondere auch eines Ausstiegs aus dem ersten Förderweg der Kostenmietbindung bedarf. Wir, Bund und Länder, werden in Zukunft relativ wenig Spielraum bei der weiteren Förderung des sozialen Wohnungsbaus haben. Sie sind herzlich eingeladen, mit uns eine einvernehmliche Lösung zu finden.Ein zweiter Grundsatz ist die Reform der Wohnungseigentumsförderung. Der geltende Zustand der Wohnungseigentumsförderung ist mit Sicherheit — das geht uns allen so — nur noch für Steuerexperten durchschaubar. Im Rahmen dieser Reform sollten wir eine Vereinfachung des Steuerrechts und eine Konzentration auf Familien mit Kindern vornehmen.Zur Frage der steuerlichen Neuregelung sind schon Vorschläge gemacht worden. Aber auch hier müssen wir in der Zukunft noch intensiv erörtern. Es muß erreicht werden, daß auch einkommensschwache Familien mit größerer Kinderzahl steuerliche Wohnungsbauförderung nutzen können. Ich lege ganz besonderen Wert auf den Selbsthilfegedanken: Gerade auch Familienväter und Familienmütter mit Kindern müssen eine Eigentumsmaßnahme in Selbsthilfe ausbauen können.
Wir müssen drittens günstiges Bauen ermöglichen. Wir wollen dazu beitragen, daß die Wohnungsbaukosten nicht weiter steigen. Ich habe diesen Gedanken, Herr Großmann, auch bei Ihnen gehört. Nun ist dieser Gedanke ja nicht neu. Wir haben schon in der Vergangenheit über kosten- und flächensparendes Bauen gesprochen. Ich glaube nur, wir müssen hier noch konkreter werden. Mit einer Kostensenkungs- und Wohnungsbaulandinitiative wollen wir die Baukosten weiter reduzieren.
Darüber hinaus soll bei allen am Bau Beteiligten ein größeres Kostenbewußtsein geweckt werden.Angesichts der Situation in den Nachbarstaaten kann ich nicht einsehen, warum in der Bundesrepublik Deutschland am teuersten gebaut werden muß. Man braucht nur über die Grenze nach Holland zu gehen. Schon nach fünf Metern sieht man, wie, zum Teil auch in Selbsthilfe, hervorragende Einfamilienhäuser gebaut werden, und zwar ökologisch verträglich, kosten- und flächensparend. Familien haben dort hervorragenden Wohnraum.
Das, so meine ich, müssen auch wir in Zukunft wesentlich stärker betreiben.Wir müssen viertens das Mietrecht durchsichtiger gestalten. Bezüglich der Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau wünsche ich mir ein verständlicheres, klareres Mietrecht als bisher. Eine Vereinfachung sollte den Mietern und Vermietern auch mehr Gewißheit hinsichtlich ihrer eigenen rechtlichen Position verschaffen. Eine weitere Belastung der Rechtstellung der Vermieter werden wir in der Koalition mit Sicherheit nicht zulassen, denn mittlerweile haben wir alle rechtlichen Möglichkeiten des Mieterrechtsschutzes ausgeschöpft.
Gleichzeitig, meine Damen und Herren von der F.D.P., werden wir uns aber auch allen Versuchen widersetzen, den Mieterrechtsschutz an irgendeiner Stelle abzubauen.
In den neuen Bundesländern soll bis spätestens Ende 1995 der Übergang ins Vergleichsmietensystem erreicht werden. Dies haben Bund und Länder einvernehmlich 1992 beschlossen. Eine Übernahme des Mietenniveaus aus den alten Bundesländern wird dadurch ausgeschlossen, daß wir in diesem Rahmen zugleich die dringend erforderliche Reform des Wohngeldrechts durchsetzen. Ich hoffe, daß wir an dieser Stelle ohne eine Übergangsregelung auskommen werden. Die Einführung der Subjektförderung erfordert dann aber auch die regelmäßige Anpassung des Wohngeldes an die Miet- und Einkommensentwicklung. Dazu ist unbedingt eine weitere Wohngeldnovelle erforderlich.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Post und Telekommunikation ist ein weiteres Gebiet, auf dem zukunftsorientiert gearbeitet werden muß und wo bereits zukunftsorientierte Politik geleistet wurde. Gerade die Liberalisierung auf dem Kommunikationsmarkt ist dabei von vorrangiger Bedeutung. Wir unterstützen alle Maßnahmen, die einen schrittweisen Abbau der Monopole und damit ein Stück mehr Marktwirtschaft verwirklichen.
Die privaten Kommunikationsunternehmen im Ausland stehen bereits vor der Tür. Sie wollen unseren Monopolisten natürlich Marktanteile abnehmen, und sie bieten ihre eigenen Dienstleistungen an.Wenn es nach Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, ginge, dann würde diese Liberalisierung sehr, sehr langsam voranschreiten. Das hätte natürlich den großen Nachteil, daß bei uns Arbeitsplätze abgebaut und diese Arbeitsplätze dann unmittelbar in den europäischen Nachbarländern angesiedelt würden. Ich denke, wir müssen unsere Wirtschaft und damit unsere Arbeitsplätze sichern. Wir müssen hier unterstützend tätig werden. Unsere Wirtschaft ist gerade in diesem Bereich bereit, Milliardenbeträge in die Telekommunikation zu investieren. Wir sollten ihr dazu eine Chance geben.Wichtigstes Ziel ist, die Postreform II konsequent umzusetzen und die Privatisierung politisch zu begleiten. Ich glaube, daß wir eine sehr große politische
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Hannelore Rönsch
Verantwortung für die Unternehmen, aber vor allem auch für die Beschäftigten und deren Familien tragen, da der Bund auch nach der Umwandlung der Postunternehmen in Aktiengesellschaften zunächst alleiniger Eigentümer der Unternehmen ist.Die gesetzgeberisch wichtigste Aufgabe wird es sein, so schnell wie möglich den Rahmen für eine berechenbare und faire Liberalisierung und Deregulierung zu schaffen. Das heißt konkret, daß mittels Regulierung ein schrittweiser Übergang in einen wettbewerbsorientierten Markt gesichert wird.Eine der hierfür wichtigsten Voraussetzungen konnte auf EU-Ebene dank des Engagements unseres Postministers, Wolfgang Bötsch, bereits erzielt werden.
Erfolge müssen auch namentlich genannt werden dürfen, lieber Herr Kollege Bötsch.Unter seinem Vorsitz einigten sich die zuständigen Minister in der vergangenen Woche darauf, zum 1. Januar 1998 die Telekommunikationsnetze in der Europäischen Union dem Wettbewerb zu öffnen. Damit fällt neben dem Sprachendienstmonopol zeitgleich auch das Netzmonopol.Arbeitsplätze müssen vor allem in zukunftsorientierten Wirtschaftssektoren geschaffen werden. Hierzu zählen der Telekommunkationsbereich und Multimedia ganz eindeutig. Das erfordert Mut zu Entscheidungen, durch die sich auch die Strukturen verändern werden.Wir werden den Mut wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft beweisen. Ich danke dem Herrn Postminister dafür, daß er diesen Mut tatsächlich bewiesen hat.Eine weitere zentrale Aufgabe, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird in Zukunft die Verkehrspolitik sein; denn wir brauchen in den nächsten Jahren eine bedarfs- und umweltgerechte Verkehrspolitik, um den Verkehrszuwächsen insbesondere im Transitverkehr in Deutschland gerecht zu werden. Denn im Transitverkehr durch Deutschland wird sich der Güterverkehr in den nächsten Jahren voraussichtlich verdoppeln, beim Personenverkehr sogar verdreifachen.Wir wissen, daß die derzeitige Verkehrsinfrastruktur vor allem in den neuen Bundesländern den heutigen und auch den künftigen Anforderungen nicht gewachsen ist. Der ökologische Aus- und Neubau der Straßen, der Schienenwege und der Binnenwasserstraßen ist daher konsequent fortzusetzen. Um auch künftigen Generationen die Mobilität zu sichern, sind umweltgerechte Verkehrsträger und eine zukunftsgerechte Verkehrsinfrastruktur für den Schutz der Umwelt und der Menschen von besonderer Bedeutung.Im Vordergrund steht dabei eine deutliche Senkung des durchschnittlichen Benzinverbrauchs
der in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge um mehr als ein Drittel bis zum Jahre 2005.
Frau Kollegin, die Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident! Ich habe es gerade gesehen.
Ich hätte diesen Arbeitsbereich noch gerne angesprochen. Aber unser Kollege Wissmann wird sich sehr umfassend diesem Thema am Rednerpult und noch umfassender in der praktischen Arbeit widmen. Ich bin ganz sicher, er wird auch in der Zukunft eine menschen- und ökologiegerechte Verkehrspolitik gestalten.
Auch an dieser Stelle sind Sie herzlich eingeladen, mitzumachen, sich an der Zukunftsgestaltung zu beteiligen und sich nicht wie in der Vergangenheit in der Opposition zu verweigern.
Das Wort hat die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Töpfer, ich hätte gern erst einmal ein wenig von Ihnen, unserem neuen Bauminister, gehört, ob Sie dem dürftigen Koalitionsprogramm überhaupt irgend etwas hinzufügen können oder ob Sie mit dem zufrieden sind, was da ausgehandelt worden ist.Ich muß mich vielen Sätzen der SPD anschließen, auch wenn ich es nur mit kurzen Worten mache. Ich glaube, das Schlimmste ist wirklich, daß die Wohnungspolitik in den vergangenen zwölf Jahren zum Abfallprodukt der Vermögenspolitik geworden ist.
Das zweite Problem ist, daß das offenbar so weitergehen soll, jedenfalls in weiten Teilen, obwohl die Mahnungen in Sachen indirekter Förderung gar nicht mehr zu überhören sind.Als erstes möchte ich jedoch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen, der mir am wichtigsten ist: die Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Ich halte es für einen absoluten Skandal, daß wir uns als Parlamentarier hier in solch einem Prachtgebäude treffen, daß wir einen Fahrdienst und Parlamentarischen Dienst und sonstige Annehmlichkeiten zur Verfügung haben, daß ich aber, wenn ich morgens am Bonner Bahnhof in die U-Bahn steige, erst einmal über zehn Obdachlose steigen muß. Ich halte das für einen unzumutbaren Zustand in dieser Stadt und in diesem Land. Das darf so nicht weitergehen.
Darum wird unsere Fraktion als allererstes einen Antrag zu einer Gemeinschaftsinitiative einbringen, in die der Bund 350 Millionen DM einbringt, damit Bund, Länder und Kommunen gemeinsam in diesem Winter etwas gegen Obdachlosigkeit unternehmen sowie Kältehilfe und menschenwürdige Unterbrin-
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Franziska Eichstädt-Bohliggung organisieren, um diesen Zustand zu beenden. Erst dann können wir über Wohnungspolitik reden.
Mein zweiter Punkt: Mieteninflation. Die Regierung will die Vorschläge der millionenschweren Expertenkommission Wohnungspolitik prüfen. Das kann eigentlich nichts anderes heißen, als daß wir mit einem weiteren Marktfanatismus im Wohnungssektor rechnen müssen.
Die Mieteninflation und die Erpressung der Wohnungssuchenden werden weitergehen. Auch die Absurdität, daß der, der in eine kleine Wohnung ziehen will, mehr Miete zahlen muß, als er für die große bezahlt, in der er jetzt wohnt, wird weitergehen. All das ist widersinnig in einer Zeit, wo Sie jeden Ruf nach Lohnerhöhungen für fast unanständig betrachten. Darum sagen wir: Folgen Sie unserem Rat! Führen Sie ein inflationshemmendes Mietrecht ein mit stabilem Mietspiegel, mit Kappungsgrenzen von höchstens 5 % Mieterhöhung — ich sage Ihnen: in Berlin ist das heute noch immer möglich, leider nur noch bis heute — und endlich auch mit Bindung der Neuvermietung an den Mietspiegel. All das ist machbar. Sie müßten nur endlich den Mut dazu haben. Kein Eigentümer ist bisher daran kaputtgegangen.
Zum dritten Punkt — der hier schon mehrfach angesprochen worden ist —: Vergleichsmiete Ost. Weil die Mieteninflation im Westen so erfolgreich läuft, sollen nun endlich auch die Mieter im Osten dieses Glück für sich bekommen. Meiner Meinung nach ist das ein ganz großes Problem, weil sie schon jetzt satte Mieterhöhungen durch Modernisierung bekommen. Sie sind gang und gäbe. Sie wissen ja, wie hoch die Inflationsrate ist. Ich möchte die Regierung sehr eindringlich davor warnen, die Zahlungsfähigkeit und auch die Leidensfähigkeit der Menschen im Osten zu überschätzen. Machen Sie sich bewußt: Nach dem Wohngeld- und Mietenbericht 1993 sind 21 % der Haushalte im Osten heute wohngeldabhängig und 50 % haben ein Einkommen, das innerhalb der Sozialwohnungsberechtigung liegt. Was möchten Sie denn da eigentlich noch für Mietsteigerungen durchsetzen?
Wir sagen darum ganz deutlich: Der Übergang in das gegebene Vergleichsmietensystem ist für die Mieter im Osten sozial derzeit nicht machbar. Es ist absolut unverträglich. Haben Sie den Mut, die Menschen in 1995 vor Mietendruck zu bewahren und versuchen Sie es in 1996 mit einer bescheidenen Grundmietenerhöhung! Dann sind die Mieten der sozialen Situation entsprechend angemessen.
