Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalition der Mitte,
zu der sich CDU, CSU und FDP zusammengeschlossen haben, beginnt ihre Arbeit in der schwersten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.
Diese Krise hat das Vertrauen vieler Menschen, vieler Mitbürger in die Handlungsfähigkeit unseres Staates erschüttert.
Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen.
Spätestens seit dem Münchner Parteitag der SPD wurde immer deutlicher, daß sich die Wege der bisherigen Koalitionspartner trennten. In drängenden Fragen der Innen- und der Außenpolitik ließ die SPD ihren eigenen Regierungschef im Stich. Bundeskanzler Schmidt verlor seine Mehrheit.
Die Freie Demokratische Partei hat sich, wie wir alle wissen und auch gerade in der Auseinandersetzung in diesem Plenarsaal miterlebt haben, ihre Entscheidung nicht leichtgemacht. Im Interesse unseres Landes hat sie, wie die Verfassung es will,eine neue Regierung ermöglicht. Diese Koalition der Mitte wird unser Land aus der Krise führen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Stunde hat unser Volk ein Recht auf Wahrheit,
Die Wahrheit über das, was getan worden ist, und die Wahrheit über das, was getan werden muß. Wie ist die Lage der Bundesrepublik Deutschland?Wir erleben zur Zeit eine Arbeitslosigkeit, die schlimmer ist als jene in den Jahren des Wiederaufbaus. Fast jeder vierzehnte Erwerbstätige in der Bundesrepublik ist arbeitslos. Im Winter können fast 2,5 Millionen Menschen arbeitslos sein. Noch mehr Mitbürger bangen um ihren Arbeitsplatz. Nach zweijähriger Stagnation geht die gesamtwirtschaftliche Produktion seit Monaten zurück.Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es so viele Firmenzusammenbrüche gegeben wie in diesem Jahr, und noch nie sind so viele selbständige Existenzen vernichtet worden. Allein dadurch sind in den letzten Jahren rund 500 000 Arbeitsplätze vernichtet worden. In diesem Jahr wird dieser traurige Rekord an Konkursen noch einmal überboten werden. 15 000, vielleicht noch mehr Unternehmen müssen Konkurs anmelden. Damit gehen noch einmal weit über 100 000 Arbeitsplätze verloren.Was das Schlimmste ist: Fast 200 000 Jugendliche sind arbeitslos. Viele finden keinen Ausbildungsplatz und sind damit nicht nur ohne Arbeit, sondern auch ohne Chance, sich beruflich zu qualifizieren.Die Fähigkeit unserer Wirtschaft, durch Investitionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist erheblich geschwächt. Während in normalen Wirtschaftsjahren die Investitionsquote bei 24 % des Bruttosozialprodukts lag, sind wir heute bei weniger als 21 % angelangt.
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7214 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundeskanzler Dr. KohlGleichzeitig erhöhten sich die Abgabebelastungen so sehr, daß heute ein Facharbeiter in der Bundesrepublik von jeder zusätzlich verdienten Mark rund 60 Pfennig an öffentliche Kassen abliefern muß. Aber, meine Damen und Herren, auch dies reichte nicht aus; der Staat hat sich dennoch in höherem Maße verschuldet.So - und das weiß jeder — kann kein Wachstum entstehen. Schon zum zweitenmal wird unser Sozialprodukt kleiner als im jeweiligen Jahr zuvor. Wo soll Zuversicht herkommen, wenn diese Probleme noch verstärkt werden durch einen nun ebenfalls im zweiten Jahr erlebten realen Einkommensverlust von Arbeitnehmern und Unternehmern?Die Eigenkapitalquote der deutschen Wirtschaft, die vor zehn Jahren bei rund 26 % lag, ist inzwischen unter 21 % abgesunken, in einigen wesentlichen und wichtigen mittelständischen Bereichen sogar noch darunter, und sie droht noch weiter abzunehmen.Die Wachstums- und Beschäftigungskrise, meine Damen und Herren, hat zugleich in aller Deutlichkeit die Finanzkrise unseres Staates offengelegt. Der erste Kassensturz, den die neue Bundesregierung in diesen wenigen Tagen vornehmen mußte, hat eine noch wesentlich kritischere Lage der Staatsfinanzen offenbart, wesentlich kritischer, als selbst wir, die CDU/CSU in der Opposition, annehmen konnten.Meine Damen und Herren, diese Eröffnungsbilanz ist bestürzend: Ende dieses Jahres, in wenigen Wochen, wird sich der Schuldenstand des Bundes auf über 300 Milliarden DM erhöhen; bei Bund, Ländern und Gemeinden zusammengenommen auf über 600 Milliarden DM; mit Bahn und Post zusammen addiert auf rund 700 Milliarden DM. Allein der Zinsendienst der öffentlichen Hand wird Ende dieses Jahres rund 60 Milliarden DM betragen.Täglich, d. h. jeden Tag, alle 365 Tage des Jahres,
muß sich die öffentliche Hand zusätzlich mit über 200 Millionen DM verschulden. Die Neuverschuldung reicht kaum noch aus, um die jährliche Zinslast zu bezahlen.
Wenn nicht rasch gehandelt wird — und das wäre eben bei sofortigen Neuwahlen nicht möglich gewesen —, würde die tatsächliche Haushaltslücke für 1983 allein beim Bund auf etwa 55 bis 60 Milliarden DM ansteigen.
— Meine Damen und Herren, ich kann verstehen, daß Sie unruhig sind. Aber ich kann nicht verstehen, daß Sie bei dieser Bilanz nach 13 Jahren lachen können!
Auch in der Sozialversicherung sind die Kassen leer und die Rücklagen nahezu verbraucht. Die finanziellen Reserven unserer sozialen Sicherungssysteme sind erschöpft, obwohl die Beitragsbelastung für die Arbeitnehmereinkommen seit 1970 erheblich gestiegen ist.Meine Damen und Herren, wie konnte es so weit kommen? Zunächst ist sicher richtig — und das will ich auch hier voranstellen —: Die Weltwirtschaft befindet sich gegenwärtig in weiten Teilen der Welt in einer tiefgreifenden Strukturkrise.
— Ich habe hier, Herr Kollege Wehner, wörtlich einen Satz aus meiner Rede vor 14 Tagen wiederholt.
Ich fahre jetzt, Herr Kollege Wehner, mit Ihrer freundlichen Unterstützung in diesem Satz fort:Der Verweis auf das Ausland darf aber nicht den Blick verstellen für unsere hausgemachten Probleme.
Die gegenwärtige Krise der Weltwirtschaft ist vor allem auch eine Krise der einzelnen Volkswirtschaften, wie gerade in diesen Tagen der Sachverständigenrat erneut deutlich gemacht hat. Die Grenzen der Belastbarkeit der deutschen Wirtschaft und der arbeitenden Menschen wurden erst getestet und dann weit überschritten. Unsere eigenen Wachstums-, Beschäftigungs- und Finanzierungsprobleme resultieren weitgehend daraus, daß eben die deutsche Wirtschaft nicht mehr in der Lage war, mit den neuen außenwirtschaftlichen Herausforderungen fertig zu werden.
Die Ansprüche an den Staat und die Systeme der sozialen Sicherung wurden an der optimistischen Vorstellung eines ständigen und kräftigen Wachstums der Wirtschaft orientiert. Als diese hohen Wachstumsraten ausblieben, fehlte es an Einsicht und Kraft, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und die notwendigen Korrekturen durchzusetzen.
Was damals an Korrekturen unterlassen wurde, als sie noch mit verhältnismäßig geringen Opfern möglich waren, muß heute mit größeren Schmerzen und mehr Zeitaufwand nachgeholt werden. Meine Damen und Herren, wäre von vornherein das getan worden, was wir nunmehr tun müssen, dann wären nicht jene Opfer notwendig, zu denen wir heute gezwungen sind.
Jetzt kommt es darauf an, die noch andauernde Talfahrt unserer Wirtschaft aufzuhalten. Vieles spricht dafür — leider —, daß der Tiefpunkt noch vor uns liegt. Keine Politik ist in der Lage, diese Hypothek der Vergangenheit kurzfristig zu tilgen. Erste positive Wirkungen unseres Programms für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung könnenDeutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7215Bundeskanzler Dr. Kohlwir in der zweiten Hälfte des Jahres 1983 erwarten. Aber grundlegende Erfolge können nur in einem mehrjährigen Prozeß erreicht werden, zumal, etwa im Blick auf den Arbeitsmarkt, in den kommenden Jahren auch noch die geburtenstarken Jahrgänge zusätzlich auf dem Arbeitsmarkt untergebracht werden müssen.
Dies, meine Damen und Herren, ist die Lage. Dies ist auch der Grund dafür, daß wir jetzt die Regierung übernommen haben; weil wir nicht verantworten wollen, daß aus der Talfahrt ein Absturz wird.
Deshalb brauchen wir jetzt eine neue Wirtschafts-und eine neue Gesellschaftspolitik.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, dies ist keine der üblichen Regierungserklärungen am Beginn einer vierjährigen Legislaturperiode.
— Ich stelle fest, daß wir uns wenigstens noch im Ablauf der Jahre beim Zusammenzählen einig sind, meine Damen und Herren.
Die Koalitionsparteien FDP, CSU und CDU haben vereinbart,
sich am 6. März 1983 dem Urteil der Wähler zu stellen. Dies ist auch die Meinung der Bundesregierung.
Ich weiß, daß es verfassungsrechtlich nicht einfach ist, diese Absicht zu verwirklichen.Wehner [SPD]: Hört! Hört! Warum tun Sieso?)— Aber ich gehe davon aus, Herr Kollege Wehner, daß Sie als Fraktionsvorsitzender der SPD
und der Kollege Brandt als Parteivorsitzender der SPD gemeinsam mit den anderen Fraktions- und Parteivorsitzenden meine Einladung annehmen werden, gemeinsam über die in der Verfassung vorgesehenen Möglichkeiten zu sprechen, aber auch jene Wege in unser Gespräch mit einzubeziehen,
die die Enquete-Kommission Verfassungsreform dem Bundestag vorgezeichnet hat.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, daß wir gemeinsam einen Weg finden, da wir doch gemeinsam draußen — die einen sogar mit eigenenPlakataktionen — erklären: Wir wollen jetzt wählen. Am 6. März werden wir wählen.
Noch einmal will ich betonen: Dies ist keine traditionelle Regierungserklärung.
Ich werde darlegen, was wir sofort tun werden. Vor allem aber will ich die Schwerpunkte und die Grundsätze aufzeigen, nach denen wir in den vor uns liegenden Jahren eine Politik der Erneuerung einleiten werden.Wir stecken, meine Damen und Herren, nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise. Es besteht eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus Angst und Ratlosigkeit, Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz,
Angst vor Umweltzerstörung, vor Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft.
Manche dieser jungen Mitbürger fühlen sich ratlos, steigen aus, flüchten in Nostalgie oder Utopien. Hier sehen wir eine Herausforderung an unsere Pflicht als Bürger, als Eltern, an unseren Gemeinsinn und an unsere Überzeugungskraft.
Die Ideologien der Macher und Heilsbringer haben den Wirklichkeitssinn im Lande nicht geschärft,
die Selbstverantwortung nicht gestärkt und die geistigen Herausforderungen der Zeit verkannt.
Wir brauchen wieder die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes.
Die Frage der Zukunft lautet nicht, wieviel mehr der Staat für seine Bürger tun kann. Die Frage der Zukunft lautet, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können. Auf dieser Idee gründet die Koalition der Mitte.
Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt: der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und — wir sollten es ehrlich sagen — wir alle auf Kosten der nachwachsenden Generationen.
Es ist jetzt auch ein Gebot des sozialen Friedensund der sozialen Gerechtigkeit, daß wir der Ehrlich-
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7216 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundeskanzler Dr. Kohlkeit, der Leistung und der Selbstverantwortung eine neue Chance geben.
Meine Damen und Herren, erneut bilden CDU/ CSU und FDP eine Koalition der Mitte, um einen historischen Neuanfang zu setzen.
Was 1949 gelang, unter schweren seelischen Wunden und materiellen Lasten, das ist auch heute möglich und notwendig.
Die Verbindung des sozialen, des christlichen und des liberalen Gedankens war das prägende Merkmal einer Epoche, die zu Recht als die erfolgreichste Ära der deutschen Nachkriegspolitik gilt.
Ich zitiere einen liberalen Mitstreiter jener Zeit, Thomas Dehler, der sagte:Die liberale Idee vom Menschen ist tief verbunden mit der christlichen Wahrheit. Der Mensch hat seine Würde als Ebenbild Gottes, als Träger einer unsterblichen Seele, als einmalige unverwechselbare Persönlichkeit. Diese Würde im irdischen Leben zu wahren, ist liberale Verpflichtung.
Auf die freie Zustimmung seiner Bürger wurde unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, gegründet. Konrad Adenauer führte vor über 30 Jahren die Deutschen in die Gemeinschaft der freien Völker des Westens und baute darauf die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Es gelang die Aussöhnung mit Frankreich und mit dem Volk und dem Staat Israel. Wir wurden ein geachteter Partner im Bündnis des Westens.Die Soziale Marktwirtschaft war ein schöpferisches Werk. Sie bedeutet nicht allein Wohlstand. Sie begründet eine soziale Friedensordnung, die auch heute noch in vielen Ländern der Welt als vorbildlich gilt.Wir haben in diesen Jahren das Prinzip der Solidarität verwirklicht: durch dynamische Rente und Mitbestimmung, durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, durch das Betriebsverfassungsgesetz und durch Vermögensbildung.Zwölf Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge haben in jenen Jahren die Bundesrepublik Deutschland mit aufgebaut. Es wuchsen Vertrauen in den Rechtsstaat, demokratisches Selbstbewußtsein, eine neue politische Kultur. In einer spannungsreichen Epoche gewann die Bundesrepublik innere Stabilität und das Vertrauen ihrer Nachbarn. Die Deutschen lernten wieder — um mit Ernst Bloch zu sprechen — die Würde des aufrechten Gangs.
Meine Damen und Herren, auf diesem Erbe dürfen wir aufbauen, und aus diesem Erbe ziehen wir auch die Kraft, das für heute Notwendige zu tun.Was wollen wir heute? Was muß jetzt und heute getan werden?Unser Dringlichkeitsprogramm konzentriert sich auf vier Schwerpunkte: Erstens. Wir wollen neue Arbeitsplätze schaffen. Zweitens. Wir wollen das soziale Netz sichern. Drittens. Wir wollen eine menschliche Ausländerpolitik verwirklichen. Viertens. Wir wollen die Grundlagen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erneuern.
— Herr Kollege Wehner, ich kann verstehen, daß die Einübung in die Opposition nach diesen stürmischen Tagen schwer ist. Das ist in den 13 Jahren auch uns oft genug schwergefallen. Aber wir haben es lernen müssen, und Sie müssen es auch lernen. Je früher Sie es in Stil und Würde lernen, um so besser ist das für das Hohe Haus des Deutschen Bundestages.
Wir wollen vor allem Arbeitsplätze schaffen und erhalten, indem wir zuerst die privaten und die öffentlichen Investitionen anregen. Dazu braucht die Wirtschaft eine Zukunftsperspektive, die frei ist von unnötigen Belastungen, Verunsicherungen und bürokratischen Auflagen durch den Staat.In den öffentlichen Haushalten müssen die Gewichte stärker von der konsumtiven zu mehr zukunftsorientierter Verwendung verlagert werden. Dies gilt sowohl für die Ausgaben- wie für die Einnahmenseite. Die Bundesregierung wird deshalb schon 1983 die Haushaltsansätze für die regionale Wirtschaftsförderung, die Förderung des Zonenrandgebiets, den Hochschulbau und die Agrarstruktur sowie für andere wichtige Gemeinschaftsprojekte wie Krankenhausfinanzierung und Stadtsanierung anheben.Weiter werden wir erste Schritte zur steuerlichen Entlastung des Mittelstands vornehmen.Die Mehreinnahmen des Bundes aus der Mehrwertsteuererhöhung zum 1. Juli 1983 werden — anders als unter der bisherigen Bundesregierung vorgesehen — in demselben Gesetz Bürgern und Betrieben zurückgegeben.
Diese steuerlichen Entlastungen zur Stärkung der Investitions- und Innovationskraft der Wirtschaft sollen ab 1984, wenn das zusätzliche Mehrwertsteueraufkommen für das ganze Jahr anhält, weiter ausgebaut und verstärkt werden.Wir wollen zweitens dem Wohnungsbau neue Impulse geben. Neben der unverzüglichen Verbesserung der steuerlichen Förderung des Eigenheimbaus durch Zulassung eines begrenzten Schuldzinsabzugs haben wir vorgesehen: ein Programm zur Bausparzwischenfinanzierung, Maßnahmen zur Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus in Ver-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7217
Bundeskanzler Dr. Kohldichtungsräumen und zusätzliche Hilfen für selbstgenutztes Wohnungseigentum.
Diese Finanzmittel in Höhe von rund 2,5 Milliarden DM sollen durch die rückzahlbare, unverzinsliche „Investitionshilfe 1983/84" von Bürgern mit höherem Einkommen aufgebracht werden, ohne daß dadurch deren eigene Investitionstätigkeit beeinträchtigt werden darf.Meine Damen und Herren, wir greifen damit ein Instrument auf, das Ludwig Erhard, einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, 1952 erfolgreich beim Wiederaufbau angewandt hat. Mehr Wohnungsbau bringt nicht nur mehr Wohnungen, sondern auch mehr Einkommen und Nachfrage in vielen Bereichen der Wirtschaft.Wir wollen drittens die Konkurswelle brechen, indem wir den Trend umkehren, zu Neugründungen gewerblicher Existenzen ermutigen.
Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen, die freien Berufe, das Handwerk sind mit ihrer Kreativität, ihrem unternehmerischen Wagemut, ihrer dynamischen Anpassungsfähigkeit unverzichtbare Träger des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts.
Wir wollen viertens mehr Ausbildungsplätze für junge Menschen. Die Bundesregierung wird unverzüglich eine Novellierung der Gesetze vorlegen, mit der ausbildungshemmende Vorschriften abgebaut werden.
Darüber hinaus wird sie gemeinsam mit den zuständigen Kammerorganisationen prüfen, wie für die schwierigen nächsten Jahre vorübergehend zusätzliche Ausbildungskapazitäten geschaffen oder Ausbildungsmaßnahmen organisiert werden können.Wir wollen fünftens die Ertragschancen der Unternehmen verbessern und so die Bildung von Eigenkapital stärken. Investitionen für mehr Arbeitsplätze erfordern positive Ertragserwartungen und hinreichendes Eigenkapital. Wir vertrauen darauf, daß die Tarifpartner bei ihren Entscheidungen sich dessen voll bewußt sind. Aber auch die Besteuerung muß künftig mehr als bisher auf diesen Sachverhalt Rücksicht nehmen.
In einem ersten Schritt werden wir schon für 1983 die Gewerbesteuerbelastung verringern. Dabei werden wir Sorge tragen, daß die Gemeinden einen finanziellen Ausgleich erhalten.
Wir wollen sechstens den Weg freigeben für die Anwendung moderner Techniken und die Entwicklung neuer Technologien, vor allem im Kommunikationswesen.
Eine besondere Verantwortung liegt hierbei bei der Deutschen Bundespost, die zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und zur Überwindung der gegenwärtigen Wachstumsschwäche beitragen muß. Von dem geplanten Ausbau der Kabelnetze, der Einführung neuer Dienste sowie der Einbeziehung der Satellitentechnik in ein modernes Kommunikationsnetz werden wirkungsvolle Anstöße für Investitionen und neue Technologien ausgehen.
In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis wichtig, daß ein zukunftsorientiertes Verkehrswesen für wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze von größter Bedeutung ist. In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, daß für uns die Fortentwicklung der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie sowohl aus gesamtwirtschaftlichen wie auch aus verteidigungspolitischen Gründen sicherzustellen ist.
Wir wollen siebtens eine kostengünstige und rationelle Energieversorgung sichern.
Vorrangiger heimischer Energieträger bleibt die deutsche Steinkohle.
Damit unser Land ein attraktiver Standort für zukunftsorientierte Industrie und krisenfeste Arbeitsplätze bleibt, können und dürfen wir auf die Nutzung der Kernkraft nicht verzichten.
Dazu ist es notwendig, die Entsorgungsfrage bald zu lösen.
Und ich habe die Absicht, mich im Gespräch mit den Bundesländern auch sehr persönlich in dieser Frage zu engagieren.
Wir werden in dieser schwierigen Zeit der deutschen Stahlindustrie bei ihrer schwierigen Anpassung beistehen, einer Anpassung, die auch eine Verringerung der Kapazitäten einschließen muß.Wir treten achtens für freien internationalen Handels-, Zahlungs- und Kapitalverkehr ein, für die Stärkung des Allgemeinen Zoll- und Handelsab-
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Bundeskanzler Dr. Kohlkommens. Wir lehnen jede Art von Protektionismus ab.
Der bevorstehenden GATT-Ministerratstagung messen wir gerade in dieser Zeit weltwirtschaftlicher Krise besondere Bedeutung zu.Wir bleiben neuntens bei einer auf Inflationsbekämpfung ausgerichteten Geld- und Währungspolitik. Wir halten an der Unabhängigkeit der Bundesbank fest.
Die Deutsche Bundesbank ist ein Garant der Stabilität unserer Währung; wir haben der Bundesbank viel zu verdanken. Wachstums- und Beschäftigungsprobleme können und dürfen nicht mit einer Geldpolitik der leichten Hand gelöst werden.
Durch unsere Finanzpolitik werden wir die Bundesbank unterstützen, Bedingungen für eine weitere Senkung der Zinsen zu schaffen.
Wir haben zehntens ein haushaltspolitisches Dringlichkeitsprogramm beschlossen, das die zerrütteten Bundesfinanzen neu ordnen soll. Dabei wollen wir vorrangig die öffentliche Neuverschuldung durch eine strenge Haushaltsdisziplin wieder unter Kontrolle bringen. Nach den jetzt vorliegenden katastrophalen Ergebnissen der Bestandsaufnahme werden wir für 1982 unverzüglich einen weiteren Nachtragshaushalt einbringen. Auf Grund rückläufiger Steuereinnahmen und kurzfristig nicht mehr änderbarer Ausgabenverpflichtungen wird die Nettokreditaufnahme für 1982 dabei auf rund 40 Milliarden DM ansteigen, eine wahrlich schwere Erblast.
— Herr Kollege, Sie rufen „Hört! Hört!". Ich wäre dankbar gewesen, Sie hätten das vor vier Wochen an dieser Stelle auch schon gesagt.
Für 1983 würde die Nettokreditaufnahme des Bundes nach jetzt geltendem Recht sogar auf weit über 50 Milliarden DM anschwellen. Dies ist nicht zu verantworten.
Deshalb haben wir vereinbart, die von der alten Bundesregierung eingebrachten Begleitgesetze mit einigen Änderungen rasch zu verabschieden sowie den Bundeshaushalt 1983 durch weitere Kürzungen — insbesondere bei den Subventionen und gesetzlichen Leistungen — und durch eine frühzeitige Festlegung der Beamtenbesoldung zusätzlich um mindestens 5,5 Milliarden DM zu entlasten.
Diese weitergehenden Beschlüsse werden nach einer ersten Schätzung auch für Länder und Gemeinden Verbesserungen von etwa 3 Milliarden DM für 1983 erbringen. Die Bundesregierung stellt sich damit ihrer Mitverantwortung für die Finanzlage aller öffentlichen Haushalte.Meine Damen und Herren, wir leben in einer kritischen Wirtschaftslage. Sie erfordert von uns einen schwierigen Balanceakt. Wir müssen eine überzeugende Konsolidierungspolitik betreiben, und wir dürfen gleichzeitig die Nachfrage nicht über Gebühr drosseln.
Das verlangt Augenmaß und Geduld.
Der Sachverständigenrat hat zu Recht auf den Unterschied zwischen strukturellem und konjunkturbedingtem Defizit hingewiesen, das im voraus kaum abzuschätzen ist. Unsere Konsolidierungspolitik zielt eindeutig auf den strukturellen Kern. Deshalb haben die Sachverständigen dieser Politik im jüngsten Sondergutachten auch ein positives Urteil ausgestellt. Wir werden in der neuen Wahlperiode weitere Vorlagen einbringen, um ab 1984 das strukturelle Defizit weiter zu verringern.Unser Ziel heißt klar und deutlich: Über geordnete Finanzen zu einem geordneten Staat.
Insgesamt stellen wir mit diesem Dringlichkeitsprogramm die Weichen zur Erneuerung: weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt; weg von kollektiven Lasten, hin zur persönlichen Leistung; weg von verkrusteten Strukturen, hin zu mehr Beweglichkeit, Eigeninitiative und verstärkter Wettbewerbsfähigkeit.
Diese Politik der Erneuerung ist der einzig erfolgversprechende Weg, um auch die finanziellen Fundamente unseres sozialen Netzes zu festigen. Dafür müssen wir unseren Mitbürgern Opfer zumuten. Dafür brauchen wir ihre Bereitschaft zur Solidarität. Diese Solidarität verlangt eine Atempause in der Sozialpolitik. Das, was Rentnern, Sozialleistungsempfängern, Beamten und anderen zugemutet werden muß, muß für alle gelten. Die Atempause in der Sozailpolitik ist ein Signal und, wie ich glaube, auch eine Chance zur Neubesinnung und zum Neubeginn.Um die Grundlagen für eine solide Sozialpolitik zu sichern, haben wir beschlossen:Erstens. Die nächste Rentenanpassung wird um ein halbes Jahr auf den 1. Juli 1983 verschoben.
Es bleibt bei der Erhöhung um 5,6 %. Auch der Anpassungstermin in der gesetzlichen Unfallversiche-
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Bundeskanzler Dr. Kohlrung, in der Kriegsopferversorgung, in der Altershilfe für Landwirte und im Bereich des Lastenausgleichs wird um ein halbes Jahr hinausgeschoben.
Aus der Verschiebung der Besoldungserhöhung ergeben sich auch entsprechende Wirkungen auf die Beamtenpensionen. Die bereits beschlossene Beteiligung der Rentner am Krankenversicherungsbeitrag wird ebenfalls auf den 1. Juli 1983 verschoben.Die sich abzeichnende Finanzlage der Rentenversicherung macht es erforderlich, daß die Beteiligung der Rentner an den Kosten ihrer Krankenversicherung in den nächsten zwei Jahren um jeweils zwei weitere Prozentpunkte angehoben wird. Wir werden dafür sorgen, daß dabei die Klein- und Kleinstrentner nicht in unzumutbarer Weise belastet werden.
Sollten sich die Wirtschaftsdaten kurzfristig noch weiter verschlechtern, so wird die Bundesregierung rechtzeitig Vorsorge treffen, um möglichen Liquiditätsproblemen der Rentenversicherung zu begegnen.Zweitens. Die Finanzierungsprobleme der Bundesanstalt für Arbeit machen es notwendig, die Beiträge an die Rentenversicherung nach der Höhe der gewählten Lohnersatzleistung zu bemessen. In der Arbeitslosenversicherung sollen Leistungen mehr als bisher nach der Dauer der Beitragszahlung gestaffelt werden.
Drittens. Zur Begrenzung des Kostenanstiegs in der gesetzlichen Krankenversicherung wird die Bundesregierung die Eigenbeteiligung beim Krankenhausaufenthalt auf 14 Tage erweitern. Gleichzeitig werden Kinder unter 18 Jahren von der Eigenbeteiligung befreit. Die sozialmedizinische Überprüfung von Krankschreibungen muß zur Stärkung des vertrauensärztlichen Dienstes verbessert werden. Meine Damen und Herren, wer krankfeiert, ohne krank zu sein, handelt unsolidarisch und unsozial.
Wer einen anderen krank schreibt, obwohl dieser nicht krank ist, der beteiligt sich an der Ausbeutung des Versicherungssystems.
Die Bundesregierung verzichtet auf die bisher vorgeschlagene Absenkung der Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit für die gesetzliche Krankenversicherung. Aber es ist unerläßlich, daß auch Ärzte, Zahnärzte, die pharmazeutische Industrie und Krankenhäuser zusammen mit den Versicherten ihren Beitrag zur Begrenzung des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen selbst leisten.
Viertens. Wir wollen mehr Flexibilität im Arbeitsleben. Derjenige, der freiwillig früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden will, soll dazu die Möglichkeiten erhalten, ohne daß dadurch die Rentenversicherung zusätzlich belastet wird.Fünftens. In der nächsten Legislaturperiode muß die 1957 beschlossene Rentenreform an die veränderten demographischen ökonomischen Bedingungen angepaßt werden, so daß sie auch in Zukunft Bestand hat. Die Beitragsbezogenheit der Rente ist dabei für uns unverzichtbar. Den Bundeszuschuß wollen wir auf eine verläßliche Grundlage stellen. Die Hinterbliebenenversorgung muß entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reformiert werden.Sechstens. Zu unserer Gesellschaft gehört auch die Beteiligung breiter Schichten an der notwendigen Vermögensbildung in der Wirtschaft. Die Bundesregierung beabsichtigt, unmittelbar nach der Bundestagswahl einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Förderung breiter Vermögensbildung vorzulegen.
Die Arbeitnehmer am Produktivkapitel der Unternehmen zu beteiligen bietet die Chance, die Kapitalbildung der Unternehmen zu verbessern und die Einkommens- und Vermögensverteilung durch eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik nicht zu Lasten der Arbeitnehmer zu verschieben.Meine Damen und Herren, Ziel unserer Sozialpolitik ist, die sozialen Leistungen von Staat und Gesellschaft auf die wirklich Hilfsbedürftigen zu konzentrieren. Wo es Spielräume gibt, das Prinzip Leistung für Gegenleistung zu stärken, werden wir sie nutzen. Wir werden den Sozialstaat erhalten, indem wir seine wirtschaftlichen Fundamente festigen.
Dritter Schwerpunkt unseres Dringlichkeitsprogramms bis zur Neuwahl ist die Ausländerpolitik. Das Zusammenleben einer großen Zahl von Menschen anderer Mentalität, Kultur und Religion mit Deutschen stellt uns alle, Staat und Gesellschaft, Ausländer und Deutsche, vor schwierige Aufgaben. Sie erfordern Geduld und Toleranz, Realismus ebenso wie Mitmenschlichkeit.Die Bundesregierung läßt sich bei ihrer Politik für die Ausländer von drei Grundsätzen leiten:Erstens. Die Integration der bei uns lebenden Ausländer ist ein wichtiges Ziel unserer Ausländerpolitik. Integration bedeutet nicht Verlust der eigenen Identität, sondern ein möglichst spannungsfreies Zusammenleben von Ausländern und Deutschen. Integration ist nur möglich, wenn die Zahl der bei uns lebenden Ausländer nicht weiter steigt. Vor allem gilt es hier, eine unbegrenzte und unkontrollierte Einwanderung zu verhindern.
Zweitens. Die Bundesregierung wird den Anwerbestopp beibehalten, den Familiennachzug begren-
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7220 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundeskanzler Dr. Kohlzen, gerade auch im Interesse der Kinder, die einen Anspruch auf eigene Familie haben. Sie wird darauf hinarbeiten, daß durch das Assoziierungsabkommen keine weitere Einwanderungswelle ausgelöst wird.
Drittens. Den Ausländern, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, muß die Rückkehr erleichtert werden. Jeder Mensch hat ein Recht, in seiner Heimat leben zu dürfen. Die Ausländer in Deutschland sollen frei entscheiden können, aber sie müssen sich auch entscheiden, ob sie in ihre Heimat zurückkehren oder ob sie bei uns bleiben und sich integrieren wollen.Die Bundesregierung setzt zur Verwirklichung dieses Programms — gemeinsam mit Vertretern von Bund, Ländern und Gemeinden — eine Arbeitskommission ein, die zu Beginn des kommenden Jahres ihre Vorschläge und Empfehlungen vorlegen soll. Wir werden — um auch das noch zu diesem Thema zu bemerken — alles tun, um den Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern.
Der vierte Schwerpunkt unserer Regierungsarbeit in den nächsten Monaten ist die Außen- und Sicherheitspolitik.
