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    Plenarprotokoll 13/7 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 7. Sitzung Bonn, Freitag, den 25. November 1994 Inhalt: Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde, für die Aktuellen Stunden sowie der Vereinbarung über die Befragung der Bundesregierung in der Sitzungswoche ab 12. Dezember 1994 259 A Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung des Bundeskanzlers (Fortsetzung der Aussprache) Wolfgang Thierse SPD 259 B Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBWFT 263 A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 267 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. 268B Hans-Werner Bertl SPD 270 B Eckart Kuhlwein SPD 270 C Dr. Ludwig Elm PDS 271 A Dr. Peter Glotz SPD 272 D, 282 B Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) 276 B, 283 A Dr. Peter Glotz SPD 277 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 277 D Horst Kubatschka SPD 278 A Jörg Tauss SPD 279 C Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 281 A Achim Großmann SPD 283 D Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 287 B Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 288 C Otto Reschke SPD 289 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 289 C Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 290 A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 292 C Klaus-Jürgen Warnick PDS 294 B Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 295 C Ingrid Matthäus-Maier SPD 296 D Achim Großmann SPD 297 B Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 299 A Elke Ferner SPD 300 A Dr. Dionys Jobst CDU/CSU 301 B Matthias Wissmann, Bundesminister BMV 303 D Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 305 C Manfred Grund CDU/CSU 306 C Horst Friedrich F.D.P. 307 B Dr. Dagmar Enkelmann PDS 309 D Nächste Sitzung 310 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 311* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung des Bundeskanzlers (Fortsetzung der Aussprache) Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister BMPT 311* C Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 312* D Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 259 7. Sitzung Bonn, Freitag, den 25. November 1994 Beginn: 9.00 Uhr
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    *) Vergleiche Anlage 2 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Austermann, Dietrich CDU/CSU 25. 11. 94 Bachmaier, Hermann SPD 25. 11. 94 Beucher, Friedhelm SPD 25. 11. 94 Julius Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25. 11. 94 Burchardt, Ulla SPD 25. 11. 94 Buwitt, Dankward CDU/CSU 25. 11. 94 Dr. Eid-Simon, Ursula BÜNDNIS 25. 11. 94 90/DIE GRÜNEN Gleicke, Iris SPD 25. 11. 94 Graf (Friesoythe), Günter SPD 25. 11. 94 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 25. 11. 94 Carl-Detlev Hasenfratz, Klaus SPD 25. 11. 94 Heym, Stefan PDS 25. 11. 94 Dr. Hö11, Barbara PDS 25. 11. 94 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 25. 11. 94 Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 25. 11. 94 Iwersen, Gabriele SPD 25. 11. 94 Janssen, Jann-Peter SPD 25. 11. 94 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 25. 11. 94 Kanther, Manfred CDU/CSU 25. 11. 94 Kastning, Ernst SPD 25. 11. 94 Kirschner, Klaus SPD 25. 11. 94 Labsch, Werner SPD 25. 11. 94 Leidinger, Robert SPD 25. 11. 94 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 25. 11. 94 Erich Mante, Winfried SPD 25. 11. 94 Matschie, Christoph SPD 25. 11. 94 Meckel, Markus SPD 25. 11. 94 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 25. 11. 94 Neumann (Berlin), Kurt SPD 25. 11. 94 Neumann (Gotha), SPD 25. 11. 94 Gerhard Nickels, Christa BÜNDNIS 25. 11. 94 90/DIE GRÜNEN Peters, Lisa F.D.P. 25. 