Der vierte Punkt: Reform des sozialen Wohnungsbaus. Hier haben Sie ja glücklicherweise die Wünsche der Expertenkommission zunächst erst einmal zurückgewiesen. Diese Reform ist mehr als überfällig. Aber das, was Sie in der Koalitionsvereinbarung als kleines Reförmchen ankündigen, ist von nicht zu überbietender Ziel- und Kraftlosigkeit.
Jede Aussage über die Zahl, wieviel eigentlich gefördert werden soll, fehlt. Jede Aussage über die Zielgruppe der Wohnungsbauförderung fehlt. Meine Sorge ist: Sie werden wieder nur auf vereinbarte Förderung für besserverdienende Schichten schielen, statt auf die Förderung für die Schichten, die es wirklich nötig haben: die Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen.
Was soll denn überhaupt die Einführung einer einkommensabhängigen Miete für Sozialwohnungen, die es praktisch gar nicht mehr gibt?Ihre Forderung nach Kostensenkung ist ein uralter Hut; denn das wird seit fast 40 Jahren vom Zweiten Wohnungsbaugesetz gefordert. Es ist beschämend, daß die bisherige Wohnungsbauförderung diese Regel nicht einhält. Machen Sie also daraus keine neue Politik, sondern halten Sie wenigstens die Regeln ein, die es gibt!
Besonders schlimm aber ist — ich bin der Meinung, daß auch die SPD darüber endlich neu nachdenken sollte —: Diese Regierung hat vor, dem Osten überhaupt keine Sozialwohnungen zu geben; denn dort sollen auch die knapp drei Millionen städtischen und genossenschaftlichen Wohnungen in die Vergleichsmiete überführt werden — und das, wie ich eben gesagt habe, obwohl die Hälfte der Haushalte sozialwohnungsberechtigt ist. Wir halten das für einen Skandal und meinen, die Reform des sozialen Wohnungsbaus — und das sage ich jetzt einmal deutlich in Richtung SPD, weil ich da von der CDU sowieso nichts Passables erwarte; über die F.D.P. brauchen wir gar nicht zu reden —
muß mit der Einführung einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit verbunden werden, und zwar für alle 7 Millionen städtische und genossenschaftliche Wohnungen in Ost und West, sonst ist eine Reform des sozialen Wohnungsbaus nicht machbar. Diese Wohnungen müssen in dauerhafte Sozialbindung überführt werden. Dann können wir auch über eine einkommensabhängige Miete reden, sonst ist das alles lächerlich und hat keinen Boden unter den Füßen.
Ich fordere Sie auf, mit uns zusammenzuarbeiten.Dies und eine deutliche Umverlagerung der indirekten Subventionen in direkte Subventionen — darin sind wir uns zumindest einig — sind die Voraussetzung für eine sozialvernünftige Wohnver-
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Franziska Eichstädt-Bohligsorgung. Alles andere ist Augenwischerei. Nur so ist es möglich, das Potential an gebundenen Wohnungen im Bestand auf der einen Seite und durch Neubau auf der anderen Seite kontinuierlich wieder auszuweiten.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist ein gutes Stück überschritten.
Ja, ich sage nur noch kurz etwas zum Allheilmittel Wohngeld. Sie setzen auf Wohngeld.
Frau Kollegin, das geht leider nicht. Wenn die Redezeit zu Ende ist, haben Sie noch einen Schlußsatz.
Ja, ich sage nur noch einen Schlußsatz.
Wir werden das Wohngeld mit unterstützen. Wir warnen aber eindringlich vor einer Politik, bei der mit dem Wohngeld uferlosen Mietsteigerungen und der Vermarktung ehemaliger Sozialwohnungen hinterher subventioniert wird. Das ist uns sehr wichtig. An der Stelle setzen wir auf eine Mischung aus Unterstützung und Kritik.
Das Wort hat der Abgeordnete Klaus-Jürgen Warnick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie nicht anders zu erwarten, hat die Regierungserklärung der Koalition in punkto Wohnungspolitik nichts grundlegend Neues ergeben. Lediglich eine geschönte Bestandsaufnahme der jetzigen wohnungspolitischen Probleme vorzunehmen und lauwarme Versprechungen zur Schaffung von Wohneigentum durch Familien mit Kindern vorzuschlagen hilft den betroffenen Bürgern in Deutschland nur herzlich wenig weiter. Mir scheint, die Bundesregierung hat noch immer nicht begriffen, daß das Thema Wohnen neben innerer Sicherheit und Arbeitslosigkeit das Thema in Deutschland überhaupt ist.
— Ich bestimmt nicht.Die Bundesregierung hat nicht verhindert, daß in den letzten zehn Jahren die Mieten schneller als Einkommen und allgemeine Lebenshaltungskosten angestiegen sind. Bezahlbares Wohnen, dieses Grundbedürfnis eines jeden Menschen rückt für immer mehr Bürger in eine unerreichbare Ferne.
Der Staat kann sich nicht aus seiner Verantwortung herausmogeln und die Lösung der Wohnungsprobleme dem Markt, dem freien Spiel der Kräfte überlassen.
Was dabei herauskommt, sieht man jederzeit an den Ergebnissen der verfehlten Wohnungspolitik im letzten Jahrzehnt. Deshalb halten wir folgende Maßnahmen für erforderlich.Erstens lehnen wir die Einführung der Vergleichsmiete in Ostdeutschland im Jahr 1995 strikt ab.
Denn obwohl der Wohnungsbestand im Osten als grundsätzlich marode dargestellt wird, hat die Miethöhe in Ostdeutschland fast das Niveau der durchschnittlichen Miethöhe Westdeutschlands erreicht. Die durchschnittlichen Einkommen in Ostdeutschland werden dagegen auch in den nächsten Jahren hinter denen in Westdeutschland zurückbleiben. Es ist übrigens nicht nur ein ostdeutsches Problem, soll doch zeitgleich der Sozialwohnungsbestand in Westdeutschland ebenfalls in das Vergleichsmietensystem überführt werden.Angesichts der Tatsache, daß das seit Jahrzehnten in Westdeutschland praktizierte Vergleichsmietensystem Mietexplosionen, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit nicht verhindert hat, steht die Forderung nach einem sozialverträglichen Mietenkonzept für ganz Deutschland auf der Tagesordnung. Ein Mietenmoratorium für Ostdeutschland bis Ende 1996 sollte allen politischen und gesellschaftlichen Kräften die Zeit geben, gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Zweitens fordern die Abgeordneten der PDS die sofortige Aufhebung der Privatisierungspflicht im Altschuldenhilfegesetz, weiterhin die Überführung des jetzt noch bestehenden Bestandes an Wohnungen in den Status von Sozialwohnungen, verbunden mit einer Mietpreis- und Belegungsbindung unter Übernahme der Zinsen für die sogenannten Restschulden durch Bund und Länder. Auf diese Art und Weise würde man in Ostdeutschland zu einem wenigstens geringen Grundbestand an Sozialwohnungen kommen. Bisher gibt es im Osten nur einige wenige Tausend neuerbauter Wohnungen mit einem Sozialstatus, im Westen Deutschlands dagegen ca. 2,5 Millionen, die aber trotzdem nicht ausreichen.Die PDS wird sich vehement für die nochmalige Verlängerung des erweiterten Kündigungsschutzes in Ostdeutschland unter Einschluß der Einliegerwohnungen über das Jahr 1995 hinaus einsetzen, da abzusehen ist, daß die Bedingungen, die schon einmal, im Dezember 1992, zur Verlängerung dieses besonderen Kündigungsschutzes geführt haben, weiterhin fortbestehen.Viertens. Dank der dogmatischen Politik der Bundesregierung ist das falsche Prinzip Rückgabe vor Entschädigung nun in seiner Gesamtheit nicht mehr umkehrbar und hat die Gräben zwischen Millionen Menschen in Ost und West so tief werden lassen, daß die verheerenden Folgen noch in Jahrzehnten spürbar sein werden.
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Klaus-Jürgen WarnickAls langjähriger Geschäftsführer des Mieterbundes im Land Brandenburg weiß ich sehr wohl, wovon ich hier rede.Die Bundesregierung trägt hierfür die volle Verantwortung vor der Geschichte. Sie ist sich der Folgen für das Zusammenwachsen der Deutschen — da bin ich mir sicher — aber auch heute noch nicht bewußt. Der beste Beweis dafür: Kein Wort zu diesem Problem in der Regierungserklärung!
Wenn auch nicht mehr vollständig umkehrbar, so können und müssen die Folgen dieses Prinzips für Millionen Ostdeutsche weiter abgemildert werden. Die bisher verabschiedeten Gesetze haben dies nur teilweise vermocht. Weitergehende Veränderungen im Sachenrechtsänderungs- und Vermögensgesetz sowie in der Nutzungsentgeltverordnung sind zwingend erforderlich, um den Ostdeutschen nicht weiterhin das Gefühl der Besiegten, die sich den Siegern bedingungslos unterzuordnen haben, zu geben.
In diesem Zusammenhang unterstützen wir Initiativen im Bundesrat zur sofortigen Novellierung des Entschädigungs- und Lastenausgleichsgesetzes mit dem Ziel, die Sicherstellung der Verwaltung von restitutionsbelasteten Häusern in Ostdeutschland auch weiterhin zu gewährleisten.Die PDS wird sich für eine Verstärkung des genossenschaftlichen und sozialen Wohnungsbaus, für einen generellen Umbau der steuerlichen Präferenzen in der Wohnungsbauförderung zugunsten von Familien mit Kindern und geringerem Einkommen sowie für eine ökologisch orientierte, behindertengerechte und kinderfreundliche Stadtentwicklung einsetzen.
Herr Abgeordneter, Sie sind weit über Ihre Redezeit. Bitte nur noch einen Schlußsatz!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin noch neu hier.
Alle genannten Maßnahmen stehen bei uns unter der Prämisse „Wohnen ist ein Menschenrecht". Für die Aufnahme dieses Menschenrechts in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland werden wir auch weiterhin eintreten.
Ich danke Ihnen.
Damit ich nicht so oft auf die Redezeit hinweisen muß, wäre es vielleicht gut, wenn die Parlamentarischen Geschäftsführer
— du sollst kein falsches Zeugnis geben, Herr Parlamentarischer Geschäftsführer — den neuen Kollegen
sagen würden, daß bei Aufleuchten des gelben Lichts
am Rednerpult noch eine Minute Redezeit zur Verfügung steht. Und wenn das rote Licht aufleuchtet, ist die Redezeit abgelaufen. Dann ist noch maximal ein Schlußsatz zulässig.
Ich erteile dem Bundesminister für Bauwesen, Raumordnung und Städtebau, Dr. Klaus Töpfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war im Westen unseres Vaterlandes in besonderer Weise durch den Aufbau unserer Städte und Dörfer geprägt und getragen. Der Bau von Wohnungen hatte zwingende Priorität, begründet durch die gewaltigen Zerstörungen, aber auch mit Blick auf die breiten und großen Flüchtlingsströme der damaligen Zeit. Als jemand, der in Waldenburg, in Schlesien, geboren ist, weiß ich aus eigener Erfahrung Gutes und Schlechtes darüber zu berichten.
Persönlichkeiten wie Paul Lücke haben damals diesen Zwang der Fakten mit klaren ordnungs- und gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen in eine erkennbare Strategie umgesetzt: Eigenverantwortung des einzelnen in der Gesellschaft einfordern, Erarbeitung, Ermöglichung von Eigentum, vor allem von Wohneigentum, von Eigentum an Grund und Boden, und Hilfe des Staates gezielt dort, wo dies für den einzelnen alleine nicht möglich war, insbesondere mit Blick auf Familien. Paul Lücke hat damals gemeinsam mit meinem ehemaligen Lehrer und seinem exzellenten Staatssekretär Werner Ernst ein modernes Raumordnungs- und Städtebaurecht entwickelt, in das ausreichend familiengerechte Wohnungen und Wohneigentum konsequent eingebunden wurden.Meine Damen und Herren, nach den historischen Entwicklungen, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und nach der großartigen Entwicklung der deutschen Einheit, stehen wir vor vergleichbaren Herausforderungen.
Große Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands haben besonders in den alten Bundesländern eine geradezu sprunghafte Veränderung der Wohnnachfrage bewirkt. — Dem Zwischenrufer kann ich nur sagen: Auch nach siebeneinhalb Jahren als Minister pflege ich meine Reden selbst zu schreiben. Stellen sie sich das vor!
Wenn Sie es anders machen, dann kann ich mich mit Ihnen gern auch noch über das Redenschreiben unterhalten.
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296 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Bundesminister Dr. Klaus TöpferIch finde es aber ganz nett, daß Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, das zu erwähnen.Die Grundbedingungen haben sich wieder vergleichbar geändert. Es gab große Wanderungsbewegungen in Richtung alte Bundesländer. Es gibt dramatische, stein- und betonplattengewordene inhumane Wohnungsbau- und Städtebaustrukturen in den neuen Bundesländern. Das ist eine Herausforderung. Deswegen habe ich hier die Verbindung zum Ende des Zweiten Weltkriegs gezogen. Es ist eine entsprechende Herausforderung, die wir aufgreifen müssen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einmal in meiner eigenen Entwicklung zurückgreifen. Meine erste Arbeit, die ich als Assistent am Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen an der Universität Münster geschrieben habe, war über den Wohnungsbedarf im Jahre 2000.