Sie bleibt eine Politik für die Freiheit,
eine Politik für den Frieden in Europa und weltweit,
eine Politik für das Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes,
eine Politik für die Einigung Europas
und eine Politik für die Menschenrechte und gegen Hunger und Not.
Fundament deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sind das Nordatlantische Bündnis und die Freundschaft und Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Es ist eine Allianz, die niemand bedroht, die Überlegenheit nicht anstrebt, dauerhafte Unterlegenheitaber um der Erhaltung des Friedens willen nicht hinnehmen kann, nicht hinnehmen will.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen zentralen Satz aus der Bonner Erklärung der Allianz vom 10. Juni 1982 in Erinnerung rufen. Dort heißt es:Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff.Unsere Freunde und Verbündeten, aber auch unsere Partner in aller Welt sollen wissen, daß sie sich auf die Gradlinigkeit und Berechenbarkeit unserer Politik verlassen können.
Eine schwankende Position ist für die Bundesrepublik Deutschland — geopolitisch mitten in Europa — lebensgefährlich. Das Bündnis ist der Kernpunkt deutscher Staatsräson.
— Es ist erstaunlich, daß Sie sich darüber erregen. Ich war bisher der Ansicht, daß das unsere gemeinsame Meinung ist.
Hier verbinden sich die Grundwerte unserer freiheitlichen Verfassung, für die wir stehen, die wirtschaftlich-soziale Ordnung, in der wir leben, und die Sicherheit, die wir brauchen.
Daraus ergeben sich für die Bundesregierung klare Prioritäten:Erstens. Wir werden die deutsch-amerikanischen Beziehungen aus dem Zwielicht befreien,
die Freundschaft bekräftigen und stabilisieren.
Ich werde deshalb schon in wenigen Tagen nach Washington reisen, um meinen Beitrag zu leisten,
die Partnerschaft durch verstärkte Konsultationen zu vertiefen und den gegenseitigen Austausch auf allen Ebenen zu erweitern.
Zweitens. Die Bundesregierung erneuert ihr Bekenntnis zum Atlantischen Bündnis. Es ist die Grundlage unserer Politik der aktiven Friedenssicherung.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7221
Bundeskanzler Dr. KohlEiner steht für den anderen ein, in der Abwehr einer gemeinsamen Gefahr: Das ist Sicherheitspartnerschaft.
Wir unterstreichen ohne jeden Vorbehalt die im Harmel-Bericht festgelegte, auf dem Bonner NATO-Gipfel bekräftigte Gesamtstrategie des Bündnisses für unsere Beziehungen mit dem Osten. Sie enthält die Instrumente für eine erfolgreiche Friedenssicherung in Europa: Gleichgewicht und Verteidigungsfähigkeit, Abrüstung und Rüstungskontrolle, Dialog und Zusammenarbeit.Die Bundesregierung tritt gerade in diesem Zusammenhang für eine faire Verteilung der Lasten in der Allianz ein.Drittens. Unser vordringliches Ziel ist es, das notwendige militärische Gleichgewicht durch konkrete, ausgewogene und nachprüfbare Verhandlungsergebnisse auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen herzustellen und zu stabilisieren.
Meine Damen und Herren, Frieden schaffen ohne Waffen: Das ist ein verständlicher Wunsch, ein schöner Traum, aber es ist vor allem eine lebensgefährliche Illusion.
Frieden schaffen nur durch Waffen: Das wäre eine tödliche Verblendung.Frieden schaffen mit immer weniger Waffen: Das ist die Aufgabe unserer Zeit.
Wir unterstützen deshalb die im Bündnis abgestimmten Initiativen, die in ihrer Gesamtheit das bisher umfassendste Rüstungskontrollangebot an die sowjetische Seite darstellen.Die Bundesregierung steht uneingeschränkt zum Doppelbeschluß der NATO von 1979,
zu jenem Beschluß, der Verhandlungen über die Reduzierung und Begrenzung sowjetischer und amerikanischer nuklearer Mittelstreckensysteme bietet. Sie wird die Beschlüsse erfüllen und nach innen vertreten: den Verhandlungsteil und, wenn notwendig, auch den Nachrüstungsteil. Und sie wird dann auch daran erinnern, daß es zu den Verdiensten einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung und eines sozialdemokratischen Kanzlers gehört, den Beschluß gefordert und im Bündnis durchgesetzt zu haben.
Nur wenn die Sowjetunion, weiß, daß sie mit einerStationierung der amerikanischen Systeme abEnde 1983 in Europa fest rechnen muß, kann mitihrer Bereitschaft gerechnet werden, zu guten Verhandlungsergebnissen beizutragen.Die Bundesregierung hält am westlichen Verhandlungsziel der beiderseitigen Null-Lösung fest, d. h. am völligen Verzicht auf landgestützte sowjetische und amerikanische Mittelstreckensysteme. Ich appelliere auch in dieser ersten Regierungserklärung der neuen Bundesregierung an die Sowjetunion und ihre Führer, positiv auf diese Vorschläge einzugehen.
Die Bundesregierung unterstützt nachdrücklich den im Rahmen der START-Verhandlungen gemachten amerikanischen Vorschlag, den Bestand der strategischen Kernwaffen beider Seiten einschneidend zu verringern.Wir wollen, daß bei den Wiener Verhandlungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderungen baldige Verhandlungsfortschritte erreicht werden.Darüber hinaus treten wir im Rahmen der KSZE für die Schaffung eines Rüstungskontrollforums ein, das ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural umfaßt. Wir werden uns auf dem KSZE-Folgetreffen nachdrücklich für die Verabschiedung eines ausgewogenen Schlußdokuments für ein präzises Mandat zur Einberufung einer Konferenz über Abrüstung in Europa einsetzen. Sie soll in einer ersten Phase neue und militärisch bedeutsame vertrauensbildende Maßnahmen für ganz Europa erarbeiten.
Wir werden uns auch im Rahmen der Vereinten Nationen für die Fortsetzung des sicherheitspolitischen Dialogs mit der Dritten Welt einsetzen. Dabei messen wir der Weiterentwicklung der vertrauensbildenden Maßnahmen auch in diesem Bereich besondere Bedeutung zu.Meine Damen und Herren, im Rahmen des Genfer Abrüstungsausschusses verfolgt die Bundesregierung das Ziel des völligen Verbots chemischer Waffen durch ein weltweites, zuverlässig überprüfbares Abkommen. Damit würden chemische Waffen auch in ganz Europa abgeschafft.
Nach den geschichtlichen Erfahrungen unseres Volkes in diesem Jahrhundert, vor allem in zwei großen Kriegen mit all der Not und dem Elend, das über unser Land gekommen ist, sagen wir allen Bürgern unseres Landes, und wir rufen es allen Völkern der Welt zu: Wir, die Deutschen, wollen weder einen nuklearen Krieg noch einen konventionellen Krieg. Wir wollen den Frieden in Freiheit.
Viertens. Wir wollen neue Wege zur Einigung Europas öffnen. Die europäische Idee hat Versöhnung
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7222 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundeskanzler Dr. Kohlüber die Grenzen hinweg geschaffen und den Grundstein für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa gelegt. Europapolitik war und ist immer zuerst eine Politik für den Frieden in Freiheit. Das müssen wir wieder mehr als bisher ins Bewußtsein unserer Bürger bringen durch ganz konkrete Schritte, durch mehr Abbau der Grenzkontrollen, durch eine Intensivierung der Kulturbeziehungen und durch eine Verbesserung und Verstärkung des Jugendaustausches.
Wir alle wissen, beim Aufbau Europas kommt der deutsch- französischen Zusammenarbeit, die inzwischen große Tradition gewonnen hat, besondere Bedeutung zu. Aber wir wissen auch, daß der einzelne Bürger auch in unserem Lande spüren muß, daß die europäische Gemeinschaft auch seinem ganz persönlichen Interesse dient. Das wird nur möglich sein, wenn wir weitergehen auf dem Weg zu unserem Ziel, und unser Ziel bleibt die Politische Union Europas.
Das heißt — ich hoffe, Herr Kollege Brandt, hier sind wir uns einig —, wir müssen die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen verbessern. Der Ministerrat muß sich wieder als Organ der Gemeinschaft verstehen und sich vor allem von gemeinsamen europäischen Interessen leiten lassen. In den von den Verträgen vorgesehenen Fällen muß er Beschlüsse mit Mehrheit fassen können.
Das Europäische Parlament muß gestärkt werden, damit von ihm wichtige politische Impulse ausgehen können. Dazu gehören vorrangig der Ausbau seiner Kompetenzen und die gemeinsame Arbeit an einer europäischen Verfassung.Die Bundesregierung erneuert von dieser Stelle aus die Erklärung ihrer Vorgänger-Regierung, daß sie den Beitritt Portugals und Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft unterstützt.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß im Rahmen der Gemeinschaft viel getan werden muß, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und regionale Ungleichgewichte zu verringern. Wir alle wissen, daß gerade in den nächsten Jahren die gemeinsame Agrarpolitik beim Ausbau Europas eine zentrale Bedeutung hat.
Dem politischen Ausbau der Gemeinschaft dient die deutsch-italienische Initiative für eine Europäische Akte. Sie soll eine neue politische Perspektive auf dem Wege zur Europäischen Union geben.Fünftens. Jede Bundesregierung muß der besonderen Verantwortung Rechnung tragen, die sich durch die Teilung unseres Landes und seine Lage an der Nahtstelle zum Osten ergibt. Aktive Friedenspolitik gegenüber den Staaten Mittel- und Osteuropas ist eine bleibende Aufgabe deutscher Außenpolitik. An erster Stelle steht für uns dabei das Interesse der Menschen.
Auf der Grundlage der geschlossenen Verträge und der Schlußakte von Helsinki wird sich die Bundesregierung um echte Entspannung, um Dialog und Zusammenarbeit bemühen. Wir wollen das in unseren Kräften Stehende dazu beitragen, die Teilung Deutschlands und Europas, die schwere Last unserer Geschichte, für die betroffenen Menschen erträglicher zu machen und gute Beziehungen zu unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa zu unterhalten.Den Beziehungen zur Sowjetunion wird die Bundesregierung besondere Aufmerksamkeit widmen, und sie wird deren kontinuierliche Weiterentwicklung anstreben. Die Bundesregierung kann jedoch die schweren Hindernisse und Rückschläge nicht übersehen, die durch die sowjetische Intervention in Afghanistan, durch die bedrückende Lage in Polen und vor allem auch durch die sowjetische Überrüstung entstanden sind.
Wir werden jede Gelegenheit nutzen, in Gesprächen und Verhandlungen mit den Repräsentanten der sowjetischen Führung die Verantwortlichkeiten hierfür klarzustellen und im Rahmen unserer Möglichkeiten auf positive Änderungen zu drängen.
Die Bundesregierung verfolgt die Entwicklung in Polen mit großer Anteilnahme und großer Sorge.
Sie will auf dem Wege der Verständigung mit dem polnischen Volk fortschreiten und den Vertrag von Dezember 1970 im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit Leben erfüllen.Zugleich erinnere ich gerade in dieser Stunde nachdrücklich an die gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 18. Dezember 1981: Wir fordern, das Kriegsrecht aufzuheben, alle Verhafteten zu entlassen, den Dialog mit der Kirche fortzuführen und das Verbot der „Solidarität" wieder aufzuheben.
Das Verbot der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarität" ist nicht nur ein Bruch gegebener Versprechen der polnischen Regierung, nicht nur ein Verstoß gegen die Schlußakte von Helsinki, sondern ein kalter Handstreich gegen das polnische Volk.
Am letzten Sonntag wurde Pater Maximilian Kolbe heiliggesprochen. Er hat in Auschwitz seinDeutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7223Bundeskanzler Dr. KohlLeben als Märtyrer der Versöhnung geopfert. Ich will dies zum Anlaß nehmen, den Kirchen für die Wegbereitung der Verständigung zwischen unseren beiden Völkern zu danken.
Die Bundesregierung wird gerade auch auf diesem Felde die Arbeit der Kirchen nachhaltig unterstützen.Ich rufe unsere Mitbürger auf, auch weiterhin zu helfen. Für die Weihnachtszeit werden wir, wie es schon vor einigen Monaten geschehen war, wieder Portofreiheit für Geschenkpakete gewähren.
Die Bundesregierung sieht in den Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion und den übrigen RGW-Staaten einen wichtigen Teil ihrer gesamten Ost-West-Beziehungen. Sie erwartet, daß auch die Sowjetunion ihrer Verantwortung für die Ost-West-Beziehungen entspricht. Die Bundesregierung wird die Wirtschaftsbeziehungen fortsetzen auf der Basis der bestehenden Verträge — im Einklang mit dem Harmel-Bericht, der Bonner Erklärung der Allianz vom Juni 1982 und den Vereinbarungen des Wirtschaftsgipfels von Versailles. Dabei wird sie selbstverständlich die Sicherheitsinteressen des Bündnisses voll berücksichtigen.Die Schlußakte von Helsinki ist eine Chance, eine Charta für das Zusammenleben der Staaten in Europa. Sie ist bedeutsam auch für die Menschen. Deswegen liegt es auch in unserem Interesse, diesen Prozeß fortzusetzen.Sechstens. Der Friede in der Welt wird nicht nur durch Waffen bedroht, sondern ebenso durch Armut, Hunger und Tod in vielen Teilen der Welt. Die Bundesregierung wird deshalb im Rahmen ihrer weltweiten Friedenspolitik weiterhin auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Staaten der Dritten Welt hinwirken. Unser Ziel ist eine Weltordnung friedlicher Zusammenarbeit.Die Solidarität mit den Armen in der Dritten Welt geht jeden in unserem Lande an. Staat und Kirchen, Wirtschaft und privates Engagement gesellschaftlicher Gruppen müssen zusammenwirken. Die Entwicklungspolitik wird seit Jahren von der großen Mehrheit unserer Mitbürger mitgetragen. Diese gemeinsame Überzeugung gilt es zu erhalten und zu stärken. Ich finde, weite Teile der jungen Generation geben uns hierbei ein gutes Beispiel.
Die Dynamik des privaten Sektors muß die öffentliche Entwicklungshilfe ergänzen. In der mittelständischen Wirtschaft und im Handwerk können wir noch erhebliche Reserven erschließen. Private Initiative muß auch in den Entwicklungsländern stärker zum Motor der Entwicklung eines gesunden Wachstums der Wirtschaft werden.
Wir respektieren die Unabhängigkeit der Staaten der Dritten Welt und unterstützen ihre Bemühungen um wirkliche, um echte Blockfreiheit. Wir wenden uns gegen jede Politik der Vorherrschaft. Wir lehnen Gewalt, Intervention und Einmischung ab. Wir treten ein für die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte überall in der Welt.
Siebtens. Wir wollen Frieden in Freiheit. Wir leben seit über 30 Jahren in Frieden. Das wäre ohne unsere Bundeswehr nicht möglich gewesen.
Und ohne die Bundeswehr gibt es auch in Zukunft keinen Frieden. Wer für den Frieden in Freiheit steht, braucht sich nicht zu verstecken. Der Dienst in der Bundeswehr ist Friedensdienst und damit ein Ehrendienst.
Ein Volk, das nicht zur Verteidigung entschlossen ist, verspielt mit der Freiheit auch den Frieden. Wir alle — wir alle! — müssen uns mehr als bisher anstrengen, vor allem auch unsere jungen Bürger vom Sinn der Verteidigung, vom Sinn der Bundeswehr zu überzeugen. Die allgemeine Wehrpflicht ist für unsere Verteidigung unerläßlich. Theodor Heuss hat sie zu Recht als das legitime Kind der Demokratie bezeichnet. Wir werden dafür sorgen müssen, daß die Lasten für die Landesverteidigung gerechter verteilt werden.
Wenn wir die Bereitschaft der jungen Menschen zu diesem Dienst stärken wollen, dann müssen alle für die Gemeinschaft in die Pflicht genommen werden. Wer Rechte hat, hat Pflichten. Viele Jugendliche verstehen nicht, daß vier von zehn eines Jahrgangs weder zum Wehrdienst noch zum Zivildienst herangezogen werden. Die Regierungsparteien haben vereinbart, Vorschläge zur Wehrgerechtigkeit zu erarbeiten, d. h. zum Verfahren der Anerkennung von Wehrdienstverweigerung, zur Ausgestaltung des Ersatzdienstes wie auch zur Sicherung einer ausreichenden Zahl von Zivildienstplätzen.Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen jetzt die dringlichsten Aufgaben dargelegt, die wir in den nächsten Monaten in Angriff nehmen wollen. Damit machen wir einen Anfang für eine Politik der Erneuerung, erste Schritte auf dem Weg aus der Krise. Aber unsere Bürger haben auch einen Anspruch darauf, zu erfahren, welche Ziele und Grundsätze unsere Politik für die weitere Zukunft bestimmen.Diese Regierung wird eine neue Gemeinsamkeit begründen — eine Gemeinsamkeit der politischen Mitte in Deutschland.
Eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht erfordert inneren Frieden. Diesen Frieden zu stiften ist7224 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Bundeskanzler Dr. Kohldie wichtigste Aufgabe unserer Rechtsordnung. Wir verstehen das Recht nicht als ein Herrschaftsinstrument gesellschaftlicher Klassen, sondern als Verständigung freier Bürger auf der Grundlage gemeinsamer Werte. So wollen wir unseren freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat ausbauen.
Wir wollen den Staat auf seine ursprünglichen und wirklichen Aufgaben zurückführen, zugleich aber dafür sorgen, daß er diese zuverlässig erfüllen kann. Dies erfordert einen leistungsfähigen und verfassungstreuen öffentlichen Dienst. Die Stärkung des Berufsbeamtentums ist für diese Bundesregierung eine Verpflichtung.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir wollen eine Gesellschaft, in der sich die Anstrengungen des einzelnen für ihn wieder lohnen und zugleich zu einem Fortschritt für das Ganze führen; wir wollen weder die Ellenbogengesellschaft des Kapitalismus noch eine Ellenbogengesellschaft des Sozialismus.
Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen sich selbst etwas zutrauen und nicht auf den Staat warten.Wir wollen eine Gesellschaft, die sich ihrer Verantwortung für die Natur bewußt ist. Energieverantwortung und Naturvorsorge helfen, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern. Wirtschaftswachstum und Umweltschutz bilden keinen Gegensatz. Eine zukunftsorientierte Wirtschaft benötigt die Erhaltung ihrer ökologischen Grundlagen. Wirksamer Umweltschutz ist in Wahrheit nur mit und nicht gegen die Technik möglich.
Ich bitte alle unsere Bürger und die Verantwortlichen, den Schatz unserer Natur, Boden, Wasser und Luft, pfleglich zu nutzen. Wir stellen uns der Herausforderung, den Reichtum unserer Pflanzen- und Tierwelt zu erhalten. Dabei vertrauen wir in besonderer Weise auf die Mithilfe der in unserer Landwirtschaft Arbeitenden.
Die bisherigen Erfolge in der Umweltschutzpolitik, meine Damen und Herren, beruhen auf dem Zusammenwirken aller im Bundestag vertretenen Parteien. Ich hoffe, daß es uns gelingt, diese Zusammenarbeit noch zu verstärken und zu vertiefen.Meine Damen und Herren, wir wollen eine Gesellschaft, in der sich Wissenschaft und Forschung in Freiheit entfalten können. Sie sind in einer großen Tradition Teil unserer geistigen Kultur und gleichzeitig Ursprung neuer Technik und zukunftssicherer Arbeitsplätze. Unser Land kann auf eine Leistungselite nicht verzichten.
Eine freie Gesellschaft setzt voraus, daß sich in ihr die Vielfalt der Meinungen Gehör verschafft. Die Massenmedien tragen so eine hohe Verantwortung für die Erhaltung und Stärkung der freiheitlichen Ordnung.Die Vielfalt der Meinungen verlangt Vielfalt der Organisationsformen.
Die politische Blockade des Ausbaus moderner Kommunikationstechnologien wird beendet.
Die Bundesregierung wird im Zusammenwirken mit den Bundesländern die Medienordnung erneuern. So sollen die Meinungsvielfalt erhöht, die Urteilskraft des Bürgers herausgefordert und der Informations- und Meinungsaustausch über nationale Grenzen hinaus gestärkt werden.Meine Damen und Herren, wir sind angetreten, dem Bürger mehr Freiheit und nicht mehr Staat zu bringen.
Wir begreifen uns nicht als Vormund gesellschaftlicher Gruppen. Deswegen respektieren wir uneingeschränkt die Tarifautonomie.
— Meine Damen und Herren, auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet. Für uns heißt freie Meinungsäußerung, daß ein Bundesminister selbstverständlich seine Meinung äußern darf. Das ist ein Unterschied.
Für uns heißt verantwortliche Position eines deutschen Politikers, daß er zu den drängenden Problemen unserer Zeit Position bezieht und sich nicht drückt vor der Entscheidung, Position zu beziehen.
Ich darf für die Bundesregierung an dieser Stelle ein Wort des Dankes und der Anerkennung an die Gewerkschaften richten.
Ich weiß gar nicht, warum Sie sich darüber erregen. Die Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbunds, die Vertreter der DAG, die Vertreter des Beamtenbundes, die Vertreter des CGB — sie waren in diesen Tagen alle bei uns, und sie waren hoch zufrieden,
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7225
Bundeskanzler Dr. Kohldaß wir in der ersten Amtswoche dieser Regierung den Dialog eröffnet haben.
Zu unserem Demokratieverständnis, meine Damen und Herren von der SPD, gehört, daß man miteinander, nicht übereinander spricht. Das ist ein entscheidender Unterschied.
Wir alle wissen, welchen bedeutenden Beitrag die Gewerkschaftsbewegung zum wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau unseres Landes geleistet hat. Ich habe nicht zuletzt aus diesem Grunde und auch, um diese Anerkennung zu demonstrieren, unmittelbar nach meiner Amtsübernahme den Dialog aufgenommen. Wir werden ihn bereits in wenigen Wochen fortsetzen.
Vor dem Parlament aber, meine Damen und Herren, richte ich an jeden einzelnen in unserem Land, an jede Gruppe, an Gewerkschaften und Arbeitgeber, an Industrie und mittelständisches Gewerbe, an Arbeiter, Angestellte, Beamte, an die Angehörigen der freien Berufe, an die Handwerker, an die Bauern, an alle die Bitte: Unterstützen Sie uns bei dem Bemühen, die Krise zu meistern und neue Zuversicht und Hoffnung zu wecken!
Diese Bitte richte ich ausdrücklich auch an die Opposition. Die parlamentarische Demokratie braucht die Opposition. Wir können und wir werden uns streiten über den richtigen Weg.
Wir sollten jedoch vereinbaren, daß wir uns gegenseitig nie den guten Willen absprechen, das Beste für unser Vaterland zu wollen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die wirtschaftlichen Probleme wiegen schwer, und sie erfordern unsere ganze Kraft. Aber viele Menschen leiden heute weniger an materieller Armut; sie leiden an Einsamkeit, Mangel an Geborgenheit und Mitmenschlichkeit. Es mangelt ihnen an Gütern, die sie auf dem Markt nicht kaufen und schon gar nicht vom Staat erhalten können.
Ich zitiere Wilhelm Röpke, einen der Väter der Sozialen Marktwirtschaft. Er sagt:Marktwirtschaft ist eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung einer freien, glücklichen, wohlhabenden, gerechten und geordneten Gesellschaft.Und er fügt hinzu:Das schließliche Schicksal der Marktwirtschaft entscheidet sich — jenseits von Angebot und Nachfrage.
So dürfen wir, finde ich, über dem wirtschaftlichen Wohlstand und die Sorgen im Ökonomischen nicht das seelische Wohlergehen der Menschen vergessen. Der „Reichtum der Nationen" beruht nicht nur auf ökonomischen Zuwachsraten, sondern auf den menschlichen Werten, auf Tugenden und Bindungen.
Wir sind nach über 30 Jahren Bundesrepublik an einem Scheideweg angekommen. Wir müssen uns entscheiden, in welche Richtung wir weitergehen wollen: Weiter in Richtung mehr Staat, zu immer größeren Mammuteinheiten in Verwaltungen, Schulen, Krankenhäusern, oder umkehren in Richtung überschaubare Einheiten, umkehren zu einer Gesellschaft mit menschlichem Gesicht. Wenn wir den alten Weg gedankenlos weitergehen, meine Damen und Herren, stürzen wir den Menschen in die neue Entfremdung eines anonymen, bürokratischen Wohlfahrtsstaates, kaum daß wir ihn durch die Soziale Marktwirtschaft aus der Entfremdung des Kapitalismus befreit haben.
In diesem Zusammenhang ist es von ganz großer Bedeutung und es entspricht dem Willen der Bundesregierung, daß Länder und Gemeinden wieder mehr zu ihrem Recht kommen. Die föderative Ordnung, meine Damen und Herren, ist mehr als ein Verfassungsprinzip: Sie ist ein wichtiges Ergebnis unserer Geschichte. Sie ist Ausdruck unserer politischen Kultur, die von Verteilung und Kontrolle der Macht, von Freiheit und Eigenverantwortung geprägt ist. Die Aufgaben, die Länder und Gemeinden wirksamer als der Bund erfüllen können, sollten sie selbst wahrnehmen.
Wir wollen mehr Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger füreinander. Das politische Strukturprinzip dafür ist die Subsidiarität. Es verlangt die Vorfahrt für die jeweils kleinere Gemeinschaft. Was diese zu leisten vermag, soll ihr die größere nicht abnehmen.
Familie, Nachbarschaft, freie Träger, Initiativ- und Selbsthilfegruppen und soziale Dienste können mehr Bürgersinn und Bürgerverantwortung erzeugen, als es großen und anonymen Institutionen je möglich sein wird.
Unsere Sozialpolitik wird überall dort helfen, wo esmöglich ist, freiwillige soziale Initiativen von Bürgern zu wecken, aufzubauen und zu erhalten. Wir7226 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Bundeskanzler Dr. Kohlwerden deshalb einen Wettbewerb sozialer Initiativen ins Leben rufen und besondere Beispiele praktizierter Mitmenschlichkeit aufzeichnen. Wir wollen in der Bundesrepublik nicht nur über die schlechten Beispiele klagen, sondern wir wollen durch gute Beispiele Zeichen setzen.
Auch künftig muß unser Staat denen helfen, die in Not und wirklich bedürftig sind. Aber nur wenn verstärkt Menschen Menschen helfen, wächst die menschliche Qualität unseres Gemeinwesens.Die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre Mitverantwortung und Mitgestaltung des Gemeinwohls sind eine unverzichtbare Bedingung des freiheitlichen Staates und der freiheitlichen Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht braucht die Stimmen der Kirchen, ihr offenes, auch kritisches Wort, ihr soziales Engagement und ihre tätige Nächstenliebe. Wir danken den Kirchen für diese große Leistung.
Meine Damen und Herren, in unseren Tagen ist es zur Mode geworden, über die junge Generation zu klagen. Ich halte die meisten dieser Klagen für übertrieben und weithin unzutreffend. Die große Mehrheit unserer jungen Mitbürger bietet uns in ihrer unverbrauchten Phantasie und ihrer Bereitschaft zum Dienst am Nächsten ein Beispiel an.
Die Bundesregierung begrüßt die Mitarbeit so vieler junger Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, in Gruppen und Vereinen, mit sozialen, politischen, kulturellen, kirchlichen und sportlichen Aufgaben. Dort suchen und finden junge Menschen Kameradschaft und Freundschaft, menschliche Nähe und Geborgenheit. Dort nutzen sie die Möglichkeit, im Engagement für andere der eigenen Tätigkeit Sinn zu geben.
Wir sollten dies häufiger ansprechen und anerkennen. Auch das ist ein Stück Beitrag zum Gespräch mit der jungen Generation.
Die Bundesregierung wird die neuen sozialen Bewegungen und die von ihnen getragenen Projekte junger Menschen ernst nehmen; sie wird sich mit ihren Formen und Inhalten konstruktiv auseinandersetzen. Junge Menschen haben einen Anspruch auf Verständnis, aber sie haben auch einen Anspruch auf Widerspruch.
Die Bundesregierung weiß, daß gerade unsere jungen Mitbürger von uns erwarten, daß wir alles tun, um die bedrückende Jugendarbeitslosigkeit abzubauen. Daß so viele Heranwachsende den Schritt in das Berufsleben als Erfahrung der Arbeitslosigkeit erleben müssen, bewirkt Bitterkeit und oft Resignation. Wir werden nichts unversucht lassen, um unseren jungen Mitbürgern eine möglichst gute Ausbildung und, wenn möglich, Arbeitsplätze zu sichern.
Die Zukunft unseres Landes beruht auf der Qualifizierung und der Bildung und Ausbildung der jungen Generation.Ich habe am vergangenen Freitag in einem ersten Gespräch mit den Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft, des Handels, der Banken und des Handwerks darauf hingewiesen, wie drängend dieses Problem ist. Ich habe Zusagen erhalten und bin dafür dankbar. Ich bin sicher, daß diese Versprechen wie in der vergangenen Zeit auch diesmal eingelöst werden.
Ein zentraler Punkt unserer Politik ist die Familienpolitik. In der Familie lernen die Menschen Tugenden und Verhaltensweisen, die unserer Gesellschaft ein menschliches Gesicht geben: Liebe und Vertrauen, Toleranz und Rücksichtnahme, Opferbereitschaft und Mitverantwortung.Unser Leitbild ist die partnerschaftliche Familie, die geprägt ist von der Partnerschaft zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern. Die Gemeinschaft von Eltern und Kindern bietet Lebenserfüllung und Glück.Unsere freiheitliche Gesellschaft, meine Damen und Herren, kennt kein bestimmtes Leitbild der Frau, weder das der Hausfrau noch das der berufstätigen Frau. Immer mehr Frauen sehen im Beruf einen ebenso selbstverständlichen Teil ihrer Lebensplanung wie in der Familie.Die Bundesregierung wird darauf hinwirken, mehr Möglichkeiten zu schaffen, Familie und Beruf miteinander zu verbinden — für Frauen wie für Männer. Teilzeitarbeitsplätze und Arbeitsplatzteilung sind solche Möglichkeiten. Sie sollten durch eine Änderung der gesetzlichen Vorschriften möglichst rasch verwirklicht werden.
Meine Damen und Herren, Beruf ist für uns aber nicht nur die außenhäusliche Erwerbstätigkeit; Beruf ist für uns ebenso die Tätigkeit der Hausfrau in der Familie und bei ihren Kindern.
Deshalb wird die Bundesregierung, sobald es finanziell möglich ist, die eigenständige soziale Sicherung der Frau verbessern und Erziehungsjahre in der Rentenversicherung einführen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7227
Bundeskanzler Dr. KohlMit der Zahl der Kinder wird die wirtschaftliche Leistungskraft der Familie geschwächt. Deshalb besitzt für uns der Familienlastenausgleich eine ganz hohe Bedeutung.Trotz der schwierigen Finanzlage, meine Damen und Herren, haben wir eine pauschale Kürzung des Kindergeldes nicht vorgesehen.
In einer Zeit knapper Kassen ist es ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, daß sich Eltern mit höherem Einkommen mit einem geringeren Kindergeld abfinden.
Wir verlangen die notwendigen Opfer nicht von den Einkommensschwachen, sondern von denen, denen diese Opfer eher zugemutet werden können.Das Steuerrecht wollen wir familienfreundlicher gestalten. Mit Wirkung vom 1. Januar 1984 wird das bisherige Ehegattensplitting in ein Familiensplitting umgewandelt.
Nicht nur die Kleinfamilie, sondern auch die Gemeinschaft der Generationen in der Familie geben einer Gesellschaft ihr menschliches Gesicht. Gerade im Zusammenstehen der Generationen, im Füreinanderstehen in Notsituationen, bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit erweist sich die Kraft der Lebensgemeinschaft Familie. Sie kann hier mehr leisten, als jede staatliche, öffentliche Hilfe allein vermag.
Die Bundesregierung wird durch entsprechende Förderungsmaßnahmen des Wohnungsbaus helfen, daß wieder häufiger mehrere Generationen unter einem Dach leben, daß Kinder ihre Eltern im Alter pflegen und betreuen können.
