Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Aussprache über die Vorfälle bei der Firma Nukem zu erweitern. Für die Aussprache wird eine Runde mit Zehnminutenbeiträgen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf: Aktuelle Stunde
Erhöhung der Neuverschuldung im Bundeshaushalt 1988 — Realistische Darstellung der Lage der Bundesfinanzen
Die Fraktion der SPD hat nach Nr. 1 Buchstabe c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wieczorek .
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine Damen und Herren! Herr Minister, der Anlaß dieser Aktuellen Stunde in einer der ersten Sitzungswochen des neuen Jahres ist wohl ziemlich einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundesfinanzminister hat schon zu Beginn des Jahres die Kontrolle über die Bundesfinanzen verloren.
Schon sechs Wochen nach Verabschiedung des Haushalts 1988 hier in diesem Hause und drei Wochen nach Verabschiedung im Bundesrat steht der Bundesfinanzminister vor dem Offenbarungseid
und gibt der Bundesfinanzminister der erstaunten Öffentlichkeit bekannt, daß die Zahlen des Bundeshaushalts 1988 falsch sind und nicht 29,5 Milliarden DM, sondern 40 Milliarden DM neue Schulden auf genommen werden müssen.
Nur sieben Tage nach Inkrafttreten des Haushaltsjahres am 1. Januar gibt der Bundesfinanzminister10 Milliarden DM neue Schulden mehr als vorgesehen bekannt.
Vor diesem Hintergrund, Herr Dr. Schuldenberg — Herr Dr. Stoltenberg —,
kann man doch wohl nur davon sprechen, daß Sie das Parlament und die Öffentlichkeit Ende letzten Jahres getäuscht haben.
Schon der Haushaltsentwurf 1988 war unrealistisch, geschönt und unsolide. Deshalb hat die SPD im Herbst 1987 einen Antrag im Deutschen Bundestag eingebracht, den Haushalt 1988 auf eine realistische Basis zu stellen und den Finanzplan zu überarbeiten. Horrormeldungen haben Sie uns damals vorgeworfen. Herr Bundesfinanzminister, Sie selbst haben doch bei der Ablehnung unseres Antrags am 15. Oktober an dieser Stelle erklärt — ich zitiere wörtlich — :Die Aufforderung der Opposition, hier eine Art neuen Haushalt vorzulegen, ist, um das kurz zu sagen, nach den jetzt vorliegenden Erkenntnissen vollkommen unbegründet.„Vollkommen unbegründet" haben Sie gesagt, und heute, zwölf Wochen später, zeigt sich, wie berechtigt der Antrag der SPD damals war. Zwölf Wochen später geben Sie selbst zu, daß die Zahlen des Haushaltes schlicht und einfach falsch sind.Noch Ende 1987 haben Sie sich in der zweiten und dritten Lesung des Bundeshaushaltes 1988 hier hingestellt und gesagt, über die Größenordnung für die Mehrbelastung durch die EG gebe es keine politischen Beschlüsse, und Sie hätten sie deshalb im Bundeshaushalt schlicht und einfach nicht berücksichtigt.Heute, wenige Wochen später, gibt es immer noch keine Beschlüsse der EG. Jetzt plötzlich kennen Sie die Größenordnung und beziffern die Mehrbelastungen für 1988 mit 4 Milliarden DM. Der Herr Bundeskanzler muß Sie ergänzen und rückt für 1989 mit 6 Milliarden DM Mehrbelastung heraus. Und da wollen Sie uns weismachen, Sie hätten das alles sechs Wochen vorher nicht gewußt? „Wir werden in vier
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Wieczorek
oder sechs Monaten klarer erkennen, um welche Größenordnungen es sich handelt", haben Sie hier vollmundig erklärt. Drei Wochen später gehen Sie dann von einer Größenordnung von 40 Milliarden DM aus. Herr Dr. Stoltenberg, eine solche Schuldenlast hat noch keiner Ihrer Vorgänger in diesem Lande zu tragen und zu verantworten gehabt, und Sie haben sie zu verantworten.
Ganz interessant ist für uns natürlich auch Ihre persönliche Demontage, Herr Bundesminister; denn Sie waren immer das Ausstellungsstück Ihrer Koalition.
Aber mittlerweile ist es ja wohl so, daß sich der Bundeskanzler anderer Kollegen bedient, um Ihnen zu sagen, wie es eigentlich weitergeht. Denn schließlich hat der Kollegen Carstens, seinerseits haushaltspolitischer Sprecher der CDU, unseren Antrag in diesem Hause am 15. Oktober abgelehnt und damals von dem Horrorgemälde gesprochen. Heute nun muß der Kollege Carstens mit den endgültigen Zahlen von 40 Milliarden DM neuen Schulden herausrücken.Ich sage Ihnen, Herr Bundesminister: Machen Sie Kassensturz, legen Sie die wirklichen Zahlen über die Bundesfinanzen offen auf den Tisch,
legen Sie einen realistischen Jahreswirtschaftsbericht vor, und hören Sie auf, sich und uns etwas vorzugaukeln!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erstens. Herr Kollege Vogel, der Bundesfinanzminister
hat die Haushaltsrisiken dieses Jahres rechtzeitig und vollständig beschrieben.
Ihre gegenteilige Behauptung war falsch. Sie zurückzunehmen ist ein Gebot der Fairneß. Schreien nützt hier gar nichts!
Zweitens. Unsere Ausgabenpolitik ist sparsam.
Der Ausgabenzuwachs unter Ihrer Verantwortung betrug im Jahresdurchschnitt 9 %.
Wir haben ihn nun schon fünf Jahre lang auf weniger als 3 % bis 1 % abgesenkt.
Das ist die größte Konsolidierungsleistung der Finanzgeschichte; darauf sind wir stolz.
Drittens. Auch unsere Schuldenpolitik ist solide.
— Herr Präsident, ich bitte um Verlängerung der Redezeit für meinen Beitrag.
Ich habe die Heiterkeit ja auch nicht unterbunden.
Ich wiederhole: Auch unsere Schuldenpolitik ist solide.
Ich begründe das: Zu den Zinslasten von mehr als 30 Milliarden DM jährlich, die wir von Ihnen wegen Ihrer unsoliden Ausgabenpolitik übernehmen mußten
und heute noch finanzieren müssen,
treten in diesem Jahre drei Einnahmeausfälle hinzu, von denen zwei nicht in unserer Hand lagen:
Ausfall des Bundesbankgewinns infolge des Dollarverfalls, Einnahmeübertragung an die EG, Entlastung der Steuerzahler um 14 Milliarden DM. Das ist die zweite Stufe. Die dritte folgt nicht 1989, sondern 1990. Der Bundesfinanzminister hat sie gestern auf den Weg gebracht.
Viertens. Daß wir das durch die Einnahmeausfälle entstehende hohe Haushaltsdefizit in diesem Jahre bewußt nicht zurückführen, ist unser deutscher Beitrag zum Ausgleich der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte.
— Ja, Sie verstehen von diesen Dingen offenbar nichts. —
Die Defizitländer, die unsere Exporte aufnehmen— und wir sind die größte Exportnation der Erde —, erwarten das von uns.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3711
Dr. DreggerFünftens. Das Statistische Bundesamt hat die Lage der Deutschen vor wenigen Tagen wie folgt beschrieben: Wirtschaftswachstum, Steuerentlastung, realer Einkommenszuwachs, Beschäftigungszuwachs trotz schrumpfender Branchen — der Beschäftigungszuwachs wäre noch höher, wenn der notwendige Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen nicht verhindert, sondern von der Landesregierung gefördert worden wäre —,
Weltspitze im Export.
Wenn wir zugunsten der EG, auf die wir angewiesen sind, die zuvor drastisch gesunkenen Bezinpreise durch die Mineralölsteuer um ein paar Pfennig erhöhen, dann bleibt deshalb kein Auto im Schuppen stehen, und kein Auto bleibt ungekauft.Meine Damen und Herren, was soll Ihr Geschrei? Wollen Sie den Menschen den Mut nehmen zu kaufen und zu investieren? Wollen Sie der deutschen Wirtschaft und den deutschen Arbeitnehmern Schaden zufügen?
Keiner hat Anlaß, sich von diesen falschen Propheten in Angst jagen zu lassen, meine Damen und Herren.
Wir bleiben bei unserem Kurs der Sparsamkeit, der Solidität und der Leistungsförderung.
Dieser Kurs ist richtig, wie der Erfolg gezeigt hat.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vennegerts.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sehr diese Regierung am Ende ist, das hat gerade der Beitrag von Herrn Dregger eindeutig gezeigt.
Im Falle der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung schmerzt es sehr, zu sehen, wie sehr und vor allen Dingen wie schnell sich die eigenen Prognosen und Warnungen bewahrheiten. Ich möchte Ihnen einmal sagen: Das ist gar kein tolles Gefühl. Jenseits des verantwortungslosen Umgangs mit Wachstums-, Haushalts- und Verschuldungszahlen wird das erkennbar, was wir der Regierung immer wieder auf den Kopf zugesagt haben, nämlich die totale Unfähigkeit, auf die real existierenden nationalen und internationalen Wirtschaftsprobleme mit konkreten wirkungsvollen Programmen zu reagieren. Herr Dregger, das waren gerade Luftblasen, nichts mehr. Es passiert nichts.Statt dessen haben sich Wirtschafts- und Finanzminister in einem konzertierten Akt der Arroganz und Selbstgerechtigkeit in ideologischen Wunschvorstellungen vergaloppiert und werden zu Rekordhaltern der Neuverschuldung. Das ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie übertreffen die Sozialdemokraten. Das ist so.Ein Finanzminister und ein guter Wirtschaftsminister brauchen zwei Eigenschaften, nämlich soziales Verantwortungsgefühl und die Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen und entsprechend zu handeln.
Daß der Dollarkurs nach unten tendiert, war spätestens seit Anfang des letzten Jahres erkennbar. Es war keine Naturkatastrophe, die auf uns zugekommen ist. Sie stellen es jetzt nur so dar.Daß das US-amerikanische Defizit über kurz oder lang nicht mehr tragbar sein würde und damit die einseitige Exportorientierung der deutschen Wirtschaft an einem seidenen Faden hängt, auch das ist seit einem Jahr ein offenes Geheimnis. Tun Sie doch nicht so, als wäre das alles innerhalb von vier Wochen plötzlich vom Himmel gefallen; das stimmt einfach nicht.Sie, Herr Stoltenberg, können sich nicht auf die Position zurückziehen, von den Ereignissen überrollt und in währungspolitische Unwägbarkeiten schicksalhaft verstrickt worden zu sein. Deshalb trifft Art. 115 des Grundgesetzes auch für Ihre Politik zu. Darum können Sie sich nicht herummogeln.Börsen- und Dollarkrise sind das Ergebnis von Reaganomics und Thatcherismus und all der unseligen Spielarten Ihrer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik.
Seit Beginn der Haushaltsberatungen im September 1987 hat sich der Wert des Dollars um mehr als 10 % verringert. Auch das ist ein Fakt. Für den Airbus würde das bedeuten, daß in 1988 weitere 70 Millionen DM an Subventionen auf uns zukommen.Nun habe ich mir einmal den Luxus erlaubt, im Finanzministerium nachzufragen,
— genau, Herr Glos — , und dort habe ich eine unheimlich aussagekräftige Auskunft bekommen, nämlich die, man habe keinen Hinweis vom Wirtschaftsministerium bekommen, man müsse nicht reagieren. Herr Bangemann reagiert nicht, der künftige Luftfahrtminister Riedl reagiert nicht. Also macht das Finanzministerium wieder nichts. So sieht es nämlich aus.Ich frage Sie ganz konkret, Herr Stoltenberg — und das will ich von Ihnen hier heute wissen — : Schließen Sie eine Erhöhung der Subventionen bei Airbus für 1988 aus?Genausowenig wie der Herr Bangemann hier eine Antwort weiß, bietet er konjunkturpolitische und strukturpolitische Maßnahmen zur Lösung der Werften- und der Kohle-und-Stahl-Strukturkrise an. Auf
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Frau VennegertsWirtschaftsminister Bangemann treffen in diesem Zusammenhang die im „Stern" dieser Woche aufgezählten Adjektive „hilflos" , „ratlos", „einfallslos" in ihrer vollen Breite und Länge zu.
Finanzminister Stoltenberg beherrscht den in seinem schleswig-holsteinischen Landesverband hochentwickelten politischen Stil der Vertuschung von Fakten bzw. der Vorspiegelung falscher Tatsachen perfekt.
Während der Wirtschaftsminister einem das Gefühl vermittelt, daß er ständig auf sein Gerede selbst hereinfällt, handelt der Finanzminister offensichtlich wider besseres Wissen, frisiert den Datenkranz des Haushalts 1988 so zurecht, daß unter dem Strich das herauskommt, was ihm für das Durchpeitschen der Steuerreform opportun erscheint: falsche Wachstumsangaben, unzulängliche Steuereinschätzung, Nichtberücksichtigung anfallender Zusatzbelastungen in Höhe von 4 Milliarden DM für die Finanzierung des EG-Haushalts, seit der Sommerpause bekannt, euphorische Bundesbankgewinne etc. pp.Der Haushalt war bereits am Tag der Verabschiedung überholt, Makulatur. Das ist eine Blamage erster Klasse, Herr Stoltenberg. Sowohl dem Haushaltsausschuß als auch dem gesamten Parlament sind vorsätzlich falsche Angaben vom Finanzministerium vorgelegt worden. Ein allgemeiner Hinweis auf Risiken reicht hier nicht, Herr Stoltenberg. Die Finanz- und Haushaltspolitik, die Sie als Gratwanderung bezeichnet haben, .. .
Frau Abgeordnete, bitte kommen Sie zum Schluß.
... führte schon nach wenigen Wochen in den Abgrund.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Weng.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Jahresbeginn mußten wir zur Kenntnis nehmen, daß durch den stark gesunkenen Dollarkurs — der Kurs stand am 31. Dezember bei 1,58 DM —
die Einnahme aus Bundesbankgewinn, die im Bundeshaushalt 1988 mit 6 Milliarden DM angesetzt war, entfallen würde. In Verbindung mit dem Beschluß der Bundesregierung vom vergangenen November, die zu erwartenden Mehrausgaben für die Europäische Gemeinschaft nicht, wie ursprünglich geplant, durch Erhöhung von Verbrauchsteuern zu finanzieren, um der Wirtschaft Auftriebsimpulse zu geben, führt das zu einer neuen Haushaltssituation 1988, die öffentlich ja schon breit diskutiert wird. Bereits zu Beginn desJahres muß davon ausgegangen werden, daß rund 10 Milliarden DM nicht gedeckt sind.
Die Bundesregierung hat auf unsere Aufforderung hin umgehend darauf reagiert und beschlossen, bei weiter hoher Ausgabendisziplin eine Erhöhung der Nettoneuverschuldung auf rund 40 Milliarden DM im laufenden Jahr zu akzeptieren.
Gleichzeitig wurde verdeutlicht, daß man im kommenden Jahr diese Erhöhung wieder absenken will.
— Ich frage mich, ob Sie am Ende gar nicht wollen, Herr Vogel, daß dies so geschieht.
— Die Frage, wieviel Glaube bei Ihnen ist, Herr Kollege Vogel, brauchen wir hier, meine ich, nicht zu diskutieren.
Ohne nun die Details des Beschlusses des Kabinetts in der Kürze der Zeit hier breit diskutieren zu können: Der Beschluß ist in seiner Grundtendenz richtig und zeigt den notwendigen Weg auf. Er befriedigt nicht vollständig und sollte durch die Bereitschaft ergänzt werden, erforderlichenfalls auch auf der Ausgabenseite künftiger Haushalte Einschnitte zu akzeptieren.
Diese Forderung, meine Damen und Herren, muß mit dem dringenden Appell an das Bundeskabinett verbunden sein, die problematische Gesamthaushaltssituation auch bei den eigenen künftigen Anforderungen in Rechnung zu stellen. Diese dringende Aufforderung an die einzelnen Ressortminister verbinden wir mit dem Wunsch, alles Mögliche zu tun, damit die Verschuldung des laufenden Jahres nicht über die genannten 40 Milliarden DM anwächst. Die noch bestehenden Risiken sind bekannt. Wir sind der Auffassung, daß die Automatik, an die wir uns zu gewöhnen drohen, daß fehlende Einnahmen und gegebenenfalls überraschende Mehrausgaben ausschließlich durch zusätzliche Verschuldung abgedeckt werden, nicht akzeptabel ist.Es sollte ebenso dafür Sorge getragen werden, daß entsprechend den Ankündigungen im Jahre 1989 wieder der Rahmen der Finanzplanung erreicht wird. Denn nur derart solides Haushalten wird die Preisstabilität und damit die weiter positive wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen. Vor dieser Entwicklung,
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Dr. Weng
Herr Kollege Vogel, sollte die Opposition die Augen wirklich nicht verschließen.
Das ist für die Einnahmeseite des Haushalts und damit für unsere finanzpolitische Handlungsfähigkeit von großer und entscheidender Bedeutung.Wir werden, meine Damen und Herren, die Ausgabendisziplin von Parlamentsseite her flankieren. Zusätzliche Ausgabenwünsche ohne konkrete Dekkungsvorschläge werden im Haushaltsausschuß entsprechend unserer besonderer Verantwortung auch nach § 96 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages genau geprüft und gegebenenfalls zurückgewiesen werden.
Der richtige Kurs der Haushaltskonsolidierung und die Eingrenzung des Ausgabenwachstums über sechs Jahre sind ein Erfolg unserer Koalition, den wir uns auch von der Opposition nicht zerreden lassen.
Es ist und bleibt unsere Absicht, auf dem Weg von Steuersenkungen mehr Geld bei den Bürgern zu lassen.
Auch in einer wirtschaftlich schwierigen Lage dürfen wir das nicht aus dem Auge verlieren. Die Notwendigkeit soliden Haushaltens bei Rückführung der Verschuldung und damit Verminderung künftiger Zinslasten bleiben Ziel der Politik unserer Fraktion.
Hierin wissen wir uns mit dem Koalitionspartner einig.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Spöri.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
— Ja, ich komme von Freiburg, — heute nacht um zwei.
Vor sieben Wochen hat die Koalition mit ihrer Mehrheit hier im Deutschen Bundestag den Haushaltsentwurf 1988 durchgesetzt. Schon damals war erkennbar, daß dieser Haushalt 1988 in wesentlichen Eckdaten und Positionen nichts mehr mit der wirtschaftlichen Realität in der Bundesrepublik zu tun hat. Ich habe Sie, Herr Bundesfinanzminister, in der abschließenden Debatte hier eindringlich darauf hingewiesen, daß insbesondere der Bundesbankgewinn, die europäischen Lasten und die Steuereinnahmen völlig unrealistisch angesetzt sind.
Herr Stoltenberg, Sie haben schon damals die faulen Punkte Ihres Zahlenwerks ganz genauso gut gekannt wie wir. Daß Sie diesen Deutschen Bundestag über die wahre Lage der Staatsfinanzen bewußt getäuscht haben, nur um Ihren finanzpolitischen Offenbarungseid noch ein paar Wochen hinauszuschieben, ist eine einmalige Verhöhnung des Königsrechts dieses Parlaments,
nämlich des Haushaltsrechts des Deutschen Bundestages. Dieser Täuschungsversuch war aber auch ein politisches Eigentor. Denn schon am 7. Januar hat Sie der Herr Bundeskanzler auf die Bundespressekonferenz geschickt, nur weil er nicht selbst das Scheitern Ihrer Finanzpolitik verkünden wollte. Aber dort haben Sie wieder nur die halbe Wahrheit gesagt. Sie rechnen weiter mit unrealistischen Wachstumsannahmen, unrealistischen Arbeitslosenzahlen und unrealistischen Steuereinnahmen. Sie sind bei 45 Milliarden DM Nettokredit und nicht bei nur 40 Milliarden DM. Sie wollen die bittere Wahrheit über die Lage der Staatsfinanzen weiter bis nach den Landtagswahlen in BadenWürttemberg und Schleswig-Holstein verschleiern. Es nützt Ihnen nichts, wenn Sie sich diese Wahrheit scheibchenweise von uns anringen lassen. Das Mißtrauen in Ihre Finanzpolitik wird in der Bevölkerung ständig größer.
Herr Stoltenberg, Sie als Finanzminister werden sicherlich in die Geschichte dieser Bundesrepublik eingehen, aber nicht — wie geplant — als solider Haushaltsvater, sondern als größter Schuldenmacher aller Zeiten.
Herr Dregger, das Schlimme daran ist: Sie finanzieren mit Ihrer Kreditexplosion nicht beschäftigungswirksame Investitionen,
sondern stopfen Löcher, die als Folge einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik zusätzlich entstanden sind.
Sie finanzieren mit dieser Politik keine einzige Mark an zusätzlicher Nachfrage oder an Investitionen.
Herr Stoltenberg, Sie sind mit Ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik auf Grund gelaufen. Sie gehen in einen Abschwung mit einer einmaligen Rekordarbeitslosigkeit und Rekordverschuldung hinein. Sie haben in der Hochkonjunktur eine Scheinkonsolidierung mit Bundesbankgewinnen betrieben. Sie haben unsere finanziellen Reserven, die wir jetzt zur kon-
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Dr. Spöri
junkturellen Stützung dringend bräuchten, völlig verbraucht, ja, überzogen. Deshalb greifen Sie jetzt zu Verbrauchsteuererhöhungen, obwohl Sie damit die lahme Konjunktur noch weiter abbremsen.
Aber auch diesmal, meine Damen und Herren, versucht der Bundesfinanzminister, die konkreten Mehrbelastungen bei den Verbrauchsteuern, seine steuerpolitischen Kröten, den Bürgern erst nach den Landtagswahlen dieses Jahres zu servieren. Das ist das gleiche plumpe Spiel wie im letzten Jahr.
Herr Stoltenberg, Sie leiten mit diesem Versteckspiel eigentlich nur die nächste Runde Ihrer Eigendemontage ein.
Herr Bundesfinanzminister, Ihre Finanz- und Steuerpolitik ist gescheitert. Herr Stoltenberg, ziehen Sie endlich die Konsequenzen! Überwinden Sie falsches Prestigedenken, überwinden Sie Selbstgerechtigkeit, machen Sie hier endlich einen ehrlichen Kassensturz. Lassen Sie uns gemeinsam den notwendigen Kurswechsel vollziehen.
— Hören Sie zu! Erstens: Reduzieren Sie das ruinöse Steuerpaket 1990 auf eine verkraftbare Größenordnung!
Zweitens: Konzentrieren Sie den dann vertretbaren steuerpolitischen Entlastungsspielraum auf eine konjunkturwirksame Entlastung der mittleren und der kleinen Einkommen. Drittens: Lassen Sie endlich die Hände von den Plänen zur Verbrauchsteuererhöhung; sie sind Gift für Konjunktur, Wachstum und Beschäftigung.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Spilker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Spöri, ich glaube, Sie sagten, daß Sie aus dem Wahlkampf aus Freiburg kommen. Wenn Sie dort mit diesen Methoden weitermachen, wünsche ich Ihnen viel Vergnügen, wenn auch keinen Erfolg.
Jeder in diesem Hause wußte, weiß und hatte auch zu wissen, daß jeder Haushalt, vor allem Dingen ein solches Zahlenwerk, seine Risiken hat.
Da bedurfte es eigentlich keiner Hinweise, weder vom Finanzminister noch von Kollegen der Regierungskoalition. Trotzdem sind Hinweise dieser Art zur Genüge erfolgt, sowohl vom Finanzminister als auch vomFraktionsvorsitzenden, von den Kollegen Carstens, Roth und von mir selbst.Eine Aktuelle Stunde, mit der Sie uns hier vorführen wollen,
wird Ihnen keinen Erfolg bringen.
— Jetzt seien Sie einmal einen Moment ruhig; Sie haben genug gestört.
Es ist richtig, daß Sie hier eine laute, verleumderische, nicht der Wahrheit entsprechende Opposition praktizieren.
Das kann man nicht bestreiten.
Herr Kollege Vogel, Sie schreiben einen Brief an den Bundestagspräsidenten,
werfen dem Bundesfinanzminister Unwahrheit vor
und bedienen sich unwahrer Behauptungen.
Was Sie geschrieben haben, war wider besseres Wissen.
— Ich bin noch gar nicht am Ende. — Nun könnte das ja eine spontane Entgleisung sein. Herr Vogel, wir kennen uns seit Jahrzehnten: Nein, das war eine wohlüberlegte Unwahrheit, um einen anderen Menschen zu diffamieren.
Nun können Sie das ja in Ordnung bringen. Ich frage mich nur: Können Sie das? Haben Sie die Fähigkeit, haben Sie die menschliche Größe? Ich vermute: nein.
Ich würde mich aber gern täuschen.Noch ein anderes Wort: Ich muß sagen, ich ärgere mich langsam. Ich habe nichts gegen harte Opposition, aber einiges gegen Unsachlichkeit und laute Opposition.
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SpilkerLieber wäre mir etwas Konstruktives. Aber Sie verlassen die Wahrheit, und das, meine Damen und Herren, ist eine ganz schlechte Sache. Damit kommen Sie bei uns nicht durch.
Ich gebe ja zu, daß Sie Meister der Demagogie sind. Sie sind Meister der Verleumdung, und das in der Opposition.
Herr Spöri, Sie waren Meister auch im Schuldenmachen. Darum haben Sie doch den Namen Schuldenmacherpartei verdient.
Was haben Sie sich denn erlaubt? Ausgaben über Ausgaben, Finanzierung nicht möglich, Netto-Neuverschuldung erhöht. Dies geschah über Jahre. Es waren damals 37 Milliarden DM, die auf 50 Milliarden DM heraufgegangen wären, wenn wir nicht sofort nach Regierungsübernahme durch eine geeignete Politik, die gegriffen hat,
die Verschuldung zurückgeführt hätten. — Wollen Sie vergessen, was sich 1983 hier abgespielt hat?
Meine Damen und Herren, über Ihre Fehlleistungen brauchen wir uns, glaube ich, nicht lange zu unterhalten. Das sind nicht nur Erscheinungen in der Finanz- und Steuerpolitik, über die wir hier diskutieren. Denken Sie an die übrige Politik, sei es die Sicherheitspolitik, die Sozialpolitik oder andere mehr. Heute stellen Sie sich hin, wie wenn Erfolge dieser Regierung die Ihren wären, wie wenn Sie daran mitgearbeitet hätten. Ja, glauben Sie denn, daß wir Ihnen dies erlauben?
Wenn Sie Opposition machen wollen, dann mögen Sie das tun. Wenn Sie die Wahrheiten verdrehen, meine Damen und Herren von der Opposition, treffen Sie auf unseren Widerstand.
Das gilt auch für die Politik, über die wir hier in dieser Aktuellen Stunde sprechen. Damit werden Sie genausowenig Erfolg haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich war die amtliche Wechselkursnotierung des Dollars am Silvestertag für uns alle miteinander kein erfreuliches Ereignis,
bedeutet dies doch, daß, wie Sie alle wissen, aus unserer Einnahmenrechnung 6 Milliarden DM ausgefallen sind.
Aber, verehrter Herr Kollege Wieczorek, was Ihr Fraktionsvorsitzender als Oppositionskabinettstückchen daraus mit der Personalisierung und Täuschungsvorwürfen gegenüber dem Finanzminister gemacht hat,
das empfinde ich, verehrter Herr Kollege, als menschlich schäbig.
Ich empfinde es, gemessen an der wirtschaftlichen Bedeutung insgesamt, auch ohne Maß.
— Herr Kollege Spöri, Sie haben vom Königsrecht des Parlaments gesprochen.
— Ein solches Recht, verehrter Kollege, muß man auch mit einiger Würde wahrnehmen
und nicht mit maßloser Polemik jenseits der Wahrheit.
Was ist aktuell geschehen?
Über die Finanzierungsprobleme größerer Geldüberweisungen nach Brüssel ist hier unter allen Beteiligten ausgiebig gesprochen worden. Es ist erklärt worden, daß ein Nachtragshaushalt notwendig werden wird, sobald die genauen Zahlen bekannt sind.
— Es ist wahr. Lesen Sie doch die Protokolle nach.
Im November ist erklärt worden, daß hierfür im Jahre 1988 keine Verbrauchsteuererhöhungen eingesetzt werden sollen, obwohl die Koalition bereits im Februar beschlossen hatte, dies über Verbrauchsteuererhöhungen zu finanzieren.
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GattermannAktuell neu ist in der Tat die Konsequenz aus dem niedrigsten Dollarstand aller Zeiten ultimo 1987.
Ich halte die Entscheidung der Bundesregierung nun wirklich aus konjunkturpolitischer Verantwortung und auch aus Verantwortung für die Weltwirtschaft, hierauf mit Ausweitung der Kreditfinanzierung zu antworten, für richtig, statt etwa herzukommen und zu versuchen, diese sechs Milliarden DM im Stile Brüningscher Politik aus dem Haushalt herauszuquetschen. Das wäre für unsere wirtschaftliche Entwicklung sehr schädlich. Es wäre auch international schädlich. Diese Ausweitung der Verschuldung, so bitter sie ist, hilft uns in den internationalen Auseinandersetzungen über die Frage, was man tut.
Meine Damen und Herren, ich will mich über die Instrumente, die die Bundesregierung genannt hat, wie wir an die Finanzierungsmethoden der Jahre 1983 und 1987 ab 1989 wieder anschließen wollen, jetzt hier im einzelnen nicht äußern. Darüber werden wir im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht sicherlich ausgiebig diskutieren können. Ich will nur zwei kurze Anmerkungen machen.Erstens. Ohne die Erfolge der letzten fünf Jahre mit Ausgabensteigerungen unter 2 % hätten wir uns diese konjunkturpolitisch richtige Entscheidung nicht leisten können.