— Ich sehe schon, wir kriegen in diesem Bereich genausoviel Freude, wie wir sie vorher im Umweltbereich gehabt haben. Das ist absehbar.Diese Prognose war, vergleichsweise kurz nachdem ich sie gemacht hatte, falsch. Sie war zwischenzeitlich wieder richtig. Sie ist gegenwärtig wieder falsch. Denn in der Tat hat niemand im Jahre 1964 unterstellt, daß es im Jahre 1989 keine Mauer und keinen Stacheldraht in Deutschland mehr gibt. Dadurch hat sich etwas geändert. Herr Kollege Großmann, fragen Sie Ihre Kollegen von der damaligen Neuen Heimat. Was haben Sie damals in Bremen-Vahr gehabt? Haben Sie zu wenige oder zu viele Wohnungen gehabt?
Also haben sich die Rahmenbedingungen geändert. Diese Rahmenbedingungen müssen wir jetzt aufgreifen.Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinbarung zeigt sehr klar: Wohnungsbau- und Städtebaupolitik bleibt in dieser Legislaturperiode ein wichtiger, ein zentraler Schwerpunkt, ein Schwerpunkt, der noch klarer, noch konsequenter auf den gesellschaftspolitischen Kern hin profiliert werden soll. Dieser hohe Stellenwert rechtfertigt sich umfassend aus der Bedeutung der Wohnungs- und Städtebaupolitik für die Verwirklichung wichtiger Grundwerte in unserer Gesellschaft. Die Maßstäbe sind für mich folgende.Wohnungsbaupolitik und Städtebaupolitik sind angewandte Familienpolitik und müssen es noch stärker werden. Das ist eine zentrale Notwendigkeit. Ich freue mich, daß Frau Kollegin Nolte und Frau Kollegin Rönsch genau das gesagt haben.
Das ist ein Kriterium, an dem ich alle Maßnahmen messe, Herr Kollege Großmann. Ich will mir heute nicht in zehn Minuten jede Einzelheit abverlangen lassen. Aber Sie können von mir verlangen, daß ich kundtue, welche Maßstäbe ich zur Entwicklung meiner Gesamtpolitik auf diesem Gebiet anlege. Der ersteist: Es ist angewandte Familienpolitik. Das muß in den Mittelpunkt gestellt werden.
Zweitens. Wohnungsbau- und Städtebaupolitik ist angewandte Sozialpolitik. Auch das ist ein zentrales Kriterium.
Es muß klar sein, daß die Reform des sozialen Wohnungsbaus fortgesetzt wird und die Grundprinzipien der einkommensabhängigen Förderung auf den Wohnungsbestand übertragen werden. Wir werden ein Drittes Wohnungsbaugesetz vorlegen. Sie alle sind herzlich eingeladen, daran mitzuwirken. Das sage ich mit aller Ernsthaftigkeit und sehr egoistisch.
— Ich brauche nicht Sie, ich brauche die Länder. Das, was mir hier vorgetragen wird, macht den Eindruck, als gäbe es in Deutschland nur einen wohnungs- und städtebaupolitischen Akteur: den Bund. Man könnte meinen, es gäbe keinen anderen. Ich soll in der nächsten Woche zur ARGEBAU nach Berlin fahren. Dort sagt man mir: Es gibt eigentlich überhaupt nur einen städtebaulichen Akteur, das sind die Länder;
und der Bund darf bitte ordentlich zahlen. So kann es doch nicht zusammenpassen.
Deswegen biete ich Ihnen an, das Gesetz zusammen zu entwickeln.Das Dritte: Wohnungsbaupolitik ist angewandte Eigentumspolitik für die breiten Schichten unserer Bevölkerung. Das muß in der Zukunft wieder verstärkt werden, so wie es auch einmal bei Paul Lücke der Fall gewesen ist.
Ich beziehe mich bewußt noch einmal auf ihn.
— Jemand, der in Münster so ausgebildet worden ist, ist mir immer ein ganz besonders dankbarer Zwischenfrager.
Herr Bundesminister, das ist die Zulassung der Zwischenfrage. Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Bundesminister, nach diesem freundlichen Kompliment möchte ich doch wissen, ob Sie sich in der sehr ärgerlichen Frage des § 10e endgültig eine Meinung gebildet haben, nachdem Sie gerade gesagt haben, die Eigentumsbildung — aus unserer Sicht gerade für Bezieher mittlerer Einkommen, denen bisher das Startkapital fehlt — müsse verbessert werden.
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 297
Ingrid Matthäus-MaierDer Herr Kansy ist der Ansicht: Der § 10 e — mit der unangenehmen Wirkung, je mehr ich verdiene, um so mehr Entlastung bekomme ich — ist falsch. Das Kirchenpapier sagt, er ist falsch. Alle möglichen Verbände sagen, er ist falsch. Wir fordern seit Jahren eine Korrektur.Können wir endlich damit rechnen, daß Sie den Eigenheimparagraphen so umbauen, daß er nicht mehr denjenigen so viel mehr entlastet, der mehr verdient als andere, sondern gerade den Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen eine echte Chance gibt?
Erst einmal bedanke ich mich für die umfassende Fragestellung, die immer auch unterstellt, daß ich vielleicht das, wonach Sie gefragt haben, in dem einen oder anderen Punkt noch nicht ganz verstanden habe.
Insofern kann ich Sie beruhigen und kann Ihnen das auch ganz konkret beantworten: Ja, ich will eine Förderung, die nicht eine solche progressive Ausgestaltung hat, wie sie sich jetzt darstellt.
Ich sage Ihnen aber genauso dazu — dies ist nebenbei Grundlage dessen, was wir in der Koalitionsvereinbarung stehen haben; bei klügerem Nachdenken wäre man sicherlich darauf gekommen; das ist kein Vorwurf, sondern nur eine Feststellung —: Ich lege mich im Augenblick noch nicht fest, ob das im Bundesbauministerium entwickelte Modell eines Abzugs von der Bemessungsgrundlage besser sein könnte als ein Abzug von der Steuerschuld. Darüber muß man reden. Da muß man sich fragen: Ist die Möglichkeit des Anrechnens von 20 % des Einkommens richtig oder nicht richtig?
Laßt uns doch nicht am Anfang einer Legislaturperiode alles schon so festlegen, als wären wir am Ende und hätten das Gesetz schon verabschiedet! Ich bin da offen und sage Ihnen meine Prinzipien, mit denen ich darangehe. Ich glaube, diesen Anspruch hat dieses Hohe Haus, daß es vom Minister erfährt, mit welchen Grundlagen er darangeht, aber nicht, mit welcher einzelnen Regelung.
Darüber werden wir uns einigen.
Auch der Kollege Großmann würde gerne eine Zwischenfrage stellen, Herr Minister.
Der aus Würselen! Gerne.
Bitte, Herr Kollege Großmann.
Wenn Sie sagen, daß Sie auch über das im Bauministerium entwickelte Modell nachdenken, führt das bei mir zu schierem Entsetzen. Denn dieses Modell bewirkt, daß eine Familie, die zwei Kinder und 40 000 DM Einkommen hat, so gut
wie keine Entlastung bekommt, ungefähr 3 000 DM, und daß die Familie, die 70 000 DM Einkommen hat, durch die Kinderkomponente eine Entlastung von 30 000 DM hat.
Halten Sie es angesichts der soeben von Ihnen aufgestellten These, man solle versuchen, die mittleren Einkommensschichten mit einer vernünftigen Kinderkomponente zu fördern, wirklich für nötig, über dieses Modell im Bauministerium nachzudenken?
Herr Kollege Großmann, ich beziehe das auf diese Aussage und auf viele andere, die ich in der letzten Zeit etwa auch zu dem Expertengutachten gelesen habe, auch schon zu einer Zeit, als ich für diesen Aufgabenbereich noch nicht zuständig war.Mein Verständnis von Gutachten, die Experten erstellt haben, besteht nicht darin, daß ich dann, wenn sie vorgelegt werden und mir ein Satz darin nicht gefällt, das ganze Gutachten wegschmeiße.
Vielmehr bestehen meine Vorstellungen darin, daß ich mir die Zeit nehme, auch mit den Experten genau durchzugehen, was darin steht.Mich hat es eben gewundert, daß Herr Kollege Conradi an der Stelle geklatscht hat. Schon durch die Tatsache, daß man sich über ein Gutachten unterhält, wird einem unterstellt, man würde das, was darin steht, zu seiner eigenen Politik machen. Dies ist kein sauberer Umgang miteinander!
Es wäre doch geradezu eine Unglaublichkeit, wenn ein neuer Minister in ein Ministerium kommt und zu dem, was im Ministerium neu erarbeitet worden ist, sagt: Das gucke ich mir erst gar nicht an. Natürlich gucke ich mir das an; das erörtern wir intensiv, und ich diskutiere mit meinen Mitarbeitern auch dieses Bemessungsgrundlagenmodell, nach dem Sie gefragt haben.
Lassen Sie mich auch folgendes noch dazu sagen: In den letzten vier Jahren ist von dieser Bundesregierung eine wirklich gute Wohnungsbau- und Städtebaupolitik betrieben worden.
Meine Damen und Herren, ich halte überhaupt nichts vom Nachtreten;
ich halte etwas davon, daß ich mit Respekt das, was Frau Kollegin Schwaetzer gemacht hat, weiterentwikkele.
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298 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Bundesminister Dr. Klaus TöpferWo ich glaube, daß es weiterentwickelt werden muß, werde ich es tun. Dort, wo das nicht der Fall ist, werden wir es so belassen. Respekt vor Frau Schwaetzer!
Ich bin sehr daran interessiert, im Bauministerium Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, die nicht erst fragen: Was denkt denn der Minister? und dann ein dementsprechendes Papier vorlegen, sondern die mir das vorlegen, was sie denken, und mir zugestehen, daß ich mir dazu meine eigene Meinung bilde. So verstehe ich die Leistung eines Ministeriums.
Ich kann schon nach einer Woche sagen: Das ist eine prima Truppe, die da arbeitet. Die haben viel Ahnung. Die werden wir sehr, sehr gut mit einbinden.Es ist richtig — Frau Kollegin Rönsch hat das aufgegriffen, und es steht auch in der Koalitionsvereinbarung —: Die Tatsache, daß man schon lange über kostensparendes Bauen nachdenkt, es gegenwärtig aber noch nicht praktiziert, kann doch nicht dazu führen, daß man erklärt, deswegen denke man zukünftig darüber gar nicht mehr weiter nach.
Man kann sagen: Geht endlich an diese Sache heran, tut etwas, das steht schon lange als Forderung im Raum!Das Ministerium hat ein Gutachten zu der Frage vorgelegt, wie man mit einer bestimmten Summe mehr Wohnungen bauen kann. Das wird in der nächsten Woche in Berlin bei der ARGEBAU erörtert. In diesem Gutachten stehen die verschiedenen Einflußfaktoren. Wir sollten das gemeinsam mit den Bundesländern durchgehen. Die Länder müssen es auch mit umsetzen. Wirken Sie bitte auf Ihre Minister in den Bundesländern so ein, wie auch wir das tun!Wir müssen von der Tatsache herunterkommen, daß wir den geringsten Anteil an Wohnungseigentum, aber die höchsten Kosten für Wohnungen haben. Das hat doch irgend etwas miteinander zu tun. Wenn es etwas miteinander zu tun hat, muß man es aufgreifen, selbst wenn es bereits vor zehn Jahren angesprochen wurde. Ich jedenfalls werde dies mit großer Nachdrücklichkeit tun.In dem Gutachten stehen auch die ganzen eigentumsfördernden Instrumente. Wir müssen die Bausparförderung voranbringen.
Die Bausparförderung ist eine deutsche Erfindung erster Qualität. Wir sollten das gemeinsam weiter voranbringen.Viertens ist Wohnungsbau für mich angewandte Wirtschaftspolitik. Es ist gar keine Frage: Selbst wenn wir eine noch so gute Förderung betreiben: wenn uns die Zinspolitik in den Rücken fällt, werden wir Schwierigkeiten haben. Wir müssen also die Wohnungsbaupolitik unmittelbar in die Wirtschaftspolitik einbinden. Wohnungsbaupolitik ist angewandte Wirtschaftspolitik.Wir brauchen eine Verstetigung der Bauleistungen. Das ist mir wichtiger, als in einem Jahr 20 000 Wohnungen mehr zu bauen. Ich bleibe lieber bei der Verstetigung. Das ist nämlich auch billiger; denn solche Kapazitätssprünge kann kein Wirtschaftszweig ohne entsprechende Kostenreaktion verkraften.
Es geht mir nicht um eine Tonnenideologie, sondern ich frage: Welche Wohnungen werden gebaut? Wie können wir das verstetigen? Darum geht es und nicht allein um die Zahl, so wichtig sie ist. Wir müssen aber selbstverständlich die Teilmärkte berücksichtigen und zusehen, daß diese Wohnungen dann auch bezahlt werden können.Natürlich sind Wohnungsbaupolitik und Städtebaupolitik auch angewandte Umweltpolitik. Das ist überhaupt keine Frage. Ich freue mich darüber, daß man jetzt im Bereich des Städtebaus die Frage aufgreifen kann, welche Inanspruchnahme von Umwelt eigentlich dadurch entsteht, daß wir über Jahre und Jahrzehnte Architekten nach der Charta von Athen ausgebildet haben: Sie haben die Funktionen im Raum auseinandergezogen und mit diesem Auseinanderziehen von Funktionen Verkehr generiert.