Dafür brauchen wir mehr soziale Dienste, beispielsweise Sozialstationen, wie sie in vielen Ländern der Bundesrepublik Deutschland auch als Mittelpunkt ehrenamtlicher Mitarbeit segensreich wirken.
Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland und seine katastrophalen Folgen müssen jedermann mit Sorge erfüllen. Wir wissen, daß sich viele Eltern mehr Kinder wünschen, als sie tatsächlich haben. Ich glaube, alle müssen dazu beitragen — in allen Bereichen der Gesellschaft —, daß wir wieder ein kinderfreundliches Land werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, zur Erneuerung gehört die Besinnung auf die deutsche Geschichte. Der Nationalstaat der Deutschen istzerbrochen. Die deutsche Nation ist geblieben, und sie wird fortbestehen.
Wir alle wissen: die Überwindung der Teilung ist nur in historischen Zeiträumen denkbar.Das Jahr 1983 erinnert uns in besonderer Weise an Höhen und Tiefen unserer Geschichte: Vor 500 Jahren wurde Martin Luther geboren. Vor 50 Jahren begann die deutsche Diktatur und mit ihr der Weg in die Katastrophe. Vor 30 Jahren erhoben sich die Arbeiter in Ost-Berlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft. — Diese Ereignisse mahnen uns an unsere eigene Geschichte.Unsere Republik, die Bundesrepublik Deutschland, entstand im Schatten der Katastrophe. Sie hat inzwischen ihre eigene Geschichte. Wir wollen darauf hinwirken, daß möglichst bald in der Bundeshauptstadt Bonn eine Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945 entsteht, gewidmet der Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir alle können die Einheit der Nation nicht erzwingen; aber für uns alle gilt die Präambel des Grundgesetzes:Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl sind und können nicht das letzte Wort zwischen Ost und West sein, in Deutschland, in Europa und in der Welt. Menschlichkeit und Vernunft weigern sich, dies hinzunehmen.
Gedanken sind frei, und Menschen müssen von Deutschland nach Deutschland gehen können ohne Todesgefahr.
Der Wille des Grundgesetzes hat in die vertraglichen Abmachungen mit unseren westlichen Freunden, aber auch in die Verträge mit den östlichen Nachbarn Eingang gefunden.Wir respektieren die Rechte und die Verantwortlichkeit der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und auf Berlin. Die drei Westmächte unterstützen unsere Deutschlandpolitik.Mit dem Osten ist ein Modus vivendi vereinbart. Wir stehen zu diesen Verträgen, und wir werden sie nutzen als Instrumente aktiver Friedenspolitik.
Die DDR, meine Damen und Herren, kann sich darauf verlassen, daß wir zu übernommenen Verpflichtungen stehen. Und wir erwarten, daß sich die
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7228 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundeskanzler Dr. KohlDDR ebenfalls an Inhalt und Geist dieser Verträge hält.
Das heißt, den Frieden in der Mitte Europas auch dadurch zu festigen, daß Gewalt bei der Verfolgung politischer Ziele ausgeschlossen und die Lage der voneinander getrennten Menschen verbessert wird. Hier gilt in besonderer Weise das Wort von Hans-Dietrich Genscher: „Deutschlandpolitik ist europäische Friedenspolitik."
Der Brief zur deutschen Einheit vom 12. August 1970, der zu den Vertragswerken gehört, formuliert unzweideutig das Ziel unserer Politik:... auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.Die Zusammenarbeit der deutschen Staaten muß im Interesse der Deutschen und ihrer Nachbarn in Europa verbessert werden. Wir werden die laufenden Verhandlungen und Gespräche fortsetzen. Wir sind an umfassenden, längerfristigen Abmachungen zum Nutzen der Menschen und auf der Grundlage der geltenden Abkommen interessiert.Unter Vertragstreue versteht die Bundesregierung, daß nicht nachträglich in Frage gestellt werden darf, worüber zwischen beiden Partnern bei Vertragsschluß Einvernehmen bestand. Dazu gehört auch die Übereinstimmung, daß im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag bestimmte grundsätzliche Fragen offengeblieben sind. Diese können auch heute nicht geregelt werden.Es entspricht nicht unserer Auffassung von Vertragstreue, wenn die Regelung dieser Fragen zur Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Beziehungen gemacht würde.Der innerdeutsche Handel bleibt ein wichtiges Element der Zusammenarbeit. Auf der Grundlage des Berliner Abkommens von 1951 und seiner Zusatzvereinbarungen ist die Bundesrepublik Deutschland — auch zum Wohle Berlins — zur Ausweitung dieses Handels bereit. Wir bestehen aber auf der Rücknahme der Erhöhung des Mindestumtausches für Besucher Ost-Berlins und der DDR.
Die DDR kann ihre Bereitschaft und ihren Willen, die Beziehungen zu verbessern, leicht zu erkennen geben. Die Regierung der DDR kennt unsere Wünsche zur Verbesserung des Reise- und Besucherverkehrs, vor allem für Berlin. Die DDR hat in diesem Jahr kleine Schritte in diese Richtung getan. Aber von Normalisierung und dem im Grundlagenvertrag angestrebten Verhältnis guter Nachbarschaft sind wir noch weit entfernt.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Lage Deutschlands spiegelt sich im Brennpunkt Berlin. Die Bundesregierung versteht Berlin als politische Aufgabe und als Chance aller Deutschen. Wir treten dafür ein, daß eine strikte Einhaltung und volle Anwendung des Viermächteabkommens über Berlin gewährleistet sind. Wir treten für Konsolidierung und Entwicklung der Bindungen Berlins an den Bund und für die Wahrung der Außenvertretung Berlins durch den Bund ein. Die Bundesregierung fördert die gemeinsamen Anstrengungen, die zum Ausgleich für die isolierte Lage Berlins erforderlich sind. Dies gilt für die Berlin-Hilfe und die Berlin-Förderung ebenso wie für die Verbindungswege von und nach Berlin.
Die Bundesregierung wird sich für die Stärkung der Wirtschaftskraft Berlins einsetzen. Ziel ist es, den langjährigen, weit überdurchschnittlichen Rückgang der Zahl der industriellen Arbeitsplätze zu beenden und zukunftssichere, wettbewerbsfähige Beschäftigung zu sichern.
Ich werde in Verfolg der Absprachen, die mein Amtsvorgänger getroffen hat, gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin die Repräsentanten der deutschen Wirtschaft nach Berlin einladen, um mit ihnen die Möglichkeiten eines verstärkten Berlin-Engagements zu besprechen.
Die soziale und wirtschaftliche Lebensfähigkeit befähigt Berlin, Aufgaben für alle Deutschen wahrzunehmen, die eben für alle Deutschen wahrzunehmen sind. Berlin bleibt Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen. Berlin ist Symbol für die Offenheit der deutschen Frage.
Die Menschen in ganz Deutschland diesseits und jenseits der Mauer dürfen versichert sein: Wir werden zäh, geduldig und friedfertig unserem deutschen Vaterland dienen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, unser Volk braucht neue Hoffnungen, neue Zuversicht, neues Selbstvertrauen. Wir wissen, daß unsere Mitbürger an unsere Politik der Erneuerung hohe Erwartungen richten.Die erste deutsche Demokratie ist von den Extremen von links und rechts zerstört worden. Die zweite deutsche Demokratie ist aus der politischen Mitte unseres Volkes aufgebaut worden, und sie wird — davon bin ich zutiefst überzeugt — aus dieser Mitte auch die Kraft zur Erneuerung finden.
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7229Bundeskanzler Dr. KohlUnsere Zuversicht gründet auf dem, was wir leisten können. Woran wir glauben, dazu stehen wir.Erstens. Wir glauben an die Würde des Menschen, seine Einzigartigkeit und seine Freiheit. Dies verbindet uns alle.Zweitens. Wir sind davon überzeugt, daß freie Initiative und Leistung für den einzelnen wie für das Ganze besser sind als staatliche Lenkung und Bevormundung. Wir vertrauen auf den Bürger, der seine Zukunft in seine Hände nimmt.
Drittens. Wir wissen, daß Leistung, das schöpferische Schaffen der Menschen, einen sozialen Sinn hat und auch soziale Verpflichtung ist. Wer Leistung verweigert, obwohl er leisten könnte, handelt unsozial. Er beutet seinen Nächsten aus.
Viertens. Wir halten es für gerecht, den Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung wieder stärker herauszustellen. Wer diesen Zusammenhang leugnet, macht unser Volk ärmer und gefährdet die Grundlagen sozialer Sicherheit.
Fünftens. Wir treten dafür ein, daß der Schwache und Notleidende einen Anspruch auf solidarische Hilfe aller hat. Aber wir wissen, daß die Menschen mehr brauchen als Geld und Betreuung.Sechstens. Wir vertrauen auf den Willen zur Gemeinsamkeit in unserem Volk. Wir wissen, daß es Partnerschaft und Solidarität über alle Gruppen und soziale Grenzen hinweg gibt.Siebtens. Wir glauben daran, daß es vornehmste Pflicht freier Bürger ist, keine Anstrengung zu unterlassen, um die Freiheit zu verteidigen und anderen die Hoffnung auf Freiheit zu erhalten. Unverändert gilt, womit Konrad Adenauer am 20. September 1949 seine erste Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag beendete. Er sagte:Wir hoffen — das ist unser Ziel —, daß es uns mit Gottes Hilfe gelingen wird, das deutsche Volk aufwärts zu führen und beizutragen zum Frieden in Europa und in der Welt.
Herr Abgeordneter Dr. Scheer, ich erteile Ihnen für den Zwischenruf „Verleumder" einen Ordnungsruf.
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 14 Uhr. Die Sitzung wird dann mit der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich habe etwas bekanntzugeben: Für das Gremium gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses sind drei neue Mitglieder zu bestimmen. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt für die aus dem Gremium ausgeschiedenen Abgeordneten Vogel und Spranger den Abgeordneten Erhard (Bad Schwalbach) und den Abgeordneten Dr. Wittmann vor. Die Fraktion der SPD schlägt für den Abgeordneten Dr. Linde den Abgeordneten Becker (Nienberge) vor. Ist das Haus mit diesen Vorschlägen einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit sind die Abgeordneten Erhard (Bad Schwalbach), Dr. Wittmann und Becker (Nienberge) als Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses bestimmt.
Wir kommen zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler habe ich dem Kollegen Kohl für sein schwieriges und verantwortungsvolles Amt Glück gewünscht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie werden Glück besonders nötig haben.
Denn der von Ihnen etwas vollmundig angekündigte Neuanfang stellt sich dem Betrachter schon heute eher als ein verunglücktes Wendemanöver dar.
Noch nie hat eine Bundesregierung einen derart schlechten Start gehabt.
Ich schließe diese heutige Regierungserklärung in das Urteil ein. Herr Dr. Kohl, ich will Ihnen auch sagen, warum: Wir Sozialdemokraten teilen die demokratischen Grundüberzeugungen, die Sie hier heute vorgetragen haben. Ich finde es auch gut, diese Gemeinsamkeiten bei solcher Gelegenheit zu unterstreichen. Ich möchte Ihnen für meine Fraktion darin zustimmen; in diesen demokratischen Grundüberzeugungen sind wir uns auf allen Seiten des Hauses einig.
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7230 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. EhmkeNur, Herr Bundeskanzler, die großen Worte, die Sie so lieben, lösen unsere Probleme nicht.
Und — was schlimmer ist —: Viele der konkreten Vorschläge Ihrer Regierung, über die Sie heute nicht sehr viel gesprochen haben, stehen in direktem Gegensatz zu den hohen Zielen, über die Sie heute vorwiegend gesprochen haben.
Das gleiche gilt für die Art des Zustandekommens Ihrer Regierung.
Herr Bundeskanzler, vielleicht spüren Sie es inzwischen selbst: Es war ein Fehler von Ihnen, aus Rücksicht auf die Interessen von Herrn Genscher und auf vermeintlich eigene Interessen das Angebot Helmut Schmidts abzulehnen, die Entscheidung sofort in die Hände des Wählers zurückzulegen.
Da Sie mit vielen Ihrer Parteifreunde wochenlang selbst Neuwahlen gefordert hatten, konnte das vom Wähler nur als Täuschung empfunden werden.
Sie haben damit eine Chance für die Demokratie vertan.
Sie haben außerdem auch eine Chance für die deutsche Wirtschaft vertan.
Denn: Hat unsere Wirtschaft zunächst monatelang abwarten müssen, wie denn wohl der politische Wendetanz des Herrn FDP-Vorsitzenden enden würde, so muß sie nun weitere Monate auf das Ergebnis der Wahlen im März 1983 warten.
Da Sie das sofortige Votum des Wählers gescheut haben — für die Zeit nach der Hessenwahl gilt das auch für Herrn Strauß —, sind Sie durch eine Koalition der Rechten, nämlich der CDU mit dem rechten Flügel der FDP und der CSU, gewissermaßen durch die Hintertür an die Macht gekommen.
Herr Bundeskanzler, ich spreche bewußt von einer Koalition der Rechten.
Denn eine Bundesregierung, in der für eine Hildegard Hamm-Brücher oder einen Gerhart Baum kein Platz ist, ist nicht eine Regierung der Mitte, sondern eine Regierung der Rechten.
Genau entlang dieser Linie zwischen Mitte und rechts läuft j a auch der Bruch innerhalb der FDP.
Aber, Herr Bundeskanzler, wie stellt sich denn diese Rechts-Koalition heute dem Wähler dar? Weder falsche Anschuldigungen noch edle Worte — beides war in Ihrer Regierungserklärung enthalten — können für den Bürger folgende Tatsachen verdecken:Für die FDP-Abgeordneten, die Helmut Schmidt gestürzt haben, nachdem sie 1980 unter Berufung auf seinen Namen ihre Mandate errungen hatten,
stellt die Bildung dieser Koalition einen Wortbruch dar.
Die Kollegen Hildegard Hamm-Brücher und Gerhart Baum sind dafür eindrucksvolle liberale Zeugen.
Herr Genscher hat durch sein Taktieren
hinter dem Rücken von Bundeskanzler Schmidt und durch sein Taktieren hinter dem Rücken des Koalitionspartners die Vertrauensbasis zwischen sich und den Sozialdemokraten zerstört.
Er wird wissen, daß ihm das auch die Erfüllung seiner Aufgaben als Außenminister nicht leichter machen wird.
Das Taktieren auch hinter dem Rücken seiner eigenen Partei
hat die FDP in eine tiefe Krise gestürzt. Niemand weiß heute, wofür die FDP steht, und niemand weiß daher auch, wie lange sie nocht steht.
In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Mischnick, erlauben Sie mir ein Wort zu Ihnen. Sie haben dem Hohen Hause dargelegt, daß Sie erst aus dem Munde Helmut Schmidts das Ende der sozialliberalen Koalition erfahren haben. Es würde Ihre Glaubwürdigkeit vervollständigen, wenn Sie konsequenterweise hinzufügen würden, daß Herr Genscher vorher auch Sie hintergangen hatte.
Denn der Grund für die Mitteilung Helmut Schmidts
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7231Dr. Ehmkean Sie, Herr Mischnick, war die Tatsache, daß Herr Genscher hinter dem Rücken von Helmut Schmidt dessen Sturz vorbereitet hat.
Und Herr Genscher hat sich bis heute ja auch indiesem Hause zu diesen Vorgängen nicht geäußert.
Der Vorgang ist aber nicht auf die früheren Koalitionsparteien beschränkt. Die Art, in der Herr Genscher bei seinem Handel mit den Unionsparteien seinen liberalen Innenminister und mit ihm die liberale Rechts- und Innenpolitik wie Ballast abgeworfen hat, um ausgerechnet Herrn Zimmermann zu installieren,
Herr Genscher, diese Art wird vor allem bei der jungen Generation dazu führen, daß Sie weniger als langjähriger verdienstvoller Außenminister, sondern vielmehr als Symbol politischer Unglaubwürdigkeit in Erinnerung bleiben werden.
Um Golo Mann zu zitieren, einen Ihrer konservativen Gewährsleute, verehrte Kollegen von der CDU:Wer nun, kaum hatte er die Entlassungsurkunde erhalten, eine neue Ernennungsurkunde erhielt, wer wieder dort Platz nimmt, wo er Jahre und Jahre vorher saß, als zweiter Mann im Staate, so als ob gar nichts geschehen wäre, ist ein politischer Bankrotteur mit kaum mehr als 3 Prozent der Wähler hinter sich.
— PfuiRufe von der CDU/CSU)
Golo Mann schließt mit der Feststellung: „Das kann nicht gut ausgehen." Ich füge hinzu: Es wird auch nicht gut ausgehen!
— Wenn Sie Ihre Proteste bitte bei Golo Mann anbringen wollen!
Wir machen Sie, Herr Bundeskanzler, für das Verhalten der rechten FDP-Führung natürlich nicht verantwortlich, aber es lastet als schwere Hypothek auf Ihrer ganzen Regierung.
Hinzu kommt, daß auch die Unionsparteien selbst nicht gerade glänzend dastehen; denn, meine Damen und Herren, die Sie hier so erregt sind, Sie selbst entlarven heute Tag für Tag Ihre früheren Oppositionsaussagen als Schwindel.
Hieß es noch vor wenigen Wochen, die Wirtschaftskrise sei selbstgemacht, sie sei von der sozialliberalen Koalition verschuldet worden, so hören wir nun täglich, so viel und so schnell könne auch die Union an der Krise nichts ändern, da sie eben Teil und Ergebnis einer Weltwirtschaftskrise sei.
Haben Sie vor kurzem noch alle Steuererhöhungen als sozialistische Verirrung dargestellt und die SPD als Steuerhöhungspartei beschimpft, so schlagen Sie nun selbst Steuererhöhungen vor,
und zwar solche, die die breiten Schichten der Arbeitnehmer belasten,
während den gutverdienenden Schichten mit einer sogenannten Zwangsanleihe augenzwinkernd zu verstehen gegeben wird, man müsse jetzt zwar so tun, als ob man täte, aber später bekämen sie ihr Geld zurück.
Das „Handelsblatt", bei Gott kein sozialdemokratisches Organ hat diese Zwangsanleihe daher zu Recht „eine Kombination von Feigheit und Heuchelei" genannt.
Das gleiche Trauerspiel beim Thema der Staatsverschuldung: Die Unionsparteien, die vor kurzem noch eine Erhöhung der Kreditaufnahme auch zur Deckung konjunkturbedingter Steuerausfälle und Mehrausgaben schärfstens kritisiert haben, wollen jetzt die Kreditaufnahme nicht nur direkt, sondern durch die sogenannte Zwangsanleihe auch indirekt massiv erhöhen.
Die Einstellung des Bundesbankgewinns in den Haushalt, von Ihnen gerade noch vehement verteufelt, ist für Sie nach Ihrem Wendemanöver nun eine schlichte Selbstverständlichkeit.
Für den Nachtragshaushalt gilt das gleiche:
Bisher streng verpönt, wird er jetzt von Ihnen für 1983 angekündigt,
obwohl die Bundesregierung den Haushalt 1983 zurückziehen und völlig überarbeitet neu einbringen will.
7232 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Dr. EhmkeZwar etwas anders, aber keineswegs besser — —
Verzeihen Sie, Herr Bundesminister?
— Meine Damen und Herren, es wird auch Ihnen schon einmal ein Fehler unterlaufen sein! Ich bitte darum, das nicht so tragisch zu nehmen.
Meine Damen und Herren, ich wollte Sie nur um etwas mehr Ruhe bitten. — Bitte, Herr Kollege Ehmke.
Meine Damen und Herren, wenn ich Ihnen einen kollegialen Rat geben darf: Schonen Sie Ihre Stimmbänder, Sie werden sie noch brauchen.
Zwar etwas anders, aber keineswegs besser liegen die Dinge bei den von Ihnen vorgeschlagenen tiefen Einschnitten in das soziale Netz. Sie haben in der Opposition zwar immer von der Notwendigkeit von Einsparungen gesprochen; Sie haben sich aber stets davor gedrückt, zu sagen, wo Sie sparen wollen. Das ist nun glücklicherweise anders geworden. Jetzt müssen Sie endlich sagen, was Sie wollen!
Jetzt, meine Damen und Herren, schlagen Sie z. B. plötzlich ein Einfrieren des Anstiegs von Löhnen und Gehältern im öffentlichen Dienst vor, nachdem Sie noch vor wenigen Wochen den Deutschen Beamtenbund in seinem fragwürdigen Protest gegen eine nur dreimonatige Verschiebung der Besoldungserhöhung lauthals unterstützt haben.
Noch wichtiger ist, daß Sie die Leistungen für Arbeitslose und Rentner, Schüler und Studenten, Mieter und Eltern in einer Weise kürzen wollen, die als weitere Drosselung der Binnennachfrage wirtschaftspolitisch unvernünftig ist
und gesellschaftspolitisch den sozialen Frieden, eine der Grundvoraussetzungen wirtschaftlicher und sozialer Stabilität, gefährdet.
Der Bürger fühlt sich daher von den Unionsparteien auch in der Sache getäuscht.
Die daraus entspringende Enttäuschung wird Ihnen noch genug zu schaffen machen.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie mir ein Wort zu einer Äußerung, die Sie heute morgen gemacht haben. Sie haben gesagt: Zwar verschieben wir die
Erhöhung der Renten einschließlich der Kriegsopferrenten um ein halbes Jahr, aber es bleibt bei dem Erhöhungssatz von 5,6 %.
Das ist natürlich ein Roßtäuschertrick, denn wenn ich sie um ein halbes Jahr verschiebe, wird die Erhöhung genau halbiert. Sie beträgt für das nächste Jahr 2,8 %, nicht 5,6 %.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie schon mit so großem Pathos Klarheit und Wahrheit fordern, dann halten Sie sich bitte selbst an diese Forderung.
Sie versuchen nun — und das ist verständlich —, die Enttäuschung der Bürger durch Horrorbehauptungen
über die Lage der Bundesrepublik im allgemeinen und der staatlichen Finanzen im besonderen teils abzuwiegeln, teils abzulenken. Herr Bundeskanzler, das ist unredlich!
Jedermann im Inland und im Ausland weiß,
daß die Bundesrepublik unter Helmut Schmidt besser als jedes vergleichbare andere Land durch die Wirtschaftskrise gekommen ist.
Dafür möchte die sozialdemokratische Bundestagsfraktion Dir, lieber Helmut, und der sozialdemokratischen Ministermannschaft auch an dieser Stelle noch einmal respektvoll danken.
— Ich verstehe, daß Sie das nicht gerne hören, Kollegen von den Unionsparteien. Denn, wie Herr Barzel so schön gesagt hat, sind wir ja ein ,,krisengeschütteltes Land". Aber ich will Ihnen eines sagen: Gestern ist die neue Rangliste des Internationalen Währungsfonds herausgekommen. Auf dieser Rangliste hat die Bundesrepublik nach Japan und der Schweiz in der gesamtwirtschaftlichen Bewertung die dritte Stelle in der Welt.
Die Unionsparteien kennen auch unsere Finanzlage seit langem und im Detail, und zwar nicht nur aus dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages, sondern auch aus dem Bundesrat. Dort haben sie leider seit langem die Mehrheit.
Die Kollegen Posser und Walther haben Ihnen bereits vorgerechnet, daß Sie mit Ihrer Mehrheit dortDeutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7233Dr. Ehmkeund über den Vermittlungsausschuß unseren Haushalt zusätzlich mit 20 Milliarden DM belastet haben.
Mit diesem Geld könnten wir ein großes Investitionsprogramm auflegen.Was jedoch schlimmer ist: Mit Ihrer Koalitionsabsprache setzen Sie diese Politik fort. Herr Dr. Kohl, Sie leisten sich — was die Zahl der Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre angeht — die teuerste Regierung, die die Bundesrepublik je gehabt hat, und das für eine Übergangszeit von sechs Monaten.
Sie reißen durch Ihre Steuergeschenke auch neue Löcher in den Haushalt. Diese schließen Sie dann mit einer Nettokreditaufnahme, die weit über der Summe liegt, die Sie uns gegenüber erst kürzlich in einer entrüsteten Klage vor dem Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig bezeichnet haben.
Ich kann dem Bundesjustizminister einen Tip geben: Wenn er die Klage nicht zurückzieht, hat er jetzt vielleicht große Chancen, das Verfahren zu gewinnen.
Darüber hinaus, Herr Bundeskanzler, haben Sie den Mann, der für das von der sozialliberalen Koalition angeblich angerichtete Massenelend federführend verantwortlich war, wieder zum Wirtschaftsminister gemacht,
was übrigens auch die Glaubwürdigkeit des Kollegen Lambsdorff nicht gerade gesteigert hat.
Herr Bundeskanzler, Ihre sogenannte Generalabrechnung mit der Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition ist doch in Wahrheit eine Generalabrechnung mit dem Herrn, der da einige Plätze neben Ihnen auf der „Übergangsbank" sitzt.
Welch eine Farce! Was hat das mit Wahrheit und Klarheit zu tun?
Probleme der personellen Glaubwürdigkeit gibt es aber nicht nur hinsichtlich der ins konservative Lager übergelaufenen FDP-Minister.
Auf weit größere Bedenken, Herr Kollege Waigel, muß die Ernennung von Herrn Dr. Zimmermann zum Bundesminister des Innern stoßen.
Es tut mir leid, Herr Dr. Zimmermann, das hier zur Sprache bringen zu müssen.
Aber wir Sozialdemokraten wollen nicht mitschuldig werden
an einer Verschiebung der politisch-moralischen Maßstäbe in unserem Gemeinwesen.
Wie die deutsche Öffentlichkeit weiß, ist Herr Dr. Zimmermann im Zusammenhang mit der bayerischen Spielbankenaffäre im Jahre 1960 vom Landgericht München wegen fahrlässigen Falscheids zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden.
Der Bundesgerichtshof hob dieses Urteil auf und ordnete eine neue Hauptverhandlung vor dem Landgericht in München an.
In diesem neuen Verfahren wurde Dr. Zimmermann von der Anklage des Meineids in zwei Fällen freigesprochen, aber nur, weil die Gutachter ihm einen latenten Krankheits- und Erregungszustand bescheinigten.
— In dem Urteil, liebe Kollegen, das nicht ich geschrieben habe, sondern ein unabhängiges Gericht, heißt es ausdrücklich: „Es kann keine Rede davon sein, daß die Unschuld des Angeklagten erwiesen wäre."
Die Sache ist viele Jahre her und könnte auf sich beruhen, wenn Herr Dr. Zimmermann nicht das Amt eines Bundesministers angestrebt und erhalten hätte.
In der Geschichte der deutschen Demokratie ist es einmalig, daß ein Mann mit einer solchen Vorgeschichte Mitglied eines Bundeskabinetts wird.
Wir Sozialdemokraten mißbilligen diese Ernennung ausdrücklich, und zwar besonders deshalb,7234 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Dr. Ehmkeweil es hier um das Amt des Innenministers geht, der zugleich Verfassungsminister und Beamtenminister ist, also eine herausgehobene Verantwortung für die Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen und für die Glaubwürdigkeit unseres öffentlichen Dienstes trägt.
Herr Kollege Mischnick hat diese Kritik an Herrn Dr. Zimmermann neulich zurückgewiesen und sie mit den jahrelangen Angriffen auf Herbert Wehner verglichen. Herr Mischnick, ich muß Ihnen sagen, daß mir dieser Vergleich — gerade bei einem Liberalen und dazu noch einem Wehner-Bewunderer wie Ihnen — um mich gelinde auszudrücken, deplaziert erscheint.
Sie, Herr Bundeskanzler, waren parteipolitisch nicht in der Lage, das Ansinnen der CSU, Herrn Dr. Zimmermann zum Innenminister zu machen, zurückzuweisen.
Aber, Herr Bundeskanzler und meine verehrten Zwischenrufer von der CDU/CSU, Sie dürfen sich nicht wundern, wenn viele Menschen, vor allem viele junge Menschen, diese Ernennung nicht gerade als einen Beitrag zu der geistig-moralischen Erneuerung ansehen, über die der Herr Kollege Kohl so viel und so gern spricht.
Bei allem persönlichen Respekt vor Ihnen, Herr Bundeskanzler, und vor der großen Mehrzahl der Kollegen, die jetzt auf der Regierungsbank sitzen: Um die Glaubwürdigkeit Ihres Wendemanövers in seinen verfahrensmäßigen, sachlichen und personellen Aspekten ist es schlecht bestellt,
und daran vermögen weder Ihre edlen Worte noch Ihre hehren Beteuerungen von heute morgen etwas zu ändern.
Um so wichtiger scheint es mir, Herr Bundeskanzler, für Ihre Regierung wie für unsere Demokratie zu sein,
daß Sie Ihre persönliche Glaubwürdigkeit im Zusammenhang mit den von Ihnen jetzt für den 6. März zugesagten Neuwahlen nicht weiter beschädigen. Wir Sozialdemokraten sind zu einer fairen Erörterung aller damit verbundenen Aspekte einschließlich der verfassungsrechtlichen Aspekte bereit. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie müssen nun erst einmal einen konkreten Vorschlag machen.
Sie dürfen von Ihrer Zusage der Neuwahlen am 6. März nichts zurücknehmen, auch nicht in der Form von nachgeschobenen Bedingungen; denn, Herr Bundeskanzler, Sie könnten ja auch einfach zurücktreten. Von Bundeskanzler Helmut Schmidt haben Sie das vor wenigen Wochen noch gefordert.
Wir sind bereit, über einen konkreten Vorschlag zu reden. Zu einem allgemeinen Palaver werden Sie uns nicht kriegen.
Am besten würden Sie diesen Vorschlag noch während dieser Debatte hier im Hause machen.
Was Sie bis jetzt dazu gesagt haben, ist eigentlich nur geeignet, neue Zweifel an der Sache zu wekken.
Schauen wir uns diese Regierung nun vom sachlich-programmatischen Inhalt ihrer Koalitionsabsprache an, so ist der beherrschende Eindruck der eines Sammelsuriums unterschiedlicher Einfälle ohne jedes Konzept.
Das ist kein Zufall. Sie haben es in dreizehnjähriger Oppositionszeit — da Sie die Rolle der Opposition nie wirklich angenommen haben — versäumt, alternative Lösungsvorschläge zu entwickeln. Sie haben Ihre Aufgabe als Opposition nicht erfüllt.
Vielmehr sind die verwerflichen Strauß-Parolen von Sonthofen — die Krise anheizen, statt Lösungsvorschläge zu machen — eine unglückliche Verbindung mit Ihrer Neigung eingegangen, sich erhaben in Allgemeinheiten zu ergehen, statt an konkreten Problemen zu arbeiten.
Sie hatten nach 13 Oppositionsjahren nichts an Ideen und Plänen in der Schublade, worauf Sie als Regierungspartei zurückgreifen konnten. Jetzt betreiben Sie in großer Eile kleine Flickschusterei.
Wichtige Probleme, über die seit Jahren gestritten wird, werden bei Ihnen einfach ausgeklammert oder irgendwelchen Kommissionen überwiesen, da sich CDU und FDP, vor allen Dingen aber CSU und FDP nicht einigen können.Herr Bundeskanzler, wie Sie mit diesem „Programm" der Probleme unseres Landes Herr werden wollen,
ist unerfindlich. Ihre Regierungserklärung gibt daher den bis tief in die Reihen Ihrer eigenen Parteibestehenden Zweifeln Nahrung, ob Sie selbst der
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7235
Dr. Ehmkerichtige Mann für das schwierige Amt des Bundeskanzlers in einer so schwierigen Zeit sind,
und zwar gerade auch im Vergleich mit dem in der Welt hochgeachteten, von Ihnen aber gestürzten Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Herr Dr. Kohl, Sie reden dauernd von geistigmoralischer Führerschaft. Helmut Schmidt wird für die Führerschaft, die er jahrelang ausgeübt hat, in der ganzen Welt bewundert.
Bevor ich mich dem sachlichen Inhalt Ihrer Regierungserklärung im einzelnen zuwende, lassen Sie mich ein Wort über das Selbstverständnis meiner Fraktion in ihrer neuen Rolle als parlamentarische Opposition sagen.