Zweitens. Alles hat sein Gutes.
— Nein, aber, Herr Kollege Wieczorek, die Problematik der Finanzierung über Bundesbankgewinne, die Probleme, die sich bei schwächerer Konjunktur aus geringer sprudelnden Steuern ergeben, die Probleme der Finanzierung der Steuerreform, sie dürften dem letzten in unseren Reihen klar machen, daß die Politik, die zu machen wir angetreten sind, nämlich Zurückführung der Staatsquote und Ausweitung des Privatsektors,
ihren Preis hat, Herr Kollege Jahn. Deshalb sage ich: Weitere ausgabenwirksame Gesetze dürften in dieser Legislaturperiode keine Chance mehr haben.
Und ich sage: Bereits beschlossene werden mit Sicherheit nicht zurückgenommen,
aber man wird über die Weisheit, insbesondere über Ausmaß und Zeitpunkt durchaus nachdenken.
Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vennegerts.
So ist es: Fortsetzung folgt.
Ich muß hier einiges klarstellen. Herr Gattermann, ich glaube, es ist an der Zeit, zu den Fakten zurückzukehren. Ich habe es mir angetan und die Reden von Herrn Stoltenberg in der zweiten und dritten Lesung noch einmal nachgelesen, auch das, was er im Haushaltsausschuß gesagt hat. Es ist kein Wort zu lesen, von der gesamten Regierungskoalition nicht, über das Wort „Nachtragshaushalt", es ist nicht ein Wort darüber zu lesen, wie hoch die Risiken sind. Nicht ein Pfennig wurde angegeben. Ich bitte Sie, das hier endlich zur Kenntnis zu nehmen. Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann lesen Sie das nach! Lesen sollten Sie schließlich können; das will ich hoffen.
Auf jeden Fall möchte ich eines sagen: Hinsichtlich des Bundesbankgewinns war die Fraktion der GRÜNEN die einzige, die einen Antrag auf Kürzung des Bundesbankgewinns um 3 Milliarden DM gestellt hat. Was ist passiert? Obwohl der Dollarkurs schon bei etwa 1,66 DM lag, hat weder die Regierungskoalition noch die SPD-Fraktion zugestimmt. Das sind die Wahrheiten.
Die Steuerreform ist nach wie vor ein großer Flop. Die Nachfrage wird nicht belebt werden; schon jetzt sind die Wachstumsprognosen schon eher bei Null. Sie haben das Null-Wachstum, was wir immer gesagt haben, durch Ihre Politik automatisch bekommen.
Aber eines ist ganz wichtig: Die Debatte um die Schulden darf nicht die verfehlte Wirtschaftspolitik der Regierung verdecken. Das möchte ich hier mal ganz klar sagen.
Die zusätzliche Schuldaufnahme leistet keinen Beitrag zur Lösung der ökologischen und sozialen Probleme. Impulse in dieser Richtung sind auch nicht zu erwarten. Gucken Sie sich die Herren an! Die Initiativlosigkeit dieser Regierung wird dadurch noch unterstrichen. Die derzeitige Krise ist nicht nur eine Krise des Herrn Stoltenberg, sie ist eine Krise des gesamten finanz-, haushalts- sowie wirtschaftspolitischen Konzepts dieser Regierung. Sie ist gescheitert. Die Ablösung der gesamten Regierung, nicht nur des Herrn Stoltenberg, wäre erforderlich.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe ge-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergstern — wie immer etwa zum selben Zeitpunkt des Jahres — den Haushaltsabschluß des vergangenen Jahres 1987 vor der Bundespressekonferenz erläutert, und ich begrüße die Gelegenheit, auch einige Sätze heute hier vor dem Hohen Haus sagen zu können.Dieser Haushaltsabschluß zeigt, daß wir im fünften Jahr, seitdem diese Koalition Verantwortung trägt, die Ausgaben unterhalb der vom Finanzplanungsrat festgelegten Linie von 3 % halten konnten. Es waren im vergangenen Jahr 2,9 %. Wir liegen damit erneut erheblich unter der Ausgabensteigerung der Bundesländer und auch der Gesamtheit der Kommunen, und wir haben mit einer geringen Abweichung von 500 Millionen DM das Haushaltssoll fast eingehalten.Diese Abweichung von 500 Millionen DM, meine Damen und Herren, kann man mit einem einzigen Gesetz erklären. Das von diesem Hohen Haus, wenn ich mich richtig erinnere, mit überparteilicher Mehrheit verabschiedete Gesetz zur Einführung des Erziehungsgeldes ist nicht, wie man vermutet hatte, von rund 80 % der Frauen, die Kinder bekamen, in Anspruch genommen worden, sondern von weit über 90 %, und daraus ergeben sich Mehrausgaben von fast 700 Millionen DM. Das ist familienpolitisch zu begrüßen, aber ergibt eben eine geringfügige Überschreitung. Alle anderen Mehrausgaben und Minderausgaben haben sich im letzten Jahr also saldiert, und insofern hat die Opposition mit ihrer Behauptung, wir würden die Ausgaben 1987 um Milliarden überschreiten, unrecht gehabt.
— Herr Kollege Apel, lassen Sie mich jetzt einmal zur Sache reden! Ich glaube, das ist gut und nach allem, was wir von Ihnen in den letzten Tagen gehört haben, auch dringend nötig.
Das heißt, unsere Probleme — darauf weise ich in dieser Debatte nicht zum erstenmal hin, sondern schon seit Jahren — liegen in der Tat auf der Einnahmeseite.
Ich schätze auch — mit der Marge an Unsicherheit, die im Januar immer für den Ablauf eines Haushalts vorhanden ist — , daß dies auch im Jahr 1988 so sein wird. Ich kann nur widersprechen, wenn hier global gesagt wird, daß im Januar der Haushalt Makulatur sei. Ich nehme an, obwohl es sicher einzelne Risiken gibt — ich habe immer wieder auf das Risiko hingewiesen, das wir aus Bürgschaften und Gewährleistungen haben, die wir nicht kalkulieren können — , daß wir eine sehr gute Chance haben, wie in den vergangenen fünf Jahren auch in diesem Jahr den Kurs der sparsamen Ausgabenführung zu verwirklichen, deutlich unter 3 % und insofern in der Kontinuität der Politik zu bleiben, was nötig ist. Insofern widerspreche ich hier einer polemischen Feststellung, der Haushalt sei Makulatur.Die in den Haushaltsberatungen angesprochenen, aber in zwei entscheidenden Punkten nicht quantifizierbaren Risiken auf der Einnahmenseite haben zu der Verschlechterung geführt, über die wir heute diskutieren. Das muß, glaube ich, in einer ernsthaften Diskussion auseinandergehalten werden.
Dieser Kurs sparsamer Ausgabengestaltung ist — das gilt auch für die Zukunft — die Voraussetzung dafür, daß wir die Linie, die Konzeption der Politik der Steuerentlastungen und Steuerreform fortsetzen können; denn zur Bilanz der letzten Jahre gehört auch, daß wir die Steuern — bereits seit 1985 — um fast 30 Milliarden DM, d. h. mit der Steuererleichterung, die jetzt zum 1. Januar in Kraft getreten ist, gesenkt haben,
— Herr Kollege Apel, das ist ja ein grundlegender Unterschied zwischen uns: Wir sind der Überzeugung, daß diese Politik der Steuersenkungen und Steuerreform gerade in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten nicht nur der Angebotsseite unserer Wirtschaft, sondern auch der Nachfrageseite dient und daß sie von daher konjunkturpolitisch begründet ist.
Das Thema Einnahmeseite ist intensiv und offen diskutiert worden. Niemanden wird es überraschen, wenn ich Ihnen sage, daß ich der Koalition zu Beginn dieser Wahlperiode empfohlen habe — das ist in der Koalitionsvereinbarung vom Februar ja niedergelegt, d. h. der Öffentlichkeit bekannt und in der Öffentlichkeit auch diskutiert worden —,
Konsequenzen für die Einnahmeseite zu ziehen. Dort steht eben der Satz, daß im Hinblick auf weitere Abführungen an die Europäische Gemeinschaft der Bund einen Ausgleich braucht. Und dort steht der Satz: „Erforderlich ist dafür ein begrenzter Spielraum bei spezifischen Verbrauchsteuern." Insofern knüpft der Kabinettsbeschluß vom vergangenen Donnerstag in dem öffentlich diskutierten Punkt voll an die Vereinbarung der Koalitionsparteien und -fraktionen an.Er bleibt notwendig, auch wenn wir uns aus konjunkturpolitischen Gründen entschieden haben — das ist zu Recht gesagt worden — , diesen Beschluß nicht 1988, sondern zum 1. Januar 1989 zu verwirklichen.
Das ist notwendig, wenn wir den Kurs der Steuersenkungen und der Steuerreform absichern wollen. Wir wollen diesen Kurs verwirklichen.Ich bin den Kollegen dankbar, die die unsachlichen Attacken des Herrn Kollegen Vogel gegen mich zurückgewiesen haben. Ich kann allen, die daran interessiert sind, nur empfehlen — Herr Kollege Vogel, Sie wissen das ja; wir haben Ihnen die Texte zugeleitet —, die Protokolle des Deutschen Bundestages noch einmal nachzulesen. Ich habe in der ersten Lesung des
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3718 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Bundesminister Dr. StoltenbergHaushalts am 9. September 1987 das Thema EG und die daraus erwachsenden Risiken klar und ausführlich angesprochen. Es ist nicht zu bestreiten: In jeder Debatte bis Ende November war das ein Thema. Ich habe dazu Stellung genommen und gesagt, daß wir den erkennbaren zusätzlichen Bedarf in diesem Jahr noch nicht quantifizieren können, daß wir aber handeln werden, wenn er vereinbart oder wenn er genauer erkennbar ist.Ich habe auch in den Schlußberatungen des Haushaltes — in der zweiten und dritten Lesung — mehrfach gesagt — ich zitiere — , „daß wir Risiken durch die internationale Währungsentwicklung der letzten Wochen, die jüngsten Turbulenzen auf den Devisen- und Aktienmärkten auf der Einnahmenseite haben werden". Ich habe in der letzten Rede während der Haushaltsberatung im November gesagt:Auf welchem Niveau sich die Aktien- und Devisenmärkte letztlich einpendeln werden, darüber zerbrechen sich die Experten weltweit die Köpfe. Das können Sie ebensowenig vorhersagen wie den Dollarkurs zum Bilanzstichtag am 31. dieses Jahres, auf dem der Bundesbankgewinn beruht.
Ich will Ihnen einmal sagen, daß eine Woche nach Abschluß der Beratungen im Haushaltsausschuß — hier haben wir ja über die Vorlage des Haushaltsausschusses diskutiert und entschieden — der Dollarkurs bei 1,7159 DM lag. Nach dem Stand vom 16. November 1987 hätten wir 400 Millionen DM Abschreibungsbedarf bei der Bundesbank gehabt. Jetzt sind es '7 Milliarden DM. Herr Vogel, wer das wie Sie ja immer schon alles im voraus wußte, der hätte Mitte November Anlageberater werden sollen. Das empfehle ich Ihnen hinsichtlich Ihrer weiteren beruflichen Überlegungen.
Der wäre ein reicher Mann geworden; vielleicht ist das noch Ihr Lebensziel.Ich sage Ihnen, daß niemand zum Zeitpunkt der Schlußberatung des Haushaltsausschusses — wo wir eine sehr vernünftige Debatte gehabt haben, aus der ich wegen der Vertraulichkeit leider nicht zitieren kann — , aber auch während der Schlußberatungen im Deutschen Bundestag in der letzten Novemberwoche erkennen konnte, wie hoch dieser Abschreibungsbedarf ist. Der Punkt ist angesprochen worden.
Wenn wir auf Grund des erkennbaren Themas EGund des nicht erkennbaren Themas Abschreibungsbedarf von 7 Milliarden DM auf der Einnahmenseite
eine drastisch veränderte Lage haben, dann stellen wir uns dieser Diskussion. Aber ich empfehle Ihnen, diese Diskussion auch fair und sachlich zu führen.Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Kombination jener Schritte, die im Kabinettsbeschluß beschrieben sind: konsequente Ausgabendisziplin, Abbau von Subventionen und in der Tat den Ausgleich für den Bund wegen der neuen Abführungen an die Europäische Gemeinschaft. Wir nehmen vorübergehend eine Neuverschuldung in Kauf, die höher ist, als jeder Finanzminister es sich wünschen kann. Wir folgen damit den dramatischen Appellen aus dem In-und Ausland, die Finanzpolitik stärker für die Konjunkturpolitik einzusetzen, auch Anträgen und Forderungen aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei.
Aber wir machen zugleich klar, daß das nur vorübergehend möglich ist, daß wir die Nettokreditaufnahme im nächsten Jahr deutlich zurückführen, weil wir auf die Dauer mit einem solchen Defizit nicht vernünftig leben können, nicht nur wegen der Zinsbelastungen, die daraus erwachsen, sondern wegen der negativen Zinserwartungen, die die konjunkturelle Entwicklung erschweren können.
Dies ist eine Wanderung auf einem schmalen Grat; aber nicht durch Polemik und Widersprüche der Opposition, sondern nur durch eine sachbezogene Diskussion können wir den richtigen Kurs bestimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beginnen wir mit der Frage: Wie war es nun wirklich? Herr Kollege Stoltenberg, ich habe Ihnen am 25. November bei der zweiten Lesung des Bundeshaushalts — das war vor knapp acht Wochen — genauestens vorgerechnet, wie es um die Bundesfinanzen bestellt ist. Sie haben daraufhin ausweislich des Protokolls festgestellt, dies sei eines der neuen Horrorgemälde des Herrn Apel.
Und heute behaupten Sie allen Ernstes, Sie hätten damals die Wahrheit gesagt.
Sie haben sich dann, hochverehrter Herr Kollege Stoltenberg, am 18. Dezember im Bundesrat einen Haushalt mit einer Nettokreditaufnahme von 29,5 Milliarden DM beschließen lassen. Aber dort wurde Ihre Strategie dann sichtbar. Sie haben ausweislich des Protokolls gesagt, in vier bis sechs Monaten wisse man, wie es laufe. Da war klar, was geplant war: Sie wollten die Bürgerinnen und Bürger vor zwei wichtigen Landtagswahlen erneut täuschen. Sie wollten die Wahrheit schrittweise, stückchenweise herauslassen, in diesem Fall zur Mitte des Jahres. Nur, Ihre eigenen Fraktionskollegen, der Herr Carstens und andere — augenscheinlich vorge-
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Dr. Apelschickt von Dritten — , haben Ihnen dann diese Tour vermasselt.
Sie mußten dann Anfang Januar hier auftreten und die Wahrheit sagen. Da kann ich nur sagen: Diejenigen — auch mein Fraktionsvorsitzender — , die sich über diese Art von perfider Strategie empört zeigen, haben recht, wenn sie sagen, das Parlament sei getäuscht worden.
Aber auch jetzt gibt es die Wahrheit nur auf Raten. Da sagen Sie, die Sozialdemokraten hätten Ihnen in diesen Tagen alles Mögliche vorgerechnet. Dann nehmen Sie doch einmal Stellung zu diesen Zahlen,
zu diesen konservativen Rechnungen — die wir hier angestellt haben — , die keine Horrorzahlen sind. Dann nehmen Sie doch einmal Stellung und sagen Sie, wie es wirklich ist!
Sagen Sie zumindest eines — wie Ihnen ja auch der Kollege Rose aus der eigenen Fraktion bereits gesagt hat — : daß 40 Milliarden DM schon wieder die Unwahrheit sind. 43 Milliarden DM hat der Herr Rose prognostiziert, und er hat doch recht.
Der Bundesfinanzminister sagt auf der einen Seite, es gebe eine rückläufige ökonomische Entwicklung, auf der anderen Seite ist er nicht bereit, die Steuerausfälle dagegenzurechnen.Meine Damen und Herren, wir können uns diese Art von Finanzpolitik nicht leisten. Dieses Land braucht angesichts der prekären konjunkturellen Situation endlich klare wirtschafts- und finanzpolitische Vorgaben. Das Hickhack in der Steuerpolitik und die anhaltende Mogelei in der Bonner Haushaltspolitik müssen beendet werden.
Meine Damen und Herren, diese Koalition und auch der Bundesminister der Finanzen müssen ja wirklich von allen guten Geistern verlassen sein, wenn sie in dieser wackeligen Konjunkturlage auch noch von Verbrauchsteuererhöhungen reden, sie beschließen und hier erneut von Herrn Bundesfinanzminister Stoltenberg auch noch begründen lassen. Sie sagen, Herr Dregger, das Defizit sei Ihr internationaler Beitrag. Mit Konjunkturpolitik hat das nichts zu tun. Aber vielleicht haben der Herr Bundesfinanzminister und auch Herr Dregger gelesen, was der amerikanische Botschafter Burt Ihnen dazu gesagt hat. Er hat Ihnen gesagt, daß diese Verbrauchsteuererhöhungen Gift sind; und sie sind Gift.
Eines will ich allerdings hinzufügen: Der amerikanische Botschafter ist nicht der Protektor und der Gouverneur des 51. amerikanischen Staates. Er möge sich gefälligst aus den innerdeutschen Debatten heraushalten.
Wir fordern Sie auf, die geplanten Verbrauchsteuererhöhungen zurückzunehmen, das Steuerpaket auf eine machbare Größenordnung zu reduzieren, es auf kleine und mittlere Einkommen zu konzentrieren und endlich eine Beschäftigungs- und Investitionsoffensive zu starten, sonst werden wir alle dank Ihrer Politik in einer Rezession enden. Die kann niemand wollen. Im Gegensatz zu Ihnen gibt es bei uns keine Sonthofener Strategie. Deswegen bieten wir Ihnen Zusammenarbeit an.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Carstens .
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal feststellen, daß die SPD in ihren Reden, aber mehr noch in ihren Papieren der letzten Tage Zahlen aufgetischt hat und von Annahmen ausgeht, die kaum einen Bezug zur Realität haben,
was zwangsläufig dazu führt, daß wir es hier mit Horrorgebilden und Übertreibungen zu tun haben, mit denen man sich kaum sachlich auseinandersetzen kann. Deswegen werde ich gezwungen sein, gleich noch einmal unsere klare Linie vorzutragen.Des weiteren aber stelle ich fest, daß der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Vogel,
offensichtlich nicht bereit ist, sich für die Entgleisungen gegenüber dem Bundesfinanzminister zu entschuldigen.
Diese Sache ist noch nicht bereinigt,
schon gar nicht durch die Ausführungen hier des Kollegen Apel.
Denn wenn man dem Bundesfinanzminister vorwirft, daß er das Parlament hier bei den Haushaltsberatungen Ende 1987 getäuscht habe, dann ist das absurd und wahrheitswidrig,
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Carstens
wie die Ausführungen von Gerhard Stoltenberg soeben ja bewiesen haben, meine Damen und Herren.
Wenn der Kollege Apel davon sprach, daß irgend etwas Perfides passiert sei — ich weiß nicht genau, was er gemeint hat — , so meinte er bestimmt nicht die Art und Weise, wie wir mit diesen Zahlen auch der Öffentlichkeit gegenüber umgegangen sind. Wir haben, sobald erkennbar war, daß ein höheres Defizit zu verzeichnen sein würde, die Öffentlichkeit informiert, nicht heimlich, still und leise, sondern über das offizielle Organ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, den „Deutschland-Union-Dienst", wie sich das gehört, meine Damen und Herren.
Und nun zu den Fakten. Es gibt sicherlich niemanden, der sich darüber freut, daß wir aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahre 1988 zu einem Defizit von rund 40 Milliarden DM kommen werden. Nur, es gibt erhebliche Unterschiede in der Qualität der Politik der Jahre 1986, 1987 und auch 1988 und der Politik der Jahre 1981 und 1982. Denn der maßgebliche Unterschied besteht darin,
daß wir die Staatsausgaben im Griff haben.
Der Staat lebt nicht über seine Verhältnisse. Wir haben eine Ausgabensteigerung innerhalb der letzten fünf Jahre von durchschnittlich 2 % — 2 % jährlich im Durchschnitt der letzten fünf Jahre! Das ist das Merkmal dieser Finanzpolitik.Sie stellen jetzt mit uns fest, daß wir auf ein Defizit von 40 Milliarden DM kommen. Das ist auf die beiden Positionen Bundesbankgewinn und erhöhte Kosten für die Europäische Gemeinschaft zurückzuführen.
Das alles fällt mit einer nachhaltigen Steuerentlastung in den letzten zwei Jahren zusammen. Um annähernd 30 Milliarden DM ist entlastet worden, ohne daß wir auf der anderen Seite Steuererhöhungen vorgenommen haben.
Wir werden imstande sein, wie es die Bundesregierung vor einigen Tagen beschlossen hat, nach dem Anstieg der Neuverschuldung im Jahre 1988 die Verschuldung schon 1989 ein ganzes Stück, vielleicht um mehr als 10 Milliarden DM, zu reduzieren.
Dafür hat sich die Regierung ausgesprochen; die Regierungskoalition steht hinter diesem Beschluß, wie Sie es vorhin von der FDP gehört haben und wie auch ich es noch einmal für unsere Fraktion zum Ausdruck bringe.Wir wollen nicht die Steuern erhöhen, um darüber andere Steuersenkungen zu finanzieren. Wir brauchen Steuererhöhungen bei den Verbrauchsteuern nicht, um dieses Haushaltsloch zu schließen,
sondern wir brauchen, wie in der Koalitionsvereinbarung im März 1987 festgelegt, diesen Rahmen lediglich, um die erhöhten Abflüsse für die Europäische Gemeinschaft zu finanzieren. So ist es abgemacht; dafür ist es gedacht.
Wir haben darüber hinaus erklärt, daß wir für ein Jahr diese erhöhte Verschuldung aus weltwirtschaftlichen Gründen akzeptieren; da mag es sogar erwünscht sein. Binnenwirtschaftlich können wir es verkraften, weil wir sowohl bei den Zinsen als auch beim Geldwert stabile Faktoren haben. Ab 1989 geht die Verschuldung dann wieder mit einem erheblichen Schritt zurück, wodurch wir dann die Konsolidierungspolitik in die 90er Jahre hinein mit allen Vorteilen für die deutsche Bevölkerung fortsetzen können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn das Parlament sein Königsrecht wahrnehmen will, was jede Regierung nur begrüßen kann, dann kann das nur dadurch geschehen, daß man zur Sache Ausführungen macht. Deswegen ist es im Interesse der Sache richtig und wichtig, daß wir zunächst einmal feststellen und festhalten, was im Verlauf des vergangenen Jahres hier von diesem Pult und an anderer Stelle ständig wiederholt worden ist, daß nämlich zwei Positionen nicht eindeutig bestimmbar waren, einmal die Mehrausgaben für die Europäische Gemeinschaft und der Bundesbankgewinn, der aus Bilanzierungsgründen, wie jeder weiß, erst am Ende des Jahres festgestellt werden kann.Deswegen ist es einfach nicht richtig, und es entspricht auch nicht, finde ich, dem Stil einer vernünftigen parlamentarischen Auseinandersetzung, in der das Parlament sehr wohl auch das kritisieren sollte, was die Regierung falsch macht, wenn hier Herr Apel von einer perfiden Strategie spricht.Der Bundesfinanzminister und alle Haushaltssprecher der Koalitionsfraktionen haben in der Haushaltsdebatte mehrfach darauf hingewiesen, daß es diese beiden noch nicht geklärten Positionen gibt und daß man deswegen darüber noch keine verbindlichen und endgültigen Aussagen machen kann. Das kann nicht bestritten werden; das haben wir alle gemeinsam damals festgestellt.
Wenn das so ist, dann muß jetzt, nachdem diese Tatsachen bekannt sind, entschieden werden — die Regierung hat natürlich die Verpflichtung, als erste
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Bundesminister Dr. BangemannVorschläge zu machen — , wie diese Mindereinnahmen oder Mehrausgaben im Falle der EG gedeckt werden können.Da gab es eine Entscheidung zu treffen, die im Grunde nur drei Möglichkeiten zuließ: Entweder man hätte die Ausgaben gekürzt, oder man hätte die Steuern erhöht, oder man hätte das vorgeschlagen, was die Regierung — übrigens bereits zu Beginn ihrer Tätigkeit — in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben hatte und was sie am 2. Dezember noch einmal im Kabinett beschlossen hatte, nämlich automatische Stabilisatoren wirken zu lassen oder, im Klartext, die Nettokreditaufnahme zu erhöhen.Konjunkturell ist von diesen drei Alternativen — entweder Steuererhöhung in diesem Jahr oder Kürzung von Ausgaben in diesem Jahr oder aber Erhöhung der Nettokreditaufnahme — die von der Regierung vorgeschlagene Möglichkeit die einzige richtige.Ich möchte wissen, was Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sagen würden, wenn wir zur Deckung dieser Mehrausgaben und Mindereinnahmen vorschlagen würden, Ausgaben zu kürzen oder die Steuern in diesem Jahr zu erhöhen. Ich möchte wirklich wissen, was Sie dazu sagen würden.
— Wir erhöhen in diesem Jahr die Steuern nicht, Herr Spöri.
Es zeigen ja Ihre ganze Taktik und Strategie, daß Sie nicht einmal das zur Kenntnis nehmen wollen. Sie wissen ganz genau, daß die Regierung beschlossen hat, für dieses Jahr keine Steuererhöhungen vorzunehmen.
Das ist ja der wesentliche Inhalt dieses Beschlusses. Das ist konjunkturell richtig. Ich habe bereits gestern vor dem Konjunkturrat darauf hingewiesen, daß die objektiven Daten, die wir für dieses Jahr bereits haben, überhaupt keinen Anlaß bieten, davon auszugehen, daß der Wachstumspfad verlassen wird. Wir werden auch in diesem Jahr Wirtschaftswachstum haben, und zwar vermutlich in der Höhe des vergangenen Jahres.Wir haben allein einen Überhang von fast 1 %. Selbst wenn wir in diesem Jahr überhaupt kein Wirtschaftswachstum hätten, wäre mit diesem Überhang 1 % zu erzielen.Wir werden darüber hinaus Wirtschaftswachstum haben. Wir werden eine Erhöhung der Kaufkraft um 50 Milliarden DM haben, und das bei einer Preissteigerungsrate, die praktisch Preisstabilität bedeutet.Mit anderen Worten, die konjunkturelle Situation für dieses Jahr ist mindestens so gut wie im vergangenen Jahr. Wir werden mit den niedrigen Zinsen auch die Investitionsvoraussetzungen so gestaltenkönnen, daß Investitionen vorgenommen werden können.
Wir haben einen einzigen Schwachpunkt.
Auf diesen Schwachpunkt hat die Regierung mit ihrerVerbesserung der Kreditmöglichkeiten der KfW bereits reagiert. Es sind die öffentlichen Investitionen.Die zusätzlichen Kreditmöglichkeiten von 21 Milliarden DM auch für kleine und mittlere Betriebe bedeuten, daß in diesem Jahr zusätzliche erleichterte Kreditmöglichkeiten von 7 Milliarden DM Wirkung zeigen können.Wenn man den Multiplikator bei der Investitionssumme mit 2 ansetzt — und das ist sehr konservativ gerechnet — , kommt man auf ein zusätzliches Investitionsvolumen von 14 Milliarden DM.Das alles zusammengenommen rechtfertigt die Aussage, daß wir mit diesem Beschluß, den wir in aller Offenheit bereits im vergangenen Jahr diskutiert und in seinem Kern und seinen Grundzügen gefaßt hatten, richtige Signale setzen. Ich warne: Wir haben bei den Börsenturbulenzen gesehen, daß eine ganz geringfügige Entscheidung, die damals von der Bundesbank durchaus vernünftig gedacht und gemeint war, als falsches Signal mißverstanden werden kann. In dieser Situation dürfen wir keine falschen Signale setzen. So ist der Beschluß der Bundesregierung angesichts der unvermeidbaren Tatsachen zu würdigen, die auch durch Diskussionen nicht aus der Welt geschafft werden können. Sie können den niedrigen Dollarkurs vom Ende des vergangenen Jahres nicht durch Diskussionen aus der Welt schaffen.
Daß die Bundesbank daraufhin nach ihren Bilanzierungsvorschriften ihren Gewinn bei Null ansetzen muß oder jedenfalls nicht in der Höhe ansetzen kann, wie wir ihn eingestellt und mit der wir gerechnet haben, ist wohl ein Faktum, das man niemandem zum Vorwurf machen kann. Die erhöhten Ausgaben für die EG sind auch eine Investition in die Zukunft.
Wollen Sie denn vor den Gipfeln, die wir jetzt in Brüssel und in Hannover unter deutscher Präsidentschaft zu bestehen haben, daß die Zukunftsaufgabe EG daran scheitert, daß wir diese Mehrausgaben selber nicht übernehmen wollen?
Wenn das niemand sagt, Herr Spöri, dann müssen Sie 10 Milliarden DM finanzieren. Dann kommen auch Sie trotz Ihres Wahlkampfes an den drei fundamentalen Möglichkeiten nicht vorbei: entweder die Steuern zu erhöhen — das wollen Sie nicht, und das wollen auch wir nicht — oder die Ausgaben zu kürzen — das wollen Sie offenbar nicht und auch wir nicht — oder die Nettokreditaufnahme zu erhöhen. Sie wissen
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3722 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Bundesminister Dr. Bangemannganz genau, Sie müßten das, wenn Sie in der Regierung wären, ebenfalls tun. Gott sei Dank sind Sie aber nicht in der Regierung.