Das ist doch ganz klar. Das kann man nicht einfach unberücksichtigt lassen. Hier gibt es eine ganz enge Verzahnung zwischen Wohnungsbaupolitik und Umweltpolitik.Ich freue mich, daß man dieser Problematik gemeinsam mit Frau Merkel weiterhin hervorragend nachgehen kann, um bei der Städtebauförderung unter diesem Gesichtspunkt weiterzukommen.Es geht auch um die Förderung und Entwicklung umweltverträglicher Baumaterialien. Es müssen Konzepte zur Energieeinsparung entwickelt werden. Das sind Dinge, von denen ich glaube, daß wir sie wirklich voranbringen können.
Herr Bundesminister, ich bin wieder in der Situation, daß — —
Ich konnte Ihnen heute natürlich nur diese Grundsätze darstellen. Mir ging es mehr darum, Ihnen zu sagen, wie wir Wohnungs- und Städtebaupolitik sowie Raumordnungspolitik betreiben werden. Ich lade Sie herzlich gern dazu ein, daß wir uns zusammensetzen, bevor wir uns in der Öffentlichkeit die Köpfe heißreden und uns manchmal vielleicht auch in die Knie treten. Das Bauministerium hat dafür eine außerordentlich schöne Baugestaltung. Ich lade also immer wieder gern zum Kaffeetrinken ein,
nicht damit wir zu falschen Kompromissen, sondern damit wir zu einer Politik kommen, die der Familie die erforderlichen Chancen gibt, die uns im sozialen Bereich und im Eigentumsbereich voranbringt. Dann werden wir uns auch über solche Fragen wie den
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 299
Bundesminister Dr. Klaus TöpferBerlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich bis hin zum Schürmann-Bau bestens unterhalten können.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Der Kollege Dr. Dietmar Kansy hat das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Minister hat die Wohnungsbaudebatte beendet. Er hat in bezug auf ein Aufgabenfeld vom Bundeskanzler eine erweiterte Verantwortung übertragen bekommen, nämlich die zentrale Verantwortung der Bundesregierung für den Umzug nach Berlin.
— Herr Kollege Reschke, ich möchte gern über etwas anderes sprechen.
— Okay.
Auch der Bundeskanzler hat das Thema in seiner Regierungserklärung angesprochen. Ich möchte als Vertreter des Parlaments einige wenige Worte sagen, sicherlich über die Fraktionsgrenzen hinweg, wenn ich das als Vorsitzender der Baukommission sagen darf.Der Deutsche Bundestag hat mit großer Mehrheit am 10. März 1994 nach langer, schwieriger, teils emotionaler Diskussion das Berlin/Bonn-Gesetz und in Verbindung damit den sogenannten dritten Zwischenbericht der Konzeptkommission — das sage ich für unsere neuen Kollegen — beschlossen. Damit haben wir, Herr Bundeskanzler, als Parlament unser Programm und unseren Fahrplan für den Umzug nach Berlin festgelegt. Wir haben — ich möchte das nicht alles auflisten — aufgebaut auf dem Grundsatzbeschluß vom 20. Juni 1991, auf verschiedenen Kommissionsberichten, auch auf zwei überparteilichen Spitzentreffen beim Bundeskanzler am 12. Oktober 1993 und 14. Januar 1994, auf denen die Eckwerte festgeschrieben wurden.Das ist unser Programm: Berlin als Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung, Festlegung einer fairen Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn durch Ansiedlung von Ministerien in Berlin und Bonn, Unterstützung der Städte Berlin und Bonn bei der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit als Bundeshauptstadt einerseits und als Bundesstadt andererseits, Schaffung eines Ausgleichs für die Region Bonn und die Festlegung von dienstrechtlichen und sonstigen Regelungen für den Ausgleich von verlagerungsbedingten Belastungen.Meine Damen und Herren, in diesem Beschluß bekräftigten wir unsere Absicht, in der nächsten, der 14. Legislaturperiode, möglichst früh, spätestens im Sommer 2000, unsere Arbeit in Berlin aufzunehmen. Wir haben die Beschlüsse der Bundesregierung begrüßt, im gleichen Zeitrahmen ihre Präsenz in Berlin sicherzustellen, um ihrer Verantwortung gegenüber uns als Parlament nachzukommen.Ich kann mit gutem Gewissen, Herr Kollege Conradi und die anderen Kollegen, die in einer unendlich schwierigen und langwierigen Arbeit im Auftrag des ganzen Parlaments die Vorbereitungen getroffen haben, sagen: Es läuft auf Hochtouren auf den verschiedensten Ebenen des Parlaments, zunächst in etwas grundsätzlicher Art und dann detaillierter. Wir setzen die Beschlüsse um!Ich möchte auf die Rede des Bundeskanzlers von vorgestern eingehen. Auch der Deutsche Bundestag steht voll zu seiner Feststellung und zu seinen Beschlüssen, daß der Umzugsbeschluß zwei Teile hat. Wir bereiten uns nicht nur darauf vor, möglichst früh in der 14. Legislaturperiode nach Berlin zu gehen, sondern wir stehen auch in der Verpflichtung gegenüber der Bundesstadt Bonn. Wir werden in Kürze, so hoffe ich, im Ältestenrat darüber reden, wie wir die Begleitung des Berlin- und des Bonn-Teils dieses Gesetzes ausgestalten können.
— Verehrter Herr Kollege Conradi, das ist eine nicht erlaubte Zwischenfrage, deren Beantwortung zu meinen Lasten ginge. Wenn Sie sie offiziell stellen, rede ich gern noch etwas detaillierter dazu.Wir werden also in Kürze darüber reden, wie wir das organisatorisch fassen, nämlich den Berlin-Teil des Beschlusses und den Bonn-Teil des Beschlusses zu begleiten.Herr Minister Töpfer, Sie können versichert sein, daß wir nach Bildung unserer Gremien auch Sie bezüglich dieses Bereiches zu einem Meinungsaustausch einladen werden. Jedenfalls, glaube ich, begrüßen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg, daß es jetzt eine zentrale Verantwortung in einem Bundesministerium und nicht für uns als Parlament mehrere Ansprechpartner gibt.Zum Schluß: Der Bundeskanzler hat noch ein zweites Thema angesprochen. Es gehe nicht nur, sagte er, um Fragen der Organisation und der Architektur, sondern auch darum, wie wir uns in den Lebensrhythmus Berlins, in die Kultur dieser Stadt und in das städtebauliche Gesamtkonzept einbringen. Ich glaube, wir sollten die Anregung des Bundeskanzlers ernst nehmen.Natürlich ist Organisation wichtig. Natürlich sind personelle Fragen zu klären. Natürlich ist Architektur wichtig. Aber was unsere Rolle als politischer Bauherr angeht, die wir in Berlin bewußt wahrnehmen, glaube ich, daß der Bundeskanzler mit seinem Hinweis auf Kultur ein wenig mehr meinte. Wenn der Bundeshauptstadt Berlin für die kulturelle Ausstrahlung Deutschlands eine besondere Rolle zukommt — das hat der Bundeskanzler hier am Mittwoch ausgeführt —, meine ich, sollten wir als Deutscher Bundestag in der nächsten Zeit auch darüber einmal nachdenken und uns über diesen Bereich des Umzugs unterhalten, der über das Materielle, Organisatorische und Personelle hinausgeht. Vielleicht laden wir sogar den Bundeskanzler dazu ein, wie wir das damals bei unseren ersten Umzugsvorbereitungen gemacht haben.
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300 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Dr.-Ing. Dietmar KansyJedenfalls, Herr Minister, Sie haben im deutschen Parlament auch einen Ansprechpartner, der Ihnen bei dieser Aufgabe zur Seite stehen wird.Vielen Dank.
Frau Kollegin Elke Ferner, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Das der Verkehr als vorletzter Bereich der Regierungserklärung an dieser Stelle steht, kommt mit Sicherheit nicht von ungefähr. Denn so dürftig, wie die Koalitionsvereinbarungen an der Stelle sind, kann man dieses Thema wahrlich nicht besser plazieren.Die Verkehrslawine auf Deutschlands Straßen ist kein abstraktes Problem der Wirtschafts-, Finanzoder Umweltpolitik, sondern erlebter und zunehmend leider auch erlittener Alltag der Menschen. In diesem Sommer waren heftige öffentliche Debatten über Ozon und Sommersmog, über Staus und Lärmbelastung, über mangelhafte öffentliche Verkehrssysteme, über Gefährdung von Kindern und alten Menschen im Straßenverkehr an der Tagesordnung. Dies belegt die Bedeutung, die das Thema im Alltag und auch im Bewußtsein der Menschen hat.So unzweifelhaft wir alle auf Mobilität angewiesen sind, so unbestreitbar ist die Tatsache, daß die bisher praktizierte Form von Mobilität in Deutschland und auch in Europa an ihre ökologischen, sozialen und auch ökonomischen Grenzen gestoßen ist. Die Zuwachsprognosen für die nächsten 15 Jahre sind horrend: mehr als eine Verdoppelung des Straßengüterverkehrs. Dies bedeutet insgesamt ein weiteres Wachstum von Staus, von Lärm, von Schadstoffemissionen, die weder von den Menschen noch von der Umwelt länger verkraftet werden können.
Das ist leider kein Horrorszenario, sondern an vielen Stellen in Deutschland schon bittere Realität.Auch die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden können Ihren untauglichen Versuch, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, nicht länger verkraften, dem Straßenverkehrswachstum durch immer neuen Straßenbau hinterherzuhecheln, ohne daß Sie das Problem jemals lösen könnten.
Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist, daß, wie es auch in der Verkehrswissenschaft längst unbestritten ist, die Notwendigkeit gegeben ist, endlich das Verkehrswachstum vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln, wie das im Energiebereich seit Jahren vorexerziert wird.
Die Vermeidung weiterer Verkehrszuwächse und die weitestmögliche Verlagerung von Straßenverkehrsanteilen auf Güterzug, Kombiverkehr, Binnen- und Küstenschiff sowie auf S-Bahn, Bus und Straßenbahn muß deshalb oberstes Ziel der Verkehrspolitik sein,wenn man nicht wie Sie mit Vollgas ins Stauende rasen will.
Eine Verbesserung kann wirklich nur gelingen, wenn Ihre gescheiterte Flickschusterei der Vergangenheit endlich durch ein integriertes Gesamtverkehrskonzept abgelöst wird. Das fordern wir wirklich schon seit Jahren von Ihnen.
— Lieber Herr Kollege Jobst, sicherlich haben wir vieles gemeinsam beschlossen — dazu komme ich nachher noch —, aber Sie wissen, daß wir uns hinsichtlich der Gesamtlinie nicht einig waren.
Um so gespannter waren wir natürlich: Was steht denn jetzt in den Koalitionsvereinbarungen für die 13. Wahlperiode?
Das Ding flatterte uns auf den Tisch. Ich sage bewußt„ flatterte", weil die knappe Seite Papier, auf der man die Verkehrspolitik niedergeschrieben hat, nicht nur im Umfang, sondern auch im Inhalt wirklich das Gewicht einer Eintagsfliege aufweist.
Wie es dann dem Bundeskanzler am Mittwoch gelang, selbst dies noch auf zwei völlig inhaltsleere Sätze einzudampfen, das nötigt einem wirklich schon fast wieder Respekt ab. Diese sogenannte Leitlinie für die künftige Verkehrspolitik ist an Dürftigkeit wahrlich nicht mehr zu unterbieten. Der Inhalt läßt sich in dem Satz zusammenfassen: Wir wursteln uns weiter so durch wie bisher: Weiter so mit Infrastrukturausbau nach dem Gießkannenprinzip ohne wirkliche Prioritätensetzung. Weiter so mit unausgegorenen Privatfinanzierungsabenteuern zu Lasten unserer Kinder und Enkel. Weiter so mit Transrapid-Träumereien zum Schaden der Bahn und des Steuerzahlers. Weiter so mit dem Hinterherhecheln der Wettbewerbsharmonisierung in Europa als Folge eigener, blinder Deregulierungseuphorie auf dem Rücken des deutschen Verkehrsgewerbes.Es lohnt sich, glaube ich, nicht, über dieses Dokument der Konzeptionslosigkeit und der Unfähigkeit zur dringend nötigen Reform der Verkehrspolitik auch nur ein weiteres Wort zu verlieren; denn wirklich interessant ist ja nicht das, was drinsteht, sondern das, was nicht drinsteht. Außer einem mageren Halbsatz zur Fortsetzung der Privatisierungspolitik — was immer dies dann auch heißen mag — ist z. B. nichts gesagt zum weiteren Schicksal der Bahn. Die Bahnreform hat zwar die Voraussetzungen für eine marktgerechte Organisationsstruktur geschaffen; allerdings: Die Politik ist damit nicht von der Aufgabe entbunden, nunmehr endlich die Rahmenbedingungen auch so zu gestalten, daß die Bahn auch eine faire Chance auf dem Verkehrsmarkt erhält.Hierbei geht es vorrangig um den Abbau vieler noch vorhandener Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn, insbesondere im Verhältnis zum Straßengüterverkehr. Wenn dies nicht gelingt, liebe Kol-
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Elke Fernerlegen und Kolleginnen, dann wird die privatisierte Bahn wohl das gleiche Schicksal erleiden wie die Staatsbahn in den vergangenen 40 Jahren.