Wir werden unsere Lagebeurteilung nicht ändern, nur weil Sie jetzt an der Regierung sind. Wir haben es wirtschaftlich nicht mit einer „Rezession" zu tun, wie gern verniedlichend gesagt wird; wir stehen vielmehr in einer Weltwirtschaftskrise mit über 10 Millionen Arbeitslosen in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft, mit über 30 Millionen Arbeitslosen in den westlichen Industrieländern, mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Ostblock und mit der Gefahr wirtschaftlicher Zusammenbrüche in der Dritten Welt. Diese Weltwirtschaftskrise, verehrte Kollegen im ganzen Haus, wird uns allen — ich sage: uns allen — noch lange und schwer zu schaffen machen.
Wir stehen außerdem in einer sich zuspitzenden internationalen Situation mit wachsenden Spannungen zwischen den Supermächten und mit regionalen militärischen Auseinandersetzungen, die an sich schon schlimm sind, außerdem aber auch noch die Gefahr größerer Konflikte in sich bergen.Wir Sozialdemokraten haben mit Bundeskanzler Schmidt an der Spitze diesen Problemen in der sozialliberalen Koalition die Stirn geboten und unser Land besser als andere Länder durch die Klippen dieser Krise gesteuert. Wir werden Sie daran messen, was Sie konkret zur Bewältigung dieser Probleme vorzuschlagen haben und was Sie zustande bringen. Wir werden Ihnen jeweils sagen, was mit uns geht und was nicht mit uns geht.Wir Sozialdemokraten werden anders als Sie nicht unsere politische Meinung ändern, nur weil sich unsere politische Rolle geändert hat.
Wir werden vielmehr die von uns in der Regierung vertretene politische Linie, die wir in der Koalition mit der FDP nur sehr teilweise durchsetzen konnten, jetzt unbeschwert von Koalitionskompromissen mit Nachdruck und Klarheit vertreten.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat diesen Willen zur politischen Kontinuität und Zuverlässigkeit dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie sich die von Bundeskanzler Helmut Schmidt am 1. Oktober in diesem Hause dargelegten 12 Punkte als Richtschnur für den nun vor uns liegenden Zeitraum zu eigen gemacht hat. Wir werden diese Politik im Lichte neuer Entwicklungen und neuer Einsichten fortentwickeln, so wie wir das immer getan haben, aber es wird keinen Bruch in der sozialdemokratischen Politik geben.
Als parlamentarische Opposition werden wir vielmehr wie als Regierungspartei für die Ziele des Godesberger Programms und seine Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, eintreten. Wir werden mit Ihnen für alles stimmen, was diesen Grundwerten dient; wir werden gegen alles stimmen, was sie schwächt. Daher werden wir gegen die Politik, wie sie in Ihrer Koalitionsabsprache enthalten ist, entscheidend ankämpfen; denn diese Politik spricht hochtrabend von einer geistig-moralischen Erneuerung, während sie in Wirklichkeit eine Entsolidarisierung unserer Gesellschaft heraufbeschwört.
Ich muß hier wiederholen, was Kurt Schumacher vor 33 Jahren von dieser Stelle gesagt hat, und zwar in der ersten Oppositionsrede, die hier in diesem Hause gegen eine Regierung, die von Unionsparteien geführt wurde, gehalten worden ist.
Es stimmt wie heute, was Kurt Schumacher sagte: „Der Egoismus liebt es, an das Gemeinschaftsgefühl zu appellieren."
Das drückendste Problem, das uns die Weltwirtschaftskrise auflastet — darüber sind wir uns einig — ist das Millionenheer von Arbeitslosen in aller Welt, 1,8 Millionen allein in unserem Lande. Es besteht — das möchte ich festhalten — Übereinstimmung zwischen Regierung und Opposition, daß wir neue zusätzliche wettbewerbsfähige Arbeitsplätze brauchen, und das heißt private und öffentliche Investitionen. Der Streit geht darüber, wie wir das am besten erreichen.Unsere Meinung ist die: Eine depressive Grundtendenz der Wirtschaft kann, wie das amerikanische Beispiel jeden Tag eindringlicher zeigt, nicht allein durch eine einseitige Angebotspolitik überwunden werden, da bei gesamtwirtschaftlichem Nachfragemangel, unausgelasteten Kapazitäten und pessimistischen Absatzerwartungen nicht mit einem Anstieg der privaten Investitionstätigkeit gerechnet werden kann. Eine Politik, die sich wie die
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7236 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. EhmkeIhre fast ausschließlich auf eine Verbesserung der Angebotsbedingungen verläßt, läuft Gefahr, einen kumulativen Schrumpfungsprozeß und mit ihm eine noch größere Arbeitslosigkeit auszulösen.
Einer solchen Politik — darum geht der Streit — fehlt die innere Ausgewogenheit in der Beeinflussung der kurzfristigen Nachfrage und der mittelfristigen Angebotsentwicklung. Wir sind der Meinung, diese Politik kann nicht erfolgreich sein.
Übereinstimmung besteht wiederum - auch das möchte ich nachdrücklich auch Herrn Kollegen Dregger sagen, dem ich bei dieser Gelegenheit sehr herzlich zu seiner Wahl zum neuen Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gratulieren möchte —
auch darüber, daß wir unser System der Sozialleistungen und der sozialen Sicherung den neuen Bedingungen eines abnehmenden Wirtschaftswachstums anpassen müssen. So hat Helmut Schmidt hier am 1. Oktober gesagt: Die finanzielle Dynamik unserer sozialen Sicherungssysteme muß begrenzt werden.Ich stimme Ihnen, Herr Bundeskanzler, im Namen meiner Fraktion ausdrücklich darin zu, daß der Mißbrauch unseres Sozialsystems weiter energisch bekämpft werden muß. Sie haben recht in dem, was Sie heute morgen darüber gesagt haben.
Entscheidend aber — erst da beginnt unser Streit — ist in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht, wie die Lasten der Krise verteilt werden. Es darf, wie Helmut Schmidt gesagt hat, keine Umverteilung von unten nach oben geben.
Genau das machen Sie aber mit dem, was Sie mit Ihrer Koalitionsabsprache vorlegen. Ich rechne das gleich noch vor. Dabei geht es nicht mehr um quantitative Unterschiede. Was Sie hier anfangen, ist eine qualitativ andere Politik, ist eine grundsätzliche Kehrtwendung in der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Darüber geht der Streit, und dieser Streit, das sage ich Ihnen, wird bitter werden.
Unsere Politik, mit diesem Problem fertigzuwerden, ist bekannt. Wir sind mit dieser Politik seit dem ersten Ölschock von 1973 besser gefahren als jede andere Industrienation. Trotzdem hat der rechte Flügel der FDP die Koalition gebrochen, um eine Koalition mit der CDU/CSU eingehen zu können.Sieht man sich nun Ihre Koalitionsvereinbarung an, so findet man darin manches, was die FDP in der Koalition mit uns abgelehnt und die CDU/CSU als Opposition bitter bekämpft hat. Darüber habe ich schon gesprochen. Ich muß Sie aber darauf hinweisen: Vieles, was in dieser Koalitionsabsprache steht, steht auch in direktem Gegensatz zu den Versprechen, die Sie in Ihren Wahlaussagen von 1980 den Wählern gegeben haben.
Was in Ihrer Absprache fehlt und weswegen sich der Bundeskanzler heute so im Gefilde des Allgemeinen aufgehalten hat, sind ein wirtschafts- und beschäftigungspolitisches sowie ein sozialpolitisches Konzept. Im Grunde hat die neue Koalition ohne Prüfung der zugrunde liegenden Sachfragen ein paar Globalzahlen für den Haushalt 1983 zusammengestellt; aber dabei ist der Umfang dieses Haushalts bisher ebenso unklar geblieben wie die Höhe der Nettokreditaufnahme.Gesellschaftspolitisch ist die vielgefeierte Wende allerdings eindeutig: Es ist die Wende zum Klassenkampf von oben nach unten und zur Umverteilung von unten nach oben.
Dabei stellt diese Koalitionsabsprache erst einen Anfang oder, wie Herr Minister Stoltenberg so schön gesagt hat: einen kleinen Schritt in großer Eile dar. Es ist, wie noch zu zeigen sein wird, auch ein Anfang mit mancherlei Tarnnetzen. Diese sollen zusammen mit den erhabenen Allgemeinheiten des Herrn Bundeskanzlers die Wähler bis zum März 1983 möglichst im unklaren darüber lassen, was eigentlich gespielt wird. Dann hoffen Sie, im März 1983 ein vierjähriges Mandat zu kriegen, um richtig loszulegen.
Und das alles mit der Zustimmung des sogenannten Arbeitnehmerflügels der CDU!
Wir werden Ihnen die Antwort darauf nicht schuldig bleiben und, dessen bin ich sicher, auch nicht die deutschen Gewerkschaften.
Sieht man Ihre wirtschaftspolitische Koalitionsabsprache durch, so fällt auf, daß Aussagen über die drängenden weltwirtschaftlichen Themen — internationale Finanz-, Währungs- und Handelspolitik — völlig fehlen. Der durch die Weltwirtschaftskrise bestimmte weltwirtschaftliche Rahmen kommt in der Absprache nicht vor. Einiges hat der Bundeskanzler heute in seiner Regierungserklärung nachgeholt.Wir können jedenfalls nur hoffen und werden darauf achten, daß der vernünftige Kurs, der unter Bundeskanzler Schmidt in der internationalen Wirtschaftspolitik gefahren worden ist, nicht verlassen wird. Das gilt auch für die Politik innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.
Was nun die heimische Wirtschaftspolitik betrifft, so fehlt trotz der sich verschlechternden Beschäfti-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7237
Dr. Ehmkegungslage in Ihrer Koalitionsabsprache ein Programm für öffentliche Investitionen. Wir Sozialdemokraten haben unser mit einer Ergänzungsabgabe und dem Abbau von Steuerbegünstigungen zu finanzierendes beschäftigungspolitisches Programm, das unter anderem zusätzliche Investitionen im Umweltschutz vorsieht, noch einmal vorgelegt. Bei Ihnen wird lediglich in allgemeinen Wendungen von der Erhöhung der Mittel für Gemeinschaftsaufgaben und Gemeinschaftsprojekte gesprochen. Aber die angekündigte Erhöhung wird nicht einmal beziffert. Außerdem steht diese Ankündigung, Herr Kollege Dregger, im eklatanten Widerspruch zu dem von Ihnen bisher so leidenschaftlich geforderten Abbau der Mischfinanzierung zwischen Bund und Ländern.
Da andererseits der von mir besonders verehrte Kollege Riesenhuber bereits angekündigt hat, daß er entgegen unserem Ratschlag den Schnellen Brüter in Kalkar weiter aus öffentlichen Mitteln finanzieren will, werden im Bereich von Forschung und Entwicklung nicht neue Projekte in Angriff genommen werden können, sondern laufende Projekte abgebrochen werden müssen.Was die Möglichkeit zur Ankurbelung von Privatinvestitionen angeht, so ist der Streitstand unverändert: Sie wollen der gutverdienenden Einkommensoberschicht Steuern zurückgeben, damit sie Investitionen tätige. Das haben Frau Premierministerin Thatcher und Präsident Reagan getan — mit abschreckendem Ergebnis.
In den Vereinigten Staaten sinken die Produktion und der Verbrauch mit zunehmendem Tempo, und das einzige, was steigt, sind die Arbeitslosenzahlen.
Dahinter steckt nun gewiß ein ernstes Problem, auf das wir alle keine Antwort haben — darum tun wir uns so schwer —, daß nämlich Investitionen in Finanzanlagen heute wegen der hohen Zinsen eine weit höhere Rendite abwerfen als Investitionen in Sachanlagen. Für diese sind, wie der Sachverständigenrat gerade noch einmal betont hat, die von uns allein gar nicht zu verändernden weltwirtschaftlichen Bedingungen — und das sagen auch Sie hier nun endlich — sehr ungünstig. So nimmt z. B. die Kaufkraft bei denen ab, denen wir unsere Produkte verkaufen wollen, und fast ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts geht inzwischen in den Export.Sicher gehört zu den Rahmenbedingungen unseres Wirtschaftens auch das hohe Lohn- und Kostenniveau, das dem hohen Lebensstandard in unserem Lande entspricht. Hier ist mit sinkenden Reallöhnen und gekürzten Sozialleistungen bereits ein Anpassungsprozeß im Gange.Aber es ist andererseits einfach nicht richtig, daß Investitionen nur darum nicht erfolgen, weil in der Wirtschaft kein Geld da wäre. Abgesehen davon, daß im ersten Halbjahr 1982 die Einkommen ausUnternehmertätigkeit und Vermögen um 8,5%, die Einkommen aus unselbständiger Arbeit nur um 2,7 % gestiegen sind — und der Sachverständigenrat sagt das Andauern dieser Tendenz voraus —, zeigt sich doch, wieviel Geld in der Wirtschaft ist, unter anderem in folgendem: Die Firma Daimler-Benz hat im Jahre 1981 an ihren Einnahmen aus Vermögen, vor allem an Zinseinnahmen, mehr verdient als am Verkauf ihrer Lkw- und Pkw-Produktion. Ähnliches gilt für andere Großunternehmen.
— Für die AEG, die so schlecht gemanagt war und jetzt mit Steuergeldern von uns gerettet werden soll, gilt das natürlich nicht, Herr Kollege.Die Versicherungswirtschaft legt ebenfalls Milliarden DM in hochverzinslichen Papieren und nicht in Investitionen an — und das weiß Herr Lambsdorff noch sehr viel besser als wir alle zusammen.
Sie wollen nun mit einer steuerlichen Begünstigung — und die Idee leuchtet zunächst ein — zur Übernahme insolventer oder gefährdeter Betriebe anreizen. Aber abgesehen davon, ob der Anreiz groß genug ist, ist die Operation auch in sich problematisch, da sie die ohnehin schon starke Konzentrationsbewegung in der deutschen Wirtschaft verstärkt und außerdem viele Mitnahmeoperationen ermöglicht, ja, teilweise geradezu herausfordert.
Guten Sinn machen dagegen die Aufstockung der Programme für die Förderung von Existenzgründungen sowie Beratungshilfen. Insoweit setzen Sie die Politik der sozialliberalen Koalition fort, die für die mittleren und kleinen Unternehmen, Gewerbe-und Handwerksbetriebe mehr geleistet hat,
als die Mittelstandsideologie der Union wahrhaben will, und auch mehr, als leider manchmal manche der Begünstigten selbst anzuerkennen bereit sind.
Im wesentlichen setzen Sie darauf, daß die Bauwirtschaft wieder Lokomotive einer Konjunkturankurbelung werden könnte. Ich teile die Zweifel des Sachverständigenrates, ob das heute noch zutrifft.Trotzdem halten auch wir ein Programm für die Zwischenfinanzierung beim Bausparen für eine durchaus diskussionswürdige Maßnahme zur Belebung des Wohnungsbaus. Das gleiche gilt grundsätzlich, Herr Kollege Jahn, auch für die von Ihnen angekündigte, leider aber nicht bezifferte Förderung des Mietwohnungsbaus in Verdichtungsgebieten. Einen Schuldzinsenabzug bei Neubauten halten wir dagegen unter wirtschafts- und verteilungspolitischen Gesichtspunkten für äußerst problematisch.
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7238 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. EhmkeIhr entscheidender Fehler liegt unseres Erachtens aber darin, daß Sie mit Ihrer, sozial gesehen skandalösen, Mietenpolitik
Ihr wohnungspolitisches Programm, was immer es bringen könnte, konterkarieren. Die von Ihnen vorgesehene Möglichkeit drastischer Mieterhöhungen bei gleichzeitigem Abbau des Mieterschutzes wird für Leute mit Geld das Hineingehen in den Wohnungsbestand viel attraktiver machen als den Neubau, u. a. mit der schlimmen Folge einer weiteren Verdrängung einkommensschwacher Mieter aus den Altwohnungen.
Während Ihre Steuergeschenke an die Gutverdienenden also kaum einen wirklichen Investitionsschub auslösen werden, drosseln Sie mit Ihren Kürzungen im Bereich der Sozialleistungen die Massenkaufkraft und damit die Nachfrage auf dem Binnenmarkt noch weiter. Das wird zusätzlich Arbeitsplätze kosten. Das gilt erst recht, wenn diese Kürzungen von einer deflationistischen Haushaltspolitik der öffentlichen Hände und einer deflationistischen Geldpolitik der Bundesbank begleitet werden. Beide sind falsch.Eine Lohnpause, d. h. praktisch eine verstärkt negative Entwicklung der Reallöhne würde eine solch verhängnisvolle Politik in der Tat abrunden. Daß dieser Vorschlag ausgerechnet vom Arbeitsminister kommt, spricht Bände. Ich sage noch einmal: Diese Politik kann die Arbeitslosigkeit nur verschlimmern.
Mit Ihrer Politik der tiefen und, wie wir meinen, ungerechten Einschnitte in das soziale Netz gefährden Sie außerdem eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für eine gedeihliche wirtschaftliche und politische Entwicklung, den sozialen Frieden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, wir sind uns auch darin einig: Es war nicht allein die Leistung unserer Unternehmer, es war auch die Leistung unsere Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften,
es war der immer wieder gestiftete soziale Ausgleich, der zusammen mit der sozialen Absicherung durch den demokratischen Sozialstaat die Bundesrepublik zu einem der wohlhabendsten Länder in der Welt gemacht hat.
Auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ist Ihre Koalitionsabsprache eindeutig rückwärtsgerichtet. Während wir in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften Arbeitszeitverkürzungen angestrebt haben — ich erinnere nur an das Aufgreifen des Vorschlages von dem Kollegen Döding zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit —, haben Sie, Herr Bundeskanzler, noch vor kurzem eine Arbeitszeitverkürzung mit geradezu abenteuerlichen Begründungen abgelehnt. Inzwischen haben Sie das unter der Kritik der Gewerkschaften etwas abgeschwächt, aber das Stichwort Arbeitszeitverkürzung kommt auch in Ihrer Regierungserklärung nicht vor.Herr Bundeskanzler, Sie berufen sich doch sonst so gern auf den gesunden Menschenverstand, warum nicht auch einmal hier? Nach dem Kriege gab es in der Bundesrepublik eine Arbeitswoche von 48 Stunden. Heute sind wir bei 40 Stunden — sogar etwas darunter. 40 Stunden verhalten sich zu 48 Stunden wie fünf zu sechs. Hätten wir heute noch die 48-Stunden-Woche, würde also global gesehen ein Sechstel der heute Beschäftigten zusätzlich arbeitslos werden.
— Global gesehen ist das natürlich richtig, denn in den zusätzlichen acht Arbeitsstunden würden die fünf Sechstel die Arbeit für die mitmachen, die herausgehen. Rechnen Sie das einmal selbst nach.
— Ich sehe, der gesunde Menschenverstand ist bei Ihnen nicht so verbreitet.
Solange die Produktivität wächst — und das darf doch kein Fluch werden — können wir die Arbeitszeit weiter verkürzen.
Bei der heute bestehenden und abzusehenden Arbeitslosigkeit werden wir die Arbeit gerechter verteilen müssen, auch wenn das den Anstieg der Lohn- und später der Renteneinkommen verlangsamt.
Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen nur nochmals dringend empfehlen, dazu wenigstens einmal die Protokolle des Katholikentages nachzulesen. Der hat das Thema jedenfalls sehr viel ernster genommen als heute die Unionsfraktion.
Während wir Sozialdemokraten mit der Ergänzungsabgabe und der Kürzung von Steuervergünstigungen zusätzliche Maßnahmen auch im Bereich aktiver Arbeitsmarktpolitik finanzieren wollen, wollen Sie in diesem Bereich eine weitere Milliarde DM kürzen. Zugleich gefährden Sie — soweit wir Ihre allgemeine Ankündigung heute beurteilen können — mit Ihren Koalitionsabsprachen die von uns mühsam genug erkämpfte flexible Altersgrenze mit ihren wichtigen arbeitsmarktentlastenden Wirkungen. Erstaunt sind wir darüber nicht; denn Graf Lambsdorff hat ja in seinem neokonservativen Pamphlet sogar eine Anhebung der Altersgrenze gefordert.Das einzige, was Ihnen zur Entlastung des Arbeitsmarktes eingefallen ist, ist die Abschiebung der ausländischen Arbeitnehmer mittels finanzieller Anreize. Dabei ist die Kapitalisierung des Arbeitslosengeldes als weitere Privatisierung des Beschäftigungsrisikos schon äußerst problematisch.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7239
Dr. EhmkeDie Mitnehmereffekte würden Legende sein. Die Wirkung der Maßnahme ist daher durchaus zweifelhaft. Und in keinem Fall entbindet sie uns alle von der moralisch-politischen Verpflichtung, die Integration der in der Bundesrepublik lange ansässigen Ausländer entschiedener zu betreiben.
Aber konkrete Vorschläge dazu haben wir von Ihnen, Herr Bundeskanzler, heute nicht gehört.
In der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gibt es also eine Fehlanzeige der Rechtskoalition. Kein Wunder, daß Sie nun selbst von noch wachsenden Arbeitslosenzahlen ausgehen. Ihre Politik kann keine Wende zum Besseren bringen.Ihre steuerpolitischen Vorschläge machen in besonderem Maße ihr Ziel deutlich, die Lasten der Krise auf die Rücken der einkommenschwachen Bürger abzuwälzen. Auch das verletzt die Grundwerte der Solidarität und der Gerechtigkeit und gefährdet damit den sozialen und politischen Konsens.Sie erhöhen hier zum Beispiel entgegen allen früheren Beteuerungen nun doch die Mehrwertsteuer. Sie tun das aber nicht wie die alte Bundesregierung es vorhatte, um die so aufgebrachten Mittel für Investitionshilfen oder für eine Abschwächung der Progressionswirkung der Lohn- und Einkommensteuer zu verwenden; nein, Sie tun es, um Steuergeschenke an gut Verdienende machen zu können. Die Ablehnung der von der sozialliberalen Koalition bereits festvereinbarten Begrenzung des Ehegattensplittings spricht eine beredte Sprache. Wir wollten für Leute mit einem Einkommen von mehr als 100 000 DM den Splittingvorteil, den jährlichen Splittingvorteil von nicht ganz 15 000 DM auf 10 000 DM beschränken. Sie von der Union lehnen diese Begrenzung ab. Vielleicht sagen Sie dem Wähler auch, ob Sie das aus christlicher Verantwortung tun.
— Ja, man kann nicht nur über hohe Ziele und hohe Maßstäbe reden, man muß sich dann auch an ihnen messen lassen.
Sie versuchen allerdings, zu kaschieren, daß Ihre Steuerpolitik nach dem Motto verfährt: Wer da hat, dem wird gegeben. Sie tun das einmal durch die sogenannte Zwangsanleihe, jene „Kombination von Feigheit und Heuchelei", um das „Handelsblatt" noch einmal zu zitieren, über die ich schon gesprochen habe. Ein gleiches Täuschungsmanöver befürchten wir im Zusammenhang mit der Einführung einer Einkommensgrenze bei der Kürzung des Kindergeldes. Ich will nicht behaupten oder unterstellen, Sie schlügen diese Einkommensgrenze in der Hoffnung vor, Karlsruhe werde schon wieder alles ins konservative Lot bringen. Wohin aber die Reise gehen soll, zeigt Ihre Ankündigung der Ersetzung des Ehegatten- durch ein Familiensplitting.Das würde nämlich eine eindeutige Bevorzugung der Gutverdienenden mit sich bringen.
Damit wäre die Rechtskoalition da, wohin die Unionsparteien ja schon immer zurück wollten: beim steuerlichen Kinderfreibetrag, bei dem der das meiste Kindergeld erhält, der am besten verdient.
Uns überrascht das nicht. Wir haben uns über christdemokratische Familienpolitik nie viele Illusionen gemacht. Aber wir sagen Ihnen noch einmal: Der Schutz der Familie beginnt nicht bei 5 000 DM Monatseinkommen!
Auch Ihre Familienideologie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einkommenschwachen Familien den Schutz des Staates nach Art. 6 Grundgesetz notwendiger haben als die finanziell bessergestellten Familien.
Ihre Familienideologie nützt den Familien halt ebensowenig, wie Ihre Frauenideologie den Frauen nützt.
Das Gravierendste an den Absprachen der Rechtskoalition ist aber das den Steuergeschenken gegenüberstehende Ausmaß des Abbaus von Sozialleistungen. Diese Politik hat sich im Verhalten Ihrer Bundesratsmehrheit in den letzten Jahren bereits angekündigt, aber nun, nach der Wende, nach der Wende nach rechts, wollen Sie offenbar erst richtig zugreifen. Verehrte Kollegen, eine die Opferbereitschaft der Bürger zerstörende Entsolidarisierung der Gesellschaft wird die Folge sein.
Der neue Bundesminister für Arbeit und Soziales, Herr Blüm, hat das alles mitgemacht, auch wenn er durch sein Wort von der Atempause den Eindruck zu erwecken versucht hat, er sei gar nicht dabeigewesen; kein Arbeits-, sondern ein Pausenminister sozusagen.
Herr Blüm, was die von Ihnen propagierte Lohnpause betrifft, so ist das mit Art. 5, der Meinungsfreiheit, allein nicht ganz zu erklären, wie der Bundeskanzler gemeint hat. Ich bin der Meinung: In der massiven Art Ihres Vorschlags steckt ein zu geringer Respekt vor der Tarifautonomie der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände.
Lieber Norbert Blüm, wenn ich das nach diesen Worten noch sagen darf: Die Koalitionsabsprachen und Ihr Verhalten geben den politischen Stellenwert der Sozialausschüsse der CDU in dieser Rechtskoalition exakt wieder; er ist nahe bei Null.
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7240 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. EhmkeWährend die Gutverdienenden Steuervorteile erhalten, werden die Arbeitslosen, die Rentner, die Kriegsopfer, die Mieter, ja selbst die Sozialhilfeempfänger noch weiter zur Kasse gebeten, und zwar nicht zu knapp. Meine Freunde werden den betroffenen Menschen die Folgen Ihrer Maßnahmen sehr genau vorrechnen, und nicht nur in diesem Hause.
Es geht aber nicht nur ums Geld. Der durch eine Unzumutbarkeitsklausel nur verschönte Abbau des Schüler-BAföG z. B. leitet eine gesellschaftspolitische Wende in der Bildungspolitik ein: zurück zum Drei-Klassen-Schulsystem konservativer Provenienz.
Denn wie Kollege Engholm Ihnen genau vorgerechnet hat und wie Sie genau wissen, werden die Opfer dieser Maßnahmen die Kinder von Arbeitnehmer-und Bauernfamilien sein. Ihnen wird der Weg zu weiterführenden Schulen und zur Universität erschwert und in erheblichem Maß verbaut werden.
— Ihr Verhalten bei diesen Feststellungen zeigt mir, wie ernst man die hohen Worte des Bundeskanzlers zu nehmen hat.
Mit Ihren Beschlüssen zum Mietrecht, die zu einer drastischen Erhöhung der Mieten bei gleichzeitiger Kürzung des Wohngelds führen werden, wird der Abbau des von uns schwer genug erkämpften Mieterschutzes eingeleitet, d. h. der Abbau eines sozialen Grundrechts dieser zweiten deutschen Demokratie.
Im Bereich des Wohnungsbaus lehnen Sie natürlich Verbesserungen des Bodenrechts, die unsere Gemeinden dringend brauchen, weiterhin ab. Aber, meine verehrten Damen und Herren von den Unionsparteien, Sie haben ja seit je die leistungslosen Milliardengewinne aus Bodenspekulation mit Ihrem ideologisierten Leistungsbegriff mühelos zu vereinbaren gewußt.
— Sehen Sie, es ist ja weder sehr christlich noch sehr demokratisch, den kleinen Leuten Leistung zu predigen und den anderen Milliarden durch Spekulation zukommen zu lassen.
— Ich greife Ihren Zuruf auf, weil ich Ihnen sagen will: Ich bin über das, was in der Neuen Heimat passiert ist, genauso empört wie Sie, zumal ich Mitglied einer DGB-Gewerkschaft bin.
Im Bereich des Gesundheitswesens sollen durch eine noch höhere, in der Form aber gleichermaßen bürokratischen Regelung — Herr Bundeskanzler, Sie haben gegen Bürokratie gesprochen; aber diese Regelung ist so bürokratisch, daß sie total unsinnig ist —,
durch eine unsinnige Kostenbeteiligung am Krankenhausaufenthalt, die auch uns zuletzt die FDP aufzudrücken versucht hat, die Patienten zur Kasse gebeten werden, während die Zahnärzte, die Ärzte und die Pharmaindustrie an unserem System der Gesundheitsvorsorge und der Krankenversicherung weiterhin ungebremst verdienen können. Herr Bundeskanzler, ich habe mit großer Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß Sie heute gesagt haben — was nicht in der Koalitionsabsprache steht —: Auch Ärzte, Zahnärzte und Pharmaindustrie müssen ihren Beitrag zur Kostendämpfung leisten. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie möglichst bald konkrete Vorschläge dafür vorlegen würden. Wenn die vernünftig sind, werden Sie unsere Unterstützung dafür finden.
Der angekündigte Versuch, die Tarifautonomie der Gewerkschaften durch Lohnpause und Lohnleitlinien für den öffentlichen Dienst einzuschränken, paßt in dieses Bild gesellschaftspolitischer Reaktion. Aber das Tollste, muß ich sagen, Herr Bundeskanzler, was Sie sich bei der Bildung dieser Koalition und in Ihrer Regierungserklärung heute geleistet haben, ist, daß das Wort „Mitbestimmung" überhaupt nicht vorkommt.
Das ist natürlich kein Wunder.
— Kommen Sie doch hier herauf und sagen Sie, daß Sie mit uns für die Erhaltung der Montan-Mitbestimmung eintreten werden!
Draußen bei den Wirtschaftsverbänden Eindruck dadurch schinden, daß man nicht über Mitbestimmung spricht — —
— Ja, als Vergangenheit ist das da erwähnt, aber nicht als aktuelles Problem, sondern von dazumal. Hier treten Sie dann nicht an. Kommen Sie hier herauf und sagen Sie: „Jawohl, wir werden ein Gesetz machen, das die Montan-Mitbestimmung aufrechterhält"!
Aber ich weiß ja, warum das Wort in der aktuellen Politik dieser Regierung nicht vorkommen darf. Sie haben ja einen Wirtschaftsminister, der nachDeutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7241Dr. Ehmkeseiner neokonservativen Tendenzwende von einer „Verschärfung der Mitbestimmung" gesprochen hat, wie andere von einer „Verschärfung des Strafgesetzbuches" zu sprechen pflegen.
Wir Sozialdemokraten wollen mit den Gewerkschaften mehr und nicht weniger Mitbestimmung.
Kurz und schlecht: Sie brechen eine grundsätzliche soziale Auseinandersetzung vom Zaun. Unserem Land kann das nicht dienen. Sie werden es bald bereuen.
In der Innen- und Rechtspolitik droht unserem Lande ein Verlust an innerer Liberalität, in deren Atmosphäre allein Freiheit gedeihen kann.
Der Name Zimmermann bürgt, wie gesagt, für Qualität.Bundesinnenminister Baum hat in Zusammenarbeit mit seinen Kollegen in den Ländern — ich möchte hier vor allem den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, unseren Freund Herbert Schnoor, nennen —
mit Umsicht und Geduld unter anderem dazu seinen Teil beigetragen, daß die Protestbewegung in unserem Lande nicht unter den Terror von Gruppen gerät, die Gewalt predigen und anwenden. Es ist die Aufgabe der Protestbewegung, sich klar zur Gewaltlosigkeit zu bekennen und auch in ihren eigenen Reihen mit der Gewalttätigkeit fertig zu werden. Wir alle aber müssen ihr dabei helfen im Interesse unserer Demokratie. Scharfmacherei von staatlicher Seite ist das Gegenteil einer solchen Hilfe.
Nach den vielen Debatten, die wir hier über diese Frage geführt haben, bitte ich Sie zu verstehen, daß wir befürchten, daß Scharfmacherei ins Haus steht, zumal man, um j a keinen Zweifel aufkommen zu lassen, Herrn Dr. Zimmermann auch noch Herrn Spranger als Parlamentarischen Staatssekretär beigegeben hat. Dafür, Herr Genscher, wurden verdiente Beamte des Innenministeriums, die der FDP angehören, von dem neben Ihnen sitzenden Herrn Dr. Zimmermann aus dem Innenministerium hinausgeworfen.
