Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Aussprache über den einzigen Punkt der Tagesordnung fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988
— Drucksache 11/700 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1987 bis 1991
— Drucksache 11/701 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
Die erste Wortmeldung kommt von dem Abgeordneten Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben den Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zu beraten, den Haushalt und die Politik des Ministers, der die politische Verantwortung für den desolaten Zustand des Arbeitsmarktes, für die noch weiter wachsende Massenarbeitslosigkeit und für eine große Zahl gesellschaftlicher Probleme in der Bundesrepublik Deutschland hat. Aber, meine Damen und Herren, auch fünf Jahre nach dem Amtsantritt dieses Ministers sehen wir keine Vorschläge der Bundesregierung zur Lösung der vielfältigen Probleme: keine Vorschläge zur Bekämpfung der ungebrochenen Arbeitslosigkeit,
keine Perspektiven dieser Regierung für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes, keine Vorschläge zur Stabilisierung und Entlastung der Finanzen von Ländern und Gemeinden, damit sie ihren Beitrag zur Sicherung und zur Ausweitung der Beschäftigung leisten können.Wir sehen keine Vorschläge zur Bekämpfung der Neuen Armut, zur Senkung der Sozialhilfekosten, die auf allen Städten und Gemeinden lasten.Der Haushaltsentwurf des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung hätte uns in den Stand setzen müssen, über konkrete Pläne für die Arbeitnehmer bei Kohle, Stahl und Werften zu diskutieren. Wir müßten über die Vorschläge der Bundesregierung reden, wie die Rentenversicherung und die Krankenversicherung langfristig auf gesunde Füße gestellt werden können. Wir müßten über einen zeitgemäßen Entwurf für ein Arbeitszeitgesetz reden, mit dem die 1,5 Milliarden Überstunden auf ein vernünftiges Maß reduziert werden könnten, um Arbeitsplätze zu schaffen.Wir müßten über einen brauchbaren Entwurf zum Betriebsverfassungsgesetz reden, mit dem aus den Jugendvertretungen Ausbildungs- und Jugendvertretungen werden und der für die Arbeitnehmer die Mitbestimmung bei Einführung und Anwendung neuer Techniken regelt.Wir müßten darüber reden, meine Damen und Her' ren, wie wir die breite und international geachtete Qualifikation der Arbeitnehmer für die 90er Jahre sichern — ein Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg in der Zukunft.Über all das müßten wir hier diskutieren können.
Wir hätten dann die Vorschläge der Regierung an unseren Gesetzentwürfen und Vorschlägen messen können.
Aber auf all diesen Feldern hat die Bundesregierung nichts, buchstäblich nichts anzubieten.
Wir registrieren absolute Fehlanzeige. Die Methode Kohl ist im Arbeitsministerium eingezogen. Lauter Reden, keine Taten, ausklammern, aussitzen, wegtauchen, tarnen und täuschen, das ist die Methode.
Meine Damen und Herren, ich will hier nicht die Bewertung von Herrn Strauß für diese Art von Politik heranziehen.
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1668 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
DreßlerDas überlassen wir, Herr Kohl, dem koalitionsinternen Gärungsprozeß. Was Sie sich fast täglich gegenseitig an den Kopf werfen, reicht unter zivilisierten Menschen längst für Beleidigungsklagen.
Ich will nur die Bewertung einer Zeitung zitieren, einer Zeitung, die sich in der Vergangenheit sehr bemüht hat, die Politik der Regierung Kohl schreibend zu unterstützen. Im „Handelsblatt" vom 26. August dieses Jahres konnten wir lesen:Die großen Linien der Politik verlieren sich wie eine Spur im wuchernden Unterholz, die kleinen Schlauheiten erweisen sich, wie die nicht enden wollenden Spekulationen über die ungelöste Finanzierung der Steuerreform zeigen, letztlich doch als Dummheiten. Vor allem aber bleibt das alltägliche Regierungshandeln hinter den selbstgeschaffenen Erwartungen zurück.Soweit das Zitat. — So ist es tatsächlich auch in diesem Haushalt. In der hier ausgebreiteten Politik wird nichts, gar nichts deutlich, keine Vorstellung davon, wie die soziale Ordnung dieses Landes zum Nutzen aller Bürgerinnen und Bürger morgen oder übermorgen aussehen soll, kein Mut zur Wahrhaftigkeit.Herr Blüm, Sie rufen zur Solidarität mit den Bergarbeitern auf. Aber den Kern Ihrer Energiepolitik enthüllen Sie vor ihnen nicht. Sie setzen nämlich längst nicht mehr auf die Kohle, sondern auf einen anderen Energieträger, die Kernenergie, und damit werden die Arbeitsplätze der Bergarbeiter und jene in den vor- und nachgelagerten Betrieben geopfert. Herr Blüm, das kann man wollen, aber dann sagen Sie es auch, und streuen Sie den Menschen nicht Sand in die Augen!
Herr Blüm, Sie nutzen die Sommerpause, um in Brasilien einen quasi-automatischen Abbau der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik vorzutäuschen — sehr geschmackvoll. Ich rufe Ihnen ins Gedächtnis, Herr Blüm, was der Präsident des Instituts der deutschen Wirtschaft, Dr. Manfred Lennings, in Ihrer Gegenwart vor einigen Monaten in Berlin gesagt hat:Rein rechnerisch ist es richtig, daß die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahre 2000 deutlich zurückgeht. Den Garantieschein für den angestrebten hohen Beschäftigungsstand haben wir aber damit noch längst nicht in der Hand. Meine große Sorge— sagt Lennings —gilt der Sorglosigkeit, zu der uns die längerfristigen Prognosen des Erwerbspotentials verleiten könnten.
Diese Sorglosigkeit nennen Sie, Herr Blüm, Beschäftigungspolitik. Wo bleibt Ihr Widerstand, der Widerstand des Ministers für Arbeit und Sozialordnung, angesichts der arbeitsmarktpolitisch und sozialpolitisch absurden Steuerüberlegungen der Regierung, deren Mitglied Sie sind? Nach Ihren Steuerplänen werden Länder und Gemeinden um Milliarden gebracht, Milliarden, die in den Auftragsbüchern Tausender kleiner und mittlerer Unternehmen fehlen werden. Danach wird jede einzelne Mark auch auf den Konten von Arbeitnehmerfamilien fehlen, die um ihren Arbeitsplatz gebracht wurden. Der Arbeitsmarkt, meine Damen und Herren von der Koalition, ist etwas anderes als der Markt für Autos oder Waschmaschinen. Auf dem Arbeitsmarkt geht es nämlich um Menschen, und das muß in den Regeln des Arbeitsmarktes erkennbar sein.
Warum sagen Sie den Durchschnittsverdienern nicht, daß sie gemeinsam mit Rentnern und Arbeitslosen die Steuerreform finanzieren sollen?
Lassen Sie sich einmal von den Bankangestellten in den Anlageabteilungen erzählen, wohin die Milliarden der sogenannten Steuerreform fließen werden, die Sie an Einkommensgruppen verteilen wollen, die schon heute eine Sparquote von 20 % und mehr haben?
— Das Geld, Herr Kolb, wird weder in beschäftigungswirksame Konsumnachfrage noch in Investitionskapital gehen. Nein, Sie finanzieren mit Ihrer glorreichen Steuerreform US-amerikanische Schuldverschreibungen. Und dafür wollen Sie mit Herrn Stoltenberg Schulden machen!
Die gleichen Leute, die uns verurteilten, als wir Geld für Zukunftsinvestitionen und Arbeitsplätze ausgegeben haben, als wir den Bodensee saniert und Arbeitsplätze geschaffen haben,
die gleichen Leute wollen heute Schulden machen, um ein paar reichen Nachbarn noch einen auszugeben.
Wo war das Veto des Arbeitsministers, als Herr Stoltenberg wieder einmal eine Milliarde aus der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit brauchte, als das Kindererziehungs-Leistungsgesetz irgendwie finanziert werden mußte?Inzwischen wird selbst die Sprachförderung für Aussiedler und Flüchtlinge auf die Kassen der Arbeitslosenversicherung abgeschoben. Es ist interessant, was die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände dazu sagt. Ich zitiere:Auf dem finanzpolitischen Rangierbahnhof haben Rangiermeister und Gleisbauer derzeit Hochbetrieb. Ständig werden neue Finanzzüge zusammengestellt und Notweichen eingebaut. Dabei hatte noch vor nicht allzu langer Zeit der damals neue Fahrdienstleiter Blüm verkündet,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1669
Dreßlerder Verschiebebahnhof werde ordnungspolitisch sauber stillgelegt, Zug und Zug, Gleis um Gleis. Doch inzwischen braucht man wieder Sonderzüge, um die Kohle — sprich: Geld — aus Nürnberg heranzuschaffen.Soweit die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände.
Mit solider Politik, Herr Günther, hat das im Sinne des Wortes nichts zu tun.
Der Haushalt des Bundesarbeitsministers ist der finanzpolitische Verschiebebahnhof des Herrn Stoltenberg, und das seit nunmehr fünf Jahren.
Meine Damen und Herren, Sozialpolitik soll eine gestaltende, eine nach vorne führende Politik sein. Sozialpolitik im Wortsinn ist Gesellschaftspolitik. Das ist weitaus mehr als eine staatlich organisierte Armenfürsorge. Wir haben das Sozialstaatsgebot in unserer Verfassung. Wir leben in einem reichen Land, in dem es den meisten Menschen gut geht. So soll es auch bleiben.
Deshalb gehört zu den Aufgaben der Politik mehr, als materielles Elend zu verhindern. Die Aufgabe der Politik ist es, dafür zu sorgen, daß die Menschen aus eigener Kraft in der Lage sind, für ihre Existenz zu sorgen. Sie müssen aus eigener Kraft ihre Rechte und Interessen vertreten können. Aber genau dafür sorgt diese Regierung nicht. Weder vom Haushalt des Bundesarbeitsministers noch vom gesamten Haushalt geht irgendein Impuls aus, um wenigstens einen Teil der fehlenden rund drei Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Sie verwalten die Arbeitslosigkeit, manipulieren ein wenig an der Statistik, und das war es dann auch.
Für die eigene Existenz sorgen, das heißt für fast 90 % der Menschen einen Arbeitsplatz als Arbeitnehmer haben. Für sie heißt die Vertretung der eigenen Interessen und der eigenen Rechte, daß sie auf ein modernes, zeitgerechtes Arbeitsrecht angewiesen sind. Das heißt, der auf Dauer angelegte Arbeitsplatz muß der Normalfall sein. Befristete Arbeit muß auf begründete Ausnahmen beschränkt sein.
Die Erfahrungen mit Ihrem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz
sind eindeutig. Das war ein Fehlschlag.
Aus Zehntausenden Dauerarbeitsplätzen wurde befristete Arbeit. Zusätzliche Arbeitsplätze entstandennicht. Nehmen Sie das Gesetz zurück, Herr Blüm. Damit tun Sie Gutes, und es kostet nicht einmal Geld.
Weil wir gerade beim Zurücknehmen sind: Ihren Entwurf für ein Arbeitszeitgesetz können Sie auch gleich mit zurücknehmen. Sechzigstundenwochen gehören nun wirklich nicht an das Ende der 80er Jahre. Herr Blüm, wir brauchen nicht mehr Überstunden, wir brauchen mehr Arbeitsplätze in der Bundesrepublik.
Bisher waren Sie nicht in der Lage, unsere Anfrage zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung zu beantworten. Der von Ihnen ins Sommerloch geworfene Sozialversicherungsausweis macht deutlich, daß Sie das ganze Problem wie fast alles von hinten aufzäumen. Sie machen sich im Zweifelsfall, Herr Blüm, über den arbeitslosen Bauarbeiter her, der genötigt wird, sich auf illegale Arbeit einzulassen.
Aber gegen die Verursacher, gegen die kriminellen Organisationen der illegalen Leiharbeit tun Sie nichts.
Wir sagen Ihnen: Wer illegale Beschäftigung bekämpfen will, der muß gegen die illegalen Verleiher und ihre legalen Auftraggeber vorgehen.
Ich wiederhole: Wenn Sozialversicherungsausweise, dann fälschungssicher, arbeitgeberbezogen, Herr Kolb, damit auch sie kontrolliert werden,
und datenrechtlich abgesichert.
Aber immer auf die Kleinen, das ist Ihre Methode. Ihnen kam es offensichtlich einmal mehr auf Schlagzeilen an, aber nicht auf Gestaltung. Gegen den kleinen Schwarzarbeiter vorgehen, das schaffen Sie. Aber das Übel an der Wurzel packen, bei den Auftraggebern ansetzen, dazu fehlt Ihnen der Mut, und da fehlt Ihnen die Durchsetzungskraft.
Herr Blüm, das ist wie mit Ihren Reiseplänen. Über eine Südafrikareise reden, das können Sie. Aber eine anständige Südafrikapolitik in Ihrer famosen Koalition durchsetzen, das schaffen Sie nicht.
Herr Blüm, das ist der Anspruch zwischen draußen und drinnen.Wer oder was hindert Sie eigentlich, die sogenannte 430-DM-Grenze endlich abzuschaffen? Bereits 1981 hat die CDU/CSU über ihre Bundesratsmehrheit eine Gesetzesinitiative der sozialliberalen Koalition verhindert. Herr Blüm, sagen Sie endlich laut, was Ihnen an diesem sozialpolitischen Skandal so erhaltenswert erscheint. Denn, meine Damen und Herren, im Westdeutschen Rundfunk hat Herr Blüm die sogenannte
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1670 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
DreßlerGeringfügigkeitsgrenze — wörtliches Zitat — „eine Quelle von Armut" genannt. Und im Parlament, Herr Blüm? Fehlanzeige! Wieder die Methode: wegtauchen, tarnen und täuschen. Immer wieder die gleiche Methode!Für uns steht fest: Wir sind für ein Arbeitsrecht, das zu einer modernen Gesellschaft und selbstbewußten Arbeitnehmern paßt, aber, Herr Blüm, wir sind gegen ein Arbeitsrecht, dem die Knochen gebrochen werden, das auf dem Rücken von Arbeitern, Angestellten und Beamten den gesellschaftlichen Fortschritt um Jahrzehnte zurückwirft.Wir haben eine sehr konkrete Vorstellung davon, welche Funktionen die großen sozialen Sicherungssysteme haben. Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung schaffen für viele erst die Voraussetzungen, um frei und selbstbestimmt leben zu können. Eine wirklich freie demokratische Gesellschaft mit unabhängigen, selbstbewußten Bürgerinnen und Bürgern ist deshalb auf ein funktionierendes System sozialer Sicherung angewiesen.Mit uns wird es keinen Schritt zur Aushöhlung und Schwächung der großen sozialen Sicherungssysteme geben. Meine Damen und Herren, wer sich einmal vor Augen führt, was es für das eigene Lebensgefühl bedeuten würde, wenn man sich nicht mehr darauf verlassen kann, z. B. im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit eine vernünftige Rente zu bekommen, der wird verstehen, warum wir an dieser Stelle unerbittlich sind. Herr Kolb, solche Methoden sind mit uns nicht zu machen.
— Also, es ist wirklich tragisch: Da fragt dieser CDU-Abgeordnete: Welche Methoden? Herr Günther, gehen Sie doch mal in die Betriebe, wo Hunderte von Teilzeitbeschäftigten befristet beschäftigt sind, wo keine Perspektive mehr besteht, wo sie nach 18 Monaten aufhört, bevor Sie hier solche Zwischenrufe machen. Sehen Sie sich draußen einmal um, was Sie mit diesem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz angerichtet haben.
Meine Damen und Herren, wir haben — im Gegensatz zur Bundesregierung — schon in der vergangenen Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Rentenversicherung vorgelegt. Dessen Elemente sind vom Verband der Rentenversicherer nun weitgehend bestätigt worden. Herr Blüm, nehmen Sie also das Gutachten und unseren Gesetzentwurf, und dann setzen Sie sich endlich hin und fangen an zu arbeiten. Ihnen läuft die Zeit davon und mit ihr das Vertrauen der Versicherten in unser Rentenversicherungssystem, in den Generationenvertrag.Hinsetzen und arbeiten: Das gilt auch für die Reform der Krankenversicherung.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat gegen den Widerstand von CDU/CSU und FDP eine Enquete-Kommission zur Krankenversicherung durchgesetzt,
um ein weiteres Angebot der Sozialdemokraten für eine ungelöste Reform im Gesundheitswesen zu machen und dafür eine breite parlamentarische Grundlage zu schaffen. Erste Eindrücke aus der Enquete-Kommission signalisieren, daß die Regierungsparteien diese Bemühungen ins Leere laufen lassen wollen, daß CDU/CSU und FDP die Absicht haben, eine breite parlamentarische Grundlage zu schaffen und daß sie hier die Arbeit der Parlamentskommission und damit die Vorbereitung einer Reform durch das Parlament nicht ernst nehmen.Die Bundesregierung hat keinerlei Reformkonzept. Sachverständige Hilfsangebote des Parlaments nehmen nicht einmal Koalitionsabgeordnete ernst. Dazu schreibt das — auch für Sie — nun wirklich unverdächtige Monatsmagazin „Capital" folgendes:In der Führung des Bonner Arbeitsministeriums läuft wenig zusammen. Norbert Blüm fehlen Zeit und Interesse für die Administration. Seine beamteten Staatssekretäre, die ihm diese Aufgabe abnehmen sollen, sind damit überfordert. Folge: Der Informations- und Ideenfluß zwischen Zentrale und Fachabteilung ist gestört.Herr Blüm, die notwendigen Konzeptionen zur Lösung der großen sozialpolitischen Probleme verlangen von Ihnen hier endlich auch Leistung.
Herr Blüm, ich erlaube mir an dieser Stelle einen ernstgemeinten Rat: Vielleicht versuchen Sie es einmal weniger mit Interviews, in denen Sie sowieso nur heiße Luft produzieren, und setzen sich schlicht an Ihren Schreibtisch und fangen endlich einmal richtig an zu arbeiten.
Meine Damen und Herren, es ist nicht zu bestreiten: In Zeiten wie diesen Sozialpolitik zu machen ist sicherlich nicht einfach. Eine Gesellschaft im Wandel, nicht zuletzt im demographischen Wandel, eine schwache Konjunktur, eine schlechte Beschäftigungslage, in den letzten fünf Jahren geplünderte öffentliche Kassen, all das macht es sicherlich nicht leicht.Wer sich aber zum Minister für Arbeit und Sozialordnung ernennen läßt, darf sich nicht vor seinen Aufgaben drücken. Sozialpolitik ist Politik für Menschen. Sozialpolitik muß die Grundlage für das Vertrauen der Menschen in den sozialen und demokratischen Rechtsstaat sichern.Einerseits haben wir Sozialdemokraten unsere konkreten Gesetzesinitiativen vorgelegt, andererseits haben wir unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit mehrfach ausdrücklich angeboten. Der Arbeits- und Sozialminister ist aktiv auf Pressekonferenzen. Seine Ergebnisse bestehen aus Schlagzeilen. Für die Pro-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1671
Dreßlerblemlagen des Arbeitsmarktes und der Sozialpolitik ist das zu wenig. Leistung ist gefragt, Kreativität in der Gestaltung von Lösungen, keine Verwaltung, keine Reparatur, nicht das Aussitzen der schwierigen Aufgaben. Die Antworten verlangen konzeptionelle Arbeit, kein Stückwerk.
Ich hoffe, Sie sind jetzt noch genauso aufmerksam. Wir haben nämlich unsere Schularbeiten gemacht, meine Damen und Herren von der Koalition,
für jedermann einsehbar. Aber dann müssen Sie natürlich aus Ihren Löchern, aus Ihren Bunkern herauskommen. Auch für Sie liegen unsere Vorschläge vor.Ich nenne Ihnen jetzt nur einige wichtige Konzeptionen und Reformvorhaben: unser Rentenreformkonzept, vor drei Jahren von Ihnen belächelt, mittlerweile mit den Vorstellungen der Rentenversicherungsträger bis über 70 % deckungsgleich — warum haben Sie nicht schon vor drei Jahren angefangen, sich damit konstruktiv auseinanderzusetzen? — , unsere Konzeption eines modernen, in die Zeit passenden Arbeitszeitgesetzes, unsere Antragskonzeption zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung, unser Zukunftsinvestitionskonzept Arbeit und Umwelt, ein modernes Betriebsverfassungsgesetz, eine zeitgemäße Jugend- und Auszubildendenvertretung, die Einbindung der Teilzeitarbeit in den großen Rahmen des Arbeitsrechts,
die Beendigung der Teilzeitarbeit als Beschäftigung zweiter Klasse, die Aufhebung unterschiedlicher Kündigungsfristen zwischen Arbeitern und Angestellten, um nur einige zu nennen.
Überall da, Herr Seiters, ist bei Ihnen Fehlanzeige. Wegtauchen ist die Methode.Meine Damen und Herren, die soziale Ordnung der Bundesrepublik, gewachsen in mehr als 30 Jahren, ist eine der entscheidenden Errungenschaften dieser Republik. Der Sozialpolitik ist die Aufgabe gestellt, sich fortzuentwickeln, einer sich ständig ändernden Welt anzupassen. Unsere soziale Ordnung muß verteidigt werden, verteidigt werden gegen kurzsichtigen Egoismus.
Sie muß verteidigt werden gegen gesellschaftliche Kräfte, die den Wert eines entwickelten Sozialstaates nie begriffen haben. Ihr Zwischenruf, Herr Kolb, deutet darauf hin, daß Sie das wohl auch nicht begriffen haben.
Wenn der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung zum Spielball unterschiedlicher Interessengruppen in seiner Koalition wird, wenn die tägliche Schlagzeile für ihn wichtiger wird als die Arbeit am Detail, dann ist nach Auffassung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion Gefahr im Verzuge, und zwar Gefahr für die, die auf einen funktionierenden Sozialstaat angewiesen sind. Dann wird nämlich Vertrauen in diese gesellschaftliche Ordnung zerstört.Deshalb müssen wir den Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung in den kommenden Ausschußberatungen grundlegend umgestalten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Fuchtel.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Nach dieser Vorrede möchte ich zunächst feststellen: Diese Regierung hat es in der Vergangenheit erheblich besser verstanden, mit den schwierigen Problemen der Sozialpolitik fertig zu werden, als alle Chefskeptiker von A wie Apel bis V wie Vogel hier prognostiziert haben.
Diese Erfahrung zeigt dem Bürger, mit welchen Horrorgemälden Sie hier vorgehen. Für uns ergibt sich darauf Zuversicht für die künftige Arbeit.Das von der Koalition vereinbarte Sozialprogramm wird Schritt für Schritt umgesetzt. Zusagen vor der Wahl wurden umgehend eingehalten: die Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose, die rentenrechtliche Anerkennung von Erziehungsleistungen älterer Frauen, die erste Stufe der Sicherung der Montan-Mitbestimmung, das Soldatenversorgungsgesetz und die Anpassung der Renten- und Kriegsopferversorgung. Alles in wenigen Wochen. Die Sozialpolitik befindet sich völlig im Zeitplan der Koalitionsvereinbarungen. Dafür gebührt vor allem Norbert Blüm unser herzlicher Dank.
Von der SPD wurde uns in den letzten Tagen immer wieder der Vorwurf einer zu hohen Verschuldung gemacht. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, hätten wir bereits für Ihre Forderungen in der jetzigen Legislaturperiode im Rahmen der eben genannten Gesetzgebungsverfahren viele Milliarden DM mehr aufbringen müssen, allein für Ihre Alternative zur 7. Novelle des AFG über 4,5 Milliarden DM mehr.
Sie kommen mir wie jemand vor, der in einen Supermarkt geht, um einzukaufen, und der überhaupt nicht weiß, daß er nicht genug Geld dabei hat.
So kann man keine Sozialpolitik machen. Es müssen Prioritäten gesetzt werden.So werden wir die grundlegenden Fragen des Gesundheitswesens und der Rentenversicherung noch in diesem Herbst mit zwei Zielsetzungen angehen:
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1672 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
FuchtelErstens. Die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme bei veränderter demographischer Entwicklung muß über dieses Jahrhundert hinweg für die nächste Generation gesichert werden.Zweitens. Die Lohnnebenkosten müssen begrenzt werden.Der Sozialhaushalt bietet dafür eine gute Grundlage. 39,5 Milliarden DM sind im Entwurf des Bundeshaushaltes 1988 für die Sozialversicherung vorgesehen. Dies ist mehr als jemals zuvor.Ich kann, nachdem Sie vorhin so giftig angefangen haben, nicht auf einen Rückblick verzichten. Wie war es denn z. B. bei der Rente? Die Rentenanpassung wurde von 1978 auf 1979 verschoben,
dann wurden die Rentenanpassungssätze 1979, 1980 und 1981 um insgesamt 12,2 % gekürzt. Dies gibt es in unserer Politik nicht.
Wenn wir schon über Kindererziehungszeiten reden: Wie war es da eigentlich? Sie haben nur geredet, nie gehandelt. Die benötigten 1,9 Milliarden DM für das Jahr 1988 stehen bei uns ganz solide im Sozialhaushalt.
Die SPD hat in dieser Debatte moniert, daß in der mittelfristigen Finanzplanung keine Mittel für die Anhebung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung eingestellt worden seien. Zweifellos wird dies auf uns zukommen. Wenn die Ergebnisse der Verhandlungen vorliegen, wird auch gehandelt. Sie aber nehmen den Kaffee bereits am Abend und kochen ihn für den nächsten Tag. Man erledigt Dinge immer dann, wenn es Zeit dafür ist.Ein Wort zur Kriegsopferversorgung: Unrichtig ist, wenn behauptet wird, es sei nichts geschehen. Richtig ist, daß es weitergehende Forderungen seitens der Verbände gibt, die noch nicht erfüllt werden konnten. Die Kriegsopferversorgung gehört zu den Aufgabenbereichen, die noch in dieser Legislaturperiode angegangen werden. Auf jeden Fall ist aber ab 1. Juli 1988 wiederum mit einer Erhöhung der Renten- und Kriegsopferleistungen entsprechend der Lohnentwicklung zu rechnen.Bei den Renten ist der gesetzliche Höchststand des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages erreicht. Die nächste Anpassung erfolgt also an der Bruttolohnentwicklung, dies bei Preisstabilität. Das heißt: Das Nettoeinkommen für die Rentner wird abermals steigen. Das ist solide Sozialpolitik.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist nach wie vor die größte sozialpolitische Herausforderung. Die Probleme des Arbeitsmarktes lösen wir nicht mit neuen bürokratiegeschwängerten Beschäftigungsprogrammen. Unser Konzept wurde in den letzten Tagen immer wieder vorgestellt. Wenn unsere Politik so schlecht wäre, wie Sie sie hier machen, dann dürfte es keine 650 000 zusätzlichen Arbeitsplätze geben. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Verlorene Arbeitsplätze sind hier schon abgezogen; die Leistungsbilanz weist ein Plus von 650 000 Arbeitsplätzen und nicht ein Minus wie in früheren Zeiten aus.
Die Arbeitsmarktpolitik muß mit außergewöhnlichen Zuwächsen an Erwerbspersonen fertig werden. Es sind nicht nur die starken Jugendjahrgänge. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß von den Neuanmeldungen nicht weniger als über 31 % Personen ohne vorherige Erwerbstätigkeit waren. Da sind auch Auswirkungen einer stärkeren Erwerbstätigkeit der Frauen zu spüren. Die Zahlen steigen und zeigen: Unsere Politik der Wahlfreiheit für die Frau wird wirksam und wirksamer, und dies schafft natürlich auch zusätzliche Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Aber wir nehmen dies in Kauf, weil wir davon überzeugt sind, daß wir die Wahlfreiheit der Frau in der heutigen Zeit verwirklichen müssen, und wir nehmen auch Ihre Kritik dafür in Kauf, daß dadurch die Arbeitslosenzahlen nicht so konsequent zurückgeführt werden können.Noch eine Differenzierung ist notwendig. Von den 2,164 Millionen Arbeitslosen im August waren 1,344 Millionen Leistungsempfänger; über 820 000 hatten überhaupt keinen Anspruch auf Leistungen. Nur ein sehr geringer Teil davon ist auf Sozialhilfe angewiesen. Arbeitslosmelden kann aber in bestimmten Fällen zur Erhaltung und zur Erhöhung von Rentenanwartschaften führen. Dies ist gerechtfertigt, solange eine tatsächliche Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme besteht. Wo dies nicht der Fall ist, ist es auch nicht gerechtfertigt, den Leistungskatalog des Arbeitsförderungsgesetzes in Anspruch zu nehmen. Noch in diesem Jahr werden wir deswegen dafür eine klärende Regelung schaffen. In dieser achten Novelle werden wir dann auch die mißbräuchliche Inanspruchnahme des Leistungskatalogs weiter verhindern. Wir werden Verwaltungsvereinfachungen vornehmen, und wir werden die Benachteiligtenprogramme des Bundes in die Zuständigkeit der Bundesanstalt übertragen.
Vorgestern wurde hier von Herrn Apel gesagt, daß wir bei der Bundesanstalt für Arbeit mit Defiziten zu rechnen hätten. Dazu möchte ich Ihnen zu bedenken geben: Es wäre schon gut, wenn Sie von der SPD auf diesem Gebiet etwas sensibler würden, sich an Ihre früheren Sünden erinnern würden. Das Minus betrug bei der Bundesanstalt für Arbeit im Jahr 1981 nicht weniger als 8,2 Milliarden DM; 1982 waren es rund 7 Milliarden DM. Jetzt haben wir einen Überschuß.