11. 94 Dr. Pfaff, Martin SPD 25. 11. 94 Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 25. 11. 94 Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 25. 11. 94 Hermann Saibold, Hannelore BÜNDNIS 25. 11. 94 90/DIE GRÜNEN Schaich-Walch, Gudrun SPD 25. 11. 94 Dr. Scheer, Hermann SPD 25. 11. 94 * Schindler, Norbert CDU/CSU 25. 11. 94 Schumann, Ilse SPD 25. 11. 94 Dr. Solms, Hermann Otto F.D.P. 25. 11. 94 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 25. 11. 94 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 25. 11. 94 Vergin, Siegfried SPD 25. 11. 94 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Volmer, Ludger BÜNDNIS 25. 11. 94 90/DIE GRÜNEN Wallow, Hans SPD 25. 11. 94 Welt, Jochen SPD 25. 11. 94 Wester, Hildegard SPD 25. 11. 94 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 25. 11. 94 Wieczorek (Duisburg), SPD 25. 11. 94 Helmut Dr. Zöpel, Christoph SPD 25. 11. 94 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung des Bundeskanzlers (Fortsetzung der Aussprache) Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und Telekommunikation: Bereits in der Vergangenheit ist der Telekommunikationsmarkt im Vergleich zur übrigen Wirtschaft überdurchschnittlich gewachsen. Im Jahr 2000 wird er vermutlich allein in Deutschland die 200-Milliarden-Mark-Schwelle überschreiten. Weltweit wird dieser Markt dann ein Volumen von schätzungsweise 1,5 Billiarden DM umfassen. Die Mikroelektronik macht es möglich, daß Telekommunikation und Datenverarbeitung miteinander verschmelzen und daß auch zunehmend die sich vervielfältigenden Formen des Fernsehens - ich nenne hier nur das Stichwort Multimedia in diese Entwicklung einzubeziehen sind. Als ein Land, das davon lebt, daß es Technologie entwickelt, herstellt und verkauft, muß Deutschland sich in diesem Markt geschickt und erfolgreich positionieren. Dazu gehört, daß von staatlicher Seite die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden, die es den Unternehmen erlauben, sich national und international nicht nur zu behaupten, sondern ihre Stellung weiter auszubauen oder neue Marktsegmente zu schließen. Nach den Beschlüssen zur Postreform II werden wir mit dem Verkauf von Telekom-Aktien für dieses Unternehmen als erstes den Schritt in die neue, privatisierte Welt einleiten. Die Entscheidung über das Bankenkonsortium, das diese Emission durchführen wird, hat die Bundesregierung bereits getroffen und heute morgen bekannt gegeben. Diese Emission wird den Finanzplatz Deutschland stärken und auch die Börsenfähigkeit anderer deutscher Unternehmen an der US-Börse erleichtern. Es ist die Absicht der Bundesregierung, diese Privatisierung durch die Fortführung der Liberalisierung zu ergänzen. Denn nur der Wettbewerb wird schließlich die nötigen Kräfte und Ressourcen entfalten helfen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu behaupten und zum globalen Mitspieler im weltweit schärfer werdenden Wettbewerb im Telekommunikations- 312* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. November 1994 markt zu werden. Unsere Devise lautet deshalb: kontrolliert offensiv liberalisieren. Ich freue mich, daß es uns beim Telekommunikationsrat am 17. November 1994 in Brüssel gelungen ist, den Beschluß zu fassen, das Netzmonopol parallel zum Telefondienstmonopol zum 1. Januar 1998 aufzuheben. Den Mitgliedstaaten mit weniger entwickelten Netzen (Spanien, Irland, Griechenland und Portugal) und alle Mitgliedstaaten, denen bei der Aufhebung des Telefondienstmonopols eine Übergangsfrist eingeräumt worden ist, wird ebenfalls im Bereich des Netzmonopls eine Übergangsfrist von wenigen Jahren eingeräumt. Wir haben damit Klarheit auch über die Zukunft des Netzmonopols geschaffen. Der Charme dieser Lösung liegt darin, daß sich alle Migliedstaaten der EU zu diesem Beschluß bereitgefunden haben und wir damit keine Parzellierung der Entwicklung innerhalb der Europäischen Union ertragen müssen. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat mit diesem Beschluß einen großen Erfolg errungen, Herr Bangemann sprach sogar von einem historischen Tag. Damit sind in den vergangenen beiden Jahren die wichtigsten Pflöcke für eine planvolle Weiterentwicklung der Telekommunikation in Deutschland eingeschlagen worden: Privatisierung der Telekom, Festlegen der Termine für das Ende des Telefondienst- und des Netzmonopols. Nun beginnt die weitere Arbeit, d. h. innerhalb der Pflöcke muß nun gebaut werden. Denn wir wollen den Übergang von einem monopolistisch geprägten Markt zu einem wettbewerblichen mit Umsicht und zum Nutzen des Ganzen in Angriff nehmen. Es wird Leute geben, die mit dem einzuschlagenden Weg nicht zufrieden sind, manche werden mehr, manche weniger fordern — wie das eben in solchen Übergangs- und Umbruchzeiten ist. Seien Sie, meine Damen und Herren jedoch versichert, daß ich am vorgezeichneten Weg konsequent festhalten werde und bei allen unterschiedlichen Interessen, deren Vertreter Einfluß fordern werden, das politisch Vertretbare und wirtschaftlich Sinnvolle als Maß meiner Arbeit ansehen werden. Der Markt der Postdienstleistungen ist in den letzten Jahren ebenfalls in Bewegung geraten. Die Entwicklung ist zwar nicht vergleichbar stürmisch wie bei der Schwester Telekommunikation, doch zeigt beispielsweise das Aufkommen privater Kuriere, daß im Postbereich zumindest in bestimmten Bereichen und Nischen durchaus ein Kundenbedarf besteht für verbesserte oder auch neuartige Dienstleistungen. Mit der Postreform II haben wir auch hier die Voraussetzungen geschaffen, damit sich die gute alte Post an die neuen Zeiten und Verhältnisse anpassen kann. Wir stehen damit zumindest in Europa an der Spitze der Entwicklung. Ich denke, daß die Voraussetzungen gut sind, damit die Deutsche Post AG im Lauf der nächsten Jahre sowohl in Umfang und Qualität ihrer Dienstleistungen als auch mit ihrem betriebswirtschaftlichen Ergebnis einen Quantensprung nach vorne tun wird. Die Postbank arbeitet völlig im Wettbewerbsbereich und wird sich mehr und mehr zu einer Bank normalen Stils entwickeln und künftig auch mit Partnern aus ihrer Branche kooperieren. Im Vertrieb wird sie mit der Deutschen Post AG verflochten bleiben, so daß Postbankdienstleistungen auch weiterhin an den Schaltern der Post angeboten werden, ein wichtiges Kriterium zur Infrastruktursicherung. Meine Damen und Herren, die Umbruchsituation im Post- und Telekommunikationsbereich, in dem heute in Deutschland über 800 000 Menschen beschäftigt sind und auf dessen Funktionieren Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen sind, fordert unser aller Anstrengung. Die Bundesregierung beabsichtigt, auch zukünftig diese Herausforderung in einem breiten Konsens zu meistern, der das Wohl des Bürgers im Auge hat. Ich lade alle ein, die den bestehenden Handlungsbedarf im Grundsatz anerkennen, an dieser Aufgabe mitzuwirken. Amtliche Mitteilung Der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 12/1841 Drucksache 12/1845 Drucksache 12/2050 Drucksache 12/3111 Drucksache 12/3147 Drucksache 12/4033 Drucksache 12/4179 Drucksache 12/5178 Drucksache 12/5458
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    Rede von Dr. Wolfgang Gerhardt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (F.D.P.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Kollege Kuhlwein, ich unterstelle jetzt einmal, daß das so war. Dann darf ich Ihnen heute die freudige Mitteilung machen, daß wir in der Koalitionsvereinbarung mit unserem Partner erreicht haben, daß wir jetzt solche Zugangsmöglichkeiten schaffen wollen.