Herr Genscher, ich muß sagen, Ihre Wende nach rechts hat wirklich Profil.
In der Außen- und Sicherheitspolitik scheinen nach dem Wortlaut der Koalitionsabsprache und nach dem Inhalt der Regierungserklärung — die auf uns, Herr Bundeskanzler, Sie haben es an unserer Zustimmung gesehen, in diesem Teil Eindruck gemacht hat — die Konfliktstoffe zwischen Regierung und Opposition nicht so groß zu sein wie auf den Gebieten der Innenpolitik. Die neue Koalition erklärt, die Sicherheits- und Außenpolitik, die Deutschland- und Berlin-Politik der sozialliberalen Koalition fortsetzen zu wollen. Helmut Schmidt hat die wesentlichen Grundlinien dieser Politik in seinen zwölf Punkten am 1. Oktober noch einmal zusammengefaßt, und der Außenminister hat kürzlich in der Zeitschrift „Außenpolitik" einen — noch vor seiner „Wende" verfaßten — Aufsatz veröffentlicht, der die Grundzüge dieser Politik im Ost-West- wie im Nord-Süd-Verhältnis einigermaßen zutreffend — über Einzelheiten kann man streiten — wiedergibt. Die Union einschließlich der CSU hat dieser Darstellung nicht widersprochen, bisher jedenfalls nicht.Nach ihrer Koalitionsabsprache und nach Ihrer heutigen Rede, Herr Bundeskanzler, wollen sich die Unionsparteien also endlich der von ihnen jahrelang erbittert bekämpften sozialliberalen Friedenspolitik anschließen. Ich habe schon in unserer Debatte vom 16. September gesagt und wiederhole es für meine ganze Fraktion, daß wir eine solche breite Gemeinsamkeit in der Außenpolitik, in Lebensfragen der Nation, für außerordentlich wünschenswert halten.Helmut Schmidt hat mit seiner Abschiedsrede vor dem Diplomatischen Corps und mit Hans-Jürgen Wischnewskis Rede vor den Vereinten Nationen alles getan, um Ihnen ein solches Einschwenken zu erleichtern. Sie werden aber verstehen, daß wir Zweifel haben, denn schließlich haben die Unionsparteien unter Führung von Herrn Strauß gegen alle konkreten Schritte unserer Friedenspolitik gestimmt.
Bei der Ablehnung der Schlußakte von Helsinki, auf die Sie sich heute wieder berufen haben, waren die Unionsparteien dabei sogar in der ebenso merkwürdigen wie exklusiven Gesellschaft der albanischen Kommunisten und der italienischen Neof a-schisten. Alle anderen Parteien in Europa, in allen Ländern West-, Nord- und Südeuropas, waren für Helsinki!
Aber, Herr Bundeskanzler, ich möchte — nicht zuletzt auf Grund Ihrer Rede vom heutigen Vormittag — ausdrücklich hinzufügen: Ihnen selbst, Ihnen persönlich glaube ich unbesehen, daß Sie die bisherige deutsche Außenpolitik fortsetzen wollen. Bei anderen fällt es mir und manchem meiner Freunde schwerer. Wir werden also das tatsächliche Ausmaß unserer Übereinstimmung erst an einzelnen Streitfragen feststellen können. An Wachsamkeit wird es bei uns nicht fehlen, und wir werden Ihnen auch in der Außenpolitik jeweils sagen, was wir mittragen können und was wir ablehnen oder sogar bekämpfen müssen.
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7242 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. EhmkeSo unterstütze ich für meine Fraktion ausdrücklich das, was Sie, Herr Bundeskanzler, heute in sehr nobler und eindringlicher Form über die Entwicklung in Polen und über unseren Willen zur Verständigung mit Polen gesagt haben.
Wir werden für alles sein, was Spannungen abbaut, Gräben zuschüttet, Menschen zusammenführt, den Frieden sichert,
und wir werden gegen alles sein, was Spannungen verschärft, Gräben aufreißt,
Menschen trennt
und den Frieden gefährdet.
— Herr Dregger, ich muß sagen, die Reaktion des rechten Flügels Ihrer Fraktion auf dieses Angebot zur außenpolitischen Gemeinsamkeit klingt nicht sehr ermutigend!
Insbesondere unseren Landsleuten in der DDR, von denen uns heute viele zuhören, sagen wir: Wir Sozialdemokraten werden von unserer Politik des Ausgleichs, der Zusammenarbeit und des Friedens keine Abstriche machen. Uns Deutsche als Nation eint die Verpflichtung, daß nie wieder von deutschem Boden Krieg ausgehen darf.
Was wir als parlamentarische Opposition den Bürgern versprechen können, ist also eine harte Auseinandersetzung — daran werden Sie sich gewöhnen müssen — über die verfehlte, unsoziale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dieser Übergangsregierung.
Die von Ihnen angestrebte gesellschaftspolitische Wende nach rückwärts werden wir kompromißlos bekämpfen.
Der zu befürchtenden Gefährdung der inneren Liberalität werden wir uns entgegenstemmen.
In der Außenpolitik werden wir mit Argusaugen darüber wachen, daß die erfolgreiche deutsche Außenpolitik wieder durch sachte Verschiebungen im ganzen noch durch Kalter-Krieg-Allüren einzelner gefährdet wird. Und über alles dieses wird am 6. März der deutsche Wähler entscheiden.
Unser Ziel für diesen Wahlgang ist klar:
Wir wollen diese Übergangsregierung zu einem rechten Zwischenspuk werden lassen.
Wir haben dazu — Herr Dregger, Sie sind leidgeprüft — eine gute Chance.
Wie die Wahlen in Hessen aber auch in Bayern zeigen, — —
— Ich gebe ja zu, wir sind bescheiden.
— Das ist so wie mit den Zielen Ihrer Politik: Das ist ein mehrjähriges Programm.
Wir haben den Eindruck — Herr Dregger, Sie doch sicher auch —, daß es vielen Bürgern in unserem Lande durch das rechte Wendemanöver wie Schuppen von den Augen gefallen ist.
Wir zeigen uns draußen und diskutieren. Ich sage Ihnen: Die Menschen draußen wissen heute offensichtlich besser als vorher, was sie an uns gehabt haben.
— Lachen Sie nur! Kollegen, wir haben in Hessen in zehn Tagen einen Wählerwechsel von der CDU zur SPD von 10 % gehabt. So können wir gar nicht weitermachen, weil wir dann über 100 % kämen.
Im übrigen merken die Wähler draußen langsam, was diese Rechtskoalition für sie bedeutet. Ich bin sicher, daß Sie mit Ihren Plänen selbst dafür sorgen werden, daß dieses Aha-Erlebnis anhält. Wir werden kräftig nachhelfen.
— Nein, nicht holzen. Ich komme doch nicht von der rechten Seite.
— Nun will ich einmal etwas Pädagogisches sagen, schon schreien Sie wieder.
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7243Dr. Ehmke— Herr Kollege Schäuble, das würde Ihnen aber auch gut tun. Ich wollte von Aufklärung reden.
Verehrte Kollegen meiner eigenen Fraktion und meine Freunde draußen im Lande, warum soll es eigentlich weiter so bleiben, daß Millionen Wähler — Arbeitnehmer, Rentner, Kriegsopfer, Mieter, Studenten, Eltern — gegen ihre eigenen Interessen wählen?
Wenn das nicht gelingt, liegt es aber nicht am Bürger, sondern an uns. Wir müssen ihnen das klarmachen.
Die Sozialdemokraten müssen dabei die Geschlossenheit wahren, mit der sie den mutigen Weg Helmut Schmidts in den letzten Wochen begleitet und unterstützt haben.
Für Extratouren, und seien die Reiseziele noch so schön, ist keine Zeit. Das gilt auch für unser Verhalten gegenüber den Grünen und Alternativen.
Hier will ich zunächst wiederholen, was Helmut Schmidt in seinen zwölf Punkten gesagt hat
und was sicher auch der Bundeskanzler unterstreichen wird, auch wenn es nicht in seiner Regierungserklärung war; ich bin sicher, wir sind darin einig. Die Respektierung der Regeln der parlamentarischen Demokratie und die Unzulässigkeit von Gewaltanwendung sind für uns weder diskussionsnoch kompromißfähig.
Das ist der Grund, auf dem wir alle stehen. Das ist der Boden, in dem vor allem die deutsche Sozialdemokratie wurzelt.
Auf diesem Boden aber — das hat Willy Brandt immer zu Recht betont — muß die Diskussion mit den Anhängern der Grünen und Alternativen offen und offensiv geführt werden.
Das Ziel ist dabei aber nicht etwa, die SPD in der Protestbewegung aufgehen zu lassen; es geht vielmehr umgekehrt darum, sachliche Mehrheiten zu erarbeiten und politisch zur Geltung zu bringen.Daher ist auch das geduldige Gespräch unseres Freundes Klaus von Dohnanyi mit der GAL in Hamburg notwendig gewesen.
— Herr Kollege, es war insofern sehr erfolgreich,als es Klarheit gebracht hat; denn das Ergebnis isteindeutig: Die Grünen wollen keine Mitverantwortung übernehmen.
Von manchen Grünen wird heute gesagt, sie seien viel zu früh mit den praktischen Aufgaben parlamentarischer Verantwortung konfrontiert und belastet worden.
Aber das Dilemma ist selbstverschuldet. Die Gründung einer eigenen, einer Grünen Partei war ein Fehler; denn man kann nicht zugleich Protestbewegung und parlamentarische Partei sein.
Die Grünen müssen sich entscheiden, und wir alle müssen sie weiter zur Entscheidung drängen, ob sie in der parlamentarischen Demokratie politische Mitverantwortung übernehmen oder aber weiter Fundamentalopposition betreiben wollen. Beides zugleich geht nicht.Bleiben sie eine Fundamentalopposition, die zur politisch-praktischen Bewältigung der Probleme unseres Landes nichts beitragen kann oder nichts beitragen will, so müssen wir darum kämpfen, daß die Wähler sie wieder aus den Parlamenten abberufen.
Ich gebe gern zu: Wir Sozialdemokraten haben daran ein besonderes Interesse; denn die Stimmabgabe für die Grünen hat — von Schleswig-Holstein bis Bayern — nur einem genützt: den Schwarzen.
Lassen Sie mich zum Schluß ein Wort zu unseren sozialliberalen Freunden in der FDP sagen: Wir haben hohen Respekt vor Ihrer Überzeugungstreue und Ihrer Standfestigkeit.
Sie werden auf Ihrem Berliner Parteitag Anfang November eine grundsätzliche Richtungsentscheidung zu treffen haben. Wir haben dazu keine Ratschläge zu erteilen. Unsere eigene Liberalität verbietet uns, uns in die innere Angelegenheit Ihrer Partei einzumischen.
Aber eines möchten wir Ihnen sagen — liebe Frau Kollegin Frau Matthäus-Maier, liebe Frau Kollegin Hamm-Brücher, lieber Kollege Baum, lieber Kollege Ronneburger und all die anderen Kollegen — :
Unsere menschliche und politische Sympathie gehört Ihnen!
Die entscheidende Kraft aber, die Wende nach rechts und nach rückwärts doch noch zu verhin-
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7244 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. Ehmkedern, um wieder vorwärtsgehen zu können, ist und bleibt die deutsche Sozialdemokratie.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.Dr. Dregger (von der CDU/CSU und der FDP mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Ehmke, Professor, Rechtsprofessor sogar, hatte die Ehre und die Chance, die neue Opposition des Deutschen Bundestages in einer ersten Rede vorzustellen.
Diese Ehre und diese Chance hatte im Jahre 1969, als die CDU/CSU die Rolle der Opposition übernehmen mußte, unser Kollege und Freund, der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Rainer Barzel.
Ich habe den Text seiner Rede nicht vorliegen, aber ich kann aus der Erinnerung zitieren. Er sagte an die Adresse des neuen Bundeskanzlers, Herrn Brandt: Herr Bundeskanzler, Sie übernehmen die Regierung eines Landes, dessen Finanzen wohlgeordnet sind, dessen Wirtschaft blüht und vollbeschäftigt ist
und dessen soziales Netz solide finanziert ist. — Ich freue mich, daß der Oppositionsführer Rainer Barzel im Jahre 1969 im Kontrast zu Herrn Ehmke eine andere Antrittsrede gehalten hat und halten konnte.
Herr Barzel hat damals gesagt: Herr Bundeskanzler, noch nie hat eine Regierung unter so günstigen Voraussetzungen die Regierung dieses Landes übernommen wie die Ihrige.
Das kann man heute gewiß nicht sagen, sondern man muß im Kontrast dazu sagen: Noch nie hat eine Bundesregierung ihre Aufgabe unter so schwierigen Bedingungen übernommen wie die Regierung Kohl/Genscher.
Herr Barzel hat damals gesagt: Herr Bundeskanzler, wir bieten Ihnen unsere Zusammenarbeit an, wenn es darum geht, die Zukunft unseres Landes zu sichern.
Herr Ehmke, Ihre Rede war nicht nur polemisch, sie war in weiten Abschnitten haßerfüllt,
und sie ließ jeden Respekt vor der persönlichen Ehre anderer Kollegen dieses Hauses vermissen.
Sie haben den Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei Deutschlands, den Vizekanzler und Außenminister Genscher, dem Sie es verdanken, daß Sie viele Jahre in Deutschland regieren konnten, obwohl die Wähler Sie nur zur zweitstärksten Partei gemacht hatten,
zum Dank dafür als politischen Bankrotteur bezeichnet.
Sie haben den Bundesinnenminister dadurch unglaubwürdig zu machen versucht, daß Sie aus einem Urteil zitiert haben, das nachher rechtskräftig aufgehoben worden ist.
Bei dieser Passage fiel mir ein Fontane-Zitat ein, das der Herr Kollege Geißler vor einiger Zeit in einer Fernseh-Sendung verwandt hat. Ich will es nicht an Ihre Adresse richten, sondern ich will es allgemein zitieren. Jeder mag prüfen, wer sich diesen Schuh anziehen muß. Es lautet: „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant."
An Ihre Adresse, Herr Kollege Ehmke, möchte ich dagegen folgendes sagen. Ich habe als Jurist gelernt
— das entspricht auch meiner Auffassung als Liberaler oder, sagen wir besser, als anständiger Mensch,
was häufig dasselbe ist —, daß jeder unschuldig ist, solange er nicht rechtskräftig als schuldig verurteilt worden ist.
Herr Kollege Zimmermann ist nicht schuldig gesprochen, sondern er ist rechtskräftig freigesprochen, und deshalb ist er unschuldig.
Es gibt viele junge Menschen in unserem Lande, die sich von der Politik abwenden, weil sie das Gefühl haben, Politik habe kein menschliches Gesicht. Leider haben Sie diese jungen Menschen durch Ihre Rede heute in diesem Vorurteil bestätigt.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7245
Dr. DreggerDie Opposition hatte einen schlechten Start.
Dafür hatte die Regierung einen guten, einen sehr guten Start.
Dazu möchte ich Sie, Herr Bundeskanzler, und die Mitglieder Ihrer Regierung herzlich beglückwünschen. Der Blitzbesuch beim französischen Staatspräsidenten gleich nach der Amtsübernahme und bei der Europäischen Gemeinschaft, die Kürzung der Ministergehälter
— da lachen die! —, der Appell des Bundesarbeitsministers, übrigens eines promovierten Opelarbeiters und treuen Gewerkschaftlers, der die Seiten gewiß nicht gewechselt hat,
an die Sozialpartner, bei ihren autonomen Lohn-und Gehaltsabschlüssen — selbstverständlich autonom; muß man das in Deutschland noch sagen? — die Solidarität mit den Arbeitslosen und den Rentnern nicht zu vergessen,
das waren gute, zum Teil mutige Signale, jedenfalls Signale, die der ernsten Lage unseres Landes angemessen sind.
Ich habe den Bundesarbeitsminister nicht nur deshalb als ersten Minister genannt, weil er zusammen mit dem Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg gewiß die schwierigste Aufgabe der neuen Regierung übertragen erhalten hat, sondern weil ich an diesen Hinweis auch eine allgemeine Bemerkung knüpfen möchte.Tarifautonomie, meine Damen und Herren, bedeutet staatsunabhängige Macht auf einem für den einzelnen und die Gemeinschaft besonders wichtigen Gebiet. Macht bedeutet Verantwortung, und wer Macht und Verantwortung hat, muß sich der Kritik stellen. Was für die Regierung gilt, gilt auch für die Tarifpartner. Das bedeutet keinen Eingriff in ihre Kompetenz. Wer die Steuerpolitik der Regierung kritisiert, stellt nicht die Kompetenz der Regierung in der Steuerpolitik in Frage, und wer die Tarifpolitik der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kritisiert, stellt nicht die Tarifautonomie in Frage.
Nun hat der Bundesarbeitsminister nicht einmal Kritik geübt. Er, der ja nicht nur Gruppen-, sondern Gesamtveranwortung für diese Republik zu tragen hat, hat sich erlaubt, an diejenigen zu appellieren, die vor allem wichtige Gruppeninteressen vertreten, von deren Verhalten aber das Wohl und Wehe der Gesamtheit ganz entscheidend abhängt.
Soll das der Bundesarbeitsminister nicht dürfen? Das kann doch wohl nicht wahr sein.Ich hoffe mit dem Bundeskanzler und mit dem Bundesarbeitsminister, dem von uns allen hochgeschätzten Kollegen Blüm, daß dieser Solidaritätsappell von Unternehmern und Arbeitnehmern, von Beamten und freien Berufen aufgenommen wird. Jetzt wird sich zeigen, ob unser Volk noch die Kraft hat, freiwillig und solidarisch die jetzige Krise zu meistern.
Erste positive Antworten liegen vor, und wir rechnen mit weiteren. Wir werden sehen, wer sich diesem Solidaritätsappell entziehen wird. Niemand sollte sich darüber täuschen, was es für die weitere Entwicklung unseres Landes und die Existenz dieser freien Gesellschaft bedeuten würde, wenn dieser Appell und diese Regierung scheitern würde.
Aber diese Regierung wird nicht scheitern. Ich bin optimistisch. Ich glaube fest an Ihren Erfolg, Herr Bundeskanzler, der dann ein Erfolg für uns alle in Deutschland sein würde.
Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung werden in den kommenden Wochen und Monaten mit Kritik überschüttet werden, und zwar nicht nur mit sachlicher und konstruktiver, sondern auch mit gedankenloser oder gar böswilliger Kritik. Wir haben heute in der Rede des Herrn Ehmke einen Vorgeschmack davon bekommen.
Das darf Sie, Herr Bundeskanzler, bei Ihrem Versuch, eine Wende zum Besseren für unser Vaterland herbeizuführen, nicht beirren. Hören Sie, Herr Bundeskanzler, auf begründete Kritik! Versuchen Sie, dieser Kritik Rechnung zu tragen, soweit es möglich ist; vielfach wird das nicht der Fall sein. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden dabei Ihre und Ihrer Kritiker Gesprächspartner sein. Aber eines sollen Sie wissen: Alle Abgeordneten der CDU/ CSU-Fraktion werden in dieser entscheidenden Phase der deutschen Politik an Ihrer Seite stehen.
Die Debatte über die erste Regierungserklärung einer neuen Regierung bedeutet auch für das Parlament einen Neubeginn. Ich möchte aus diesem Anlaß einige Bemerkungen zu diesem Parlament, zu seinen Fraktionen und zu ihrem Verhältnis zueinander machen. Ich möchte mit einem kurzen Rückblick auf das beginnen, was zu diesem Regierungswechsel geführt hat, um daran einige Anmerkungen für unsere künftige Zusammenarbeit zu knüpfen, die sich hoffentlich ergeben wird.Mein erstes Wort gilt der Fraktion, die jetzt die Rolle der Opposition übernehmen mußte, der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die immer zu den großen und bedeutenden Parteien unseres Landes gehören wird. Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, und insbesondere7246 Deutscher Bundestag — 9. W ahiperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Dr. DreggerIhnen, sehr verehrter Herr Kollege Schmidt, möchte ich eine Maxime zurufen, von deren Beachtung nach meiner Überzeugung der Bestand unseres freiheitlichen Systems abhängen könnte. Diese Maxime lautet: Man muß nicht nur gewinnen, man muß auch verlieren können, beides mit Anstand.
Ich habe bei der Landtagswahl in Hessen das weit-gesteckte Ziel der absoluten Mehrheit nicht erreicht und habe insofern die Landtagswahl verloren. Sie, Herr Kollege Schmidt, haben die Kanzlerwahl in Bonn verloren.
Ich frage nicht nur Sie, sondern alle Sozialdemokraten: Warum sind Sie nicht bereit, Ihre Niederlage ebenso zu akzeptieren, wie ich bereit war und bin, meine Niederlage zu akzeptieren?
Dabei hätten Sie dazu doch viel mehr Anlaß als ich; denn das, was ich als meine Niederlage bezeichne,
ist doch in Wahrheit die Niederlage von uns allen.
— Wenn Sie nur an Ihre Partei denken, mag es anders sein, aber wenn Sie an unser Land denken, müssen Sie das einräumen; denn Hessen ist jetzt ohne regierungsfähige Mehrheit, d. h. ohne handlungsfähige Regierung, und das in der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise unseres Landes.
Ganz anders ist es in Bonn. Ihre Niederlage, Herr Kollege Schmidt, hat Deutschland nicht unregierbar, sie hat Deutschland endlich wieder regierbar gemacht.
Und das ist doch etwas Gutes und in der jetzigen Lage unseres Landes etwas absolut Notwendiges.Was Hessen und Hamburg bedeuten, ist klar: Mit dem „Wegharken" der FDP auch in Hessen, von Ihnen, Herr Kollege Schmidt, proklamiert
und, nachdem dieses böse Wort seine Wirkung getan hatte, wieder zurückgenommen, und mit dem Einzug der Grünen ins Parlament ist eine politische Kraft zur Mehrheitsbeschafferin geworden, die ich nicht wie Herr Börner in die Nähe des Faschismus rücken möchte, von der aber gewiß zu sagen ist, daß sie völlig unreif ist, politische Verantwortung in Deutschland oder in unseren Ländern zu übernehmen, und die, was noch schlimmer ist,bis heute nicht bereit war, sich zur parlamentarischen Demokratie zu bekennen.
Daß es Bayern und vor allem der CSU gelungen ist, den Vormarsch der Grünen in den Landtag zu stoppen,
wird immer zu den größten und verdienstvollsten Erfolgen von Franz Josef Strauß gehören, meine Damen und Herren.
Ich frage Sie, Herr Kollege Schmidt: Wollen Sie Hamburger oder hessische Verhältnisse auch in Bonn?
Sehen Sie sich in der Lage, in Bonn den gleichen Eiertanz aufzuführen, den Ihr Parteifreund, Herr von Dohnanyi, einige Monate lang in Hamburg aufgeführt hat? Wenn Sie dazu nicht bereit sind, dann akzeptieren Sie bitte um unseres Landes und um unserer Demokratie willen Ihre Niederlage. Dann lassen Sie es bitte nicht zu, daß in Ihrer Partei weiterhin von Verrat gesprochen wird.
Spüren Sie nicht, Herr Kollege Schmidt, spüren Sie nicht, Herr Kollege Brandt und Herr Kollege Wehner, daß dieses vergiftende Wort nicht nur die Freien Demokraten diskreditiert, sondern unser freiheitlich-demokratisches System in Deutschland?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt ?
Herr Kollege Dregger, würden Sie mir wenigstens das Recht zugestehen, über Herrn Genscher genauso zu denken, wie Herr Strauß über ihn denkt und schreibt?
Ich weiß nicht, auf welche Äußerung von Herrn Strauß Sie sich beziehen.
Aber es ist bei Ihnen nicht üblich, daß Sie sich auf politische Gegner beziehen, Herr Kollege Schmidt.
Das war keine besonders wesentliche Zwischenfrage — wenn ich mir diesen Kommentar erlauben darf.Ich möchte sagen, nicht die Freien Demokraten, Herr Kollege Schmidt, haben Sie verraten, sondern Sie sahen sich gezwungen, Schritt für Schritt Ihre
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7247
Dr. Dreggereigenen Überzeugungen und Ihre Absprache mit Ihrem Koalitionspartner zu verraten.
Als es auf dem Münchener Parteitag darum ging, gegen unsinnige Steuererhöhungsexzesse
Front zu machen, haben Sie geschwiegen. Sie haben es Ihrem damaligen Bundesfinanzminister, Herrn Kollegen Matthöfer, überlassen, allein und deshalb auch vergeblich gegen diesen wirtschaftlichen Unverstand Front zu machen. Was für die Wirtschafts- und Finanzpolitik gilt, gilt doch auch für die Außen- und Sicherheitspolitik. Wenn Sie, Herr Kollege Schmidt, sich selbst und Ihrer Koalitionsabsprache treu geblieben wären, hätten Sie doch den von Ihnen selbst erfundenen NATO-Doppelbeschluß, den Helmut-Schmidt-Doppelbeschluß, wie Alois Mertes ihn mit Recht genannt hat, in Ihrer Partei nicht in Zweifel ziehen lassen, und Sie hätten sich auch selbst nicht so verhalten, daß das zu Irritationen im Bündnis geführt hätte. Nein, Herr Kollege Schmidt, Sie sind kein verratener, Sie sind ein gescheiterter Kanzler.
Ich sage das ohne Häme und mit Respekt vor Ihren Fähigkeiten und Ihren Leistungen.
Das ist die Wahrheit. Sie sind zunächst und vor allem an Ihrer eigenen Partei gescheitert, zuletzt aber auch an eigener Schwäche.
Der Bundeskanzler einer parlamentarischen Demokratie ist kein Alleinherrscher. Kein Bundeskanzler kann besser sein, als seine eigene Partei es zuläßt. Die SPD hat in dieser Hinsicht immer weniger zugelassen. Ihr Spielraum, Herr Kollege Schmidt, wurde immer enger, und zum Schluß war er gleich Null. Allein der ungerechte Verratsvorwurf gegen die Freien Demokraten und die dadurch bewirkte Manipulation der hessischen Landtagswahl wahrscheinlich — —
— Darauf ist Herr Schmidt doch sehr stolz.
Am Abend der Landtagswahl in Hessen hat Herr Börner doch gesagt: Das war der Sieg von Helmut Schmidt. Es war nicht mein Sieg. — Das heißt doch, daß diese Landtagswahl zu einer Ersatzbundestagswahl umstilisiert worden ist. Es war doch gar keine Landtagswahl mehr, meine Damen und Herren. Das nenne ich Manipulation. Ich beklage mich gar nicht darüber.
Das ist auch nicht das Wesentliche meiner Aussage.
Das Wesentliche ist, daß allein der ungerechte Verratsvorwurf gegen die Freien Demokraten und die Wirkungen, die davon in Hessen und, soweit es die Freien Demokraten angeht, auch in Bayern ausgingen, die SPD noch einmal hinter Helmut Schmidt geeint hat. Das wird aber ein vorübergehender Zustand sein, Herr Kollege Schmidt, es sei denn, Sie wären bereit, alle Ihre Überzeugungen in der Verteidigungspolitik, in der Wirtschafts- und Finanzpolitik endgültig aufzugeben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gansel?
Bitte.
Herr Kollege Dregger, wenn Sie das Wählervotum in Hessen deshalb als eine Wählermanipulation bezeichnen, weil es eine Ersatzbundestagswahl war, wie erklären Sie es sich dann, daß Sie als einzige konkrete Konsequenz daraus den Schluß gezogen haben, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag zu werden?
Herr Kollege, ich glaube, daß ich, der ich 15 Jahre lang hessischer Landesvorsitzender gewesen bin und meine Partei in vier Landtagswahlen angeführt habe — diese Partei ist in dieser Zeit, wobei ich dies jetzt gar nicht auf mich beziehe, von einem Stimmenanteil von 26% bis in die Nähe der absoluten Mehrheit gekommen; nach Wählerumfragen zehn Tage vor der Wahl hatte sie diese Marke soger überschritten —, meine Pflicht in Hessen getan habe.
Ich bin fest davon überzeugt, daß ich auch im Interesse meiner Partei gehandelt habe, indem ich ihr jetzt einen neuen Hoffnungsträger vorgestellt habe. Das ist der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann. Er wird die hessische CDU bei der nächsten Wahl zur absoluten Mehrheit führen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Herr Kollege Dregger, da Sie sich gegenüber Helmut Schmidt als Vorbild für das Ertragen von Niederlagen bei einer Wahl dargestellt haben, möchte ich Sie fragen, ob denn die Übernahme des Fraktionsvorsitzes in Bonn an Stelle des Amts des Ministerpräsidenten in Hessen für Sie ein persönlicher Gewinn oder eine persönliche Niederlage gewesen ist?
Herr Kollege, ich glaube, daß es völlig gleichgültig ist, ob es das eine oder andere ist. Als ich von meinem Amt als Landesvorsitzender zurückgetreten bin, regierte in Bonn noch
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Dr. Dregger
der Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Neuwahl des Kanzlers hatte noch gar nicht stattgefunden. Was aus der Wahl in Hessen werden könnte, war für mich wirklich nicht vorhersehbar, obwohl ich wie alle Leute in Deutschland davon ausging, daß diese Wahl nach normalem Ablauf zu einer absoluten Mehrheit der CDU in Hessen geführt hätte. Befriedigt Sie das jetzt? Wir können vielleicht noch ein Privatissimum veranstalten, weil ich glaube, es ist nicht der Gegenstand einer Debatte zur Lage der Nation oder zur Regierungserklärung.
Meine Damen und Herren, ein weiteres muß zur Bereinigung der durch den Verratsvorwurf vergifteten Atmosphäre gesagt werden. Unsere Verfassung sieht keine plebiszitäre und keine präsidentielle sondern eine parlamentarische Demokratie vor.
Das haben die Väter des Grundgesetzes aus allen demokratischen Parteien so gewollt, und im Hinblick auf Weimar, Herr Kollege Brandt, aus guten Gründen.
Meine Damen und Herren, wer das nicht mehr will, wer ein System will, in dem der Staats- und Regierungschef vom Volk gewählt wird wie z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Frankreich, der muß versuchen, die Verfassung zu ändern. Aber solange die Verfassung nicht geändert ist, haben wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, das Recht und die Pflicht, den Bundeskanzler zu wählen und ihn abzuwählen, wenn wir der Ansicht sind, daß das notwendig ist.
Der einzige Maßstab für diese Entscheidung ist laut Verfassung unser Gewissen.
Niemand kann uns diese Gewissenspflicht abnehmen, kein Parteitagsvotum, keine Landtagswahl und keine Meinungsumfrage.
Vergessen wir bitte nicht, wer unser Auftraggeber ist.
Meine Damen und Herren, ich weiß das, und ich glaube, durch mein Leben bewiesen zu haben, daß ich es weiß. Ich habe jedenfalls immer versucht, mich danach zu richten.
Unsere Auftraggeber sind nicht Personen und nicht Parteien. Unser Auftraggeber ist unser Volk, sonst niemand.
Parteien sind nicht Selbstzweck, sondern Instrumente politischer Willensbildung im Dienste des Ganzen.
Politiker sind keine Herrgötter.
Politiker haben Aufträge auf Zeit wahrzunehmen,
und wenn sie diese Aufträge erfüllt haben oder nicht mehr in der Lage sind, sie zu erfüllen, dann müssen sie abtreten, meine Damen und Herren.
Man muß nicht nur kommen, man muß auch gehen können, meine Damen und Herren, ohne gleich „Verrat" zu schreien oder andere „wegharken" zu wollen.
Nach diesem Rückblick auf die jüngste Vergangenheit möchte ich etwas zu unserem zukünftigen Verhältnis sowohl zu den Freien Demokraten als auch zu den Sozialdemokraten in diesem Hause sagen.