Für Sie war das offenbar kein Thema, denn sonst hätten Sie dies ja auch in der Koalitionsvereinbarung niedergeschrieben.Sie wissen doch genau, daß der Umfang und der Zustand der jeweiligen Infrastruktur einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren für die Verkehrsträger ist. Sie wissen doch auch, daß die einseitig auf den Ausbau des Straßennetzes ausgerichtete Verkehrspolitik der letzten 40 Jahre das System Schiene chancenlos und das System Straße konkurrenzlos gemacht hat. Was tun Sie denn nun dagegen?
— Sie sind aber die letzten zwölf Jahre in der Regierung gewesen, Herr Kollege Jobst. Die Altlastendiskussion können Sie nun wirklich in den Papierkorb werfen.
Werfen wir doch einmal einen Blick in die Haushalte der letzten Jahre. Nach wie vor übersteigen dort die Ausgaben für den Neubau von Bundesfernstraßen die Ausgaben für den Neubau von Schienenstrekken.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jobst?
Ja, wenn Sie die Uhr anhalten, Herr Präsident, gerne.
Frau Kollegin Ferner, darf ich Sie daran erinnern, daß die meisten Autobahnen in Deutschland in der Zeit der Regierungsverantwortung der SPD von 1969 bis 1982 gebaut wurden?
Ja, das ist leider wahr, Herr Kollege Jobst. Das kann ich Ihnen bestätigen. Allerdings ist auch wahr, daß wir im Gegensatz zu Ihnen lernfähig waren und jetzt wirklich auf eine ökologische Verkehrspolitik setzen, während Sie weiter Betonpolitik in Form von Straßenbau, und zwar ungezügelt, machen.
Im Haushalt 1995 ist auch dies wieder belegt. Da stehen nämlich 8,4 Milliarden DM für die Straße nur 7,6 Milliarden DM für Schieneninfrastrukturinvestitionen gegenüber. Nun, Herr Minister — wie man jetzt von der Verkehrsministerkonferenz in München hört —, brechen Sie auch noch einen Streit mit den Ländern vom Zaun, weil Sie sich um die Erfüllung der Gesetzesregelung drücken wollen, daß 20 % der Schieneninfrastrukturinvestitionen dem Nahverkehrzugute kommen sollen. Wenn das wirklich Ihre Absicht ist, Herr Minister, dann, so muß ich Ihnen hier sagen, ist das erneuter Wortbruch. Das ändert die Geschäftsgrundlage für die Länder wie auch für den Bund und die Fraktionen im Bundestag ganz entscheidend.
Wenn Sie Ihre Politik für den Straßenbau weiter so fortsetzen, dann werden wir nie faire Wettbewerbsbedingungen für die Bahn und für die öffentlichen Personennahverkehrssysteme bekommen. Nach Ihrer Vorstellung soll es offensichtlich auch so bleiben; wir finden nichts über eine Vorrangpolitik für umweltverträgliche Verkehrsträger. Beim Aus- und Neubau wird immer noch die Straße an erster Stelle genannt. Kein Ton zur Vernetzung der Verkehrsträger, zum Ausbau der Schnittstellen, zu Güterverkehrszentren, zu Terminals des kombinierten Verkehrs oder zu anderen kapazitätssteigernden Maßnahmen, die zwingende Voraussetzung dafür sind, integrierte Transportketten aufzubauen. Alles läuft wie gehabt nebeneinander her, und auf die traurigen Ergebnisse muß man nicht einmal mehr gespannt sein, weil wir sie heute schon kennen.Ein weiterer entscheidender Wettbewerbsnachteil der Bahn sind die Kostenvorteile des Straßenverkehrs. Auch dazu findet sich selbstverständlich kein Wort in der Koalitionsvereinbarung. Während die Betriebsbereiche der Bahn bereits seit diesem Jahr nach dem Trassenpreissystem ihre vollen Wegekosten erbringen müssen und daneben noch bei Dieseltraktion Mineralölsteuer entrichten müssen, trägt der Straßengüterverkehr, insbesondere der grenzüberschreitende Verkehr und der Transitverkehr, nach wie vor nicht einmal seine vollen Wegekosten.Zum 1. April 1994 wurde die Kfz-Steuer für Lkws in Deutschland um mindestens die Hälfte gesenkt. Dagegen wird erst zum 1. Januar 1995 die sogenannte Euro-Vignette, die für einen 40-Tonner-Lkw im Jahr maximal 2 500 DM kostet, eingeführt. Die Niederlande, Dänemark und Belgien haben schon durch eine entsprechende nationale Absenkung ihrer eigenen Kfz-Steuer reagiert. Als Ergebnis dieser mißglückten „Fiskalharmonisierung" muß man deshalb festhalten, daß Straßengütertransporte in Europa nicht teurer, sondern billiger geworden sind.Hinzu kommt, daß die Euro-Vignette nur für Autobahnen gilt, während das Trassenpreissystem der Bahn für das komplette Netz gilt. Die logische Folge sind massive Umsatzrückgänge des Bahngüterverkehrs schon in diesem Jahr. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wenn nichts geschieht, wird sich diese Entwicklung weiter verstärken und zu einem erkennbaren katastrophalen Ergebnis für den Güterverkehr der Bahn führen.Was sagt denn nun die Koalitionsvereinbarung zu diesem für das Verkehrsgewerbe und auch für die Bahn wichtigen Bereich? — Man höre und staune — ich zitiere —:Neue Verkehrsinfrastrukturen sollen stärker als bisher privat finanziert und betrieben werden. Deshalb werden wir Möglichkeiten prüfen, Wegekosten gerecht anzulasten und ausländi-
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Elke Fernersehe Verkehrsteilnehmer zur Finanzierung der Verkehrswege heranzuziehen.Das heißt also, daß die volle Wegekostenanlastung nicht etwa angestrebt wird, um endlich das Verursacherprinzip im Verkehr durchzusetzen, um den umweltverträglicheren Verkehrsträgern eine faire Wettbewerbschance zu geben, sondern nur, um privaten Investoren ihre Rendite zu sichern.Lassen Sie uns weiter nach Aussagen zum Abbau von Wettbewerbsverzerrungen suchen. Im letzten Absatz ist die Rede von der weiteren Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen in der EU und in Mittel- und Westeuropa. Zum Ziel wird gesagt: „Auf diesem Weg wollen wir die Marktposition der deutschen Verkehrsunternehmen, insbesondere des Straßengüterverkehrs und der Binnenschiffahrt, im internationalen Wettbewerb weiter stärken." Ich kann dazu nur sagen: Die Betroffenen sehen dies ganz anders. Frau Blank kann aus ihren Gesprächen mit den deutschen Binnenschiffern sicher genau das Gegenteil berichten.Die Wettbewerbssituation der Bahn interessiert Sie in diesem Zusammenhang wohl überhaupt nicht mehr. Sie sind froh, daß Sie mit unserer Hilfe — nur so ging es; Ihren ursprünglichen Entwurf konnte man nur in den Papierkorb werfen — die Bahnreform hinter sich gebracht haben. Nun soll die Bahn sehen, wo sie bleibt. Wenn Sie dies als Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern verstehen, haben Sie sich endgültig aus einer seriösen Verkehrspolitik verabschiedet.Wo wir gerade beim Stichwort Seriosität sind: Kommen wir doch einmal zum vielbeschworenen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Der staunende Leser findet im Regierungsprogramm der CDU/CSU mit dem anspruchsvollen Titel „ Wir sichern Deutschlands Zukunft" folgenden Satz:Bis zum Jahr 2012 werden über 450 Milliarden D-Mark in die Verkehrsinfrastruktur investiert.Irgendein Schlaumeier hat also den gesamten Kostenrahmen des völlig überzogenen Bundesverkehrswegeplans hergenommen und die Gesamtkostenschätzung mit den Mitteln gleichgesetzt, die investiert werden können.
— Sie wissen ganz genau, daß der vordringliche Bedarf nur die Hälfte dessen ausmacht. — Entweder war dies wieder eine bewußt. Täuschung der Wählerinnen und Wähler, oder es macht Ihre Inkompetenz in der Verkehrs- und Finanzpolitik endgültig offenkundig.
Wenn man den Fünf-Jahre-Plan der Bundesregierung bis zum Jahr 2000 kennt und weiß, welcher Bruchteil des Bundesverkehrswegeplans überhaupt eine reale Chance auf Umsetzung hat, stockt einem bei einer solchen Aussage im Regierungsprogramm schon der Atem. Weder dort noch in der Koalitionsvereinbarung findet sich der Mut zu der dringend notwendigen Prioritätensetzung. Mit „Allen wohl und niemandem wehe" werden Sie, liebe Kolleginnen undKollegen, die drängenden Verkehrsprobleme dieses Landes nicht lösen können.
Die Bürger und Bürgerinnen wissen längst, welche Mogelpackung dieser Bundesverkehrswegeplan ist. Hier müssen Sie nicht noch mit solchen Aussagen Augenwischerei betreiben.Wo wir schon bei eingeschränkten Spielräumen sind: Mit den zwei Investitionsmaßnahmegesetzen haben Sie Ihre Aussagen zur schnellen Umsetzung der Verkehrsprojekte deutsche Einheit selbst widerlegt. Mehr als zwei haben Sie nicht eingebracht, und das erste ist noch beim Verfassungsgericht anhängig. Sie haben es aufgegeben, parallel weiterzuplanen. Da kann man doch wahrlich nicht von Beschleunigung reden!
Wenn nun auch noch das Finanzierungsabenteuer Transrapid dazukommt, das vollständig aus dem Bundeshaushalt finanziert werden soll, frage ich mich, wie es gelingen soll, in den nächsten zehn Jahren zu einer auch nur ansatzweisen Verlagerung der Ost-WestTransitverkehre von der Straße auf die Schiene zu kommen. Was die Menschen wirklich interessiert, ist doch nicht die Frage, ob sie zehn Minuten schneller von Hamburg nach Berlin kommen, sondern ob sie schon in wenigen Jahren zwischen Zehntausenden von niederländischen und polnischen Lkw auf der Autobahn nach Berlin eingekeilt sind.
Sie bleiben die Antwort auf diese Frage schuldig.Ebenso offengelassen werden die Fragen nach der Reduzierung der Luftschadstoffe und des Benzinverbrauchs. Im Entwurf der Koalitionsvereinbarungen war immerhin noch von einem „Pakt der Zukunft" mit der Automobilindustrie und von einem Fünfliterauto die Rede. Das war wenig genug. Jetzt geht es nur noch um die Senkung des Durchschnittsverbrauchs um ein Drittel bis zum Jahre 2005, ohne daß gesagt wird, wie man dieses Ziel erreichen will. Reden Sie doch einmal Klartext!Der heutige Durchschnittsverbrauch — und das wissen auch Sie — liegt bei 9,8 Litern auf 100 Kilometer. Das heißt, die Reduzierung um ein Drittel führt im Endergebnis in den nächsten zehn Jahren gerade einmal zum 6,5-Liter-Auto, nicht zum Fünfliterauto und nicht zum Dreiliterauto. Wenn man dann noch eine steigende Fahrleistung zugrunde legt, kann man das Ziel einer Schadstoffausstoßreduzierung um ein Drittel auch vergessen. Die Folge ist: Die deutsche Automobilindustrie kann weiter in ihrem Dornröschenschlaf verharren und somit auch die wichtigen Märkte der Zukunft verschlafen.Völlig ausgespart haben Sie — man möchte fast sagen: natürlich — auch die Verkehrssicherheit. Rund 10 000 Tote und eine halbe Million Verletzte im Jahr werden offensichtlich nur noch achselzuckend zur Kenntnis genommen. Wenn man weiß — und das tun
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 303
Elke FernerSie, meine Damen und Herren von der Koalition —, daß jeder fünfte Verkehrstote sein tragisches Ende dem Alkohol zu verdanken hat, ist das taktische Verzögerungsspiel, das Sie in der letzten Wahlperiode betrieben haben, um nicht über die von SPD und vom Bundesrat geforderte Senkung der Promillegrenze entscheiden zu müssen, wirklich zynisch.
Es ist um so zynischer, als die Mehrheit im Bundestag für eine Absenkung der Promillegrenze vorhanden war. Das wissen Sie genausogut wie ich. Zu diesem Punkt werden wir Ihnen demnächst wieder einen Antrag servieren, und dann werden wir sehen, daß in diesem Haus die Mehrheit für eine Senkung der Promillegrenze vorhanden ist.