    (Beifall bei der F.D.P. — Horst Kubatschka [SPD]: Dann haben wir ja etwas erreicht! Die sind ja lernfähig!)

    Ich darf zusammenfassen: Wir müssen uns wieder daranmachen, Substanz und Qualität aufzubauen, anstatt ausschließlich von vorhandener Substanz zu leben. Das ist der Auftrag in diesem Feld.
    Wir müssen die Fähigkeit zur ständigen Innovation über Bildung, Qualifizierung und Forschung schaffen, anstatt in Verteilungsmodellen steckenzubleiben.
    Wir müssen einen langen Atem in die Grundlagenforschung bringen, auch Rückschläge in Kauf nehmen und exzellente Leistungen geradezu hervorrufen.
    Wir dürfen wissenschaftliche Neugier nie einengen. Wir brauchen eine neue, stärkere Bewertung der beruflichen Bildung. Es gibt eine einzige junge Generation. Deshalb geht es nicht nur um ein BAföG-



    Dr. Wolfgang Gerhardt
    I Thema, sondern um gleiche Chancen, gleichen Start und gleiche Zuwendung auch für junge Menschen in der beruflichen Bildung.
    Der größte Technologietransfer vollzieht sich über die Qualifizierung von Menschen. Sie sichern und schaffen nicht nur Produkte und Arbeit, sondern sie stabilisieren auch unsere Demokratie in einer Weltoffenheit, die wir bewahren wollen, durch ihr Können, durch ihre Leistung. Wir, die F.D.P. und diese Koalition, wollen der Partner solcher Menschen sein.
    Wir wünschen uns, Herr Bundesminister Rüttgers, eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Wir wünschen Ihnen Glück in Ihrem Amt und Erfolg.
    Ich sage sehr persönlich: Ich danke für meine Fraktion auch Herrn Professor Laermann für die geleistete Arbeit.
    Auf eine erfolgreiche Legislaturperiode!

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD])



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Als nächster redet jetzt der Abgeordnete Dr. Ludwig Elm.

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    Rede von Dr. Ludwig Elm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (PDS)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Bildung, Wissenschaft, Forschung, Innovation und Kultur sind für Gesellschaft und Wirtschaft zentrale Grundlagen der Zukunftsgestaltung. Sie sind unerläßlich für eine auch langfristig innovative Gesellschaft. " Diese Aussage in der Koalitionsvereinbarung wird mit weiteren Feststellungen unterlegt, beispielsweise wenn Bildung, Wissenschaft und Forschung als Schwerpunkte der Zukunftssicherung bezeichnet werden.
    Der Kanzler sprach in der Regierungserklärung von guten Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft. Die Schlußfolgerungen, die daraus abgeleitet werden, fordern allerdings zum Widerspruch und zur weiteren kritischen Erörterung heraus. Erst wenn man bereit ist — wir haben heute Ankündigungen in diesem Sinn gehört —, daraus für die Haushaltsplanung prinzipielle Konsequenzen und andere Prioritäten abzuleiten, wird es mit dem Wissenschaftsstandort Deutschland wirklich ernst gemeint. Bildung, Wissenschaft und Kultur müssen weg vom Katzentisch auf den Kanzlertisch. Ist der Tisch dieses Kanzlers der richtige für hohe Erwartungen?
    Jedenfalls gelangte der ehemalige Präsident des Wissenschaftsrates, Dieter Simon, zu einer äußerst skeptischen Beurteilung der Situation und der Aussichten der Hohen Schulen. Er sagte zu den zwei Bildungsgipfeln im November/Dezember vergangenen Jahres — ich zitiere —:
    Sie erbrachten, daß auf absehbare Zeit Taten nicht auf die Tagesordnung zu setzen seien. Es sei denn, sie kosteten nichts. Im Zeitraffer
    — so Simon weiter —
    reduziert sich die gemeinsame Hochschulpolitik des Bundes und der Länder demnach auf die Stichworte: „Öffnen", „Offenhalten" und „Wegsehen". Man könnte es auch Bankrott nennen.