Wir haben die Kastanien aus dem Feuer geholt, und wir werden auch dafür sorgen, daß nichts wieder anbrennt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1673
FuchtelDie Arbeitsmarktpolitik ist ein Bestandteil einer Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Von großer Bedeutung ist das Verhalten der Tarifpartner selbst. Ich appelliere, die Möglichkeiten zur flexibleren Arbeitszeitgestaltung stärker zu nützen. Ich appelliere an alle Seiten: Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut; Autonomie verpflichtet aber auch die Vertragsparteien zu Abschlüssen, die tatsächlich zur Zunahme von Beschäftigungszahlen und dem Abbau der Arbeitslosigkeit führen. Maßhalten, das bewährte Rezept von Ludwig Erhard, ist heute so aktuell wie damals.Meine Damen und Herren, eine gute Wirtschaftspolitik ist Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik, die allerdings bezahlbar sein muß. Bei dem, was Sie uns vorher hier vorgegeben haben, Herr Dreßler, haben Sie ganz bewußt keine Zahlen genannt, weil Sie uns natürlich wie immer den Beweis schuldig bleiben, was die Dinge kosten, die Sie uns hier vortragen.
Auf einer Glatze kann man keine Locken wickeln. Das ist doch ganz einfach, und das müßten Sie genauso wissen wie wir.Meine Damen und Herren, es fehlt uns nicht an weiteren wichtigen Aufgaben. Ich nenne z. B. die Absicherung des Risikos der Pflege im Alter. Die aktuelle Situation verlangt eine Konzentration. Dies wird in diesem Haushalt geleistet.Die CDU/CSU ist daran interessiert, daß in diesen wichtigen Punkten dieser reformerischen Phase der Gesellschaftspolitik ein möglichst breiter Konsens erzielt wird. Voraussetzung ist allerdings, daß man aufhört, diese Neidparolen weiter zu benutzen, um Politik in unserem Land zu machen.
Neid schafft sozialen Unfrieden und
bringt die Leute auseinander. Wer ständig vom Frieden redet, der sollte dran denken, daß der Friede im Kleinen anfängt. Wer Frieden will, der sollte nicht den Neid anstacheln. Dies möchte ich Ihnen zum Schluß sagen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Sehr geehrter Herr Präsident! Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Nachdiesem Herrn hier reden zu müssen ist für mich eine Zumutung.
Ich rede gerne. Ich gehe auch von meinem Konzept ab.
Was Sie als Christen geleistet haben, das hat seinen Niederschlag in 350 Milliarden DM mehr an Ertrag der Wirtschaft gefunden aber nicht gleichzeitig eine Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit gebracht.
Sie haben es zu verantworten, daß Millionen Menschen in Not sind. Natürlich geht es zig Millionen gut und mehr als gut, nämlich denen mit einem Durchschnittslohn von 65 000 DM im Jahr. Das sind doch Wahnsinnsvorstellungen dies zu verallgemeinern. Ich weiß nicht, auf welcher Welt Sie leben.Die Gewerkschaften sind Gott sei Dank dabei, sich zu ändern. Sie sind beim Denken,
daß es andere Lohnersatzzeiten geben muß. Ihre ehemaligen Kumpel fallen in Ihr christliches umgekehrtes soziales Netz. Sie müssen sich doch in Grund und Boden schämen, daß ehemalige Meister und Facharbeiter mit 800 DM Arbeitslosenhilfe ihre Familien ernähren sollen. Wissen Sie das alles nicht? In welchem Elfenbeinturm leben Sie eigentlich?
Herr Blüm hat in seinem Haushalt eine Steigerung von 2,1 %. Was ist draußen los? Familien, Menschen sind in so große Not geraten, daß sie sich aufhängen, daß sie sich in Pkw vergasen. Die Trümmerfrau in Berlin, Herr Blüm — bitte nicht zu weit reisen — , hat sich an der Türklinke aufgehängt. Wir müssen ein Notstandsprogramm haben.Sie verfluchen nach wie vor die Arbeitslosen. Ich fordere die Arbeitssuchenden auf, mit mir zusammen endlich eine bundesweite Organisation zu gründen, damit wir diesem Mißstand pari bieten. Sie als Regierungsfraktion verteufeln doch die Arbeitslosenzentren. Die Menschen schämen sich nach wie vor, arbeitslos oder — wie ich sage — arbeitssuchend zu sein. Sie haben doch die Verteufelungsparolen in die Welt gesetzt: Gib dir Mühe, kriegst du Arbeit. — Sie setzen doch zig Milliarden falsch ein, anstatt — wie die GRÜNEN es schon 1983 wollten, nicht erst 1984, Freund Dreßler —
ein Grundsicherungsprogramm, das die Würde derMenschen absichert, zu schaffen. Ist das Wort Menschenwürde überhaupt in Ihrem Kopf drin? Wissen Sie
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1674 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Frau Unruhüberhaupt, was Sie in diesem sozial verpflichteten Rechtsstaat anrichten?
— Das ist keine Polemik. Wenn Sie wirklich Volksvertreter wären,
dann wüßten Sie, was in unserer Bundesrepublik Deutschland los ist.Nur die GRÜNEN zusammen mit den Grauen Panthern als Symbol für Kampf um Menschenwürde haben Ihnen doch beigebracht, daß es in unseren Alten- und Pflegeheimen nicht so weitergehen kann. Sie kündigen jetzt groß an, Sie wollten eine Pflegeversicherung einführen. Nein, keine Versicherung, nehmen Sie die 12,4 Milliarden DM für Kriegsopferversorgung aus dem Etat Blüm heraus, und stecken Sie sie, weil es ja Kriegsfolgelasten sind, bitte schön in den Verteidigungshaushalt, denn da gehören sie hin! Mit diesen 12,4 Milliarden DM machen Sie bitte ein Bundespflegegeldgesetz, das die GRÜNEN schon im Dezember 1984 diesem Hohen Haus eingereicht haben, allerdings ist es überhaupt nicht zur Sprache gekommen.Gelernt haben Sie alle, auch die SPD. Aber Sie von der Regierungskoalition sind überhaupt nicht lernfähig. Sozialpolitik ist Vertrauenspolitik, und da strömt der Herr Dr. Vogel hundertmal mehr Vertrauen aus, als Sie es jemals erreichen können.
Ich fordere aber genausogut die Wähler und Wählerinnen auf — Sie alle haben hier natürlich wunderbar Parteipolitik betrieben, und ich tue das auch — , solch eine SPD, die sehr reformfähig ist, nicht allein zu lassen,
um Gottes willen nicht mit der FDP — das ist nämlich die Wirtschaftspartei — , sondern letztlich mit den GRÜNEN zusammenzuarbeiten. Die haben Phantasie entwickelt, die Sie mit Ihren „Betonköpfen" wohl im Leben nicht entwickeln können.
Damit die Christen und damit auch Herr Blüm einmal zur Kenntnis nehmen, wie es in diesem Staat wirklich aussieht, darf ich die „WAZ" vom 4. September dieses Jahres zitieren.
— Die „Kieler Nachrichten" sind sehr gut. Dort können Sie nämlich nachlesen, was die Trude Unruh letztlich geleistet hat, um in 12 Jahren eine Organisation ohne einen Pfennig öffentlicher Unterstützungaufzubauen. Diese Miesmacherei kenne ich von den Christen.Jetzt aber zurück zu dem, was die „WAZ" schreibt: „Andauernder Skandal". Jetzt hören Sie einmal zu! Vielleicht haben Sie auch Söhne und Töchter, die anders denken als Sie und die innerlich denken: Mensch, was habe ich für einen miesen Vater, was habe ich für eine miese Mutter? —
Ich zitiere:
Die Massenarbeitslosigkeit und ihre materiellen und psychischen Folgen haben anders, als vor Jahren noch befürchtet, nicht zur großen Radikalisierung und Erschütterung des politischen Systems geführt. Arbeitslose und in Not geratene Bundesbürger sind nicht aggressiv; sie neigen eher dazu, sich vor den neugierigen Augen der Öffentlichkeit zu verbergen.Schämen Sie sich nicht in Grund und Boden,
daß Menschen, die — das gilt für Millionen — in Not geraten sind, nicht Ihre Unterstützung finden, damit sie in der Würde eines sozial verpflichteten Rechtsstaats unter uns leben können, sondern klammheimlich in ihren Wohnungen sitzen und nicht wissen, wie sie den Tag überleben sollen?
Auf der anderen Seite steht wahnsinniger Reichtum. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht: Was haben Sie für eine Moral in diesem Haus? Wir GRÜNE verstehen diese Doppel- und Dreifachmoral nicht.
Wir werden verteufelt, daß wir z. B. zu radikal sind. Jawohl, radikal heißt von der Wurzel her. Wir brauchen endlich eine Grundversorgung für die armen Rentner.
Machen Sie sich doch einmal schlau, wo die Durchschnittsrente liegt!
Millionen Menschen erreichen 1 200 DM nicht. Warum dann nicht das Aufstockungsprogramm der GRÜNEN nehmen? Warum zieren Sie sich?
— Mister Kolb, Sie sagen: nicht finanzierbar. Was haben Sie denn für einen schändlichen Finanzminister?
Ohne Deckung! Oder ist das vielleicht nicht schändlich: Die Erbärmlichkeit des Denkens, die der Herr Bundeskanzler mir unterstellt hat, ist doch letztlich auf der Regierungsbank zu finden. Ihr Bundesfinanzmini-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1675
Frau Unruhster macht uns doch Vorlagen, bei denen doch tatsächlich 20 Milliarden DM nicht gedeckt sind,
anstatt umgekehrt zu denken, Herr Kolb — Sie gehören ja vielleicht auch dazu — : gewisse Steuern zu erhöhen, damit es den Armen in dieser Gesellschaft möglich ist, in Menschenwürde, ohne sich zu schämen, unter uns zu leben.Ich wünsche Ihnen, besonders Herrn Blüm und der Regierung, ein neues Denken für eine Zukunft im Jahr 2000 und nicht einen Rückfall ins Jahr 1800. Gute Besserung!
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Abgeordnete Unruh, wieder einmal haben Sie ein Horrorgemälde gemalt. Die Tiraden, die Sie hier loslassen, würde ich außerhalb dieses Hauses noch mit ganz anderen Vokabeln belegen. Fragen Sie sich doch einmal, ob Sie sich nicht schämen müssen, daß Sie mit der Not anderer in dieser Form versuchen, aufzuputschen, statt Sachpolitik zu machen.
Niemand verflucht die Arbeitslosen. Nur, mit solchen Redereien werden Sie in der Sache nichts bewegen.
Herr Kollege Dreßler, Sie haben sich sehr viel persönlich mit dem Bundesarbeitsminister auseinandergesetzt. Natürlich weiß ich: Für die Berichterstattung ist das Angreifen eines Politikers, der zu einer anderen Partei gehört, immer eine sehr nützliche Geschichte, weil man dann zitiert wird. Ich habe mich nur gefragt, warum das so oft und soviel geschehen ist. Dahinter muß doch wohl stecken, daß Sie erkannt haben, daß für viele Ihrer Positionen der Bundesarbeitsminister, der Kollege Blüm, mit seiner Argumentation gefährlicher ist, als Sie zugeben wollen. Dann müssen Sie ihn nach Ihrer Meinung persönlich angreifen.
Sie scheinen also doch auf einem richtigen Weg zu sein, Kollege Blüm; wenn das nicht der Fall wäre, würden Sie nie so angegriffen. Insofern war das eine Bestätigung.
Nun zu einigen Sachfragen — in der Kürze der Zeit kann man nicht alle Probleme anpacken — : Herr Kollege Dreßler, Sie haben von den Wirkungen gesprochen, die die Arbeitsbeschaffungsprogramme Mitte der 70er Jahre hatten. Ich kann immer nur wiederholen: Wir stehen zu den Entscheidungen, die wir damals getroffen haben. Nur stelle ich fest: Die Wirkung, die davon ausgehen sollte, war nicht so, wie wir sie
erhofft hatten. Richtig ist, daß es ein Strohfeuer. war. Die Arbeitslosigkeit wurde für eine bestimmte Zeit beseitigt, aber diese Maßnahmen — gerade wenn ich an die Investitionen denke, die vom Bund gefördert und bei den Gemeinden durchgeführt worden sind — haben teilweise zu Folgekosten geführt, die heute bei den Gemeinden keine Mittel mehr für Investitionen frei werden lassen. Das ist doch ein Punkt, den Sie mit sehen müssen.
— Wenn Sie nein sagen, dann frage ich Sie noch einmal: Haben Sie bei Ihren Gesprächen schon einmal festgestellt, daß manches zusätzliche Bad eingerichtet worden ist, obwohl kein Bedarf vorhanden war, welches heute stillgelegt werden muß? Und so gibt es eine ganze Menge Dinge mehr.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Kollege Mischnick, stimmen Sie mir zu, daß ich soeben über unser gemeinsames Zukunftsinvestitionsprogramm — das Programm der sozialliberalen Koalition — gesprochen habe, und stimmen Sie mir zu, daß das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv noch in jüngster Zeit, in den vergangenen Wochen, den exakten zusätzlichen Beschäftigungseffekt mit 457 150 Arbeitsplätzen errechnet hat? Kommen Sie, Herr Mischnick, unter diesem Gesichtspunkt dann nicht auch zu dem Ergebnis, daß das eine gute, auf mehr Beschäftigung ausgerichtete Politik war?
Herr Kollege Dreßler, ich habe nicht gesagt, daß alle Investitionen falsch waren. Ich habe darauf hingewiesen, daß ein Teil davon diese Wirkung hat, daß es ein Strohfeuer war und daß wir diese Fehler nicht wiederholen wollen, während in Ihren Programmen diese Fehler wiederholt werden. Deshalb kommen wir zu anderen Entscheidungen.
Das ist nun einmal unser Standpunkt; da können Sie — was ich Ihnen gar nicht vorwerfe — einen anderen haben.Der Herr Kollege Vogel und andere haben gestern beklagt, die Belastung der Löhne und Gehälter mit der progressiven Lohnsteuer sei sehr hoch, und Lohn- und Lohnnebenkosten seien sehr hoch. Gleichzeitig wird ständig beklagt, daß die Steuerreform kommt. Nun müßte man sich ja nun langsam einmal entscheiden, was man hier eigentlich will.
Wir wollen und wir werden mit der Steuerreform gerade durch die Einführung eines größeren Grundfreibetrages eine halbe Million Menschen, vielleicht sogar mehr, völlig von der Steuer freistellen. Wir werden durch einen niedrigeren Eingangssatz die unteren
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1676 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
MischnickEinkommen entlasten. Wir werden den Bauch, den wir heute in der Steuerkurve für die mittleren Einkommen haben, abbauen. Das wird automatisch auch eine Auswirkung auf die höheren Einkommen haben.
Das alles ist ein Projekt, das entlastend wirkt und gleichzeitig dazu führt, daß die Chance zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen eröffnet wird.
Wir haben doch heute zwei Probleme. Wir haben zum einen das Problem, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, Arbeitsplätze zu schaffen. Das zweite Problem ist, für vorhandene Arbeitsplätze Arbeitskräfte zu haben. Diese beiden Dinge stehen doch hier zur Diskussion. Wenn Sie durchs Land gehen, müssen Sie doch überall erleben, wie viele freie Plätze nicht besetzt werden können, weil die entsprechenden Arbeitskräfte — zugegebenermaßen regional unterschiedlich — nicht zur Verfügung stehen.
Beide Punkte müssen wir sehen.
— Wenn Sie das noch nicht mitbekommen haben,
möchte ich Sie doch einmal bitten, mit offeneren Augen durch die Landschaft zu gehen und die vielen Anschläge zu sehen, mit denen Arbeitskräfte gesucht werden.
Ich behaupte nicht, daß mit diesem Suchen alle Probleme gelöst wären, aber wir haben beide Aufgaben zu erfüllen. Die Tatsache, daß wir heute über 630 000 Arbeitsplätze mehr haben,
zeigt doch, daß die Gesamtpolitik gegriffen hat und daß auf diese Art und Weise die Chance, auch zur Herabsetzung der Arbeitslosenzahl zu kommen, größer wird.
Und verschweigen Sie bei Ihren Diskussionen doch nicht, wie die Gesamtentwicklung unserer Bevölkerungsstatistik für die nächsten Jahre aussieht und wie sich schon daraus weitere Veränderungen ergeben werden.Ein weiterer Punkt: Bei allen Diskussionen über die Sozialpolitik wird immer so getan, als sei das, was im Haushalt steht, als sei das, was in den Haushalten der Versicherungsträger steht, der alleinige Beweis für eine gute Sozialpolitik. Dies ist falsch. Der wichtigste Faktor für die Sozialpolitik im weitesten Sinne des Wortes ist in den letzten fünf Jahren die Preisstabilität gewesen, denn jedes Prozent Preissteigerung ist eine unsoziale Maßnahme gegen die Masse der Arbeitnehmer; Preisstabilität erhöht die Kaufkraft der Arbeitnehmer und bietet damit auch bessere Möglichkeiten für individuelle, gezielte sozialpolitische Leistungen.Das haben wir — im Gegensatz zu früheren Zeiten — zustande gebracht.
Nun sagen Sie, die sozialen Sicherungssysteme würden von uns verwässert und abgebaut. Es wird immer von der sozialen Demontage gesprochen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wäre es nicht sinnvoll, sich im Jahre 1987 mehr Gedanken darüber zu machen, ob nicht manche überkommene Entwicklung, manches System, das vor 100 Jahren geschaffen worden ist, zwar damals richtig war, aber heute, in der neuen Zeit, weiterentwickelt werden muß, und dies eben nicht dadurch, daß ich es demontiere, sondern dadurch, daß ich neue Entwicklungen einbeziehe?Ich will ein typisches Beispiel dafür nennen. Wenn wir uns einmal die Zahlen der Berufsgenossenschaften ansehen, können wir feststellen, daß die Aufwendungen für Berufsunfälle im Verhältnis zum Anwachsen der Beschäftigtenzahl in den letzten 15, 20 Jahren viel geringer gestiegen sind als die in anderen Bereichen. Hier hat man mit einer gezielten Vorsorge erreicht, daß die Belastungen der Betriebe nicht im gleichen Tempo gestiegen sind, wie das in anderen Sozialversicherungsbereichen der Fall war. Lohnt es sich nicht, dann darüber nachzudenken, ob es auf Dauer sinnvoll ist, daß Invaliditätsvorsorge und Altersvorsorge in einem System zusammengefaßt sind? Müßte man nicht überlegen, die Invaliditätsvorsorge gezielter, spezieller zu betreiben und sie von der Altersvorsorge auf Dauer zu trennen? Wären das nicht Überlegungen, die man einmal anstellen kann, statt immer nur zu sagen: Korrekturen sind im System anzubringen?Und wenn wir hier schon langfristige Überlegungen anstellen, dann geht es ja nicht nur darum, in dieser Legislaturperiode — wie es vorgesehen ist — Entscheidungen für das Rentenversicherungssystem, für die Krankenversicherung zu treffen, sondern es geht auch darum, die Weichen so zu stellen, daß ich die Tür für längerfristige Überlegungen nicht zumache, sondern zusätzliche Gedanken entwickeln kann.Warum ist das so wichtig? Gerade wenn wir an die Sicherung des Rentenversicherungssystems denken, müssen wir heute doch feststellen, daß der Übergang in den Ruhestand mit 65 Jahren die absolute Ausnahme geworden ist, daß das vorzeitige Ausscheiden aus dem Arbeitsleben mit entsprechenden Belastungen sehr viel häufiger geschieht, daß ein Teil der Betreffenden, die vorzeitig ausscheiden, dies nicht unbedingt will. Hier spielen eben Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit eine Rolle. Lohnt es sich dann nicht, darüber nachzudenken, wie man dies vermeiden kann, um damit auch Beitragserhöhungen aus diesem Grund — denn hier haben wir ja eine Mischung hinsichtlich der Beitragserhöhung, Invaliditäts- wie Altersvorsorge — zu vermeiden, um Spielraum für das zu bekommen, was wir brauchen, nämlich für die Altersvorsorge selbst? Wäre es, wenn hier das Angebot zur Zusammenarbeit kommt, nicht gut, über solche Grundsatzfragen — ohne Rücksicht darauf, ob man
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1677
Mischnickdamit heute oder morgen eine Schlagzeile machen kann — miteinander verstärkt nachzudenken,
statt bei jedem Nachdenken darüber dem anderen nur ständig vorzuwerfen, er wolle soziale Demontage betreiben?
— Natürlich gehört das mit dazu. Oder darf ich Sie nicht auch daran erinnern, daß wir insgesamt stolz darauf sind, in unserer Bundesrepublik Deutschland Möglichkeiten geschaffen zu haben, den Bürger in den verschiedensten Bereichen immer mehr mitwirken zu lassen? Ich denke z. B. an den kommunalpolitischen Bereich, ich denke an die Mitbestimmung. Wir sprechen zwar immer davon, daß wir den mündigen Staatsbürger haben wollen — deshalb haben wir ihm mehr Rechte gegeben — , aber wenn es darum geht, im sozialpolitischen Bereich — bei Krankenversicherung, bei Altersvorsorge — mehr Eigenvorsorge möglich zu machen, dem Bürger mehr Möglichkeit der Mitgestaltung zu geben, dann wird das plötzlich so dargestellt, als sei das eine Demontage sozialer Sicherungssysteme. Wird es nicht höchste Zeit, daß wir die Verantwortungsbereitschaft des einzelnen auch in unseren sozialen Sicherungssystemen fördern, seine Mitgestaltungsmöglichkeiten verstärken und damit dafür sorgen, daß kein Überborden der Ausgaben und damit der Beitragssätze geschieht?
Es wäre es doch wert, darüber nachzudenken, wieso der Bürger, der mündig ist, bei Wahlen zu entscheiden, der mündig ist, im Betrieb einen Betriebsrat und daraus einen Aufsichtsrat zu wählen, nicht auch mündig sein soll, in der Rentenversicherung, in der Krankenversicherung selber gestaltend mitzuwirken. Es wäre sonst doch ein Armutszeugnis, das Sie dem Bürger ausstellen.Wir sind der Meinung: Bei allen Weiterentwicklungen müssen diese Gesichtspunkte mit eingebracht werden. Dabei haben wir nie geleugnet, welch enger Zusammenhang zwischen Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik, Sozialpolitik und Gesundheitspolitik besteht.
Nur wenn das miteinander abgestimmt ist, kann eine entsprechende Wirkung erzielt werden. Deshalb werden wir bei den vor uns stehenden Entscheidungen die Aufgaben sehen, die wir zur weiteren Konsolidierung der Rentenversicherung mittelfristig zu lösen haben. Es ist doch unbestreitbar, daß wir heute aus der Situation von vor drei, vier fünf Jahren heraus sind, als wir praktisch von Tag zu Tag Sorge haben mußten. Wir wissen aber ganz genau, daß die Entscheidung, in Zukunft z. B. eine nettoähnliche Anpassung vorzunehmen, zwar für fünf, zehn, vielleicht 15 Jahre, aber nicht auf Dauer Entlastung bringen kann. Das ist aber das Ergebnis, das wir brauchen. Auch hier hat sich doch gezeigt, wie mühselig es manchmal ist, die richtigen Argumente nicht nur darzulegen, sondern diejenigen, die anderer Meinung sind, davon auch zu überzeugen. Als wir vor zehn Jahren davon sprachen, daß wir von der reinen bruttobezogenen Anpassung wegkommen müssen, wurden wir in diesem Haus — zugegebenermaßen sowohl von SPD wie von CDU/ CSU — nicht unterstützt, sondern es wurde gesagt, das alles müsse so bleiben. Heute sind wir Gott sei Dank gemeinsam so weit, das zu erkennen. Wenn dies früher erkannt worden wäre, dann hätten wir uns manche Entscheidung bei der Rentenanpassung ersparen können und wären heute weiter.Meine Bitte ist, wenn Widerstand kommt und jemand plötzlich sagt, das sei soziale Demontage, nicht wieder zurückzuschrecken, sondern heute die Entscheidung für morgen zu fällen.
Denn wir haben, Frau Unruh, nicht nur die Aufgabe, die Renten denen, die sie heute beziehen, zu sichern — das ist notwendig — und dafür zu sorgen, daß sie auch morgen an der Entwicklung unserer Wirtschaft teilhaben.
Wir haben auch die Aufgabe, für die Beitragszahler von heute zu sorgen, die ja die Rentner von morgen sind. Denn wir dürfen ihre hohe Beitragszahlung von heute nicht als Ruhekissen für die Entscheidung von morgen und übermorgen betrachten, sondern müssen sie auch als einen Anspruch für die Zeit nach 2000 sehen. Das ist die Aufgabe, die vor uns steht.
In diesem Zusammenhang gibt es doch keinen Zweifel, daß sowohl Beitragszahlung
wie Bundeszuschuß eine entscheidende Rolle spielen.
— Ach, wenn sie, Frau Unruh, mal nachlesen würden, was ich schon 1963 gesagt habe, würden Sie diese Zwischenrufe nicht mehr machen.
Nur stelle ich heute fest: Auch in diesem Bereich muß die Zeit reifen. Damals hat man es nicht geglaubt. Als ich 1963 davon sprach, in den 70er Jahren brauche man 18 % Beitrag, hat man gesagt, das sei Volksverdummung, das sei Schwarzmalerei. 1963! Heute weiß jeder, daß man auch aus der Statistik ablesen kann, wie die Entwicklung ist. Damals wollte man es nur nicht eingestehen.Heute gerade in der Rentenversicherung im Interesse beider der Beitragszahler und der Rentner, die Weichen richtig zu stellen ist von entscheidender Bedeutung. Dabei wird der Bundeszuschuß eine große Rolle spielen.Nur warne ich davor, die Diskussion über den Bundeszuschuß so weiterzuführen, wie sie lange geführt worden ist, nämlich unter dem Motto: Der Bundeszuschuß muß so bemessen werden wie die Fremdleistungen, also die Rentenleistungen, die heute er-
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1678 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Mischnickbracht werden, für die keine Beiträge erbracht worden sind. Das ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ein entscheidender Punkt gewesen.
— Dazu gehört das doch alles. Wenn ich hier in der ersten Lesung der Haushaltsdebatte spreche, behandele ich die Grundsatzfrgen, die mit diesem Thema zusammenhängen. Da werde ich nicht anfangen, einzelne Positionen auseinanderzufieseln. Das machen wir in der zweiten und dritten Lesung. Die Grundsatzfragen stehen heute zur Debatte. Aber das müssen Sie doch nach den langen Jahren, die Sie hier sind, eigentlich wissen.
Das wissen Sie ja auch. Sie tun nur so, als wüßten Sie es nicht.Zurück zum Bundeszuschuß. Der Bundeszuschuß war natürlich — und ist es noch — in erster Linie zum Abdecken von nicht durch Beiträge gedeckten Leistungen gedacht. Ich denke an die Arbeitslosigkeit der 20er Jahre, an Vertreibung, Flucht, Kriegsereignisse. Aber wir müssen uns doch im klaren darüber sein, daß die Rentner, die in 10, 15, 20 Jahren in Rente gehen, den größten Teil ihrer Rentenansprüche durch eigene Beiträge abgedeckt haben, weil wir heute z. B. für Arbeitslosigkeit und für Wehrdienstleistungen Beiträge zahlen. Dadurch wird die Funktion des Bundeszuschusses eine andere werden. Auch darüber langfristig nachzudenken lohnt sich.Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zu der Entwicklung im Krankenversicherungsbereich machen. Hier hat sich ja doch eine — ich muß schon sagen — Neiddiskussion entwickelt.
Da sind mal die Zahnärzte dran; dann sind wieder die Ärzte dran; dann sind wieder die Apotheker dran; dann sind die Patienten dran; dann sind die Beitragszahler dran; darin sind die Krankenhäuser dran. Notwendig ist, alles geschlossen zu sehen.
Ich appelliere besonders an die Länder. Wenn wir bei der Krankenkassenreform zu prüfen haben, wie auch hier bei Beitragszahlern, Patienten und allen, die im gesundheitlichen Bereich tätig sind, die Selbstverantwortung stärker werden kann,
können wir die Krankenhäuser nicht ausnehmen.
Der Grundsatz, daß derjenige, der wirtschaftlich arbeitet, es besser haben soll als derjenige, der unwirtschaftlich arbeitet, muß bei den Entscheidungen der Länder im Zusammenhang mit dem Krankenhausbereich noch stärker umgesetzt werden.
— Sie sagen „Junge, Junge! ", weil Sie keine Ahnung davon haben.
Es geht darum, daß wir die mittleren und kleineren Krankenhäuser, die leistungsfähig sind und mit ihren Pflegesätzen erheblich unter denen der Großkrankenhäuser liegen, entsprechend unterstützen. Man darf nicht glauben, mit Rieseneinrichtungen könne man verwaltungsmäßig Einsparungen erzielen.Es wird notwendig sein, auf diesem Sektor im Wege der Kooperation zwischen Bund und Ländern zu besseren Ergebnissen zu kommen; denn ein Drittel der Ausgaben im Bereich der Gesundheitsvorsorge fließen in den Krankenhausbereich.
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. — Frau Abgeordnete Unruh, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß zur Zeit der Abgeordnete Mischnick das Wort hat und nicht die Abgeordnete Unruh. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn das in Ihrem Kopf klar wäre und Sie sich entsprechend verhalten würden.
Herr Präsident, man hat sich an dieses Dazwischenreden so gewöhnt, daß es einem nichts mehr ausmacht. Umgekehrt zeigt es ja auch nur, daß es hier im Parlament nicht so zugeht wie in einer Schulklasse. Wenn man lange genug hier war, stört einen das nicht so.
Lassen Sie mich zum Abschluß nur noch folgende Feststellung treffen.
Es ist von der SPD davon gesprochen worden, daß sie zur Zusammenarbeit bereit sei. Ich begrüße dies. Zusammenarbeit kann für mich aber nur dann sinnvoll sein, wenn man sich entschließt, den richtigen, zukunftsweisenden Weg zu finden,
wenn man nicht an Dingen festhält, die gestern und vorgestern richtig gewesen sein mögen.