Mich hat, um mit den Freien Demokraten zu beginnen, die Rede des Kollegen Mischnick in der Debatte vor dem konstruktiven Mißtrauensvotum tief beeindruckt. Sie hatte moralische Kraft. Sie hat einen Mann sichtbar werden lassen, dessen Prioritäten in der Bindung zunächst an das Ganze, erst dann an Parteien und zuletzt an Personen unserem Koordinatensystem entspricht. Herr Mischnick wird in der neuen Koalition ein ebenso verläßlicher Partner sein, wie er es in der alten gewesen ist. Das ist überhaupt kein Widerspruch. Nur wer ein parlamentarisches Parteienbündnis auf Zeit zu einer Gesinnungsgemeinschaft auf Dauer, zu einem historischen Bündnis verfremdet, kann darin einen Widerspruch sehen.
Ich meine: Wenn die FDP heute in einer Krise steckt und mit ihr unser Land,
dann nicht, weil sie den Koalitionspartner zu früh und zu oft, sondern weil sie ihn in Bund und Ländern zu spät und zu wenig gewechselt hat.
So sehr ich überzeugt bin, meine Damen und Herren, daß die Freien Demokraten uns ein verläßlicher Koalitionspartner sein werden, so klar möchte ich den Freien Demokraten, insbesondere deren Bundesvorsitzenden, dem Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher,
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Dr. Dregger
versichern, daß wir auch ihm ein sicherer und zuverlässiger Koalitionspartner sein werden.
Wir, Herr Kollege Genscher, können Ihnen das — im Gegensatz zu den Sozialdemokraten — deshalb versichern, weil unsere Partei nicht in Flügel gespalten ist, weil wir eine einige, solidarische Kraft sind, auf die man sich verlassen kann.
Wir werden nichts tun, was die Konsolidierung der FDP in einer schwierigen Phase ihrer Existenz erschweren könnte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Emmerlich? — Bitte schön, Herr Emmerlich.
Herr Dregger, Sie haben soeben zu Recht davon gesprochen, daß es zu einem Demokraten gehört,
daß er sowohl kommen als auch gehen kann. Halten Sie es für in Ordnung, daß es in unserer Demokratie offenbar eine politische Kraft gibt, die es für unmöglich hält, daß sie einmal zu den Gehenden gehört?
Meine Damen und Herren, man kann darüber diskutieren, ob unser Parteiensystem und unser Wahlsystem das bestmögliche sind. Ich selbst gehöre ja nicht gerade zu denen, die durch dieses Wahlsystem und durch dieses Parteiensystem begünstigt worden sind. Aber wenn wir schon dieses Wahlsystem haben, dann kann es kein Zweiparteiensystem geben, dann wird es immer ein Mehrparteiensystem geben.
Wenn in diesem Mehrparteiensystem eine kleine politische Partei einen Sinn haben soll, dann kann es, so meine ich, doch nur der sein, den notwendigen Wechsel nicht zu blockieren, sondern ihn zu erleichtern und ihn herbeizuführen.
Eine Freie Demokratische Partei, die nicht mehr zum Wechsel frei ist und die zum Anhängsel einer der beiden großen Parteien wird, gleichgültig ob der SPD oder der CDU/CSU, verliert ihre Existenzberechtigung. Deswegen glaube ich, daß die Führung der FDP auch im Interesse der Existenz ihrer Partei gehandelt hat,
wenn auch sehr spät, aber nun endlich, als es gar nicht mehr anders ging, diesen Wechsel herbeizuführen.Ich möchte mich nun auch an Sie, die Damen und Herren der SPD-Fraktion, wenden. Ich möchte gerade nach den Vorgängen, beginnend mit der Rede des Herrn Professor Ehmke, die Frage an Sie richten: Wollen wir in dem jeweils anderen das personifizierte Böse sehen, auf das es einzuschlagen gilt? Ich will das nicht. Ich glaube auch, daß wir uns selbst, unseren Parteien und unserem Land einen sehr schlechten Dienst erweisen würden, wenn wir uns so verhielten. Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger sind gerade in der jetzigen Wirtschafts- und Finanzkrise — und es ist ja auch eine geistige Krise — unseres Landes parteipolitischen Hickhack endgültig satt.
Sie wollen Sachlichkeit, sie wollen Informationen, und sie wollen Argumentation und keine Beschimpfungen.
Herr Kollege Wehner hat 1969 an unsere Adresse nicht ohne Grund appelliert, wir müßten nun Opposition lernen. Jetzt gilt diese Mahnung für Sie, meine Damen und Herren von der SPD. Opposition kann bitter sein. Wer wüßte das besser als ich? Trotzdem: Opposition geringzuschätzen wäre ungerecht. Was uns von der Diktatur unterscheidet, ist nicht das Vorhandensein einer Regierung — die haben alle —, sondern das Vorhandensein einer Opposition.
Wir werden der Opposition mit dem Respekt begegnen, der ihr auf Grund ihrer verfassungsrechtlichen Rolle gebührt. Aber dieser Respekt erwächst, meine Damen und Herren, nicht nur aus Ihrer Stellung, sondern aus Ihrem Verhalten.Meine Erfahrung aus langer Oppositionszeit ist — wenn ich Ihnen dieses Betriebsgeheimnis verraten darf —: Je konstruktiver eine Opposition arbeitet, um so größer ist ihr Erfolg.
Ich erinnere daran, daß wir z. B. in Hessen die hessische Landesregierung bei allen schwierigen Projekten unterstützt haben, ganz anders als z. B. die niedersächsische SPD-Opposition die dortige CDU-Regierung.
Wir haben sie bei allen Energieprojekten, beim Ausbau der Startbahn West usw. unterstützt. Das hat uns als Opposition nichts geschadet, genauso-wenig wie es uns geschadet hat, daß wir die verläßlichsten Partner der offiziellen Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung Schmidt/Genscher gewesen sind. Keiner hat das von Ihnen Beschlossene, z. B. den NATO-Doppelbeschluß, zuverlässiger unterstützt als die bisherige Opposition.
Ich glaube, das hat uns nichts geschadet.
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7250 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. DreggerHerr Brandt sucht nach einer neuen Mehrheit links von der CDU. Er will vieles integrieren: Friedensbewegung, Frauenbewegung, ökologische Bewegung, Grüne und Rote. Das ist, Herr Kollege Brandt, ein interessanter Versuch, den man nicht prinzipiell ablehnen kann, auch wenn bei diesen Bewegungen Kommunisten einige Fäden ziehen.Warnen muß ich jedoch vor dem Versuch, diese Integration durch unmittelbare oder mittelbare Regierungsbeteiligung zu erreichen. In Hamburg ist das gescheitert. Ich bin überzeugt, es wird auch in Hessen scheitern. Eine demokratische Partei, die sich in die Abhängigkeit von Grünen und Alternativen begibt, wird allein dadurch regierungsunfähig. Die Vorstellungen der Grünen und Alternativen sind für eine dem Ganzen verpflichtete demokratische Partei nicht kompromißfähig.
Mit der Ablehnung von Wirtschaftswachstum — und wenn wir zwei Millionen Arbeitslose in Arbeit bringen wollen, bedeutet das doch Wirtschaftswachstum —, mit der Ablehnung moderner Techniken, z. B. der Kernenergie, mit den Vorstellungen der Grünen zur Kreislaufwirtschaft,
die man nur als niedlich bezeichnen kann, mit all dem kann die Massenarbeitslosigkeit nicht gestoppt und erst recht nicht beseitigt werden. Denn Vollbeschäftigung ist für uns eine Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und nicht der Sandkastenspiele einiger Phantasten.
Genauso gilt: Mit den pazifistischen Vorstellungen der Grünen und Alternativen, die leider weit in die SPD hineinreichen, können wir weder den Frieden noch die Freiheit erhalten. Mit Pazifismus würden wir an der Grenze von Ost und West beides sehr bald verlieren. Ohne Bundeswehr und ohne NATO hätten wir die Zustände, die heute in Polen herrschen, und die kann ich nicht als friedlich bezeichnen.
Angesichts dieser Herausforderung muß sich die SPD entscheiden, was sie sein will, eine Partei der Industriegesellschaft, eine Partei der wehrhaften Demokratie oder einer Partei der grün-roten Verweigerung. Solange Sie, meine Damen und Herren, das nicht entschieden haben, sind Sie nicht regierungsfähig, gleichgültig welchen Kanzlerkandidaten Sie aufstellen.
Auch die sogenannten Bewegungen wie Frauenbewegung, Friedensbewegung, ökologische Bewegung, gehören zu dem politischen Umfeld, in dem Regierung und Parlament Politik zu machen haben. Was mich an diesen Bewegungen stört, ist nicht nurder diffuse und historisch belastete Begriff „Bewegung".
So undeutlich, wie dieser Begriff ist, sind ja auch die Vorstellungen, die in diesen Bewegungen vertreten werden. Vielleicht ist dieses Diffuse, dieses allein vom Gefühl Getragene, dieses zutiefst Irrationale etwas typisch Germanisches. Wenn es das sein sollte, dann berührt es allerdings die schlechte Seite unseres Volkscharakters.
Natürlich sind die Anhänger dieser Bewegungen, von Ausnahmen abgesehen, keine bewußten Gegner unserer freiheitlichen Demokratie. Unter ihnen befinden sich gewiß ehrenwerte Menschen, die desinformiert und fehlgeleitet sind. Jeder von uns sollte sich fragen, ob und inwieweit er mitverantwortlich für diese Fehlentwicklungen ist, die übrigens sämtlich unter der Kanzlerschaft unseres Kollegen Schmidt ins Leben getreten sind. Sie, Herr Kollege Schmidt, haben sich in Ihrer Eigenschaft als Bundeskanzler für geistige Führung als nicht zuständig erklärt, obwohl doch politische Führung ein Teil der geistigen Führung ist.
Ich meine, daß die geistige Krise, die Orientierungslosigkeit in Teilen unseres Volkes, insbesondere in Teilen der Jugend, auch auf dieses falsche Amtsverständnis des früheren Bundeskanzlers zurückzuführen ist. Aus der Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers heute morgen ist hervorgegangen, daß er in dieser Hinsicht ein ganz anderes Amtsverständnis hat und überzeugt ist, daß es nicht nur finanzielle und ökonomische Defizite gibt, sondern auch geistige und moralische Defizite, die wir aufarbeiten müssen.
Wir, die CDU/CSU, denken nicht daran, die Anhänger dieser Bewegungen politisch aufzugeben. Wir werden um sie werben, aber wir werden es nicht durch Anpassung tun und erst recht nicht durch den Versuch, sie unmittelbar oder mittelbar an der Regierungsverantwortung zu beteiligen. Wir werden es tun durch Klarheit und durch unsere Bereitschaft, mit ihnen unbegrenzt zu sprechen und zu diskutieren.Meine Damen und Herren, nach der Beschreibung des politischen Umfeldes, in dem die neue Regierung ihren gewiß nicht leichten Weg zu gehen hat, möchte ich einige wenige Bemerkungen zu ihrem Programm machen,
das j a von dem Herrn Bundeskanzler selbst überzeugend dargelegt wurde und das von den zuständigen Ministern in der weiteren Debatte erläutert werden wird.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7251
Dr. DreggerEs ist ein Regierungsprogramm der Konzentration,
der Konzentration auf das Wesentliche und auf das in den Monaten bis zum 6. März Notwendige,
ein Programm der Konzentration, das allerdings die geistigen und moralischen Aspekte
nicht unerwähnt gelassen hat, sondern breit darauf eingegangen ist. Ich sehe also keinen Mangel in der Tatsache, daß sich dieses Programm, das ja nicht für vier Jahre, sondern für wenige Monate gemacht worden ist, auf das Wichtige und Wesentliche konzentriert, auf die Probleme, die jetzt, in den nächsten Wochen und Monaten, zu lösen sind. Zu diesem Programm möchte ich, noch mehr begrenzend, einige Feststellungen treffen.Erstens. Bis zum 6. März nächsten Jahres kann die neue Regierung die zerrütteten Staatsfinanzen nicht sanieren und die dramatisch steigende Massenarbeitslosigkeit nicht stoppen. Sie kann nur erste Notmaßnahmen ergreifen und erste Weichen in eine bessere Zukunft stellen, um in Ordnung zu bringen, was in vielen Jahren durch völlige Fehleinschätzung der Wirklichkeit, durch Unfähigkeit, auf Herausforderungen, die von außen an uns herankamen, zu reagieren, und durch ideologische Verblendung in Unordnung gebracht wurde. Das, was in vielen Jahren angerichtet worden ist, kann nicht in wenigen Monaten wieder alles in Ordnung gebracht werden.
Dazu ist mindestens eine ganze Legislaturperiode notwendig, die es ohne Neuwahlen nicht geben wird.Zweitens. Wenn der Karren so tief im Dreck steckt wie jetzt, fehlen ganz einfach die Ressourcen, um jetzt überall das zu tun, was theoretisch richtig wäre. Theoretisch richtig wäre es jetzt, die Steuern zu senken, um Anreize für Investitionen zu geben,
ferner die staatlichen Kreditaufnahmen zu verringern, um der Bundesbank einen größeren Spielraum für Zinssenkungen zu geben,
und schließlich die staatlichen und kommunalen Investitionsausgaben zu erhöhen, um damit die Ausfälle, die es in der Privatwirtschaft gibt, auszugleichen.
Zur Zeit geschieht auf allen drei Feldern das genaue Gegenteil. Es ist auch nicht möglich, das ruckartig auf allen Feldern zu ändern, weil die Kassen leer sind,
weil die Neuverschuldung dramatisch steigt, weil 1 allein die Zinslast der alten Schulden zur Aufnahme von neuen Schulden zwingt und weil der große Block der staatlichen Personalausgaben und der Transferleistungen uns jeden Handlungsspielraum genommen hat.An die Adresse der Wirtschaftstheoretiker geht daher mein Hinweis: Ratschläge, die von der nicht vorhandenen Situation eines ordentlich geführten Gemeinwesens ausgehen, das in guten Jahren für schlechte Jahre Reserven ansammelt, um mit ihnen Krisen bewältigen zu können,
Ratschläge, die von dieser Ausgangslage ausgehen, sind wertlos, weil unser Gemeinwesen in den letzten Jahren nicht ordentlich geführt worden ist.
Drittens. Die Regierung muß jetzt zwei Dinge gleichzeitig tun, die sich beinahe gegenseitig ausschließen. Sie muß die immer schneller werdende Fahrt in den finanziellen Abgrund bremsen, um sie schließlich stoppen zu können, und sie muß, was noch wichtiger ist, gleichzeitig der steigenden Massenarbeitslosigkeit entgegentreten, um sie ebenfalls zunächst zu bremsen, um sie dann zu stoppen und um schließlich zur Vollbeschäftigung zurückzuführen. Ohne Vollbeschäftigung gibt es keine durchgreifende Sanierung der Staatsfinanzen, und ohne erste Erfolge in der Sanierung der Staatsfinanzen gibt es keine Vollbeschäftigung. Das zeigt den schmalen Grat, auf dem wir uns bewegen müssen, und die schwere Erblast, die uns zwei SPD-Kanzler hinterlassen haben.Viertens. Arbeitsplätze fallen weg, wenn sie unrentabel werden. Das gilt unmittelbar für die Arbeitnehmer der Privatwirtschaft; es gilt schließlich auch für den öffentlichen Dienst, wenn dieser von der Volkswirtschaft nicht mehr finanziert werden kann. Die Schuldenaufnahmen, die seit Jahren notwendig sind, um laufende Ausgaben zu finanzieren, machen deutlich, daß diese Grenze inzwischen erreicht ist.Nach den Berichten der unabhängigen Deutschen Bundesbank aus den letzten Jahren haben die Rentabilität und die Eigenkapitalquote der deutschen Wirtschaft einen Tiefstand erreicht. Wer die Konkurswelle und mit ihr die Massenarbeitslosigkeit stoppen will, darf daher unsere Unternehmen nicht weiter belasten. Die Belastungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist von Ihnen wirklich getestet, ja über das erträgliche Maß hinaus ausgereizt worden.
Wer die Konkurswelle stoppen will, muß unsere Unternehmen zumindest mittelfristig entlasten von den überhöhten Zinskosten — was auch mit der Staatsverschuldung zusammenhängt —, von den überhöhten Steuern und Abgabenkosten und von den zu hoch werdenden Energiekosten, was auch mit der Energiepolitik zu tun hat.Er muß auch bereit sein, in der Lohnpolitik auf unsere gegenüber früher verminderte internatio-
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7252 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. Dreggernale Wettbewerbsfähigkeit Rücksicht zu nehmen. Wir sind leider nicht mehr die Besten; wir sind es gerade nicht in den Zukunftstechnologien, in der Mikroelektronik, in der Informations- und Kommunikationstechnik, und in anderen wichtigen Bereichen ebenfalls nicht. Die neue Regierung wird auf diesen Feldern viele ideologische Barrieren wegräumen können und wegräumen müssen. Die Ankündigungen sprechen dafür.Fünftens. Wenn sich die deutschen Arbeitnehmer zum ersten Male nach dem Kriege steigender Massenarbeitslosigkeit und sinkenden Reallöhnen ausgesetzt sehen, sollten sie sich bei denen bedanken, die den technischen Fortschritt in unserem Lande blockiert und die anderen Kosten in die Höhe getrieben haben.
Es gibt nur einen Weg zur Vollbeschäftigung: Rückkehr Deutschlands an die Spitze des technischen Fortschritts, was auch unsere Bildungs- und Forschungspolitik berührt. Wir müssen unsere zum Teil kaputtreformierten Universitäten wieder in den Stand versetzen, wissenschaftliche Höchstleistungen zu erbringen.
Wir müssen auch die Gesamtkosten in Grenzen halten, von denen die Lohnkosten ja nur ein Teil sind, damit wir auch den Preiswettbewerb gegenüber den fortgeschrittenen Entwicklungsländern und den sozialistischen Ländern mit ihrem niedrigen Lebensstandard bestehen können.Sechstens. Ich halte nichts von Einseitigkeiten bei der Frage, ob unsere Politik angebots- oder nachfrageorientiert sein sollte. Beides ist natürlich notwendig. Aber das Problem liegt heute nicht bei der Massenkaufkraft. Die Nachfrage, der Konsum ist wesentlich schneller gesunken als die Realeinkommen, die leider auch gesunken sind. Angstsparen hat Konsumfreude abgelöst. Das wird sich nur ändern, wenn das Vertrauen in die Stabilität und in die Zukunft der deutschen Wirtschaft zurückkehrt.Was Verbraucher verunsichert, verunsichert auch Investoren. In den 50er und 60er Jahren war Deutschland der beliebteste Industriestandort der Erde. Aus aller Welt kam Kapital nach Deutschland, wurde hier investiert. Hier wurden Arbeitsplätze geschaffen, hier entstand Vollbeschäftigung und schließlich Überbeschäftigung. Heute ist es so, daß ein Teil des ausländischen Kapitals hier gar nicht mehr ankommt, sondern in andere Länder geht, und daß deutsches Kapital verstärkt ins Ausland gegeben wird.Um das zu ändern, ist mehr notwendig als eine bessere Wirtschafts- und Finanzpolitik. Notwendig sind auch eine Rückkehr des Vertrauens in die innere und äußere Sicherheit unseres Landes sowie ein Meinungsklima, das nicht industriefeindlich, sondern bereit ist, die Notwendigkeiten der technischen Zivilisation, aus der wir nicht aussteigen können, zu respektieren.
Am schwierigsten ist es sicherlich, ökonomische und soziale Erfordernisse zur Deckung zu bringen. Wer volle Ausgewogenheit verlangt, muß neben den notwendigen Kürzungen erhebliche Steuer- und Abgabenerhöhungen verlangen; denn das erste trifft j a die weniger gut Gestellten und das zweite vor allem die sogenannten Besserverdienenden, zu denen wir j a auch die Mittelschichten einschließlich der Facharbeiter rechnen müssen.
Aber ökonomisch ist zu beachten, daß in einer Zeit sinkender Rentabilität und schrumpfenden Eigenkapitals, das die Zinsbelastung der deutschen Wirtschaft verschärft, eine Erhöhung auch noch der Abgabenbelastung für den Aufstieg aus der Krise Gift wäre. Deshalb werden laut Regierungserklärung die Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung vom 1. Juli 1983, anders als von der alten Bundesregierung vorgesehen — ich zitiere wörtlich —, „in demselben Gesetz Bürgern und Betrieben zurückgegeben".Denn eines ist doch klar: Wer wäre bereit, durch Investitionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, wenn die zu erwartende Rendite selbst im Falle des Gelingens weit geringer bliebe als der Zinssatz bei normalen Bankeinlagen?Siebtens. Die soziale Komponente müssen wir auch und vor allem dadurch wirksam werden lassen, daß wir die Sozialausgaben auf diejenigen konzentrieren, die ihrer bedürfen. Es ist doch schlimm, daß auf der einen Seite diese Ausgaben in den 70er Jahren vervierfacht wurden, auf der anderen Seite trotzdem nicht wenige an oder unter der Armutsgrenze in unserem Lande leben müssen. Das zu ändern ist eine herkulische Aufgabe für den neuen Arbeitsminister. Wir sollten ihn dabei alle unterstützen. Mit dem Totschlagsargument der „sozialen Demontage" ist den Betroffenen und der Gesamtheit jedenfalls nicht gedient.
Achtens. Ich will nicht verschweigen, daß uns manche jetzt vorgesehenen Maßnahmen wehtun, zum Teil sehr wehtun, und daß wir manchen Entscheidungen nur mit großem Widerwillen zustimmen. Das gilt für alles, was den Bereich der Familienpolitik berührt. Dieser Bereich, unser Herzensanliegen, war Hauptthema der Diskussion in der CDU/CSU-Fraktion am gestrigen Tage.Aber wir sind zu dem Ergebnis gekommen: Noch schlimmer als Eingriffe ins Familiengeld trifft Arbeitslosigkeit Hunderttausende von Familien. Nur Vollbeschäftigung gibt uns die finanzielle Kraft, unsere familienpolitischen Ziele zu verwirklichen.Bis dahin sind Eingriffe leider unvermeidlich. Wir wollen, daß diese Eingriffe, anders als es die alte Bundesregierung vorgesehen hatte, nicht alle, sondern nur die Besserverdienenden treffen. Die vor-Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7253Dr. Dreggergesehenen Kürzungen des Kindergelds wirken sich nur bei Familien mit einem Bruttoeinkommen von knapp 60 000 DM, bei drei und vier Kindern von ca. 70 000 DM bzw. 80 000 DM aus. Familien mit niedrigerem Einkommen — und das ist mehr als die Hälfte — werden ungekürzt ihre Familienleistungen wie in der Vergangenheit bekommen.
Wir wollen statt des bisherigen Kinderbetreuungsfreibetrags einen echten, wenn auch niedrigeren Kinderfreibetrag, den alle Familien bekommen, nicht nur diejenigen, die z. B. ein Kindermädchen unterhalten können, was ja die Voraussetzung dafür war, solche oder ähnliche Leistungen in Anspruch nehmen zu können.
Wir wollen schließlich das Ehegattensplitting nicht abschaffen oder einschränken, wie es die alte Regierung wollte, sondern zum 1. Januar 1984 ausbauen zum Familiensplitting,
damit in Zukunft die Zahl der Kinder, auf die es doch vor allem ankommt, berücksichtigt werden kann.
Ich möchte allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion versichern, daß wir an unseren familienpolitischen Zielen festhalten werden.
Wenn wir sie nicht sämtlich heute verwirklichen können, dann ist es nicht unsere Schuld, dann liegt es ja gewiß nicht an uns, die wir dieses Erbe übernehmen mußten.Meine Damen und Herren, die vor uns liegenden Aufgaben sind schwer. Aber wir haben jetzt eine Regierung, die sie lösen kann. Denn diese Regierung ist handlungsfähig, weil sich der Deutsche Bundestag als handlungsfähig erwiesen hat.
Diese Bundesregierung ist fähig, die Aufgabe in Angriff zu nehmen, der sich die SPD nicht stellen wollte.
Der SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz hat im „Vorwärts" noch am 12. August 1982 selbst eingeräumt: Die SPD und damit auch die Bundesregierung haben die Krise, in der wir heute stehen, mit verursacht.
Sie haben sich „zu spät auf die notwendigen sozial-und wirtschaftspolitischen Folgen dieser Wirtschaftskrise eingestellt".Es ist gewiß richtig, was Herr Glotz gesagt hat. Daß diese Wirtschaftskrise durch die falsche Politikder SPD ganz wesentlich mit verursacht worden ist, hat Herr Glotz verschwiegen. Professor Karl Schiller, der damals Ihrer Partei angehörte und ihr jetzt wieder angehört, hat es vor genau zehn Jahren in seinem Abschiedsbrief an den Bundeskanzler Brandt zum Ausdruck gebracht. Ich zitiere Karl Schiller aus seinem Brief, den er vor zehn Jahren an Bundeskanzler Brandt geschrieben hat:Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt: „nach uns die die Sintflut". Ich bin auch nicht bereit, dann womöglich noch von meinem Amtsnachfolger in einer neuen Regierung als Hauptschuldiger für eine große „Erblast" verantwortlich gemacht zu werden.So Karl Schiller in seinem Brief an den Bundeskanzler Brandt vor zehn Jahren.Jetzt, meine Damen und Herren,
ist die „Sintflut" der Massenarbeitslosigkeit da. Die „Erblast" einer astronomischen Staatsverschuldung droht uns zu erdrücken. Wozu Karl Schiller und sein Vorgänger Alex Möller als Bundesfinanzminister nicht bereit waren — der dritte Bundesfinanzminister der SPD, Herr Kollege Schmidt, war dazu bereit. Aus dem Amt des Bundesfinanzministers wechselte er in das Amt des Bundeskanzlers. In seiner Amtszeit als Bundesfinanzminister und Bundeskanzler wurde die Bundesrepublik, die 1969 noch nahezu schuldenfrei war — die Netto-Neuverschuldung aus 20 Aufbaujahren betrug ganze 14 Milliarden DM —, zu einem Land mit galoppierender Staatsverschuldung. Es gibt keinen Politiker in Deutschland, der so sehr persönliche Verantwortung für das Finanzdesaster mit allen seinen Folgen trägt wie der soeben aus dem Amt geschiedene Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Im Grunde, Herr Kollege Schmidt, können Sie dem Schicksal dankbar sein, daß Sie rechtzeitig aus dem Amt scheiden konnten und daß wir es auf uns genommen haben, mit Ihrer „Erblast", vor der Karl Schiller vor zehn Jahren gewarnt hat, fertig zu werden.Zweitens. Diese Bundesregierung ist aber nicht nur handlungsfähig, weil sich der Bundestag durch Bildung einer neuen Mehrheit als handlungsfähig erwiesen hat, sie ist vor allem handlungsfähig, weil sie der Unterstützung durch die gesamte Unionsfraktion und die Mehrheit der FDP-Fraktion sicher sein kann.Drittens. Diese Bundesregierung ist auch handlungsfähig, weil die stärkste Fraktion wieder den Bundeskanzler stellt und wir damit zur demokratischen Normalität zurückgekehrt sind.
Viertens. Diese Bundesregierung ist handlungsfähig, weil ihr Programm nicht auf geschönten Zah-
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7254 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. Dreggerlen beruht, sondern wahrhaftig ist, weil es nicht utopische, sondern realistische Ziele ansteuert,
weil es sachgerecht ist. Der Sachverständigenrat hat soeben in dem noch von der alten Regierung in Auftrag gegebenen Sondergutachten erklärt, daß die Gesamtrichtung unserer neuen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik richtig ist.
Diese Bundesregierung ist schließlich handlungsfähig, weil sie sich auf einen tatkräftigen Bundeskanzler
und eine erstklassige Ministermannschaft stützen kann.
Diese Regierung verdient den Vertrauensvorschuß, den sie für ihre schwere Aufgabe benötigt. Ich rufe allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu: Geben Sie dieser Regierung eine Chance!
Den Investoren rufe ich zu: Warten Sie nicht auf den 6. März nächsten Jahres! Wenn diese Regierung am 6. März scheitern würde, wäre eine grünrote Verweigerungskoalition die Folge, und dann wäre es ohnehin mit dem wirtschaftlichen Aufschwung auf Dauer zu Ende.
Das darf nicht sein. Hamburg und Hessen beweisen das doch.
Unser Land braucht einen neuen Anfang, unsere Jugend braucht eine sichere, freie und selbstgestaltete Zukunft.
Deshalb bitte ich alle! Packen Sie mit uns an! Lassen Sie uns gemeinsam neu beginnen!
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Koalition der Mitte aus FDP, CDU und CSU
— man muß nur weit genug links stehen, dann erscheint der Rest der Welt rechts —,
stellt sich ihrer Verantwortung in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und in einer Zeit unverminderter internationaler Spannungen. Wir wollen die Kontinuität, die Berechenbarkeit und die Klarheit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik gewährleisten.
Wir wollen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Erneuerung unseres Landes bewirken und damit auch die Kräfte für eine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit freisetzen. Wir wollen unseren freiheitlichen Rechtsstaat sichern und ausbauen.Seit dem 17. September sind schlimme Worte gefallen:
Von „finsteren Machenschaften" und vom „Ausharken" demokratischer Parteien war die Rede. Hier ist die Sprache verräterisch, meine Damen und Herren.
Es wird der Versuch gemacht, den Wechsel innerhalb einer Legislaturperiode als etwas Undemokratisches, ja Illegitimes erscheinen zu lassen.
Aber war es nicht die Sozialdemokratische Partei, die 1966 im Bund als erste einen solchen Wechsel innerhalb einer Legislaturperiode möglich machte, ohne vorher den Wähler zu befragen, dem sie doch vorher für diese Legislaturperiode einen sozialdemokratischen Bundeskanzler versprochen hat?
War es nicht die SPD, die 1966 zusammen mit der CDU/CSU den Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger wählte und die Große Koalition bildete?Wir haben damals als Opposition diese Regierung hart bekämpft. Aber die Legitimität der Regierungsbildung haben wir niemals bestritten. Sie aber haben damals so wenig von Neuwahlen gesprochen wie 1956, als ähnliches in Nordrhein-Westfalen geschehen war. Wahlen wurden weder 1956 noch 1966 vorgezogen.
Wir aber werden am 6. März des nächsten Jahres Neuwahlen durchführen und uns dem Urteil der Wähler stellen.
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7255Bundesminister GenscherAn der Herbeiführung dieser Neuwahlen mitzuwirken, wie wir sie für den 6. März 1983 wollen, sollte jedes Mitglied des Deutschen Bundestages als seine Pflicht betrachten.Der frühere Bundeskanzler hat nach Beendigung der Regierungskoalition aus SPD und FDP am 17. September 1982 bis zum 1. Oktober, also dem Tag, an dem ein neuer Bundeskanzler gewählt wurde, die Möglichkeiten, die das Grundgesetz gibt, Neuwahlen in Gang zu setzen, nicht genutzt.
Er hat nicht die Vertrauensfrage gestellt, und er ist nicht zurückgetreten, obwohl er doch Bundeskanzler einer Minderheitsregierung war. Die Verfassung will aber keine Minderheitsregierung; denn sie zieht die Lehren aus der Weimarer Zeit.
Diese Verfassung will aber auch nicht Vereinbarungen, durch die Fraktionen auf das verfassungsmäßige Recht zur Mehrheitsbildung verzichten, auch wenn sie eine Mehrheit bilden können, nur um dem amtierenden Regierungschef die Führung des Wahlkampfes als Bundeskanzler zu ermöglichen.
Bevor wir am 6. März des nächsten Jahres diese Neuwahlen abhalten, wollen wir das Haus in Ordnung bringen,
d. h. den Bundeshaushalt und die Spargesetze verabschieden. Wir laufen unserer Verantwortung in der Sache nicht davon. Auch das ist unser Wählerauftrag.
Die liberale Partei ist eben mehr als ein Kanzlerwahlverein.
Die Zusammenarbeit endet dort, wo einer der beiden Koalitionspartner nicht mehr in der Lage ist, das gemeinsame Programm durchzuführen.Zu einem Thema, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie in den letzten Wochen doch beharrlich geschwiegen, nämlich zu der Frage, warum Sie sich seit Oktober 1980 Schritt für Schritt — die einen mehr, die anderen weniger — von der Politik der Bundesregierung aus SPD und FDP entfernt haben.
In Wahrheit kam doch die Auflösung der Koalition am 17. September nur der offenen Aufkündigung der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung durch die SPD zuvor.