Das Wort hat der Abgeordnete Esters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie begehen in einem Punkt einen Irrtum, nämlich in dem folgenden: Wir gehen immer davon aus, daß das, was die Kollegen von der Koalition uns heute sagen, mit dem übereinstimmt, was uns 1981 und 1982 unter Federführung von Herrn Häfele hier immer zur Verwendung des Bundesbankgewinns dargelegt worden ist. Unwahrhaftig und unehrlich ist derjenige, der in diesen Dingen einen Maßnahmenkatalog in Richtung Karlsruhe in Gang setzt, um andere zu bewerten, sich selbst aber nirgendwo daran hält. In all den Jahren seit 1983, in denen Sie jetzt regieren,
haben Sie genau das, was Sie uns immer gesagt haben, daß nämlich der Bundesbankgewinn nicht zur normalen Haushaltsfinanzierung herangezogen werden dürfe, nirgendwo beachtet. Dies ist unehrlich, und dies macht Sie auch unglaubwürdig.
Im Jahre 1988 müssen Sie es machen, weil Sie da in diesem Bereich nichts mehr haben.
Bereits einen Tag nach der Verabschiedung des Haushalts im Haushaltsausschuß sprachen verschiedene Kollegen der Koalition davon, daß mit einem Nachtragshaushalt gerechnet werden müsse. Herr Finanzminister, die Ausgaben im EG-Bereich, die Sie jetzt nach dem, was das Kabinett beschlossen hat, in den Nachtrag bringen wollen, betreffen ja nicht 1988 — in bezug auf den Haushalt dieses Jahres gibt es bekanntlich in Europa noch keine Einigung — , sondern sind Nachschläge für 1987, und diese waren am Ende der Haushaltsberatungen für jeden, der sehen wollte, erkennbar.
Ich habe davon gesprochen, daß dieser Haushalt nun auch an dem berühmten Art. 115 des Grundgesetzes gemessen werden muß, der besagt, daß die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfen. Bestimmt wird hierin auch, daß Ausnahmen nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulässig sind.
Sie haben Gelegenheit, beim Jahreswirtschaftsbericht dazu Stellung zu nehmen. Entweder gilt der erste Satz des Art. 115 oder der zweite, und dann sind Sie hier bei uns in der Erklärungspflicht.
Wir alle haben gewußt, daß das, was im Zuge der Verabschiedung des Bundeshaushalts an verschiedenen Punkten auf der Ausgaben- und auf der Einnahmenseite eine Rolle spielte, schon damals unrealistisch war, als wir hier die zweite und dritte Lesung machten. Wenn ich mir ansehe, was wir auf der Ausgabenseite — ich habe dies schon einmal gesagt — im Verteidigungsbereich z. B. für den Panzerabwehrhubschrauber, den Jäger 90 und anderes und im Bereich der Raumfahrt für die Zukunft ins Rohr geschoben haben, dann stelle ich fest, daß hier Ausgaben zwangsläufig steigen und Einnahmen von Ihnen gekürzt werden. Von daher deutet sich jetzt schon die Entwicklung an, daß es ein Dauerzustand wird, daß die Kreditobergrenze des Art. 115 des Grundgesetzes von Ihnen überschritten wird.
Nach den Kriterien, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die Sie selbst zur Bewertung nach Karlsruhe gegeben haben, haben Sie nach 1983 keinen einzigen Haushalt vorgelegt oder gefahren, der mit diesen Kriterien konform ging.
Das, was Sie dem höchsten deutschen Gericht zur Bewertung gegeben haben, ist unredlich, ist unehrlich, und damit werden Sie unglaubwürdig.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rose.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Aktuelle Stunde hätte die Stunde der Opposition sein können; sie ist es nicht.
Denn die Angriffe von SPD und GRÜNEN laufen ins Leere.Was wirft denn die Opposition der Bundesregierung vor? Herr Kollege Esters, der soeben gesprochen und hier wieder groß getönt hat, hat am 5. Januar 1988 in einer internen Information der SPD-Fraktion festgestellt, daß der Bundesbankgewinn ausfällt, weil der Dollarkurs ausgerechnet zum Stichtag 31. Dezember 1987 auf dem Tiefststand war. Das ist inzwischen bekannt; darüber brauchen wir nicht mehr zu streiten. Das hätten Sie nicht anders machen können, so ist es also.
Niemand von der Opposition wie auch niemand von der Regierung konnte etwas dagegen tun. Folgerichtig muß die in mühsamen Haushaltsberatungen festgelegte Nettokreditaufnahme im Jahre 1988 um 6 Milliarden DM erhöht werden. Das meinte auch Helmut Esters, als er schrieb, die geplante Neuverschuldung für 1988 in Höhe von 29,5 Milliarden DM werde auf mehr als 35 Milliarden DM anwachsen. Kollege Esters, Sie haben nicht von einem größeren Betrag gesprochen, Sie sind bei diesen 35 Milliarden DM hängengeblieben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3723
Dr. RoseDa müßte Ihr Fraktionsvorsitzender Sie doch eigentlich der Täuschung bezichtigen,
weil Sie nämlich auch von nur 35 Milliarden DM gesprochen haben.
Daran sehen Sie ja, wie das bei Ihnen läuft.
Auf weitere Spekulationen, meine Damen und Herren, ließ sich der vorsichtige Kollege aus dem Haushaltsausschuß also nicht ein.Wir sehen hier, daß die Opposition — wie immer — ein Doppelspiel betreibt.
Denn einerseits redet sie von Täuschung, andererseits aber kennt sie die Beratungen im Haushaltsausschuß und weiß daher, worüber wir dort gesprochen haben. Die Risiken sind dort immer angeschnitten worden, so daß man immer genau wußte, was kommen kann, falls etwas eintritt. Man kann aber nicht vorher schon festschreiben, daß der Dollarkurs zum 31. Dezember 1987 so sein wird, wie er tatsächlich war. Es ist vorhin ja deutlich gesagt worden, daß wir zu dem Zeitpunkt, in dem der Haushalt verabschiedet wurde, noch von einem anderen Dollarkurs ausgehen mußten. Wer von Ihnen, wer von uns hätte das irgendwie anders machen können?Als Tatsache bleibt also festzuhalten: Von den möglichen Haushaltsrisiken sind zwei Wirklichkeit geworden, nämlich der Ausfall des Bundesbankgewinns wegen des niedrigen Dollarkurses und der höhere Beitrag zu dem EG-Haushalt. Diese Tatsache haben wir dem deutschen Volk zu Beginn des Jahres 1988 gesagt. Das ist doch richtig.
Sie ist für das Haushaltsjahr 1989 — dafür beginnen ja jetzt die Referentengespräche — vielleicht sogar heilsam, weil der Druck zur öffentlichen Sparsamkeit wächst. Auf diesem Feld hat sich die Bundesregierung wahrhaftig nichts vorzuwerfen. Denn noch geringere Ausgabenzuwächse als die von durchschnittlich 1,7 %, konnte man beim besten Willen nicht haben. Die SPD war dazu früher überhaupt nicht in der Lage.So muß man festhalten, daß die neu erhöhte Nettokreditaufnahme nicht wegen einer ausufernden staatlichen Ausgabenpolitik erfolgt. Es sind die Einnahmen, die rückläufig waren. Diese geringeren Einnahmen wiederum sind nicht auf eine schlechte Gesamtsituation zurückzuführen, sondern sind größtenteils gewollt. So führt das völlige Fehlen der' Inflation zu geringeren Steuereinnahmen. Es ist auch gewollt, daß durch die beiden ersten Stufen der Steuerentlastung 1986 und 1988 knapp 30 Milliarden DM in den Taschen der Bürger bleiben und nicht zum Finanzamt wandern.
Überhaupt sind, meine Damen und Herren, die Realeinkommen der Bürger in unserer Regierungszeit, besonders 1987, kräftig gestiegen. Auch das sollten wir festhalten, damit hier nicht ein Horrorgemälde gemalt wird und der Eindruck entsteht, als gehe es drunter und drüber, wie auch die Kollegin Vennegerts vorhin meinte, als sie sagte, daß schon alles am Ende sei.
Sie waren in dieser Woche nicht einmal mehr im Haushaltsausschuß vertreten. Vielleicht ist deshalb bei Ihnen schon alles am Ende.
Ich halte es mit einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" vom 7. Januar, in dem es heißt:So unschön das 40-Milliarden-Loch für die Bundesregierung und ihren Finanzminister ist, so wenig Anlaß bietet es unter den gegebenen Umständen für eine Dramatisierung . . .Entscheidend ist, daß es 1988 anders wird. Da können sich auch die Kollegen der Opposition bewähren. Es geht nicht, auf der einen Seite zu jammern, daß man zuwenig ausgibt, und auf der anderen Seite zu beklagen, daß man eine zu hohe Nettoverschuldung hat.Es paßt auch nicht zu Ihnen, darüber zu jammern, daß wir im Jahre 1989 Steuern erhöhen, denn wir haben sechs Jahre lang keine Steuern erhöht. Fragen Sie sich selbst einmal, wie Sie das früher geschafft haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Schulhoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde und die Diskussion im Vorfeld haben wieder deutlich gemacht, um was es der Opposition eigentlich geht: Ihr geht es nicht um Sachlichkeit; ihr geht es weder um die Solidität unseres Haushalts noch um eine möglichst geringe und gerechte Steuerbelastung der Bürger. Ihr geht es vielmehr darum, mit Angstkampagnen Unsicherheit und Unruhe in der Bevölkerung zu entfachen.
Das schadet uns allen. Insbesondere schadet es unserer Wirtschaft. Herr Spöri, Sie sind dabei, die Wirtschaft kaputtzureden!
Da über die Ausgabenseite mehrfach gesprochen wurde, möchte ich mich in diesem Zusammenhang mehr mit der Einnahmenseite befassen
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3724 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Schulhoff— ich komme noch zu Ihnen, Herr Spöri — , nämlich mit den Steuern. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, einmal nachzukarten. Wie war es denn bis 1982? Die Belastung der Bürger und Unternehmen mit Steuern explodierte förmlich.
Allein die Lohnsteuer stieg von 1970 bis 1982 dreieinhalbmal so schnell wie die Löhne selbst. Zwar hat man in dieser Zeit versucht, die Steuerlast durch Laborieren am Tarif etwas zu mildern, aber gleichzeitig hat man die Verbauchsteuern kräftig angehoben:
die Tabaksteuer, die Mineralölsteuer und auch mehrfach die Mehrwertsteuer.Herr Spöri, die Auflistung Ihrer Steuererhöhungen füllt ein ganzes DIN-A4-Blatt. Ich werde Ihnen diese Aufstellung übergeben, damit Sie Ihr Gedächtnis einmal auffrischen.
Geben Sie es aber bitte auch Herrn Apel; der hat es auch nötig.
In 13 Jahren SPD-Regierung gab es unter dem Strich eine Steuerentlastung von nur 26 Milliarden DM. Sie wurde aber sofort durch heimliche Steuererhöhungen kompensiert. Der Bürger wurde mehr und mehr belastet. Die Steuerquote stieg mehr und mehr.
Diese Entwicklung verstärkte sich noch durch die Art des Steuertarifs. Sie haben auch vergessen, daß Helmut Schmidt 1982 deshalb vor Ihrer Fraktion ausführte:
Geholt haben wir uns das Geld immer von den Arbeitnehmern.Das müßte Ihnen doch unter die Haut gehen. Die Koalition der Mitte hat zum Glück einen anderen Weg eingeschlagen. Ihr gelang es, schon in wenigen Jahren die Steuern effektiv um fast 30 Milliarden DM zu senken, und dies bisher ohne Kompensation.
Auch eine geplante begrenzte Erhöhung von Verbrauchsteuern zur Abdeckung der EG-Lücken wird diesen Trend nicht unterbrechen.
Bei der dritten Stufe der Steuerreform geht es darum, diesen positiven Trend nachhaltig fortzusetzen, um endlich einmal auf Dauer einen linear-progressiven Steuertarif zu bekommen, der Schluß machtmit der erdrückenden Grenzsteuerbelastung. Ab 1990 gehen dann nicht mehr wie bisher von 1 DM Mehrverdienst 42 Pfennig an das Finanzamt, sondern nur noch 28 Pfennig.
Dies, Herr Vogel, haben Sie als „schädliche Steuergeschenke" bezeichnet. Ich frage Sie hier, Herr Dr. Vogel
— ich sehe, daß Sie hier sind — : Ist es schädlich, wenn 1990 500 000 Bürger keine Steuern mehr zu zahlen brauchen?
Ich frage Sie weiter:
Ist es schädlich, wenn wir den Eingangssteuersatz, den Sie während Ihrer Regierungszeit erhöht haben, wieder auf 19 Prozentpunkte senken?Ich frage Sie weiter: Ist es schädlich, wenn von 40 Milliarden DM Bruttoentlastung 12,5 Milliarden DM auf den unteren Tarifbereich und 21 Milliarden DM auf den mittleren Tarifbereich entfallen? Ich frage Sie: Ist es schädlich, wenn wir endlich wieder etwas für die Familien tun und die Kinderfreibeträge erhöhen?
Und ich frage Sie: Wie ist es mit Ihren haltlosen Argumenten, dies sei eine Umverteilung von unten nach oben?Ich könnte den Fragenkomplex noch fortsetzen. Leider ist meine Zeit abgelaufen.
Ich kann zum Schluß die Bundesregierung nur nachhaltig ermutigen, treu auf Kurs zu bleiben: weiter konsolidieren, weiter Sparkurs und weiter nachhaltig Steuern senken, wie geplant. Zu dieser Politik gibt es keine Alternative.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe Zusatzpunkt 7 der Tagesordnung auf:Aussprache über die Vorfälle bei der Firma NukemMeine Damen und Herren, interfraktionell ist, wie schon angekündigt, vereinbart worden, für die Beratung einen Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vorzusehen. — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit das Wort.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3725
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich bitte die Damen und Herren Abgeordneten, entweder Platz zu nehmen oder den Saal zu räumen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Am gestrigen Donnerstag bin ich kurz nach 12 Uhr von meinem zuständigen Abteilungsleiter telefonisch davon unterrichtet worden, daß die Firma Nukem bereits seit Mitte des Jahres 1987 von Plutoniumverunreinigungen in Fässern, die von der Firma Transnuklear transportiert wurden, gewußt haben müsse. Diese Information habe er, der Abteilungsleiter, soeben vom Staatssekretär im hessischen Umweltministerium telefonisch übermittelt bekommen.Auf der Grundlage dieser Benachrichtigung habe ich unverzüglich telefonischen Kontakt mit dem hessischen Umweltminister Weimar und mit Ministerpräsident Dr. Wallmann gesucht. Nach 13 Uhr ist zunächst das Gespräch mit Minister Weimar zustande gekommen. Dabei bestätigte mir der hessische Kollege, daß die Nukem spätestens bereits im Sommer des Jahres 1987 über Informationen verfügte, die den Schluß auf Unregelmäßigkeiten durch die Transnuklear bei Transporten und Konditionierungsvorgängen radioaktiver Abfälle der Nukem nahelegten.Herr Weimar teilte mir außerdem mit, daß in mehreren atomrechtlichen Aufsichtsgesprächen mit der Nukem über den Komplex Transnuklear von der Firma hierauf nicht hingewiesen worden sei, obwohl der gesamte Vorgang angesprochen worden sei. — Diese Vorgänge ereigneten sich bereits ab dem Jahre 1983, spätestens 1985.Herr Weimar berichtete mir ferner, daß das hessische Umweltministerium am 8. Januar dieses Jahres mehrere interne Unterlagen der Firma Nukem erhalten habe. Bei der Auswertung dieser Unterlagen, die er in seinem Hause am Mittwoch dieser Woche vorgenommen habe, seien diese Feststellungen getroffen worden. Herr Weimar habe am Mittwochabend den hessischen Ministerpräsidenten darüber unterrichtet. Dieser habe entschieden, für den nächsten Morgen die verantwortlichen Personen des Aufsichtsgremiums der Nukem nach Wiesbaden zu laden. In diesem Gespräch seien auf der Grundlage der Erkenntnisse die Vertreter der Nukem aufgefordert worden, kurzfristig die beiden Geschäftsführer der Nukem zu beurlauben.Außerdem berichtete mir Kollege Weimar, daß er persönlich über einen Informanten Hinweise darauf erhalten habe, daß aus Mol von der Transnuklear spaltbares Material nach Lübeck transportiert worden sein. Von dort sei es nach Libyen und Pakistan verschifft worden. Von diesen Hinweisen habe er unverzüglich die zuständige Staatsanwaltschaft sowie den hessischen Ministerpräsidenten unterrichtet.Diese Informationen, meine Damen und Herren, sind mir kurz danach in einem Telefongespräch auch vom hessischen Ministerpräsidenten Dr. Wallmannbestätigt worden. Herr Kollege Weimar und ich haben gestern abend in einer umfassenden Sitzung des zuständigen Ausschusses darüber weiter informiert.Die Nukem ist zu zwei Dritteln Anteilseigner der Transnuklear. Darüber hinaus bestehen Verflechtungen zwischen beiden Firmen, zumindest im kaufmännischen Bereich. Auf Grund eines Berichts des Wirtschaftsprüfungsunternehmens, das ich zur Überprüfung der Firma Transnuklear eingesetzt habe, waren mir Anfang dieser Woche Mängel in der Aufsichtstätigkeit der Geschäftsführung Nukem über die Trans-nuklear bekanntgeworden. Aus diesem Grunde habe ich bereits im Rahmen der Regierungserklärung vorgestern in diesem Hohen Hause darauf hingewiesen, daß auch die Firma Nukem dieser unabhängigen Überprüfung durch ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen unterzogen wird.Hieraus und auf Grund der mir am 14. Januar mittags, gestern mittag, übermittelten Erkenntnisse des hessischen Umweltministers, die über die vorhandenen Erkenntnisse bei der Transnuklear hinausgingen, ergeben sich erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit der Nukem sowohl in personeller wie auch in organisatorischer Hinsicht. Das war für mich Anlaß, bis zum Abschluß der notwendigen Aufklärung und einer vorzunehmenden Zuverlässigkeitsprüfung die der Nukem erteilten atomrechtlichen Genehmigungen auszusetzen.
Diese Entscheidung habe ich fernmündlich dem hessischen Umweltminister mitgeteilt. Sie ist fernschriftlich gestern gegen 17 Uhr dem hessischen Umweltministerium übermittelt worden.Ich betone: Das ist keine Vorverurteilung. Diese Maßnahme stellt sicher, daß nach Recht und Gesetz untersucht werden kann. Es entspricht dem Rechtsstaat, dem wir alle verpflichtet sind, daß wir am Ende einer Untersuchung urteilen und, wenn erforderlich, auch harte Entscheidungen treffen. Wer vorher verurteilt, stellt die Lauterkeit seiner Absichten und Argumente in Frage.
Ich möchte daher auch ausdrücklich darauf hinweisen, daß sich die von mir veranlaßte Aussetzung der atomrechtlichen Genehmigung allein auf die Vorgänge bei der Nukem beziehen, die mit der Behandlung der 50 Fässer schwach- und mittelradioaktiven Abfalls bekanntgeworden sind. Sie gründen auch auf der Tatsache, daß nach ergänzender Mitteilung des hessischen Umweltministers zwei Fässer, die ebenfalls aus Belgien stammen und nach Angaben der Firma Nukem schwach- und mittelradioaktiven Abfall aus dem Kontrollbereich enthalten, bisher nicht nachgewiesen werden können. Ein Zusammenhang zwischen diesen zwei Fässern und den Hinweisen und Gerüchten über einen Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag ist bisher nicht hergestellt worden.Ich betone: Nicht Grundlage meiner Entscheidung sind die Hinweise, die ich von der hessischen Landesregierung bezüglich des Verdachts eines Verstoßes gegen den Atomsperrvertrag bekommen habe. Eine telefonische Rücksprache, die am heutigen Morgen
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3726 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Bundesminister Dr. Töpfermein zuständiger Abteilungsleiter mit der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Hanau führte, hat außerdem die Mitteilung ergeben, daß die Staatsanwaltschaft, die in dieser Angelegenheit ermittelt, bisher über keine belastbaren Erkenntnisse verfügt. Angesichts des ungeheuerlichen Verdachts, daß über Deutschland spaltbares Material nach Libyen oder Pakistan verbracht worden sein könnte, habe ich ergänzend zur staatsanwaltschaftlichen Ermittlung alle Maßnahmen zur Aufklärung eingeleitet. Noch heute wird ein Gespräch mit der belgischen Behörde hier in Bonn stattfinden.
Die Feststellung von Firmen, die in Lübeck oder im Raum Lübeck über atomrechtliche Genehmigungen verfügen, ist angewiesen. Die erneute Überprüfung spaltbaren Materials durch die IAEO in der fraglichen Zeit ist veranlaßt. Die Zusammenarbeit mit den für den Ni chtweiterverbreitungsvertrag zuständigen Ministerien, dem Bundesforschungsministerium und dem Auswärtigen Amt, ist hergestellt.Durch meine Entscheidung, die atomrechtliche Genehmigung auszusetzen, so daß die Nukem davon vorläufig keinen Gebrauch machen kann, wird die Überprüfung der Zuverlässigkeit der Nukem in personeller und organisatorischer Hinsicht ohne den Verdacht verschleiernder Handlungen sichergestellt. Ich habe außerdem angewiesen, daß die Nukem schriftlich darzulegen hat, ob und gegebenenfalls welche personellen und organisatorischen Konsequenzen sie aus dem Vorfall zu ziehen gedenkt. Hierbei ist die Nukem von der hessischen Aufsichtsbehörde darauf hinzuweisen, daß für den Fall einer länger ausstehenden Mitteilung oder einer Äußerung, die nach Prüfung eventuell als nicht überzeugend erscheint, der Widerruf atomrechtlicher Genehmigungen auf der Grundlage des § 17 Abs. 3 Nr. 2 des Atomgesetzes erwogen wird und spätestens Anfang Februar 1988 eine Anhörung nach § 28 des Verwaltungsverfahrensgesetzes mit einer vierwöchigen Frist für die Abgabe einer Stellungnahme durchgeführt wird. Zu der Anordnung habe ich die sofortige Vollziehung verfügt.In der Regierungserklärung, die ich zu den Vorgängen um die Firma Transnuklear vorgestern in diesem Hohen Hause abgegeben habe, habe ich sehr deutlich festgestellt, daß das Vertrauen in die Kernenergie, daß das Vertrauen in die Integrität einiger dort Handelnder zutiefst erschüttert worden ist. Die ungeheuerlichen Verdächtigungen hinsichtlich einer Verletzung des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernbrennstoffen würden, sollten sie sich bewahrheiten, diese Vertrauenskrise in eine ganz neue Dimension bringen. Wir alle sollten in hohem Maße daran interessiert sein, daß dieses Geflecht von Verdächtigungen und Unterstellungen, von Spekulationen und Hinweisen durch die Strafverfolgungsbehörden, aber auch durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen der Behörden ohne Wenn und Aber und ohne Rücksicht auf die dabei beteiligten Personen entwirrt wird. Meine Entscheidungen dazu habe ich in vollem Umfange mit dem Herrn Bundeskanzler abgestimmt.
Wir sollten ebenso gemeinsam darauf hoffen, daß sich diese Verdächtigungen nicht bestätigen; denn der daran anknüpfende Schaden ginge weit über Transnuklear und Nukem, ginge über die friedliche Nutzung der Kernenergie hinaus. Dies sollten alle bedenken, die sich an derartigen Spekulationen beteiligen.Mein Ziel ist und bleibt es, durch Fakten Klarheit zu schaffen
und auf der Grundlage von Fakten unverzüglich und hart zu handeln.
Durch die Entscheidung über eine grundsätzliche Veränderung des Kontroll- und Überwachungssystems bei radioaktiven Abfallstoffen, das ich in diesem Hohen Hause vorgestern in der Regierungserklärung vorgestellt habe, ist außerdem über die erforderlichen Vorsorgemaßnahmen entschieden worden. Aus gleichem Grunde werde ich die Unternehmen des Brennstoffkreislaufs in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt von unabhängigen Prüfern untersuchen lassen — auch mit dem Ziel, Grundlagen für notwendige Entflechtungen zu erhalten.Die Bundesregierung will Klarheit in dieser Angelegenheit. Der Bundesminister für Umwelt ist entschlossen, wenn nötig, auch tief zu schneiden, damit eine grundsätzliche Gesundung möglich ist. Unser Ziel ist die Gesundung und nicht der Tod des Patienten.
Ich bitte das Parlament, mich bei dieser Aufgabe, die ich ehrlich in Angriff nehme, zu unterstützen.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Ich erteile dem Herrn Ministerpräsidenten des Landes Hessen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Sachverhaltsschilderung, die wir eben von Herrn Bundesminister Professor Töpfer gehört haben, wird hier von mir ausdrücklich in allen Punkten als zutreffend unterstrichen.Ich denke, meine Damen und Herren, ich sollte zunächst kurz darlegen, wie der Zeitablauf in diesem schwerwiegenden Bereich — wann wir was erfahren haben, wann wir informiert haben — gewesen ist.Am Beginn, Herr Präsident, meine Damen und Herren, darf ich feststellen, daß am gestrigen Abend, wie ich heute erfahren habe, eine Reihe von Verdächtigungen geäußert worden sind, daß hier irgendwo etwas zurückgehalten worden sei, etwa durch den Bundesumweltminister, durch die hessische Landesregierung, den hessischen Umweltminister. Alles dies trifft nicht zu.
Der Bundesumweltminister konnte, als er die Erklärung vor dem Deutschen Bundestag abgab, gar nicht
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3727
Ministerpräsident Dr. Wallmann
informiert sein, weil in diesem Augenblick auch der hessische Umweltminister nicht informiert war und also auch ich nicht informiert sein konnte. Wären wir in diesem Augenblick informiert gewesen, hätten wir selbstverständlich, weil wir keine Gegengewichtspolitik betreiben, die Informationen sofort nach Bonn weitergegeben. Das liegt auf der Hand.
Das Zweite. Am Mittwoch, das war also der 13. Januar, vorgestern, abends etwa um 18.30 Uhr, bin ich von dem Chef der Staatskanzlei darüber informiert worden, daß unmittelbar zuvor der hessische Umweltminister, Herr Kollege Weimar, ihn angerufen habe. Es habe sich bei diesem Anruf um zwei Komplexe gehandelt, nämlich erstens, daß im Zusammenhang mit Nukem, der Mutterfirma von Transnuklear, gravierende, schwerwiegende Verstöße gegen die geltenden rechtlichen Bestimmungen vorlägen, daß seit dem Jahr 1982 die Bestimmungen nicht beachtet worden seien, daß Proben gezogen worden seien — mindestens seit 1985 —, daß Material nach Mol geliefert worden sei, geliefert und zurückgenommen worden sei. Es sei festgestellt worden, daß es sich um Material handele, das beispielsweise mit Cäsium kontaminiert gewesen sei, daß damit ein wichtiger Verdacht und Hinweis gegeben sei, daß es sich auch um Plutoniumkontaminierungen handeln könne. Ich will diesen Sachverhalt nicht weiter beschreiben, sondern es damit bewenden lassen. Dies war der erste Komplex.Der zweite Komplex war, daß am gleichen Tage, und zwar am Nachmittag, Herr Kollege Weimar informiert worden ist, daß ihm gegenüber behauptet wurde, es habe unter Verletzung des Atomwaffensperrvertrages von Mol durch Transnuklear eine Lieferung von atombombenfähigem Material nach Lübeck gegeben, von Lübeck sei dieses Material nach Libyen und Pakistan verschifft worden.
Herr Präsident, gestatten Sie mir diese Bemerkung — auch insofern möchte ich nachdrücklich unterstreichen, was der Bundesumweltminister eben gesagt hat — : Es hat im Zusammenhang mit diesem Hinweis keinerlei Concreta gegeben, keinen konkreten Hinweis auf handelnde Personen oder sonst irgendeinen Sachverhalt, sondern lediglich die Behauptung, von Mol sei durch Transnuklear nach Lübeck spaltbares Material verbracht worden, aus dem Atombomben hergestellt werden könnten.Ich habe auf der Fahrt hierher eben noch einmal mit unserem Justizminister gesprochen. Ich lege Wert auf die Feststellungen, die ich von ihm erfahren habe. Die Staatsanwaltschaft, die vom Umweltminister informiert wurde, hat gestern einen gleichen, aber auch nicht konkretisierten Hinweis auf die Verletzung des Nichtverbreitungsvertrages erhalten. Die Staatsanwaltschaft geht diesem Verdacht selbstverständlich mit aller Entschlossenheit nach. Sie hat sofort Interpol informiert. Es sind Namen von sogenannten Briefkastenfirmen in der Schweiz genannt worden.
Inwieweit dies zutrifft, vermag ich nicht zu sagen. Es gibt bis zur Stunde keinerlei Hinweise, daß aus deutschen kerntechnischen Anlagen spaltbares, atomwaffenfähiges Material irgendwohin ins Ausland verbracht worden ist.Meine Damen und Herren, wir haben überhaupt nichts zu verheimlichen, und wir werden nichts verheimlichen.