Zu dieser Zusammenarbeit sind wir bereit. Aber wir sind nicht bereit, einfach Pflästerchen dort auf zulegen, wo entscheidende Veränderungen vorgenommen werden müssen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sozialstaat ist nie fertig. Es geht immer weiter; es gibt neue Probleme, alte verlieren an Bedeutung. Für Besserwisser oder gar ideologische Fanatiker ist die Sozialpolitik ein denkbar ungeeignetes Gelände. Die
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Bundesminister Dr. BlümMenschen und ihre Sorgen und ihre Wünsche passen nie fugenlos in ein System. Das Leben kennt mindestens immer einen Fall mehr, als der Gesetzgeber sich einfallen läßt.Deshalb warne ich vor einer Überschätzung der staatlichen Sozialpolitik. Der Staat kann nicht alles. Paragraphen wärmen nicht, Bürokratien schaffen keine Geborgenheit.
— Nein, die lassen sich auch nicht kaufen, Frau Unruh.
Geborgenheit läßt sich nicht kaufen. Ohne Barmherzigkeit und Nächstenliebe
ist die Gerechtigkeit kalt wie ein Kühlschrank.
Dabei ist Nächstenliebe, spontane Nächstenliebe nicht nur Lückenbüßer des Gesetzgebers, sondern notwendige Ergänzung der Gerechtigkeit.Deshalb verlaßt euch nicht in allem auf den Staat, denkt an den Nachbarn, an den Behinderten, an den Kollegen! Kein Staat kann dieses Nachdenken, die nachbarschaftliche Mithilfe ersetzen.
Das ist kein Aufruf zur Abdankung der Sozialpolitik, sondern ein Eingeständnis — —
— Kein Armutszeugnis.
Es könnte sehr arm in einer Gesellschaft werden, in der die Bürokraten alles regeln. Da wird es sehr arm und kalt in unserer Gesellschaft. Der Staat darf gar nicht alles, und wir wollen gar nicht alles.
Aber das, was notwendig ist, müssen wir leisten, unsere Aufgabe müssen wir erfüllen. 88,4 Milliarden DM stehen im kommenden Jahr im Haushalt für soziale Sicherheit zur Verfügung, 88,4 Milliarden! Fast jede dritte Mark wird für soziale Sicherheit ausgegeben. Der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung steigt erstmals über 80 Milliarden DM und ist weiterhin mit großem Abstand der größte Einzelplan.
Das ist das Gegenteil von Kahlschlag, sozialer Demontage und ähnlichem. Wer im übrigen diese Anstrengung — 88 Milliarden — als Kahlschlag bezeichnet, der beleidigt die Steuerzahler, die Arbeitnehmer, die mit ihren Steuern- und Beitragsgroschen diese 80 Mil-harden überhaupt erst aufbringen. Er mißachtet das Opfer der Fleißigen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie können doch hier nicht beide Klagen vortragen: erstens, die Leistungen des Sozialstaates seien zu gering, und zweitens, die Steuern seien zu hoch. Entweder oder! Wenn wir das getan hätten, was die SPD in den letzten Jahren vorgeschlagen hat, müßten wir allein im Sozialbereich 40 Milliarden DM mehr ausgeben und auch mehr einnehmen. Dann läge die Lohnsteuer und Abgabenquote über 50 %. Da kann ich nur sagen: Dann wären wir an dem Punkt angekommen, an dem es für den Arbeitnehmer besser ist, sich die Steuer und die Beiträge auszahlen zu lassen und dem Staat sein Geld zu geben; dabei käme er dann besser weg. Das wäre völlig unsinnig.
— Auch ein anderes System muß bezahlt werden. Die Kuh gibt es nicht, die im Himmel gefüttert wird und auf Erden gemolken wird.
Das können Sie auf dieser Erde nicht verwirklichen, wie auch immer der Sozialstaat organisiert ist. Selbst wenn ihn die GRÜNEN organisieren würden, müßte er immer aus den Abgaben derjenigen bezahlt werden, die arbeiten. Alles andere sind Stellwerksübungen.
Unseren Sozialstaat erhalten, ihn vor Erstarrung bewahren, seine Chancen mehren, seine Risiken mindern, empfindlich bleiben für neue Fragen! Ich stehe doch gar nicht selbstzufrieden vor Ihnen. Empfindlich bleiben für neue Fragen, das ist die Aufgabe der Sozialpolitik.Aber eine Bemerkung zu Herrn Dreßler. Er spricht immer so, als würde Lenin gerade die Revolution ausrufen.
Ich bin immer ganz erschreckt, wenn er sagt: Endlich Leistung, fangen Sie an zu arbeiten, Herr Blüm! — Dann bin ich ganz verschüchtert. — Von den neun Gesetzen dieser Legislaturperiode stammen vier aus dem Sozialbereich. Herr Dreßler, wenn Sie sagen, das sei heiße Luft, nun gut, dann bin ich eine Dampfmaschine, und das ist ein Kraftwerk.
„Endlich Leistung, endlich arbeiten! " Man denkt, man sei in der Schule. — Der ganze Sozialpolitische Ausschuß beschwert sich doch, daß er mit Arbeit überlastet ist. 42 Gesetze allein in der letzten Legislaturperiode! Wissen Sie, wieviel Sie vorgelegt haben, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dreßler? Zehn!
— Gott sei Dank „a. D." und nie wiederkommend. — Zehn Gesetze in drei Jahren. Sie können ja kritisieren, Herr Dreßler — das ist ja Aufgabe der Opposition —, Gesetze seien falsch. Aber wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir würden nichts machen, ist Adam
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1680 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Bundesminister Dr. BlümRiese auf meiner Seite. Die Zahlen sprechen für sich.
Deswegen ein kurzer Rückblick. Ich wollte eigentlich mehr über den Ausblick reden.Die Rentenversicherung hat wieder sicheren Boden unter den Füßen. Ist das keine Leistung?
Wären Sie an der Regierung geblieben, wäre die Rentenversicherung im Sommer 1983 bankrott gewesen. Was Sie jetzt machen, ist so, als ob ein Bankrotteur sich als Anlageberater anbietet.
An der Reform der Hinterbliebenenrente haben Sie sieben Jahre herumgewurstelt, aber nichts gemacht. Wir haben sie verwirklicht. Das ist Leistung!Über Kindererziehungszeiten wurde 13 Jahre geredet, wir haben sie eingeführt. Das ist Leistung!
Die Zahl der Beschäftigten wächst wieder in der gleichen Größe, in der sie in den letzten zwei Jahren Ihrer Regierung abgenommen hat. Die Zahlen, die Sie nennen, stimmen. Aber Sie verwechseln wieder einmal schwarz mit rot.
Sie hatten die rote Zahl. Wir haben die schwarze Zahl. Und merke dir: Schwarz ist besser, auch auf dem Arbeitsmarkt. Denn es heißt: Es geht wieder aufwärts.
Die Qualifizierungsmaßnahmen haben eine einsame Höhe erreicht. Da redet Herr Dreßler, wir würden nichts machen: 600 000 — zum Mitschreiben: 600 000, ganz langsam: 600 000 — öffentlich geförderte Weiterbildungsmaßnahmen in diesem Jahr. Wissen Sie, wie viele es im letzten Jahr der Regierung Schmidt waren? — 260 000. Deshalb die Preisfrage, Herr Dreßler: Wo ist mehr Leistung: Bei 600 000 Weiterbildungsmaßnahmen oder bei 260 000?In Ihrem letzten Jahr gab es 29 200 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bei uns 110 000, fast viermal soviel. Wer eine Parterrewohnung nicht zustandebringt, soll mir nicht vorwerfen, daß ich auf den dritten Stock keinen vierten Stock setze.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Aber bitte.
Herr Kollege Blüm, weil wir gerade bei Adam Riese sind: Stimmen Sie mir zu, daß 1,7 Millionen Arbeitsuchende zusammen mit den gerade von Ihnen skizzierten 220 000, 230 000 Maßnahmen zur beruflichen Bildung, zur Arbeitsbeschaffung die 2-Millionen-Grenze nicht erreichen, aber bei 2,2 Millionen Arbeitslosen, die wir zur Zeit zählen, und bei den von Ihnen gerade genannten über 600 000 Maßnahmen in diesem Bereich — über die Hälfte der davon betroffenen Menschen ist noch arbeitsuchend, so daß sich die Gesamtzahl erhöht — , Adam Riese, den Sie gerade für sich reklamieren, wohl doch nicht auf Ihrer Seite ist?
Herr Dreßler, nochmals ganz langsam.
Was ist mehr? 6 oder 2?
Was ist mehr? 600 000 öffentliche Maßnahmen der
beruflichen Bildung und Weiterbildung oder 260 000?
— Um es kurz zu machen: Fachleute einschließlich der Bundesanstalt schätzen den beschäftigungspolitischen Effekt unserer aktiven Arbeitsmarktpolitik derzeit auf 450 000. So hoch war der Beschäftigungseffekt von Arbeitsmarktmaßnahmen noch nie wie zu unserer Zeit, wie in diesem Jahr.
— Wollen wir ein Zwiegespräch machen? — Herr Dreßler, ich bin wirklich nicht für Mathematik zuständig. Lassen Sie mich jetzt in meiner Rede weitermachen.
Herr Abgeordneter Dreßler, es ist das Recht des Ministers, die Diskussion zu beenden. Ich bitte, das zu respektieren.
Es hat doch keinen Zweck, nochmals zu erklären,
daß 600 000 mehr ist als 260 000
und 110 000 mehr als 29 000. Selbst ein Mathematiklehrer, der der GEW angehört, muß mir recht geben.
Der Akzent dieser Legislaturperiode liegt auf Gestaltung. Arbeit, Alter, Gesundheit, das sind die drei großen Aufgabenfelder dieser Legislaturperiode. Hier gibt es nicht die einfache Alternative: alles festhalten, sich festklammern oder alles verändern. Es geht um die Kombination von Erhalten und Erneuern. Es geht um ein neues Gleichgewicht des Sozialstaats. Es geht
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1681
Bundesminister Dr. Blümum eine neue Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben, zwischen Selbst- und Mitverantwortung, zwischen Selbstverwaltung und Staat, zwischen Tarifpartnern und Gesetzgeber, zwischen Leistung und Hilfe. Die Balance ist die Aufgabe, nicht das Vorgehen per Rammbock.
Das entspricht mehr dem Klassenkampf. Die Vorstellung vom sozialen Ausgleich ist mehr auf Balance angewiesen.Zum Thema Arbeit: Wir befinden uns in einem Strukturwandel, dessen Tempo eine bis dahin unbekannte Beschleunigung erreicht hat. Aber Strukturwandel darf kein Dammbruch sein. In der Sozialen Marktwirtschaft ist Entwicklung kein Naturprozeß, sondern muß durch Rahmenbedingungen kanalisiert und durch soziale Hilfen erträglich, akzeptabel gemacht werden. Deshalb Strukturanpassung, Strukturwandel: ja, Strukturbruch: nein.Stahl und Landwirtschaft beispielsweise brauchen Anpassungshilfen, nicht um den Strukturwandel zu verhindern, aber um ihn sozial erträglich zu machen. Allein im Stahlbereich werden von 1987 bis 1991 über eine Milliarde DM für Anpassungshilfen, für soziale Maßnahmen ausgegeben. Herr Dreßler, Sie sagten, wir würden nichts tun: Das ist eine Milliarde DM. Wir haben die Dauer des Bezugs von Wartegeld verlängert, die Umschulungsbeihilfen für die Stahlarbeiter erhöht, den Einkommenshöchstbetrag bei Übergangshilfe angehoben. Wenn alle — einschließlich Johannes Rau — so viel gemacht hätten wie wir, dann wären wir schon ein großes Stück weiter.
Wir haben das Kurzarbeitergeld für die Stahlarbeiter auf 36 Monate erhöht. Wir haben seit 1983 2,6 Mil-harden DM für den Stahlbereich ausgegeben. Wissen Sie, was ich von Düsseldorf höre? Da höre ich — das Papier liefere ich Ihnen gerne nach — aus der Staatskanzlei, die Demonstrationen der Stahlarbeiter müßten nach Bonn gelenkt werden. Liebe Genossen, habt ihr keine anderen Sorgen, als die Sorgen der Stahlarbeiter für billige parteipolitische Taktik und Technik mißbrauchen zu wollen?
Fällt euch nichts anderes ein, als zu überlegen, wohin ihr die Demonstrationen lenken könnt? Ist es nicht vielleicht viel wichtiger, die Demonstrationen ernst zu nehmen, und ist es nicht viel wichtiger, daß jeder eine eigene Antwort darauf gibt?
— Das ist kein Zynismus, das ist das Rausche Ablenkungsmanöver: Erst steckt er unser Haus in Bonn an, und dann will er uns einen Regenmantel schicken. So ähnlich ist das doch. Erst polemisiert er gegen uns, und dann fordert er Gemeinsamkeit. Ich sage: Laßt das alles weg! Laßt uns zusammen den Bergleuten, den Stahlarbeitern helfen! Mit Demonstrationstechniken und Ablenkungsmanövern ist den Kumpels an Rhein und Ruhr überhaupt nicht geholfen.
Die Lage der Kohle ist anders. Der Markt hat seine Stärke bekanntlich in der Gegenwartsbewältigung. Für langfristige Bedürfnisse braucht er einen Anwalt. Das ist der Staat. Deshalb gilt: Was langfristige Energiesicherung anbelangt, so kann man sich nicht dem Augenblick überlassen. Da muß über den Tag hinausgedacht werden. Es geht um unsere energiepolitische Sicherheit auf Dauer, nicht aber um eine Energiepolitik von der Hand in den Mund. Die Kohle ist unsere einzige nennenswerte Energiereserve. Es wäre geradezu kurzsichtig, heute Zechen absaufen zu lassen und morgen wieder Schächte zu teufen.Im übrigen: Kohle braucht keine Geleitzüge, um zum Verbraucher zu kommen. Das möchte ich auch als Appell an die Solidarität aller Bundesländer verstanden wissen. Wir sind auf die Kohle angewiesen. Sie ist allerdings nur im Verbund mit der Kernenergie wettbewerbsfähig; denn ohne Kernenergie entstehen Energiepreise, die die Arbeitsplätze vernichten. Es wäre ja eine merkwürdige Energiepolitik, wenn wir weniger Energie brauchen, weil wir weniger Arbeit haben.
Insofern gilt: Ohne Verbund mit der Kernenergie — Herr Dreßler, vielleicht sollten Sie sich auch bei unseren Kollegen der IG Bergbau erkundigen, die diesen Zusammenhang gesehen haben — gibt es keine energiepolitische Sicherheit.Ich will noch einmal zu dem Thema Arbeitslosigkeit insgesamt Stellung nehmen. Bildung und Weiterbildung bleiben die Hauptaufgabe. Wir haben nur in einer modernen Wirtschaft Zukunftschancen. Zur Umorganisierung, wie ich sie verstehe, gehören nicht nur neue Maschinen, sondern dazu gehören auch qualifizierte Arbeitnehmer.
Was nützt denn die schönste Maschine, wenn sie ein Arbeitnehmer nicht bedienen kann?
— Das ist eine Binsenweisheit, die sich aber noch nicht überall herumgesprochen hat. Es muß sich nämlich herumsprechen, daß Weiterbildung der Normalfall des Arbeitslebens ist.Deshalb — ich sage es noch einmal — geben wir mehr Geld als je zuvor aus. Aber nach der Phase einer abrupten Ausdehnung der Bildungsmaßnahmen muß jetzt eine Phase der qualitativen Konsolidierung kommen. Es geht ja nicht nur um Ausweitung, sondern es geht auch darum, daß diese Bildungsmaßnahmen bei den Arbeitnehmern ankommen, daß sie sie verwerten können.Deshalb appelliere ich an die Betriebe: Der beste Ort für Weiterbildung sind nicht staatliche Einrichtungen, sondern es ist der Betrieb selber. Hier haben die Unternehmer eine große Aufgabe. Technische Er-
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1682 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Bundesminister Dr. Blümneuerung heißt nicht nur Investitionsplanung, es heißt auch Qualifzierung der Arbeitnehmer.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte sehr.
Herr Blüm, haben Sie sich einmal mit der Qualität der Angebote beschäftigt, die — insbesondere in privater Regie betriebene — Weiterbildungseinrichtungen machen? Haben Sie sich einmal mit den Mitnahmeeffekten, mit den Verdiensten dieser Veranstalter von Weiterbildung in privater Regie beschäftigt? Haben Sie sich einmal damit beschäftigt, welchen Adressatenkreis meistens hochqualifizierter Art Sie zur Umschulung gewinnen und welchen Adressatenkreis — Langzeitarbeitslose, die keine oder eine sehr geringe Qualifikation haben — Sie nicht erreichen? Haben Sie sich einmal mit solchen Qualitätsmerkmalen beschäftigt?
Herr Sellin, gerade deshalb — Sie stellen die Frage zu Recht — plädiere ich für eine Konsolidierung der öffentlichen Bildungsmaßnahmen, damit im nächsten Schritt die Qualität dieser Bildungsmaßnahmen vertieft wird. Deshalb plädiere ich gegen eine rein quantitative Ausdehnung. Deshalb plädiere ich dafür, die Weiterbildung im Betrieb durchzuführen. Der Schlosser Meyer setzt sich mit 50 Jahren nicht mehr auf die Schulbank, er will in seinem Betrieb weiterlernen. Ich finde, es ist auch ein Gebot für den Unternehmer, nicht nur Sachwalter des toten Kapitals zu sein, sondern den Arbeitnehmer auch in die Lage zu versetzen, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Dabei ist Weiterbildung nie nur Aufstiegsbildung, sie soll den Menschen nicht überfordern, sondern sie ist dafür gedacht, daß der Arbeitnehmer im erlernten Beruf als Dreher, als Werkzeugmacher dem technischen Fortschritt nicht nur standhalten kann, sondern daß er ihn beherrscht. Das ist unsere Weiterbildungsphilosophie.Ich will noch einmal sagen: Qualifizierung ist deshalb notwendig, weil der technische Fortschritt — anders, als manche Pessimisten glauben — nicht zur Abqualifizierung der Arbeit führt. Alle Fachleute schätzen, daß die Arbeit in ihren Qualifikationserfordernissen wächst. Drei Millionen Arbeitsplätze für Ungelernte fallen in den nächsten zehn Jahren weg. Das ist eine große Herausforderung, wenn darin nicht wieder die Quelle neuer Arbeitslosigkeit enthalten sein soll.Wir wollen nicht Modernisierung verhindern. Es ist doch auch ein Sinn des technischen Fortschrittes, uns die Arbeit abzunehmen, sie zu erleichtern, uns aus dem Diktat eines fremdbestimmten Rhythmus herauszubringen, aber das geht nur mit mehr Qualifikation der Arbeitnehmer.Ich will allerdings auch die Rückseite der Medaille erwähnen: Es wird immer Mitbürger geben, die dieser Qualifizierungsanforderung nicht standhalten; auch um die müssen wir uns kümmern. Es geht nicht nur um eine Hochleistungsgesellschaft. Deshalb ist Qualifizierung die eine Seite, Hilfe für die Benachteiligten ist die andere Seite.Das ist der Grund, warum wir das Benachteiligtenprogramm als Daueraufgabe der Bundesanstalt übertragen wollen.
— Ist es richtig, oder ist es nicht richtig, daß das Benachteiligtenprogramm kein vorübergehendes Programm ist, sondern daß es eine Daueraufgabe ist? Wenn es eine Daueraufgabe ist, ist es besser bei der Bundesanstalt für Arbeit und ihrem Erfahrungsschatz aufgehoben.
Was die illegale Beschäftigung anbelangt, warte ich noch auf die Fahndungsgeheimnisse des Herrn Dreßler. Die illegal Beschäftigten sollen wir also nicht aufspüren,
wohl aber die illegalen Beschäftiger. Jetzt verraten Sie mir einmal, Herr Dreßler: Wie soll ich an die illegalen Beschäftiger herangekommen, wenn ich die Augen vor den illegal Beschäftigten verschließen soll? Diese Fahndungskunststücke müssen Sie mir einmal mitteilen.Wir wollen beides: die illegal Beschäftigten und die illegalen Beschäftiger aufspüren. Im übrigen kommen wir voran: Was die illegale Beschäftigung anbelangt, hatten wir 1986 126 000 Verfahren mit Bußgeldbescheid — das ist gegenüber 1985 eine Steigerung von 11,5%.Wir haben die Strafbestimmungen verschärft, aber die schönste Strafbestimmung nützt nichts, wenn wir nicht die Kontrolle verbessern. Der Sozialversicherungsausweis — im übrigen auch von der IG Bau nicht abgelehnt — wird eine Hilfe zu einer effektiven Kontrolle sein. Denn mit Ihnen allen teile ich die Auffassung, daß Schwarzarbeit kein Kavaliersdelikt ist. Es ist ein Diebstahl an den Solidarkassen, und es ist eine Rücksichtslosigkeit gegenüber den anständigen Handwerksmeistern, gegenüber den ehrlichen Arbeitnehmern. Es ist ein Betrug an den Sozialkassen, und eine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Arbeitslosen.
Rentenversicherung ist das zweite Thema. Auch hier eine gute Nachricht: Die Rücklagen in der Rentenversicherung wachsen, die Beitragsentwicklung verläuft gut. Sie liegt sogar über den geschätzten gesamtwirtschaftlichen Eckdaten. Wir liegen, wenn man die Beitragssenkungen vom 1. Januar dieses Jahres in Rechnung stellt, in den ersten acht Monaten mit den Beitragseinnahmen um 4,3 % höher als im Vorjahreszeitraum. Wir werden also zum Jahresende 1987 nicht
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1683
Bundesminister Dr. Blüm17,8 Milliarden DM als Sicherheitspolster in der Rücklage haben wie vor einem Jahr, sondern 20,7 Milliarden DM. Das sind 3 Milliarden DM mehr, das sind 3 Milliarden DM mehr Sicherheit.Solide Rentenpolitik, das ist das Erkennungszeichen unserer Politik für die älteren Mitbürger. Doch dieses Polster ist keinesfalls ein Ruhekissen. Die Probleme kommen in den 90er Jahren auf uns zu. Wir brauchen eine Strukturreform zur Bewältigung dieser Aufgaben, nicht zur Bewältigung der Gegenwart, sondern zur Bewältigung der Zukunft. Wir handeln aber nicht erst in der Zukunft, also dann, wenn die Probleme Gegenwart geworden sind, sondern wir handeln jetzt, damit in der Zukunft Probleme gar nicht erst entstehen.
Man muß wissen — das ist geradezu eine Herausforderung — : Die Lebensarbeitszeit sinkt, wir leben länger und weniger Kinder werden geboren. Weniger Beitragszahler müssen in kürzeren Beitragszeiten für mehr Rentner mit längeren Rentenzeiten zahlen. Das ist die Wirklichkeit, daran führt kein anderes System vorbei.
— Wenn es keine Kinder gibt, gibt es keine Beitragszahler. Wenn es keine Beitragszahler gibt — da kann Arbeitsminister sein, wer will, selbst wenn er noch besser als ich ist —,
dann ist die Rentenversicherung nicht zu retten.
Es erweist sich: Kinderfeindlichkeit, der Egoismus einer Gesellschaft, die Kinder ablehnt, das ist auch Altenfeindlichkeit.
Hier zeigt sich, daß mangelnde Solidarität, Feindschaft in der Familie zuerst die ältere Generation bezahlen muß.Auf diese Herausforderung gibt es zwei — wie ich zugebe — einseitige Antworten: mehr Lasten für die Beitragszahler — das heißt: höhere Beiträge —
oder weniger Leistungen für die Rentner — das heißt: Rentenkürzung.
Ich bin auch hier für Balance und Ausgewogenheit, dafür, die Lasten auf alle Schultern zu verteilen, auf Aktive, auf Rentner und auf den Staat.Es bleibt aber dabei: Die Rente wird lohn- und beitragsbezogen sein. Der Schlag aus der sozialistischen Gulaschkanone — für jeden das gleiche — , das gibt es nicht, jedenfalls bei uns nicht. Wer länger gearbeitet und mehr Beitrag gezahlt hat, der bekommt auch eine höhere Rente als derjenige, der weniger gearbeitet und weniger Beitrag gezahlt hat.
800 DM Grundrente: Wissen Sie, wie lange dafür ein Durchschnittsverdiener Beitrag bezahlen muß, damit er heute 800 DM Rente bekommt? Wissen Sie, wie lange? 26 Jahre muß er sich jeden Tag zur Arbeit schleppen. Der fragt sich bei der Grundrente: Warum soll ich arbeiten, wenn ich auch ohne Arbeit eine Alterssicherung bekomme.
Nein, ich bleibe dabei: Wir machen Rentenpolitik für die Arbeitnehmer. Freilich, Armut muß bekämpft werden, aber nicht mit den Beitragsgroschen der Arbeitnehmer und der Handwerker.Ich will die Gelegenheit dieser Debatte noch zu einer anderen Mitteilung nutzen: 1986 erhielten zum ersten Mal 350 000 Frauen Kindererziehungszeiten mit einer durchschnittlichen Rentensteigerung von 55 DM im Monat angerechnet. Bis heute werden es gut 600 000 Frauen sein, die Geld für Kindererziehungszeiten schon jetzt erhalten. Meine Damen und Herren, wissen Sie, wieviel Frauen dies mehr sind, die Kindererziehungszeiten angerechnet bekommen, als zu SPD-Zeiten? 600 000, damals waren es nämlich null.Auch in diesem Jahr machen wir den ersten Schritt, die ältere Generation einzubeziehen.
Bitte schön.
Herr Minister, Sie haben gerade gesagt: Ein Arbeiter muß 26 Jahre arbeiten, um auf 800 DM Rente zu kommen.
Wieviel Kinder muß denn eine Frau bekommen, um auf 800 DM Rente zu kommen?
Wir haben nie den Ehrgeiz gehabt und auch nie versprochen, mit Kindererziehungszeiten die Renten zu ersetzen.
Wir wollten zum erstenmal in der Geschichte der Rentenversicherung die Kindererziehung bei der Rente überhaupt anerkennen. Das ist der große Durchbruch.
Es werden in diesem Jahr, 1987 — damit Sie die Zahl nicht gering achten — über eine Million älterer Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1907 zum ersten Mal in den Genuß der Anrechnung von Kindererziehungszeiten kommen. Ich danke allen, die jetzt bei der Antragsstellung der älteren Generation helfen. Nach 7 Wochen — das halte ich für eine große Leistung — ist bereits bei mehr als 670 000 Müttern das Antragsverfahren abgewickelt.
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1684 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Bundesminister Dr. BlümHier vor dem Bundestag möchte ich noch einmal an die Gemeinden, an die Nachbarn, an die Kinder appellieren, den Älteren zu helfen, daß sie diesen Anspruch auch fristgerecht einlösen können.Mein letzter Punkt ist Gesundheit. Ich glaube, daß das von allen Aufgaben, die in dieser Legislaturperiode vor uns liegen, die schwerste Aufgabe ist. Aber wir haben gar keine Wahl, Strukturreform ja oder nein. Man muß nur mal die Entwicklung betrachten: 125 Milliarden DM geben die Krankenkassen in diesem Jahr aus. Das ist fast halb so viel wie der ganze Bundeshaushalt. Wenn wir mit diesen Steigerungsraten weitermachen — dafür kann man mathematisch ganz unbegabt sein — , dann können wir das gesamte System auf Krankenschein umstellen, dann frißt uns die Krankenversicherung auf. Vor 17 Jahren betrugen die Ausgaben der Krankenversicherungen 23,8 Milliarden DM. Zu den heutigen 125 Milliarden DM ist das eine Steigerung von 525 %. Wir haben nicht die Wahl, weitermachen oder ändern, wir haben nur die Wahl, ändern oder enden. Das ist die Wahl, vor der wir stehen, und deshalb müssen wir ändern.
Nun weiß ich, für diese Änderungsnotwendigkeit erhält man allerseits Beifall. Für Vorschläge brauche ich keine Enquete-Kommission; an Vorschlägen mangelt es nicht. Meistens sind das Vorschläge, was andere machen sollen. An Vorschlägen, was die eigene Gruppe beiträgt, haben wir allerdings Nachholbedarf. Es kann nicht die Parole dieser Reform sein: Heiliger Florian, schütz unser Haus, steck' das des Nachbarn an! Ich bin ganz sicher, daß bei dieser Reform — ich will jetzt nicht pathetisch werden — die Gemeinwohlfähigkeit unserer Gesellschaft getestet wird. Wenn wir vor den Lobbyisten und Kleingruppen auf die Knie gehen, dann dankt staatliche Autorität ab. Ich schließe mich ausdrücklich dem Appell von Herrn Mischnick an: Auch die Länder, alle sind aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten. Eine so schwere Aufgabe kann man nur bewerkstelligen, wenn alle ihren Beitrag leisten. Das Eintrittsgeld, zur Veranstaltung Vorschläge zu machen, muß darin bestehen, erstmal einen Vorschlag zu machen, was die eigene Gruppe beitragen kann. Gruppeninteressen dürfen nicht mit dem Gesamtwohl verwechselt werden.Da will ich hier vor dem Bundestag sozusagen abschließend doch noch einmal etwas zu der Zahnärztediskussion sagen und mich ausdrücklich vor Tausende von Zahnärzten stellen, die ich nicht mit ihren Funktionären verwechsele.
Ich will nur mal darstellen, wie man es nicht machen soll, sozusagen als abschreckendes Beispiel für die Diskussion über Gesundheitsreform. Da wird mit millionenfachem Aufwand an die Zahnärzte verbreitet — jetzt zitiere ich —:Der Zahnarzt wird zu einem rechtlosen und, wenn er seine vorgegebenen Aufgaben nicht erfüllen kann, auch zu einem im Ansehen abgewerteten Kuli einer Zentralverwaltungswirtschaft, eines durch staatliches Diktat geprägten Krankenkassenstaates. Man muß davon ausgehen, daßdies bewußt auch die Absicht des derzeitigen Bundesarbeitsministers ist.
Jetzt kommt die Beweisführung, warum ich den abgewerteten Kuli offenbar als Programm habe:Schließlich hat er sein strategisches Ziel in einem Fernsehinterview genannt: Beitragsstabilität möglichst bis zum Jahre 2000.