In der Aussprache des Deutschen Bundestages am 9. September 1982 habe ich erklärt: Der Haushalt 1983 wird zu einer Bewährungsprobe unsererRegierungskoalition. Sie wußten, daß Sie diese Bewährungsprobe nicht bestehen würden.
Oder stimmt es etwa nicht, daß in der Fraktionssitzung der SPD am 30. Juni 1982 der damalige Bundeskanzler erklärt hat — ich zitiere wörtlich —:Einige haben bemerkt, daß in diesem Paket nicht genug getan werde zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich sage denen: Dies ist leider wahr. Wer mehr tun will, muß in die Geld- und Sozialleistungen tiefer hineinschneiden, als es in dem Kompromißpaket von mir vorgeschlagen wurde. Von den beiden Möglichkeiten scheitert die eine,— so sagte der damalige Bundeskanzler —es nämlich durch höhere Kreditaufnahmen zu finanzieren, an mir. Ich kann das nicht verantworten. Die zweite Möglichkeit— sagte er an Ihre Adresse, an die der SPD-Fraktion —scheitert an euch. Wer mehr für die beschäftigungswirksamen Ausgaben des Staates tun will, muß tiefer, noch viel tiefer als hier in die Sozialleistungen reinschneiden.Meine Damen und Herren, „scheitert an euch", das ist die Wahrheit über das Scheitern der alten Regierung.
Und Scheitern bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, da. kann, das darf sich keine Bundesregierung leisten.
Es war die Blockade des wirtschaftlich Notwendigen, die Blockade des in einer Marktwirtschaft dringend Erforderlichen durch die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Münchener Parteitages der SPD.
Der Münchener Parteitag hat die Sozialdemokratische Partei endgültig eingeholt.
— Wenn ich sage, daß Sie die Beschlüsse des Münchener Parteitages vertreten, können Sie doch nicht sagen, daß das eine Lüge sei. Wissen Sie eigentlich, was Sie da über sich selbst sagen?
Meine Damen und Herren von der SPD, das war, so lange Sie Regierungspartei waren, nicht nur Ihr eigenes Problem, es war auch nicht nur ein Problem Ihres damaligen Koalitionspartners, der FDP. Die immer stärker werdende Kluft zwischen Regierungspolitik und den Bestrebungen der SPD hat
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7256 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundesminister Genscherdas Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der damaligen Regierung untergraben. Und ohne Vertrauen gibt es keine Investitionen.
Der Münchener Parteitag war ein politisches, ein ökonomisches und ein psychologisches Signal, aber ein Signal gegen die Wiederbelebung unserer Wirtschaft.
Selbst die Beschlüsse der Bundesregierung vom 1. Juli wurden doch den ganzen Sommer über von der SPD in Frage gestellt.
Zusätzliche Sparmaßnahmen erschienen nicht mehr durchsetzbar oder, um es zu sagen,
wie es in der eben zitierten Rede gesagt wurde: „scheitern an euch".Und diejenigen, die 24 Stunden lang gemeint hatten, das, was jetzt zwischen FDP und CDU/CSU wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch vereinbart wurde, hätte man auch mit der SPD erreichen können,
wurden durch die brüske Ablehnung der Vorschläge schnell eines Besseren belehrt.
— Nein, ich möchte meine Rede ungestört zu Ende führen können.
Es geht nicht, wie Mitglieder der damals noch amtierenden Bundesregierung meinten, um ein Zurück zur „Ellenbogen-Gesellschaft". Aber es geht darum, daß Verantwortung an die Stelle von Anspruchsdenken tritt. Es geht darum, die Verantwortungsgesellschaft an Stelle der Anspruchsgesellschaft zu schaffen.
Die Legende um den Wechsel in Bonn, kunstvoll gewoben, wird mit jeder Entscheidung zur Sanierung des Bundeshaushalts, bei der Sie sich der Mitwirkung versagen, obwohl Sie doch Mitverantwortung tragen, kürzere Beine bekommen.
Die Eröffnungsbilanz der neuen Bundesregierung, die der Bundeskanzler heute vorgetragen hat, und das Gutachten der Sachverständigen
beschreiben die Lage, in der wir uns befinden. Das erlaubt niemandem eine Ausflucht. Ein Sprecher der SPD hat gemeint, das Sachverständigengutachten sei eine schallende Ohrfeige für die neue Mehrheit. Nein, meine Damen und Herren, dieses Sachverständigengutachten ist eine schallende Ohrfeige für diejenigen, die nicht erkennen wollen, daß wir das Steuer herumreißen müssen.
In Ihren Versammlungen draußen sagen Sie, unsere Politik sei eine Politik des Totsparens. Nein, meine Kollegen von der SPD,
es ist nicht eine Politik des Totsparens. Es geht um das Gesundsparen in unserer Gesellschaft.
Der frühere Bundeskanzler hat diese Entwicklung seiner Partei wohl vorausgeahnt und vorausgesehen. So kam es, daß er Bedenken dagegen hatte, in die Regierungserklärung von 1980 ein Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft aufzunehmen.
Dafür wehrte er sich auf dem Münchener Parteitag aber nicht gegen die wirtschafts- und sozialpolitischen Beschlüsse, die doch seiner Meinung nicht entsprochen haben können.
Er wußte, schon der Versuch, sich zu wehren, wäre aussichtslos gewesen.
Er wäre so aussichtlos gewesen wie der Versuch, in der Sozialdemokratischen Partei tragende Elemente unserer Sicherheitspolitik noch durchzusetzen, so wie das in der Bundesregierung beschlossen und im Bündnis vereinbart war.
Das ist die Wahrheit über das Scheitern der Regierungskoalition aus FDP und SPD.
Das ist die Wahrheit — nicht geheime Koalitionsverhandlungen, die es nicht gegeben hat.
Am Ende der Regierung aus SPD und FDP stand die Verabschiedung der SPD aus wichtigen Teilen der gemeinsamen Politik.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7257
Herr Bundesminister, einen Moment, bitte.
Meine Damen und Herren, ich muß dafür sorgen, daß der Redner sich auch wirklich verständlich machen kann. Ich bitte Sie herzlich, sich mit den Zwischenrufen einigermaßen zurückzuhalten.
Meine Damen und Herren von der SPD, weder an dieser Stelle noch in Zukunft werde ich irgend jemandem von Ihnen persönlich angreifen und herabsetzen. Wir haben in den letzten Sitzungen eine Menge anhören müssen, aber wir haben Sie niemals daran gehindert, hier Ihre Auffassung zum Ausdruck zu bringen, auch dann nicht, wenn wir sie als verletzend empfunden haben. Wie wollen Sie eigentlich von der Liberalität unseres Staatswesens sprechen, wenn Sie hier in dieser Weise reagieren?
Ein Tagebuch, das in diesen Tagen auf dem Markt erschienen ist, verrät in Wort und Stil einen Geist, der es selbst einstuft. Der als Autor Genannte gehört dem Parlament nicht an. Die Auseinandersetzung hat deshalb nicht hier mit ihm zu erfolgen. In einer Beziehung hat diese Schrift aber doch dokumentarischen Wert. Sicher nicht beabsichtigt, verrät sie: Das ist kein Tagebuch über das Ringen um den Erhalt einer durch ihre sachlichen Widersprüche bedrohten Regierung, nein, das ist ein Drehbuch der kalt kalkulierten Schuldzuweisung.
Es ist ein Drehbuch der kaltschnäuzig geplanten persönlichen Verunglimpfung ihres damaligen Koalitionspartners.
Es ist ein Drehbuch des Bemühens, das Ende der Regierung in einer für den damaligen Bundeskanzler möglichst günstigen Weise herbeizuführen. Nicht überall arbeitet der Autor mit Unterstellung und Herabsetzung. Von einem früheren Kabinettskollegen sagt er, für ihn scheine klar zu sein, daß die Schuld überwiegend bei linken Genossen liege. An anderer Stelle — seine Feststellung ist unwiderlegbar — sagt er, daß es nicht genug sei, der FDP Vorwürfe zu machen, sondern daß auch die Entwicklung im eigenen Verein tief bedrückend sei. Das wird deutlich.
Nicht die FDP hat den früheren Bundeskanzler verlassen, sondern seine eigene Partei. Er ist ihr dann auch zögernd gefolgt.
Lafontaine und Gaus etwa sind doch nicht Mitglieder der Freien Demokratischen Partei, das sind Sozialdemokraten.
Das ganze Volk war seit 1980 Zeuge dieser Entwicklung. Am Abend des 26. September 1982 hat Herr Kollege Brandt diese Entwicklung besiegelt. Die Hinwendung der SPD zu Grünen und Alternativen mußte die Verabschiedung aus der Zusammenarbeit mit der FDP sein. So wurde eigentlich am 26. September nur erklärt, was sich seit langem angebahnt hatte. Diese Hinwendung der SPD ist ein geschichtlicher Einschnitt in die deutsche Nachkriegsdemokratie und nicht der 17. September, an dem aus dieser Hinwendung nur die Konsequenz gezogen wurde.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es ist das souveräne Recht jeder Partei, ihren eigenen Weg zu suchen, ihn zu ändern und zu früheren Positionen zurückzukehren.
Wenn sie sich aber dann dazu entschieden hat, dann unternehmen Sie bitte nicht den Versuch, einer anderen Partei und ihren Repräsentanten die Verantwortung dafür aufzuladen.
Der frühere Bundeskanzler hat oft — ich glaube, mit Zustimmung von allen Seiten —
von der Notwendigkeit gesprochen, die Fähigkeit zum Frieden nach innen und außen zu bewahren. In der Tat, hier müssen wir uns alle bewähren. Aber das, was nach dem 17. September 1982 in Hessen und dann in Bayern in Gang gesetzt wurde,
bis hin zur Störung von Versammlungen der FDP durch sozialdemokratische Funktionäre und Abgeordnete, war kein Beitrag zum inneren Frieden.
Und auch Herr Ehmke sollte noch einmal nachdenken, ob seine Rede das heute gewesen ist. Sie haben ganz ohne Zweifel mit dieser Kampagne einen Augenblickserfolg erzielt.
Sie werden sich aber fragen müssen, ob das alles aufwiegt, was zerschlagen und was an Wunden geschlagen wurde. Die demokratischen Parteien werden auch morgen aufeinander angewiesen sein.
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7258 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundesminister GenscherWir alle werden unsere gemeinsame Verantwortung nur erfüllen können, wenn wir in Achtung und Respekt miteinander umgehen.
Wir dürfen vor allen Dingen niemals vergessen, daß Diffamierung die sachliche Auseinandersetzung nicht ersetzen, wohl aber das gemeinsame Fundament beschädigen kann.
Wir Freien Demokraten werden nicht mit gleicher Münze heimzahlen. Wir werden auch den Partner von gestern nicht beschimpfen. Ich möchte aber keinen Zweifel lassen: Auch wenn uns nicht die Möglichkeiten groß angelegter Propagandaaktionen wie Ihnen als einer sehr viel größeren Partei zur Verfügung stehen, beugen werden wir uns deshalb nicht!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Parteien der Koalition der Mitte
haben schon zweimal, von 1949 bis 1956 und von 1961 bis 1966, eine Bundesregierung gebildet. In diese Zeit gemeinsamer Verantwortung fallen wichtige Grundentscheidungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zusammen mit der CDU/CSU haben wir die soziale Marktwirtschaft begründet und politisch durchgesetzt. Diese Wirtschaftsordnung ist es, die die Kräfte für den Wiederaufbau unseres Landes freisetzte. Diese Wirtschaftsordnung ist es, die es möglich macht, daß wir in einer weltweiten Wirtschaftskrise auch heute noch, gemessen an anderen, eine günstige Ausgangsposition zur Überwindung der Probleme haben.
Wir haben das Vertrauen und die Zuversicht, daß die Bürger unseres Landes entschlossen sind, in dieser Wirtschaftsordnung unter einer kraftvollen politischen Führung mit dem Willen zur Leistung, mit der Bereitschaft zur Solidarität und zum Opfer die Spitzenposition unseres Landes zu sichern und dort, wo sie verlorengegangen ist, wiederherzustellen.
Wir appellieren an jeden unserer Mitbürger, an dieser Gemeinschaftsleistung mitzuwirken. 2 Millionen Arbeitslose sind eine Herausforderung für uns alle: für unsere Gesellschaftsordnung wie für unseren sozialen Rechtsstaat. Die soziale Marktwirtschaft ist für uns die Grundlage zur Überwindung der wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit. Wir handeln dabei in dem Bewußtsein, daß Freiheit und Rechte mehr sind als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat.
Sie müssen als soziale Chancen in der Wirklichkeit der Gesellschaft begriffen werden können. Dazu gehört, daß derjenige, der arbeiten kann, auch die Chance der Selbstverwirklichung durch Arbeit haben muß.Wir stehen in der Verantwortung des Freiburger Programms,
das sich zum Vorrang der Person vor der Institution bekennt,
das Partei nimmt für Menschenwürde durch Selbstbestimmung, das den Menschen in die Mitte von Staat und Recht, von Wirtschaft und Gesellschaft stellt.
Deshalb ist für uns die Selbstverwirklichung des Menschen durch Arbeit eine urliberale Forderung und Aufgabe. Deshalb ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit für uns das zentrale Ziel deutscher Innenpolitik.
Deshalb ist Arbeitslosigkeit für uns nicht eine Frage der großen Zahl allein, sondern wir beurteilen sie in ihrer Wirkung auf jeden einzelnen Menschen.
Meine Damen und Herren, zusammen mit den Koalitionsparteien CDU und CSU haben wir auch die Mitgliedschaft im westlichen Bündnis durchgesetz,
dem wir heute noch Frieden und Freiheit verdanken und in dem wir die Grundlage für die Vertragspolitik, für die Politik der Entspannung und des Ausgleichs gelegt haben, die wir zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei durchsetzten. In deren Kontinuität steht die neue Bundesregierung, und wir werden sie garantieren.Als große Herausforderung steht für uns alle aber immer noch die ungelöste Aufgabe einer wirksamen Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Die beiden Grundentscheidungen sind freiheitliche Wertentscheidungen für die soziale Marktwirtschaft und für das Bündnis von demokratischen Staaten zur Bewahrung von Frieden und Freiheit. An dieses gemeinsame Wirken können wir jetzt anknüpfen.
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7259Bundesminister GenscherMeine Damen und Herren, die Regierungsparteien der Koalition, die in zwei Abschnitten in der Vergangenheit insgesamt zwölf Jahre miteinander regiert haben, standen sich zuletzt 16 Jahre — zeitweise wir, länger die CDU/CSU — als Opposition und Regierung gegenüber. Wir sind uns bewußt, daß unsere Identität als selbständige und unabhängige Parteien, daß unsere Grundsatzpositionen als liberale Partei und als Christlich-Demokratische und Christlich-Soziale Union, daß aber auch diese Zeit, in der wir uns im Parlament auf verschiedenen Seiten gegenüberstanden, Gegensätze geschaffen haben, Unterschiede deutlicher gemacht haben und zuweilen wohl auch Gegnerschaft bewirkt haben. Das wußten wir, als wir uns zu dieser Koalition zusammenschlossen. Wir sind uns auch bewußt, daß wir, wo immer wir standen, stets im Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung für unser Land und für unser Volk gehandelt haben.
Wir sind überzeugt: Die Beachtung der Grundsätze einer Zusammenarbeit in der Koalition, wie ich sie in meiner Rede am 9. September 1982 dargelegt habe, wird uns in die Lage versetzen, die vor uns stehenden Aufgaben zu meistern.Dazu gehört auch, daß wir in der Lage sind,
jene Politik durchzusetzen, die ich am 20. August 1981 als eine Wende im Denken und Handeln forderte, damals gewollt als eine Wende in der Politik der damaligen Regierung, in der damaligen Koalition.
Ein Jahr quälender Entscheidungsprozesse hat gezeigt: Es war in der alten Koalition nicht mehr möglich.Jetzt müssen wir diese Wende im Denken und Handeln durchsetzen als eine Politik der Erneuerung in der Koalition der Mitte. Da haben wir nichts abzustreichen von dem, was wir in der Vergangenheit entschieden haben. Da nehmen wir nichts aus unserer Verantwortung aus.
Wir haben in unserem Wahlprogramm gesagt:
Wir garantieren, daß die getroffenen Entscheidungen überprüft und korrigiert werden, wenn sie sich als falsch oder unwirksam erwiesen haben. Nur wer sich diese Fähigkeit bewahrt hat, wird in der Lage sein, in einer veränderten Welt seine Verantwortung zu erfüllen.
In der Öffentlichkeit und auch in meiner Partei ist die Frage aufgeworfen worden: Was wird mit der Rechts- und was wird mit der Innenpolitik?
In der Tat: Eine freiheitliche Rechts- und Innenpolitik ist für Liberale ein unverzichtbarer Teil ihrer liberalen Identität.
Daß in diesem Bereich die Konturen der Parteien der Koalition der Mitte besonders deutlich sind, wird niemanden überraschen.
Aber sind sie deshalb auch unüberbrückbar? Thomas Dehler hat das Gegenteil unter Beweis gestellt. Er, der große liberale Justizminister, hat in einer Koalition mit der CDU/CSU die grundlegenden rechtspolitischen Weichenstellungen der deutschen Nachkriegsdemokratie eingeleitet, und er hat später in wichtigen rechtspolitischen Fragen, etwa in der Frage der Verjährung, im Gegensatz zu großen Teilen der CDU/CSU und auch der SPD gestanden. Das ist keiner Partei und schon gar nicht unserer Demokratie schlecht bekommen.Es ist ja auch keineswegs so, daß rechts- und innenpolitisch die Gegensätze zwischen SPD und FDP gering gewesen seien. Die Koalitionsverhandlungen 1980 waren doch gerade in diesem Bereich mit am schwierigsten, und hier war die Regierungserklärung auch am unverbindlichsten.Die innenpolitische Konzentration der neuen Koalition in den wenigen Monaten, die uns bis zur Bundestagswahl zur Verfügung stehen, auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erklärt, daß wir manches vorbereiten, aber erst in der nächsten Wahlperiode in Angriff nehmen. Aber wir sind schon heute davon überzeugt: So wie unser Gegensatz zur Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition nicht den Weg für wichtige innen- und rechtspolitische Entscheidungen in der Koalition mit der SPD verbaut hat, so werden wir auch in dieser Koalition die Rechts- und Innenpolitik nach der Feststellung der Regierungserklärung gestalten, daß wir das Recht nicht als Herrschaftsinstrument gesellschaftlicher Klassen,
sondern als Verständigung auf der Grundlage gemeinsamer Werte verstehen.
Wir, FDP und CDU/CSU, finden uns in dem gemeinsamen Ziel, wie es in der Regierungserklärung heißt: Wir wollen unseren freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat ausbauen.
Das sagt die Regierungserklärung, und das bestimmt unser Handeln in der Koalition.
Was nun Ihre zahlreichen Zwischenrufe in bezug auf den Herrn Kollegen Dr. Zimmermann angeht: Meine Damen und Herren, Herr Kollege Dr. Zimmermann hat als Bundesminister des Innern denselben Anspruch auf eine faire Chance wie jeder
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7260 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundesminister GenscherMinister, der neu in sein Amt kommt. Sie sollten doch endlich damit aufhören, die persönliche Verketzerung zum Schlaginstrument der politischen Auseinandersetzung zu machen.
Nach dem, was heute hier in Intoleranz dazu gesagt worden ist, frage ich mich wirklich, woher Sie den Mut nehmen, sich als „Heimstatt Liberaler" anzubieten.
Meine Damen und Herren, wir halten daran fest, wie es unser Wahlprogramm sagt, daß liberales Verständnis für Demokratie vom selbständigen Handeln des einzelnen ausgeht. Liberale Staatspolitik sieht in der Garantie des Rechtsstaates das Herzstück jeder demokratischen Grundordnung. Sicherheit und Freiheit des Bürgers müssen im demokratischen Rechtsstaat keine Gegensätze sein. Im Zweifel entscheiden sich die Liberalen für die Freiheit.Aus diesem Freiheitsverständnis heraus müssen wir auch an die Lösung der schwerwiegenden Ausländerprobleme herangehen. Es darf nicht zu einer Belastung unserer gesellschaftlichen Stabilität und zu einer Quelle zunehmender und verbreiteter Ausländerfeindlichkeit anwachsen. Der Forderung nach Integration müssen auf allen staatlichen Ebenen Taten folgen, und das heißt, konkrete Möglichkeiten und Maßnahmen der Integration. Eine zwangsweise Rückführung kommt für uns nicht in Betracht.
Wir dürfen aber Rückkehrwilligkeit nicht dadurch behindern, daß wir erworbene Ansprüche an den Aufenthalt bei uns binden. Die Anreize zur Rückkehr, von denen die Bundesregierung spricht, wollen genau dieses Problem lösen. Sie wollen damit zugleich die Eingliederung in der Heimat erleichtern. Das Asylrecht darf nicht durch Mißbrauch ins Zwielicht gebracht werden. Das Asylrecht ist aus geschichtlicher Verantwortung und freiheitlicher und humaner Gesinnung ein unverzichtbarer Bestandteil unserer freiheitlichen Ordnung. Eine Verwaltungs- und auch eine materielle Versorgungspraxis, die zu Mißbrauch des Asylrechts geradezu einlädt, bringt aber dieses unantastbare Grundrecht in Mißkredit. Das müssen wir abstellen.
Im Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit müssen sich die freiheitliche Gesinnung, die Achtung vor der Menschenwürde, das Gebot der Nächstenliebe bewähren. Jeder von uns hat die Aufgabe, pauschalierenden Herabsetzungen entgegenzuwirken. „Die Ausländer", „die Asylanten",
das ist ein Sprachgebrauch, der sich mit unserer Auffassung von der Freiheit des einzelnen nicht in Einklang bringen läßt.Frau Präsident, meine Damen und Herren, das Leitwort für die Außenpolitik der neuen Bundesregierung heißt Kontinuität, d. h. konsequente und aktive Weiterentwicklung unserer Bündnis- und Europapolitik, unserer Sicherheits- und Friedenspolitik, es heißt konsequente und beharrliche Weiterführung der Ost- und Deutschlandpolitik und Fortsetzung einer realistischen Politik der Entspannung, des Ausgleichs und des Dialogs, es heißt schließlich Fortsetzung einer Politik gleichberechtigter Partnerschaft mit den Staaten der Dritten Welt.Die Kontinuität unserer Außenpolitik trägt nicht zuletzt unserer geopolitischen Lage an der Schnittlinie zwischen Ost und West im Herzen Europas Rechnung. Sie trägt der Teilung unseres Landes Rechnung, und sie beruht auf dem festen, in unserer Verfassung festgeschriebenen Willen, diese Teilung nicht als endgültig hinzunehmen, sondern innerhalb einer europäischen Friedensordnung zu überwinden.Die Kontinuität unserer Außenpolitik ist nicht den Schwankungen der Zeit unterworfen. Sie ist vielmehr eine Konstante, mit der unsere Freunde, Partner und Nachbarn rechnen können. Sie steht für Verläßlichkeit und Berechenbarkeit, für Beständigkeit und Solidität. Gerade für ein Land an der Schnittlinie von Ost und West sind solche Eigenschaften von lebenserhaltender Bedeutung.Auf der Grundlage dieser Kontinuität sieht die neue Bundesregierung ihre erste außenpolitische Priorität in der Stärkung des Bündnisses. Sie wird die Intensivierung der Zusammenarbeit mit den USA neben der europäischen Einigungspolitik mit besonderem Nachdruck betreiben.Der Weg deutscher Außenpolitik begann 1949 mit der Grundentscheidung für die Zugehörigkeit zum Westen. Es war damals noch nicht die Entscheidung für eine Allianz, es war — viel grundlegender — die Entscheidung für eine liberale westliche Demokratie. Es war mit Herz und Verstand die feste und unwiderrufliche Grundentscheidung für das Wertsystem der freiheitlichen Demokratie. Diese Wertentscheidung ist im Grundgesetz unwiderruflich festgeschrieben. Sie ist in unserem Volk tief verwurzelt. Hieraus gewinnt unsere Demokratie ihre Stabilität. Sie verdient das Vertrauen, das die anderen Demokratien in uns setzen.Aus der Grundentscheidung für den Westen ergab sich folgerichtig der Eintritt in das nordatlantische Bündnis und in die Europäische Gemeinschaft. Daraus beziehen wir die Stärke für unsere Außenpolitik; nur auf diesem Fundament ist sie handlungs- und lebensfähig.Meine Damen und Herren, es wird viel über Äquidistanz geredet, über gleichen Abstand von den USA und der Sowjetunion.
In der Tat, es gibt zwei Supermächte, aber verbündet sind wir mit den USA, nicht weil die USA stärker wären, sondern weil die Vereinigten Staaten eine Demokratie sind, wie wir es sind.
Der Kollege Willy Brandt hat am 10. Oktober 1982 im Fernsehen erklärt:
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7261
Bundesminister GenscherBei der Außen- und Friedenspolitik rate ich meinen Freunden aber, die Regierung nicht mit Kritik zu überziehen, sondern ihre Arbeit aufgeschlossen-kritisch zu begleiten. Ich sage das aus nationaler Mitverantwortung.
In der Tat, das war ein gutes Wort. Es muß dann aber auch endgültig Schluß sein mit dem Anspruch, Friedenspolitik parteipolitisch zu monopolisieren.
Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland war vom ersten Tage an Friedenspolitik, und sie wird es bleiben. Wenn der Kollege Glotz sagt, daß der — wie er es nennt — überproportionale Einfluß der Bundesrepublik Deutschland verspielt werde unter der Führung eines traditionellen, untergründig vom Reflex des Antikommunismus geprägten Sicherheitsdenkens, hat er wohl den Ratschlag seines Parteivorsitzenden nicht gehört, bestimmt aber nicht beachtet.Meine Damen und Herren, wir würden der europäischen Sicherheit nicht dienen, wenn wir glaubten, daß Äquidistanz, daß gleicher Abstand zu den USA und der Sowjetunion uns größeren Einfluß verschafft. Das Gegenteil ist der Fall! Unser Gewicht in der westlichen Allianz, unsere Stellung in der Europäischen Gemeinschaft, unser Verhältnis zu den USA, das alles bestimmt unser Gewicht auch gegenüber der Sowjetunion.Deshalb gilt: Unsere Ostpolitik, unsere Politik der Entspannung und des Dialogs ist nur möglich und wird immer nur möglich sein auf der gesicherten Grundlage der Westintegration. Für uns in Westeuropa hat das atlantische Bündnis den Frieden seit einem Dritteljahrhundert bewahrt. Als Instrument der Friedenssicherung wird es von einer überwältigenden Mehrheit unseres Volkes getragen. Der Zusammenschluß freier und gleichberechtigter Völker bleibt das unentbehrliche Instrument kollektiver Selbstverteidigung gegen Bedrohung und Aggression. Auch heute gilt: Nur gemeinsam können Nordamerika und Westeuropa ihre Freiheit und Sicherheit wirksam garantieren. Für die Bundesregierung bleibt die Allianz das Fundament ihrer auf Sicherung des Friedens in Freiheit gerichteten Politik.Zu einem Bündnis gleichberechtigter, freier und demokratischer Staaten, zu einem Bündnis selbstbewußter Demokratien gehört als Lebenselement die freie Diskussion. Das Ergebnis solcher Diskussion wird heute wie bisher eine besser überlegte, eine tragfähige Politik sein. Zwei Voraussetzungen gehören dazu. Erstens. Wir müssen bereit sein, aufeinander zu hören und mit dem Willen zum Kompromiß aufeinander zuzugehen. Zweitens. Wir müssen uns stets der gemeinsamen Grundlage unserer Wert- und Sicherheitsgemeinschaft bewußt bleiben. Diese gemeinsame Grundlage steht nicht zur Disposition. Sie darf auch durch eine harte und offene Diskussion nicht gefährdet werden.Ein wesentliches Ergebnis der bisherigen Diskussion ist die Einsicht, daß der Westen in seinen Beziehungen zum Osten eine Gesamtstrategie entwikkeln muß. Diese Gesamtstrategie muß politische,wirtschaftliche und militärische Gesichtspunkte einbeziehen. In wesentlichen Einzelbereichen haben wir in den großen Konferenzen der letzten Monate Einigung erzielt. Wir werden uns an diese Konferenzergebnisse halten.Wir sind zuversichtlich, daß die Probleme, die sich aus Anlaß des Erdgas-Röhren-Geschäfts zwischen Europa und den USA ergeben haben, im Rahmen einer vereinbarten Gesamtstrategie überwunden werden können.Die europäische Einigung ist und bleibt das Kernstück deutscher Außenpolitik. Wir sind entschlossen, die Europäische Gemeinschaft voranzubringen auf dem Weg zur politischen und wirtschaftlichen Einigung, zu dem schon in den Römischen Verträgen angelegten Ziel der Europäischen Union. Wir wissen, diese Aufgabe ist schwieriger geworden. Große Probleme hat Europa gemeinsam: Wachstumsschwäche, Inflation und Arbeitslosigkeit bedrohen den Zusammenhalt. Chronische Handelsbilanzdefizite der Gemeinschaft gegenüber den beiden anderen großen Industriemächten USA und Japan signalisieren einen gefährlichen Wettbewerbsverlust der europäischen Industrie. In den Bereichen der Spitzentechnologien droht Europa aus dem Rennen geworfen zu werden. Wir müssen gemeinsam verhindern, daß Europa zu einer zweitrangigen Industrieregion absinkt.
Darüber hinaus steht die Gemeinschaft vor der schwierigen Aufgabe, durch eine Reform der Agrarpolitik eine ausgewogenere Haushaltsstruktur und eine gerechtere Verteilung der Lasten zu erreichen. Wir müssen schließlich die Voraussetzungen schaffen für die Vollendung der Süderweiterung durch die Aufnahme von Portugal und Spanien.Wenn wir uns heute angesichts dieser großen Herausforderungen darum bemühen, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft zu stärken, so tun wir das mit unserer Initiative für die Europäische Union. Die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Europas setzt voraus, daß die Mitgliedstaaten wieder zurückfinden auf einen Weg stabilitätsorientierter, auf Begrenzung der Haushaltsdefizite und Förderung produktiver Investitionen ausgerichteter Wirtschaftspolitik. Europa muß den Vorteil der kontinentalen Dimension seines Binnenmarktes voll nutzen.Die Bundesregierung ist entschlossen, die am 1. Januar 1983 beginnende deutsche Präsidentschaft zu nutzen, um Europa auf dem Wege der Einigung einen wichtigen Schritt voranzubringen.
Nur ein starkes Europa kann auch ein guter und selbstbewußter Partner der Vereinigten Staaten sein. Das gilt für das atlantische Bündnis; es gilt auch für die weltwirtschaftliche Zusammenarbeit. Beide, Europa und die Vereinigten Staaten, müssen zusammenstehen, um in gemeinsamer Anstrengung und gemeinsamer Verantwortung die Probleme der Weltwirtschaftskrise anzupacken und ein7262 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Bundesminister Genscherfreies Welthandelssystem aufrechtzuerhalten. Die in wenigen Wochen in Genf zusammentretende GATT-Ministerkonferenz muß genutzt werden, um ein starkes politisches Signal für den Willen zur Erhaltung eines funktionierenden liberalen Welthandelssystems zu geben, in das auch die Entwicklungsländer stärker als bisher einbezogen werden müssen.Unsere europäische Politik, die Stärkung Europas, ist nicht denkbar ohne die enge deutsch-französische Zusammenarbeit und Freundschaft. Sie bleibt der Schlüssel zur europäischen Einigung.