Denjenigen, meine Damen und Herren, die eben dazwischengerufen haben, die so getan haben — auch gestern ist das in der Berichterstattung manchmal so zum Ausdruck gebracht worden — , als lägen hier gesicherte Erkenntnisse vor, möchte ich antworten: Als ich gestern vor den Ausschüssen für Recht und Umwelt des Hessischen Landtags war und dort die Auskünfte gegeben habe, die ich geben konnte, habe ich gesagt, daß es über diesen ersten Komplex hinaus, über den ich hier zu Beginn gesprochen habe, den wir als gesichert annehmen können und müssen, weitreichende weitergehende Verdachtsmomente gebe. Ich habe, nicht auf Anfrage eines Journalisten oder irgendeiner Fraktion, gesagt, daß es weitreichende weitergehende Verdächtigungen gibt. Ich bin dann gefragt worden, ob unter diesen Verdächtigungen etwa auch enthalten sein könne, daß es zu Verletzungen des Atomwaffensperrvertrages gekommen sei. Diese Frage wurde mir von einem Abgeordneten der GRÜNEN gestellt.
Ich habe gesagt, meine Damen und Herren: Dieses ist in der Tat möglich. Aber ich kann nur sagen: Es ist möglich. Wir gehen dem nach. Die Staatsanwaltschaft wurde sofort informiert, Interpol ist eingeschaltet, selbstverständlich alle Behörden. Aber genau wie Herr Töpfer eben gesagt hat, will ich hier auch noch einmal zum Ausdruck bringen: auch in einer solchen Situation, mit einem so ungeheuren Verdacht, mit Konsequenzen — auch da stimme ich zu — , die weit über die Frage der friedlichen Nutzung der Kernenergie hinausgehen,
die nicht nur innenpolitisch von überragender Bedeutung sind, kann ich nur und darf ich nur die Erklärungen abgeben, die ich verantworten kann.
Ich kann erst bewerten, ich kann erst urteilen, wenn mir die Fakten bekannt sind. Bis jetzt sind sie mir nicht bekannt.
An dem darauf folgenden Donnerstag, gestern, am 14. Januar, hatte ich für acht Uhr in der Frühe, wie am Mittwoch abend sofort entschieden, die Vertreter der sogenannten Muttergesellschaften, die im Aufsichtsrat ihre Aufgabe wahrzunehmen haben, in die Staatskanzlei gerufen. An dem Gespräch hat natürlich auch Herr Kollege Weimar teilgenommen. Es hat knapp zwei Stunden gedauert. Ich habe mit all dem, was wir
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3728 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Ministerpräsident Dr. Wallmann
bis dahin wußten, also auch mit diesem Verdacht, die anwesenden Herren konfrontiert. Ich habe gesagt, ich erwarte rückhaltlose Aufklärung. Sie haben mir darauf geantwortet: Wir erfahren von alledem in diesem Augenblick durch Sie und durch den Umweltminister des Landes Hessen zum ersten Mal.
Sie haben mir erklärt, sie hielten es für ausgeschlossen, daß spaltbares Material, das bei ihnen produziert worden ist, aus dem Atombomben gebaut werden können, ins Ausland verbracht worden sei.
Ich habe dieses zur Kenntnis genommen und gleichzeitig gesagt: Wir erwarten auch von Ihnen eine rückhaltlose Aufklärung; auch an Sie richtet sich in den Aufsichtsgremien die Frage nach der Zuverlässigkeit.
Ich habe gesagt: Nachdem die Vertrauensgrundlage, ob das strafrechtlich oder wie auch immer relevant ist, zutiefst erschüttert ist, erwarte ich, daß umgehend die Geschäftsführung, die Geschäftsleitung und alle Verantwortlichen in diesem Zusammenhang abberufen werden.
Ich habe gesagt, daß wir — da ich keine unmittelbare Weisungsbefugnis habe, das wissen Sie — im Einvernehmen mit dem zuständigen Bundesumweltminister sämtliche Konsequenzen ziehen, die gezogen werden müssen.
— Wenn Sie das schon gehört haben und Sie das nicht interessiert, frage ich, warum Sie daran interessiert sind, daß hier über diesen Sachverhalt gesprochen wird. Ich frage Sie: Was hätten Sie eigentlich gesagt, wenn ich in diesem Augenblick nicht hier gewesen wäre? Es ist noch kein Regierungschef eines Landes in einer solchen fachspezifischen Angelegenheit hierher gekommen und hat sich dem Deutschen Bundestag gestellt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
Herr Kollege Weimar ist am Donnerstag dann anschließend im Ausschuß im Landtag gewesen. Ich selber habe ein kurzes Gespräch mit ihm — —
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe.
Ich habe ein kurzes Gespräch mit dem Bundeskanzler gehabt, und ich habe dann das Gespräch mit Herrn Kollegen Töpfer geführt, und wir sind uns in diesem Gespräch über die Maßnahmen, die vom Bundesumweltminister getroffen werden müssen, völlig einig gewesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage noch einmal: Diese verschiedenen schwerwiegenden Vorfälle sind dem hessischen Umweltminister am vergangenen Mittwoch, also vorgestern etwa gegen 18 Uhr, bekanntgeworden. Wenn gestern behauptet worden ist, er sei imstande gewesen, bereits am 8. Januar 1988 zu informieren, dann ist dieses falsch.
An jenem 8. Januar 1988 haben sich die Beamten seines Ministeriums mit den Staatsanwälten bei Nukem in Hanau befunden. Sie haben dort die Gespräche geführt. Zum erstenmal ist bei dieser Gelegenheit den Beamten und den Staatsanwälten mitgeteilt worden, daß zwei Proben gezogen worden seien. Außerdem ist am 7. Januar 1988 abends um 21.43 Uhr ein Bündel von sogenannten Notizen, ungeordnet, über Telefax im Umweltministerium eingegangen. Am nächsten Tage waren diese Beamten dort in Hanau. Das war der Freitag. Sie sind dann am Montag, als sie wieder im Dienst waren, daran gegangen, dies alles zu ordnen, zu sichten, zu bewerten,
und sie haben ihren Minister in der Zusammenkunft informiert, die bereits angesetzt war, also vorgestern, am Mittwoch. Sie mögen den Vorwurf erheben — das muß ich dann hinnehmen —, die Beamten hätten nicht bis zum Mittwoch warten dürfen, sie hätten den Umweltminister bereits am Montag oder Dienstag, wann immer sie erfahren haben, worum es sich hier handelte, informieren sollen.
— Wenn Sie es vorher gewußt haben sollten, verehrter Herr Abgeordneter, frage ich Sie, warum Sie niemanden informiert haben. Diese Frage muß ich überhaupt stellen; denn einige tun heute so, als hätten sie schon länger etwas gewußt.
Unterlassen Sie, meine Damen und Herren, diese unglaublichen Verdächtigungen.
Ich habe mich vor meinen Amtsvorgänger, Herrn Börner, und vor alle Fachminister aus Vorgängerregierungen gestellt.
Ich gehe davon aus, daß sie nichts von dem gewußt haben, was zu ihrer Zeit geschehen ist. 1982 hat das ganze begonnen. Ich unterstelle ihnen nicht etwas; ich warne davor, hier etwa parteipolitisches Kapital in einer so zentralen Frage von dieser Bedeutung schlagen zu wollen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stratmann?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3729
Nein. Ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Meine Damen und Herren, wir haben nach dem 5. April eine Aufgabe übernommen.
Meine Damen und Herren, ich bitte, die Zwischenrufe zu unterlassen und die Informationen in Ruhe entgegenzunehmen.
Es hat jeder die Möglichkeit, hier zu reden, aber ich bitte, die Informationen jetzt in Ruhe entgegenzunehmen. Das ist kein angemessener Stil, wie wir miteinander umgehen.
Meine Damen und Herren, ich bin nicht Mitglied dieses Hohen Hauses, und ich habe nicht zu bewerten, was ich hier auf der linken Seite dieses Hauses erlebe. Ich sage Ihnen noch einmal: Unterlassen Sie diese Verdächtigungen,
auch Verdächtigungen, wie ich sie heute und gestern erfahren habe, als mir vorgeworfen worden ist, ich hätte vor dem Wahltag, dem 5. April 1987, mit Vertretern der Nukem darüber gesprochen und sie veranlaßt, die Anzeige erst nach dem Wahltag herauszugeben. Das ist eine Unverschämtheit. Ich habe nichts davon gewußt, ich habe mit niemandem darüber geredet. Heute wollen Sie den Bundesumweltminister als jemanden darstellen, der vor zwei Tagen seine Aussagen hier wider besseres Wissen gemacht hat. Ich halte das für unerhört.
Herr Präsident, gestatten Sie mir, daß ich in diesem Zusammenhang noch darauf hinweise, daß die dritte Atomrechtsnovelle 1975 zu Zeiten des Bundeskanzlers Schmidt hier verabschiedet worden ist. Gestatten Sie mir den Hinweis, daß das ein ungewöhnlich schlechtes Gesetz gewesen ist. Ich muß daran erinnern, daß Sie, meine Damen und Herren, im Lande Hessen überr 111/2 Jahre nicht dafür gesorgt haben, daß die erforderlichen Entscheidungen, und zwar Genehmigungen oder Versagungen — so haben wir es in der Koalition abgesprochen — , wirklich getroffen worden sind. Diese Entscheidungen sind jetzt zu treffen.
Wir wollen nicht, daß der Weiterbetrieb unter Berufung auf dieses Gesetz wie bisher stattfindet, daß Investitionen aus wirtschaftlichen Gründen unterlassen werden. Was der Umweltminister Weimar insofern in den vergangenen Wochen und Monaten geleistet hat, das kann sich sehen lassen.
Wir werden dafür sorgen, daß diese Rechtsgrundlagen jetzt auch für alle Hanauer Betriebe, auch für Nukem, hergestellt werden.
Ich sage: Alles das darf nicht verharmlost werden. Hierbei handelt es sich um so schwerwiegende, so unglaubliche Vorfälle. Keine Aufsichtsbehörde ist auch nur im Ansatz über Jahre hinweg, seit 1982, informiert worden.
Wenn das so ist, haben wir uns selbstverständlich zu fragen: An welcher Stelle können und müssen wir deswegen noch mehr tun, um Sicherheit zu gewährleisten?
Innerhalb der hessischen Landesregierung habe ich gestern Konsequenzen gezogen. Es wird z. B. der gesamte Strahlenschutzbereich aus der Gewerbeaufsicht, die beim Sozialminister ressortiert, herausgenommen und in die Verantwortung des Ministers für Umwelt und Reaktorsicherheit überführt.
Natürlich werden wir uns auch mit den Kollegen im Bund darüber zu unterhalten haben, was etwa unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle von Transporten und dergleichen geschehen kann und muß. Alles das wird von der Koalition geleistet werden.
Ich sage noch einmal:
Hier war nichts zu verheimlichen, hier ist nichts verheimlicht worden, hier wird nichts zurückgehalten. Hier ist zum frühestmöglichen Zeitpunkt so entschlossen und so schnell wie nur möglich gehandelt worden. Wir haben die Öffentlichkeit zum frühesten Zeitpunkt ohne Wenn und Aber orientiert. Das bleibt unsere Politik. Wir werden uns in Zukunft genauso verhalten, wie wir uns jetzt verhalten haben.
Die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger, können sich darauf verlassen, daß wir wissen, welche Verantwortung in unsere Hände gelegt ist, und daß wir dieser Verantwortung gerecht zu werden haben.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hauff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik, daß eine Bundesregierung 24 Stunden nach einer Regierungserklärung eingestehen muß, daß sie das Parlament falsch informiert hat.
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3730 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Dr. HauffWir Sozialdemokraten bedauern es, daß jetzt auf Grund von Fehlern im Management die Arbeitnehmer in den Betrieben wieder einmal die Leidtragenden dieser Entwicklung sind.
Sie, Herr Töpfer, haben gestern abend im Ausschuß und heute vormittag noch einmal gesagt, daß Sie den Vorgang bedauern — ich nehme Ihnen das ab; ich habe keinen Anlaß, daran zu zweifeln —,
Sie sagen, daß Sie schon deswegen keine Verantwortung für diese skandalöse Behandlung eines Skandals tragen, weil Sie von Ihren Parteifreunden in Hessen nicht rechtzeitig informiert wurden. Aber ich sage Ihnen: So billig geht es nicht, denn es hat nicht an Hinweisen und an Aufforderungen zur Aufklärung gefehlt.Erstens. Am 17. Dezember 1987 haben meine Kollegen Harald Schäfer und Bernd Reuter verlangt, daß den Gerüchten zur Verletzung des Atomwaffensperrvertrages nachgegangen wird. Sie haben sich nicht in Kenntnis gesetzt. Ich werde nie behaupten, daß Sie wider besseres Wissen gehandelt haben, aber ein Minister trägt nicht nur die Verantwortung dafür, was er tut, sondern er trägt auch die politische Verantwortung dafür, was er nicht tut, welche Fragen er nicht stellt.
Zweitens. Am 30. Dezember 1987 habe ich Sie aufgefordert, die Betriebsgenehmigung für Nukem zu entziehen, mit konkreten Hinweisen. Das haben Sie damals abgelehnt. Vorgestern waren Sie noch unwissend, was für unglaubliche Schlampereien im Umgang mit den Sicherheitsvorschriften dort vorgekommen sind. Warum eigentlich ist der Herr Stephany entlassen worden? Welche Fragen haben Sie im Anschluß daran gestellt, um unmittelbar zu handeln?
Drittens. Im Dezember des letzten Jahres habe ich Sie aufgefordert, jenen Kraftwerken die Betriebsgenehmigung zu entziehen, die die besonderen Dienste von Transnuklear in Anspruch genommen haben, es sei denn, sie weisen zweifelsfrei nach, daß sie mit den kriminellen Machenschaften von Transnuklear nichts zu tun hatten. Sie haben bis zur Stunde abgelehnt, dieses Vorgehen zu akzeptieren und die entsprechenden Beweise zu verlangen.Vor zwei Tagen habe ich Sie hier im Deutschen Bundestag gefragt: Warum haben Sie in Ihrer Regierungserklärung kein Wort dazu gesagt, was in Mol wirklich passiert ist, oder wollten Sie das möglicherweise gar nicht wissen? Das war meine Frage vor zwei Tagen. Diese Frage blieb unbeantwortet. Nein, Herr Töpfer, so geht es nicht. Unser Vorwurf an Sie ist: Sie haben sich nicht um die Aufklärung bemüht. Sie haben nach dem Prinzip der vorauseilenden Unwissenheit, der selbstschützenden Unwissenheit gehandelt.Sie laufen der Entwickung nur hinterher. Sie sind nicht mehr Herr des Verfahrens.
Meine Damen und Herren, das ist die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist wirklich gravierend: Wenn sich erhärten sollte, daß unter Beteiligung deutscher Firmen waffenfähiges Nuklearmaterial ins Ausland verschoben wurde, dann wäre das erstmals in der Geschichte der Menschheit eine Verletzung des Nichtverbreitungsvertrages. Wir Sozialdemokraten hoffen und wünschen, daß es gelingt, diesen unglaublichen Vorwurf glaubwürdig und rasch aus der Welt zu schaffen im Interesse unseres Landes.
Tschernobyl war eine technische Katastrophe. Der Atommüllskandal war eine moralische Katastrophe. Was wir heute hier diskutieren, ist eine politische Katastrophe für unser Land.
Es war nach dem Zweiten Weltkrieg wohlbegründet, daß die Bundesrepublik Deutschland auf die Produktion und den Besitz von Atomwaffen verzichtet hat. Unter der jetzigen Bundesregierung kann erstmals die Beschuldigung erhoben werden, daß deutsche Firmen in den illegalen Handel mit waffenfähigem Nuklearmaterial verstrickt sind, und das auch noch mit dem Herrn Gaddafi aus Libyen.Meine Damen und Herren, jede Stunde, die verstreicht, ohne daß die größtmöglichen Anstrengungen unternommen werden, um eine vollständige Aufklärung dieses Vorwurfs zu erreichen, schadet unserem Volk.
Für mich hat die gestrige Sondersitzung des Umweltausschusses gezeigt, daß die hessische Landesregierung total überfordert war, mit diesem Problem angemessen umzugehen.
Meine Damen und Herren, daran ändert auch die lange und inhaltsleere Rechtfertigungsrede des hessischen Ministerpräsidenten heute vormittag im Bundestag überhaupt nichts.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein!
Nein.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3731
Dieser Atommüllskandal ist nicht nur der größte Vertrauensskandal einer Industriebranche seit Bestehen der Bundesrepublik. Heute steht auch das internationale Vertrauen in die Friedenspolitik der Bundesrepublik auf dem Spiel. Wir können es uns nicht leisten, daß unser Friedenswille und unsere Fähigkeit zum friedlichen Miteinander der Völker in Zweifel gezogen werden. Der Verdacht des illegalen Handels mit waffenfähigem Nuklearmaterial muß sofort aufgeklärt werden.
Unseres Erachtens ist es dringend angebracht, daß hier ein Krisenstab gebildet wird. Ich begrüße es, daß der Bundeskanzler in dieser Debatte anwesend ist. Hier müssen in der Tat alle Anstrengungen unternommen werden. Man darf dies nicht delegieren, um diesen schwerwiegenden Vorwurf, der unserem Land bereits dadurch schadet, daß er existiert, so rasch und umfassend wie nur irgend möglich aus der Welt zu schaffen.
Hier muß in der Tat schnell, klar und entschlossen gehandelt werden. In der Tat, es geht darum, Schaden vom deutschen Volk zu wenden.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Baum.
— Ich bitte, mit den Zwischenrufen etwas zurückhaltender zu sein.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren!
— Wissen Sie, es ist wirklich unfair, eine Rede zu qualifizieren, bevor Sie sie gehört haben.
— Ja, gut.
Mit den neuen Informationen hat der Fall Transnuklear eine völlig neue Dimension bekommen. Es ist jetzt nicht nur ein Skandal Transnuklear, sondern ein Skandal Nukem, der ganze Teile der deutschen Atomwirtschaft umfaßt. Das Vertrauen in die zuverlässig kontrollierte Nutzung der friedlichen Kernenergie ist stärker erschüttert als je zuvor. Es wird schwer sein, dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Neue Informationen haben zwar mehr Aufklärung gebracht, als wir sie noch am Mittwoch hatten, sie haben aber gleichzeitig gezeigt, daß uns vieles noch nicht bekannt ist. Es muß die ganze Wahrheit auf den Tisch. Wir vermuten, daß es sich hier nur um die Spitze eines Eisbergs handelt.
Ich habe in der Debatte am Mittwoch nach der Rolle der Firma Nukem vom Jahre 1985 gefragt. Wir haben jetzt einige Informationen bekommen. Die Informationen aber sind längst nicht befriedigend. Es steht fest, daß diese Firma jahrelang Vertrauensbrüche gegenüber den Aufsichtsbehörden und gegenüber der Öffentlichkeit zu verantworten hat und daß mit hoher Wahrscheinlichkeit Straftaten begangen wurden.
Umweltminister Töpfer hat zu Recht, wie auch von uns gefordert, die Betriebserlaubnis für Nukem entzogen. Es ist aber ganz und gar unbegründet, der hessischen Landesregierung oder dem Umweltminister hier eine Täuschungsabsicht vorzuwerfen. Die hessische Landesregierung hat aufgeklärt und hat gestern ihren Landtag informiert.
Umweltminister Töpfer hat uns immer alles gesagt, was er gewußt hat,
und alle notwendigen Konsequenzen gezogen.
Sie, Herr Hauff, stehen mit diesen Vorwürfen in der Öffentlichkeit völlig allein. Sie hätten es so wohl gerne; aber so ist es nicht.
Wir müssen jetzt die gesamten Tätigkeiten und Verflechtungen dieser Firmen durchleuchten. Es gibt z. B. über zehn Beteiligungsgesellschaften, auch internationaler Art, der Transnuklear. Der ganze Bereich muß strukturell, personell und organisatorisch neu geordnet werden. Auf der bisherigen Basis, meine Damen und Herren, ist nichts mehr zu machen.
Es müssen vom Bund her rechtliche Konsequenzen gezogen werden. Ich halte die Änderung des Atomgesetzes für unabweislich. Auch die Kontrolle und die Aufsicht durch den Bund sind zu verstärken. Dieses Bundesamt für kerntechnische Sicherheit ist unser Vorschlag. Das Kabinett hat grundsätzlich zugestimmt. Ich erwarte in der nächsten Woche eine förmliche Entscheidung des Bundeskabinetts in dieser Sache.
Wir gehen davon aus, daß der Kreis der Verantwortlichen wesentlich größer ist, als bisher angenommen. Die immer noch nicht aufgeklärten Schmiergeldzahlungen und die Selbstmorde haben offenbar einen ernsteren, alarmierenderen Hintergrund, als wir bisher angenommen haben. Es ist richtig, Herr Wallmann, hier ist nach der Verantwortung der Eigentümerfirmen und aller Aufsichtsgremien dieser Firmen zu fragen.
Sie haben richtig gehandelt.
Es fragt sich auch, ob der bisherige KernbrennstoffKreislauf nicht mit Risiken befrachtet ist, die auf Dauer nicht beherrschbar sind.
Ich weiß, welche Konsequenzen diese Frage haben könnte. Ich bekräftige die Position meiner Partei, die jetzt vom Sachverständigenrat für Umweltfragen erneut bestätigt worden ist, den Weg einer direkten Endlagerung weiterzuverfolgen und ihn offenzuhalten.
Meine Damen und Herren, wir haben hier über den ungeheuren Verdacht gesprochen, daß möglicherweise unter Beteiligung von Deutschen spaltbares Material an Drittstaaten gegangen sein könnte. Ich würde das für einen bisher nie dagewesenen Vorgang mit unabsehbaren, auch außenpolitischen Folgen hal-
3732 Deutscher Bundestag — 1 i Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Baum
ten. Jedem noch so geringen Verdacht muß nachgegangen werden.
Ich habe nicht zu kritisieren, was hier der Bundesumweltminister und Herr Wallmann angekündigt und in die Wege geleitet haben. Wir werden dann über die Fakten sprechen.
Wenn es sich als wahr erweisen sollte, wird auch darauf zu achten sein, daß die Firma Transnuklear nicht nur ein Transporteur war, sondern ein Entsorger, der in Mol durch eigenes Personal mit entsorgt hat.
Wir fordern die unverzügliche Einschaltung der Internationalen Atomenergieagentur; von Euratom ist hier auch zu reden.
Meine Damen und Herren, die Konsequenzen können möglicherweise darüber hinausgehen. Wir haben von Gasbildung in anderen Fässern gehört, die eine Endlagerung gefährden könnten. Wir müssen uns fragen, welche Gefährdungen sich aus den Naßveraschungen ergeben könnten, die nach deutschen Verfahren in Belgien durchgeführt worden sind. Bisher gibt es dafür keine Anhaltspunkte.
Die Konsequenzen, das ist heute sicher, werden aber über die bloße Bewältigung des Skandals im engeren Sinne hinausgehen müssen. Neben der Notwendigkeit einer rückhaltlosen Aufklärung und einer Verstärkung von Kontrolle und Aufsicht, einer Beseitigung der zersplitterten Zuständigkeiten und einer Verbesserung der Kooperation aller Beteiligten, neben der notwendigen Neuordnung dieses ganzen Bereichs in personeller, organisatorischer und struktureller Hinsicht stellen sich grundsätzliche Fragen nach dem Stand der Entsorgung und der Zukunft der Kernenergie selbst. Entsorgung muß erfolgen. Selbst wenn wir heute auf Kernenergie verzichten würden, ergibt sich für alle die politische Verantwortung tragen, eine Entsorgungsverantwortung.
Es hat hierbei Fortschritte gegeben — das haben wir gehört — , aber auch Rückschläge und Verzögerungen, und es gibt weitere Risiken. Ich ermuntere die Bundesregierung, uns wie bisher auch über diese Risiken zu informieren.
Meine Damen und Herren, wir werden aus diesen Vorgängen heraus Konsequenzen für dieses Entsorgungskonzept zu entwickeln haben. Bei seiner Ausfüllung und Ausführung muß es auf eine neue Grundlage gestellt werden, zumindest, Herr Töpfer, was die mittel- und schwachaktiven Abfälle angeht.
Dieser Fall macht erneut mit Nachdruck deutlich, daß die Kernenergie — ich wiederhole meine Worte von Mittwoch — nicht die letzte Antwort auf die Energieprobleme sein kann und sein darf. Sie ist Übergangsenergie und darf über den bisherigen Ausbaustand nicht hinausgehen. Es stellt sich die Frage, wann und wie der Übergang beginnen kann und wie wir ihn weiter beschleunigen können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, das möchte ich nicht.
Es ist ein schwerer Weg, denn eine Rückkehr zu fossilen Brennstoffen wie Kohle und Öl ist nicht möglich und nicht verantwortbar. Es bleiben nur zwei Wege in die Zukunft: Der erste Weg ist die Energieeinsparung. Sie muß und kann noch verstärkt werden, auch durch staatliche Hilfe und die Markteinführung neuer Formen der Energieeinsparung.
Der zweite Weg sind alternative, neue Energieformen.
Einen Augenblick, Herr Baum.
Bitte nehmen Sie sofort dieses Plakat weg, Frau Abgeordnete Saibold; ich rufe Sie sonst zur Ordnung.
— Seien Sie ruhig, Herr Stratmann. Wenn Sie länger hierbleiben wollen, sollten Sie nicht dauernd diese Sitzung stören.
— Sie möchten hier bitte die gegebenen Formen wahren; dazu rufe ich Sie auf. Dieses Thema ist sehr ernst; es betrifft uns alle. Ich bitte wirklich sehr herzlich, sich mit diesem Ernst zu verhalten.
— Ich bitte Sie, mich hier nicht mehr anzuschreien, Herr Stratmann.
Herr Abgeordneter Baum, fahren Sie bitte fort.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hält es für möglich, daß zur Jahrtausendwende schon 7 % Energie aus diesen neuen Energiequellen kommen können.Ein sofortiger Ausstieg — meine Damen und Herren, das sagen wir auch jetzt — wäre aus unserer Sicht nicht zu verantworten. Er würde erhebliche Nachteile mit sich bringen und ist nicht realisierbar. Auch ein realisierbares, verantwortbares, überzeugendes kurzfristiges Ausstiegsszenario ist uns nicht bekannt, überzeugend ist auch nicht das der Sozialdemokraten. Selbst in Ihren eigenen Reihen gibt es Zweifel.Dennoch sage ich auch im Bewußtsein, daß es Windscale gegeben hat — das dürfen wir in dieser Stunde ja auch nicht vergessen — mit den Worten des Sachverständigenrats für Umweltfragen : Eine nüchterne Diskussion von Risiken wird dadurch belastet, daß unsere Gesellschaft die Schwierigkeiten des Umgangs mit den von ihr selbst produzierten Risiken kaum bewältigt. Damit taucht die Frage auf, ob sich langfristig das Denken und Fühlen der Menschen den Risiken anzupassen hat — was in der Regel als rationales Verständnis bezeichnet wird — oder ob unsere Gesellschaft auf die Produktion von Risiken verzich-
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Baumtet, die ihre Mitglieder nicht bewältigen können. Diese Frage müssen wir weiter ernsthaft diskutieren.
Ich sage zum Abschluß: Bundesminister Töpfer hat unser volles Vertrauen. Die Art, wie er uns, das Parlament, die Öffentlichkeit informiert hat und wie er welche Konsequenzen gezogen hat, ist nicht zu beanstanden. Er hat unsere Zustimmung. Wir begrüßen diese Art der Krisenbewältigung. Die Bundesregierung hat weiter unser Vertrauen und unsere volle Unterstützung.
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die neuesten Hiobsbotschaften aus Hanau werden möglicherweise den Herrn Bundeskanzler wiederum Zuflucht bei der Formel suchen lassen, die Situation sei über ihn gekommen.
Ob der Bundeskanzler der von den schockierenden Nachrichten aus Hanau mit Recht äußerst beunruhigten Bevölkerung noch andere Kommentare zu bieten hat, werden wir während dieser Debatte erfahren —oder auch nicht.
Jedenfalls hat der immerhin manchmal schwach aktive Umweltminister Töpfer eine Konsequenz gezogen, die wir begrüßen, und die seit langem fällige Schließung der Firma Nukem verfügt, wenn auch nur vorläufig bis zur vollständigen Klärung des Sachverhalts, wie es heißt.
Ich meine aber nicht, daß das Anlaß bietet, besondere Lobeshymnen auf Herrn Töpfer anzustimmen. Vergessen wir bitte nicht, daß diese Entscheidung nach dem Atomgesetz zwingend vorgeschrieben ist.
Aber so weit sind wir ja offenbar gekommen, daß wir einer Regierung schon dankbar sein müssen, daß sie sich an die gesetzlichen Vorschriften hält.
Wir haben in der Vergangenheit eine Vielzahl erschreckender Erkenntnisse sammeln müssen, daß es beispielsweise möglich ist, daß in Hanau eine Reihe von Nuklearbetrieben mit einem besonders hohen Gefährdungsgrad errichtet und eröffnet worden sind, ohne daß die gesetzlich vorgeschriebenen Errichtungs- und Betriebsgenehmigungen erteilt worden sind. Vor dem Hintergrund der heutigen Erkenntnislage wirkt dieser Zustand besonders dramatisch.
Dafür — das sage ich sowohl an die Adresse dieser Seite als auch an die Adresse der Sozialdemokratie — tragen Sie gemeinsam die Verantwortung.
Das müssen Sie heute ernst nehmen.
Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, daß gerade Sie sich in Ihren Reihen seit langem gegen eine vollständige Aufklärung sperren, daß Sie sich einem Untersuchungsausschuß im Hessischen Landtag verweigert haben und daß Sie sich einem Untersuchungsausschuß hier im Bundestag verweigert haben.
Das wollen wir hier festhalten.