Herr Minister, ich bin weit davon entfernt, Ihre verfassungsrechtlichen Rechte einzuschränken; aber ich muß darauf aufmerksam machen, daß die Zeit, die Ihre Fraktion Ihnen zugebilligt hat, überschritten ist.
Sie sehen, wie fleißig ich bin.
Wir haben so viele Punkte, daß ich hier nur einen Teil vortragen kann. Herr Präsident, ich will mich gern an Ihren Ratschlag halten. Lassen Sie mich nur noch folgendes sagen.
Wir wollen ein freies System, wir wollen kein System mit Schaltern und Bürokratien.
Ich glaube, daß im Mittelpunkt dieses Systems das Verhältnis zwischen Arzt und Patient stehen muß. Das führt in die Grundtiefen der menschlichen Existenz: Wer mit weniger Überwachung und Reglementierung arbeiten will, der muß der Chance der Selbstverantwortung mehr Raum gewähren, der braucht mehr Verantwortung. Das gilt für alle Beteiligten.
Ich glaube auch, wir müssen uns entscheiden, was mit Pflichtbeiträgen und was durch Pflichtsolidarität bezahlt wird.
Wir müssen die Groschen zusammenhalten, damit wir das Geld haben, das medizinisch Notwendige zu finanzieren. Denn wer krank ist, muß geheilt werden, ohne Rücksicht darauf, ob er reich oder arm ist. Aber nicht alles, was der einzelne wünscht, muß mit dem Krankenschein finanziert werden, weil wir sonst nicht das Geld haben, den medizinischen Fortschritt zu finanzieren, und wir wollen den medizinischen Fortschritt. Krankheiten, denen wir früher hilflos gegenüberstanden, können wir heilen. Deshalb gilt es, ein freies und leistungsfähiges Gesundheitssystem zu erhalten. Wir brauchen eine offene Diskussion.
Ich versichere Ihnen: Vor Lobbyisten und vor Agitationen werde ich nicht in die Knie gehen. Es ist eine schwere Aufgabe, aber wir schaffen es; dessen bin ich sicher.
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1685
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Minister Süssmuth, Sie sind jetzt zwei Jahre im Amt. In diesen zwei Jahren sind wir — so glaube ich feststellen zu können — immer fair mit Ihnen umgegangen, einmal weil wir Sie als integre Person kennenlernen konnten und zweitens weil Sie häufig Positionen ergreifen oder ergriffen haben, die wir begrüßen. Allerdings hindern Sie oft Widerstände aus den eigenen Reihen daran, diese richtigen Positionen auch auszufüllen.Den 86er Haushalt haben Sie vorgefunden; den konnten Sie nicht mehr beeinflussen. Aber den 87er Haushalt und den, der heute zur Beratung ansteht, haben Sie voll zu verantworten. Diese beiden Haushalte machen deutlich, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, wie weit Sie in der Realität hinter Ihren Ankündigungen zurückbleiben. Ja, diese beiden Haushalte machen deutlich, daß der Finanzminister Ihre Fachpolitik bestimmt.Ich kann mich angesichts der mir zur Verfügung stehenden Redezeit nicht mit allen Aufgabenfeldern Ihres Ministeriums auseinandersetzen. Zu dem wichtigen Thema Frauenpolitik wird meine Kollegin Niehuis sprechen.Fangen wir doch einmal mit der Jugendpolitik an. Viele junge Menschen stehen der Politik heute skeptisch gegenüber. Sie sind enttäuscht. Sie fanden Aufmerksamkeit, als sie protestierten. Aber als die Proteste nachließen, ließ auch die Aufmerksamkeit vieler Politiker den jugendpolitischen Themen gegenüber nach, ja, man kehrte zur Tagesordnung zurück.Der Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" ist ein beredtes Beispiel dafür. Fast alle Empfehlungen, die diese Enquete-Kommission ausgesprochen hat — die meisten davon einmütig — blieben bis heute unberücksichtigt. Unberücksichtigt blieb und bleibt das Schicksal der jungen Menschen, ihnen Mitwirkungsmöglichkeiten und Teilhabemöglichkeiten in Staat, Beruf und Gesellschaft zu sichern und im Bildungswesen Chancengleichheit wiederherzustellen. Auf der Strecke blieb auch das Bemühen um eine tatsächliche Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen.
— Ich habe Sie akustisch nicht verstehen können.
Vielleicht stellen Sie eine Zwischenfrage. Wenn sie nicht angerechnet wird, gehe ich gern darauf ein.Ich nenne als Beispiel das Schicksal des Jugendhilferechts. 1980 wurde nach langen und intensiven Beratungen des Bundestages ein Konsens zwischen den meisten gesellschaftlich relevanten Gruppen in unserem Land erzielt. Diese Jugendhilfereform scheiterte an der konservativen Mehrheit im Bundesrat.
Der zweite ganz klägliche Versuch aus Ihrem Hause im Jahre 1984 scheiterte wegen seiner Unzulänglichkeiten bereits im Anfangsstadium.In diesem Jahr hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die Reform des Jugendwohlfahrtgesetzes angekündigt. Aber wegen der Vorgabe der Kostenneutralität wird auch dieser Versuch bereits in den Abstimmungsversuchen mit den Ländern kläglich scheitern.
Statt dessen werden der Jugendarbeit neue Ziele angedient. Da soll die Jugendarbeit Beschäftigungsinitiativen ergreifen. Da wird doch die Erfüllung von staatlichen Pflichtleistungen jetzt zur Aufgabe der freien Jugendarbeit umgedreht. Das können die gar nicht leisten, denn schon jetzt fehlen Millionen DM im Bundesjugendplan. Das beste Beispiel dafür ist die 6%ige Mittelsperre in diesem Jahr. Die Planungssicherheit der freien Träger ist dadurch auf der Strecke geblieben. Angesichts der geringfügigen Steigerungsraten für diesen Bereich — zwischen 1982 und 1987 wurde das Programm „Zentrale Jugendverbände " nur um 8 % gesteigert — sind alle Ersatzfinanzierungsmöglichkeiten durch Eigenmittel erschöpft. In dieser Situation von den Verbänden als zusätzliche Aufgabe die Lösung von Arbeitsmarktproblemen junger Menschen zu erwarten, ist nahezu zynisch.
Pikant ist sicher auch die Tatsache, daß die mit erheblichem finanziellen Aufwand der Bundesregierung organisierte konservative Gegenveranstaltung zu den Weltjugendfestspielen in Moskau im April 1985 in Jamaika offensichtlich zu den Finanzierungstöpfen der nicaraguanischen Contras geführt hat.
Dafür war Geld vorhanden. Den Verdacht, Frau Süssmuth, den wir nach den uns verfügbaren Quellen haben äußern müssen, konnten Sie mit Ihrer Antwort, die keine Antwort war, jedenfalls nicht ausräumen. Hier werden Sie sich gefallen lassen müssen, daß der Deutsche Bundestag noch weitere Aufklärungen von der Regierung fordert.
Wenden wir uns dem Thema Zivildienst zu. Da entgeht dem aufmerksamen Beobachter nicht, daß nicht Sie es sind, die die Karten neu gemischt hat, sondern daß es auch hier der Finanzminister ist. Wenn man die Kürzung der Aufwandszuschüsse für die Einrichtung von Zivildienstplätzen bei den Trägern sieht und dem gegenüberstellt, daß Sie dies in der Zivildienstzeitschrift auch noch als Erfolg feiern, so kann ich nur sagen: Ein solches Vorgehen ist skandalös. Schließlich haben diese Verbände seit Jahren die wesentlichen Reparaturleistungen der verfehlten Beschäftigungspolitik zu erbringen. Viele Verbände stehen heute angesichts der Zunahme tatsächlicher existentieller Not vor dem finanziellen Kollaps. Sie werden mit immer neuen Aufgaben und Ausgaben befrachtet. Das können sie nicht lösen. Hier kann sich der Staat aus seiner Verantwortung nicht befreien. Denken Sie nur an die Winterhilfe und die Aussagen der Verbände, was sie zur Erfüllung der Zusage des Herrn
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1686 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
JaunichKiechle an finanziellen Aufwendungen zu leisten hatten.
Bei den Beratungen des Haushalts 1987 hatten wir darauf aufmerksam gemacht, daß die Mittel für die Eingliederung junger Zuwanderer für ihre Schul- und Berufsausbildung nicht ausreichen werden. Es ist uns durch unser beharrliches Drängen und Bohren gelungen, diesen Mittelansatz zu erhöhen. Aber er wurde nicht ausreichend erhöht. Mitte des Jahres waren die Kassen leer. Mit dem, was da nachgebessert worden ist, Frau Minister Süssmuth, werden Sie das Ende dieses Jahres ebenfalls nicht erreichen. Auch die von Ihnen vorgesehenen Ansätze im Haushalt 1988 sind unzureichend.
Es ist wohl einfacher, den Zuzug junger Menschen zu begrüßen, als ihnen die Chance für eine tatsächliche Eingliederung zu gewähren. Auch hier: Anspruch und Wirklichkeit klaffen deutlich auseinander.
Ich komme zur Familienpolitik. Im Familienlastenausgleich konzentrieren Sie die Mittel auf das erste Lebensjahr des Kindes. Danach läßt man die Familien mit ihren Problemen allein. Der BAföG-Kahlschlag war nur ein erstes Beispiel dafür. 1986 sagten Sie, Frau Minister: Mit ihrer neuen Familienpolitik will die neue Bundesregierung die Familien schützen, sie unterstützen, ihr einen Teil der finanziellen Belastungen abnehmen und so die Bedingungen für eine kinderfreundliche Gesellschaft schaffen. — 1979 hat der jetzige Bundeskanzler hier im Parlament ganz gewichtig gesagt:Wir wollen für die Familien den gebührenden Rang als wichtigsten Ort individueller Geborgenheit. —
— Ja, Familie; das kann ich nicht so gut aussprechen. —Das ist unser Ziel, und das werden wir auch in der Politik der Bundesregierung durchsetzen.Mit so Streicheleinheiten haben Sie es ja, darin sind Sie wahre Meister. Aber wenn man Ihre konkreten Ergebnisse an diesen Aussprüchen mißt, dann stellt sich auch hier ganz deutlich heraus, wie kraß Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Wie Sie Ihre hehren familienpolitischen Ziele erreichen wollen, das merken wir jetzt. Das kann man aus einer Presseerklärung vom August dieses Jahres ablesen, die Sie als Vorsitzender der CDU-Frauenvereinigung herausgegeben haben. Dort fordern Sie die Parteigliederungen auf, Initiativen zu ergreifen, um für in Not geratene Mütter und Väter zusätzliche und unbürokratisch handhabbare Hilfen zu schaffen. Gibt es also doch Not in unserem Land, und gibt es also doch Not in den Familien, was Sie ja ansonsten in diesem Hause permanent bestreiten?
Sie denken — das steht an anderer Stelle des Papiers — an Patenschaften, an Sach- und Geldspenden und ähnliches. Wenn das die Pflicht der Gesellschaft zur Rücksichtnahme auf die Familien ist und wenn sich der Staat auch auf diesem Sektor aus der Verantwortung abmeldet, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht.
Was von Ihren Phrasen, die Sie — jetzt nicht als Person, sondern durch Ihre ganze Reihung hindurch — zur Familienpolitik permanent abgelassen haben, zu halten ist, hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung im Sommer dieses Jahres deutlich gekennzeichnet: ein großer Bluff mit sozialer Schlagseite.
Da wurde darauf hingewiesen, wie denn im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt der Anteil der begünstigenden Maßnahmen für Familien in den Jahren war, als sozialdemokratische Familienministerinnen dem Parlament Rechenschaft abgelegt haben, und zu Ihrer Zeit. Eine schlechte Bilanz. Das heißt erstens, auch 1986 — das geht aus dieser Untersuchung hervor — lagen die staatlichen Familienhilfen noch unter dem Niveau des Jahres 1981, dem letzten vollen Jahr sozialliberaler Regierungsverantwortung. Und zweitens: „Die Familienpolitik hatte mithin einen überproportionalen Anteil an der Konsolidierung der Haushalte zu tragen. " Das ist ein Zitat aus dieser RWI-Untersuchung. Welch riesiger Widerspruch zwischen Sonntagsreden und der Wirklichkeit in der Familienpolitik.
Das wird auch durch die steuerpolitischen Pläne Ihrer Regierung nicht besser. Ganz im Gegenteil: Damit werden die bereits bestehenden Ungerechtigkeiten noch weiter verschärft. Die jährliche Entlastung bei Einführung des Einkommensteuertarifs 88 eines Alleinstehenden bei einem Jahresbruttolohn von 60 000 DM wird etwa 1 400 DM betragen, während ein Ehepaar mit zwei Kindern und dem gleichen Einkommen sage und schreibe eine Entlastung von 168 DM erfahren wird. Bei drei Kindern wird die Entlastung noch geringer sein. Diese krasse Benachteiligung der Familien ist die heutige Wirklichkeit.Die Familienfeindlichkeit wird aber auf die Spitze getrieben, wenn Verheiratete mit Kindern im Einkommensbereich zwischen 54 000 DM und 144 000 DM im Jahr gegenüber Verheirateten ohne Kinder schlechter behandelt werden. Das ist Ihre Familienpolitik. Frau Süssmuth, Sie als Familienministerin wären in der Pflicht gewesen, gegen diese Steuerpläne Widerspruch anzumelden.
Wie lange wollen Sie sich eigentlich noch von andern vorführen lassen? Wo liegt bei Ihnen eigentlich die Schmerzgrenze?
— Sie kommen doch gleich dran. Sie werden dochgleich den Sonnenschein verbreiten. Dann lassen Sie
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1687
Jaunichmich doch einmal ungeschminkt ein Bild der Realitätaufzeichnen.
Änderungen beim Erziehungsgeld — angekündigt, Kindergelderhöhung — angekündigt, aber alles unter dem Vorbehalt des Kassensturzes. Sie wissen genausogut wie ich, daß Sie diesen Kassensturz nicht abzuwarten brauchen, daß zur Erfüllung Ihrer Ankündigungen in den Koalitionsvereinbarungen kein Geld im Säckel bleiben wird. Das ist doch auch das durchgängige Thema dieser Haushaltsberatung gewesen. Sie verschieben das auf den Sankt Nimmerleinstag, selbst kleine Änderungen im Erziehungsgeldgesetz, die man ohne großen finanziellen Aufwand verwirklichen könnte.
— Herr Kollege, Sie haben doch die gesetzgeberische Mehrheit in diesem Hause. Oder ist das falsch?
Adam Riese müssen Sie sich also auch schon einmal von mir entgegenhalten lassen.
Ein ganz schlimmes und peinliches Datum muß für Sie, Frau Süssmuth, doch der 30. Juni dieses Jahres gewesen sein. An diesem Tag haben 100 000 Anspruchsberechtigte ihren Anspruch auf den Kindergeldzuschlag verloren, weil ihnen die schwierige Systematik, die dem zugrunde liegt, nicht bewußt war und weil trotz hohen Aufwandes dieser Regierung für Propagandaschriften dieses Thema nicht vermittelbar war. Der Kindergeldtorso, mit dem wir es heute zu tun haben, hat zum Anspruchsverzicht geführt. Wenn uns Bürger schreiben, daß sie nur durch das engagierte Eintreten der Kollegen vor Ort kurz vor Schluß der Antragsfrist ihren Anspruch haben geltend machen können, dann muß ich Sie fragen, ob Sie Ihre Verpflichtung auf diesem Sektor richtig wahrnehmen.
Dieses Kindergeldrecht, diesen Kindergeldtorso, hat der Familienbund deutscher Katholiken zutreffend als Wende zu gigantischer Bürokratisierung bezeichnet. Frau Süssmuth, das muß Sie doch schmerzen; Sie waren doch in dieser Vereinigung lange Jahre aktiv tätig.
Der Präsident des Kinderschutzbundes hat sicherlich recht, wenn er anläßlich des Weltkindertages gesagt hat: Wie weit das Spiel mit der Macht auch bessere Einsicht ersetzen kann, mag das Schicksal eines Wahlslogans aus dem CDU-Wahlprogramm 1980 verdeutlichen. Dieser Slogan lautete: Eine Politik, die jetzt an den Familien spart, wird uns alle teuer zu stehen kommen. Das war ja eine gute Formulierung inIhrem Wahlprogramm, aber auch hier messen wir Sie und Ihre Aussagen an den heutigen Realitäten.Nun sehe ich, daß meine Redezeit abgelaufen ist,
ohne daß ich die Chance hatte, noch zum Thema „Gesundheitspolitik" vorzustoßen.
— Herr Kollege, Sie haben auf diesem Felde soviel entgegenzunehmen, weil es nirgendwo sonst so große Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt.
Es gab einmal einen Film mit dem Titel „Ein Gänseblümchen wird entblättert". Das war ein lustiger Film. Der Filmabriß, den ich hier diesem Hause vortragen mußte, entspricht der Realität, und das ist kein lustiger Film, sondern traurige Wirklichkeit, traurige Realität.
Frau Minister Süssmuth, Sie müssen sich wirklich fragen, ob Sie so weitermachen wollen, ob Sie weiterhin mit Ankündigungen operieren wollen, die nicht wahrgemacht werden, und ob Sie damit die Glaubwürdigkeit Ihrer eigenen Person aufs Spiel setzen oder ob Sie nicht endlich das Rückgrat einmal gerademachen möchten und dem Herrn Finanzminister und dem Herrn Bundeskanzler sagen, daß Sie bei den Rahmenbedingungen, die man Ihnen zur Verfügung stellen will, die Ansprüche nicht erfüllen können. Das hieße eigentlich: Dann wird irgendwann der Zeitpunkt gekommen sein, zu dem Sie den Hut nehmen müßten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hoffacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier keine Gänseblümchen pflücken, sondern dem Herrn Kollegen Jaunich eigentlich sehr herzlich dafür danken, daß er uns eine so gute Gelegenheit gegeben hat, unsere Politik darzustellen. Was ich bedaure, Herr Kollege Jaunich, ist, daß Ihre Argumente allmählich in die „Differenziertheit" derjenigen der Grauen Panther übergehen, und ich habe heute mit Befremden festgestellt, daß Sie sich, was Ihre Argumentationsführung betrifft, langsam Frau Unruh annähern. Dies ist natürlich etwas unangenehm für Sie,
aber diese Art gefällt Ihnen offenbar; sonst hätten Sie sie nicht gewählt.
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1688 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Dr. HoffackerIm Gegensatz zu Ihnen und zur SPD halte ich den Einzelplan 15 für eine ausgewogene Vorlage. Die politischen Vorgaben, die wir in diesem Haushaltsplan festgeschrieben haben, sind im Sinne der Zielsetzungen der Regierungskoalition und der Bundesregierung richtig. Daß das dem Herrn Jaunich und der SPD nicht gefällt, ist völlig klar, denn dieser Haushalt deckt damit im Grunde alles das auf, was früher von der SPD-Fraktion falsch gemacht worden ist. Beispielsweise hat Herr Jaunich offenbar vergessen, daß die „große Kinderfreundlichkeit" der SPD und deren „nahe Verbindung zur Jugend" darin bestand, daß man den arbeitslosen Jugendlichen das Kindergeld strich.
Das war eine besonders barmherzige Tat!
Wir mußten Sie dazu zwingen, daß dieses Kindergeld wieder eingeführt wurde, und da gibt es noch eine ganze Reihe von weiteren Beispielen.Es mag ja für Ihre Barmherzigkeit sprechen, daß Sie so oft auf Notsituationen hinweisen, aber ich habe nicht verstanden, von welchem Staat Sie hier eigentlich gesprochen haben. Das muß ein ganz anderer sein, es sei denn, Sie haben das Land Nordrhein-Westfalen gemeint. Da liegen Sie allerdings unglaublich richtig!
Denn das, was Herr Rau im gegenwärtigen Haushalt macht, tut Ihnen weh; das weiß ich.
Ich muß Ihnen sagen: Das, was Sie sich in Nordrhein-Westfalen an Kürzungen im Bereich der Kindergärten, der Jugendarbeit und der Altenhilfe geleistet haben,
spottet jeder Beschreibung und läßt sich durch Ihr lautes Schreien, Herr Kollege Gilges, nicht übertönen. Dies läßt sich nicht wegdiskutieren. Das Land Nordrhein-Westfalen ist offenbar der Staat, von dem Sie hier gesprochen haben.
Meine Damen und Herren, die Wertung, der SPD verkennt auch schlicht und einfach, daß seit 1982 eine Abkehr von ihrer überholten und ideologieverkrampften Politik stattgefunden hat. Das ist kein Wunder. Denn die SPD hat den Anschluß an diese Zeit und an die Entwicklungen verpaßt. Sie schafft es auch gar nicht mehr, nachzukommen. Sie dümpelt so vor sich hin in der Vorstellungswelt des 2. Familienberichts. Uns ist ja allen noch in Erinnerung, was in der Zeit die Familie sein sollte: eine Art Sozialisationsagentur. Da waren ja die Eltern die Ausführenden der Gesellschaft für die Kindererziehung. Sie haben nicht kapiert, daß heute eigentlich nur eine übergreifende Politik der Generationen für eine Zukunft stehen kann.
Ihre triste Konfliktstrategie, die Sie seinerzeit aufgelegt haben, hat ja gezeigt, wie das in Hessen wirkt. Ich kann Ihnen aus den Rahmenrichtlinien für Hessen gern etwas dazu vorlesen, aus dem klar wird, wie die Familie dort nach Ihrer Auffassung zu fördern sei.
In den Rahmenrichtlinien heißt es etwa, die Familie sei ein autoritäres Gebilde. Der wichtigste Zweck dieses autoritären Gebildes sei die Erhaltung bürgerlicher Vorurteile und angestammter Klassenunterschiede. Das vornehmste Ziel in der Erziehung heiße, Kinder über das Konfliktfeld in der Familie reflektieren zu lassen, damit sie die Repression der Familien spüren und davon befreit werden.
— Meine Damen und Herren von der SPD, da kriegen Sie richtiges Stirnrunzeln; ist ja auch richtig. Denn das ist genau der Tenor, von dem Herr Jaunich hier gesprochen hat.In Hessen haben Sie ja gesehen, wohin das führt.
Und wohin das in Nordrhein-Westfalen führt, wissen wir ebenfalls. Das führt dahin, daß man dann in die Opposition gehen darf. Sie wissen das doch und haben das, so meine ich, aus Hessen auch in bester Erinnerung.
— Herr Kleinert, daß sich die GRÜNEN jetzt hinsichtlich dieser überfrachteten und verrotteten Ideologie der SPD langsam überbieten,
zeigen ja nun deutlich das Muttermanifest und Ihre neuen, grünen Vorstellungen zur Jugendpolitik.Meine Damen und Herren, damit haben wir nichts am Hut. Wir sind der Meinung, daß die Leistungen der Familien und der Mütter anerkannt werden müssen und daß wir nicht, wie beispielsweise die GRÜNEN in ihrem Müttermanifest, so eine Art grüner Mütterlichkeit, so eine ganz trotzige Weiblichkeits- und eine sonstige für die Gesellschaft symptomatische, erkrankte Philosophie vertreten dürfen. Das ist klar.
— Es ist sicherlich richtig, Frau Unruh, daß ich von Mütterlichkeit nichts verstehe. Es ist eben nach dem Gesetz der Natur so, daß die Männer noch keine Kinder gebären. Das ist natürlich das Vorrecht der Frau. Aber wir können deshalb doch einiges nachholen.
Meine Damen und Herren, daß Sie das alles so erregt,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1689
Dr. Hoffacker
ist eigentlich für mich ganz unverständlich.
Augenblick mal, Herr Kollege Hoffacker. — Meine Damen und Herren, der gezielte Zwischenruf, der Wirkung erzielt, paßt genau zwischen zwei Sätze des Redners. Wir sollten es vermeiden, dauernd dazwischenzurufen; denn dann können wir alle nichts verstehen. Seien Sie ein bißchen aufmerksamer, bitte.
Meine Damen und Herren, wer sich zu den Leistungen der Mütter bekennt, der betreibt die Aufwertung der Familie und der Mütter, nicht aber derjenige, der einem alten, überholten Weiblichkeitsmythos anhängt. Die Bundesregierung Kohl und Frau Süssmuth, solange sie im Amt ist, hat diese Leistungen der Mütter unentwegt anerkannt und sie nicht irgendwie als eine von der Gesellschaft kostenlos zu vereinnahmende Praxis hier bei uns betrachtet.Meine Damen und Herren, die SPD, die immer für die Gleichbehandlung von Frauen und Männern eingetreten ist, hat in ihrer Politik genau das Gegenteil getan. Was hat sie gemacht? Sie hat seinerzeit das Mutterschaftsurlaubsgesetz gemacht und hat damit die außerhäuslich erwerbstätige Frau und Mutter begünstigt und diejenige, die zu Hause arbeitet, geächtet. Wir haben diesen Klassenkampf aufgenommen. Wir haben festgehalten, daß eine solche Vorstellung für unsere Mütter nicht in Ordnung ist. Wir haben das Erziehungsgeld in praxi — davon würden Sie ja träumen, wenn Sie es je hätten anpacken können — eingeführt. Ich meine, daß Sie diese Leistungen nicht einfach herabmindern können. Sie müssen sich schon bequemen, sie anzuerkennen.Was wir mit dem Familienlastenausgleich wollen, ist, die Familien zu stärken und die Position der Mutter in der Familie und im Beruf in einen Ausgleich zu bringen, damit sie beide Tätigkeiten miteinander vereinbaren und eine entsprechende Lebensplanung verwirklichen kann.Wir wollen auch darauf hinweisen, daß die Familie in unserer Gesellschaft nicht überholt ist, sondern daß sie unverzichtbar ist. Dies, meine ich, müssen wir zur Kenntnis nehmen.Wenn wir die Position der Familie stärken wollen, müssen wir auch die Position des ungeborenen Kindes stärken.
In Anbetracht der nach wie vor unbefriedigenden Praxis der Schwangerschaftsabbrüche wollen wir ein Beratungsgesetz machen. Dieses Gesetz braucht einen breiten Konsens in der Bevölkerung. In der Bevölkerung wächst das Verständnis für den Schutz des ungeborenen Kindes. Gerade die Jugend betrachtet mit großem Ernst die gegenwärtige Praxis der Abtreibung. Wir müssen uns in der Politik fragen, ob wir vor unserer Jugend bestehen können und ob wir glaubwürdig sind. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung des Menschen bilden Bewußtsein und machen deutlich, daß Abtreibung eines ungeborenen Kindes Tötung ist. Unsere Jugend wendet sich mit Recht gegen verschleiernde Sprache und gegen die Haltung mancher Erwachsener. Sie weiß, daß Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht im Gegensatz zum Lebensrecht des Kindes stehen, und das Bewußtsein wächst, daß Selbstbestimmung der Frau das Leben eines ungeborenen Kindes nicht auslöschen darf.
Ich verstehe die beabsichtigten Initiativen von SPD und GRÜNEN nicht, die bereits im Vorfeld und schon im Stadium der Planung eines solchen Gesetzes sich zum Ziel gesetzt haben, es zu Fall zu bringen.
Wenn jetzt GRÜNE und SPD-Frauen sich zum Protest sammeln, dann zeigen sie damit, daß sie nicht zur Diskussion und zur Beratung bereit sind. Daß Frau Ridder-Melchers, die SPD-Staatssekretärin für die Gleichstellung von Mann und Frau in Nordrhein-Westfalen, meint, daß die Frauen gegen dieses Gesetz mobilgemacht werden müßten, und auch DIE GRÜNEN sich der Kampagne zu einem Frauenbegehren anschließen wollen, zeigt deutlich die Haltung, daß sie nicht bereit sind, über ein solches Gesetz und ein solches Vorhaben mit uns gemeinsam nachzudenken und zu diskutieren.
Dieses Vorurteil bestätigt Ihre wirkliche Haltung, nämlich daß Sie eine Beratung zugunsten des Lebens und eine Information über Hilfen im Grunde nicht wollen. Dies ist unmißverständlich, aber widersprüchlich, weil Sie sich sonst mit so viel Vehemenz für die Gleichstellung einsetzen.
Wir setzen uns deshalb für eine noch breiter angelegte Werbung für das Leben ein. Das Bundesministerium hat gutes Aufklärungs- und Anschauungsmaterial geliefert.
Für mehr Aufklärung, Information und Werbung spreche ich mich deshalb aus, weil die Anstrengungen des Ministeriums von der Bevölkerung gut aufgenommen werden.
Allen Mitarbeitern im Ministerium danke ich auch an dieser Stelle für diese Arbeit aufrichtig.
— Es wäre wirklich schön, wenn Sie das einmal mit ein wenig Gelassenheit zur Kenntnis nehmen könnten;
denn wir sprechen hier über ein Thema, von dem alle überzeugt sind, daß es doch wohl wichtig ist. Daß eine andere Meinung als die, die Sie haben, vorgetragen wird, müßten Sie eigentlich noch vertragen.
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1690 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Dr. HoffackerWenn wir in diesen Tagen über die großartigen Bemühungen um die Rettung der Ulmer Siamesischen Zwillinge mit Spannung verfolgen, so muß uns dies bestärken, keine Kraftanstrengung zu scheuen, auch das Leben der vom Tod bedrohten ungeborenen Kinder zu retten.Einwände, dafür sei kein Geld da, überzeugen hier nicht. Wir haben für die AIDS-Aufklärung schnell und unbürokratisch gehandelt und haben dafür Geld bereitgestellt. Was hindert uns, so frage ich, hier auch für die ungeborenen Kinder etwas in die Waagschale zu werfen?Auf dieser Linie liegt auch das Bemühen unserer Arbeitsgruppe, im Haushalt eine deutliche Anhebung der Mittel für die „Bundesstiftung Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" zu erreichen. Diese Stiftung darf nicht deswegen diskriminiert werden, weil sie keine Rechtsansprüche für die Betroffenen einräumt. Die Praxis hat gezeigt, daß hier wirksam geholfen worden ist und daß dies auch in Zukunft noch besser werden kann.