    (Beifall bei der PDS)

    Nehmen wir das hochschulpolitische Beispiel stellvertretend für die vom Kanzler gerühmten guten Grundlagen für die Zukunft: Wie ernst meint es die neue Regierung wirklich damit, der Austrocknung des Kulturstaates Bundesrepublik Deutschland entschieden entgegenzuwirken? Hier gelten keine schönen Sprüche, hier zählt einzig und allein der Anteil von Bildung, Wissenschaft und Kultur am Bruttosozialprodukt.
    Schaut man sich die Zahlen in den Haushaltsplanungen des vergangenen Jahrzehnts an, versteht jeder: Allein mit der Bildung eines Zukunftsministeriums — unabhängig davon, wo dieser Begriff geprägt wurde — ist kein Blumentopf zu gewinnen. Es fehlt der Regierung bisher an Geist, Ideen und Geld, um sich den Aufgaben der Jahrhundertwende angemessen zu stellen.

    (Beifall bei der PDS)

    Um welche Fragen geht es? Angesichts der massenhaften Zerstörung kreativen wissenschaftlichen Potentials in Ostdeutschland seit 1990 ist zu fragen, wann und mit welchen Einsichten die Zukunftsvisionen über den Kanzler und seine Berater gekommen sind. Allerdings war in den neuen Ländern auch das Erbe der Stagnation, veralteter Ausstattungen und ausgebliebener materiell-technischer Erneuerung zu übernehmen. Hinzu kamen Rückstände und Defizite, die aus den langjährig erheblich eingeschränkten internationalen wissenschaftlichen Kommunikationsmöglichkeiten resultierten.
    Das wertvollste Erbe jedoch war ein vorwiegend hochqualifiziertes, quantitativ bedeutendes und hochmotiviertes Potential von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an den ostdeutschen Universitäten und Hochschulen, in außeruniversitären Einrichtungen — besonders an der Akademie der Wissenschaften — sowie in leistungsfähigen Forschungszentren der Industrie. Ein solches existierte beispielhaft im Carl-Zeiss-Werk in Jena, dessen Nachfolgebetriebe gegenwärtig in kritische Phasen geraten und vermutlich bald weitere hochqualifizierte und hochspezialisierte Kräfte abstoßen werden.
    Allein zwischen Oktober 1991 und April 1992 wurden in Thüringen 3 700 Arbeitsplätze — das entspricht 55 % — in Forschung und Technologie abgebaut. Übergreifend ist davon auszugehen, daß von 85 000 Beschäftigten in der ostdeutschen Industrieforschung heute nur noch weniger als 10 000 einen entsprechenden Arbeitsplatz haben.

    (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Hört! Hört!)

    In ehemaligen Akademieeinrichtungen verblieb etwa ein Drittel und an den ostdeutschen Universitäten ca. die Hälfte, mit großen Differenzierungen nach den Wissenschaftsgebieten und Tätigkeitsgruppen.
    Die Bundesregierung ist mit Nachdruck darauf zu verweisen, daß die Ausschaltung der intellektuellen und der künstlerischen Elite der DDR ihren Preis haben wird. Das Forschungspotential der Industrie, der akademischen Einrichtungen und anderer Institutionen, das in die Wüste geschickt wurde, wurde mit



    Dr. Ludwig Elm
    unfrommen Sprüchen verabschiedet. Es wird mit frommen Sprüchen nicht ersetzt werden können.

    (Beifall bei der PDS — Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Hören Sie zu, Herr Bundeskanzler!)

    Wenn Sie über den Wissenschaftsstandort Deutschland sprechen, vergessen Sie bitte nicht, daß Tausende von Intellektuellen im Osten Deutschlands in der Arbeitslosigkeit oder im vorgezogenen Ruhestand einer fortschreitenden Dequalifizierung ausgesetzt sind und ihr Wissen und Können zeitweilig oder auf Dauer brachgelegt und entwertet werden. Als Ergebnis erreichen uns beispielsweise allein aus Berlin Nachrichten über einen alarmierenden Anstieg von Langzeitarbeitslosigkeit bei Wissenschaftlern. Beispielsweise sprang sie in Ostberlin von 5 000 im Jahr 1993 auf 13 000 in diesem Jahr, im selben Zeitraum in Westberlin von 14 000 auf 24 000. Welches Land kann sich so etwas leisten? Deutschland offenbar, das sich ohnehin der Welt gern mal als Klassenbester und mal als Schulmeister darstellt.