Lieber Herr Hauff, ich sage Ihnen eines. Sie haben hier heute mit großem Tremolo verkündet: Jede Stunde, die die Aufklärung verzögert wird, schadet unserem Volk. Ja, wo waren Sie denn im vergangenen Jahr? Wo waren Sie denn, als es darum ging, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen? Da habe ich nichts von Ihnen gehört. Warum waren Sie nicht hier im Bundestag und haben sich unseren Forderungen angeschlossen, solche Aufklärung vorzunehmen?
Kann eigentlich irgend jemand, meine Damen und Herren, von den Vorkommnissen bei den Hanauer Nuklearbetrieben wirklich überrascht sein?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Herr Abgeordneter Schily?
Bitte schön.
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Abgeordneter Schily, könnten Sie uns einmal sagen, wer vor einem Jahr Umweltminister in Hessen war?
Frau Kollegin Hamm-Brücher, es ist sehr gut, daß Sie mir diese Frage stellen,
weil Sie mir damit Gelegenheit geben, ein wirklich bösartiges Argument, das ja auch häufig in der Öffentlichkeit einzuführen versucht wird, zu widerlegen. Sie wissen doch sehr genau, daß Joschka Fischer nicht die atomrechtliche Zuständigkeit im hessischen Kabinett hatte, daß er der erste gewesen ist, der sich um diese Hanauer Nuklearbetriebe intensiv gekümmert und die Schließung dieser Betriebe verlangt hat.
und daß die hessische Koalition daran gescheitert ist, weil sich genau bei dieser Frage die Sozialdemokratie nicht entschließen konnte. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, Frau Hamm-Brücher; das ist die Wahrheit.
Die GRÜNEN warnen seit Jahren vor den Gefahren der Atomindustrie. Wir haben die angebliche Supersicherheit von Atomreaktoren stets bestritten. Unsere Bedenken haben sich bestätigt. Wir haben erklärt, daß es kein verläßliches Konzept zur sicheren Entsorgung
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3734 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Schilydes atomaren Mülls gibt. Unsere Auffassung hat sich bestätigt.Die Bundesregierung kann insoweit nichts als leere Versprechungen, unbegründete Hoffnungen und Illusionen bieten, deren Wert etwa so hoch anzusetzen ist, wie im Ablaßhandel das Angebot zur Vergebung der Sünden und der Seligkeit im Himmel.Die seltsame Logik, Herr Töpfer, es seien nun mal Atomkraftwerke vorhanden und atomarer Müll müsse in jedem Fall irgendwo sicher endgelagert werden, deshalb könne unbedenklich die weitere Produktion von atomarem Müll fortgesetzt werden, ist ja wohl alles andere als beruhigend. Was wäre denn von einer Feuerwehr zu halten, die uns verspricht, irgendwann einmal in fernerer Zukunft gebe es Wasser, um ein Flammenmeer zu löschen, aber einstweilen wird lustig tralalala noch Benzin ins Feuer geschüttet, damit es sich noch weiter ausbreiten kann? Eine solche Feuerwehr wäre wohl nicht die richtige Methode.
Diese Methode wird jedenfalls heute praktiziert.Es mutet makaber an, meine Damen und Herren, auch nach den Ausführungen von Herrn Baum, daß ausgerechnet heute angesichts dieser alarmierenden Nachrichten aus Hanau in Bayern in feierlicher Zeremonie die Betriebsgenehmigung für ein neues Atomkraftwerk Ohu II übergeben und neuer atomarer Müll produziert wird.
Starrsinnig hält die Bundesregierung an der These fest, die Risiken der Atomenergie seien beherrschbar. Diese These, meine Damen und Herren, ist längst widerlegt. Die Sicherheitsmängel bei den Hanauer Nuklearfirmen und die skandalösen Vorkommnisse beweisen, daß die Behauptung, die Risiken der Atomenergie seien beherrschbar, eine Täuschung der Öffentlichkeit und bestenfalls eine Selbsttäuschung ist. Das einzige, was vielleicht das Wort „Beherrschbarkeit" gerechtfertigt erscheinen läßt: Die Bundesregierung erweist sich immer noch als weitgehend beherrschbar von den Imperativen der Atomindustrie; das ist der Sachverhalt.
Wie anders kann erklärt werden, daß die Bundesregierung immer noch an den Konzept der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und an dem Projekt des Schnellen Brüters in Kalkar festhält, mit denen das Gefährdungspotential an spaltbarem waffenfähigen Material beträchtlich erweitert wird?Geben Sie bitte endlich den Aberglauben auf, durch irgendwelche neuen Institutionen und durch irgendwelche organisatorischen Reparaturen könnten Sie dieses Gefährdungspotential in den Griff bekommen. Nicht die Schaffung neuer Stellen wird das Übel an der Wurzel packen; damit schaffen Sie nur neue Adressen für Bargeldkuverts.
Erinnern Sie sich daran, daß Sie die Warnungen derGRÜNEN vor der Weiterverbreitung von waffenfähigem Material in den Wind geschlagen haben! Sie ha-ben uns Panikmache, Sie haben uns Sensationslüsternheit und was nicht alles vorgeworfen. Und jetzt müssen Sie zugestehen, daß ein konkreter Verdacht eines Verstoßes gegen den Atomwaffensperrvertrag besteht.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch einen Moment innehalten. Bemühen Sie doch einmal Ihre Vorstellungskraft und überdenken Sie, was es heißt, wenn sich der Verdacht bestätigt, daß waffenfähiges Material von oder über bundesdeutsche Atomfirmen nach Pakistan und Libyen exportiert worden ist, welche ungeheuerlichen historischen Dimensionen dabei im Spiel sind. Müssen dann nicht eigentlich alle bisherigen Maßnahmen der hessischen Landesregierung und der Bundesregierung verblassen, als unzureichend erscheinen? Wo ist denn eigentlich die bundesweite Fahndung?
Wo ist denn eigentlich ein wirklich energisches Vorgehen?
Wo ist eine Vorkehrung gegen Verdunkelungsmaßnahmen? Interessanterweise sind ja all die Dinge, über die wir heute diskutieren, durch Quasi-Selbstanzeigen ans Licht gekommen. Das ist ja sehr interessant. Warum werden nicht alle Anlagen des Brennstoffkreislaufs, in denen waffenfähiges Material anfällt, sofort geschlossen und einer rigorosen Überprüfung unterzogen?
Versiegelt werden muß das, alles muß durchforstet werden. Das Tohuwabohu, das dort herrscht, muß doch endlich aufgeräumt werden.Viele Fragen sind zu klären, sicherlich: Wer wußte was, wer wußte eigentlich was wann? Welche Gelder sind an wen geflossen? Diese ominösen 21 Millionen DM, wo kommen die denn eigentlich her? Aus wessen Taschen, aus welcher Kasse stammen sie?
— Und wo gehen sie hin, für welchen Zweck? Das ist doch wohl eine Frage, die sich hier besonders dramatisch stellt.Und wie ist es eigentlich zu verstehen, wenn z. B. 22 Kilo Plutonium einfach verschwinden? So etwas fällt offenbar gar nicht weiter auf; 22 Kilo Plutonium sind in einem Nuklearbetrieb einfach verschwunden.
Zwei Fässer mit ungeklärtem Inhalt verschwinden bei Hanauer Nuklearbetrieben. Welche internationale kriminelle Bande, meine Damen und Herren, ist hier eigentlich am Werke, um waffenfähiges Material zu verschieben.
Meine Damen und Herren, Sie sind doch sonst mitdem Verdacht von kriminellen Vereinigungen undähnlichen Vedächtigungen immer sehr schnell bei der
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SchilyHand. Jetzt wäre es einmal angebracht, jetzt machen Sie einmal von diesem Straftatbestand Gebrauch!
Meine Damen und Herren, Vertuschung, Verharmlosung, Beschönigung und Beschwichtigung müssen ein Ende haben. Zaghaftigkeit, politisches Larifari, wie wir es von der Bundesregierung gewohnt sind, ist nicht mehr gefragt, meine Damen und Herren. Die Legende von der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist vorbei — ein für allemal!
Wer Atomanlagen baut und betreibt, gefährdet den Frieden.
Der einzig sichere Ausweg heißt deshalb: sofortiger Ausstieg aus der Atomenergie, Schluß mit dem Atomwahnsinn!
Beginnen wir unverzüglich mit einem ökologischen Umbau der Energieversorgung.Ich danke Ihnen schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere tiefe Erregung gilt seit gestern dem Gerücht, dem Verdacht, daß gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen und spaltbares Material von der Firma Transnuklear in außereuropäische Länder verbracht worden sein könnte. Dieser Verdacht wurde zur gleichen Zeit öffentlich diskutiert, als Unregelmäßigkeiten bei der Hanauer Firma Nukem bekannt wurden, die zum Einschreiten der staatlichen Aufsicht Anlaß gaben.Die Schmiergeld- und Bestechungsaffäre, die Falschdeklaration von Atommüllfässern, die neuen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Geschäftsführung eines Nuklearbetriebs und dieser furchtbare Verdacht bilden den Hintergrund, vor dem ein gewaltiger Vertrauensschwund eintreten kann. Diese schubweisen Enthüllungen haben eine verheerende Wirkung auf die Bereitschaft der Menschen, die Risiken der modernen Industriegesellschaft als zumutbar zu akzeptieren.Diese Vorgänge sind auch der Nährboden für Spekulationen und Gerüchte. Wer Verantwortung trägt, kann nur den Stand der gesicherten Erkenntnisse zur Grundlage seiner Stellungnahmen und Entscheidungen machen.Es gibt zur Stunde eine Fülle an einfachen, bedrükkenden Fragen, aber einen Mangel an belastbaren Antworten. Wenn die SPD von der Spitze des Eisbergs spricht — Herr Kollege Hauff, Sie haben das dieser Tage getan —,
haben wir Sie zu fragen: Haben Sie weiterreichende Informationen?
Weshalb halten Sie diese Erkenntnisse zurück?
Entweder machen Sie sich mitschuldig, oder Sie betreiben hier eine ganz und gar unverantwortliche, bösartige Kampagne.
Der Bundesumweltminister und die hessische Landesregierung haben unverzüglich und mit der gebotenen Härte gehandelt. Wir wünschten uns, daß die frühere hessische Landesregierung Börner/Fischer, in deren Regierungszeit dies alles geschah, ebenso entschlossen Aufsicht geführt und gehandelt hätte.
Die betroffene Industrie kann verlorenes Vertrauen nur wiedergewinnen, wenn auch sie selbst alle nur denkbaren Anstrengungen unternimmt, die Wahrheit ans Licht zu bringen.Die Berichte des Bundesumweltministers, des hessischen Umweltministers und anderer Vertreter von Ressorts gestern bei der Sondersitzung des Umweltausschusses lassen es naheliegend erscheinen, vorsichtig zu unterscheiden.Erstens. Es gibt keine Hinweise, daß die Firma Nukem etwas mit dem Verdacht eines Verstoßes gegen den Nichtverbreitungsvertrag zu tun hat. Es gibt auch keine Hinweise, daß spaltbares Material aus deutschen Anlagen abgezweigt und über Belgien ins Ausland verbracht worden ist. Es gibt keine Hinweise nach dem heutigen Erkenntnisstand.Zweitens. Die Unregelmäßigkeiten bei Nukem haben nichts mit der Entsorgungskonzeption der Bundesregierung zu tun. Nukem produziert Hochtemperaturbrennelemente und ist ein Versorgungsbetrieb. Der Entsorgungsnachweis wird dadurch nicht berührt.Drittens. Es gibt weiterhin keine Hinweise, daß durch radioaktive Strahlung Leben, Gesundheit und Umwelt gefährdet worden sind.
Diese Behauptung der SPD ist nach wie vor nicht belegt. Sie belegen diese Behauptung einfach nicht. Sie wiederholen sie immer; dadurch wird sie nicht richtig.
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Dr. LaufsIch brauche von meiner Kritik am Verhalten der Opposition, die ich hier vor zwei Tagen vorgetragen habe, kein Wort zurückzunehmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich weiter folgendes feststellen. Es ist absolut klar, daß die Zuverlässigkeit der Geschäftsführung in der Nuklearindustrie eine zentrale Voraussetzung für die Kernenergienutzung ist. Wir begrüßen das Vorhaben von Professor Töpfer, die Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der Unternehmen im Bereich des Kernbrennstoffkreislaufs und darüber hinaus im Bereich der Kernenergie insgesamt von außen durch ein international anerkanntes Wirtschaftsprüfungsinstitut gerade unter dem Aspekt der Zuverlässigkeit prüfen zu lassen.Es ist nicht auszuschließen, daß die notwendigen Untersuchungen auch in den internationalen Bereich ausgeweitet werden müssen. Wir brauchen zur Durchsetzung hoher Schutzziele und sicherheitstechnischer Maßnahmen ein enges gemeinsames Vorgehen mit unseren EG-Partnerländern. Die Wirksamkeit lückenloser Kontrollen durch die internationale Atomenergiebehörde und EURATOM gehört ebenfalls auf den Prüfstand.Es ist die Frage gestellt worden nach den Schwachstellen bei der internationalen Spaltflußkontrolle. Können Reste von Kernbrennstoffen in Abfällen mittels fortgeschrittener Aufbereitungsverfahren wie etwa des im Kernforschungszentrum Karlsruhe entwickelten Naßveraschungsverfahren in erheblicher Menge wiedergewonnen, abgezweigt werden? Diesen Fragen werden wir mit großem Ernst nachgehen. Die Technik läßt vieles zu.Deshalb haben die IAEO und EURATOM mit großer Sorgfalt geprüft, daß z. B. in der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf in allen Bereichen die Umdeklaration und Abzweigung von Abfällen sicher ausgeschlossen und die internationale Kontrolle des spaltbaren Materials gewährleistet ist.
Es gibt schwachaktive Abfälle, die unbedeutende Spuren von Spaltstoffen enthalten und den Kontrollen nicht unterworfen sind. Ein Beispiel dafür sind diese 321 Fässer aus Belgien, die kleine Mengen von Plutonium enthalten.
Würde aus diesen Fässern das Abfallplutonium entzogen, würde man allerdings, hundert Prozent Ausbeute unterstellt, den Abfall aus 1,5 Millionen Fässern benötigen um ein Kilogramm Plutonium zu gewinnen. Das ist ja wohl nicht machbar, wie ich das schon in der letzten Debatte dargestellt habe.Meine Damen und Herren, die Frage des menschlichen Fehlverhaltens beschäftigt uns seit eh und je, wenn es um die friedliche Nutzung der Kernenergie geht. Der Risikofaktor Mensch steht im Mittelpunkt der Sicherheitsüberlegungen, wo große Gefahren für Mensch und Umwelt auftreten können. NationaleVorschriften und Aufsicht sowie internationale Kontrollen ergänzen sich.Es ist uns bewußt und in diesen Wochen schmerzliche Erfahrung, daß ein Restrisiko bleibt. Es kann und muß weiter vermindert werden. Unsere offene demokratische Gesellschaft verfügt über sensible Instrumente zur Aufdeckung und Korrektur von Mißständen. Es ist unsere Pflicht, mit großem Ernst und Härte an der Bewältigung der schlimmen Vorkommnisse mitzuwirken. Ich bin sicher, daß uns dies wie in früheren Fällen voll gelingen wird.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Ich rufe die Punkte 23 a bis 23 c der Tagesordnung auf :
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes
— Drucksache 11/360 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
b) Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes
— Drucksache 11/1188 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
c) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes
— Drucksache 11/1617 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 90 Minuten vorgesehen. — Kein Widerspruch. Dann wird es so gehandhabt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die geltende Arbeitszeitordnung stammt aus dem Jahre
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Bundesminister Dr. Blüm1938. Wir können also in diesem Jahr das 50jährige Jubiläum feiern.
Aber da gibt es nichts zu feiern. Denn diese Arbeitszeitordnung stammt aus einer anderen Welt, mit der wir alle nicht tauschen wollen, aus einem totalitären Staat, aus einem totalitären Denken. Das erweist sich bereits in der Sprache. Die Arbeitnehmer werden dort als „Gefolgschaftsmitglieder" bezeichnet, der Arbeitsminister als „Reichstreuhänder der Arbeit" .
— Nein, weder nach dem Titel, noch nach der Zeit sehnen wir uns alle zurück.Damals gab es keine freien Gewerkschaften, damals gab es keine freien Arbeitgeberverbände und deshalb auch keine Tarifautonomie. Staat und Gesellschaft waren miteinander verschmolzen. Anstelle der Sozialpartner gab es eine autoritäre Arbeitsfront, die das Leben nach geradezu militärischem Muster ordnete. Es entsprach dem Denken dieser Zeit, daß die Arbeitszeit, auch die Wochenarbeitszeit, vom Staat geregelt wird. Es gab auch niemanden, der dem Staat diese Arbeit abnehmen konnte, weil die Tarifpartner vernichtet waren.
Wer die Wochenarbeitszeit weiter vom Staat geregelt haben will, folgt dieser Spur. Wir wollen eine neue Spur ziehen. Der Staat ist für den Rahmen zuständig. Die Tarifpartner füllen ihn aus. Sie können es auch viel besser, als es der Staat je könnte. Sie sind näher an den unterschiedlichen Umständen. Sie können der Entwicklung besser folgen, auch den Chancen, als der Gesetzgeber.Deshalb tritt der neue Arbeitszeitgesetzentwurf, den wir vorlegen, gar nicht in Wettbewerb zur alten Arbeitszeitordnung. Wir schlagen ein ganz neues Kapitel auf. Das läßt sich deshalb auch überhaupt nicht vergleichen. Wir konzentrieren uns auf den Gesundheitsschutz. Deshalb: Höchstarbeitszeitgrenzen. Aber eine Grenze der Höchstarbeitszeit heißt nicht, daß das die normale Arbeitszeit sein soll. Wir legen fest, wann Pausen aus gesundheitlichen Gründen eingelegt werden müssen. Die Tarifpartner sind frei, das anders zu regeln. Wir legen fest, welche Mindestruhezeiten zwischen zwei Arbeitszeiten sein müssen. Aber das bedeutet keine Vorschrift. Es bedeutet nur den Rahmen.Wenn wir den Achtstundentag als den normalen Arbeitstag festlegen, heißt das nicht, wir hätten die 48-Stunden-Woche vorgeschrieben. Das wäre so ähnlich, als ob jemand, der die 40-Stunden-Woche festlegt, damit gleichzeitig das 52-Wochen-Arbeitsjahr festgelegt hätte. Nein, es bleibt bei der Errungenschaft des Achtstundentages. Im Sinne einer flexiblen Arbeitsverteilung kann die tägliche Arbeitszeit auf 10 Stunden erhöht werden. Wer daraus allerdings eine 60-Stunden-Woche konstruiert, der macht sich einer Unterschlagung schuldig.
Denn dieses Gesetz sieht vor, daß in einem Ausgleichszeitraum von 16 Wochen die durchschnittliche Tagesarbeitszeit 8 Stunden betragen muß.
Die 60-Stunden-Woche daraus zu schließen, daß in einer flexiblen Verteilung bis zu 10 Stunden gearbeitet werden kann — ich wiederhole mich — , das hieße Unterschlagung der Tatsache, daß die durchschnittliche Arbeitszeit in einem Ausgleichszeitraum von 4 Monaten — 16 Wochen — 8 Stunden bleiben muß. Sagen wir es einmal konkret. Würden in einem Extremfall ein Parteimitarbeiter im Wahlkampf — was hier naheliegt — oder Spezialisten einer Messe 3 Monate lang jede Woche 60 Stunden arbeiten, dürften sie im 4. Monat überhaupt nicht arbeiten. Deshalb bitte ich, wenn der Angriff der 60-Stunden-Woche gefahren wird, bei der Wahrheit dieses Textes zu bleiben: Es bleibt beim Achtstundentag. Es sind Ausgleichszeiträume vorgesehen. Ich lade alle ein: Laßt uns über die Ausgleichszeiträume diskutieren: ob sie ausreichend sind, ob sie anders angeordnet werden müssen.Ich glaube, daß wir ganz neue Arbeitszeitformen brauchen, daß möglicherweise die Wochenarbeitszeit gar nicht mehr das Korsett ist, mit dem Arbeitszeiten geregelt werden können. Möglicherweise brauchen wir auch größere Packungen, etwa Jahresarbeitszeiten, damit die Arbeitszeiten wieder Rhythmus bekommen, wie sie ihn in früheren Zeiten hatten, damit sie auch mehr den Bedürfnissen der Menschen im Lebensablauf folgen. Wir sollten Teilzeitformen, die sich keineswegs auf die Teilung der Tagesarbeitszeit beschränken, sondern möglicherweise zu größeren Freizeiten im Jahr und zu größeren zusammenhängenden Arbeitszeiten führen, organisieren. Wer das — gar als Gesetzgeber — mit der Wochenarbeitszeit regeln wollte, würde ein solches Wechseln von Arbeit und Freizeit geradezu verhindern.Ich bin ganz sicher, daß die Bedürfnisse nach Individualisierung der Arbeitszeit wachsen werden. Die Bedürfnisse der Menschen nach unterschiedlichen Arbeitszeiten sind doch auch ein Fortschritt. Möglicherweise will man in der Altersphase andere Arbeitszeiten haben als als junger Arbeitnehmer; in bestimmten Familienzeiten will man Freizeit anders mit Erwerbsarbeit kombinieren als in späteren Zeiten. Es wäre ein Fortschritt in Richtung Selbständigkeit, wenn es mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit, mehr Arbeitszeitsouveränität, gäbe. Dem darf nicht durch ein Arbeitszeitgesetz ein Riegel vorgeschoben werden, weil dieser Riegel Freiheit verhindern würde.Schon geht ja auch die Tarifpolitik mit ihren Regelungen in größere Bandbreiten. Die Metallindustrie von Südbaden hat eine Bandbreite zwischen 36,5 und 39 Stunden. Der Einzelhandel in Baden-Württemberg hat zwar die 38,5-Stunden-Woche, aber diese 38,5Stunden-Woche gilt in einem Zeitraum von 52 Wochen. Auch da gibt es also den Versuch, eine mittlere Linie zu vereinbaren, um die herum man pendeln kann, was freilich heißt, daß man dann, wenn man in einer Zeit mehr arbeitet, in einer anderen Zeit weniger arbeiten muß, wobei der Arbeitsschutz die Höchst-
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Bundesminister Dr. Blümgrenzen bestimmen muß, damit das Mehr nicht auf Kosten der Gesundheit geht.Wenn die 40-Stunden-Woche durch die Arbeitszeitordnung festgeschrieben würde, wäre die Veränderung überhaupt nicht sehr groß. 46,7 % der tarifvertraglich erfaßten regelmäßigen Wochenarbeitszeiten betrugen im Jahre 1987 38,5 Stunden. Fast die Hälfte liegt also schon unter 40 Stunden. In 49,6 % der Fälle sieht der Tarifvertrag die 40-Stunden-Woche vor. Wir würden also nur etwas verkünden, was die Tarifpartner schon gemacht haben, und ich bleibe dabei: Die Tarifpartner können es besser. In der alten Arbeitszeitordnung gab es keine Tarifpartner. Wir können die heutigen Verhältnisse nicht an dem messen, was in der Nazizeit geschehen ist.Ein Problem, das hier freilich auch diskutiert werden muß, sind die Überstunden. Ich teile die Ansicht derjenigen, die sagen: Überstunden als regelmäßige Arbeitszeit sind ein Solidaritätsverstoß gegenüber denjenigen, die null Stunden arbeiten müssen, weil sie arbeitslos sind. Die Frage ist nur, wer diese Überstunden am besten regelt. Ich glaube, auch hier haben die Tarifpartner die größten Chancen.Im übrigen hat das Beschäftigungsförderungsgesetz — von Ihnen häufig attackiert — mit dem befristeten Arbeitsvertrag einen spürbaren Beitrag zum Abbau von Überstunden geleistet.
Ich stütze mich dabei auf eine Fragebogen-Untersuchung der IG Metall, die ja über den Verdacht erhaben ist, mir zuliebe Zahlen ermittelt zu haben. Dieser Fragebogen betraf immerhin 2,7 Millionen Beschäftigte bzw. ihre Betriebsräte. Dort wurde festgestellt, daß der befristete Arbeitsvertrag in 20 % der Fälle dazu beigetragen hat, daß Überstunden abgebaut werden können.Ein weiteres Thema ist die Nachtarbeit. Meine Damen und Herren, ich halte die Nacht nicht für die normale Arbeitszeit. Nachtarbeit kann nicht einfach mit Tagesarbeit verglichen werden. Der Mensch ist ein sonnenhungriges Wesen, kein mondsüchtiges. Wer mondsüchtig ist, ist krank. Wer sonnenhungrig ist, ist nicht krank. Schon daran können Sie sehen, daß der Mensch auf Tagesarbeit angelegt ist.Dennoch wird es Nachtarbeit geben müssen; sie ist unvermeidbar. Wenn man diese Nachtarbeit einschränkt, sehe ich allerdings keinen Sinn darin, sie nur für Arbeiterinnen einzuschränken. Worin besteht denn der Unterschied zwischen Arbeiterin, Beamtin und Angestellter? Wenn Nachtarbeit mit besonderen gesundheitlichen Belastungen verbunden ist, gilt das für die Arbeiterin, für die Angestellte, für die Beamtin und übrigens auch für die Männer. Laßt uns über Gesundheitsschutz für die Nachtarbeiter nachdenken. Das ist aus meiner Sicht kein geschlechtsspezifisches Thema.Ein weiteres sicherlich auch mit diesem Arbeitszeitgesetz zu diskutierendes Thema ist die Sonntagsarbeit. Ich will jedenfalls als meine unumstößliche Position festhalten: Der Sonntag muß Sonntag bleiben.
Ich bin für Flexibilität, ich bin für eine ganz neue Zeitmischung, aber daraus darf kein Zeitbrei entstehen, denn, meine Damen und Herren, am Sonntag, am siebenten Tage, ruhte Gott. Das ist nicht nur eine biblische Nachricht aus dem Schöpfungsbericht, sondern in dieser Botschaft sind auch uralte kulturelle Erfahrungen enthalten. So wie das Jahr Feste braucht, so braucht die Woche Ruhetage, auch aus familiären Gründen. Nicht nur aus religiösen, sondern auch aus kulturellen Gründen sollten wir die Sonntagsarbeit auf das Notwendige beschränken. Freilich wird man Sonntagsarbeit nicht total abschaffen können. Im Krankenhaus muß sonntags gearbeitet werden.
— Falls Sie Pfarrer sind, Herr Schreiner, werden Sie auch sonntags arbeiten müssen, und falls Sie nicht Pfarrer sind, gehen Sie sonntags in die Kirche. Das ist keine Arbeit, das ist ein Fest.Meine Damen und Herren, ich rate uns, in den Beratungen dieses Gesetzes über den Sonntagsschutz nicht nur nachzudenken, sondern gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, wie wir die Sonntagsarbeit auf das Notwendige beschränken können.Im Gesetz selber ist das Sonntagsarbeitsverbot über die alte Gesetzgebung hinaus ausgedehnt, denn in der alten Gesetzgebung war das Sonntagsarbeitsverbot auf die Gewerbeordnung beschränkt und galt damit nicht für Betriebe außerhalb der Gewerbeordnung. Ich bleibe dabei: Sonntagsarbeit wird man nicht verbieten können, aber sie muß auf das unumgängliche Maß beschränkt werden: sie soll nur aus Gründen des Gemeinwohls möglich sein. Das Gemeinwohl ist keine nur buchhalterische Kategorie, sondern darin gehen religiöse, familiäre und kulturelle Erfordernisse ein.Dieses Gesetz leistet einen Beitrag zur Entbürokratisierung. Wenn Sie es auf der Grundlage der Vorlage der Bundesregierung beschließen, die verbesserungsbedürftig, verbesserungsfähig ist — ich lade Sie alle dazu ein — , werden 7 Gesetze und 22 Verordnungen überflüssig.
Ich finde, daß das ein Beitrag zur Entlastung gerade auch des kleinen Mittelstandes ist. Unser Arbeitsrecht ist so kompliziert geworden, daß es manche Initiative verhindert.
— Wir brauchen Arbeitsrecht, keine Angst! — Aber ein kompliziertes Arbeitsrecht erfordert vom kleinen Handwerksmeister, daß er nachts studiert, was er am Tag richtig machen muß. Manchmal habe ich den Eindruck, die Sammlung der Verbote wird umfangreicher als eine Sammlung dessen, was alles erlaubt ist. Deshalb: Ich bin für Arbeitsschutz, aber laßt die Kirche im Dorf! Kompliziert ihn nicht! Ich bin auch dafür, daß Arbeitsschutz vom Gesetzgeber geregelt wird, jedoch nicht im Sinne eines Perfektionismus. Man soll einen Rahmen setzen, und die Tarifpartner sollten die Chance haben, diesen Rahmen auszufüllen.Wir bringen diesen Gesetzentwurf wieder ein, der in der letzten Legislaturperiode auf Grund der Über-
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Bundesminister Dr. Blümbeschäftigung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung nicht zu Ende beraten werden konnte. Ich lade Sie alle dazu ein, daß wir gemeinsam einen besseren Arbeitsschutz, eine bessere Arbeitszeitordnung als die geltende beschließen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt wohl zwei Motive, die Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938 zu novellieren. Da ist erstens das sozial-demokratische Motiv. Bei ca. 2,4 Millionen registrierten arbeitssuchenden Männern und Frauen sagen wir, daß über 1,5 Milliarden Überstunden jährlich unerträglich sind.