Es paßt ebenso ins Bild, daß Sie sich aus ideologischer Verbohrtheit nicht zu einem Tempolimit durchringen können und daß Sie sogar die Zuständigkeit der Europäischen Union für die Verkehrssicherheit, die Sie mit Ihrer Zustimmung zum Unionsvertrag befürwortet haben, jetzt wieder verneinen.Da paßt es ins Bild, daß eine seit langem vorliegende Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen zur Verbesserung der Bus-Sicherheit monatelang in den Schubladen des Ministeriums verschwand und nicht veröffentlicht wurde, weil man vor der Wahl offensichtlich jede Auseinandersetzung — und sei sie noch so notwendig — scheute.Luftverkehr und Schiffahrt kommen natürlich in der Koalitionsvereinbarung auch nicht vor. Offensichtlich ist die Koalition der Meinung, daß auf diesen Gebieten auch nichts zu tun ist: nichts zu tun hinsichtlich der künftigen Luftverkehrsbeziehungen der Staaten der EU zu den USA, die dort heute schon heftig diskutiert werden; nichts zu tun beim Umweltschutz im Flugverkehr und zur Vermeidung weiterer Schäden der Ozonschicht.
— Lieber Kollege Friedrich, Sie wissen ganz genau, daß die Nichtbesteuerung des Flugbenzins natürlich auch etwas mit den Preisen zu tun hat, die für Flugtickets bezahlt werden müssen. — Sie wollen nichts tun, um das ständig weitere Ausflaggen, das Lohn- und Sicherheitsdumping in der deutschen Schiffahrt zu verhindern. Sie tun auch nichts, um die ruinöse Wettbewerbssituation der deutschen Binnenschiffahrt zu verbessern.Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Die Liste der offenen Fragen ließe sich weiter fortführen.Ihre EU-Ratspräsidentschaft haben Sie sehr zur Verärgerung Ihrer europäischen Kollegen für Wahlkampfzwecke mißbraucht. Die längst überfällige Verkehrswende in Europa haben Sie jedenfalls nicht eingeleitet, Herr Minister.
Sie haben mit Ihren Koalitionsvereinbarungen noch nicht einmal Ihre dürftige Verkehrspolitik derletzten Jahre selbstkritisch überdacht, geschweige denn Lösungsansätze für die anstehenden Probleme benannt. Sie haben keine Antworten auf die zunehmenden Umweltbelastungen durch den Verkehrssektor. Sie machen der Industrie nicht die notwendigen Vorgaben, und Sie wollen weder die Diskussion noch Maßnahmen zur Anlastung der externen Kosten voranbringen — weder auf der nationalen noch auf der europäischen Ebene.Ökologische Verkehrspolitik, Verkehrsvermeidungsstrategien, Aufbau integrierter Transportketten, Auf- und Ausbau der Schnittstellen und Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen zwischen den einzelnen Verkehrsträgern — das hätten die Stichworte in Ihrer Koalitionsvereinbarung sein müssen.Sie dagegen gefährden durch Ihre Untätigkeit bei der Schaffung fairer Rahmenbedingungen die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn, der deutschen Binnenschiffer und auch des deutschen Speditionsgewerbes. Sie setzen keine Prioritäten bei den Infrastrukturinvestitionen zugunsten der Schiene oder des ÖPNV. Sie wollen Ihr maßloses Straßenbauprogramm zu Lasten künftiger Generationen durch den ungedeckten Wechsel weiterer sogenannter Privatfinanzierungen durchsetzen, und Sie tun nichts für die Verkehrssicherheit.Die Bevölkerung unseres Landes und die deutsche Verkehrswirtschaft sind nicht länger bereit, das so hinzunehmen und Ihr Herumgewurstele weiter zu akzeptieren. Der öffentliche Unmut über das Fehlen eines überzeugenden Gesamtkonzepts ist schon heute unüberhörbar. Wir werden unsere Vorschläge dazu machen.
Sie sind bei den Wahlen noch einmal knapp davongekommen. Ob das eine vernünftige, solide Geschäftsgrundlage für die kommenden vier Jahre ist, werden wir sehen. Ihre Regierungserklärung und die dürftige Koalitionsvereinbarung jedenfalls sind für uns keine gemeinsame Geschäftsgrundlage für weitere Fortschritte in der Verkehrspolitik.
Das Wort hat die Abgeordnete Gisela Altmann — Verzeihung, Irrtum meinerseits.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Verkehr, Matthias Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte natürlich der Frau Kollegin gern den Vortritt gelassen, aber wahrscheinlich zieht sie es vor, nach mir zu sprechen.Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem, was Frau Ferner gesagt hat, fällt mir das Wort des Abgeordneten Joschka Fischer in seinem Debattenbeitrag ein, wonach man eines nicht machen wolle: eine Oppositionspolitik, die alles das,
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304 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Bundesminister Matthias Wissmannwas die Regierung mache, für falsch erklärt. Eine solche Oppositionspolitik halte er für „dämlich".
Wenn man die Politik der Regierung so undifferenziert beurteilt, wie Frau Ferner das soeben getan hat, dann kann mit der sachlichen Einstellung zum Thema irgend etwas nicht stimmen. Herr Daubertshäuser, der frühere SPD-Sprecher für Verkehrspolitik, hat am Ende der letzten Wahlperiode erklärt, man könne in der Verkehrspolitik sicher das eine oder andere an der Regierung aussetzen, aber eines könne man nicht bestreiten: Es sei nie so viel in der Verkehrspolitik positiv entschieden worden wie in den beiden letzten Jahren. — Meine Damen und Herren, das kann doch nicht bestritten werden. Das kann sich doch nicht in wenigen Wochen geändert haben.
Die Bahnreform, die Lufthansa-Privatisierung, die erstmalige Prioritätensetzung für die Schiene, das Planungsvereinfachungsgesetz, die Transrapid-Entscheidung — diesen Weg werden wir natürlich weitergehen, und das tun wir ja mit unseren Konzepten auch in der Koalitionsvereinbarung.Eines will ich klar sagen: Wer an der Länge von Texten in Koalitionsvereinbarungen die Qualität von Politik mißt, der hat noch etwas mit dieser Seminarverliebtheit sozialdemokratischer Dogmatik zu tun, die an der Länge der Exegese von Texten die Zukunftsfähigkeit von Politik mißt.
Natürlich ist die Verkehrspolitik ein wichtiger Mittelpunkt unserer gesamten Wirtschafts- und Umweltpolitik: 27 Milliarden DM Investitionen auch im Haushalt 1995, erstmals mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan, den wir jetzt Jahr für Jahr abarbeiten,
mehr Investitionen in die Schiene als in die Straße, ohne die Straße zu vernachlässigen.Eines ist ganz wichtig: Wir werden auch in Zukunft Engpässe auf Autobahnen und Bundesstraßen beseitigen, im notwendigen Umfang Ortsumgehungen bauen und vor allem das deutsche Schienennetz konkurrenzfähig gegenüber der Straße machen müssen. Daß dabei der Nahverkehr eine große Rolle spielt, weiß jeder, der nicht Pauschalreden hält, sondern sich mit der Sache beschäftigt.Gestern sind sich die Länderverkehrsminister, das Bundesverkehrsministerium und die Bahn AG bei folgenden Fragen nähergekommen: Wie können wir eigentlich den Nahverkehr stärken? Wie können wir die Trassenpreise der Bahn so gestalten, daß der Schienenpersonenverkehr Zukunft hat? Wir alle wissen doch: 1996, 1997, 1998, 1999 und 2000 werden wir mehr Geld für die Entwicklung des Schienenpersonenverkehrs und des öffentlichen Nahverkehrs einsetzen als irgendwann zuvor in der Geschichte unseres Landes, weil wir wissen, daß wir hier zukünftig mehr investieren müssen, um Verkehr von der Straße wegzuholen und um gerade in den Ballungsräumen den Menschen eine Perspektive zu geben, die sie in einer Welt, in der die Belastung der Umwelt ohnehin groß genug ist, nicht ersticken läßt.
Wir setzen einen klaren Schwerpunkt bei der Entwicklung moderner Verkehrstechnologien, bei einem intelligenteren Management im Personen- und Güterverkehr. 30 % des Güterverkehrs sind Leerverkehr. 40 % des Verkehrs in vielen Städten ist parkplatzsuchender Verkehr. Wer das Wort von der Verkehrsreduzierung und Verkehrsvermeidung nicht zu einer Leerformel werden lassen will, der muß dafür sorgen, daß wir mit elektronischen Leitsystemen und mit moderner Logistik solch unnötigen Verkehr verringern können. Die City-Logistik in Kassel hat mittels Einsatz moderner Verkehrsleitsysteme den Stadtgüterverkehr bestimmter Speditionen und Fuhrunternehmen von 17 auf 4 verringern können. Darin liegt Zukunft. Technische Lösungen sind die Bedingung dafür, daß wir unserer Verkehrsprobleme Herr werden,
nicht leere Programmrituale, wie sie soeben angesprochen worden sind.Wir müssen natürlich die Umsetzung der von allen Parteien dieses Hauses getragenen Bahnreform voranbringen. Deswegen kommt am 1. Januar 1996 die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs mit riesigen Folgeinvestitionen in den gesamten Schienenpersonenverkehr. Deswegen stärken wir die Schnittstellen, Güterverkehrszentren und Umschlagbahnhöfe; denn wir wissen, daß an den schwachen Schnittstellen zwischen Straße und Schiene eines der Probleme bei der Entwicklung des Verkehrs der Zukunft und bei der Verlagerung des Verkehrs besteht. Fast 4 Milliarden DM werden wir in diesen Bereich investieren. Deswegen werden wir so bald wie möglich drei eigenständige Unternehmen unter dem Dach der Bahn AG für Personen-, Güter- und Schienenwege schaffen und Schritt für Schritt Aktien — teilweise auch in private Hände — ausgeben. Deswegen haben wir die Lufthansa-Privatisierung eingeleitet, weil wir an Privatisierung und Deregulierung als Mittel moderner Verkehrspolitik glauben. Wir werden alles daransetzen, daß noch im Jahre 1995 der Anteil des Bundes an der Lufthansa auf Null heruntergeht.Wir haben aber keine blinde Privatisierungspolitik verfolgt. Nehmen Sie das Beispiel Lufthansa. Sie ist immer von günstigen staatlichen Rahmenbedingungen begleitet worden: durch die Schaffung des deutsch-amerikanischen Luftverkehrsabkommens, durch die Lösung der Altersversorgungsproblematik bei der Lufthansa. Denn wir wissen genau: Wir brauchen als große Industrienation in Zukunft einen Global Player, der in der Lage ist, die Exportposition Deutschlands, aber natürlich auch die Schnittstellenfunktion Deutschlands auf den europäischen Märkten zu behaupten. Die Lufthansa ist heute besser denn je in der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Auch das ist ein Erfolg unserer Politik.
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 305
Bundesminister Matthias WissmannMeinen Damen und Herren, Sie sprechen von Schiffsbau und der Tendenz, das Ausflaggen zu stoppen. Wir haben im Haushalt 1995 rund i00 Millionen DM eingestellt, um die Schiffahrtsposition Deutschlands zu stärken. Wir tun dies auch auf europäischer Ebene. Wir haben bei der letzten Sitzung der europäischen Verkehrsminister erstmals große Fortschritte erreicht: nicht nur bei der Entwicklung von Wettbewerbsregeln für den Seeverkehr, sondern auch bei der Schiffssicherheit. Wenn wir jetzt endlich bei der Hafenstaatskontrolle eine gemeinsame europäische Position haben, wenn wir bei der Fährschiffsicherheit und bei der Ausbildung von Seeleuten eine gemeinsame europäische Position entwikkeln, um die Qualitätsstandards zu steigern, dann sei dies, so sagt der französische Verkehrsminister, auch ein großer Erfolg der deutschen Präsidentschaft. Wenn wir gemeinsam in Europa vorankommen, darf man das, so finde ich, auch hier im Deutschen Bundestag sagen.
Meine Damen und Herren, zu Recht wurde die Notwendigkeit angesprochen, den Autoverkehr umweltverträglicher zu machen. Auch hier haben wir als Bundesregierung ein engagiertes Programm vorgelegt. Wir wollen einen Zukunftspakt mit der Automobilindustrie entwickeln, der aus drei Bestandteilen besteht: zum ersten aus der Verbesserung der europäischen Abgasgrenzwerte — nach Euro I 1993 und Euro II 1996 folgt für 1999 jetzt Euro III —, zum zweiten aus der emissionsorientierten Umgestaltung der Kfz- Steuer für den Pkw — in der letzten Legislaturperiode haben wir bereits die Lkw-Steuer emissionsorientiert umgestaltet, als erstes Land in Europa; auch hier haben wir die Vorreiterrolle wahrgenommen —, schließlich aus einer Verpflichtung der Industrie, den Kraftstoffverbrauch Schritt für Schritt zu senken. Bei den in Deutschland hergestellten Autos erreichen wir gegenwärtig einen durchschnittlichen Kraftstoffverbrauch von etwas mehr als sieben Liter. Unser Ziel muß ein Kraftstoffverbrauch von etwas mehr als fünf Liter im Jahr 2005 bei den in Deutschland hergestellten Pkw sein.Meine Damen und Herren, Umweltpolitik heißt bei uns nicht leere Reden. Wir machen Umweltpolitik in konkreten Schritten, die wir dann auch durchsetzen und nicht nur als Programmformeln vor uns hertragen.
Insofern wird die Verkehrspolitik der Zukunft auch den Diskurs im Parlament verlangen. Dazu sind wir gerne bereit, auch über die klassischen Grenzen von Regierung und Opposition hinweg. Meine Bitte ist nur: Halten Sie keine pauschalen Reden, sondern fördern Sie diesen Diskurs durch intelligente Anregungen! Es würde der gemeinsamen Verkehrspolitik dienen.