Der Bundesjugendplan und die 6 %ige Haushaltssperre sind hier erwähnt worden. Wenn heute über diese Haushaltssperre 1987 geklagt wird, so ist diese Klage sicher verständlich, auch wenn jeder Zuwendungsempfänger rechtzeitig von der Haushaltssperre wußte. Eine sorgfältige Haushaltsführung und der Umgang mit Steuermitteln verlangen, sich auf eine solche gesetzliche Maßnahme einzustellen. Andererseits verkennen wir nicht die mit dieser Haushaltssperre herbeigeführte Friktion im Arbeitsablauf der Jugendarbeit. Deshalb sollte für das neue Jahr eine solche Haushaltssperre nicht angesetzt werden.
Wenn ich mich vehement für eine Entsperrung der Bundesjugendmittel einsetze, dann trete ich mit gleicher Vehemenz für eine entsprechende Verwendung der Mittel ein. Mir fehlt jedes Verständnis für die Vergabe von Mitteln, die zweckwidrig von Zuwendungsempfängern zum Kampf gegen den Staat verwendet werden. So erwarte ich, daß Organisationen, die zum Gesetzesbruch bei der Volkszählung aufgerufen und öffentliche Mittel zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt haben, dieses Geld zurückzahlen müssen.
Ich erwarte weiterhin, daß solche Organisationen im Wiederholungsfall keine Mittel für ihre Arbeit erhalten. Wir dürfen keine gesetzesbrecherische Arbeit mit Steuern finanzieren.
— Hören Sie doch mal zu, Herr Gilges.Meine Damen und Herren, die Abgrenzung dieser Haltung zur Kritik an staatlichen Maßnahmen durch Jugendverbände will ich aber hervorheben, um jedem Mißverständnis vorzubeugen. Selbstverständlich sollKritik an staatlichen Maßnahmen und Gesetzen nicht geahndet oder Opposition bestraft werden.
Eine Jugend, die nicht kritisiert, ist nicht gesund. Eine Jugend, die nicht widerspricht, ist verbogen.
Aber wer zum Gesetzesbruch auffordert und Maßnahmen dazu ergreift oder unterstützt, überschreitet diese von mir beschriebene Grenze und darf aus dem Bundesjugendplan kein Geld bekommen.
Ich betone dies ausdrücklich, weil die GRÜNEN mit einem Programm an die Öffentlichkeit getreten sind, das unsere volle Aufmerksamkeit verlangt. Wie wirklichkeitsfremd und gesellschaftsverachtend dieses Programm der GRÜNEN ist, zeigt die Lektüre. Ich halte dieses Programm für jugendgefährdend und in keinem Sinne für jugendförderlich. Ich meine, daß wir es unseren Kindern schuldig sind, daß wir uns mit diesen Vorstellungen der GRÜNEN auseinandersetzen. Ich denke auch, daß die SPD hier bald das Wort ergreifen sollte; sonst macht sie sich nämlich in der Öffentlichkeit dies mit zum Maßstab.Meine Damen und Herren, der Garantiefonds ist angesprochen worden. Sie sehen, Herr Jaunich, Ihre Furcht ist völlig unbegründet. Wir haben diese Mittel erhöht. Der Ansatz wird für 1988 ebenfalls den Vorstellungen gerecht. Sie glauben, auf eine falsche Politik zurückgreifen zu müssen, die schlicht und einfach nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Sie wären während Ihrer Regierungszeit über den Zuzug Deutschstämmiger und Auslandsdeutscher zufrieden gewesen. In den Monaten Juli und August sind doppelt so viele aus dem russischen und polnischen Machtbereich zugezogen. Statt 2 000 im gesamten halben Jahr waren es in diesem Jahr in zwei Monaten 5 000. Das verlangt eine schnelle Reaktion. Sie ist erfolgt. Ich verstehe Ihre Kritik daran nicht.Meine Damen und Herren, meine Zeit geht zu Ende. Die Bekämpfung von AIDS und auch die Reformen im Gesundheitswesen wären ein wichtiges Kapitel. Polemisieren hilft hier gar nicht. Emotionelles hilft hier ebenfalls nicht. Was hilft, sind die Disziplin, die Selbstdisziplin, Forschungsdrang und ebenfalls eine ganz entschiedene Aufklärung.Für uns enthält der Einzelplan alle Möglichkeiten, das politische Geschehen zu steuern. Alle wichtigen Gesichtspunkte sind enthalten. Ich danke allen, die an dieser Erstellung beteiligt waren. Wir werden die Zeit bis zur dritten Lesung nutzen und mögliche Änderungsvorstellungen sicher mit einbringen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krieger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade haben wir wieder von Herrn Hoffacker schöne Worte zur Frauenpolitik der Regie-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1691
Frau Kriegerrung hören können. Doch wie wir alle wissen, liegen schöne Worte und gute Taten oft sehr weit auseinander.
Es ist Ihnen gelungen, Frau Süssmuth, bei vielen Frauen Hoffnungen zu wecken und den falschen Eindruck zu erzeugen, es würde sich etwas zum Positiven verändern. Dabei besteht Ihre Leistung, die Sie von manchen Ihrer Parteikollegen unterscheiden mag, eigentlich nur darin, daß Sie endlich einmal die Realitäten zur Kenntnis genommen haben.Allein die Tatsache, daß Sie nun darauf verzichten, den Frauen zu erzählen, sie sollten sich doch bitte schön mit der Mutterrolle begnügen, empfinden viele schon als fortschrittlich. Das zeigt aber nur, wie sehr die CDU der Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hinterhergehinkt ist. Von einer grundsätzlichen Wende oder Verbesserung in der CDU-Frauenpolitik kann aber überhaupt nicht die Rede sein. Der neue Konservatismus mag im Gewand der Frauenfreundlichkeit kommen, aber die nackten Tatsachen sehen ganz anders aus.Sie sprechen viel von Gleichberechtigung, Frau Süssmuth. Aber was für eine Gleichberechtigung ist es denn, die Sie meinen? Einer der ersten Schritte zur Gleichberechtigung müßte doch wohl sein, daß Frauen dieselben Möglichkeiten im Beruf bekommen wie Männer. Da das bekanntlich nicht von allein passiert, wäre es eigentlich die erste Aufgabe einer Frauenministerin, dafür zu sorgen, daß die Quotierung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen eingeführt wird.
Jede zweite Lehrstelle einem Mädchen und jeder zweite Arbeitsplatz einer Frau, das ist nicht etwa unbescheiden, das ist einfach nur das, was uns zusteht. Aber die Folge der Quotierung wäre natürlich auch, daß Männer Privilegien aufgeben müßten. Und das geht ihnen bei allem Gerede von Gleichberechtigung denn doch zu weit.In den Essener Leitsätzen der CDU heißt es — ich zitiere — :Ein Kampf der Geschlechter, in dem die eine Seite gewinnt, was die andere verliert, kann ebensowenig die Lösung sein wie die Verordnung eines starren Leitbildes.Das heißt doch mit anderen Worten nichts anderes als: Die Frauen sollen ruhig ein bißchen gleicher werden, aber die Männer darf es nichts kosten. Und ich möchte hinzufügen: Die Bundesregierung darf es auch nichts kosten. Denn genau so sieht der vorliegende Haushalt aus. Für Frauen haben Sie aufmunternde Sprüche parat, Geld gibt es nicht. Sie reden ja viel von Familien- und Kinderfreundlichkeit. Aber nun mal „Butter bei die Fische", wie die Westfalen sagen: Was kommt denn unter dem Strich für Frauen heraus?Die Anhebung der Kinderfreibeträge bringt den unteren Einkommensgruppen im Jahr 1988 genau8,55 DM mehr im Monat. Das ist nicht einmal ein Mittagessen.
Die Verkäuferin in einem Einzelhandelsgeschäft in der von Massenarmut bedrohten Stadt Hattingen in meinem Wahlkreis bekommt für ihr erstes Kind 104 DM mehr. Die Frau eines Vorstandsmitglieds der Thyssen-Henrichshütte dagegen erhält allein über das Ehegattensplitting schon 1 900 DM monatlich vom Staat. Die Sozialhilfeempfängerin — von denen gibt es in unserer Region, wenn Konzerne und Regierungen so weitermachen, immer mehr — zahlt bekanntlich keine Steuern, und deshalb kriegt sie nichts.
Das ist Frauensolidarität à la Rita Süssmuth.Finanziert wird dieses Luxuspaket namens Steuerreform unter anderem von den ausländischen Beschäftigten. Ihnen wurden nämlich die Kinderfreibeträge für ihre im Ausland lebenden Kinder einfach ganz gestrichen, als gäbe es sie gar nicht. Mag ja sein, daß das christliche Herz für die Familie schlägt, aber der christliche Geldbeutel bleibt jedenfalls zu.
Laut Frau Süssmuth bemüht sich die Regierung sehr um die Frauen, die nach der Familienphase wieder in den Beruf einsteigen möchten. Doch nun konnten wir vom Bundesfinanzminister hören, daß die freiwilligen Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit 1988 wahrscheinlich noch gekürzt werden müssen. Wir schließen daraus, daß Wiedereingliederungsmaßnahmen, Umschulungen und Fortbildungsmaßnahmen eingeschränkt werden müssen. Das geht natürlich genau wieder zu Lasten der Frauen. Und was macht nun die Frauenministerin? Sie appelliert an die Unternehmer, daß die doch bitte schön den Frauen den Einstieg in den Beruf erleichtern möchten, denn das gehöre zu ihrer familienpolitischen Verantwortung. Doch Verantwortung haben die Unternehmer bisher immer nur für eines übernommen: für ihren Profit. Ich glaube kaum, daß sich das durch einen Appell der Ministerin ändern wird.Was sich bei den Unternehmen vermutlich ebenfalls nicht ändern wird, ist ihr Verdruß an Menschen in gesicherten und geregelten Arbeitsverhältnissen. Bisher wurden vorwiegend Frauen in flexible Arbeitsverhältnisse gezwungen. In Zukunft sollen aber auch Männer davon betroffen sein. Frau Süssmuth, das ist die Gleichberechtigung, die Sie meinen. Frauen sollen nicht etwa in den Genuß der Privilegien der Männer kommen, nein, Gleichberechtigung heißt bei Ihnen: Alle, Männer wie Frauen, sollen sich gleichermaßen mit immer schlechter werdenden Lebens- und Arbeitsbedingungen abfinden.
Das, was Sie Vereinbarkeit von Familie und Beruf nennen, Frau Süssmuth, ist nichts anderes als eine verschleierte Form der Doppelbelastung. Was Sie Gleichberechtigung nennen, ist nichts als die Moder-
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1692 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Frau Kriegernisierung des Frauenbildes im Interesse des Kapitals.
Mit Familienfreundlichkeit hat das alles überhaupt nichts mehr zu tun. Kein geregelter Feierabend mehr, keine gemeinsamen freien Wochenenden, kaum noch ein Zeitpunkt, an dem alle Familienmitglieder zu Hause sind. Um so kräftiger muß natürlich dann die Wertentscheidung für die Familie betont werden. Geändert hat sich bei Ihrer Politik hauptsächlich die Wortwahl. Gleichberechtigung, Partnerschaft, Anerkennung auch von Frauenarbeit, das sind zentrale Begriffe Ihrer nur scheinbar neuen Frauenpolitik, getreu dem Motto moderner CDU-Strategen: Es reicht, die Worte zu übernehmen. Da, wo sie sich aber praktisch niederschlagen könnten, in frauenfreundlichen Gesetzen zum Beispiel oder beim Geld, in diesem Haushalt also, da suchen wir vergeblich. Das wundert mich nicht. Konservative Politik hatte für die Masse der Bevölkerung und auch für die Frauen immer schon eher die ideellen Werte parat und nur für eine kleine Elite die materiellen.
Sie hielt auch immer schon mehr von barmherziger Willkür und von privater Caritas als von verbindlichen Rechtsansprüchen für die Betroffenen.Wenn es gerade paßt, wird Geld aus dem Bundeshaushalt auch gerne als politisches Erpressungsmittel eingesetzt. Oder wie soll man es anders nennen, wenn mehreren Jugendverbänden damit gedroht wird, ihre Mittel zu kürzen, nur weil sie es gewagt haben, zum Volkszählungsboykott aufzurufen?
Die Zeiten, als eine rebellische Jugend noch mehr oder weniger gelitten werden mußte, sind anscheinend vorbei. Heutzutage erwartet eine Regierung brave angepaßte Yuppie-Jugendliche mit Karriereköfferchen und aalglatter Gesinnung. Und wenn die Jugend nicht spurt, dann wird sie eben über den Geldhahn auf den richtigen Weg gebracht. Frau Süssmuth, was Sie in diesem Sommer gemacht haben, das ist politische Zensur.
Wenn es das AIDS-Virus nicht gäbe, ich glaube, die Konservativen hätten es erfinden müssen.
Ich habe mir einmal angehört, was für eine Art von AIDS-Beratung in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung den Jugendlichen per Telefon angeboten wird, und ich muß sagen: Ich habe wirklich das Grausen gekriegt. Da erklärt uns der wahrscheinlich allen bekannte Krankenpfleger aus der Schwarzwaldklinik mit getragener Stimme folgendes.Erstens. „Der beste Schutz vor AIDS ist die Treue. "
Zweitens. Nach „sechs Wochen treuer Zweierbekanntschaft" soll man „gemeinsam zum Testen gehen".Drittens. „Vor dem Geschlechtsverkehr" soll man sich dann gegenseitig die Testergebnisse zeigen.Viertens. Vorsichtshalber sollte man nach vier Monaten einen zweiten AIDS-Test machen.Fünftens. Auch dann ist man noch nicht 100 %ig geschützt.
Ich nehme an, wenn sich Jugendliche diese Ratschläge angehört haben, ist ihnen zwar vielleicht noch nicht ganz die Lust vergangen, miteinander ins Bett zu gehen, aber auf jeden Fall dürften sie eine Heidenangst davor bekommen haben. Wahrscheinlich ist genau das der Zweck dieser Art von Aufklärung.
Es gehört doch wirklich schon eine perverse Phantasie dazu, wenn Jugendlichen erzählt wird, damit sie zusammen schlafen können, müssen sie erst einmal zwei AIDS-Tests absolvieren.
Jeder Fünfzehnjährige ein potentieller Virusträger, jeder Geschlechtsverkehr vielleicht der erste Schritt ins Grab: Diese Logik hat mit Prävention überhaupt nichts mehr zu tun. Das Geld, das die Bundesregierung für solche Art von Aufklärung ausgibt, ist nicht herausgeschmissenes Geld, es ist viel schlimmer: Es ist ein eigener Etat im Haushalt zur Förderung von Prüderie.
Sie boykottieren ja auch systematisch jede vernünftige Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen.
Als Herr Geißler noch Familienminister war, ließ er eine gerade fertiggestellte Aufklärungsbroschüre einfach einstampfen, weil sie ihm zu liberal war. Bis heute gibt es keinen Ersatz. Aber vielleicht sollten wir ja froh sein, daß es keinen Ersatz gibt. Denn wahrscheinlich wäre in einer solchen Aufklärungsbroschüre aus Ihrem Hause nur noch von Bienen und Schmetterlingen und als zeitgemäße Variante von AIDS-Tests und Gummihandschuhen die Rede.Geld für Sexualaufklärung fehlt. Aber dafür geben Sie sich, wenn es zu spät ist, plötzlich großzügig und kündigen einen Haufen Geld für die Beratung ungewollt schwangerer Frauen an, das — das sei nebenbei bemerkt — nicht aus dem Bundeshaushalt, sondern von den Ländern kommen soll. Doch im Grunde geht es bei Ihrem geplanten Beratungsgesetz überhaupt nicht um Beratung, es geht darum, unter Hinzuziehung von Eltern, Freunden und Arbeitgebern denDeutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den i 1. September 1987 1693Frau KriegerFrauen klarzumachen, daß sie das Kind, das sie nicht wollen, gefälligst wollen müssen. Der § 218 wird vorläufig noch nicht verschärft. Das ist wahr. Doch das Beratungsgesetz soll die Verschärfung in der Praxis besorgen. Nicht das Strafrecht wird verschlimmert, sondern der Psychoterror. Was Sie Hilfe nennen, ist in Wirklichkeit der nackte Zwang. Das ist Ihre Politik, Frau Süssmuth: Ein Wechselbad von schönen Sprüchen und knallharten Zwangsmaßnahmen. Trotz aller Begriffsanleihen beim feministischen Vokabular: Die Substanz dieser Frauenpolitik ist frauenfeindlich und reaktionär.
Meine Damen und Herren, auch wenn es manchmal schwerfällt, muß man sich an die parlamentarischen Regeln halten. „Blödes Geschwätz" ist unparlamentarisch.
Ich rufe nun die nächste Rednerin auf. Das ist Frau Dr. Niehuis.
Herr Präsident! Sehr verehrte Herren und Damen! Seit gut einem Jahr haben wir ein Ministerium, das im Namen auch den Zusatz „Frauen" trägt. Nun heißt es mittlerweile: Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Wenn man solch eine Namensergänzung vornimmt und es nicht nur Etikettenschwindel sein soll, dann gehört zweierlei dazu: einmal, daß vernünftige Kompetenzen da sind, und zweitens, daß konkrete, erfolgreiche Politik für Frauen gemacht wird.Zunächst einmal zu den Kompetenzen. Frau Ministerin, Sie haben hinsichtlich Ihres Kompetenzzuwachses von einem großen Durchbruch für die Frauenpolitik geredet. Sehen wir uns Ihre Kompetenzen doch einmal bei Licht an. Ich gebe zu: Sie sind jetzt für Mutterschutz und Frauenförderung in der Bundesverwaltung zuständig, aber damit hat es sich auch. Viel interessanter ist doch zu erwähnen, welche Bereiche man Ihnen verweigert hat. Sie sind nämlich nicht für das für die Gleichstellung von Frauen so wichtige EG-Anpassungsgesetz zuständig. Sie sind nicht zuständig für das Ehe- und Familienrecht. Sie sind nicht zuständig für die Gesamtreform des § 218, und Sie sind nicht zuständig für die soziale Sicherung von Frauen. Man hat Ihnen also Zuständigkeiten für Gesetze, die wirklich die Existenzsicherung von Frauen berühren, verweigert.
Die frauenpolitischen Weichenstellungen finden nach wie vor in anderen Ministerien statt, und Sie haben noch nicht einmal ein Vetorecht.Diese Situation bezeichnet die Frauenministerin als großen Durchbruch für die Frauenpolitik. Wer diese kleinen Brosamen als großen Durchbruch für die Frauenpolitik bezeichnet, Frau Süssmuth, der oder die hat keine großen Erwartungen und Forderungen an eine gute Frauenpolitik und sollte den Titel „Frauenministerin" schleunigst zurückgeben.
Nun weisen Sie dann noch allzugern auf Ihr Initiativ- und Vertagungsrecht hinsichtlich Frauenthemen in den Geschäftsbereichen anderer Ministerien hin. Diese Rechte aber hat die Ministerin nur im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler. Insofern schrieb das „Sonntagsblatt" am 19. Juli zu Recht, daß es nur Rechte von des Kanzlers Gnaden sind. Das heißt: Wenn sich der Kanzler im Kabinett für Sie einsetzt, haben Sie diese Rechte. Nach dem Theater um die Pershing Ia kann ich mir diese Situation allerdings plastisch vorstellen.
Bei der Uneinigkeit und Zerrissenheit innerhalb der Union und innerhalb der Koalition glaubt doch keiner, daß sich der Bundeskanzler Helmut Kohl ausgerechnet wegen eines Frauenthemas noch zusätzlich zwischen die Stühle von CDU, CSU und FDP setzen wird. Das ist doch Illusion.
Frau Ministerin, mit Interesse werden wir in diesem Zusammenhang Ihren Eiertanz um das Thema Frauen und Bundeswehr beobachten. Das gehört in die Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums.Kurzum: „Ministerium für Frauen" ist für mich ein Etikettenschwindel.Wenden wir uns nun dem zweiten Bereich zu: den Inhalten Ihrer Politik und Ihrer Durchsetzungskraft. Gerade in Ihrem Zuständigkeitsbereich haben Sie es häufig mit Menschen in Notsituationen zu tun, z. B. mit Menschen, die meinen, sie seien mit AIDS infiziert oder die bereits mit AIDS infiziert sind oder auf der anderen Seite mit Frauen, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt befinden. Beide Gruppen brauchen Beratung. Wie gehen Sie nun auf die eine und auf die andere Gruppe ein?Bei der ersten Gruppe verfolgen Sie richtigerweise den Weg der Aufklärung und berufen sich auf Vernunft und Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen; so bei AIDS. Bei den Frauen, die sich in Schwangerschaftskonflikten befinden, wollen Sie die Beratung zu § 218 zu Lasten der Frauen verschärfen. Warum, Frau Ministerin, frage ich da, berufen Sie sich nicht auch bei den Frauen, die sich in Schwangerschaftskonflikten befinden, auf Vernunft und Eigenverantwortlichkeit der Frauen und verhindern das Beratungsgesetz?
Darum, Kollege Hoffacker, können Sie sicher sein, daß wir Frauen weiterhin mobil machen werden gegen dieses Beratungsgesetz.
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1694 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Frau Dr. NiehuisSie sprechen sich gegen die Meldepflicht für AIDS-Infizierte aus und begründeten das in der „Monitor"-Sendung vom 3. Februar mit Erfahrungen aus anderen Ländern mit der Meldepflicht, die zu einem Rückgang der Testuntersuchungen geführt habe. Ich bitte Sie, lernen Sie aus den Erfahrungen anderer Länder, aber dann bitte schön auch anderer Bundesländer. Schauen Sie einmal nach Baden-Württemberg. Dort geht man mit der Beratung zu § 218 nahezu so um, wie Sie es bundesweit planen. Darum gibt es von dort schon heute eine regelrechte Flucht von Frauen in andere Bundesländer. Wollen Sie wirklich, daß Frauen zum Zwecke des Schwangerschaftsabbruchs wieder ins Ausland gehen müssen oder aus Verzweiflung sogar zu Engelmachern?
— Hören Sie doch zu; davon haben Sie mehr. — Ich sage Ihnen: Sie wissen selbst sehr gut, daß diese Regierung die Frauen im Stich läßt. Ich sage auch: Sie wissen sehr gut, daß die rechtsunverbindliche Stiftung „Mutter und Kind" mit den gut 1 000 DM im Monat für Frauen, die sich in Schwangerschaftskonflikten befinden, nur ein Almosen ist. Ich behaupte, daß Sie das sehr gut wissen, denn Sie gründen im Moment als Vorsitzende der CDU-Frauenvereinigung das Patenprogramm „Ja zum Leben, ja zum Kind". Dazu zitiere ich eine ap-Meldung:Gedacht ist an Patenschaften, die in Situationen der Not und Krise dort weiterhelfen, wo gesetzliche und freiwillige Leistungen nicht ausreichen, erklärte dazu die Ministerin.Wir haben es also mit einer Frauenministerin zu tun, die zugibt, daß die gesetzlichen und finanziellen Leistungen für Frauen nicht ausreichen, die die Verantwortung dann in gesellschaftliche Gruppen verlagert, anstatt als Ministerin das zu tun, was sie zu tun hätte, nämlich für bessere Gesetze zu sorgen.
— Ich weiß nicht, warum Sie sich so aufregen. Hören Sie doch zu!
— Ich sage Ihnen, was Frauen darüber denken. So eine Ministerin ist für viele Frauen keine Frauenministerin.Das wissen auch die Trümmerfrauen. Frau Süssmuth, wir haben Wahlkreise nebeneinander in Südniedersachsen. Mir schreiben dort viele ältere Frauen über ihren Ärger hinsichtlich der Stufenregelung bei der Anerkennung der Kindererziehungszeiten für die Rente.
— Hören Sie doch einmal zu! Das habe ich doch schon einmal gesagt.
Ich möchte, daß Sie sich einmal ein Zitat aus den vielen Briefen wirklich anhören. Da schreibt mir eine ältere Frau:Daß nun unsere Jahrgänge von der Bundesregierung so in den Hintergrund gedrängt und gestellt werden, ist ungerecht, und wir fühlen uns von dem Gesetzgeber abgeschrieben. Denn manch eine von uns Frauen erreicht den Monat Oktober 1990 nicht mehr. Es ist anzunehmen, daß dies mit eingeplant ist.
Abgeschrieben fühlt sich diese Frau, und ich sage Ihnen: Abgeschrieben fühlen sich viele Frauen, nicht nur Rentnerinnen, sondern auch die Arbeitnehmerinnen, die nur noch befristete Arbeitsverträge erhalten, auch die jungen Mädchen, die keinen Ausbildungsplatz finden. Abgeschrieben fühlen sich auch die Schülerinnen, die unter dem Wegfall von BAföG besonders leiden. Dazu und über Sie, Frau Süssmuth, schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 11. Juli 1987 — ich zitiere, vielleicht hat sie ja recht — :Gegner wie Freunde freilich vermissen, daß sie sich in der Fraktion etwa oder auch im Kabinett zu Dingen äußert, die ihr Ressort überschreiten.Aber genau das erwarten Frauen von Ihnen, daß Sie sich zu Themen auch über Ihr Ressort hinaus äußern,
und zwar nicht nur bei Hinz und Kunz draußen, sondern in Ihrer Fraktion und in Ihrem Kabinett.
Wir erwarten von Ihnen, daß Sie endlich damit anfangen, das auch zu tun.Sie können schon anfangen bei Ihrem Kollegen Fuchtel, der nur von Wahlfreiheit für Frauen gesprochen hat, was Familie und Beruf angeht. Vielleicht kann er auch einmal an die Männer denken, wenn es um Wahlfreiheit geht. Oder Sie können auch bei Ihrem Kollegen Hoffacker anfangen, der sagte, daß die Mutter Familie und Beruf vereinbaren können muß. Er hat ganz vergessen, daß das auch eine wichtige Sache für Manner ist.Sie können bei vielen anfangen, sie können auch bei dem Herrn Bundeskanzler anfangen. Ich gebe Ihnen einen Tip, der nichts zusätzlich kostet, der insofern ein guter Tip und auch noch öffentlichkeitswirksam ist. Das muß gerade für Sie sehr interessant sein: Sorgen Sie dafür, daß der Bundeskanzler bei seinen Empfängen anläßlich von Staats- und Arbeitsbesuchen nicht noch einmal 134 Männer und 6 Frauen, wie beim Honecker-Besuch geschehen, einlädt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1695
Frau Dr. NiehuisSolch eine Männergesellschaft sollte der Vergangenheit angehören.
Frau Ministerin, es ist nicht Gleichstellung — das will ich Ihnen ehrlich sagen, wenn Rita Süssmuth Bundesministerin, CDU-Frauenvereinigungsvorsitzende und demnächst noch Präsidiumsmitglied ist.
Gleichstellung heißt, wenn die Ministerin sich einsetzt, echt engagiert für die Belange aller Frauen, und das vermisse ich. Deshalb sage ich: Diese Regierung tut nichts für Frauen, und diese Ministerin tut auch nichts für Frauen.
kläglicher Abgang!)
Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute nichts Neues gehört, was ich nicht schon x-fach gehört hätte, und falsche Behauptungen werden durch ständiges Wiederholen auch nicht wahrer.
Bei dem für 1988 aufgestellten Haushalt von 19,1 Milliarden DM stelle ich an den Anfang, daß davon 72 % auf Kindergeldleistungen entfallen und daß im Bereich der familienpolitischen Leistungen 3 Milliarden DM auf Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub entfallen.
Nun haben Sie soeben erklärt, wir täten nichts für die Familien. Wenn ich Berichte aus den Bundesländern lese, dann muß ich Ihnen zunächst einmal sagen: Heute führen Sie dem Arbeitsminister und mir die demographische Entwicklung vor. Ich frage mich, wo die familienpolitischen Leistungen denn angesetzt haben, um seit 1968 eine andere demographische Entwicklung in diesem Land mit zu erreichen.
Es gibt jedenfalls im Jahre 1986 — erstmalig seit vielen Jahren — einen Anstieg um 5,3 %. Für das Jahr 1987 kann ich ihn noch nicht genau festlegen, wir sind aber nicht bei sinkenden, sondern nach wie vor bei steigenden Quoten.
Ich habe auch nie behauptet, daß das Erziehungsgeldund der Erziehungsurlaub genügen. Ich möchte Sienur daran erinnern, daß es weder kinder-, noch familien- noch kulturfreundlich sein kann, wenn ein Land immer ärmer an Kindern wird.
Das, was Ihr Vorsitzender für den ländlichen Raum gesagt hat — daß wir gemeinsam keine Verarmung wollen und daß wir dort Anstrengungen wie nie zuvor unternommen haben, um im ländlichen Raum neue Impulse zu setzen —, das wünschte ich mir seit langem auch für die Frage des Zusammenlebens mit Kindern.Wenn ferner gesagt wird, es sei durch die RWI-Studie festgestellt worden, daß wir nichts für den Familienlastenausgleich getan haben, und Sie, Herr Jaunich, das sehr verkürzend darstellen, dann möchte ich doch aus derselben Studie zitieren, was dort ebenfalls festgehalten ist: daß Familien 1986 so stark wie nie zuvor finanziell entlastet worden sind,
daß der staatliche Familienlastenausgleich 25, 7 Milliarden DM in 1986 betrug und damit den Stand von 1981 um 2 Milliarden DM überschritt.Ich füge hinzu, daß die stärkste Reduzierung familienpolitischer Leistungen von 1981 auf 1982 mit einem Einsparungsvolumen von über 2 Milliarden DM erfolgte. Ich denke, hier wird deutlich, wo die Wahrheit liegt. Man muß die RWI-Studie in Gänze zitieren und darf das nicht außen vor lassen. Man kann nicht die Kinderzahlen aus dem Jahre 1975 mit denen aus dem Jahre 1985 vergleichen. Mir scheint hier sehr wichtig zu sein — wenn schon von Adam Riese gesprochen wird — , daß wir heute erheblich weniger Kinder haben. Dies ist nicht außer acht zu lassen.