Die seit 1918 geltende Regelarbeitszeit von 48 Stunden wöchentlich ist überholt, ist unvertretbar und ist durch die Praxis der tarifvertraglichen Regelarbeitszeit von 37 bis 40 Stunden durch freie Vereinbarungen im Rahmen der Tarifautonomie schlicht Geschichte.Dann gibt es zweitens das konservativ-wirtschaftsliberale Motiv. Das stellt sich auf der Grundlage des vorliegenden Gesetzentwurfes so dar, daß die Erfolge der freien Vereinbarungen innerhalb der Tarifautonomie schlicht unterlaufen werden sollen. Der Fortschritt des Jahres 1988 muß zurückgedreht werden. Weil Konservative und Wirtschaftsliberale noch eine zahlenmäßige Mehrheit im Parlament haben, machen sie in ihrer Rückwärtsfahrt gegen den Fortschritt, gegen die Vernunft und gegen die Tarifautonomie nicht im Jahre 1938 halt — warum auch?; das geltende Gesetz stammt ja aus dem Jahre 1938 —, nein, Konservative und Wirtschaftsliberale überwinden im Rückwärtsgang das ganze 20. Jahrhundert und gehen gleich bis ins vorige Jahrhundert zurück. So sieht das in Wahrheit aus.
Ich muß Ihnen sagen, Herr Blüm, auf mich wirken hilflose Appelle geradezu lächerlich, und zwar nicht von Ihnen allein, sondern auch von Ihren Staatssekretären und auch von einigen Abgeordneten der Koalitionsfraktionen. Sie appellieren an Unternehmer, Sie appellieren an Betriebsräte, Sie appellieren an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Sie appellieren an Tarifvertragsparteien, den Überstundenberg abzubauen.
— Diese Art, Herr Ronneburger, gehört in das Kapitel „Tarnen und Täuschen" : Rhetorisch den Überstundenberg beklagen und im Parlament einen Gesetzentwurf vertreten, der das genaue Gegenteil bewirkt, nämlich Festschreibung der 48-Stunden-Woche, monatelang die 60-Stunden-Woche, Ausdehnung der Sonntagsarbeit, Ausweitung der Nachtarbeit, generelle Hineinnahme der Samstagsarbeit in die wöchentliche Arbeitszeit; das sind die Grundlagen Ihres Gesetzentwurfs. CDU und CSU sind nach meinem Eindruck unfähig, den vernünftigen Kompromiß zwischen der Verwertung von Kapitalinteressen und den Bedürfnissen der Menschen zu organisieren.Über die Notwendigkeit der Ersetzung der uralten, noch aus der Nazizeit stammenden Arbeitszeitverordnung wird seit langer Zeit geredet. Daß das, was exakt vor 50 Jahren Gesetz wurde, auf die heutige Situation paßt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, ist nicht nur den Experten klar, sondern auch den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen sehr bewußt. Was vor 50 Jahren zur Absicherung der Rüstungsproduktion der Nazis erdacht wurde, hat mit der Situation der Bundesrepublik Deutschland wohl nichts mehr gemeinsam. Daraus die Konsequenzen zu ziehen, hat der Gesetzgeber jahrzehntelang sträflich vernachlässigt. Sechsmal hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion versucht, ein fortschrittliches Arbeitszeitgesetz durchzusetzen. Es fehlte uns eine Mehrheit. CDU/CSU und FDP haben unsere Bemühungen zunichte gemacht. Das geht nun schon seit 1976.Es liegen heute sehr unterschiedliche Konzepte auf dem Tisch des Hauses. Ich denke, das ist ein Vorteil. Dann kann man zwischen Alternativen unterscheiden und entscheiden. Für die SPD, für die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften ist die Meßlatte, was Arbeitsschutz heißen muß, klar:Erstens. Ein Arbeitszeitgesetz muß einen angemessenen Beitrag leisten, daß Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden.
Das Volumen an Mehrarbeit, an Überstunden, macht rein rechnerisch um 900 000 Vollzeitarbeitsplätze aus. Es ist leider wahr, daß dieses Potential an Arbeitsplätzen bisher ungenutzt blieb.Zweitens. Ein Arbeitszeitgesetz muß den notwendigen Gesundheitsschutz sicherstellen, den Gefahren entgegentreten, auch und gerade den Unfallgefahren durch überlange Arbeitszeiten. Arbeitszeitschutz muß deshalb auch vorbeugender Gesundheitsschutz sein.
Drittens. Ein Arbeitszeitgesetz muß familienpolitisch konzipiert sein. Das heißt, die regelmäßige Arbeitszeit darf nicht nur im Durchschnitt, Herr Blüm, acht Stunden pro Tag und 40 Stunden in der Woche nicht überschreiten. Das Wochenende, Samstag und Sonntag, muß soweit wie irgend möglich frei sein, und zwar auch, aber nicht nur, um dem christlichen Kulturkreis Rechnung zu tragen, in dem wir leben. Die 5-Tage-Woche von Montag bis Freitag und das freie Wochenende sind für das gesellschaftspolitische Engagement und das gesellschaftliche Engagement in Vereinen, Verbänden, Parteien, Gewerkschaften unverzichtbar notwendig.Für den Gesetzentwurf der Bundesregierung gilt: Alle vorgegebenen Kriterien werden kraß verfehlt. Was die Bundesregierung, und zwar erneut, vorgelegt hat, ist völliger Unsinn, weil erstens die 48-StundenWoche festgeschrieben wird, obwohl für fast alle Beschäftigten tarifvertraglich die 40- bis 37-StundenWoche vereinbart ist; zweitens weil die Sechs-TageWoche wieder eingeführt werden soll, obwohl tarifvertraglich allgemein die Fünf-Tage-Woche gilt, abgesehen von den Bereichen, wo es organisatorisch
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3740 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Dreßlernicht anders geht — aber die Wochenendarbeit unter der Überschrift des Renditedenkens wurde lange Zeit erfolgreich zurückgedrängt, bis die Wende die Arbeitgeber ermunterte, zum Gegenschlag auszuholen —; drittens weil Überstunden nicht begrenzt werden — nach den Vorstellungen der Bundesregierung sollen sogar ein monatelanger Zehn-Stunden-Tag, eine 60-Stunden-Woche möglich sein, obwohl Mehrarbeit beschäftigungsfeindlich ist und Unfallzahlen durch Mehrarbeit extrem steigen —; viertens weil eine Ausdehnung der Arbeitszeit betrieblichen Bedürfnissen untergeordnet wird, also einmal mehr die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Maschinen untergeordnet werden; fünftens weil das Gebot der Sonntags- und Feiertagsruhe noch weiter durchlöchert wird, obwohl das freie Wochenende von besonderer familienpolitischer Bedeutung ist.Mit dem Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes hat es die Bundesregierung geschafft, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Herr Blüm, eine Kritik von allen Seiten ist keine Bestätigung, daß man die goldene Mitte erreicht habe. Die Bundesregierung wäre gut beraten, die Kritik ernst zu nehmen.Daß die Gewerkschaften ein vernichtendes Urteil abgegeben haben, ist der Bundesregierung so, wie wir sie kennen, völlig egal. Diese Bundesregierung hat sich in diesen Fragen seit jeher völlig einseitig auf die Arbeitgeberseite geschlagen.An die Kritik der Kirchen haben sich die Parteien mit dem „C" inzwischen auch gewöhnt. Darüber werden Herr Blüm und andere genauso hinweggehen wie über die Mahnung — zuletzt der Evangelischen Kirche Deutschlands — , endlich gegen die sich ausbreitende Massenarbeitslosigkeit, insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit, vorzugehen.Die Pläne der Bundesregierung zur Aufweichung des Grundsatzes der Sonntags- und Feiertagsruhe sind aus unserer Sicht strikt abzulehnen. Aber auch der freie Samstag muß verteidigt werden; denn schon durch regelmäßige Samstagsarbeit ist auch der Sonntag betroffen. Er erhält seinen besonderen, herausgehobenen Charakter übrigens auch dadurch, daß ihm der freie Samstag zur Erledigung von außerberuflichen, von familiären und hauswirtschaftlichen Arbeiten vorausgeht. Wenn deshalb neuere Untersuchungen ergeben haben, daß nicht weniger als ein Drittel der Beschäftigten regelmäßig an Wochenenden arbeiten muß, zeigt das das ganze Ausmaß dessen, was der Gesetzgeber bisher leichtfertig übersehen hat.Die Opposition hat die Aufgabe, nicht nur zu kritisieren, sondern auch Alternativen zu entwickeln. Das haben wir mit unserem Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes während der Oppositionsjahre jetzt schon zum drittenmal getan. Wir wollen endlich erreichen, daß der Acht-Stunden-Tag und die 40-Stunden-Woche als höchstzulässige regelmäßige gesetzliche Arbeitszeit festgeschrieben werden. Wir wollen endlich erreichen, daß die Mehrarbeit auf unvorhergesehene und unvermeidbare Fälle begrenzt wird. Unvermeidbare Mehrarbeit muß dabei kurzfristig durch Freizeit ausgeglichen werden. Durch eine Begrenzung der Überstunden können kurzfristig mindestens 200 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist doch keine Erfindung von uns, sondern von den Arbeitsmarktforschern wiederholt errechnet worden. Auch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Franke, hat dies wiederholt bestätigt.Wir wollen, daß besondere Arbeitszeiten, Sonn- und Feiertagsarbeit, Nacht- und Schichtarbeit, und Arbeitsformen, etwa Arbeit auf Abruf, kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit, die sich auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders belastend auswirken, nicht oder nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen zugelassen werden.Wir fordern, das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen unangetastet zu lassen, Herr Blüm. Es muß darüber hinaus erreicht werden, daß Nachtarbeit, die immer gesundheitsschädlich ist, Zug um Zug zurückgedrängt wird, und zwar im Interesse aller, der Arbeiter, der Angestellten und der Beamten, und nicht das Gegenteil eintritt, wie Sie es vorhaben.
Wir fordern, die Arbeit an Sonn- und Feiertagen auf wenige, genau definierte Ausnahmen zu beschränken, und wir fordern, die Fünf-Tage-Woche von Montag bis Freitag als Regel anzuerkennen. Wir wollen ein fortschrittliches Arbeitszeitgesetz, und dieses Gesetz muß Bestandteil einer anderen Politik sein. Der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit muß endlich wirksam bekämpft werden. Ein fortschrittliches Gesetz ist dazu ein Baustein. Bisher hat die Bundesregierung nichts dazugelernt; statt der Massenarbeitslosigkeit wird nach wie vor die Arbeitslosenstatistik bekämpft. Mit diesem ganzen Unsinn muß endlich Schluß sein.Mit einer Begrenzung der Überstunden auf das unvermeidliche Maß kann die Politik einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten; einen Beitrag, den diese Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt im Jahre 1982 nicht geleistet hat. Denn daran müssen Sie sich nach wie vor messen lassen, Herr Blüm: Ihr Kanzler war es, der seinen Regierungsantritt als das beste Beschäftigungsprogramm bezeichnet hat, das denkbar sei.1982, am Ende der weltwirtschaftlichen Schwächeperiode, gab es 22,3 Millionen beschäftigte Arbeitnehmer in der Bundesrepublik, 25,6 Millionen Erwerbstätitge insgesamt. 1987, nach fünf Jahren weltwirtschaftlicher Belebung, gab es in der Bundesrepublik rund 25,8 Millionen Erwerbstätige, darunter 22,5 Millionen beschäftigte Arbeitnehmer. Mit anderen Worten: Nach fünf Jahren relativ guter Konjunktur gibt es in der Bundesrepublik ein geringes Mehr an Beschäftigung. Das ist die Bilanz.Da hilft es wenig, wenn die Regierung zum Vergleich immer die schlechteste Zahl aus ihrer Regierungszeit heranzieht, um den Erfolg ihrer Arbeitsmarktpolitik zu belegen. Diese Bundesregierung hat in sechs Jahren guter Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt nicht viel zuwege gebracht;
denn es reicht ja nicht, allein die Köpfe zu zählen. Man muß das Arbeitsvolumen insgesamt sehen, und man muß sehen, was in Ihren Statistiken sonst noch steckt, um sich schönzurechnen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3741
DreßlerIhre Bilanz ist schlecht: keine zusätzlichen vollwertigen Arbeitsplätze im Aufschwung, gesunkene Qualität der Arbeitsplätze durch Befristung und durch Schwächung von Arbeitnehmerrechten. Und jetzt? Was machen Sie in diesem Jahr, im nächsten Jahr? Selbst regierungsfreundliche Institute rechnen allenfalls noch mit 1 % realem Wirtschaftswachstum. Wer bei nahezu 2,4 Millionen Arbeitslosen, deren Zahl noch wächst, die 60-Stunden-Woche festschreiben will, der verhindert — das ist mein Vorwurf — ganz bewußt die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze.
Es wird nicht ausbleiben, daß Sie wieder einmal allen, die auf Tatsachen, die auf unbestreitbare Zahlen verweisen, Schwarzmalerei vorwerfen. Ob es das Statistische Bundesamt, ob es die Bundesanstalt für Arbeit oder ob es die Zahlen der Wirtschaftsforschungsinstitute sind, Sie weigern sich einfach, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Die Wirklichkeit heißt: Nach nun fast fünf Jahren Ihrer sogenannten Angebotspolitik gibt es weniger bezahlte Arbeit und weniger öffentliche und private Investitionen als je zuvor. Umverteilung, Abbau sozialer Sicherung, Abbau von Arbeitnehmerrechten — es war umsonst, Ihre Politik ist gescheitert. Sie mußte scheitern an Ihrer eigenen nach rückwärts gerichteten Philosophie, die einfach keine Basis hergibt für eine erfolgversprechende Politik.Ihre Politik, meine Damen und Herren von der Koalition, läßt sich auf drei Leitsätze reduzieren.Erstens. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer nicht wohlhabend ist, wer keinen Arbeitsplatz hat, wer keine vernünftige Altersversorgung hat, wer keine gute Ausbildung vorweisen kann, hat selbst schuld. Deshalb die beständigen Angriffe auf Arbeitnehmerrechte. Deshalb auch die tatenlos hingenommene Arbeitslosigkeit. Deshalb auch die Eingriffe in soziale Leistungen.Dann kommt Ihr zweiter Leitsatz. Der heißt: Gerechtigkeit lähmt die Gesellschaft und den einzelnen, Solidarität ist Zwang.
Deshalb die Angriffe auf die Gewerkschaften. Deshalb die wahnsinnigen Kinderfreibeträge, Herr Blüm, statt einheitlichem Kindergeld. Deshalb auch die neuerlichen Steuergeschenke für jene, die sowieso schon Schwierigkeiten mit ihrer Einkommensteuererklärung haben.
Das geht dann sozusagen logisch in Ihren dritten Leitsatz über. Der heißt: Der Staat als Organisation der Gemeinschaft übernimmt sich, wenn er wirtschaftlich und sozialen Fortschritt zusammenführen will. Deshalb gilt für Sie: Der Markt regelt alles, die Gewinner werden hofiert, und die Verlierer werden sich selbst überlassen.
Bangemanns Einschätzung des Sozialstaats macht das überdeutlich.
Er hält den Sozialstaat, den er Wohlfahrtsstaat nennt, für schlimmer als Sklaverei. Wer so denkt wie Herr Bangemann und augenscheinlich einige Kabinettskollegen —
von denen habe ich nämlich bisher keinen Widerspruch gehört —, der muß — das will ich zwangsläufig zugeben — auch so eine Politik machen, wie Sie es tun. Gemessen an diesen Grundsätzen ist Ihre Politik insofern sogar konsequent. Aber ökonomisch erfolgreich kann eine solche Politik nicht sein; übrigens so wenig, wie es die Sklavenhaltergesellschaft war. Ihr Schuldenberg, die steigende Arbeitslosigkeit, die mehr als bescheidenen wirtschaftlichen Zukunftsaussichten belegen das eindeutig.Meine Damen und Herren, Ihre Vorstellungen von der Funktionsweise einer modernen und leistungsfähigen Gesellschaft sind für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland schlicht und ergreifend ungeeignet.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Louven.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dreßler, als ich heute morgen die „Welt der Arbeit" aufschlug — das tue ich ab und an —,
wurde mir die Stoßrichtung klar, die Sie hier heute vorhaben würden
— ich komme darauf —, nämlich über Überstundenabbau neue Arbeitsplätze zu gewinnen.
Der „Welt der Arbeit" haben Sie gesagt: Damit lassen sich 200 000 neue Arbeitsplätze gewinnen.
— Sie haben hier soeben einmal von 900 000 gesprochen,
später dann wieder von 200 000.
— Herr Dreßler, lassen Sie mich hier zu Ende reden. Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
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3742 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Louven— Ich habe ja nun gerade erst angefangen. Lassen Sie mich hier wirklich erst einmal weitere Ausführungen machen.
Herr Dreßler, in der „Welt der Arbeit" haben Sie auf die Frage: „Nun könnte man doch sagen, was im Arbeitszeitgesetz steht, ist egal; denn der Tarifvertrag bestimmt die Arbeitszeit", die erstaunliche Feststellung getroffen: Aber der Tarifvertrag ist eigentlich nicht dazu da, Überstunden zu verbieten. Herr Dreßler, wie ist das beispielsweise mit der Erklärung der Herren Breit und Esser vom 14. Dezember 1984 in Einklang zu bringen, in der sie die Tarifpartner ausdrücklich auffordern, in diesem Bereich tätig zu werden? Sie haben das ausdrücklich getan; ich habe diese Erklärung dabei. Ich könnte sie Ihnen hier gerne weiter zitieren.
Herr Dreßler, ist es in Wirklichkeit nicht so, daß Betriebsräte und Betriebsleitungen teilweise schulterklopfend Überstunden verabreden? Dies — da ist dem Minister recht zu geben — ist eine Versündigung an unseren Arbeitslosen.Das, was Sie hier sagen, und die Wirklichkeit müssen Sie bei der AfA anprangern und dürfen dem Minister hier nicht vorwerfen, die Appelle seien kläglich,
wenn hier andere gleiche Appelle an die Öffentlichkeit richten.Meine Damen und Herren, wir unterstützen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Dieser Gesetzentwurf löst die alte Arbeitszeitordnung von 1938 ab, die ja eine Menge zuließ, Herr Dreßler. Dabei steht fest, daß heute mehr als 99 % aller Arbeitnehmer 40 Stunden und weniger arbeiten.
— Ich komme darauf.Der Gesetzentwurf gliedert sich im wesentlichen in drei Abschnitte, nämlich erstens in die „werktägliche Arbeitszeit und arbeitsfreie Zeiten", zweitens in die „Sonn- und Feiertagsruhe" und drittens den „Frauenarbeitsschutz". Mit diesem Gesetz wollen wir ganz bewußt
nicht einer zusätzlichen Zielsetzung Rechnung tragen, Arbeitszeiten zu limitieren und damit Arbeit umzuverteilen. Dieses Feld überlassen wir den Tarifvertragsparteien
und den Verantwortlichen in den Unternehmen undBetrieben. Arbeitgeber, Betriebs- und Personalräteund die Tarifvertragsparteien haben die notwendigeNähe zur Arbeitswelt, um vorrangig die notwendigen Betriebsabläufe zu sichern.
Im ersten Abschnitt des Gesetzentwurfs werden, am Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer orientiert, Grenzen für die höchstzulässige tägliche Arbeitszeit, für Ruhepausen während der Arbeitszeit und für Mindestruhepausen zwischen Beendigung und Wiederaufnahme der Arbeit festgelegt.Das Gesetz konzentriert sich dabei auf übersichtliche, am Gesundheitsschutz orientierte Grundnormen. Die Ausfüllung und Anpassung dieser Normen an die Notwendigkeit des Arbeitslebens überlassen wir ganz bewußt den Tarifvertragsparteien. Deshalb ist dieses Konzept des Arbeitszeitgesetzes dynamisch und anpassungsfähig. Meine Damen und Herren, Tarifverträge werden auf Zeit abgeschlossen und ermöglichen eine ständige Überprüfung und Korrektur. Ein Gesetz sollte länger Bestand haben.Entsprechend langjähriger Erfahrung läßt dieses Gesetz eine flexible Verteilung der Arbeitszeit bis zehn Stunden zu, falls innerhalb eines Ausgleichszeitraumes von vier Monaten im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
Für Abweichungen von den Grundnormen liegt die Zuständigkeit auch hier bei den Tarifpartnern. Wir glauben, daß damit das Bewußtsein für einen Überstundenabbau geschärft wird. Mit starren Regelungen, wie sie die Gesetzentwürfe von SPD und GRÜNEN vorsehen, löst man diese Problematik nicht, Herr Dreßler.
Insbesondere für kleine und mittlere Betriebe brauchen wir Flexibilität und betriebsnahe Regelungen.
Ich habe oft den Eindruck, daß Ihre Einlassungen nur auf Erfahrungen in Großbetrieben beruhen.
Wir müssen uns bei diesem Problem aber darüber im klaren sein, daß es in vielen Bereichen, Herr Dreßler, ohne Überstunden nicht gehen kann und der Zwang zum Abfeiern oft äußerst problematisch ist. Ich könnte dafür Beispiele bringen, aber darauf kommen wir sicher in der Ausschußberatung ausgiebigst zurück.Der Frauenarbeitsschutz ist ein weiterer wichtiger Punkt des Gesetzentwurfs. Hier lautet der Grundsatz: Vorschriften über erhöhten Schutz für Frauen werden aufrechterhalten, soweit geschlechtsspezifisch und zum Schutz werdenden Lebens erforderlich. Darüber hinausgehende Vorschriften werden aus Gründen der Gleichbehandlung von Frauen und Männern aufgehoben. Dies bedeutet dann z. B., daß zukünftig Frauen auch Lastwagen über 3,5 t lenken dürfen. Es bedeutet unter Umständen auch Beschäftigung am Bau. Es bedeutet aber nicht Beschäftigung unter Tage.Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3743LouvenDies ist kein Abbau des besonderen Arbeitsschutzes für Frauen, sondern die längst überfällige Aufhebung von Bestimmungen, die Frauen benachteiligen, indem sie ihnen den Zugang zu bestimmten Arbeiten erschweren.Ein weiterer wichtiger Punkt des Gesetzentwurfs ist die Sonn- und Feiertagsruhe. Mein Kollege Alfons Müller wird sich mit dieser Problematik noch grundsätzlich auseinandersetzen. Lassen Sie mich als jemanden, der auf Grund seines Berufes gezwungen war, fast ein Leben lang sonntags zu arbeiten, undzwar jeden Sonntag, als erstes ein besonderes Bekenntnis zum Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen ablegen.
Meine Damen und Herren, ich möchte bei uns keine amerikanischen Verhältnisse. Für sonntags frei sprechen religiöse, verfassungsrechtliche und familienpolitische Gründe. Wir sollten uns jedoch vor einer totalen Ideologisierung dieses Themas hüten.Ohne Sonntagsarbeit geht es nicht. Diese Erkenntnis kommt auch in Ihrem jetzigen Entwurf, meine Damen und Herren von der SPD, deutlicher zum Tragen als im vorherigen. Wir werden auch hierüber noch sehr intensiv zu reden haben. Dabei dürfen wir dann allerdings nicht die Augen vor dem verschließen, was derzeit in unseren Nachbarländern geschieht, erst recht nicht, wenn es um den Erhalt von Arbeitsplätzen geht.
Dabei ist es sicher richtig, die Wettbewerbsbedingungen zwischen deutschen und EG-Unternehmen bei den Maschinenlaufzeiten zu überprüfen und das Ergebnis abzuwarten.
Wenn ich mir, Herr Minister, den Ausnahmekatalog des § 7 und die dazugehörigen §§ 8 und 9 ansehe, drängt sich mir die Frage auf, ob nicht generellere Lösungen denkbar sind. Wenn wir anerkennen, daß lebenswichtige Arbeiten, Arbeiten für den Freizeit- und Gesundheitsbereich und Arbeiten, die dem seelischen Bedürfnis unserer Bürger dienen, erlaubt sind, geht es vielleicht ohne den Katalog in § 7 und ohne die schwerverständlichen Regelungen in den §§ 8 und 9.Muß es beim Katalog bleiben, erlaube ich mir schon heute die Anmerkung, daß dort die Bestatter nicht erwähnt sind. Aber auch Firmen außerhalb des gastronomischen Bereichs, die sich auf dem Gebiet des Party-Services betätigen, müßten sicherlich eine Aufnahme finden. Es gibt auch keine Regelung über die Arbeitszeit von Abgeordneten, Herr Minister, wenn ich mir die scherzhafte Anmerkung erlauben darf.
Der § 8 regelt dies nicht.Die in § 9 vorgesehenen Ermächtigungen, Anordnungen und Bewilligungen können, wenn sie unterschiedlich gehandhabt werden, zu großen Verzerrungen führen. Auch hierüber müssen wir nachdenken.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es führt zu weit, auf die Bemerkungen des Bundesrates näher einzugehen. Für mich gibt es hier eine Reihe interessanter Vorschläge; nicht alle Ablehnungen der Bundesregierung vermag ich nachzuvollziehen. Diese Punkte werden uns ebenfalls im Gesetzgebungsverfahren beschäftigen müssen.
— Keine Sorge, Herr Dreßler; machen Sie sich keine Sorgen. Dies werden wir in großem Einvernehmen über die Runden bringen.Ich komme zu einer abschließenden Gesamtbewertung: Wir begrüßen dieses Gesetz. Wir begrüßen es, daß insbesondere die Tarifpartner Zuständigkeiten bekommen, die sie bisher nicht hatten und die sie hoffentlich demnächst nutzen werden. Dieses Gesetz ist im wesentlichen ein Arbeitsschutzgesetz und kann kein Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein.
Viele Bürger glauben, mit der Herabsetzung der Regelarbeitszeit auf 40 Wochenstunden würden automatisch Arbeitsplätze gewonnen. Dabei muß man wissen, daß 99% aller Arbeitnehmer bereits 40 Stunden und weniger arbeiten.
— Nein, vom Deutschen Gewerkschaftsbund. — Jetzt kommt es, Herr Dreßler.Der Deutsche Gewerkschaftsbund — damit komme ich auf den 48seitigen Negativkatalog des DGB — traut sich und seinen Gewerkschaften sowie den Tarifpartnern offensichtlich wenig zu. Sie sollten doch einmal im Überstundenbericht nachlesen, wieviel Tarifvereinbarungen es inzwischen gerade in dem Bereich der Überstunden gibt. Wir sind nicht bereit, den dirigistischen Vorstellungen des DGB zu folgen.Sehr geehrter Herr Minister Dr. Blüm, der Gesetzentwurf ist lang, vielleicht zu lang. Sie machen zu Recht darauf aufmerksam, daß mit diesem Gesetz sieben Gesetze und 22 Verordnungen außer Kraft gesetzt werden. Berücksichtigt man jedoch, daß es im Bereich des Arbeitsrechtes noch viele Gesetze zu beachten gibt — mich stört hier insbesondere die viel zu umfangreiche und kaum handhabbare Arbeitsstättenverordnung —, dann sollte es unser gemeinsames Ziel der Gesetzesberatung sein, dieses Gesetz kürzer und einfacher zu machen.Brauchen wir wirklich den § 11? Damit mich niemand mißversteht: Auch ich will wirklich nicht Frauen, die unter Tage im Bergbau, in Kokereien oder an Hochöfen arbeiten müssen. Aber ist denn dies bei uns überhaupt noch denkbar? Ich meine: nein.Wenn der § 11 jedoch bleiben muß, dann müßte er um weitere Arbeiten ergänzt werden, die Frauen aus gesundheitlichen Gründen ebenfalls nicht ausüben sollten.Bevor ich zum Schluß komme, meine Damen und Herren, noch einige Anmerkungen zu den hier zur
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3744 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
LouvenBeratung anstehenden Gesetzentwürfen zum Arbeitszeitrecht der SPD und der GRÜNEN: Meine Damen und Herren von der SPD, es blieb mir, der Ihren Gesetzentwurf erst seit Dienstag vorliegen hat, nicht die Zeit, ihn gründlich durchzuarbeiten. Ich habe jedoch den Eindruck, daß Ihr jetziger Entwurf bei Mehrarbeit noch starrer, noch restriktiver ist als Ihr Entwurf der letzten Legislaturperiode. Im Interesse unserer vielen Klein- und Mittelbetriebe lehnen wir daher Ihren Entwurf im wesentlichen ab.Nur einen Satz zum Entwurf der GRÜNEN: Wer diesen Gesetzentwurf liest, muß den Eindruck gewinnen, daß es Ihnen am liebsten gewesen wäre, Arbeit generell zu verbieten.
— Am liebsten generell zu verbieten, Herr Schily, wenn Sie mich nicht verstanden haben. — Wir kommen in der Ausschußberatung darauf zurück. Dann wird Ihnen einmal vorzutragen sein, was die ganzen Paragraphen, die Sie hineingeschrieben haben, für die Arbeitswelt bedeuten.
Meine Damen und Herren, es wird nötig sein, zu diesem Gesetzentwurf eine Anhörung durchzuführen. Mit Verbänden, Organisationen und Kirchen muß dieser Entwurf sachlich und gründlich erörtert werden. Wir sind dazu bereit. Wir stimmen einer Überweisung zu.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Hoss das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe hier nun für DIE GRÜNEN Gelegenheit, den vorgelegten Gesetzentwurf vorzustellen. Ich muß sagen, daß die Ähnlichkeiten zwischen dem von der Bundesregierung vorgelegten und unserem Entwurf nicht sehr groß sind und daß ich kaum Möglichkeiten sehe, den Entwurf der Bundesregierung so zu verändern, weil er grundsätzlich andere Positionen aufnimmt,
so daß wir da in eine harte Auseinandersetzung kommen.