Frau Abgeordnete Gila Altmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Wissmann, Sie haben Joschka Fischer zwar richtig zitiert, aber die Verkehrspolitik hat er damit bestimmt nicht gemeint.
— Ich denke, er ist omnipotent, er kann auch das. —
Die Verkehrspolitik der Bundesregierung läßt sich wie folgt charakterisieren: Sie wissen nicht, wo es langgeht, aber das mit aller Macht. Da werden vom Kanzler höchstpersönlich Legenden gesponnen, um mit dem Monstrum Planungsbeschleunigungsgesetz mit den 17 sogenannten Maßnahmegesetzen
— ich kann zählen —, die nichts weiter sind als eine gigantische Entdemokratisierungsmaßnahme, Einspruchsrechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie Verbänden zu verhindern.
— Sie können ja untereinander diskutieren, aber mich bringt das ein bißchen aus der Fassung.
Ausgerechnet die Planungsfrist bei Schienenstrekken muß als Beleg dafür herhalten, daß jeder Rest von Transparenz vernebelt werden soll, um der vereinigten Bleifußlobby die Betonpisten zu ermöglichen. Ausgerechnet der Aufbau Ost wird vorgeschoben, um die Massenmotorisierung noch ein paar Jahre über die Runden zu retten, indem mühsam erkämpfte Umwelt- und Klagerechte zurückgenommen werden.
Aber die Menschen haben gelernt, sich gegen solche gigantischen Projekte zu wehren, die im Schweinsgalopp durchgepeitscht werden sollen, z. B. das Milliardengrab Transrapid oder der Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen.Wenn es zu Planungszeiträumen von mehr als 20 Jahren kommt, dann handelt es sich um 20 Jahre verfehlte Straßenbaupolitik. Maßnahmen wie die A 49 Kassel-Gießen oder die A 4 Olpe-Hattenbach sind Beispiele dafür.
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306 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Gila Altmann
— Ich weiß, Sie hören das nicht gern. Aber es ist nun einmal so. — Große Schnellbahnstrecken dagegen wie Hannover-Würzburg konnten von der Planung bis zur Inbetriebnahme in weniger als zwölf Jahren realisiert werden — trotz Bürgerbeteiligung und Verbandsklage. Diese Instrumente haben sich mitnichten als Hemmnis, sondern — im Gegenteil — als Planungsverbesserung und ökologische Optimierung der Trasse erwiesen.
Heute zieht die Bahn bereits von sich aus diesen Sachverstand heran, so beispielsweise im Bereich KölnFrankfurt und beim Ausbau Dortmund-Kassel. Bürokratisches, nicht ökologisches Denken hat bisher die Planungszeiträume zum Teil bis zu 30 % verlängert.
Jetzt muß ich ein paar kritische Worte zur SPD —
bei der CDU weiß man ja ohnehin, was man hat — sagen: Das, was Sie von der SPD gesagt haben, kann man nur unterstützen, nur leider sieht die Situation vor Ort anders aus. Auf kommunaler und Länderebene ist die SPD die Betonlobby per se.
Das muß ich einfach einmal sagen.
Aber ich hoffe, daß bei der nächsten Abstimmung über einen gemeinsamen Antrag von SPD und Grünen Ihre Fraktion vollzählig anwesend ist.
Um noch einmal auf den Bundesverkehrswegeplan zurückzukommen: Das ist das gigantischste Flächenversiegelungsprogramm, das diese Republik je gesehen hat. Das wollen Sie jetzt mit Ihrem Beschleunigungsgesetz umsetzen, allerdings so, daß es keiner merkt.
Dabei soll mit der Angabe — ich zitiere Herrn Wissmann sinngemäß —, es werde erstmals auch 50 % Schienenausbau gefördert, der staunenden Bevölkerung vorgemacht werden, es handele sich um ein Gleichziehen der Investitionen in Straße und Bahn. Sie vergessen allerdings, zu erwähnen, daß Sie die Bahn 40 Jahre lang vernachlässigt, ja verkommen ließen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Geht das von meiner Redezeit ab?
Nein.
Dann bin ich mal gespannt.
Frau Kollegin, sollte es tatsächlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, daß das erste Verkehrsprojekt deutsche Einheit, das fertiggestellt worden ist, der zweigleisige und elektrifizierte Ausbau der Bundesbahnstrecke HalleKassel gewesen ist, und zwar für 400 Millionen DM, bevor zum Bau der A 82 überhaupt ein Spatenstich getätigt worden ist?
Das ist richtig, nur von Dekorationsobjekten allein haben wir leider nichts. Es muß ein Gesamtkonzept her! Da sieht die Gesamtbilanz leider ganz anders aus. —
Die Bahn ist von Ihnen 40 Jahre lang vernachlässigt worden. Das läßt sich auch mit einer einmaligen Investition von schlappen 200 Milliarden DM nicht beheben.
—200 Milliarden DM kann ich nicht einmal auf einmal zählen, aber man muß ja sehen, was sonst noch ausgegeben wird.Durch die Privatisierung der Bahn droht dem regionalen Schienenverkehr das finanzielle Aus — und das, wo gerade der Nahverkehr dringend eine Sanierung braucht, die mit den Mitteln der Bahnreform allein nicht zu leisten ist. Das Bahnnetz muß wieder geschlossen werden. Das heißt aber nicht in erster Linie Schnellverkehrsstrecken, sondern viele Lückenschlüsse in der Fläche, besonders im Grenzbereich zur ehemaligen DDR.
90 % aller Verkehre sind Nahverkehre. Der Ausbau des ÖPNV heißt Mobilität schaffen für alle und nicht nur für eine exklusive Minderheit. Denn wenn Sie von Mobilität reden, meine Herren von der CDU, dann meinen Sie Mobilität für diejenigen, die es sich leisten können, und zwar auf Kosten derjenigen, die abgehängt sind: Kinder, alte Menschen, Alleinerziehende und Frauen. Männer besitzen das Auto, Frauen erledigen die Familienarbeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad.
— Ja, aber ich weiß auch, wie hoch der Verteilungsanteil prozentual ist. 70 % der Autos gehören den Männern. —
Als Ausgleich dürfen die Menschen ohne Auto unter den Folgen des ungebremsten und subventionierten Autowahns leiden.
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Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 307
Gila Altmann
— Hört mir hier überhaupt noch jemand zu?
8 000 Unfallopfer pro Jahr, Stickoxide, Benzol und Lärm machen besonders Kinder krank. Hier gilt es — das ist an die Adresse von Frau Nolte gerichtet —, das geborene Leben zu schützen, Lebensräume und die Gesundheit der Kinder zu erhalten, anstatt die Kinder im Sommer wegen Ozonalarms wegschließen zu müssen, damit sich ihre Väter in ihren bunten Blechkisten weiterhin selbstverwirklichen können.
Es geht hier nicht darum, mit Rezepten von vorgestern zu reagieren, sondern um neue Mobilitätskonzepte, neue Verkehrsträger und Verkehrsvermeidung. Ihre Versprechungen von Rio, bis 2005 die CO2-Emissionen um 25 % zu senken, haben sich bereits als Versprecher entpuppt. Wenn der Bundesverkehrswegeplan mit seinen 11 500 km Fernstraßen tatsächlich bis 2010 realisiert wird, bedeutet das laut Bundesumweltamt einen CO2-Anstieg um 15 %.
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist schon ein Stück überschritten. Bitte nur noch einen Schlußsatz.
Wir wissen, daß in der Bevölkerung die Bereitschaft für einen Strukturwandel in der Verkehrspolitik vorhanden ist, wie der letzte Ozonalarm im Sommer 1994 gezeigt hat. Verschließen Sie nicht länger die Augen und die Ohren, sondern schaffen Sie endlich die gesetzlichen Rahmenbedingungen! Wir vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden Ihnen in Zukunft permanent und ungebremst im Nacken sitzen.
Danke schön.
Herr Kollege Horst Friedrich, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Altmann, ich freue mich auf die Zusammenarbeit im Verkehrsausschuß mit Ihnen. Vielleicht können wir uns am Ende der Periode etwas mehr an Sachargumenten orientieren als an reinen Phrasen.
Die Bonner Koalition hat in der letzten Wahlperiode große Erfolge erzielt, auch wenn es die Opposition nicht wahrhaben will. Ich nenne hier die Postreform, die leider am Widerstand der SPD so weit gescheitert ist, daß man nur noch von einem Reförmchen reden
kann. Es wäre besser gewesen, Sie hätten mehr gemacht.
— Es ist ja ein Skandal, daß Ihre drei Verhandlungsführer in der Halbzeit zurückgezogen worden sind, weil sie Angst hatten, wieder aufgestellt werden zu müssen.
Denken Sie doch erst einmal nach.
Die Postreform, die Bahnreform und auch das Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 sind nur drei Beispiele dafür, daß wir in der letzten Wahlperiode konsequent gearbeitet haben. Es ist auch schlicht und ergreifend nicht notwendig, einen Bundesverkehrswegeplan als Bestandteil in eine Koalitionsvereinbarung hineinzuschreiben, wenn er schon beschlossen ist.
Ich kann es nur wiederholen: Es kommt nicht darauf an, wie lang oder wie kurz die Vereinbarung ist, sondern darauf, daß sie umgesetzt wird. Wir haben in der letzten Periode bewiesen, daß wir tatkräftig sind. Wir werden das in dieser Periode fortsetzen, liebe Kollegin Elke Ferner.
Gerade in der Verkehrspolitik hat die Koalition ihre Hausaufgaben hervorragend gemacht. Die Jahrhundertwerke Bahnreform, Bundesverkehrswegeplan, Reform des Planungsrechtes und auch das Tarifaufhebungsgesetz sind verabschiedet. Wir hätten uns manchen Schritt deutlich mutiger vorstellen können. Aber es ist eben so: Man muß in der Koalition ein bißchen aufpassen. Man muß auch mit der Opposition im Bundesrat ein bißchen schäkern.
Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Nein.In der neuen Wahlperiode wird es darum gehen, diese Erfolge zu sichern und auszubauen. Wir denken daran, dies im Sinne einer leistungsfähigen und umweltschonenden Verkehrsinfrastruktur zu tun.Lassen Sie auch mich mit einem Zitat fortfahren, allerdings von Rudolf Scharping.
Er hat im Zusammenhang mit dem Transrapid an den Betriebsratsvorsitzenden der Thyssen Henschel GmbH geschrieben:Der Transrapid ist für mich unter technologischen Aspekten eine sehr interessante und anspruchsvolle Entwicklung. Ein Vorhaben also, das insoweit durchaus einer zukunftsorientierten Technologiepolitik entspricht, wie sie von der SPD auf Bundesebene früher praktiziert wurde— man bedenke „früher" —
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308 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Horst Friedrichund heute— wahrscheinlich nicht mehr —gefordert wird. Und Du— sagt Rudolf Scharping zu Herrn Vetter —hast mit Deiner Feststellung recht, daß man einem derartigen technologischen Sprung nicht mit den Maßstäben oder gar Ideologien von vorgestern gerecht werden kann.Wunderbar, recht hat der Mann. Nur, setzen Sie das dann bitte auch um.
Wir versuchen, den Verkehr von morgen nicht mit den Rezepten von gestern zu bewältigen. Wir sind z. B. dafür, daß die Verkehrsströme auf der Autobahn nicht mit einem starren Tempolimit geregelt werden, sondern mit intelligenten Verkehrsleitsystemen. Sie sind nämlich wesentlich effizienter.
Herr Kollege Friedrich, die Kollegin Matthäus-Maier möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte, da ich drei Themenkomplexe habe, im Zusammenhang referieren. Ich bitte um Verständnis.
— Ich bleibe bei der Wahrheit. Ich kann alles belegen, Herr Kollege Scheffler.Wer das Auto allerdings verteufelt, wer z. B. Mittel für den Fernstraßenbau kappen will und sich dann hinterher beschwert, daß im Osten keine Ortsumgehungen gebaut werden, macht keine Politik, der macht Verhinderungspolitik. Er darf sich dann allerdings auch nicht wundern, wenn in der deutschen Automobilindustrie Arbeitsplätze fehlen und dann wieder die Klage kommt, daß wir für die Arbeitsplätze nichts tun. Jede Konsequenz aus einer Handlung heraus hat auch eine Gegenreaktion. Das muß man endlich akzeptieren. Da nützt es dann auch nicht, eine „Abwrackprämie" zu finanzieren oder zu fordern, die kurzfristig die Konjunktur erhöht und, wenn sie ausgelaufen ist, eine neue Subvention braucht, um die abschwingende Konjunktur auszugleichen. So geht es nicht.Der Verkehrsbereich hat — und das wird sich noch steigern — bei der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West eine wichtige Funktion. Wir haben deshalb immer wieder betont — und dabei bleiben wir; das gilt auch für die neue Wahlperiode —, daß die Verwirklichung der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit absolute Priorität hat. Das muß zügig umgesetzt werden.
Wir haben allerdings auch bewiesen, daß die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit beispielhaft auch dafür stehen können, daß mit privatem Planungskapital schneller, zügiger und deutlich effizienter als bisher umgesetzt und geplant werden kann. Das muß man auch einmal sagen. Das, was die DEGES und die Planungsgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit hier geleistet haben, ist beispielhaft.