— Meine Logik ist, daß wir im Familienlastenausgleich kontinuierlich den Weg weitergehen, den wir beschritten haben.
Wenn hier soeben behauptet wurde, diese Mutter mit einem Kind könne sich mit den 104 DM nicht retten, dann muß ich sagen: In dieser Legislaturperiode ist erstmalig seit zehn Jahren das Kindergeld für das erste Kind — sei es über den Kindergeldzuschlag oder über die Steuerfreibeträge — verdoppelt worden. Auch dies gehört zu den Wahrheiten, die man der Öffentlichkeit mitteilen sollte.
Hier ist gesagt worden, wir bezögen die Männer nicht ein. Ich wiederhole zum x-ten Mal: Beim Mutterschaftsurlaub gab es keine Anspruchsberechtigung für Männer. Wenn Sie also von Partnerschaft und Veränderung der Elternschaft reden, dann frage ich mich, wo in der Vergangenheit die Gesetze mit Anspruchsberechtigungen für Väter waren.
Es wird gefragt: Wo sind im Haushalt 1988 die Leistungen für Kindergeld und Erziehungsgeld? Niemand von uns hat sie versprochen. Also sind hier auch keine Versprechen gebrochen worden.
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1696 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Bundesminister Frau Dr. SüssmuthAber ich füge genauso deutlich hinzu — der Finanzminister hat das in mehreren Erklärungen in der Zwischenzeit gesagt — , daß in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode die absolute Priorität bei familienpolitischen Leistungen liegt. Bevor Sie die Öffentlichkeit weiter mit dem aufschrecken, was in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode angeblich nicht getan wird, sollten Sie lieber die Vergangenheit zum Maßstab nehmen, in der die Ankündigungen von familienpolitischen Leistungen voll und ganz eingelöst worden sind.
— Ich lasse mich auch durch Ihre Ausführungen hier an dieser Stelle in gar keiner Weise irritieren. Die Familienpolitik werden wir in dieser Regierung in gemeinsamer Absprache machen.
Ich möchte einen zweiten Gesichtspunkt hinzufügen und tue das bei der Stiftung „Mutter und Kind". Ich denke, daß wir als Bund in immer mehr Bereichen für alles eingefordert werden, was irgendwo draußen im Lande nicht klappt. Ich kann hier nur wiederholen, was der Kollege Hoffacker gesagt hat:
Es kann keine richtige Politik sein, daß die Länder ihr familienpolitisches Engagement gegen Null führen und daß auf der anderen Seite der Bund für alle Leistungen in Anspruch genommen wird. Erst recht machen die Länder keine richtige Politik, die unsere Familienpolitik ständig kritisieren und in ihren Budgets eine Streichung nach der anderen vornehmen.
Nordrhein-Westfalen ist hier heute mehrfach genannt worden; es sind noch andere SPD-regierte Länder zu nennen. Sie sollten einmal schauen, was z. B. in Bremen oder Hamburg tatsächlich an Leistungen erbracht wird.
— Die Sozialhilfe ist früher genauso verteilt gewesen, wie sie heute verteilt ist.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jaunich?
Bitte, Herr Jaunich.
Frau Minister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß durch die Verlagerung von Kindergeldzahlung auf Kinderfreibeträge die Länder mit in die Finanzierung einbezogen sind, und zweitens, daß die Länder und die Gemeinden die hohen Kosten für die Sozialhilfe, die durch versäumte Beschäftigungsinitiativen hier aufgelaufen sind, zu zahlen haben?
Herr Jaunich, Sie wissen, wie der Bund auch zugleich die Kommunen entlastet hat.
— Der Finanzminister wird dazu gleich noch einmal Stellung nehmen; er hat es in seiner Einbringungsrede bereits getan.Ich möchte Ihnen zum zweiten sagen, Herr Jaunich: Sie reden von Ihren vielen Beschäftigungsinitiativen. Ich kenne kein einziges Vorführland bei den SPD-regierten Ländern, wo wir geringere Arbeitslosigkeit hätten, sondern wir haben in den SPD-regierten Ländern eine höhere Arbeitslosigkeit als in den CDU-regierten Ländern.
— An meiner Professoralität brauchen Sie nicht zu kritikastern;
Sie haben genügend unter sich, die hanebüchene Thesen vertreten.
Ich gehöre nicht zu den Gesundbetern und bemühe mich um nüchterne und exakte Analysen. Ich lasse mir von Ihnen nicht sagen, daß der Bund für alles, was in Ländern und Kommunen nicht läuft, verantwortlich ist. Verantwortung ist auch an anderen Stellen von den dort regierenden Parteien zu tragen.
Ich möchte auch hier noch einmal etwas zu dem Bereich der Patenschaften sagen, die hier heute morgen mehrfach kritisiert worden sind. Erstens stelle ich fest, daß wir bei gesetzlichen Leistungen, gerade auch in Verbindung mit den Alleinerziehenden, Verbesserungen vorgenommen haben, die hier nie zur Sprache kommen, beispielsweise die Nichtanrechnung des Erziehungsgeldes auf Sozialhilfe und BAföG. Wenn es so wäre, daß in den einzelnen Ländern für die Bereiche, für die sie zuständig sind, z. B. die Kinderbetreuung Alleinerziehender, die Leistungen erbracht würden, die die Länder zu erbringen haben, dann brauchte ich nicht zu Betreuungspatenschaften aufzurufen. Aber unabhängig davon möchte ich allen hier im Saal sagen: Es ist sehr leicht, den Gesetzgeber
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Bundesminister Frau Dr. Süssmuthin die Pflicht zu nehmen und sich als Person, Bürger und Bürgerin aus der Verantwortung zu stehlen.
Von daher gehört für mich beides zusammen: die Verantwortung des einzelnen und die Verantwortung des Gesetzgebers. Ohne private Initiative wird eine Gesellschaft inhuman. Deswegen halte ich eine Menge von der privaten Initiative in diesem Bereich.
Diese Gesellschaft kann sich in ihrer Sozialstaatlichkeit weltweit sehen lassen.
Das Armutsszenario, das hier heute morgen entfaltet worden ist, hat meines Erachtens mit der Realität wenig zu tun.
Ich rate unseren Abgeordneten, nun wirklich einmal in Sozialhilfehaushalte zu gehen, sich Einrichtungen, Verkehrsmittel etc. anzuschauen und nicht hier vor der Weltöffentlichkeit ein Bild zu inszenieren, das der Wirklichkeit überhaupt nicht entspricht.
Wir sehen durchaus die Menschen im Schatten.
Hier haben Sie in diesen Tagen permanent die Steuerreform kritisiert. Jeder weiß, daß die Steuerreform unverzichtbar ist, wenn sich unser Arbeitsmarkt weiterentwickeln soll. Das gilt insbesondere auch für die Frauen.
— Sie nennen es „Stuß", daß die Steuerreform dazu notwendig ist, wissen aber kein besseres Mittel anzugeben, als daß durch öffentliche Kassen Beschäftigungsinitiativen aufzulegen sind, die dann nicht wirken.
Zum zweiten, was die Frauenpolitik betrifft: Ich habe meinem Satz, daß die Kompetenzen einen großen Durchbruch darstellen, nichts hinzuzufügen. Ich möchte hier noch einmal darauf hinweisen, daß ich nirgendwo in der Vergangenheit vergleichbare Kompetenzen in der Koalitionsregierung alter Art gesehen habe.
— Man hat es „Arbeitsstab " genannt. Aber wenn hier eben von Ihnen, Frau Niehuis, gesagt wurde, es sei in wichtigen Bereichen keine Verantwortlichkeit der Frauenministerin gegeben, dann muß ich Ihnen sagen, daß diese für alle Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode weit über das hinausgeht, was Sie hier gesagt haben. Auch hier wurde wieder ein Teil unterschlagen, nämlich die Mitwirkung in den Arbeitsgruppen Gesundheitsstrukturreform und Rentenreform. Wo waren denn da früher die Frauen? Also, ich denke, die Praxis und die Fakten entscheiden und nicht das, was Sie mir nur auf dem Papier entgegenhalten.
Ich füge hinzu, daß der Bundeskanzler gerade bei den frauenrelevanten Gesetzgebungsmaßnahmen die gemeinsame Federführung festgelegt hat.
— Sie suchen sich immer einen neuen Teil aus. Jetzt fragen Sie, was bei der Steuerreform ist.Was ich angeführt habe, widerlegt Ihre Aussage, daß die Frauenministerin nicht verantwortlich die Politik mitgestalten kann.Im übrigen möchte ich Ihnen auch sagen: Es wäre sicherlich hilfreich, Sie würden einmal die Frauen im Umgang mit mir selbst erleben. Sie bedanken sich nicht bei mir für die frommen Sprüche, sondern für den tatsächlichen Einsatz, und dies gerade auch die Trümmerfrauen.
Ob es Erziehungsgeld ist oder ob es die Leistungen für die älteren Frauen sind,
ich kann Ihnen nur sagen, daß die älteren Frauen, die am 1. Oktober ihre Anerkennung entgegennehmen, nicht die Sprüche verbreiten, die Sie hier verbreiten, sondern das sehr anerkennend auch zur Kenntnis nehmen.
— Die anderen sind in einem Vierjahresprogramm dabei. Wir können von heute morgen noch einmal wiederholen, daß vier Jahre weit weniger sind als dreizehn Jahre, in denen nichts geschehen ist.
Ich bringe ein nächstes Beispiel: Sie haben die Frauensituation beklagt. Wir haben noch nie so viele erwerbstätige Frauen wie gegenwärtig gehabt. Wir haben jährlich 320 000 Frauen, die auf den Arbeitsmarkt zurückkehren. Allein im letzten Jahr hatten wir eine Steigerung von 11 %, d. h. es waren 64 000 weitere Frauen. Wenn das alles zuträfe, was Sie hier verkünden, daß wir die Frauen mit unseren Maßnahmen vom Arbeitsmarkt verdrängten, dann hätten wir nicht diesen hohen und steigenden Anteil. Wir sind in der Altersgruppe von 25 bis 45 Jahren bei einem Erwerbstätigenanteil von 63 % angekommen. Es ist barer Un-
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1698 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Bundesminister Frau Dr. Süssmuthsinn, zu behaupten, wir täten nichts für die Frauenförderung.
— Auch hier sage ich: Wenn Sie für die Teilzeitoffensive das getan hätten, was Sie hier immer einbringen — oder verhindern — , dann hätten wir mehr Möglichkeiten, Familie und Beruf zu vereinbaren, und damit mehr Arbeitsplätze für diejenigen, die draußen stehen. Es ist leicht gesagt: Dies wollen wir nicht, und jenes wollen wir nicht. Wir bereiten die Teilzeitoffensive vor,
ebenso wie die verstärkte Wiedereingliederung. — Ob die Frauen Teilzeitarbeit wollen, haben nicht wir zu entscheiden, sondern die Frauen selbst.
Die 232 000 arbeitssuchenden Frauen und die geringe Anzahl der Plätze, die zur Verfügung stehen, sind für mich das Kriterium, das ausschlaggebend ist, und nicht das, was wir ihnen immer bevormundend erklären, was sie tun dürfen.Ich sage auch, daß wir im Bereich der Fortbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit noch nie einen so hohen Anteil an Frauen wie gegenwärtig hatten, nämlich 35 %; bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind es 36 %. Nichts ist wahr davon, daß die Frauen aus allem herausgedrängt werden.
Nun zu Ihrem Punkt Beratungsgesetz. Ich weiß, daß wir hier eine breite Polarisierung haben. Ich gehe sicherlich nicht konform mit denen, die die Diskussion in der Weise führen, daß sie beim ungeborenen Leben — wie in der Fraktion der GRÜNEN — von unerwünschtem Zellgewebe sprechen, das möglichst früh zu entfernen ist. Ich denke, die Diskussion müßte nach heutigem Stand — Sie kennen Ihre Kollegin — auf einem anderen Niveau geführt werden.
Wer so sehr — zu Recht, sage ich — an Tatbestände des Dritten Reiches bei der Euthanasie und den anderen Mißständen erinnert, der sollte die Diskussion um ungeborenes Leben wirklich in der gleichen Ernsthaftigkeit wie die um behindertes oder sterbendes Leben führen.
Es ist auch völlig abwegig, AIDS-Beratung und Schwangerschaftskonfliktberatung mit den gleichen Maßstäben zu messen. In dem einen Fall geht es darum, Gesunde zu beraten, wie sie sich vor AIDS schützen können. Für mich ist abwegig, Frau Krieger, was Sie sagen, daß wir zur Prüderie erziehen. Für mich ist entscheidend, daß junge Menschen, Menschen, die Sexualverkehr haben, sich verantwortlich verhalten. Dazu gehört für mich sowohl die Aufforderung zur Treue, zur Vorsicht gegenüber wechselnden Partnerschaften als auch die Frage, sich entsprechendzu schützen. Aber zu sagen: Ihr nehmt die Lust auf Ins-Bett-Gehen, scheint mir wirklich zu kurz gesprungen zu sein
und auch wirklich nicht einer Sexualaufklärung zu entsprechen, die junge Menschen von uns erwarten. Die nehmen das Thema ernster, als wir es hier vertreten.
Für mich ist die Verbesserung der Beratung keine Verschärfung des § 218. Ich wiederhole noch einmal — wir werden den Referentenentwurf im Herbst vorlegen — , daß es um eine Verbesserung der Beratung geht. Wenn wir uns als Frauen auch für die Frauen verantwortlich fühlen, die betroffen sind, dann sollten wir hier im Parlament aufhören, jene Hilfen zu kritisch unter die Lupe zu nehmen und zu fragen, ob Wohnungsvermittlung, Arbeitsvermittlung oder Betreuungsvermittlung in den Katalog aufgenommen werden dürften. Ich wiederhole hier noch einmal: keine Frau ist zur Inanspruchnahme der Beratungshilfen in diesen Bereichen gezwungen. Aber es ist doch wohl mehr als unsere Pflicht, die Beratung auf diese Bereiche auszuweiten, um denen zu helfen, die sich nicht allein helfen können.
Da meine Zeit kurz ist, möchte ich den Bereich AIDS-Politik nur mit drei Sätzen streifen. Ich denke, daß wir mit dem Sonderprogramm mit 132 Millionen DM für den Haushalt 1988 und zusätzlich 108 Millionen im Jahre 1987 als Bund gezeigt haben — hier liegen wir in Europa wirklich an der Spitze und weit auch vor den USA — , daß wir diese Krankheit ernst nehmen und im Bereich der Forschung, der Beratung und der Hilfen alles einsetzen, was diese Krankheit erfordert. Ich glaube, daß wir alle in einem Punkt übereinstimmen: Diese Krankheit kann nur bekämpft und beherrscht werden mit Eigenverantwortlichkeit und Aufklärung, ohne Ausgrenzung und Diffamierung. Auf diesem Weg werden wir konsequent weitergehen.
Insgesamt scheint mir in der Gesundheitspolitik erforderlich zu sein, die Prävention zu verstärken und auszubauen — ob es sich um die großen Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs handelt, ob es der Verbraucherschutz ist — , und zwar auch in unseren Haushalten.Zur Jugendpolitik: Eben ist gesagt worden, wir hätten in der Jugendpolitik keine Verbesserungen vorgenommen. Wir haben auch für das Jahr 1988 den Haushalt für den Bundesjugendplan erhöht.Der Garantiefonds ist in allerkürzester Zeit mit Hilfe des Finanzministeriums den Gegebenheiten angepaßt worden. Wir holen die Menschen nicht nur in die Bundesrepublik. Ich weise darauf hin, daß die Zahlen in sehr kurzer Zeit um mehr als das Doppelte angestiegen sind: über 26 000 im Jahre 1986. Seit Juli dieses Jahres — das können Sie in den Übergangslagern feststellen — erreichen die Zahlen eine Höhe, die in der Tat von keiner Planungsstelle erwartet worden ist.
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Bundesminister Frau Dr. SüssmuthAls unmittelbar wirksame Maßnahme ist die Haushaltssperre zurückgenommen worden. Eine überplanmäßige Ausgabe ist festgelegt worden. Zur Zeit wird über den erhöhten Ansatz für 1988 verhandelt. Ich hätte mir von der Opposition gewünscht, daß sie mit einem Wort hätte einfließen lassen, was uns von den Schulen gesagt wird: Wir danken Ihnen für die schnelle, unbürokratische weiterführende Hilfe. Auch die Schulen erklären, daß sie mit einem solchen Ansturm nicht gerechnet hätten.Ich denke also, daß wir hinsichtlich des Garantiefonds keinesfalls von Kürzungen, von Nichtreaktionen sprechen können. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, daß Maßnahmen durchgeführt werden.Das gilt auch in anderen Bereichen der Jugendpolitik. Wir kommen mit den überkommenen Formen nicht mehr hin. Wir haben darauf zu reagieren, daß sich Jugendliche neben großen, unüberschaubaren Verbänden kleine, aktive Arbeits- und Freizeitformen wünschen, auch mit arbeitsweltbezogener Jugendarbeit dort, wo das erforderlich ist. Es gibt jene Benachteiligten, die wir alle nicht aus dem Blick lassen sollten.Es ist auch kritisiert worden, daß wir den Volkszählungsboykott nicht ohne jede Reaktion hingenommen hätten. Für mich gehört es immer noch zur staatsbürgerlichen Erziehung, daß die Jugendlichen zu einer positiven Einstellung zur Demokratie erzogen werden.
Zum zweiten ist Verhalten in der Demokratie immer auch ein kritisches. Zum dritten ist aber unabdingbar — das gilt auch für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages —, daß die Gesetze geachtet werden.
Ich habe den Jugendvertretern gesagt: Sie werden ja wohl auch nicht erwarten, daß ich, wenn sie das Jugendministerium in Brand stecken, noch komme und mich bei ihnen bedanke und ihnen dafür eine Belohnung zahle. Hier geht es doch vielmehr darum, daß auch junge Menschen im Umgang mit der Demokratie lernen müssen, daß Gesetze einzuhalten sind.
— Wir haben unsere Kinder dazu erzogen, das zu tun, was die Mehrheit tut: die Gesetze zu achten. Das gilt auch für alle anderen.
Ich möchte zum Abschluß allen denen danken, die an den vorbereitenden Arbeiten zur Haushaltseinbringung teilgenommen haben, die diesen Haushalt ermöglicht haben. Ich hoffe, daß dieser Haushalt Ihre Zustimmung finden wird.Danke schön.
Nachdem die Beratung der großen Einzelbereiche im Rahmen der ersten Lesung des Haushalts beendet ist, kommen wir nun zu den abschließenden Gesamtbetrachtungen. Dabei hat der Abgeordnete Cronenberg als erster das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Regierung und Koalitionsfraktionen haben in diesen Tagen ein schlüssiges und erfolgversprechendes Konzept mit deutlicher liberaler Handschrift vorgelegt. Ich möchte für die FDP noch einmal deutlich machen, daß es für uns eine Einheit von Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik gibt.
Meine Damen und Herren, wer die großen Zukunftsaufgaben in enges fachliches Kästchendenken zu drücken versucht, irrt. Nur eine solide Haushaltspolitik und eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik schaffen die Voraussetzungen für den notwendigen sozialen Ausgleich.Verehrter Rudolf Dreßler, für uns steht der Mensch auch in der Sozialpolitik, im Mittelpunkt unserer Bemühungen, und wir benutzen die Sozialpolitik nicht für üble Polemiken, wie dies heute morgen in Ihrer Rede der Fall war.
Selbstverständlich ist Wirtschaft kein Selbstzweck. Selbstverständlich sollen die Ergebnisse und Erträgnisse der Wirtschaft den arbeitenden Menschen und den Unternehmen zugute kommen. Selbstverständlich müssen Steuern und Beiträge dazu beitragen, unser Gemeinwesen und unsere soziale Sicherheit zu finanzieren. Aber dabei wollen wir den einzelnen Bürgern ebenso wie den Arbeitsplätze schaffenden Unternehmen, besonders den kleinen und den mittleren, möglichst viel von den von ihnen erarbeitenden Erträgnissen belassen.Wir unterscheiden uns in diesem Punkt deutlich von den Sozialdemokraten. Wer in diesem Zusammenhang behauptet, die geplante Steuerreform führe dazu, daß die sogenannten Reichen überproportional profitieren,
hat nicht begriffen, welches arbeitsmarktpolitische Grundkonzept hinter unserer Steuerreform steht. Meine Damen und Herren, glauben Sie denn wirklich, daß man in Bremen oder anderswo besonders viele Arbeitsplätze schafft,
wenn man kleinen und mittleren Unternehmen — Gewerbe- und Kirchensteuer eingerechnet — über 70 ihrer Erträgnisse wegsteuert? Bei höchsten AOK-Beiträgen und hohen Löhnen sind diese Betriebe nicht wettbewerbsfähig. Sie brauchen mehr Eigenkapital. Niedrige Steuern, höheres Eigenkapital, das ist erfolgversprechende Arbeitsmarktpolitik.Meine Damen und Herren, ich stelle fest: Die Sozialdemokraten sind nach wie vor der Meinung, daß
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1700 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Cronenberg
dem Bürger möglichst viel Steuern abgenommen werden sollten,
zwar aus Motiven, die ehrenwert sein mögen, aber im Ergebnis sollen dem Bürger eben möglichst viel Steuern abgenommen werden.
Wir möchten den Bürgern möglichst viel von ihrem Sauerverdienten belassen — im Interesse der Wirtschaft, im Interesse der Burger.
Weil Sie, meine Damen und Herren, diese Politik vertreten, ist Ihr Gejammer über eine angeblich zu hohe Nettoneuverschuldung ebenso falsch wie Ihre Forderung nach zum Teil steuerfinanzierten Ausgabeprogrammen.Meine Damen und Herren, große Reformvorhaben in der Kranken- und Rentenversicherung stehen uns bevor. Wir sind dafür, daß wir uns in diesen Bereichen auf das Wesentliche konzentrieren, daß wir die wirklich großen Risiken des menschlichen Lebens absichern. Aber eine erfolgreiche Reformpolitik in den Bereichen der Renten- und Krankenversicherung ist gleichzeitig ein Beitrag zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen. Dies setzt auch voraus, daß sich die Tarifvertragsparteien stärker als bisher dem Schicksal arbeitsloser Mitbürger widmen und dies bei den Tarifabschlüssen berücksichtigen. Wer die Chancen für mehr Arbeit durch zu hohe, durch übertriebene Lohnforderungen oder durch übertriebene Steigerungen der Lohnnebenkosten — besser: Lohnzusatzkosten — verspielt, verschüttet die Möglichkeiten für mehr Arbeitsplätze.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
Herr Präsident, wenn Sie es mir nicht auf meine Redezeit anrechnen, selbstverständlich. Aber das ist Ihr Problem, nicht meines. Ansonsten, bei Manfred Reimann immer.
Also, bei sieben Minuten muß ich das schon anerkennen. — Bitte schön, Herr Reimann.
Herr Kollege Cronenberg, angesichts Ihrer engagierten Rede frage ich Sie: Haben Sie die Nachrichten der letzten Tage in Erinnerung, wonach die deutsche Industrie die Arbeitsplätze im nächsten Jahr um mindestens 0,5 % abbaut, was einen Zugang an Arbeitslosen zwischen 60 000 und 80 000 bedeutet, und glauben Sie, daß die von Ihnen zitierte Steuerreform und andere Reformen einen einzigen Arbeitsplatz in dieser Form erhalten?
Ich bin, Kollege Reimann, überzeugt davon, daß trotz des erforderlichen Abbaus in den strukturschwachen Branchen wie Werften und Kohle — ich will Ihnen einmal die Relationen nennen: In Schleswig-Holstein gibt es 1 Million Arbeitnehmer; davon sind 10 000 in der Werftindustrie beschäftigt — dann, wenn Sie sich bereit erklären würden, uns zu helfen, die Kapitalausstattung der mittleren und kleineren Unternehmen besonders im Dienstleistungsbereich zu fördern, dort viel, viel mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, als in den Bereichen mit Strukturproblemen abgebaut werden. Deswegen meine Bitte um Unterstützung für unsere Politik.
Wir brauchen mehr Leistungsanreize. Das Netz der sozialen Sicherung darf nicht mißbraucht, nicht überlastet werden. Dann werden wir unserer Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen gerecht. Wer uns bei dieser Arbeit hilft — und Sie sind alle eingeladen — , der hilft den Arbeitslosen, der macht echte Arbeitsmarktpolitik, der sorgt für Arbeit und verhindert sie nicht durch Überbelastung und Überbesteuerung. Unterstützen Sie diese Politik! Sie können mit solchen Anreizen Arbeitsplätze schaffen. Geben Sie Arbeit, meine Damen und Herren, helfen Sie alle uns. Sind wir alle in diesem Sinne, im eigentlichen Sinne des Wortes Arbeitgeber, dann lösen wir die Probleme. Dies können Sie tun, indem Sie diesen Haushalt und diese Finanzpolitik, indem Sie diese Wirtschafts- und Sozialpolitik unterstützen. Für diese Unterstützung bedanke ich mich bei allen, die bereit sind, es zu tun, im voraus.
Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Spöri.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundesfinanzminister hat sich über die Steuerdiskussion im diesjährigen Sommerloch sehr verärgert gezeigt. Diese Reaktion ist menschlich durchaus verständlich, wenn man bedenkt, daß aus der ursprünglich geplanten großen, offensiven Thematik, nämlich der Steuerreform '90, inzwischen eindeutig ein negatives, ein defensives Thema für die Koalition und insbesondere für die Union geworden ist.Herr Stoltenberg, Sie haben mit Ihrem großen politischen Knüller, mit Ihrer Superreform '90, nicht viel Glück gehabt, sondern nur Ärger und viel Kritik bekommen — und das nicht nur bei uns, bei der Opposition, was zu erwarten war, und bei den bösen, negativen Medien, sondern auch in den eigenen Reihen, bei den vielen Rommels, bei den Späths, bei den Albrechts, bei den Scharrenbroichs und wie sie alle noch heißen mögen. Und da die Kritik aus dem eigenen Verein wohl am meisten schmerzt, haben Sie zu dieser Kritik, Herr Stoltenberg, gar nichts gesagt. Es hätte uns interessiert, auch zu dieser Kritik in dieser Debatte von Ihnen etwas zu erfahren. Wir verstehen also, daß Sie sich geärgert haben. Aber wundern dürfen Sie sich über diese ungünstige Entwicklung nicht. Denn diesen negativen Ablauf der Steuerdebatte hat nur einer vorprogrammiert und zu verantworten, und das ist Gerhard Stoltenberg, meine Damen und Herren.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1701
Dr. SpöriDer zentrale finanzpolitische und strategische Fehler, den Sie bei den Koalitionsverhandlungen im Februar gemacht haben Sie wissen, was ich meine —, die scheinbare trickreiche Vertagung der Finanzierungsbeschlüsse, löst sich jetzt auch nicht in Wohlgefallen auf, wenn Sie hier jetzt irgendwelche aggressiven Reden gegen die SPD halten oder Ihre Wasserträger dazu vorschicken, meine Damen und Herren.Faktum ist: Sie, Herr Stoltenberg, sind der erste Finanzminister in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, der sich auf eine so groß angelegte Steuersenkung von 44 Milliarden DM festlegen läßt, ohne irgendeinen konkreten Deckungsbeschluß in der Hand zu halten.
Sie haben sich damit etwas geleistet, was sich kein seriöser Privatmann in der Bundesrepublik leisten kann. Sie sind nämlich enorme zusätzliche finanzielle Verpflichtungen ohne solides, konkretes Finanzierungskonzept eingegangen. Der Bürger hat für diese Art von Politik ein feines Gespür. Er merkt, daß hier etwas nicht in Ordnung ist. Er hat zu Recht kein Verständnis für diese Art von unsolider Finanzpolitik, Herr Bundesfinanzminister. Das kommt auch in den neuesten Umfragen ganz deutlich zum Ausdruck; die will ich Ihnen im Detail ersparen.Nun haben Sie zur Begründung für dieses unsolide Verfahren, diese Finanzierungsbeschlüsse auf den Herbst zu vertagen, vorgestern ein neues Argument in die Debatte eingeführt. Sie haben nämlich gesagt, Sie bräuchten die Zeit bis Oktober, um über 150 Einzelpositionen im Subventionsbereich in Ihrem Haus fachlich bewerten zu lassen. Mein Gott! Tun Sie doch nicht so, als ob Sie erst seit Februar im Amt wären, Herr Bundesfinanzminister! Wie war denn die Vorgeschichte der Steuerreform? Sie haben diese Steuerreform für 1990 seit 1985 in vielen Reden und Interviews angekündigt, und zwar in edlem Wettstreit mit der FDP um den goldenen Lorbeer des größten Steuersenkungsversprechens. Sie hätten in diesen zwei Jahren wirklich genug Zeit gehabt, um in Ihrem Haus nicht nur über die Senkung von Spitzensteuersätzen nachzudenken, sondern auch über eine solide Finanzierung, Herr Bundesfinanzminister.
Nein, da gibt es keine Ausflüchte. Das wahre Motiv dieser Vertagung der Finanzierungsbeschlüsse ist ein ganz anderes. Sie haben geglaubt, Sie könnten den Bürgern vor den Landtagswahlen dieses Jahres trickreich nur die Speckseite Ihrer Steuerpläne präsentieren und die Belastung bis zum Herbst verheimlichen. Und Sie haben geglaubt, die Bürger sind alle so brav und fragen gar nicht aufdringlich nach den Belastungen, die aus den Finanzierungsbeschlüssen anstehen. Sie haben sich verrechnet, Sie haben sich verkalkuliert, Herr Bundesfinanzminister. Das war eine einmalige taktische Fehlleistung. Sie haben sich damit selber beschädigt.