In Baden-Württemberg ist der Entwurf der Bundesregierung von der IG Metall bei einem Vergleich dahin charakterisiert worden, daß er schlimmer sei als die Regelung von 1938 in der Nazizeit. Ich lasse das für den formalen Vergleich gelten; darin stimme ich zu.Aber es sind zwei Vorbehalte zu machen. Die Nazis haben den Acht-Stunden-Tag 1938 eingeführt, um die Arbeiter zu gewinnen und einzustimmen, für sie in den Krieg zu ziehen. Zweitens haben die Nazis niedaran gedacht, das, was sie dort festgelegt haben, einzuhalten. Wir wissen, daß es schon 1939, 1940 den Zehn-Stunden-Tag und Zwangsarbeit und überhaupt keine Regelung zum Arbeiterschutz gab und daß die, die dagegen zu meckern versuchten, den Gestellungsbefehl bekamen und an die Front geschickt wurden. Das war damals die Realität.Aber beim formalen Vergleich gehe ich davon aus, daß der vorgelegte Entwurf der Bundesregierung, versetzt in die heutige Zeit, ein ganz schlimmer Entwurf ist, der die Situation — Herr Blüm, das werde ich Ihnen ganz sachlich zu erklären versuchen — verschlechtert,
und zwar in wesentlichen Punkten.Der erste betrifft die Ausdehnung der Arbeitszeit. Sie geben die Möglichkeit, die Arbeitszeit auf 60 Stunden pro Woche auszudehnen. Sechsmal zehn Stunden erlauben Sie durch das Gesetz.
— Darauf komme ich zurück.Die Überstundenproblematik wird bei Ihnen überhaupt verschwiegen.
Wenn Sie darauf eingehen, wird sie höchstens so behandelt, daß Sie noch mehr Überstunden ermöglichen, nämlich bis zu 60 Stunden in der Woche, wobei Sie sogar erreichen, daß Sie die Überstundenzuschläge wegmogeln, weil Sie da diesen Ausgleichszeitraum haben, über den Sie sagen, nach dem Gesetz müssen, wenn man es genau sieht, innerhalb von vier Monaten, durchschnittlich 48 Stunden erreicht sein.
— Der Acht-Stunden-Tag? Ihr Gesetzentwurf, Herr Blüm, zeichnet sich dadurch aus, daß er bestimmte Dinge festschreibt und eine solche Menge von Ausnahmen und Regelungen offenläßt, daß Sie das sozusagen dem freien Spiel der Kräfte überlassen und sagen, das kann im Bereich der Tarifpolitik gemacht werden.
Mit der Ausdehnung der Arbeitszeit auf 60 Stunden in der Woche setzen Sie darauf, daß Sie den Rationalisierungseffekt in der Arbeitszeitgestaltung hier gesetzlich fixieren und damit eine Rationalisierung und ein Hinausdrücken von Arbeitnehmern aus der Produktion und den Verwaltungen bewirken, weil Sie damit den Rationalisierungsbestrebungen der Unternehmer entgegenkommen.
Der zweite wesentliche Punkt ist, daß Sie die verfügbare Zeit des einzelnen Arbeitnehmers wegnehmen und unter die Interessen der Produktion und des Unternehmens stellen, indem Sie den geregelten Ar-
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Hossbeitstag und die Verläßlichkeit, daß jemand sagen kann, ich arbeite acht Stunden pro Tag und kann danach planen — Familie, Weiterbildung, Kultur —, wegnehmen und den Bedürfnissen der Produktion unterordnen, die — das gebe ich zu — vom Markt her wechselhaft und flexibel sind. Sie ordnen die Menschen diesen Bedürfnissen völlig unter.
Sie, Herr Louven, sagen, unsere Kritik am Entwurf der Bundesregierung baue darauf auf, daß wir am liebsten nicht mehr arbeiten möchten. Das dürfen Sie mir und unserer Fraktion nicht sagen. Wir kommen aus der Arbeitswelt; wir wissen das ganz genau und bringen die Erfahrungen, die wir von da haben, ein.Drittens. Die Schutzrechte der Arbeitnehmer werden zugunsten vermeintlicher Freiheitsräume aufgegeben. Nun, Herr Louven und Herr Blüm, bitte ich Sie, aufzupassen. Sie haben mit diesem Entwurf einen Autonomiebegriff und einen Freiheitsbegriff in die Debatte gebracht, indem Sie sagen: Der Gesetzgeber kann nicht alles festlegen; wir müssen das den Tarifpartnern überlassen.
Aber wir kennen die Reihenfolge in der Rechtsordnung. Wir haben a) die Betriebsvereinbarungen — die gelten für den Betrieb und das, was dort ausgemacht wird — , b) den Tarifvertrag — der gilt für den Bereich — und c) das übergeordnete Gesetz.Sie erlauben im Gesetz die 60-Stunden-Woche und anderes und sagen: Die Tarifpartner können sich ja austoben.
Aber die Frage der Überstunden und der Arbeitszeitgestaltung wird in den Betrieben entschieden. Das müßten Sie wissen, Herr Blüm, wenn Sie ein wenig Ahnung von Betrieben hätten; Sie waren schon lange nicht mehr dort. Wenn Sie sagen, da gebe es eine Gleichheit der Bedingungen, dann trifft das nicht zu.
Bei den Tarifverhandlungen haben wir die Möglichkeit zu streiken. Die Gewerkschaften können sagen: Wir stellen Forderungen, und wenn wir damit nicht durchkommen, dann wird hier gestreikt.
Herr Louven, im Betrieb sind die Betriebsräte und Personalräte gebunden. Sie haben keine Streikmöglichkeit; sie können nicht kämpfen; sie müssen die Einigungsstelle anrufen,
und die Einigungsstelle — das kann ich nun hundertprozentig auf Grund von Verhandlungen sagen, bei denen ich dabei war — orientiert sich letztendlich am Gesetz. Das Gesetz ermöglicht 60 Stunden in der Woche, zehn Stunden pro Tag, und das sechsmal in der Woche.
Unser Entwurf steht dem völlig entgegen. Deswegen lehnen wir Ihren Autonomiebegriff, der im Grunde verlogen ist, Herr Blüm, ab. Wenn Sie es machen wollen, dann bringen Sie auch in Ihren Entwurf ein, daß das Streikrecht und das Kampfrecht in den Betrieben für Betriebsräte und für Belegschaften hergestellt wird, wenn es um die Gestaltung der betrieblichen Arbeitszeit oder um die Frage der Überstunden geht.
Unser Entwurf berücksichtigt — und das tun Sie überhaupt nicht — die wirtschaftliche Entwicklung, die mit immer größerer Unsicherheit vonstatten geht, und die Zunahme der Arbeitslosigkeit. Wir gehen davon aus, daß der Entwurf des Arbeitszeitgesetzes Maßnahmen enthalten muß, die dafür sorgen, daß Erleichterungen in den Betrieb hineinkommen und daß die Arbeitslosigkeit abgebaut wird.Wir sehen da im einzelnen Folgendes vor. Was die Frage der Überstunden angeht, wissen wir, daß zur Zeit bis zu 2 Milliarden Überstunden gefahren werden.
— Es gibt diesen Arbeitszeitreport von Nordrhein-Westfalen, der sogar von 2,1 Milliarden Überstunden ausgeht. Das entspricht, umgerechnet auf einen AchtStunden-Tag, 900 000 Arbeitsplätzen. Wenn es uns nur gelänge, einen Abbau von Überstunden um ein Drittel zu erreichen, könnten wir 300 000 Arbeitslose in den Arbeitsprozeß mit einbringen. Da ist der Gesetzgeber gefragt,
weil es in den vergangenen Jahren bisher nicht gelungen ist, den Abbau von Überstunden zu erreichen. Die Überstunden nehmen sogar noch tendenziell zu.Genauso schreiben wir, Herr Louven, die 40-Stunden-Woche fest. Wir wollen 40 Stunden in der Woche arbeiten — tariflich geregelt gibt es ja schon die 37-Stunden-Woche — und acht Stunden werktäglich von montags bis freitags, wobei wir den Samstag und den Sonntag als Tage nehmen, die nur im Ausnahmefall zur Arbeit verwendet werden dürfen, aber dazu gibt es ja genügend Ausnahmeregelungen.Wir wollen weiterhin Freistellungen erreichen. Wir wollen das militärische Arbeitszeitregime, das sich eingebürgert hat, abbauen und den Leuten Gelegenheit geben, sich für ihre eigenen Bedürfnisse aus dem Betrieb befreien zu können, was heute nicht möglich ist, und damit Luft machen, daß die Betriebe gezwungen sind, andere Leute einzustellen. Das soll z. B. für berufliche, wissenschaftliche und kulturelle Weiterbildung gelten. Wir wollen den persönlichen Hausarbeitstag für Mann und Frau und wir wollen, daß in einem Volumen von insgesamt 20 Tagen im Jahr für
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3746 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Hossdiesen Bereich bezahlte Freistellungen gewährt werden.Wir wollen auch, daß im Arbeitszeitgesetz geregelt ist — das ist bisher nicht der Fall, und Sie lassen das völlig außen vor —, daß Leute die Möglichkeit haben müssen, sich für Zeiten der Kindererziehung aus dem Betrieb zu befreien und sich beurlauben zu lassen, und zwar mit dem Anspruch, daß der Arbeitsplatz erhalten bleibt.
Das können wir genauso handhaben — wenn Sie sagen, das, was ich vorschlüge, sei von vorgestern —wie bei der Bundeswehr. Da ist es auch möglich, daß die Leute für eineinhalb Jahre aus dem Betrieb mit Beibehaltung des Anspruches auf den Arbeitsplatz herausgezogen werden und daß sie nachher wieder zurückkommen können.So schlagen wir angesichts von Massenarbeitslosigkeit eine Reihe von Freistellungen vor, die ich jetzt aus Zeitgründen nicht im einzelnen darlegen kann.
Zur Frage der Bezahlung. Das ist eine Frage, die ja auch schon bei der letzten Debatte, die wir 1984 und 1985 hatten, vorgetragen wurde. Man sagt, unsere Vorstellungen seien von vorgestern und nicht real. Wir haben differenzierte Vorschläge zur Finanzierung der Freistellungen für die abhängig Beschäftigten und verteilen die Kosten gleichmäßig.
Wir wollen Freistellungen, für die die Leute selber aufkommen, bei denen sie sich also selber auf eigene Kosten befreien können; wir wollen, daß die Unternehmen einen Teil der Kosten für bestimmte Freistellungen bezahlen; wir wollen, daß die Krankenversicherungen im Falle von plötzlicher Krankheit bezahlen und daß auch der Staat, also die öffentliche Hand, bestimmte Kosten übernimmt, z. B. für Kindererziehungszeiten, wo ein Sondergesetz zu schaffen ist. Wenn Arbeitszeit gesetzmäßig geregelt ist, soll man sich aus dem Betrieb befreien können, und die Lohnersatzleistungen sollen dann vom Bund bezahlt werden.Zum Schluß — meine Redezeit ist jetzt abgelaufen — kann ich Ihnen noch kurz sagen: Wenn wir die Mittel für die Ehesubventionierung streichen, dann gewinnen wir 23 Milliarden DM, mit denen z. B. die Lohnersatzleistungen für Kindererziehung finanziert werden können. Wir müssen die Dinge nur richtig anpacken, dann werden Sie auch richtig gelöst werden können.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Übereinstimmung besteht sicherlich dar- über, daß die aus dem Jahre 1938 stammende Arbeitszeitordnung überarbeitet werden muß.
Und Übereinstimmung besteht bei uns, daß das, was hier im Entwurf vorliegt, selbstverständlich weitaus beer ist als das, was aus dem Jahre 1938 und den Jahren zuvor stammt und was wir hier überarbeiten. — Herr Kollege Hoss, Ihre Vergleiche waren fast eine Zumutung.Für uns muß sich ein Arbeitsgesetz heute an drei Kriterien orientieren: erstens an der Sicherstellung des notwendigen Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer und der Vermeidung von Überforderungen.Zweitens. Gesetzliche Regelungen müssen diesem Ziel dienen. Sie müssen auch so formuliert sein, daß die Flexibilität nicht auf der Strecke bleibt.Drittens. Bestehende Beschäftigungsverbote oder Beschäftigungseinschränkungen, die nicht mehr aus gesundheitlichen Gründen zu rechtfertigen sind, müssen gestrichen werden. Mit anderen Worten: Gesundheitsschutz — ja, in dem gebotenen Umfang, aber keine Gefährdung der Beschäftigung durch überzogene Arbeitszeitregelungen.Jedermann weiß, daß die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik zu wünschen übrig läßt. Die Flexibilität des Arbeitsmarktes ist jedoch, so eine hochrangige OECD-Sachverständigengruppe, eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung des Strukturwandels. Änderungen der Arbeitszeit, so die gleiche Arbeitsgruppe, bieten nicht nur die Möglichkeit, individuelle Wünsche und wirtschaftliche Erfordernisse miteinander zu verbinden, sondern an ihnen zeigt sich auch die grundsätzliche Einstellung zur Flexibilität.Betrachtet man unter diesen Aspekten die vorliegenden Gesetzentwürfe der Opposition, so wird deutlich, daß nicht Flexibilität, sondern Reglementierung im Vordergrund steht. Schon in der vergangenen Legislaturperiode hat der Kollege Lutz von der SPD die im Gesetzenwurf der GRÜNEN versprochenen Freizeiten in eindringlicher Weise aufgelistet und ihre Feststellung, die Restkosten seien für die Wirtschaft und die öffentliche Hand vertretbar, mit den Worten kritisiert: Ein Gesetzentwurf, der ernstgenommen werden will, ist kein Polit-Happening. Fürwahr!Wenn Sie jetzt darüber hinaus noch Höchstgrenzen für die betriebsdurchschnittliche arbeitsgebundene Zeit, d. h. also Arbeitszeit plus Wegezeit plus Pausen etc., festlegen und in den Fällen, in denen dies überschritten wird, z. B. eine Absenkung der Betriebszeit fordern, dann schaffen Sie damit zusätzliche Beschäftigungshemmnisse, gerade für Pendler aus strukturschwachen Gebieten.
Berücksichtigt man all diese Maßnahmen, so scheint die von Ihnen selbst errechnete Erhöhung von Lohnkosten der Unternehmen um etwa 3 noch zu niedrig. Was dies allerdings für die Beschäftigung bedeuten würde, sollten Sie eigentlich selbst abschätzen können. Mit anderen Worten: Ihr Entwurf stellt einen
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Heinrichweiteren Schritt auf dem Weg zur Abschaffung der Industriegesellschaft bei vollem Lohnausgleich dar.
Ihre Aussagen, Herr Kollege Hoss, haben dies vorhin auch wieder deutlich unterstrichen.Auch der SPD-Gesetzentwurf ist von dem Gedanken staatlicher Reglementierung voll durchdrungen. Ihr Gesetzentwurf ist — dies muß man deutlich sagen — als ein Instrument genereller Arbeitszeitverkürzung anzusehen, so daß man Sie eigentlich fragen muß, warum Sie nicht gleich die 35- oder 30-StundenWoche gesetzlich einführen und Überstunden generell verbieten wollen.Bei der Realisierung Ihres Gesetzentwurfs hätte ich erhebliche Zweifel, ob beispielsweise
— der Zwischenruf zeigt ja, in welchem Zustand Sie argumentieren —
die sehr kurzfristigen Umbauarbeiten auf der „Queen Elizabeth" auf einer Bremer Werft, die mit bewundernswerter Qualität und auch Schnelligkeit durchgeführt wurden, zu realisieren gewesen wären.Was wäre denn die Konsequenz gewesen?
Der Auftrag wäre nicht nach Deutschland gegangen, die Beschäftigungslage an der Küste wäre noch schlechter geworden, Herr Kollege Heyenn.
— In der Sensibilität der Beurteilung dieses Auftrags wahrscheinlich noch mehr als Sie, Herr Kollege.
Man sollte bei der Überstundenproblematik auf sachgerechte Regelungen der Tarif- und Betriebspartner vertrauen — dahin gehören sie auch — und von gesetzgeberischen Maßnahmen absehen.Mit Sorgfalt wird man auch prüfen müssen, ob der vorliegende Regierungsentwurf praxisgerecht ist— darüber müssen wir uns noch unterhalten —, ob er den Besonderheiten beispielsweise der Montagebetriebe, der Medien, des Pressevertriebs und auch der freien Wohlfahrtspflege und anderer ausreichend Rechnung trägt.Was das Thema der Sonn- und Feiertagsarbeit angeht, so empfiehlt sich zur Information ein Blick nach Belgien. Auf Initiative der dortigen Sozialpartner hat nach meinen Informationen der belgische Gesetzgeber nach mehrjährigen Modellversuchen 1987 das Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit unter bestimmten Kautelen aufgehoben.
Voraussetzung für diese Änderungen sind allerdings positive Beschäftigungseffekte.
— Darüber reden wir noch im Ausschuß, Herr Blüm.Vor diesem Hintergrund und auch im Hinblick auf die Koalitionsvereinbarung, die eine Überprüfung in der Frage der Maschinenlaufzeiten vorsieht, halte ich es für erwägenswert, ernsthaft über den Vorschlag des Bundesrats nachzudenken, für bestimmte Bereiche, insbesondere hochmechanisierte und hochtechnisierte Bereiche, Ausnahmen zuzulassen;
denn die Dauer der Nutzung von Maschinen ist in einer Reihe von Betrieben oder Branchen entscheidend für die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Im internationalen Vergleich — dies hat der Sachverständigenrat in seinem Gutachten hervorgehoben — stecken in den niedrigen Maschinenlaufzeiten in der Bundesrepublik noch nennenswerte Reserven, um Produktionskosten zu drücken.Wir kennen natürlich auch die Stellungnahme der Kirchen, und wir werden uns auch mit dieser Stellungnahme ernsthaft auseinandersetzen.
Noch ein Wort zum Thema Frauenarbeitsschutz. Der vorliegende Regierungsentwurf sieht den Abbau beschäftigungshemmender Vorschriften für Frauen dort vor,
wo sie aus Gesundheitsgründen nicht mehr gerechtfertigt sind, so z. B. im Bauhauptgewerbe. Dies ist übrigens eine alte Forderung der FDP.Was das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen angeht, so hat die Kollegin Adam-Schwaetzer schon früher an Hand konkreter Beispiele aufgezeigt, welche negativen Auswirkungen dieses Verbot für die Beschäftigung von Arbeiterinnen haben kann. Wir sind uns sicherlich darin einig, daß es so wenig Nachtarbeit wie möglich geben sollte. Nachtarbeit für weibliche Angestellte zuzulassen, für Arbeiterinnen aber nicht, dies überzeugt nicht. Deshalb sieht die Koalitionsvereinbarung auch zu Recht die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen vor.Zusammenfassend ist zu bemerken: Die vorliegenden Gesetzentwürfe — auch der Regierungsentwurf — bedürfen gründlicher Beratung, wie wir das ja immer tun. Der notwendige Gesundheitsschutz muß sichergestellt werden, ohne daß eine überzogene Reglementierung Beschäftigungsmöglichkeiten verschüttet und die Flexibilität, von der wir letztendlich leben, über Gebühr beeinträchtigt wird.Herzlichen Dank.
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3748 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank für das Vorauskompliment.
— Ich werde dem auch gerecht werden
und will gleich zu Beginn sagen: Wenn ich Polemiker wäre, müßte ich feststellen,
daß der Gesetzentwurf von den drei Zentnern Inkompetenz an der Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums stammen könnte, aber nicht aus dem Hause Blüm. Da ich kein Polemiker bin, versuche ich mich in der Sache mit dem Gesetzentwurf des Ministeriums auseinanderzusetzen.
Das erste, was meines Erachtens von den Regierungsfraktionen und auch von der Regierung selbst zu begründen ist, ist die Frage: Warum in Sachen Arbeitszeitgesetz ein vollständiger Rückzug des Staates aus der Verantwortung? Welche Gründe veranlassen die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen, dem Gesetzgeber, dem Staat jeden Einfluß auf die Gestaltung der Arbeitszeit zu nehmen und das vor dem Hintergrund von inzwischen weit mehr als 3 Millionen Arbeitslosen, vor dem Hintergrund von unverändert hohen Mehrarbeitsquoten, vor dem Hintergrund der Tatsache, die in jedem medizinischen Gutachten nachgelesen werden kann, daß mehr als 50 % der tödlichen Unfälle im Betriebsbereich bei denjenigen passieren, die in den sieben Tagen zuvor mehr als 40 Stunden gearbeitet haben, also Mehrarbeit leisten?Herr Kollege Heinrich von der FDP, wenn Sie sagen: Sicherstellung des Gesundheitsschutzes, dann weisen doch alleine diese Zahlen nach, daß die Bundesregierung mit dem vorgelegten Entwurf offenkundig diese Quoten an tödlichen Unfällen billigend in Kauf zu nehmen bereit ist; denn diese Zahlen sind seit Jahren bekannt, und seit Jahren ist bekannt, daß die Mehrarbeit in den Betrieben nicht nachgelassen hat.
Zweiter Punkt: Wenn Sie sagen, Herr Kollege Heinrich, wir müßten diejenigen Regelungen, die nicht dem Gesundheitsschutz dienen, aus den bestehenden Gesetzen entfernen, dann ist dies in der Tat die Position, die als Grundmuster dem Gesetzentwurf zugrunde liegt; denn eine solche Position verabsolutiert den Aspekt des betrieblichen Interesses, beispielsweise vor dem Aspekt Familie, beispielsweise vor dem Aspekt soziale Kontakte, die ja ebenfalls bei der Gestaltung der Arbeitszeit eine gewisse Rolle spielen müßten.Zu diesem Punkt als einzigem Punkt will ich etwas zitieren, eine Erklärung des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Aachen. Das müßte eigentlich auch den Minister interessieren; denn er hat eben eine vergleichbare liberalistische Position vertreten.
Er hat gesagt: Was wir beobachten, was wir wollen, ist eine immer stärkere Individualisierung der Arbeit. — Diese Individualisierung der Arbeit läuft aber nicht nach den Interessen der einzelnen Arbeitnehmer ab, sondern nach den Interessen der jeweiligen Arbeitgeberseite.Ich will Ihnen also dazu, auch zu der Begründung für Ihren Gesetzentwurf, die Stellungnahme des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Aachen nicht vorenthalten, weil ich denke, daß hier in wenigen prägnanten Sätzen der Kern der Kritik an diesem Gesetzentwurf formuliert wird. Die Katholiken im Bistum Aachen weisen darauf hin, daß das Ziel des Gesetzentwurfes identisch sei mit der Unternehmerstrategie zur Auflösung sogenannter starrer arbeitsrechtlicher Vorschriften und tarifvertraglicher Regelungen. Ziel sei die flexible Anpassung der Arbeits- und Industriewelt an die modernen Erfordernisse. Diese Erfordernisse würden dem zunehmenden Konkurrenz- und Rationalisierungsdruck sowohl binnenwirtschaftlich als auch auf dem internationalen Markt zugrunde gelegt.Flexible Arbeitsverhältnisse und flexible Arbeitszeiten sollen die Kostenbelastung der Unternehmen verringern, die Wettbewerbsfähigkeit und die Gewinne steigern.Das ist der Hintergrund, den Sie eigentlich einräumen müßten. Mit Ausnahme der FDP ist niemand bereit, auch nicht von Ihrer Seite der Regierungskoalition, deutlich zu machen, was denn nun der Hintergrund ist. Die sagen das zumindest noch.Nun kommt die Kritik:Aus dem Maßnahmenkatalog zur Durchsetzung dieser Ziele bereitet uns die Einbeziehung des jetzt arbeitsfreien Wochenendes in die Regelarbeitszeit besondere Sorge. Die soziale Errungenschaft des freien Samstags und die christliche Deutung des Sonntags stellen Werte dar, die nicht leichtfertig unternehmerischen und betrieblichen Belangen geopfert werden dürfen.
Herr Kollege Heinrich, das ist nicht nur eine Frage des Gesundheitsschutzes — den Sie im Rahmen Ihres Gesetzentwurfes eh schon nicht ernst nehmen. Es gibt auch andere Interessen, die betrieblichen Interessen vorgelagert sind, zumindest nach unserem Verständnis vom Menschen und gelegentlich auch nach dem christlichen Verständnis vom Menschen.Die Kritik fährt fort:Ausweitung von Schichtarbeit und Wochenendarbeit über ein gesellschaftlich notwendiges Maß hinaus schränkt zwar die Quantität der Freizeit nicht ein, sie beeinträchtigt jedoch die Aufnahme und Pflege sozialer Kontakte und damit die Qualität der Freizeit. Freizeit, die soziale Kontakte
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Schreinerermöglichen soll. Sozialzeit, setzt voraus, daß andere ebenfalls gleichzeitig ihre Freizeit verbringen.Ich will es noch auf einen Punkt bringen, ebenfalls vom Diözesanrat der Katholiken im Bistum Aachen formuliert:Der Wegfall des Wochenendes als gemeinsame Freizeit beeinträchtigt das Familienleben. Insbesondere das Verhältnis der Kinder zu ihren erwerbstätigen Vätern und Müttern wird unnötig gestört und erschwert.
Gemeinsame Unternehmungen der Familie werden, besonders bei Erwerbsarbeit beider Elternteile mit unterschiedlicher Freizeit, nahezu unmöglich gemacht.
— Sie können das ja unterstellen. Dann diskutieren Sie!
— Dann begründen Sie, warum Sie das anders sehen!Die Schlußfolgerung ist sehr kurz und bündig:Die Einbeziehung des Wochenendes in die Regelarbeitszeit— das liegt Ihrem Gesetzentwurf zugrunde; vielleicht sagt der Kollege von der KAB nachher etwas dazu; auch die Stellungnahme der KAB wären hier seitenlang zitierbar, etwa der KAB Süddeutschland —
beeinträchtigt den Menschen als Person und im Gefüge seiner sozialen Beziehungen in erheblichem Maße. Wochenendarbeit kann nur gerechtfertigt sein im Dienst an der Ordnung der Personen, d. h. im sozialen Bereich, und in gesellschaftlich notwendigen Teilen des Dienstleistungssektors,— Minister Blüm hat die Kirchen genannt —niemals aber im Dienste ökonomischer Interessen.Das ist exakt die Konfliktfrage, die Entscheidungslage: Wem räumen Sie Priorität ein? Räumen Sie in diesem Fall ökonomischen Interessen Priorität ein, oder räumen Sie die Priorität den persönlichen Interessen der Menschen ein? Das ist die Entscheidungslage, die Konfliktlage, die Sie in Ihrem Entwurf völlig eindeutig zu Lasten der Menschen und zugunsten bestimmter betrieblicher Interessen entschieden haben.
— Bitte schön. Vizepräsident Frau Renger: Bitte schön.
Herr Kollege Schreiner, könnten Sie bestätigen, daß in das, was Sie anprangern — das mit dem öffentlichen Interesse — , auch der Dienstleistungsbereich und weite Teile der Landwirtschaft einbezogen werden müssen? Insofern habe ich bei Ihnen schon einen Widerspruch festgestellt.
Nein. Bedauerlicherweise haben Sie bei mir keinen Widerspruch feststellen können, Herr Kollege. Ich habe aus der Stellungsnahme des Diözesanrates aus dem Bistum Aachen zitiert.
— Der Minister kann das Wasser wieder nicht halten.— Nach dessen Auffassung ist Wochenendarbeit nur gerechtfertigt, wenn sie im Dienste der sozialen Beziehungen steht. Das kann man relativ weit interpretieren. Dieser Rat hat aber abgegrenzt, daß eine bloße Indienststellung für rein ökonomische Interessen nicht vertretbar ist. Diese Grundposition teile ich. Diese Grundposition ist nicht die Grundposition des Gesetzentwurfs.
Ich darf Ihnen etwas dazusagen, Herr Kollege Heinrich, wenn Sie Flexibilität fordern.
— Ihre Frage ist beantwortet. Ich wollte vielleicht noch ein paar Anmerkungen machen, da Sie sich jetzt doch ins Blickfeld gedrückt haben.
Ich darf Ihnen mitteilen, daß nach Untersuchungen, die Sie im „Arbeitszeitreport" nachlesen können, über drei Viertel aller Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland keinen normalen Arbeitstag im Sinne starrer Arbeitszeit mehr haben, daß sie entweder Teilzeitarbeit oder andere Formen von flexibilisierten Arbeitsverhältnissen haben, aber jedenfalls nicht mehr den normalen Dauerarbeitstag mit festen Zeiten. Das heißt, wir haben bereits jetzt ein Flexibilisierungsausmaß, daß von denen, die zusätzliche Flexibilisierung fordern, permanent verschwiegen wird. Wenn die Zahlen, die mir zur Verfügung stehen, nicht trügen, haben wir in der Bundesrepublik Deutschland betriebliche Laufzeiten — im Gegensatz zu den Arbeitszeiten oder in anderen Worten: Maschinenlaufzeiten— im Bereich der Industrie im Schnitt von 60,6 Wochenstunden. Ich sage Ihnen das Vergleichsdatum für Frankreich: 46 Stunden. Eben ist auf die EG-Situation hingewiesen worden.
— Es gibt Redezeiten. Sie sind ein so dankbares Objekt
— Publikum — , angesichts der Politik, die Sie vertreten. Man gibt nie die Hoffnung auf, daß vielleicht doch irgendwann einmal etwas fruchtet.
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3750 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Schreiner— Okay, ich bin auch genötigt, jetzt langsam zum Ende zu kommen. Ich wollte Ihnen im Blick auf den Hinweis auf die EG-Situation nur mitteilen, daß nach den Zahlen, die ich zur Verfügung habe, wir in der Bundesrepublik die längsten betrieblichen Laufzeiten, die längsten Maschinenlaufzeiten haben, daß wir nämlich im industriellen Bereich im Schnitt bei 60,6 Stunden stehen, während Frankreich bei 46 steht, und daß es auch von daher nicht den geringsten Anlaß gibt, auf diesem Feld Handlungsbedarf zu erzeugen.