    (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

    Kritische Signale und Hinweise auf Defizite und wachsende Schwierigkeiten kommen seit Jahren auch aus den Universitäten und Fachhochschulen der alten Länder, insbesondere zu solchen komplexen Problemkreisen wie den Widerständen gegen eine substantielle Reform der Hochschule, des Studiums, der Studiengänge, und den aus unzureichender Finanzierung resultierenden Problemen ungenügender Ausstattung und daraus erwachsender Überlastung von Lehrkräften, Hörsälen, Labors, Bibliotheken, Studentenheimen, aber auch bezüglich der bürokratisch-administrativen Versuche, Reformen nicht nach wissenschaftlichen, substantiellen Geboten, sondern nach den vom Finanzminister vorgegebenen Zwängen und Grenzen zu vollziehen.
    Bildungsökonomie ist wichtig; das Wichtigste aber ist eine neue Bestimmung der Bildungsidee für heute und morgen.

    (Beifall bei der PDS)

    Was müssen junge Menschen können und beherrschen? Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten haben sie sich anzueignen, um in der veränderten Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts gut auf das 21. vorbereitet zu sein? Wir brauchen einen Generationenvertrag für Bildung und Jugend, für das Offenhalten der Hochschulbildung, für Chancengleichheit in der Bildung und die Aufwertung der beruflichen Bildung.
    Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank und darüber hinaus, begreifen Sie doch endlich, daß die überlange Studienzeit in der Bundesrepublik keine primär bildungspolitische, sondern eine soziale Frage ist, daß die bisherigen Umstände und Zustände an den Universitäten und Hochschulen einer rationelleren Studiengestaltung und Studienzeitverkürzungen nicht förderlich sind!

    (Beifall bei der PDS)

    Deshalb steht auch die angemessene Fortentwicklung des BAföG weiterhin vordringlich auf der Tagesordnung.
    Die Regierung muß forschungspolitische Visionen formulieren und dafür in der Gesellschaft Förderer und Moderator sein. Wir brauchen dringend neue regenerierbare Energien, neue Informationsinfrastrukturen, neue Verkehrs- und Umweltlösungen, Lösungen zur Humanisierung des Arbeitslebens. Die Verantwortung für die Grundlagenforschung ist politisch und finanziell wahrzunehmen. Wir werden die Haushaltsdebatte benutzen, um die spezielleren forschungs- und technologiepolitischen Positionen unserer Gruppe zu unterbreiten.
    Ich bemerke abschließend: Wir treten dafür ein, schrittweise und zielstrebig eine primär an gesamtgesellschaftlichen und globalen Problemlagen und Interessen orientierte zivile Forschung in den Grundlagen und für die verschiedensten Anwendungsbereiche zu entwickeln.
    Vorrang haben darin eine verstärkte Friedens-, Sicherheits- und Abrüstungsforschung, eine bescheiden dimensionierte Weltraum- und Luftfahrtforschung, intensivierte Forschung zu ökologischen Problemen und eine Industrieforschung, die auf Beschäftigung und Weiterbildungsmöglichkeiten, auf entsprechende Kommunikationssysteme, umweltfreundliche Verkehrs- und Verfahrensentwicklungen und schließlich auch das dringliche und übergeordnete Ziel einer gerechten, friedensfördernden Weltwirtschaftsordnung ausgerichtet ist.

    (Beifall bei der PDS)

    Vielleicht — lassen Sie mich das zum Abschluß sagen — gelingen uns bescheidene Schritte auf einem schwierigen Weg, dessen eigentliches Ziel Bertolt Brecht durch Galileo Galilei mit den einfachen Worten umschreiben ließ:
    Ich bin dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der PDS)