Es nimmt nicht wunder, daß vor diesem Hintergrund inzwischen auch Ihre bisherigen Bewundererim konservativen Spektrum der Wirtschaftspresse etwas kritischere Töne anschlagen. Denn ein Finanzminister kann sich viel Unpopuläres leisten, Herr Stoltenberg, wenn er eine klare, berechenbare Linie in der Finanzpolitik verfolgt. Dann kann er aus unpopulären Entscheidungen sogar so etwas wie Popularität für sich selber ableiten. Aber das funktioniert bei Ihnen gegenwärtig nicht mehr, weil Ihre Finanz- und Steuerpolitik zunehmend diffus geworden ist. Die Perspektiven der Steuerpolitik sind so unklar, daß Sie jene Gutwilligen in den Medien, die Fragen, wie es weitergeht, ja automatisch zur Spekulation zwingen. Und wenn man nach dem Vater der Sommerspekulation in der Steuerpolitik fragt, dann ist die Antwort, daß Sie der einzige Vater dieser Sommerspekulation sind, weil Sie nie eindeutige Aussagen in diesem Bereich gemacht haben, Herr Stoltenberg, und nicht die Bösewichter auf den Oppositionsbänken, denen Sie jetzt finstere Kampagnen im Sommerloch vorgeworfen haben.
Im Grund genommen meint der Herr Bundesfinanzminister mit seinen aggressiven Ausfällen gegen die SPD in dieser Frage, wenn er ehrlich ist, ja am meisten seine eigenen Freunde in den eigenen Reihen, die ihn kritisiert haben.
Wenn Sie, Herr Bundesfinanzminister, vor der Sommerpause in der Koalition — was Ihre Pflicht gewesen wäre — klare und seriöse steuerpolitische Finanzierungsbeschlüsse herbeigeführt hätten, wäre die Spekulation in diesen Sommermonaten völlig ansatz- und chancenlos geblieben.Ein bezeichnendes Beispiel für diese diffuse Form der Steuerpolitik ist die Mehrwertsteuerdebatte, meine Damen und Herren. Hätten Sie, Herr Stoltenberg, auch nur einmal in Ihren vielen Reden und Interviews klar gesagt: „Mit mir, Gerhard Stoltenberg, als Finanzminister gibt es diese Mehrwertsteuererhöhung zur Finanzierung dieser Steuerreform '90 nicht", dann hätten Sie die gesamte Spekulation vom Tisch gehabt.Aber was habe ich dazu gehört? Nur markig Unverbindliches aus dem Hause Stoltenberg: Es sei Ihr Ziel, die Steuerreform ohne Mehrwertsteuererhöhung zu finanzieren. Sie haben vorgestern gesagt — ich habe es mitgeschrieben — : Es wird zu einem positiven Resultat ohne Erhöhung der Mehrwertsteuer kommen können. — Können! „Können" haben Sie wieder gesagt. Mit diesen unverbindlichen Begriffen haben Sie sich wieder sperrangelweit die Hintertür für diese Mehrwertsteuererhöhung offengelassen.
Sie laden mit diesen unverbindlichen Formulierungen immer aufs neue zu dieser ganzen Spekulation ein. Sie provozieren selbst die Spekulation, das große gesellschaftliche Ratespiel „Kommt die Mehrwertsteuererhöhung oder nicht?"
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1702 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Dr. SpöriWenn Sie wirklich klare Verhältnisse haben wollten und wenn Ihnen diese Diskussion über die Mehrwertsteuererhöhung auf gut schwäbisch gesagt stinkt, dann hätten Sie die Möglichkeit, in diesem Hause all das abzuräumen, wenn Sie hier eine klare Aussage machten. Das ist keine parlamentarische Zumutung, sondern Ihre parlamentarische Pflicht, Herr Bundesfinanzminister. Treten Sie an dieses Pult, und sagen Sie dem deutschen Volk: Mit mir als Finanzminister wird es keine Mehrwertsteuererhöhung zur Finanzierung der Steuerreform geben!
Jetzt beklagen Sie sich über ein Horrorgemälde, das angeblich die SPD über die Auswirkungen Ihrer Steuerpolitik in den Kommunen gezeichnet hat. Da überschätzen Sie uns in unserer Organisationskraft bei weitem. Herr Bundesfinanzminister, auch die SPD kann eine solche breite Protestbewegung in den Kommunen doch nicht irgendwie künstlich und grundlos organisieren. So stark sind wir organisationspolitisch noch nicht, meine Damen und Herren.Nein, die Realitäten sind anders. Sie wollen hier einfach nicht die Realität sehen, daß christdemokratische Oberbürgermeister wie Manfred Rommel von Stuttgart genauso wie sozialdemokratische Oberbürgermeister darauf hinweisen, daß Ihre Steuerpolitik nicht nur zu einer empfindlichen Einschränkung der kommunalen Dienste für den Bürger führt, sondern auch zu einer dramatischen Einschränkung der kommunalen Investitionen, vor allen Dingen im Umweltschutzbereich.Die Kritik, auf die Sie nicht eingehen, der Sie in dieser Debatte permanent ausgewichen sind, erstreckt sich auch auf den Bereich der Landespolitiker, Herr Finanzminister. Auch die können ja inzwischen nicht mehr schlafen, wenn sie an Ihre Steuerpolitik denken.
Das gilt nicht nur für die „armen" CDU-Landesfürsten wie Ernst Albrecht, sondern auch die „reicheren" CDU-Landesfürsten können nicht mehr richtig schlafen.Ich habe in der „Zeit" ein interessantes Zitat gelesen. Herr Späth hat über die Behandlung der Steuerreform im CDU-Präsidium folgendes erzählt: Im CDU-Präsidium hätten alle weinend herumgehockt und wörtlich gesagt: „Wir können das nicht bezahlen! "
Herr Bundesfinanzminister, ich stelle fest: Sie haben im Bundesrat keine Mehrheit für Ihre Pläne!
Meine Damen und Herren, die Unruhe dieser Herren ist sehr verständlich, denn sie wissen ganz genau, daß, wenn man realistische Wachstumsannahmen unterstellt, Ihre Steuerpolitik 1990 zu einer Neuverschuldung von über 100 Milliarden DM führt.Zum Abschluß möchte ich Ihnen folgendes sagen. Sie waren es wie kein anderer hier in Bonn nach 1982,der die Senkung der Nettokreditaufnahme zum Fetisch der Politik erklärt hat, zum zentralen Qualitätsmaßstab der Politik überhaupt. Deswegen müssen Sie sich hier kritisch an Ihrem eigenen Maßstab messen lassen, auch an Ihren Versprechungen, die Sie gemacht haben.Sie haben meinem Kollegen Struck vorgeworfen, er habe im Zusammenhang mit dem 1 000-DM-Versprechen, das die CDU gemacht habe, gelogen. Ich habe das alles im Protokoll nachgelesen. Sie haben gesagt, Herr Bundesfinanzminister, Ihre Aussage, die Aussage der CDU sei gewesen: Jeder bekommt durch die Tarifentlastung im Schnitt 1 000 DM mehr.
Ich habe mir diese Annonce angesehen. Darin steht etwas ganz anderes, Herr Bundesfinanzminister. Dort steht: Jeder Steuerzahler behält mindestens 1 000 DM mehr. Das ist ein glatter Wählerbetrug.
Wenn Sie sich mit diesen Falschaussagen nicht identifizieren wollen, dann distanzieren Sie sich von solcher Propaganda!Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vennegerts.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines muß man der Politik der Bundesregierung ja lassen: Sie ist ausgesprochen spannend — spannend, weil man nie weiß, was am Ende dabei herauskommt.Wie antwortete die Regierung schon so richtig auf die Anfrage der SPD nach den quantitativen Auswirkungen der Steuersenkungen? Ich zitiere:Diese hängen letztendlich von den Entscheidungen der Verbraucher und Investoren ab, die zahlenmäßig nicht exakt im voraus abgeschätzt werden können.Das ist Politik nach Art des russischen Rouletts, Herr Stoltenberg.
Was wird, bestimmt der Zufall, auf jeden Fall nicht der klare, vor allem nicht der verantwortungsbewußte Sachverstand. Sie verteilen 44 Milliarden DM in den Sektor der privaten Haushalte und Unternehmungen um. Was diese jedoch daraus machen, ist deren Angelegenheit,
auf die der Staat keinen Einfluß nimmt und deren Wirkung im einzelnen auch gar nicht vorherzusehen ist. — Sie müssen bis zu Ende zuhören.Ich will an dieser Stelle nicht mehr die Frage diskutieren, wie Sie die 19 Milliarden DM zu finanzieren gedenken.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1703
Frau VennegertsSie haben im Hinblick auf die Wahlen in Bremen und Schleswig-Holstein die Frage der Finanzierung der Steuerreform bewußt offengelassen, Herr Stoltenberg,
gleichzeitig aber jeden der Unwahrheit bezichtigt, der Vermutungen zur Finanzierung geäußert hat. Das tun Sie, Herr Stoltenberg, wie ein Mimöschen.
Daß Ihre Steuerreform nicht finanzierbar ist, daß sie ein einziges großes finanztechnisches Windei ist, das ist, glaube ich, inzwischen jedem und jeder in der Bundesrepublik klar geworden.Herr Stoltenberg, Sie werden sich sehr bald in der Situation finden, nicht nur einen finanziellen, sondern auch einen politischen Offenbarungseid vor der Republik leisten zu müssen.
Woher soll denn die von Ihnen groß angekündigte Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, 1991 und in den folgenden Jahren, als Effekt der Steuerreform kommen? Ihre Steuerreform ist doch in erster Linie für die Spitzenverdiener gedacht, deren naturbedingt hohe Sparquote dann eben noch etwas höher sein wird und zur Finanzierung Ihrer Defizite dient.Was wollen Sie denn noch alles ausprobieren? Man hat den Gewerkschaften so lange Lohnzurückhaltung verordnet, bis die Lohnentwicklung weit unter der Inflationsentwicklung lag. Dann war es die zu hohe Staatsverschuldung, die uns in den Abgrund treibt, und Konsolidierung und Sparpolitik wurde zum Maß aller Dinge. Nachdem Sie mit dieser Strategie auch keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen hatten, wurden die Sozialleistungen gekürzt, um das frei werdende Finanzvolumen in Richtung Senkung der Unternehmensbesteuerung umverteilen zu können.Die Steuerpolitik seit der Wende — das muß man sich langsam auf der Zunge zergehen lassen — hat den Unternehmen schon 40 Milliarden DM Steuern erspart. Nennen Sie uns doch endlich einmal den Punkt, bis auf den die Unternehmensbesteuerung sinken muß, damit jeder Mensch in dieser Republik einen Arbeitsplatz erhält!Sie senken die Staatseinnahmen, und Sie senken die Staatsausgaben, und Sie erwarten davon, daß geradezu ein wahres Feuerwerk an Kreativität und Innovationstätigkeit in diesem Lande losgeht. Sie haben den Mund schon immer sehr voll genommen. Die Wende in die Zukunft soll stattfinden, das schöpferische und kreative Potential in unserem Land geweckt und gefördert werden. Noch immer erheben Sie den Anspruch, Sie wollten die Zukunft gestalten. Ich frage mich allerdings, wie Sie das denn machen wollen.
Aktive Umwelt-, Sozial- und Beschäftigungspolitik des Staates ist für Sie die Wurzel allen Übels, und die Privaten lösen in Ihrer Märchenwelt die Probleme von alleine. Wenn ich mir allerdings das politische Programm anschaue, das hinter Ihren Haushaltszahlen und hinter Ihrer Steuerreform steht, dann kann ich nur feststellen: Sie beschneiden die politischen Gestaltungsspielräume der öffentlichen Hände in unserem Land in unerträglicher Weise.
Sie bluten die Gemeindehaushalte mit 10 Milliarden DM weniger Steuereinnahmen aus. Gerade bei den Gemeinden liegt ein Hauptteil der gesellschaftspolitischen Aufgaben. Bei ihnen liegen 95 % der Umweltschutzinvestitionen.Herr Stoltenberg, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, daß die Begrenzung des Ausgabenanstiegs für Sie der entscheidende Maßstab für solide öffentliche Finanzen bleibe. Ich sage Ihnen aber: Hinter Ausgaben stehen politische Programme. Hinter politischen Programmen stehen gesellschaftliche Probleme, die zu lösen sind. Ausgaben werden bei Ihnen jedoch zur rein finanztechnischen Größe. Politik reduziert sich bei Ihnen auf zahlentechnische Rechenkunststücke. Wie aber lösen wir z. B. unsere Energieversorgungsprobleme? Wie können wir Formen des Produzierens und Komsumierens entwickeln, die Umweltbelastung gar nicht erst entstehen lassen? Denn Vorsorge statt Nachsorge, Prävention statt Reparatur: Hier liegt das Forschungspotential der Zukunft; hier muß etwas passieren.
Alleine 1985 dienten 10 % aller wirtschaftlichen Aktivitäten in der Bundesrepublik — das sind 180 Milliarden DM — der Beseitigung bereits entstandener Schäden, z. B. der Reinigung des Oberflächen- und Grundwassers. Weiterer Handlungsbedarf besteht. Ich brauche mir nur etwa die Zerstörung der Nordsee anzuschauen. Die Zerstörung der Küstenregion durch die Nordseeverschmutzung schreitet unerbittlich fort. Nichts ist geschehen. Im Haushalt sind keine Gelder dafür eingestellt, um diese Zerstörung abzuwenden. Diese Zerstörung führt zu einer zusätzlichen Verarmung der Küstenregion, und Sie, Herr Stoltenberg, haben als Schleswig-Holsteiner nichts für die Nordsee getan.
Das Widersinnige an Ihrer Politik ist, daß Sie einerseits vorgeben, Entstaatlichung und Privatisierung zu betreiben, d. h. den Staat aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung herauszuziehen. Gleichwohl zeigt sich, daß Sie sehr wohl eine ganz genaue Vorstellung davon haben, wie unsere Zukunft auszusehen hat, nämlich: Das Geld, das noch übrigbleibt, stecken Sie in fragwürdige technologische Entwicklungen und fragwürdige Prestigeprojekte. 880 Millionen DM wird uns auch im Haushaltsjahr 1988 das epochale Projekt Airbus kosten. Der Umwelthaushalt — zum Vergleich — muß sich mit nahezu der Hälfte dieses Geldes zufriedengeben. Schade nur, Herr Stoltenberg, daß der Umweltschutz nicht zum europäischen Prestigeobjekt
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1704 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Frau Vennegertserklärt worden ist; dann würde man sehr wahrscheinlich mehr Gelder für ihn locker machen.
Die Ausgaben sollen gesenkt werden. Aber allein 1,2 Milliarden DM werden im Haushaltsjahr 1988 für den Bereich Weltraumfahrt bereitgestellt. Die Finanzierung der Steuerreform steht in den Sternen, meine Damen und Herren. Der Rest der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel fliegt ebenfalls hinterher. So ist es.
Sie fördern gezielt eine wirtschaftliche und technologische Entwicklung, die zunehmend mit dem militärtechnologischen Bereich verschmilzt. Statt konsequent Abrüstung zu betreiben und die wirtschaftliche Entwicklung zunehmend von der Entwicklung der Rüstungsindustrie zu entflechten, betreiben Sie das genaue Gegenteil. Hier endet all Ihre Privatisierungs- und Entstaatlichungsideologie, nur damit Sie Ihre überholten wirtschaftspolitischen Lehrbuchweisheiten einer Laisser-faire-Ideologie des 19. Jahrhunderts realisieren können. Das sind Ideen, die nur auf dem Papier stehen.Herr Kohl, es ist einfach lächerlich, wenn Sie Aufgaben ökologischer und sozialer Zukunftsinvestitionen, die nur die Solidargemeinschaft, also der Staat, sinnvoll initiieren bzw. wahrnehmen kann, als Bevormundung von Bürgern bezeichnen.Dieser Haushaltsentwurf und die mittelfristige Finanzplanung sind insgesamt ein Haushalt der Unwägbarkeiten, und sie zeigen auf, wer die wahren Verlierer sind: Umwelt- und Sozialpolitik.
Ich komme zum Schluß. Herr Stoltenberg, wenn Sie schon nicht auf die Opposition hören, die fordert, diese fatale Steuerreform zurückzunehmen, dann hören Sie doch wenigstens auf Ihre politischen Freunde, z. B. auf Herrn Späth oder Frau Breuel, denen jetzt schon vor Ihrem Jahrhundertflop himmelangst wird.
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der gestrigen Generaldebatte und auch heute wieder sind — auch durch den Herrn Oppositionsführer — so viele schlecht begründete Attacken gegen die Finanzpolitik der Bundesregierung vorgetragen worden, daß ich kurz vor Schluß der Debatte gerne noch darauf antworten möchte.
— Nein, Herr Kollege Walther, Sie haben in dem Punkte alle Rekorde der Vergangenheit gebrochen.
Da Sie - außer in Form einiger Zwischenrufe — selbst nicht beteiligt waren, brauchen Sie sich auch nicht besonders angesprochen zu fühlen.Meine Damen und Herren, diese Diskussion im Für und Wider der Argumente hat unsere Überzeugung bekräftigt: Die Finanzpolitik leistet ihren wirksamen Beitrag für die Wirtschaftsentwicklung, für eine stärkere wirtschaftliche Dynamik, die wir brauchen zur Bewältigung schwieriger Strukturveränderungen und auch für mehr Beschäftigung. Sie kann dies nur, wenn sich Haushalts-, Steuer- und Währungspolitik harmonisch und erfolgreich ergänzen.Eine in sich schlüssige Alternative der Opposition ist für uns nicht erkennbar geworden.
Herr Kollege Spöri, ich komme auf Ihre Manöverkritik am Vorgehen der Koalition und der Regierung in der Frage der Steuerreform zu sprechen. Es wäre sehr gut gewesen, wenn Sie als großer steuerpolitischer Polemiker der Sommerwochen einmal einige Sätze dazu gesagt hätten, was die Sozialdemokratie ihrerseits in der Steuerpolitik eigentlich tun will.
— Wir haben weder von Ihnen noch von Herrn Apel noch von Herrn Vogel auch nur eine Andeutung darüber gehört, was die steuerpolitischen Konzepte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sind. Für mich und für Millionen Menschen, die der Überzeugung sind, daß sie zuviel Steuern für ehrliche Arbeit leisten müssen, ist das ein Armutszeugnis der Sozialdemokratischen Partei.
Auch sonst ist Ihre Diskussion durch fundamentale Widersprüche bestimmt gewesen. Einerseits wird ein stärkerer Beitrag des Haushalts für eine Vielfalt an öffentlichen und gesellschaftlichen Aufgaben gefordert — in fast jedem Fachgebiet haben Sie hier neue Forderungen in Milliardenhöhe erhoben, zuletzt auch in der familienpolitischen Debatte — , andererseits wird ein leicht ansteigender Trend der Neuverschuldung heftig kritisiert. Sie haben kein Konzept, meine Damen und Herren der Opposition.
Sie müssen sich wirklich einmal darum bemühen, daß jedenfalls in den Grundlinien ein sozialdemokratisches Programm sichtbar wird.Einerseits wird von Ihren finanzpolitischen Sprechern — so am Mittwoch — generell die Höhe der Subventionen attackiert, andererseits fordern die sozialdemokratischen Kollegen in den Einzelplänen und Einzelbereichen massive zusätzliche Subventionen des Bundes für zahllose neue Aufgaben der Strukturpolitik und auch der Sozialpolitik.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1705
Bundesminister Dr. StoltenbergDas ist nicht glaubwürdig, um Ihnen das in aller Klarheit zu sagen.
Die dritte Folgerung in dem Zusammenhang ist — das ist nicht überraschend — : Unsere Politik der Steuersenkung und Steuerreform wird von der Opposition weiter erbittert bekämpft. Vor allem aber in der Rede des Oppositionsführers, des Kollegen Vogel, ist auch hier ein prinzipieller Widerspruch sichtbar geworden.
Es wird von ihm, Herrn Apel und anderen der Anstieg der Belastung der Arbeitnehmereinkommen beklagt, aber es wird überhaupt nicht gesagt, mit welcher Politik sie diese wachsende, vor allem durch die Progression dramatisch ansteigende Belastung mildern wollen.Wenn man dies beklagt, Herr Kollege Spöri, muß man auch bereit sein, die Steuern für die arbeitenden Menschen deutlich zu senken, d. h. den Tarifverlauf grundlegend zu verbessern. Anders geht es nicht, wenn man das will.
Viele Zahlen und Argumente der sozialdemokratischen Sprecher halten einer konkreten Überprüfung nicht stand. Ich will Ihnen das an dem für mich interessantesten Beispiel heute verdeutlichen — ich könnte die Zahl der Beispiele erheblich erweitern, aber das würde die Redezeit sprengen — : Der Kollege Vogel hat gestern in seiner Rede — sie war ja insoweit formuliert — behauptet, daß sich von 1982 bis 1986 das Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer miserabel entwickelt hätte — ich sage es einmal kurz — im Verhältnis zu dem Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögensbesitz. Er nennt Zahlen, die man kritisch überprüfen muß, und sagt dann zu dem zweiten Teil, zu Unternehmertätigkeit und Vermögensbesitz — ich zitiere — : „Leistungsloses Einkommen hat sich hier gelohnt wie kaum zuvor." Das ist sein Kommentar.
Nun muß ich Sie wirklich fragen: Kann man im Ernst als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei sagen, daß Zinserträge aus der Sparleistung der arbeitenden Menschen und Unternehmereinkommen leistungsloses Einkommen sind? Ich finde das ganz unerhört — um das hier deutlich zu sagen! Ich finde das ganz unerhört!
Diese Darstellung ist deshalb so falsch, weil hier ein entscheidender Sachverhalt unterschlagen oder — wie ich unterstelle — nicht erkannt worden ist: Man kann nämlich Einkommen aus Vermögensbesitznicht gegen Einkommen der Arbeitnehmer ausspielen.
— Das will ich Ihnen erklären: Das Statistische Bundesamt hat in seiner volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 1984 sehr interessante Ergebnisse veröffentlicht. Hier ergibt sich folgendes für das repräsentative Jahr, das zugrunde liegt: Nur aus Geldvermögen — das sind im wesentlichen Spareinlagen — haben sich in einem Jahr für Arbeitnehmer — das sind Angestellte, Arbeiter und Beamte — Geldvermögenseinkommen von sage und schreibe 48,5 Milliarden DM,
für Rentner und sonstige Nichterwerbstätige Geldvermögenseinkommen von 28,7 Milliarden DM und für Selbständige Geldvermögenseinkommen von 23,8 Milliarden DM ergeben.
Deshalb ist es einfach unzulässig und irreführend, Geldvermögenseinkommen aus der Sparleistung der hier genannten Gruppen — Arbeitnehmer und Rentner — in einer Zusammenstellung mit den Einkommen von Unternehmern zu koppeln und dagegen Arbeitnehmereinkommen auszuspielen. Wir sind nicht mehr in einer Situation — ich habe Ihnen das am Mittwoch hier schon vorgetragen — , in der wir — wie vor 30 oder 60 Jahren — die Arbeitnehmer schlicht als arme Leute bezeichnen können. Gott sei Dank ist das nicht mehr der Fall.
— Ich trage Zahlen des Statistischen Bundesamtes vor. Wenn Sie sich damit auseinandersetzen wollen, Herr Kollege Kleinert, können Sie das mit den Experten in Wiesbaden tun, aber nicht im Deutschen Bundestag hier mit mir. Es paßt nicht in Ihr ideologisch fixiertes Weltbild, daß Arbeitnehmer in einem Jahr 48 Milliarden DM Einkommen aus Vermögensanlagen haben. Das ist doch eine der großartigen Veränderungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
gegenüber den Zeiten von Karl Marx und der damals wirklich elenden Situation der Arbeitnehmer. Deswegen können wir die Steuerdiskussion nicht ernsthaft mit Ihnen führen, solange Sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß mit der massiven Progressionsbesteuerung die große Mehrzahl der Arbeitnehmer heute in unerträglicher Weise belastet wird.
Das ist, glaube ich, ein interessantes Beispiel für die zugrundeliegende Fehlanalyse des sozialdemokratischen Oppositionsführers und der sozialdemokratischen Partei.
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1706 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Bundesminister Dr. StoltenbergMeine Damen und Herren, das düstere Bild der Sozialdemokraten und GRÜNEN von der angeblich drohenden Finanzkrise der Kommunen ist unzutreffend. •
Die Finanzsituation der Gemeinden hat sich seit dem Regierungswechsel 1982 erheblich verbessert. — Ich rede über die Finanzlage der Kommunen, Herr Kollege Apel, wenn Ihnen das recht ist. — So hat die erste Stufe der Steuerreform 1986 nicht zu einem Rückgang der Steuereinnahmen geführt, sondern lediglich deren Anstieg gebremst. Trotz der Steuersenkung ist 1986 der Gemeindeanteil der Einkommensteuer um 3,4 % angestiegen,
im bisherigen Verlauf 1987 — bis einschließlich August — sogar um 6,2 %. — Ich rede zur Zeit über die Einnahmen der Kommunen. Es ist ja kaum noch möglich, mit Ihnen eine vernünftige Debatte zu führen. Ich muß das bei Ihren Zwischenrufen wirklich sagen. Ich trage hier Fakten vor, über deren Interpretation man natürlich verschiedener Meinung sein kann. Tatsachen aber erhellen eigentlich eine ernsthafte, argumentative Auseinandersetzung, um die ich mich zur Zeit mit Ihnen bemühe.
Auch nach den letzten Steuerschätzungen unter Beachtung der bereits für 1988 beschlossenen und für 1990 geplanten Steuersenkungen und Steuerreformen ergibt sich ein vergleichsweise positives Bild.Meine Damen und Herren, wie glaubwürdig Ihre Plädoyers für die Kommunen sind, will ich noch einmal an Hand einer anderen Zahlenreihe darstellen.
— Nein, schönen Dank. Herr Spöri, ich möchte die Zeit nutzen. Der Oppositionsführer hat mir gestern nach einer persönlichen Attacke unter Ihrem Beifall eine Zwischenfrage verweigert, und heute regen Sie sich auf.
— Ja, wir haben doch eben Herrn Spöri gehört. Jetzt antworte ich. Das ist doch auch ein vernünftiger Dialog.
— Ich will jetzt über die Steuersituation der Kommunen sprechen.Unter dieser Bundesregierung ist der Anteil der Steuereinnahmen der Gemeinden am Gesamtsteuereinkommen auf 14,1 % angestiegen. In den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit war er von 14 % auf 13,5 % zurückgegangen.
— Wir reden zur Zeit über die Finanzsituation der Kommunen. Das ist ein Thema, das Ihnen in dem Moment peinlich werden muß, wo Tatsachen statt Phrasen zitiert werden, die Sie hier vorgetragen haben. Ich habe volles Verständnis für Ihre Reaktionen, meine Damen und Herren.
Die von mir am Mittwoch genannten Entlastungsbeispiele für die Jahre 1986 und 1988 machen ja folgendes deutlich:Erstens. Wir stellen Hunderttausende von Arbeitnehmern im unteren Einkommensbereich schon jetzt von jeder Lohnsteuerpflicht frei. Die Entlastung beträgt hier 100 %. Wir werden, Herr Spöri, diesen Trend 1990 nach den vereinbarten Eckwerten verstärken.Zweitens. Wir wollen nicht, daß berufstätige Ehefrauen selbst mit durchschnittlichem Einkommen bei Wiedereintritt in das Arbeitsleben bei 100 DM Lohnsteigerung dann 107 DM abgezogen bekommen, wenn der Mann ein etwas überdurchschnittliches Einkommen hat. Das ist ein Grund, warum wir für die Steuerreform sind.
Dieses Beispiel habe ich Ihnen ja nun vorgetragen.Sie, Herr Spöri, sollten dem Deutschen Bundestag die Konsequenzen aus Ihren steuerpolitischen Positionen mitteilen, an Stelle hier Ihre alten Sprüche zum Schluß der Debatte zu wiederholen.
Drittens. Wir wollen unsere Betriebe entlasten. Ich habe in meiner Einbringungsrede im einzelnen dargestellt, was unsere Partner und Konkurrenten auf diesem Gebiet tun, und habe Sie aufgefordert, auch dies einmal in Ihre Überlegungen einzubeziehen. Darauf hat es keinerlei Reaktionen gegeben.
Von keinem einzigen Sprecher der sozialdemokratischen Opposition ist konkret auf die schicksalhafte Frage eingegangen worden, welche politischen Antworten wir denn angesichts des härter werdenden internationalen Wettbewerbs um Investitionen und Arbeitsplätze zu geben haben. Sie haben das Thema nicht aufgenommen. Ich muß das mit großem Bedauern gegen Schluß dieser dreitägigen Debatte sagen. Sie wollen die Steuern im Prinzip nicht senken. Die von Ihnen vor der Bundestagswahl vertretenen Konzepte führen im Ergebnis zu einer Mehrbelastung von Millionen qualifizierter Arbeitnehmer und auch der Unternehmen, und die steuerstundende Investitionsrücklage, die Sie anbieten, ist allein nicht in der Lage, die von Ihnen mit der Ergänzungsabgabe vorgesehene Mehrbelastung auch nur annährend auszugleichen. Deshalb sind Sie ohne Konzeption.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1707
Bundesminister Dr. StoltenbergNun zur Frage der Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe. Dabei geht es heute ja nicht nur um einen Wettbewerb um Marktanteile, sondern auch um Investitionen und um Arbeitsplätze. Dieser Zusammenhang wird von Ihnen unverändert nicht ernstgenommen,
und deshalb geben Sie keine schlüssige Antwort auf die Zukunftsfragen unserer Wirtschaft, unserer Beschäftigung und unserer Stabilität.Was nun die in der Debatte von Sprechern der Sozialdemokraten vorgetragenen wesentlich weitergehenden Forderungen betreffend Strukturhilfen des Bundes anbetrifft, so möchte ich folgendes sagen. Diese Strukturhilfen liegen heute deutlich über dem, was Sie in Ihrer Regierungszeit getan haben. Die Stahlkrise, meine Damen und Herren der SPD, ist nicht ein Vorgang der letzten Jahre. Die tiefen Eingriffe in die Wettbewerbsbedingungen, der drastische Rückgang der Mitarbeiterzahlen in den Stahlunternehmen hat Mitte der 60er Jahre begonnen. Ich will Sie daran erinnern, daß Sie unter dem Bundeskanzler Helmut Schmidt in Ihrer Regierungszeit keinerlei Hilfen für eine aktive, gestaltende Strukturpolitik in diesem Sektor gegeben haben.