— Die Franzosen haben ganz andere Zahlen als wir, Herr Kollege Louven.
Herr Kollege, Sie nehmen Ihren Kollegen die Redezeit weg!
Frau Präsidentin, ich bin im letzten Satz.
Im Kern ist das, was Sie mit diesem Gesetzentwurf vorgelegt haben, nichts anderes als die konsequente Fortsetzung Ihrer bisherigen Politik seit 1982, nämlich eine Mobilisierungskampagne gegen die Arbeitnehmer.
Das läßt sich auch mit der Arbeitszeitordnung vereinbaren.
Die gründete damals auf der Demobilisierungskampagne 1918, und Sie setzen diese Demobilisierungskampagne fort, und zwar im Sinne einer Mobilisierungskampagne gegen die organisierte Arbeitnehmerschaft. Das ist einer der Hauptpunkte, die Sie seit Jahren vorgetragen haben.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schreiner, wir sind uns darin einig, daß wir gemeinsam dafür sorgen, daß die Sonntagsruhe so weit wie möglich erhalten und, wenn uns das gelingt, auch verbessert wird. Wenn ich dann aber Ihren Entwurf durchlese, sehe ich die gleichen Ausnahmetatbestände wie im Entwurf der Regierung — bis auf zwei Ausnahmen; es sind der Inventurtag und § 7 Abs. 19, zu dem ich noch etwas sagen muß. Bevor Sie solche hohen Erklärungen abgeben, müßten Sie also, meine ich, mit dafür sorgen, daß Ihr Entwurf auch entsprechend verbessert und verschärft wird. Erst dann haben Sie die Legitimation, so zu reden, wie Sie es hier eben getan haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Wenn Sie mir das nicht anrechnen, ja.
Ich darf doch einmal darauf hinweisen, daß wir in der ersten Beratung sind.
Also gut, wenn ich es nicht angerechnet bekomme.
Es wird nie angerechnet.
Gut, bitte!
Herr Kollege Müller, wären Sie eventuell bereit, Ihre Aussage zu korrigieren, wenn Sie zur Kenntnis nehmen, daß die Kritik des Diözesanrates u. a. darin besteht, daß bei Einführung des Samstages als Arbeitstag der Sonntag seinen bisherigen Charakter verliert, weil die Leute dann das, was sie bisher am Samstag zu erledigen versucht haben, auf den Sonntag transportieren werden, und daß unser Gesetzentwurf in diesem Punkte mit Ihrem überhaupt nicht zu vergleichen ist?
Herr Kollege Schreiner, das will bei uns kein Mensch! Das will überhaupt kein Mensch, und das wird auch mit diesem Entwurf gar nicht bezweckt.Meine Damen und Herren, ich möchte zu Beginn ein Wort des Dankes an den Bundesarbeitsminister Norbert Blüm für sein klares Bekenntnis zur Sonntagsruhe sagen,
und ich möchte hinzufügen: Norbert Blüm steht in dieser Frage und in diesem Kampf nicht allein; er hat da unser aller Solidarität und Unterstützung und die vieler in der Union. Das will ich ganz deutlich sagen.
Ich begrüße, daß es bei dem Grundsatz bleibt, die Sonn- und Feiertagsarbeit aus rein wirtschaftlichen Gründen nicht zuzulassen. Ich erkenne auch das Bemühen der Bundesregierung an, durch § 7 Abs. 19 eine weitere Durchlöcherung der Sonntagsruhe zu verhindern. In Sorge bin ich allerdings — das will ich offen sagen — in der Frage, ob diese Aufzählung ausreichend ist oder nicht besser durch eine Generalklausel ersetzt werden kann. Das sollten wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren sehr sorgfältig prüfen, denn aus chemischen, biologischen, technischen oder physikalischen Gründen darf das Tor für neue Ausnahmegenehmigungen von Sonntagsarbeit nicht noch weiter geöffnet werden, und auch bei § 8 muß
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Müller
geprüft werden, ob die gefundenen Vorschriften praktikabel sind und nicht dem Grundanliegen widersprechen. Meine Damen und Herren, der Sonntag muß Sonntag bleiben
und darf nicht auf Umwegen noch weiter ausgehöhlt werden.Sehr dankbar bin ich der Bundesregierung auch dafür — ich sage das mit allem Nachdruck —, daß sie dem Begehren des Bundesrates widerspricht, für den Betrieb von hochmechanischen und automatisierten Produktionsanlagen weitere Ausnahmen zuzulassen. Recht so, daß das abgelehnt wird.Mir stockt der Atem, wenn ich in der Begründung des Bundesrates lese, daß durch optimale Kapazitätsauslastung und durch Verlängerung der Maschinenlaufzeiten auch an Sonn- und Feiertagen wesentliche Kostenentlastungen erreicht werden sollen. Meine Damen und Herren, das sind haargenau wirtschaftliche Gründe, die wir nicht akzeptieren wollen.
Wir sollten nicht alle Entscheidungen immer nur vom Geld und von der Rentabilität her sehen. Es gibt auch noch tragende Werte, die eine ethische Grundlage haben und die man nicht alleine unter dem Gesichtspunkt der Produktivität sehen kann. Dazu gehört ohne Zweifel der Sonntag.Der Sonntag ist eines der höchsten Kulturgüter, und selbst atheistische Staaten halten sich an die SiebenTage-Woche mit dem wöchentlich wiederkehrenden Ruhetag. Wenn wir jetzt allzu schnell und ohne großen Widerstand dem Begehren auf noch mehr Ausnahmetatbestände nachgeben, dann werden wir den Sonntag auf Dauer nicht halten können.
Bereits jetzt arbeiten 1,2 Millionen Menschen jeden Sonntag.
Insgesamt sind 4 Millionen Menschen von Sonntagsarbeit betroffen, vorwiegend im Ordnungswesen, in den sozialen Berufen und im Dienstleistungsbereich.Ich meine, der Sonntag gehört dem Herrgott, er gehört der Familie, er gehört dem Menschen. Als Gesetzgeber müssen wir die Technik zwingen, die Produktionsverfahren so zu entwickeln, damit am Sonntag nicht unnötig gearbeitet wird.
Für mich als Abgeordneten einer C-Partei und vor allem auch als Vorsitzenden der KAB ist das eine Grundsatzfrage. Wir dürfen keine Entwicklung zulassen, die den Menschen letztendlich der technischen Entwicklung total ausliefert und sich ihn unterordnet.Ich bin sehr wohl für mehr Flexibilität in der Arbeitswelt, aber das darf nicht zu Lasten des Sonntags gehen. Der Mensch braucht den freien Sonntag, dennnur so macht er die Erfahrung, daß sich sein Wert nicht nur in der Nützlichkeit für andere erschöpft.Letzter Satz. Was soll das für eine Gesellschaft werden, wenn in der Familie der eine montags, der andere mittwochs, ein dritter freitags, ein vierter samstags oder sonntags seinen freien Tag hat? Ich meine, wir sollten aus religiösen, ethischen, familiären, sozialen, gesellschafts- und auch staatspolitischen Gründen sagen: Hände weg von noch mehr Sonntagsarbeit!Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Steinhauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Ich kann hoffen, daß die Ausführungen von Herrn Müller bei der zukünftigen Gesetzesberatung und bei der Formulierung ihren Niederschlag finden. Unsere Unterstützung haben Sie.
— Im jetzigen Gesetzentwurf steht das nicht so drin.Die heute zur ersten Beratung anstehenden Arbeitszeitgesetze haben eine besondere Bedeutung auch für erwerbstätige Frauen. In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit möchte ich einige Punkte ansprechen.Der Entwurf der Bundesregierung — das sage ich im vollen Bewußtsein dessen, was Herr Müller eben gesagt hat — geht offenbar davon aus, daß Arbeitsschutz ohnehin ein Hemmnis im Arbeitsleben darstellt. Produktion am besten rund um die Uhr einschließlich Sonn- und Feiertag ist das Gebot,
und der Bundesrat erhärtet das auch noch. Übrigens, die Handschrift von Frau Minister Süssmuth vermisse ich in diesem Gesetz absolut.
Ich bedaure, daß sie nicht mehr da ist. Wie sagte sie im Sommer 1987? Familienfreundliche Gestaltung des Arbeitslebens sei ein Schwerpunkt ihrer Frauenpolitik. — Sie meinte damit wohl nur die Teilzeitarbeit. Der Arbeitsschutz und die familienfreundliche Arbeitszeitgestaltung blieben auf der Strecke. Im Gesetzentwurf ist dazu jedenfalls nichts zu finden.
Wie ist eigentlich zu verstehen, daß die Durchlöcherung des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen und die Verschlechterung der Pausenregelung sowie der Vor- und Abschlußarbeitenregelung von einer Frauenministerin hingenommen werden? Das ist mei-
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3752 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
Frau Steinhauernes Erachtens falsch verstandene Gleichberechtigung.
Weniger Nachtarbeit und ausreichende Pausen sind für Männer und Frauen notwendig. Das ist gesundheitsfördernd und familienfreundlich.
Die überwiegend von Arbeiterinnen ausgeübten Tätigkeiten sind ohnehin ganz unten in der Lohnskala angesiedelt. Nun sollen die Arbeiterinnen auch noch Nachtarbeit machen. Dadurch werden die Arbeitsbedingungen für sie nicht verbessert, sondern verschlechtert, und die Gesundheit wird durch die nicht zu verleugnende Doppelbelastung in Familie und Beruf noch weiter beeinträchtigt. Eine Ausweitung der Nachtarbeit ist nicht angezeigt. Es ist vielmehr umgekehrt eine Einschränkung der Nachtarbeit angezeigt. Ich sagte eben schon, Pausen und vieles andere sind für Männer und Frauen wichtig, und Nachtarbeit ist schädlich für alle. Frauenarbeitslosigkeit wird durch die Aufhebung der Nachtarbeit nicht abgebaut. Ich bin erschrocken, wenn ich hier wieder höre, Beschäftigungshemmnisse würden dadurch abgebaut.Verbesserungen der Arbeitsmöglichkeiten der Frauen sollte die Bundesregierung durch eine aktive Beschäftigungspolitik erreichen, und hier gibt es nur Lippenbekenntnisse.
Ich verstehe übrigens Arbeitsschutz so, daß er weiterentwickelt und nicht zurückgedreht wird. Die Technik hat z. B. an der Belastung durch Dauer und Lage der Arbeitszeit nichts geändert. Es sind andere Belastungen eingetreten, z. B. durch Arbeitstempo, Isolation bei Tätigkeiten in Großanlagen, gefährliche Arbeitsstoffe, psychische Belastungen usw. Dies trifft ebenfalls Männer und Frauen.Aufgabe für uns alle wird es sein, den Arbeitsschutz für Männer und Frauen weiterzuentwickeln. Positiver Schutz ist das Gebot und nicht Durchlöcherung. Das ist Verbesserung der Chancengleichheit im Arbeitsleben. Wir haben in unserem Gesetzentwurf zur Weiterführung des Arbeitsschutzes einen Anfang mit Augenmaß gemacht.
In diesem Sinne werden wir in den Ausschüssen beraten, und ich beantrage hiermit Überweisung unseres Gesetzesantrages an die Ausschüsse. Dabei werden wir insbesondere darauf achten, daß Beruf und Familie insbesondere für Frauen, aber auch für Männer besser in Einklang gebracht werden können.
Zusammenfassend: Es geht hier nicht um die Arbeitskraft als Ware, sondern um den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Menschen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Brahmst-Rock, Weiss und der Fraktion DIE GRÜNEN Schnellbahnverbindung Köln—Paris
— Drucksache 11/387 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu 5 Minuten je Fraktion vereinbart worden. — Es erhebt sich kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Herr Abgeordneter Weiss hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag versuchen wir, eine Alternative zu dem deutlich zu machen, was bisher vom Bundesverkehrsminister als europäisches Schnellbahnprojekt groß verkündet worden ist. Es geht bei diesem Projekt um die Verbindung der Zentren, ein Konzept, das frühestens innerhalb von zehn Jahren verwirklicht werden kann.Es geht eigentlich mehr um die Grundsatzfrage, ob wir in der Bahnpolitik auf Großprojekte — Großprojekte in Form von Schnellbahntrassen — setzen oder ob wir die Möglichkeit nutzen, andere Konzepte zu verfolgen, um die Bahn konkurrenzfähiger und leistungsfähiger zu machen. Das haben wir in der Begründung zu dem vorliegenden Antrag sehr umfangreich ausgeführt. Es gibt eine Reihe von Dingen, die sofort und jetzt gemacht werden könnten, wo man nicht warten muß, bis irgendwann nach der Jahrtausendwende die Schnellbahn zur Verfügung steht.Heute verkehrt beispielsweise zwischen Köln und Aachen jede Stunde ein Zug. Umgekehrt haben wir auf belgischer Seite von Brüssel bis Welkenraedt — 15 Kilometer vor Aachen — jede Stunde einen Intercity. Das heißt, Sie haben hier praktisch schon den Stundentakt, nur besteht eine Lücke von 15 Kilometern. Statt nun an diesem einfachen Problem etwas zu korrigieren, setzen wir bei irgend etwas an, was nach dem Jahr 2000 irgendwann einmal Wirklichkeit werden soll.Ähnlich sind die Gegebenheiten bei den Zügen von Amsterdam nach Brüssel, bei den Zügen von Brüssel nach Paris. Es wäre ohne weiteres möglich, hier ein qualifiziertes Schnellbahnsystem auf der Grundlage bestehender Bahnverbindungen zu schaffen. In dem Fall droht auch nicht die Gefahr, die inzwischen schon etwas gebannt zu sein scheint, daß Aachen vom Schnellbahnnetz abgekoppelt wird.Meine Damen und Herren, wir leiden eigentlich bei allen Bahngroßprojekten immer darunter, daß die Bauzeit zehn Jahre beträgt, daß in dieser Zeit immense Finanzierungskosten anfallen und daß hinterher die Betriebsergebnisse der beteiligten Bahnen un-
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Weiss
wahrscheinlich belastet werden. Warum geht man nicht abschnittsweise vor und nimmt den Abschnitt, der fertig ist, sofort in Betrieb?Wir haben deshalb folgende Forderung aufgestellt:Erstens. Koordinieren Sie zunächst einmal die Fahrpläne. Da gibt es reichlich Mißstände, gerade bei den Linien Köln—Aachen—Lüttich—Brüssel—BrüggeOstende, bei den Linien Amsterdam—Brüssel—MonsAuinoye—Paris. Stimmen Sie die Fahrpläne miteinander ab.Das zweite: Warum ist es bisher immer noch nicht möglich, aufeinander abgestimmte Fahrzeuge einzusetzen? Es verkehren viel zuwenig Mehrsystemlokomotiven. Es gibt immer wieder unnötige Grenzaufenthalte. Mit solchen Maßnahmen ist es beispielsweise möglich, die Fahrzeit zwischen Köln und Brüssel gegenüber dem heutigen Zustand zu halbieren. Aber das ist ja nicht Ihre Absicht, sondern Ihre Absicht ist das europäische Schnellbahnprojekt. Da stelle ich mir schon die Frage: Wenn Sie es nicht einmal schaffen, zwischen den beteiligten Bahnen so einfache Dinge wie Koordination der Fahrpläne und Einsatz besserer Fahrzeuge zustande zu bringen, wie soll das dann überhaupt mit diesem Hochgeschwindigkeitsprojekt werden?Deshalb wollen wir mit dem Antrag erreichen, daß, statt ein Großprojekt sofort durchzuziehen, sinnvollerweise ein dreigliedriges Vorgehen bevorzugt wird: erstens Koordination der Fahrpläne, zweitens Einsatz besseren Wagenmaterials, bessere Züge und drittens dann erst ein Streckenausbau zur Beschleunigung in einzelnen Abschnitten, wo das möglich ist. Also nicht alles in einem Zug! Es geht nämlich letztendlich zu Lasten der Eisenbahnkunden, was Sie mit dem europäischen Schnellbahnprojekt vorhaben. Man kann zwar sagen, Sie tun einiges; man kann aber auch sagen: Bis zur Jahrtausendwende geschieht nichts, bis zur Jahrtausendwende sind nur schöne Worte zu hören, und was sofort möglich ist, wird mit Verweis auf dieses Großprojekt einfach nicht realisiert.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bauer.
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Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns — so hoffe ich — in diesem Hohen Haus einig oder zumindest fast einig in dem Bestreben, unserer Bahn eine Zukunft zu schaffen. Die Bahn der Zukunft soll und muß wieder größeren Anteil am wachsenden Verkehrsaufkommen haben. Das ist vor allem auch erklärter politischer Wille der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition.Eine besondere Bedeutung kommt hier dem grenzüberschreitenden Verkehr und damit natürlich auch der Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsverbindung Paris—Brüssel—Köln bzw. Amsterdam zu. Mit einer Bahn von gestern kommen wir nicht weiter. Nostalgie ist schön und gut, aber hier ist sie tödlich.Jährlich bewegt sich ein Menschenstrom über unsere Grenzen, der fast der Einwohnerzahl unserer Bundesrepublik entspricht. An diesem Verkehr hat die Deutsche Bundesbahn jedoch bisher nur einen geringen Anteil. Fragt man nach den Ursachen für die mangelhafte Nutzung der Bahn, so muß man erkennen, daß die Reisezeiten mit der Bahn entschieden zu lang und nicht attraktiv genug sind. Genau hier setzt das Projekt der Schnellbahnverbindung Paris—Brüssel—Köln bzw. Amsterdam an. Die Fahrzeit zwischen Köln und Paris könnte von fünf Stunden auf drei Stunden reduziert werden. Die Fahrzeit zwischen Brüssel und Köln könnte von zweieinviertel Stunden auf rund eineinhalb Stunden reduziert werden. Ich glaube, das sind ganz gewaltige Unterschiede in den einzelnen Reisezeiten. Damit kann letztendlich auch eine echte Konkurrenz einmal zum Pkw und zum anderen zum Flugzeug geschaffen werden.Die Verkehrsminister aller beteiligten Staaten — ich möchte hier unserem Bundesverkehrsminister ein besonderes Dankeschön für sein großes Engagement in dieser Sache sagen — haben in ihrer Resolution vom 26. Oktober 1987 einen Trassenverlauf der Neu- und Ausbaustrecke zur Kenntnis genommen, der sowohl der Forderung nach Wirtschaftlichkeit als auch dem Umweltschutz gerecht wird. Die Eisenbahngesellschaften sollen das nun umsetzen, und zwar unter konzeptionellen und finanziellen Gesichtspunkten. Das wird nicht nach 2000 geschehen, sondern das wird möglichst bald geschehen.Das Schnellbahnprojekt Paris—Brüssel—Köln bzw. Amsterdam mit Anschluß vor allem an den Kanaltunnel nach England ist der Grundstein für ein europäisches Schnellverkehrsnetz. Wir müssen einfach über den Tellerrand kleinlicher Lösungen hinaus sehen. Wir müssen unser krämerhaftes Verhalten aufgeben, wenn wir eine Bahn der Zukunft und damit eine Zukunft für unsere Bahn haben wollen.Ein vereinigtes Europa, ein gemeinsamer Markt erfordern ein gemeinsames Verkehrswegekonzept. Hierzu gehört neben Straßen, Wasserstraßen und Flugverkehr auch ein neues und in sich geschlossenes Schienenschnellverkehrsnetz. Hinzu kommt die überaus große Bedeutung — das möchte ich ganz besonders betonen — für Nordrhein-Westfalen, speziell auch für die Wirtschaftsregion Aachen, mit seinen gewaltigen wirtschaftlichen Strukturproblemen. Wir alle haben noch sehr gut die Aktuelle Stunde von gestern in Erinnerung, als es um den Stahlstandort Rheinhausen ging.Die Fraktion DIE GRÜNEN beschränkt sich bei ihren Vorschlägen für die Strecke Paris—Köln auf Verbesserungen der bestehenden Verbindungen, auf Fahrplanverbesserungen bei weitgehender Erhaltung der gegenwärtigen Infrastruktur unter Verzicht auf eine neue Fahrzeugtechnologie. Ich wiederhole: Wir können neue Märkte, neue Kunden nur mit einer modernen, mit einer schnellen Bahn gewinnen, die einen mit dem Auto vergleichbaren Komfort bietet. Deshalb halten wir an dem Konzept einer Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsverbindung Paris—Brüssel—Köln bzw. Amsterdam fest.Bahn der Zukunft, Umweltschutz, Probleme Nordrhein-Westfalens, Zukunft Europas — unter diesen
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3754 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988
BauerGesichtspunkten werden wir den Antrag der GRÜNEN im Ausschuß behandeln.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Haar.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dem Ausbau des Schienenschnellverkehrs in Europa kommt eine herausragende Bedeutung zu. Bisher lag das Schwergewicht der Aktivitäten sowohl bei uns als auch bei den Nachbarbahnen auf nationalem Gebiet. Unsere französischen Nachbarn sind zur Zeit dabei, eine zweite Strecke zu bauen. Auch bei uns kommt der Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecken Mannheim—Stuttgart und Hannover—Würzburg zügig voran. Wenn alle Bauarbeiten abgeschlossen und die neu entwickelten ICE-Fahrzeuge beschafft sind, wird auch bei uns der entscheidende Durchbruch zum Schienenschnellverkehr erreicht werden können. Es kommt darauf an, international die Weichen zu stellen. Die einzelnen nationalen Hochgeschwindigkeitsstrecken müssen zu einem zusammenhängenden Ganzen verknüpft werden.
Mit der Entscheidung Englands und Frankreichs, die Schienennetze beider Länder durch einen Kanaltunnel miteinander zu verbinden, ist ein ganz gewichtiger Schritt getan. Frankreich wird außerdem eine Schnellverbindung zwischen Paris und dem Kanaltunnel bauen. Ein Anschluß Brüssels an diese Strecke ist so gut wie sicher.
Wir dürfen den Anschluß an diese Entwicklung nicht verpassen. Mit kleinen, kurzfristigen Maßnahmen, wie sie in dem vorliegenden Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN gefordert werden, ist das allerdings nicht zu erreichen, obwohl wir uns in der Position einig sind, daß es nicht nur Fernverbindungen sein dürfen, die weit in die Zukunft hinein bedacht und strukturell geplant werden müssen.
Notwendig ist eine durchgehende Schnellbahnverbindung von Paris bzw. London über Brüssel nach Köln, die durchgehend Geschwindigkeiten von 200 bis 300 km/h erlaubt. Nur so können die erforderlichen Fahrzeitverringerungen erreicht und die Einbeziehung der deutschen Waggonindustrie in die internationale Fahrzeugentwicklung auch für die Zukunft gewährleistet werden.
Auch unter strukturpolitischen Gesichtspunkten kommt der Schnellbahnverbindung Paris—BrüsselKöln eine ganz wichtige Bedeutung zu. Reisezeiten von zweieinhalb Stunden zwischen Köln und Paris sowie von etwa einer Stunde zwischen Köln und Brüssel erhöhen die Standortgunst der Städte an Rhein und Ruhr in entscheidendem Maße. Das gilt besonders für Neuansiedlungen in den Bereichen Handel und Dienstleistungen. Der Landtag Nordrhein-Westfalen hat in einem von allen Fraktionen einstimmig angenommenen Antrag mit Nachdruck darauf hingewiesen.
Angesichts der großen Probleme, vor denen der Ballungsraum Rhein/Ruhr steht, muß die Chance zur Aufwertung der Standortqualität, die der Schnellbahnanschluß an drei wichtige europäische Metropolen bietet, auf jeden Fall wahrgenommen werden.
Wichtige Impulse zur Bewältigung des notwendigen Strukturwandels dieses Raums würden damit gegeben.
Wir Sozialdemokraten begrüßen, daß angesichts der nachgewiesenen Rentabilität des Vorhabens notwendige und richtige Vorentscheidungen bereits eingeleitet und getroffen worden sind. Ich finde, weitere konkrete Schritte der Bundesregierung sind dabei unabdingbar. Wir alle wissen, daß die Finanzierung insbesondere des Abschnitts Lüttich—Aachen Schwierigkeiten bereitet. Die Bahnen selbst können das Problem nicht lösen, und man darf es — ein entsprechender Versuch ist gemacht worden — auch nicht auf sie verlagern. Diese Frage muß politisch entschieden und auf Regierungsebene geklärt werden.
Viel Zeit dazu bleibt nicht, da zunehmend auch Fakten geschaffen werden. Zögerliches Handeln auf unserer Seite erhöht die Gefahr, von wichtigen Entwicklungen abgekoppelt zu werden.
Bei der Beratung des vorliegenden Antrages im Ausschuß sollten wir diese Aspekte mit berücksichtigen. In einem gemeinsam zu formulierenden Entschließungsantrag, denke ich, sollten wir über die Fraktionsgrenzen hinweg gerade in dieser ganz wichtigen internationalen Frage der Bahnentwicklung zu gemeinsamen Positionen kommen können.
Oft wird eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Strecke Paris—Brüssel—Köln und der zur Zeit ebenfalls untersuchten Strecke Paris—SaarbrückenMannheim konstruiert. Das ist falsch, und das wäre auch schädlich.
Beide Vorhaben sind notwendig und haben unverzichtbare regionale Vorteile. Deswegen liegt mir daran festzustellen: Lediglich in zeitlicher Hinsicht besteht — bedingt durch die bereits gefallenen Vorentscheidungen — ein Unterschied zwischen beiden Vorhaben. Die Entscheidung über die Strecke LilleBrüssel—Köln sollte jetzt fallen. Geschieht das nicht, droht ein Abkoppeln der Bundesrepublik von wichtigen Entwicklungen. Die Entscheidung über die Strecke Pari s—Saarbrücken—Mannheim kann erst fallen, wenn die zur Zeit laufenden Untersuchungen abgeschlossen sind. Sobald das der Fall ist, werden wir Sozialdemokraten die notwendigen Initiativen zur Unterstützung dieser Verbindung ergreifen. Es ist deshalb gerechtfertigt, über beide Projekte getrennt zu entscheiden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Liberalen wollen Europa. Deshalb sagen wir ja zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes bis 1992. Die Turbulenzen an
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1988 3755
Kohnden internationalen Devisenmärkten und an den Börsen in den letzten Wochen
haben deutlich gemacht: Die europäischen Volkswirtschaften brauchen einen wirklich gemeinsamen Markt der 320 Millionen EG-Bürger. Eine wichtige Verkehrsinfrastrukturmaßnahme für diesen Binnenmarkt ist der Aufbau eines europäischen Schienenhochgeschwindigkeitsnetzes. Aus ökonomischen und aus ökologischen Gründen ist ein attraktives und leistungsfähiges europäisches Schnellbahnsystem unverzichtbar.Ich begrüße deshalb für meine Fraktion ausdrücklich, daß der Bundeskanzler und Außenminister Genscher beim 50. deutsch-französischen Gipfel im November des vergangenen Jahres ihren Willen zur Schaffung eines solchen Schnellbahnsystems noch einmal bekundet haben.Die beiden wesentlichen Elemente dieses europäischen Schnellbahnsystems sind aus unserer Sicht die Strecken Paris—Brüssel—Köln und Paris—SaarbrückenMannheim.Zunächst geht es darum, die Strecke Paris—BrüsselKöln zu verwirklichen. Dies ist im Zusammenhang mit der Untertunnelung des Ärmelkanals zu sehen sowie — darauf legen gerade wir Liberale besonderen Wert — mit der Perspektive einer Schnellbahn nach Norddeutschland und nach Berlin, vielleicht sogar mit der Weiterführung nach Osteuropa. Meine Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen haben diese große Chance insbesondere für die wirtschaftliche Entwicklung des Ballungsraumes Rhein/Ruhr zu ihrer Sache gemacht und arbeiten mit Nachdruck daran. Eile ist aber auch geboten, wenn ich an die Vereinbarungen zwischen den anderen beteiligten Eisenbahngesellschaften denke. Kollege Haar hat dies soeben ausdrücklich angesprochen.Von hervorragender Bedeutung ist sodann die Strecke Paris—Saarbrücken—Mannheim, die eine ideale Verknüpfung mit dem IC-Netz der Deutschen Bundesbahn bringt. Die Stichworte dazu: Rheintal, Frankfurt, Stuttgart. Auch hier sind die Liberalen imSaarland, in Rheinland-Pfalz, in Hessen und in BadenWürttemberg mit großem Engagement dabei, die Voraussetzungen für eine baldige Inangriffnahme dieses Projekts zu schaffen.Um diese großen Aufgaben anzupacken, müssen jetzt in der Zeit der deutschen Präsidentschaft in der EG die Weichen gestellt werden. Ich fordere deshalb die Bundesregierung und die Deutsche Bundesbahn auf, in diesem Frühjahr Zeichen zu setzen. Insbesondere wird es darauf ankommen, daß die europäischen Bahnen zu einer stärkeren Kooperation kommen.Die Fraktion DIE GRÜNEN hat mit ihrem nörgelnden Antrag zur Strecke Paris—Brüssel—Köln zu erkennen gegeben,
daß Sie mit der Dampflok zurück ins 19. Jahrhundert wollen.
Ich wünsche Ihnen dabei eine gute Reise.Wir Liberalen jedenfalls wollen mit modernen, attraktiven Hochgeschwindigkeitszügen ins Jahr 2000 aufbrechen. Stärken wir die europäischen Bahnen! Schaffen wir Europa!
Damit schließe ich die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag an den Ausschuß für Verkehr als federführenden Ausschuß und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Es ist so beschlossen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Januar 1988, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.