Jetzt muß es darum gehen, die Finanzierung sicherzustellen. Da unterstütze ich den Verkehrsminister bei seinem Ziel, über neue Betreibermodelle und Finanzierungsmöglichkeiten nachzudenken. Nachdenken ist nicht verboten. Man muß dann die Ergebnisse entsprechend bewerten und umsetzen.
Der zweite große Schwerpunkt der jetzigen Legislaturperiode aus verkehrspolitischer Sicht, meine Damen und Herren, ist die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im liberalisierten Europa. Gerade wir als Liberale, die dafür eingetreten sind,
daß Marktbeschränkungen fallen, haben aus meiner Sicht das Recht, aber auch die Pflicht, ebenso konsequent von den anderen Ländern in Europa zu verlangen, daß die zugesagten Harmonisierungsbedingungen auch eintreten und die gemeinsam beschlossenen Richtlinien umgesetzt werden. Das ist nicht nur im Fiskalbereich wichtig. Die größeren Probleme liegen im sozialpolitischen Bereich. Es macht den Kostenfaktor aus, wenn ein holländischer LKW-Unternehmer mit seinem Fahrer 180 000 km im Jahr fahren kann, während ein deutscher nur 120 000 km mit einem Fahrer zustande bringen kann. Da sind die eigentlichen Knackpunkte. Das müssen wir aufnehmen.
Ich bin darauf gespannt — das wird ein weiterer wichtiger Punkt sein —, wie der Bundesfinanzminister einen vernünftigen Vorschlag zur Senkung der Kfz- Steuer für LKW zwischen 12 und 16 t vorlegt. Das muß zügig umgesetzt werden.Das gleiche gilt natürlich auch für eine konsequente Umsetzung der Bahnreform. Ich habe heute gelesen, daß die Bahn daran denkt, 20 IC-Züge im Güterbereich einzusetzen, die Schnellgüter befördern müssen. Hervorragend. Nur frage ich mich: Warum denn erst jetzt? Warum ging das denn nicht eher? Ich hätte dazu keine anderen gesetzlichen Rahmenbedingungen gebraucht. Das ist eine rein organisatorische wirtschaftliche Aufgabe.
Dazu brauche ich keinerlei gesetzliche Rückendekkung.
Das gilt im übrigen auch bei der Umsetzung derNahverkehrskonzepte. Was hier mit dem Nichtver-
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Horst Friedrichkauf der Bahn-Busgesellschaften betrieben wird, ist schlicht und ergreifend ein Skandal. Die einzige Bahn-Busgesellschaft, die tatsächlich verkauft wurde, die Regionalbusgesellschaft in Augsburg, hat es innerhalb von zwei Jahren fertiggebracht, von 2,3 Millionen DM Defizit im Jahresergebnis auf ein Plus von 1,4 Millionen DM zu kommen, ohne daß eine einzige Linie stillgelegt wurde. Sie hat allerdings erreicht, daß 35 % mehr Beförderung zu verzeichnen ist, insbesondere im Schülerverkehr und im Bereich der Personen, die zur Arbeit fahren. Das ist die richtige Antwort: eine Umstellung der Angebote, weg vom reinen Fahrplanangebot, hin zur Nachfrage und zum Bedarf, und dann das Angebot eines zweckgerechten Nahverkehrs. Der kostet nicht mehr Geld; er bringt mehr ein. Das ist genau die Situation, zu der wir gelangen müssen. Da werden wir den Herrn Dürr lange genug triezen, damit er da weitermacht.
Dann sind wir bei dem zweiten Punkt. Es macht überhaupt keinen Sinn, in der Fläche ausschließlich auf den Verkehrsträger Schiene zu setzen. Das wird eine Nullnummer. Es kann nicht sein, daß jeder kleine Ort an eine Schiene angebunden ist. Der umweltfreundlichste Verkehrsträger das gibt selbst die Bahn zu in der Fläche ist nicht die Schiene, sondern der Bus.
— Doch, hier wurde gerade eine andere Aussage gemacht.Es bringt überhaupt nichts, dies so hochzustilisieren und zu ideologisieren. Der Bus muß eine entsprechende Einbindung erhalten. Allerdings bedeutet das, daß man sich mit Privatisierung befassen muß.Auch über die Umweltproblematik des Treibstoffs wird neu nachzudenken sein. Es nützt überhaupt nichts, eine Absenkung des Schwefelgehaltes im Diesel zu fordern, die zur Folge hätte, daß 1 t NOX, die reduziert wird, eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes um 10 t einbrächte. Für uns würde das bedeuten, daß wir im Jahr 38 000 t NOX einsparen, aber einen Mehrausstoß von CO2 in Höhe von 380 000 t haben. Das kann eigentlich keine logische Umweltpolitik sein. Auch darüber müssen wir neu nachdenken, und zwar mit der Mineralölindustrie und der Autoindustrie. Das wird von uns Liberalen, der wir der Forschung verpflichtet sind, deutlich gemacht.
— Auch über die nachwachsenden Rohstoffe wird nachzudenken sein.Ich muß, meine Damen und Herren, zum Abschluß noch zwei Worte zur Bauministerin sagen. Herr Bauminister Töpfer, ich wünsche Ihnen in Ihrem neuen Amt viel Glück. Die Vorgängerin hat in ihrer Amtszeit bestimmte Rahmendaten gesetzt. Unter Irmgard Schwaetzer sind die Fertigstellungszahlen bei Wohnungen so weit gestiegen, daß heute das Schlagwort gelten kann: In jeder Minute, die in Deutschland abläuft, wird eine Wohnung fertiggestellt. Das hat es noch nie gegeben. Sie können erzählen, was Siewollen; das sind Tatsachen, die nicht zu leugnen sind.
Darüber hinaus ist selbstverständlich auch bei Mieten in den Spitzenlagen, zumindest bei Neuvermietungen, eine Trendwende zu erkennen. Das ist ein erster Schritt zu einer Verbesserung des sozialen Friedens.Wir werden alle Initiativen ergreifen, die dazu führen, mehr Menschen zu Wohneigentum zu verhelfen. Das heißt für uns auch, die Vorspar-, die Bausparförderung deutlich zu verstärken. Es war die F.D.P., die die Arbeitnehmersparzulage, die gestrichen werden sollte, erhalten hat. Wir haben sie gerettet, auch wenn uns das keiner
zugetraut hat.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auf die neue Periode. Wir werden sehr intensive und lebendige Gespräche führen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es muß verkehrspolitisch sofort gehandelt werden. Im Hinblick auf die Klimaproblematik ist vor allem der mit dem Verkehrswachstum verbundene steigende Ausstoß an Kohlendioxyd, Hauptverursacher des anthropogenen Treibhauseffektes, von entscheidender Bedeutung. Zentrale Größe einer klimaverträglichen Verkehrspolitik ist die Verkehrsvermeidung.Sehen Sie mich nicht so ängstlich an, Herr Kollege Wissmann! Gerade das haben Sie nicht in Ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben. Die Quelle ist aber trotzdem ganz interessant; es handelt sich um Worte des Kollegen Lippold , seines Zeichens Vorsitzender der letzten Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre", den wir gestern in vollem Einsatz erleben konnten. Man wünscht sich fast, Sie hätten den Kollegen Lippold in die Verhandlungskommission genommen, aber natürlich mit dem eben zitierten Ansatz. Daß Sie es nicht getan haben, spricht Bände.
Statt dessen finden wir in den ersten Äußerungen der Bundesregierung hohle Sprechblasen, die ein Hohn für die mühevolle Arbeit der Sachverständigen und Abgeordneten der Enquete-Kommission sind. So kann man nur zu dem Schluß kommen: Außer Spesen nichts gewesen!Unter der schillernden Überschrift „Schaffung einer zukunftsgerechten Verkehrsinfrastruktur" findet sich in der Koalitionsvereinbarung ein Sammelsurium von Phrasen, die alles und gar nichts aussagen, wie z. B. die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland durch den Aufbau moderner Verkehrswege. Das
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310 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994
Dr. Dagmar Enkelmannheißt doch nichts anderes als die Übertragung des Dauerstaus westdeutscher Straßen auf den Osten. Die Chance einer grundsätzlich neuen, ökologisch orientierten Verkehrspolitik aber, die durchaus beispielhaft für den Westen sein könnte, wird nicht begriffen und schon gar nicht genutzt.Ein anderes Beispiel: „Die umweltfreundlichen Verkehrsträger Bahn und Schiff werden gestärkt." Das hört sich doch ganz gut an. Sieht man aber einmal dahinter, dann kommt folgendes heraus: Durch den ökologisch und verkehrspolitisch unsinnigen Ausbau z. B. der Wasserstraßen und Kanäle im Osten wird in erster Linie für den Profit der großen Reedereien gesorgt, der kleine Binnenschiffer bleibt auf der Strecke.
Erneut wird in der Koalitionsvereinbarung die Legende vom Transrapid als neuem, umweltfreundlichem Verkehrsträger strapaziert. Hier gleicht im übrigen nicht nur das Finanzierungskonzept einem löchrigen Schweizer Käse. Von Koalitionsseite wurde sogar eingestanden, u. a. auf der Anhörung zum Transrapid, daß das Projekt verkehrspolitisch nicht notwendig sei. Alternative Varianten liegen ausreichend vor und wurden hier bis zum Erbrechen diskutiert, u. a. die Frage der ICE-Anbindung oder des Einsatzes von Neigetechnik auf dieser Strecke. Warum also das Ganze? Weil es einzig um die Steigerung der Exportchancen für Thyssen, Siemens und Konsorten geht und damit um deren Profite, um nichts anderes.
Einer Meldung von gestern war zu entnehmen, daß Thyssen im vergangenen Geschäftsjahr einen Konzernüberschuß von 90 Millionen DM erzielt hat. Da muß dieses Unternehmen nicht noch von dieser Bundesregierung protegiert werden.
Insgesamt aus verkehrspolitischer Sicht gibt es also nichts Neues, obwohl gerade hier für ein Umdenken — siehe oben die Worte des Kollegen Lippold — allerhöchste Eisenbahn wäre. Von Verkehrsvermeidung nicht ein Wort!Sieht man sich dennoch die wenigen Sätze in der Koalitionsvereinbarung zur Verkehrspolitik etwas genauer an, dann fällt zweierlei auf: Erstens zieht sich wie ein roter Faden die Forderung nach Verkürzung von Genehmigungsverfahren durch die Vereinbarung. Da fordert der Kanzler einerseits die Mitverantwortung der Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwohl. Andererseits behauptet er, daß die langen Genehmigungsverfahren vor allem auf Einwände und Widersprüche der betroffenen Bürgerinnen und Bürger, der Kommunen und der Verbände zurückzuführen seien. Das spricht natürlich für das Demokratieverständnis des Kanzlers, zeigt aber auch, daß ihm Erhebungen seiner eigenen Regierung unbekannt sind. In einer Untersuchung des Umweltministeriums z. B. wurden als Hauptursachen für Planungsverzögerungen genannt: ein Zuviel an Bürokratie, fehlende Entscheidungsbereitschaft der Verwaltungen, unzureichende Ausstattung mit moderner Kommunikation, insbesondere fehlende Software usw. Gerade diesesGutachten zeigt, daß vorgezogene Bürgerbeteiligung eher zu einer Beförderung und einer Beschleunigung von Verfahren geführt hat.Was diese Bundesregierung will — sie setzt damit wahrlich ihre sogenannte „erfolgreiche" Politik der letzten vier Jahre fort ,
ist nicht die Beseitigung der wirklichen Ursachen für Planungsverzögerung, sondern die Demontage von demokratischen Bausteinen dieses Staates.
Im Osten hatten Sie relativ wenig Gegenwehr. Ich garantiere Ihnen aber: Das wird im Westen anders sein.Zweitens sollen offenkundig jetzt im großen Maßstab und nicht mehr nur bei einzelnen Prestigeobjekten Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen privat finanziert werden. Damit lügen Sie sich in die eigene Tasche. Sie verfahren nach dem Grundsatz: Nach uns die Sintflut.
Das macht die Kurzsichtigkeit einer Politik deutlich, die einzig auf Legislaturzeiträume abhebt. Sie entlasten jetzt den Haushalt und schieben dann die Kosten, Zinsen und Risiken auf folgende Haushalte und damit auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Es spricht nicht gerade für die vom Kanzler angemahnte „finanzielle Verantwortung für kommende Generationen".Mit ihrer Regierungserklärung und der Koalitionsvereinbarung wird die neue Regierung ihrer Verantwortung für diese und für folgende Generationen nicht gerecht. Die Bundesregierung hat die gewaltigen Herausforderungen der Zeit nicht begriffen.Da ich eine der letzten Rednerinnen in dieser Debatte zur Regierungserklärung bin, möchte ich das Fazit ziehen — ich denke, das ist in dieser Debatte ziemlich deutlich geworden —: Die Bundesregierung sollte das Handtuch werfen und aus dem Ring steigen.
Meine Damen und Herren, der Bundesminister für Post und Telekommunikation, Dr. Wolfgang Bötsch, bittet, sein Manuskript zu Protokoll geben zu dürfen.*) Ich muß die Zustimmung des Hauses einholen. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 14. Dezember 1994, 14 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.