Die erste Regierung, die das getan hat, war das Kabinett Helmut Kohl, sehr bald nach dem Regierungswechsel. Nur gilt hier — ich sage das zu Ihren jetzt erhobenen Forderungen — , daß alle mitwirken müssen und daß natürlich, wenn es um soziale Flankierungen geht, die primäre Verantwortung die Unternehmen selbst trifft, vor allem die gut verdienenden Mutterkonzerne, und daß dann darüber zu reden ist, was Bund und Länder — wir sind dazu bereit — ergänzend zur sozialen Flankierung tun können.Wir haben ja — ich habe das auch im Hinblick auf die Kritik von Herrn Wedemeier ausgeführt — das Stahlstandorteprogramm erweitert. Wir haben die von Ihnen drastisch gekürzten Mittel im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe, die für die Bewältigung der Strukturprobleme so wichtig ist, wieder deutlich erhöht. Es ist auch in diesen Tagen immer wieder ein neues Erlebnis, mit welcher Unbekümmertheit — ich will mich höflich ausdrücken — die Sozialdemokraten sich als Ankläger gebärden, obwohl sie zuvor die Hilfen des Bundes zusammengestrichen und wir sie wieder erhöht haben. Man muß das hier zum Schluß einmal nachdrücklich unterstreichen.
Ich will Ihnen auch meine Einschätzung zur Sache sagen. Noch so wichtige sektorale Hilfen bei Kohle, Stahl, Schiffbau und auch Landwirtschaft werden allein nicht genügen, wenn wir nicht die Gesamtverfassung unserer Volkswirtschaft konsequent stärken.
Nur bei einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung mit deutlichem Wachstum und mit einem strengeren ökologischen Ordnungsrahmen können die sozialen, menschlichen und ökonomischen Anpassungsprozesse in einer erträglichen Weise bewältigt werden.Deswegen muß die Gesamtpolitik im Vordergrund stehen. Sektorale Politik muß sie sinnvoll ergänzen, kann aber eine richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht ersetzen und kann die Folgen einer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik auch nicht kompensieren. Das ist meine Grundüberzeugung.
Herr Kollege Spöri hat hier bekannte kritische Anmerkungen zum Verfahren in der Steuerreform gemacht.
— Ich komme auf den Punkt.Herr Kollege Spöri, Sie wissen es natürlich besser, als Sie es hier vorgetragen haben. Sie haben gesagt: Warum habt ihr nicht seit zwei Jahren im Finanzministerium schon alle Vorbereitungen für eine schnelle Entscheidungsfindung in der Erweiterung der Bemessungsgrundlagen getroffen? Sie wissen natürlich ganz genau, daß auch eine fachliche und abschließende politische Bewertung zu dem Thema Steuersubventionen, Sonderregelungen und Gestaltungsmöglichkeiten erst möglich ist, wenn die Eckwerte der Entlastung politisch festgestellt wurden.
Was immer man zur Arbeit dieser Koalition sagen kann, wir haben die Eckwerte nach einer längeren .und schwierigen Debatte wenige Wochen nach der Bundestagswahl festgelegt und im März bekanntgegeben.
Natürlich ist dies — ich unterstelle, daß Sie diesen Zusammenhang erkennen — die Voraussetzung dafür, daß wir Steuersubventionen, Sonderregelungen und Gestaltungsmöglichkeiten angemessen bewerten können. Erst muß klar sein, wie der neue Tarif verläuft und wie die Hauptelemente sind. Dann können Sie die Einzelbewertung vornehmen.
— Herr Kollege Spöri, Sie können hier gerne schreien, weil Sie in Ihrer Regierungszeit, seitdem Alex Möller damit bedauerlicherweise gescheitert ist,
ja überhaupt nicht den Versuch gemacht haben, eine Steuerreform zu verwirklichen, die auch zu einem in sich gerechteren und schlüssigeren Steuersystem führt.
Wir müssen natürlich auch in der veröffentlichten Meinung kritische Anfragen akzeptieren, ob man es nicht auch vom Zeitablauf her hätte anders machen können.
Wir begründen hier den Sachzusammenhang. Nur,Herr Spöri und Herr Apel, Sie sind wirklich nicht in
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1708 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Bundesminister Dr. Stoltenbergder Lage, hier berechtigterweise Kritik an einem Verfahren zu üben, das im ersten Jahr dieser Wahlperiode die Voraussetzungen für die Gesetzgebung im Zusammenhang mit der Steuerreform 1990 verwirklicht; das ist, glaube ich, in aller Deutlichkeit hier zu sagen.In der Frage der Anzeige haben Sie an mir vorbeigeredet.
Ich will das hier klarstellen, worum es geht. Ich will das hier noch einmal bekräftigen, was ich gesagt habe. Die von der Bundesgeschäftsstelle der CDU vor der Bundestagswahl bundesweit verbreiteten Anzeigen und die Wahlzeitung haben in der Tat die von mir gebrauchte Formulierung gebracht, nämlich „im Schnitt eine Entlastung um 1 000 DM". Sie haben sich auf eine regionale Anzeige für eine folgende Regionalwahl bezogen und reden damit an dem vorbei, was ich behauptet habe. Das ist nicht in Ordnung, was Sie hier machen. Sie können das nicht widerlegen, was ich im Hinblick auf die Bundestagswahl hier ausgeführt habe.Im übrigen will ich kurz vor dem Abschluß sagen: Ich versichere Ihnen ausdrücklich, Herr Kollege Spöri, im Einvernehmen mit unserem Bundeskanzler — im Moment ist er, glaube ich, hinausgegangen, aber wir haben uns nach Ihren humorvollen Ausführungen miteinander unterhalten — , daß im CDU-Präsidium bei der Beratung der Steuerreform niemand geweint hat; ich kann Ihnen das als Mitglied des Präsidiums ausdrücklich versichern.
Sie werden auch erleben, daß einige der Herren, die Sie hier gerne als Kronzeugen, zum Teil auch mit sehr aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, vorführen, konstruktiv und aktiv an der Steuerreform mitarbeiten.
Wir sind ja auch unter uns in einem ständigen Prozeß der Meinungsbildung und Diskussion. Nach meinen Gesprächen der letzten Wochen beurteile ich die Bereitschaft des einen oder anderen, den Sie genannt haben, seinen positiven Beitrag für die Verwirklichung der Steuerreform, vor allem auch in den Ländern zu leisten, viel optimistischer, als Sie das heute hier geschildert haben. Ich will das hier ausdrücklich sagen.
Meine Damen und Herren, es geht um die zentralen Zukunftsfragen unseres Volkes.
Es geht auch um Deutschlands Stellung in der Welt. Es geht darum — ich will das zum Schluß noch einmal unterstreichen —,
daß wir unseren Beitrag hier leisten. Stabilität beginnt zu Hause. Wir bekennen uns zur primären Verantwortung von Regierung, Bundesbank, Parlament, Tarifpartnern und Investoren, um diese Zukunftsaufgaben zu meistern. Aber wir können uns auch nicht von einer internationalen Entwicklung abkoppeln, die uns Verantwortung und Verpflichtung auferlegt.Wir sind bestrebt, nach bestem Wissen und Gewissen unseren Beitrag dafür zu leisten, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre eigenen Aufgaben löst und zugleich ein angesehener und ein in ihren Leistungen wirksamer Partner für die anderen Industrieländer und die Entwicklungsländer wird, damit eine friedliche Welt von morgen auch in anderen Ländern stärker durch Freiheit und Wohlstand bestimmt ist.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich finde es sympathisch, wenn Sie Ihrem Minister so lange zuklatschen. Das ist Ihr gutes Recht. Aber jetzt ist seine Redezeit abgelaufen.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Frau Simonis.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bemüht hat er sich ja, der Bundesfinanzminister. Dreimal ist er hier in die Debatte mit geradezu atemberaubend langen Redezeiten eingestiegen; übrigens ist das ganz neu. Für die sprachliche Leistung hat er Applaus verdient. Nur, Herr Bundesfinanzminister: Quantität und langes Reden ersetzt eigentlich noch nicht Qualität und Inhalte.
Wir wissen jetzt viel über die Welt als solche, über den Zustand der Deutschen und unter anderem, daß Sie glauben, daß der deutsche Facharbeiter normalerweise 65 000 DM im Jahr verdient.
Ich weiß ja, lieber Herr Bundesfinanzminister, Sie sind wirklich ein beschäftigter Mann, und Sie haben natürlich keine Zeit, sich mit Facharbeitern zu unterhalten.
Aber vielleicht hätten Sie doch einmal die Zeit haben können, eine Drucksache zu lesen
— Schreihälse, widerwärtige —,
von der ich annehme, daß sie aus Ihrem Hause stammt. Dort wird das durchschnittliche Arbeitnehmereinkommen für das Jahr 1987 mit etwas über 38 000 DM, für das Jahr 1992 mit 45 000 DM angegeben. Da fehlt wohl noch ein bißchen bis hin zu 65 000 DM.
Das durchschnittliche Angestellteneinkommen, worauf Sie sich dann retten wollten, beträgt im Jahre 1992auch noch nicht 65 000 DM, sondern 61 000 DM.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1709
Frau SimonisDann sind Sie in Ihrer letzten Not auf den Mineralölfacharbeiter ausgewichen. Der verdient nun nach allen Planungen im Jahr 1991 65 000 DM. Sie haben wirklich keine Ahnung! Das ist eigentlich das Schlimmste, was man von einem Bundesfinanzminister sagen kann, der eine Steuerreform auf solchen Einkommensgrößen aufbauen will.
Sie haben also geredet und geredet, um uns darüber hinwegzutäuschen, daß das Eckdatum Ihrer Planung der 13. September ist. Darüber gibt es also heute keine weiteren Diskussionen.
Kein Wort haben wir von Ihnen nach Ihrem dreimaligen Vorturnen hier darüber gehört, wie Sie denn die Steuerreform nun finanzieren wollen. Sie haben kein Wort zu der Liste der geplanten Grausamkeiten Ihres Koalitionspartners von Lambsdorff gesagt. Der Minister hat immer von „könnte" und „möchte" gesprochen. Er hat eine Konjunktiv-Rede gehalten. Der Konjunktiv ist vielleicht eine ganz schöne grammatikalische Ausschmückung. Aber er ist nicht Politik, hier vorne im Konjunktiv zu reden. Er muß klar sagen, was er machen will.
Fragen Sie doch einmal Arbeitnehmer in Schleswig-Holstein, was sie eigentlich von Ihren Steuersenkungsplänen für sich und ihre Familien erwarten. Den meisten ist doch in der Zwischenzeit aufgegangen, daß das Ganze heiße Luft ist und daß Ihnen aus der einen Tasche mehr als das weggenommen wird, was ihnen in die andere Tasche vielleicht hineingegeben wird.
Den meisten Bürgern geht auf, daß Sie Geld für Steuergeschenke an Wohlverdienende, für Ihren nichtvorhandenen 65 000-Mark-Mann — und aufwärts — verpulvern, anstatt die hohe Arbeitslosigkeit, unter der vor allem der Norden Deutschlands leidet, zu bekämpfen. Glauben Sie denn wirklich, daß zukunftsorientierte Industrien mit ausreichendem Arbeitsplatzangebot nach Schleswig-Holstein kommen, wenn der dortige Ministerpräsident, welche Partei ihn auch stellt, plötzlich weniger Steuern bezahlen muß? Das glauben Sie doch selber nicht. Das können Sie doch gar nicht glauben, denn sonst würden Sie von der Materie noch weniger verstehen, als ich bis jetzt angenommen habe.
Die Arbeitslosigkeit in Schleswig-Holstein hat in den letzten Jahren im Jahresdurchschnitt über 10,5 % betragen. Das sind fast 100 000 Menschen. Sie wäre doppelt so hoch, wenn nicht in Hamburg fast 100 000 Schleswig-Holsteiner einen Arbeitsplatz finden würden. Wenn nicht Gott sei Dank 20 000 Menschen im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt wären, müßte die Arbeitslosenquote noch einmal um zwei Prozentpunkte erhöht werden. Die Hamburger nehmen Ihnen die Hauptlast der Arbeitslosigkeit ab, nicht Sie und auch nicht der Herr Ministerpräsident Barschel.
Sie verlassen sich darauf, daß der Arbeitnehmer vielleicht nicht weiß, was die Quote der öffentlichen Investitionen bedeutet. Ich wäre da nicht so sicher, denn Sie haben ihm lange genug eingehämmert, öffentliche Investitionen würden Arbeitsplätze bedeuten. Aber selbst wenn er nicht genau weiß, was es ist: Er weiß, daß die jährlich sinkenden Ausgaben für Investitionen, wie sie in Ihrem Haushalt seit vier Jahren vorzufinden sind, Arbeitsplatzverlust, Strukturschwächen bedeuten und sogar verstärken und nicht dazu beitragen, daß es bei uns im Norden besser wird. Wenn dann, wie in Schleswig-Holstein, die Investitionsquote auch noch weit über dem Bundesdurchschnitt liegt, dann darf man sich nicht wundern, wenn man auf Hamburg ausweichen muß, um für alle Jugendlichen überhaupt einen Arbeitsplatz oder für alle Arbeitnehmer einen anständigen Arbeitsplatz zu finden.Die Schleswig-Holsteiner lieben ihr Land. Sie leben gern im nördlichsten Bundesland, sie sind bodenständig. Finden Sie es da eigentlich gerecht, diese Liebe zum Land mit einer Politik zu belohnen, als deren Resultat im Norden bis zu 1 000 DM brutto im Monat weniger verdient wird als in Baden-Württemberg und die Belastungen in der Krankenversicherung mit über 14 % die höchsten in der Republik sind? Das, was Sie dauernd sagen, Herr Stoltenberg, stimmt doch gar nicht: daß die Tarifergebnisse in Baden-Württemberg auf den Norden übertragen werden. Sie haben null Ahnung von gewerkschaftlicher Tarifpolitik. Sie haben null Ahnung von dem, was bei uns oben im Norden verdient wird.
Sie behaupten z. B., Schiffe würden ausgeflaggt, weil bei uns oben zuviel verdient werde.
— Schreien Sie nicht so laut! Sie könnten mich sogar verstehen. Sie überschreien sich ja selber.Schiffe werden nicht gebaut und Schiffe werden ausgeflaggt, weil wir weltweit Überkapazitäten haben. Schiffe werden ausgeflaggt, weil wir im Container-Bereich Überkapazitäten haben. Schiffe werden ausgeflaggt, weil ein Frachtratenverfall stattgefunden hat. Das hat überhaupt nichts mit Lohnpolitik in Deutschland zu tun.Aber Sie könnten uns ja einmal sagen, ob Sie denn wollen, daß deutsche Arbeitnehmer, die auf Schiffen arbeiten, so viel wie ein chinesischer Matrose, nämlich 29 Dollar im Monat, verdienen sollen. Ist es das, was Sie unter niedrigen Löhnen verstehen und was Sie anstreben?
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1710 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Frau Simonis— Wenn er die Löhne von 2 200 DM — —
— Vielleicht einmal für diejenigen, die noch nie in Schleswig-Holstein waren: Das durchschnittliche Bruttoeinkommen aller Arbeitnehmer an der Westküste beträgt im Monat 2 148 DM.
Wenn das zu hoch ist — darunter sind die Werftarbeiter, darunter sind die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst — —
— Er hat doch gesagt, das sei zu hoch, das sei der Untergang der deutschen Werften und der deutschen Reedereien.
Dann muß er sagen, ob er auf die 29 Dollar herunter will, die der chinesische Matrose verdient.
Der Herr Bundesfinanzminister geht vor jeder Wahl hin — das macht er nun in schöner Regelmäßigkeit seit fünf Jahren — und verspricht den Arbeitnehmern bei uns in Schleswig-Holstein: Wählt uns, es wird toll werden. Das hat er den Werftarbeitern vor der Landtagswahl im letzten Jahr gesagt. Einen Tag später waren 2 500 Menschen arbeitslos. Das hat er den Werftarbeitern auf der Lindenau-Werft gesagt. Einen Tag nach der Bundestagswahl ist die Lindenau-Werft in Konkurs gegangen, weil er nicht zu seinem Versprechen stand. Das hat er den Werftarbeitern in Rendsburg — das ist ja Ihr Wahlkreis, wie Sie vor zwei Tagen doch gesagt haben — vor dem 25. Januar 1987 versprochen. Gehen Sie doch einmal hin und fragen die Leute, wie verbittert die sind, daß man sich auf Ihr Wort nicht mehr verlassen kann! 300 Leute sind dort heute noch statt 1 000, wie Sie es vorher versprochen haben.
Wenn nicht viele von diesen Menschen in den sogenannten Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit untergebracht worden wären, wäre es bei uns dort oben ja noch viel schlimmer. Gott sei Dank gibt es diese Qualifizierungsmaßnahmen. Nur, wir lesen doch schon in der Zeitung, daß die Bundesanstalt für Arbeit anfängt, die Notbremse zu ziehen, weil sie nicht mehr zahlen kann. Wenn im nächsten Jahr das Defizit — von dem Sie wissen, daß es kommen wird; bloß, die meisten draußen wissen es nicht, weil das immer so unvorstellbar große Zahlen sind — der Bundesanstalt für Arbeit wirklich 1,5 Milliarden DM betragen wird, weil die Arbeitslosenzahlen nicht zurückgehen, lieber Herr Dr. Stoltenberg, sondern steigen — auch das könnte Ihnen das Statistische Bundesamt sagen — , was passiert dann mit den Qualifizierungsmaßnahmen? Wo werden Sie denn dann anfangen zu sparen? Bei den Qualifizierungsmaßnahmen, beim Arbeitslosengeld? Was immer Sie machen: Ich fürchte, Sie werden bei denen sparen und denen die Last der Arbeitslosigkeit aufbürden, die durch Ihreverfehlte Politik vorher überhaupt erst arbeitslos geworden sind.
Nun haben Sie in irgendeiner Zeitung gesagt — wissen Sie, das höre ich auch zum drittenmal von Ihnen— : In zwei Jahren ist Vollbeschäftigung. „Märchen"-Erzähler Stoltenberg.
In Ihrem Haushalt steht von Vollbeschäftigung ab 1990 nichts. Da steht etwas von 2 Millionen Arbeitslosen.Ihnen glaubt ja selbst Herr Späth nicht mehr. Vielleicht haben Sie nicht geweint bei der Sitzung des CDU-Präsidiums, bei der die CDU- „Fürsten" ihr Haupt verhüllten; das kann ja sein. Aber fröhlich ist es nicht zugegangen, wie Herr Späth im „Zeit"-Interview ausführt. Frau Breuel ist auch nicht gerade erbaut. Herr Albrecht ist nicht besonders heiter über Ihre Steuerpläne. Es kann ja sein, daß Sie nicht dabeiwaren und nicht mitgeweint haben, aber Ihre Kollegen Ministerpräsidenten sind ganz schön angefaßt und machen sich Gedanken, wie sie mit den Resultaten Ihrer Politik zu Hause fertig werden sollen. Nachdenklichkeit und nicht schmetternder Optimismus à la Bangemann wäre wirklich angesichts der Entwicklung bei uns oben im Norden, speziell in Schleswig-Holstein, angesagt.
Die wirtschaftliche Lage ist nicht rosig. Das hat nichts mit den Arbeitnehmern dort oben zu tun. Die sind fleißig. Ich weiß, daß die in Baden-Württemberg einen besonders guten Ruf haben. Aber die Insolvenzhäufigkeit bei uns im Norden hat in den letzten fünf Jahren weit über dem Bundesdurchschnitt gelegen, und allein in den letzten drei Jahren gab es ein Drittel aller Neuzugänge an Insolvenzen in Schleswig-Holstein. Das hat etwas mit Politik zu tun! Oder wollen Sie sagen, daß die Unternehmer in Schleswig-Holstein dämlicher sind als anderswo in der Republik?Bundesprogramme, die dem entgegensteuern könnten, kommen bei uns im Norden viel zu wenig an.
— Nein, ich habe nicht mehr die Zeit. — Wenn der Ministerpräsident des Landes dort oben verkündet, daß sich alle elf Tage während seiner Amtszeit ein neues Unternehmen in Schleswig-Holstein angesiedelt hat, glaubt das ja nicht einmal Ihr sich Ihnen anbiedernder Koalitionspartner. Wir kennen ihn ja noch, den Herrn Zumpfort, der glaubt Ihnen das nicht, denn er rechnet Ihnen genau vor — an dieser Stelle sogar richtig — , daß alle elf Tage 19 Unternehmen pleite gegangen sind. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Koalitionspartner, der Sie seit vier Wochen im Wahlkampf so durch den Kakao zieht, daß es fast schon nicht mehr spaßig ist, sich das mit anzusehen. — Der Industriebesatz liegt bei uns unter der Hälfte dessen, was im Bundesdurchschnitt möglich ist.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987 1711
Frau SimonisNun sagen Sie immer, Sie haben dort oben Zonenrandmittel, Sonderzuweisungen und Gemeinschaftsaufgabemittel hingeleitet. Fragen Sie sich eigentlich auch: Was hat Herr Barschel mit den Milliarden denn gemacht, wo sind sie denn geblieben?
Denn wenn man sich die Daten anschaut, hat man den Eindruck, daß das Geld wohl irgendwo im Sand verbuddelt worden ist — ich weiß es nicht — , oder vielleicht hat er damit einen Teil des Musikfestivals bezahlt.
Mehr Arbeitsplätze sind dadurch nicht gekommen, und die Industrieunternehmen sind dadurch auch nicht mehr geworden, sondern eher weniger. Die Strukturprobleme sind größer geworden und nicht kleiner. Sie selber, Herr Dr. Stoltenberg, geben doch in einem Interview in der „Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung" zu, daß die Lage der Werften weiterhin kritisch ist.In dieser Situation sagt der Herr Wirtschaftsminister Bangemann: Die Subventionen müssen abgebaut werden.
— Na prima, dann mal rüber mit den Einzelheiten! Sagen Sie uns doch bitte vor dem 13. September, ob das bedeutet, daß die Werften im Norden nicht mehr mit dem rechnen können, was Sie ihnen versprochen haben. Oder gilt das Zumpfortsche Wort, das HDW privatisiert werden soll? Herr Stoltenberg, Sie haben keinen Pieps dazu gesagt, ob nun privatisiert werden soll oder nicht.Sagen Sie doch bitte auch den Bauern möglichst noch vor dem 13., ob Subventionen auch Hilfe für die Bauern dort oben sind. Die sind ja schon so wütend, daß sie in der Zwischenzeit Betonsteine auf die Straße schmeißen, damit der MP Barschel mal anhält und mit ihnen redet, weil er sonst an ihnen vorbeifährt. Sagen Sie ihnen doch, ob mit Subventionsabbau auch die Landwirtschaft gemeint ist! Wir können uns ja über alles unterhalten; nur, der Versuch, sich über den Sonntag hinwegzumogeln, bringt es nicht. Die Leute merken das. Sie merken, daß Sie ihnen nicht helfen wollen oder können.Wenn Sie sagen, daß es den Kommunen so gut geht, frage ich: Wann haben Sie denn zum letztenmal in Schleswig-Holstein mit einem Kommunalvertreter geredet, wann denn? Die Kommunalpolitische Vereinigung Ihrer eigenen Partei hat Ihnen doch ins Stammbuch geschrieben, daß sie Ihre Steuerpolitik so nicht mitmachen will. Da kam zwar die ideologische Lyrik vorweg, aber sie haben gesagt: Die ideologische Lyrik machen wir nur dann mit, wenn Sie, Herr Stoltenberg, es bezahlen. — Na bitte, dann bringen Sie ihnen den finanziellen Ausgleich; dann machen Ihre Freunde mit, und ansonsten machen sie nicht mit.
Sie hatten die Möglichkeit, das alles hier zu sagen, aber Sie haben zu allem geschwiegen. Sie haben kein Wort dazu gesagt, wie Sie die Steuerreform bezahlen wollen. Über die Reform der Krankenversicherung schweigen Sie sowieso in allen Sprachen der Welt. Über die Reform der Rentenversicherung sagen Sie auch nichts, und Sie sagen zu anderen wichtigen Themen, die bei uns oben in Schleswig-Holstein eine Rolle gespielt haben, nichts.
Sie waren die letzten vier Wochen fast nicht anwesend bei der Diskussion um Ihre Steuerpläne.Sie waren auch gut beraten, nichts zu sagen, denn Sie haben das Land mit einem Schuldenberg von 11,5 Milliarden DM verlassen. Das waren damals ungefähr 6 000 DM pro Kopf der Bevölkerung. Ihrem Nachfolger ist es gelungen, dies noch einmal ordentlich zu steigern, nämlich auf 16,5 Milliarden DM.
Ich frage mich, ob Sie noch einmal Ihren Satz über die ethische Neuorientierung betreffend die „sittliche Verfehlung der Grundlagen der Politik" angesichts von Schulden sagen würden. Ist es bei Ihnen eigentlich keine sittliche Verfehlung, wenn Sie Schulden machen? Das können Sie doch wirklich niemandem weismachen!
Über Verschuldung des Staates, die einem bestimmten Zweck dient — Probleme zu beseitigen, Strukturprobleme zu bewältigen, Umweltprobleme anzupakken, Beschäftigungspolitik zu machen, soziale Gerechtigkeit zu schaffen — , kann man sich unterhalten, aber unter diesem nebulösen Begriff der sittlichen Verfehlung kann man keine Haushaltspolitik machen. Das gehört auch nicht hierher; das kann man sonstwo erzählen, vielleicht in irgendeiner evangelischen Akademie. Das ist im Grunde genommen nicht Finanz- und Wirtschaftspolitik.Wenn Sie uns hier zum Schluß noch erzählt haben, daß Frau Breuel und andere mit Ihnen konstruktiv zusammenarbeiten, dann müßte ich eigentlich noch einmal eine Interpretation des Erlassès für die Aufstellung der Haushaltspläne in Niedersachsen bekommen. Ist es konstruktive Mitarbeit, wenn Ihnen sozusagen auf diese Art und Weise klargemacht wird, daß man bei der Steuerreform nicht mehr mitmachen will? Und daß Herr Späth angesichts dessen, daß er bald Wahlen zu bestehen hat, jetzt unter Umständen nicht mehr offen Widerstand leistet, wie auch Herr Barschel im Moment nichts sagt, ist klar. Aber ob sie mitmachen, werden wir dann im Oktober/November sehen, wenn dann die Runde im Bundesrat losgeht, wo die alle die Hand hochnehmen müssen für eine Politik, die die Kassen der Länder und der Kommunen genauso leermacht wie übrigens die Kasse des Bundes.
Das Problem Ihrer Politik ist nicht, daß wir uns hier damit auseinandersetzen müssen und wir zum ersten Mal den Spaß haben, von Ihnen Fragen nicht beant-
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1712 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. September 1987
Frau Simoniswortet zu bekommen — sonst haben Sie ja im wesentlichen versucht, uns mit Ihren Antworten auf alle Fragen der Sozialdemokratie in die Ecke zu stellen,
aber diesmal haben Sie gar keine Antworten gehabt — , sondern das Problem ist, daß Arbeitnehmer, ganz normale Arbeitnehmer — nicht Arbeitnehmer mit 65 000 DM im Jahr, sondern fleißig arbeitende Menschen — den Preis für Ihre finanzpolitischen Haushaltstricks zu bezahlen haben. Denn wenn in den Kommunen die Gebühren erhöht werden müssen, wenn beispielsweise Schwimmbäder geschlossen werden müssen, dann geht das zu Lasten dieser Menschen. Sie können natürlich sagen, es muß nicht jeder ein Schwimmbad haben.
Aber unter dem Gesichtspunkt, daß wir in Schleswig-Holstein den Fremdenverkehr nur deswegen halten, weil wir bei schlechtem Wetter u. a. Schwimmbäder anbieten können, sollten Sie sich so etwas schon sehr gut überlegen. Gehen Sie doch einmal an die Westküste und sagen Sie, das alles wird zugemacht, ist alles viel zu teuer. Da haben sich die Bürgermeister Denkmäler geleistet. Dies alles, daß es z. B. in SchleswigHolstein keine Lernmittelfreiheit mehr geben wird,
daß das Fahrgeld für die Beförderung zu den Schulen nicht mehr gezahlt wird, zahlt der normale Arbeitnehmer, der mit den 2 148 DM im Monat und nicht der mit den 65 000 DM im Jahr, wenn den Kommunen durch Ihre Politik Geld weggenommen wird.
Wie haben Sie uns noch vor zwei Wochen in der „Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung" wissen lassen? „Ich singe eher laut als gut", haben Sie gesagt. Damit stehen Sie fast schon in einer Reihe mit HerrnBangemann, der auch gesagt hat: Ich kann nicht singen. Stimmt, stimmt!
Denn wenn man sich diese schrillen Mißtöne und die Mißklänge der Steuer- und Finanzarie der letzten Zeit anhört, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie singen tatsächlich eher laut als gut. Und es wird wirklich höchste Zeit, daß Ihnen wenigstens in Schleswig-Holstein einmal jemand die Notenblätter abnimmt und jemand anders besser singt als Sie.Herzlichen Dank.
So, meine Damen und Herren, nun haben auch die Ohren Pause.
Wir haben keine weiteren Wortmeldungen vorliegen. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 11/700 und 11/701 an den Haushaltsausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist dann so beschlossen.
Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. September 1987, 13 Uhr ein und wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.