Bei der letzten deutsch-französischen Gipfelkonsultation wurde vereinbart, unsere außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit noch enger zu gestalten. Bundeskanzler Kohl und ich haben in Paris klargestellt, daß wir an dieser Absprache festhalten wollen. Herr Kollege Wörner und ich werden bei den kommenden deutsch-französischen Regierungskonsultationen mit unseren französischen Kollegen den verabredeten vertieften Meinungsaustausch über eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit aufnehmen.Meine Damen und Herren, die Einbettung in den Westen ermöglichte der Bundesrepublik Deutschland Ende der 60er Jahre die Entspannungs- und Vertragspolitik nach dem Osten. Ohne das sichere Fundament der Westintegration wäre es nicht möglich gewesen. Die neue Bundesregierung wird die geschlossenen Verträge nicht nur respektieren; wir wollen sie mit Leben erfüllen. Die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Pakts können sich darauf verlassen: Wir wollen eine Politik der guten Nachbarschaft. Wir wollen Entspannung, wir wollen Zusammenarbeit.Neben den Ostverträgen ist für uns die Schlußakte von Helsinki ein entscheidendes Instrument der europäischen Politik. Wir treten ein für eine aktive Nutzung dieser Vereinbarungen und Verträge. Das liegt im Interesse der Menschen im geteilten Deutschland und im geteilten Europa. Es liegt zugleich im Interesse aktiver Friedenssicherung und echter Entspannung.Meine Damen und Herren, die deutsche Ostpolitik wurde Ende der 60er Jahre in enger Konsultation mit unseren Verbündeten diesseits und jenseits des Atlantik entwickelt. Sie fügte sich harmonisch in die 1967 vom Bündnis verabschiedete Doppelstrategie des Harmel-Berichts ein. Diese Doppelstrategie, die die militärische Gleichgewichtspolitik durch eine Politik der Entspannung ergänzte, wird weiterhin Richtschnur unserer Politik nach Osten sein.Voraussetzung für Entspannungspolitik ist es, wie es in diesem Bericht heißt, das militärische Gleichgewicht zwischen West und Ost zu sichern. Die auf dieses Gleichgewicht gerichtete Sicherheitspolitik ist Friedenspolitik. Das Ziel dieser Politik ist Kriegsverhinderung, und zwar die Verhinderung eines jeden Kriegs, nicht nur des Nuklearkriegs.
Die Instrumente dieser Sicherheitspolitik sind Verteidigungsfähigkeit und glaubwürdige Abschreckung einerseits und eine aktive Politik der Abrüstung und der Rüstungskontrolle andererseits. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind integrale Bestandteile der westlichen Sicherheitspolitik. Dabei bleibt es unser Ziel, das notwendige stabile Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau herzustellen. Zu keiner Zeit seit 1945 hat es eine so umfassende intensive Verhandlungsbemühung für Abrüstung und Rüstungskontrolle gegeben wie jetzt. Das gilt sowohl zwischen West und Ost als auch weltweit.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung wird diese Bemühungen mit voller Kraft aktiv unterstützen. Die 80er Jahre müssen allen Schwierigkeiten zum Trotz doch noch zum Eingang in eine wirkliche Abrüstung gemacht werden. Sie müssen den erhofften Durchbruch bringen.
Voraussetzung für wirksame und stabilitätsfördernde Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen sind Ausgewogenheit, Transparenz und Nachprüfbarkeit. Auch dazu hat sich das Bündnis bekannt.Wer Sicherheit will und deshalb für ein stabiles militärisches Kräftegleichgewicht eintritt, kann nicht gleichzeitig einseitige Abrüstung fordern. Er kann aber auch nicht einseitige Aufrüstung hinnehmen.Das ist die Grundphilosophie des Doppelbeschlusses der NATO, zu dem wir in seinen beiden Teilen stehen.
Es liegt jetzt an der Sowjetunion, durch ihre Beiträge zu den Verhandlungen konkrete Ergebnisse zu ermöglichen.Wir begrüßen und unterstützen die Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über die Reduzierung der interkontinentalen strategischen Systeme. Sie haben zum Ziel, das amerikanische und sowjetische strategische Potential erheblich zu verringern und so die strategische Lage zu stabilisieren. Wir unterstützen die Verhandlungen über den Abbau von Truppenstärken in Mitteleuropa, und wir haben dazu einen konkreten Vorschlag gemacht. Wir wollen, wie es der Bundeskanzler heute ausgeführt hat, bei dem KSZE-Folgetreffen ein konkretes Verhandlungsmandat für eine europäische Abrüstungskonferenz.Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Wertkonsens unseres Bündnisses gehört das Bekenntnis zum Gewaltverzicht. Für unser Bündnis ist es Grundlage der Sicherheits- und Friedenspolitik. Aber es muß auch oberstes Prinzip der internationalen Beziehungen sein. Die Charta der Vereinten Nationen hat hier ihren Angelpunkt. Ich möchte
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7263
Bundesminister Genscherhier ausdrücklich feststellen: Wenn wir Gewaltverbot meinen, dann meinen wir dieses Gewaltverbot umfassend, d. h. das Gewaltverbot darf nicht durch inhaltliche Beschränkungen, etwa durch Verzicht auf den Ersteinsatz nur einer Waffenart, ausgehöhlt werden — keine Waffe darf zuerst eingesetzt werden!
Der Harmel-Bericht fügte der Gleichgewichtspolitik als zweiten Pfeiler der Friedenspolitik des Bündnisses die Politik der Entspannung hinzu, d. h. eine Politik der stetigen Bemühungen, durch Dialog und Verhandlungen die Ost-West-Spannungen zu kontrollieren und zu vermindern. Wir werden diese Politik fortsetzen.Fortsetzung des KSZE-Prozesses ist von großer Bedeutung für die Entwicklung in Europa. Die Schlußakte von Helsinki gibt uns die Möglichkeit, die Einhaltung der dort übernommenen Verpflichtungen einzufordern. Wir sind uns dabei darüber im klaren, daß eine solche Politik mit Rückschlägen rechnen muß. Ein solcher Rückschlag war die Verhängung des Kriegsrechts in Polen, und ein solcher schwerer Rückschlag ist jetzt das Verbot der Gewerkschaft Solidarität.
Die Bundesregierung verurteilt dieses Verbot als einen schwerwiegenden Verstoß gegen Buchstaben und Geist der Schlußakte von Helsinki, aber auch gegen frühere Zusagen der polnischen Regierung. Dieses Verbot bedeutet eine Belastung für das Ost-West-Verhältnis insgesamt. Die Gewerkschaft Solidarität — das ist meine feste Überzeugung — wird in der polnischen Bevölkerung als Symbol der gesellschaftlichen Erneuerung fortleben. Symbole lassen sich durch Verbote nicht zerstören — Symbole gewinnen durch Verbote nur noch an moralischer Kraft.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, so wie Deutschlandspolitik europäische Friedenspolitik ist, so ist das Bemühen um Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung in Europa Politik für die Deutschen — für die Deutschen, die in zwei Staaten zu leben gezwungen sind. Die Bundesregierung sieht sich in dieser doppelten Verpflichtung. Die Deutschlandpolitik ist das Herzstück unseres Bemühens, Trennendes in Europa zu überwinden und beharrlich um fühlbare, greifbare und auch für die Bürger erlebbare Fortschritte zu ringen. Unsere Mitbürger in der DDR sollen wissen: Wir werden keine Mühe scheuen, um dieses Ziel zu erreichen.
Der Besuch des Herrn Kollegen Dr. Barzel gestern im ganzen Berlin war sichtbares Zeichen dieses Willens, den wir gemeinsam haben.
Die Führung der DDR soll wissen: Die Bundesregierung wird auf der Grundlage der geschlossenen Verträge und Vereinbarungen ein verläßlicher Partner sein. Wir werden ihr mit dem Willen zur Verhandlung und zum Dialog gegenübertreten. Wir wissen, beide deutsche Staaten tragen eine besondere Verantwortung für die Erhaltung und Sicherung des Friedens. Es gilt, und es muß immer gelten: Von deutschem Boden dürfen keine Kriege mehr ausgehen — keine heißen und keine kalten.
Beide Seiten müssen daran mitwirken, und sie können es, ungeachtet ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Keine Seite kann sich dieser Verantwortung entziehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang und an dieser Stelle eine ganz persönliche Bemerkung. Der frühere Bundeskanzler hat sich in einem von Walter Henkels veröffentlichten Gespräch am 21. Oktober 1981 um meine Identität besorgt gezeigt, und er hat dort die Frage gestellt, ob ich aus Wuppertal, aus Bremen oder aus Halle komme. Meine Frau und ich teilen das Schicksal von Millionen Deutschen. Ich habe nicht das Glück gehabt, in meiner Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg in einer freiheitlichen Ordnung leben zu können. Meiner Heimatstadt Halle blieb bis zur Stunde das Erlebnis einer freiheitlichen Nachkriegsdemokratie verschlossen. Meine Frau ist Schlesierin. Unsere Heimat, das bleibt Halle, und das bleibt Liegnitz. Aber wenn jemand nach der Identität fragt: Als Deutsche sind wir wie alle Deutschen hier in der Bundesrepublik zu Hause. Meine Identität aus der Wurzel meiner Heimat mitten in Deutschland, das ist die Verpflichtung und das ist der Wille, hier im Deutschen Bundestag auch für diejenigen unserer Mitbürger zu handeln, die nicht wie wir in Freiheit leben können.
Frau Präsident, meine Damen und Herren, die Freie Demokratische Partei wird in der Koalition der Mitte ihre Verantwortung erfüllen. Wir tun das auf der Grundlage unseres Wahlprogramms von 1980,
wir tun das aus unserer liberalen Überzeugung. Wir haben uns nicht für den leichteren Weg entschieden; ich selbst habe mich nicht für den leichteren Weg entschieden.
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7264 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundesminister GenscherRegierungspartei waren wir wohl auch in der alten Koalition. Es ging bei der Neubildung der Regierung nicht um Machterhalt,
es ging ganz einfach darum, einen neuen Anfang zu machen, um die Arbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung entschlossen anzupacken.
Opportunistische Abstriche von unseren wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zielen hätten uns ganz gewiß den Beifall derjenigen beschert, die uns heute verdammen.
Aber wer Verantwortung in der Politik übernimmt, darf niemals den leichteren Weg gehen, er muß den richtigen Weg suchen. Wenn er diesen Weg erkannt hat, muß er ihn mutig beschreiten. Daß Mut dazugehört, das wußte ich. Auch wußte ich, was an Anfeindungen zu erwarten war. Das gilt für mich, das gilt für meine Partei. Diese Anfeindungen zu ertragen, ist für niemanden von uns leicht — unsere Freunde vor Ort wissen das. Es ist die Verantwortung, die wir als die kleinste der klassischen Parteien immer dann zu tragen haben, wenn der Wechsel aus der Sache heraus notwendig ist.
Ihn möglich zu machen, um liberale Politik zu verwirklichen und unserer Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie gerecht zu werden, das ist unsere Entscheidung. Wir haben uns dafür entschieden, die Regierung jetzt zu bilden. Wir werden uns am 6. März 1983 den Wählern stellen.Daß es auch unter uns darüber unterschiedliche Auffassungen gab und gibt, darf niemanden wundern. Aber ist es wirklich eine Schwäche unserer Partei, wenn so leidenschaftlich gerungen wird und wenn die unterschiedlichen Auffassungen so offen zum Ausdruck kommen, wie es im Deutschen Bundestag am 1. Oktober 1982 geschehen ist? Ich habe mit großem Respekt die Rede von Wolfgang Mischnick, aber auch die Reden von Hildegard Hamm-Brücher und Gerhart Baum gehört. Mit gegenseitigem Respekt werden wir auch den Weg zu geschlossenem Handeln finden. Wir sprechen uns gegenseitig die Ehrenhaftigkeit unserer Motive nicht ab. Wir lassen sie uns aber auch von anderen nicht nehmen.
Das Bewußtsein, unsere Pflicht zu erfüllen, gibt uns und mir die Kraft, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.Ich bin überzeugt: Unser Land braucht die neue Koalition der Mitte. Es braucht sie nicht nur heute, sondern auch morgen. Der Weg wird lang undschwer sein. Allen Anfeindungen zum Trotz: Herr Bundeskanzler, ich stehe zu dieser Koalition.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Apel.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Vizekanzler, wir verdammen Sie nicht. Eigentlich tun Sie uns schon leid.
Ich muß allerdings hinzufügen — ich gehöre dem Deutschen Bundestag mehr als 17 Jahre an —: Ich habe eigentlich noch niemals eine Rede gehört, die in so hohem Maße ein Gipfel der Scheinheiligkeit war.
Herr Vizekanzler, ich muß Ihnen sagen: Was Sie hier an Verdrehung der Fakten versucht haben, mag vielleicht einem schlauen Advokaten angemessen sein, aber kaum einem Parteivorsitzenden oder gar dem Vizekanzler dieser Republik.
Beginnen wir mit den einzelnen Elementen dessen, was Sie hier vorgetragen haben. Beginnen wir damit, daß Sie einen Vergleich zwischen 1966, der Bildung der Großen Koalition, und den Vorgängen herzustellen versucht haben, die am 1. Oktober dieses Jahres ihren Höhepunkt gefunden haben. Der Parteivorsitzende der Sozialdemokraten hat schon einmal hier im Deutschen Bundestag die fundamentalen Unterschiede beider Tatbestände dargelegt. Damals ging es darum — ich zitiere hier die Regierungserklärung des CDU-Bundeskanzlers Dr. Kiesinger —, eine schwere, anhaltende, schwelende Krise zu Ende zu bringen.
Der Wählerwille wurde zu keiner Zeit mißachtet, während Sie, meine hochverehrten Damen und Herren von der FDP, und Sie, Herr Vizekanzler, doch die 10 % der Stimmen, die Sie im Jahr 1980 erhalten haben, mit der Garantieerklärung „für die Kanzlerschaft Helmut Schmidt" bekommen haben. Dies ist der fundamentale Unterschied.
Dann zu Ihrer zweiten Bemerkung: der damalige Bundeskanzler, Helmut Schmidt, hätte ja zwischen dem 17. September und dem 1. Oktober durch Rücktritt oder Vertrauensfrage Neuwahlen herbeiführen können. Wissen Sie nicht oder verdrängen Sie, daß Sie zu dieser Zeit bereits in vollen Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU waren, de-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7265
Dr. Apelnen eine monatelange Kungelei zwischen Ihnen und Herrn Kohl vorangegangen war?
Sie haben die Seiten nicht aus politischen Gründen, sondern aus Gründen der politischen Machterhaltung gewechselt. Daß Sie dabei Meteorologie und Politik verwechselt haben, mag Ihr Schicksal sein.
Drittens haben Sie aus einer Fraktionssitzung der Sozialdemokraten von Ende Juni zitiert. Sie werden sich sicherlich daran erinnern, daß wir damals das für uns durchaus auch problematische Paket der Haushaltssanierung bei einer Fraktion von über 200 Mann mit nur 8 Gegenstimmen beschlossen haben. Aber alles, was der Bundeskanzler auch kritisch an die eigene Fraktion gesagt hat, mußte natürlich unter der Perspektive weiterer Probleme gesagt werden, insbesondere aber auch deshalb, weil Sie doch bereits am 17. Juni in Darmstadt für Hessen die Wende angekündigt hatten und sehr bald deutlich wurde, daß das der Einstieg auch zur Wende in Bonn sein sollte.
Der Bundeskanzler hat unsere Fraktion daran erinnert, daß wir dieser Koalition aus Gründen des Wählerauftrags bis zum letzten treu sein wollten. Er wußte zu der Zeit noch nicht so genau, wieweit Sie schon in Ihren Vorbereitungen zum Absprung waren.
Und Sie sagten viertens, Herr Genscher, wir wollten einen Vernichtungskampf gegen die Freien Demokraten führen. Davon kann doch überhaupt nicht die Rede sein.
Der Liberalismus, der soziale Liberalismus, der Linksliberalismus, braucht einen Platz in dieser Gesellschaft.
Ich bin nicht sicher, ob er so ohne weiteres bei den Sozialdemokraten seine Heimat findet. Ich kenne doch auch meine eigene Sozialdemokratie. Ich bin sicher, daß er keinen Platz findet bei den Konservativen.Sie, hochverehrter Herr Vizekanzler, zerstören Ihre eigene Partei. Es sind doch nicht wir, die Ihnen wehe tun, sondern die Wähler, die Ihnen zu Scharen davonlaufen. Das ist doch nicht unser Ergebnis,
das ist das Ergebnis Ihres Tuns und Ihres Handelns, hochverehrter Herr Vizekanzler.
— Bevor ich dem Herrn Kollegen Ertl das Wort zu einer Zwischenfrage gebe
— oder, entschuldigen Sie: bereit bin, ihm zu einer Zwischenfrage die Möglichkeit zu geben —, möchte ich Ihnen, Herr Kollege Ertl, sagen: Wer hat denn eigentlich in Bayern den Vernichtungsfeldzug gegen die Freien Demokraten kriegsmäßig geführt? War das nicht der CSU-Vorsitzende Dr. h. c. Strauß?
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ertl?
Nein, vorher möchte ich gerne noch einen Satz sagen: Ich weiß nicht, Herr Kollege Ertl, ob Sie bereits den „Bayernkurier" von dieser Woche gelesen haben. Da geht doch diese Kriegsführung gegen Sie weiter. Mir liegt hier eine Ticker-Meldung vor, da steht drin:
Strauß im Bayernkurier: Die FDP muß nach Ansicht des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß durch die Schuld von Parteichef HansDietrich Genscher um ihr politisches Überleben fürchten. Wenn sich Genscher bei dem Wechsel in Bonn an die Spitze einer NeuwahlBewegung gestellt hätte, wäre die FDP nicht in die schwerste Existenzkrise ihrer Geschichte geraten.
Herr Kollege Ertl, weinen Sie nicht über sozialdemokratische Angriffe in Bayern. Nehmen Sie zur Kenntnis: Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß betrachtet diese Regierung auch deswegen als Übergangsregierung, weil er davon ausgeht, daß er nach dem 6. März ohne Freidemokraten hier im Hause regieren kann.
Darf ich noch einmal fragen, ob Sie eine Zwischenfrage gestatten, Herr Abgeordneter? — Herr Abgeordneter Ertl.
Herr Apel, ich entnehme aus Ihrer Antwort schon vorweg Ihr schlechtes Gewissen.
Sie haben sich hier einen hervorragenden Zeugen gesucht. Aber ich frage Sie jetzt noch einmal ganz ernst, nachdem Sie wiederholen, was Ehmke schon eingeleitet hatte: Ist nicht jetzt die Zeit gekommen, wo Sie sich für den Mob entschuldigen sollten, der die Veranstaltung im Münchener Hofbräuhaus wie
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7266 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Ertlin den schlechtesten Weimarer Zeiten stören wollte,
und zwar nach der Aufforderung: Nun zeigt ihnen, was eine Harke ist? — Ist das Ihr Demokratieverständnis?
Ich habe nicht alles, was im Wahlkampf gesagt wird, auf die Goldwaage zu legen und zu rechtfertigen.
Die Störung Ihrer Versammlung im Hofbräuhaus ist sicherlich zu bedauern.
Aber, Herr Kollege Ertl, mit Ihrer eigenen innerparteilichen Situation, der Zerrissenheit quer durch die Reihen der FDP, Ihrem Ansehen, das Sie draußen haben, das auch der Vizekanzler draußen hat, hat dies alles überhaupt nichts zu tun. Dies haben Sie selbst erzeugt.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ertl, Herr Abgeordneter? — Keine weitere Zwischenfrage.
Wie konnte es eigentlich bei einer liberalen Partei möglich sein, daß in einer so fundamentalen Frage — und es ist auch für die Freien Demokraten eine fundamentale Frage gewesen — nicht ein Parteitag die Entscheidung getroffen hat, sondern Gremien oder eigentlich noch nicht einmal diese? Wie konnte es möglich sein, daß wenige Personen am Ende eines monatelangen Kungelprozesses Entscheidungen so präjudizieren, daß die Mehrheit eigentlich nur noch folgen kann?
Herr Kollege Genscher, auch Sie haben sicher heute morgen den Kommentar von Robert Leicht in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen. Schärfer kann das doch alles gar nicht ausgedrückt werden, was hier ein renommierter Journalist, der über den Parteien steht, zu Ihnen sagt. Er sagt:Wer eine solche, für eine kleine Partei lebensgefährliche Wende vollziehen will, braucht also einen guten Grund, einen guten Weg und ein gutes Ziel. An ungefähr allem fehlte es Genscher in der konkreten Lage ...Deswegen fragen sich eben viele Freie Demokraten zu Recht, was sie unter diesen Umständen als Koalitionspartner der CDU und der CSU eigentlich sollen. Er fügt hinzu — das ist auch mein Eindruck heute abend —:Es ist schon beklemmend, den Realitätsverlust zu beobachten, unter dem Genscher in diesen Tagen offenkundig leidet.
Herr Kollege Genscher, Sie führen dann als siebten Grund an, daß es mit uns in der Wirtschafts-und in der Finanzpolitik nicht weitergegangen wäre und daß es deswegen geboten gewesen sei, eine Wende zu vollziehen. Können Sie mir, sehr geehrter Herr Vizekanzler, den Unterschied zwischen den folgenden beiden Aussagen erklären, die Sie innerhalb von 14 Tagen gemacht haben? Die erste Aussage haben Sie in der Debatte über die Lage der Nation am 9. September 1982 gemacht:Wenn wir die ökonomischen Probleme in unserem Lande beherrschen wollen, so müssen wir uns als erstes bewußt sein, daß wir für den notwendigen weltwirtschaftlich bedingten ökonomischen Korrektur- und Anpassungsprozeß ganz gewiß die günstigsten Voraussetzungen überhaupt haben.Anschließend bekennen Sie sich zu jeder gemeinsam getroffenen Entscheidung. Ich füge hinzu: Der Wirtschaftsminister ist im Kabinett nicht ein einziges Mal überstimmt worden.
Am 26. September sagten Sie in der „Bonner Runde" dann jedoch, jetzt müsse das Haus in Ordnung gebracht werden.Welches Haus meinen Sie? Von welcher Arbeitslosigkeit reden Sie? Wie kommen Sie in 14 Tagen dazu, so fundamental Ihre Meinung zu ändern? Das ist doch die Glaubwürdigkeitslücke, unter der Sie leiden.
Herr Genscher, wie haben Sie unseren Münchener Parteitag, der auch heute wieder in den Reden von Herrn Dregger und von Ihnen herhalten mußte, eigentlich kommentiert, als er beendet war? Herr Genscher sagte damals im Deutschen Fernsehen — ich zitiere —:Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wischnewski hat in diesen Tagen, glaube ich, zu Recht gesagt: Sozialdemokraten veranstalten in München nicht einen Koalitionsparteitag, sondern einen sozialdemokratischen Parteitag. Es ist nicht meine Aufgabe, mich als Zensoroder gar als Vorzensor eines sozialdemokratischen Parteitages aufzuführen.
Er fügte dann eine Woche später — wiederum im Deutschen Fernsehen — hinzu:Der Bundeskanzler hat eine eindrucksvolle Bestätigung bekommen.— Sie beziehen sich dabei auf die Personalwahl. —Ich glaube, daß die Führungsspitze insgesamt j a auch gezeigt hat, daß sie an einem Strang zieht, und zwar in derselben Richtung.Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7267Dr. ApelHerr Mischnick, Sie fügten in der FDK, der „Freien Demokratischen Korrespondenz", am 27. April 1982 hinzu, der Münchener Parteitag sei ein ausdrückliches Bekenntnis zu unserer realistischen Friedenspolitik.Ich frage Sie: Wieso muß eigentlich heute dieser Parteitag herhalten, wenn es um Wirtschaftspolitik und Friedenspolitik geht? Sie suchen Argumente!
Ich füge hinzu: Dieses ist dann durchsichtig, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil Sie auf Ihrem Kölner Parteitag in der Frage des NATO-Doppelbeschlusses genau die gleichen Probleme hatten wie wir. Es steht Parteien gut an, in dieser wirklich entscheidenden Frage kontrovers zu debattieren. Das unterscheidet uns eben zentral von denen, die die rechte Mehrheit in der neuen Koalition darstellen.
Aber Herr Genscher, lassen Sie uns über einige andere Dinge reden. Wie ist es eigentlich, ist die Zwangsanleihe ein sozialistisches Folterinstrument, oder haben Sie diese Vokabel verdrängt?
Wie ist es mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung, bei dem sich Sozialdemokraten und Liberale einig waren, bei dem sie jetzt keine Chance mehr haben, ihre Vorstellung durchzusetzen, bei einem Problem, das entscheidungsreif ist und bei dem die jungen Leute auf Entscheidungen warten, und das Sie vertagen.
Bei diesem Problem wird aus den Aussagen des zuständigen neuen Familienministers deutlich, daß er die Zeit des Zivildienstes drastisch verlängern will, daß er im übrigen von der Gewissensprüfung nicht abgehen will, sondern mit der feuilletonistischen Bemerkung arbeitet, er wolle die Prüfung von den Kammern in die Gehirne und in die Herzen der jungen Leute verlegen. Wie lyrisch ist das Ganze. Nur: An dem Faktum ändert es nichts, daß die Freien Demokraten auch hier einen wesentlichen Teil ihrer Identität in der neuen Koalition verlieren.
Herr Genscher, Sie sagen, über Rechtspolitik reden wir später. Können Sie sich vorstellen, daß dies ein Kernstück liberaler Politik ist? Wie beurteilen Sie, Herr Vizekanzler, das, was heute morgen in der Regierungserklärung sehr lapidar gesagt wurde: Wir brauchen verfassungstreue Beamte? Natürlich brauchen wir verfassungstreue Beamte. Aber nachdem Sie, meine Damen und Herren von den Unionsparteien im Bundesrat eine nuancierte Betrachtung von Herrn Baum zu diesem Thema in den Orkus haben fallen lassen, liegt ja wohl der Verdacht nahe, daß Sie den alten Extremistenerlaß auch bundesweit wieder aufleben lassen wollen. Da stelltsich erneut die Frage: Wo ist denn da liberale Identität?
Es muß doch gerade für Sie, Herr Vizekanzler, ein Schlag ins Gesicht sein, wenn Ihre treuesten und engsten Mitarbeiter im Bereich des Umweltschutzes im Innenministerium sang- und klanglos gefeuert werden. Da wird doch klar, wie man mit Ihnen umgeht.
Wir haben mühselig, in langen Arbeiten den alten Traditionserlaß aus dem Jahre 1965 in Übereinstimmung mit allen Militärs, in Übereinstimmung mit der Wissenschaft, in Übereinstimmung mit den beiden Koalitionsfraktionen überarbeitet. Drei Tage nach dem Zusammenbruch der sozialliberalen Koalition hat der Abgeordnete Jung, der heute Parlamentarischer Staatssekretär auf der Hardthöhe ist, diese gemeinsame Arbeit noch gewürdigt und gelobt — im Namen der FDP. Heute hören wir, der neue Minister suspendiere diese Richtlinien. Wo bleibt hier eigentlich Ihre Glaubwürdigkeit, auch Ihre ganz persönliche Glaubwürdigkeit, Herr Staatssekretär Jung.
Herr Genscher, Sie haben sehr ausführlich zur Außenpolitik geredet. Ich habe dem eigentlich wenig hinzuzufügen. Es war eine der vielen Reden, die wir von Ihnen gehört haben. Wir werden die Realität der Politik an den Worten prüfen. Dazu hat Horst Ehmke Stellung genommen.Nur auf eins will ich aufmerksam machen: Sie selbst haben auf die Freiburger Thesen des Jahres 1972 abgehoben und behauptet — der Beweis ist ausgeblieben —, daß diese Freiburger Thesen für Sie heute noch gelten. Zu diesen Thesen hat Walter Scheel 1972 in einem rororo-Bändchen Ausführungen gemacht. Er hat darauf hingewiesen, daß die Glaubwürdigkeit einer friedlichen Außenpolitik in einem hohen Maße davon abhängt, ob es gelingt, echte Demokratie, inneren Frieden in unserem Lande selbst zu verwirklichen.
Er hat es nicht nur in diesem sehr vordergründigen Zusammenhang gemeint, der da heißt: Wir leben an der Nahtstelle zwischen Ost und West und deswegen muß der soziale Friede gewahrt sein — das ist wahrlich auch richtig —, sondern er hat gesagt, hier müsse sich Bewußtsein bilden. Wer den Frieden nach innen will, wer den sozialen Frieden will, wer die innere Stabilität will, der schafft ein Bewußtsein, das auch für friedfertige Außenpolitik, für Ablehnung von reaktionären Grundstrukturen offen wird. Sie mögen die gleiche oder eine ähnliche Außenpolitik führen, sollten aber bitte nicht übersehen wollen, daß Herr Dr. Kohl heute morgen nicht von Kontinuität der Außenpolitik, sondern von Erneuerung geredet hat. Dieses ist ja wohl eine andere Vokabel, Herr Vizekanzler.
Ich glaube, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daßdann, wenn — Sie tragen durch eindeutige Beru-
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7268 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. Apelfung auf den Wirtschaftsliberalismus, durch den Rückgriff auf das Lambsdorff-Papier dazu bei —
der innere Friede in unserem Lande gefährdet wird, dies auch Konsequenzen für die Außenpolitik haben wird.Am Ende, Herr Vizekanzler, komme ich zu dem Ergebnis, daß Sie Fakten soviel manipulieren und interpretieren können, wie Sie wollen:
Es bleibt das Fazit nach, daß Sie als Politiker Ihr Renommee verspielt haben.
Das ist dann mehr als nur ein Problem für Freie Demokraten, das ist ein Problem für die Republik,
weil diese Republik von Ihnen als Außenminister vertreten wird.
Meine Damen, meine Herren, wenige Bemerkungen zu Herrn Dregger: Also, Herr Dregger, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß Herr Professor Dr. Ehmke im Hinblick auf Herrn Dr. Zimmermann nicht denunziert,
sondern aus dem Urteil eines unabhängigen deutschen Gerichts zitiert hat. Und das muß ja wohl im frei gewählten Parlament der Bundesrepublik Deutschland noch möglich sein.
— Sofort. — Ich habe Verständnis dafür, daß dieser Abschnitt der Rede des Herrn Professors Ehmke Ihnen unangenehm ist.
Aber Tatsachen bleiben am Ende Tatsachen. Daran kommen auch Sie nicht vorbei, Herr Dr. Dregger.
Herr Abgeordneter Apel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard ? — Bitte sehr.
Herr Kollege Apel, glauben Sie, daß es vertretbar ist, aus einem förmlich aufgehobenen, wegen Rechtsverstoßes aufgehobenen Urteil gegen jemanden zu zitieren, der freigesprochen ist?
Also, Herr Ehmke hat umfassend und genau zitiert. Dies ist zulässig, dies bleibt zulässig, weil es hier nicht um die Frage von Schuld und Nichtschuld, sondern um die Frage des politischen Stils geht. Aber dies geht Ihnen augenscheinlich ab.
Meine Damen und Herren, folgende Bemerkung zu den Äußerungen von Herrn Dregger: Also, Herr Kollege Dregger, rührend fand ich ja Ihre Bemerkung, daß die Minister und die Staatssekretäre der neuen Koalition, der neuen Regierung ein Beispiel an Solidarität dadurch gegeben hätten, daß sie eine Gehaltskürzung akzeptiert hätten — mit der Bitte um Nachahmung.
Also, nun schauen Sie doch einmal genau hin: Wenn man ganz gut rechnet, dann spart die Republik 300 000 DM. Dadurch, daß Sie als CDU/CSU augenscheinlich im Beförderungs- und Verwendungsstau sind — so die „Süddeutsche Zeitung" — und vier zusätzliche Staatssekretäre brauchen, brauchen wir 1,6 Millionen DM mehr.
Am Ende wird der Steuerzahler belastet und nicht entlastet.
Nun ein zweites: Herr Kollege Dregger, ich verstehe nicht ganz, wie Sie zur Überzeugung kommen, daß sich die Sozialdemokraten in eine Abhängigkeit von Grünen und Alternativen begeben. Hamburg hat genau das Gegenteil bewiesen. Es wäre klug gewesen, diesen Teil Ihrer Rede nach den Entscheidungen in Hamburg neu zu schreiben.
Ich habe das miterlebt,
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7269Dr. Apelund ich sage Ihnen: Nur dieses ist der Weg, mit einer neuen politischen Gruppierung umzugehen: sie nicht auszugrenzen, sie nicht zu diffamieren, mit ihr in Sachgespräche einzutreten, auszuloten, ob sie koalitionsbereit ist, dann, wenn es nicht geht, den Weg der Neuwahlen zu gehen. Appellieren Sie an Herrn Kiep, daß wir am 19. Dezember wählen können, damit nicht auch in Hamburg wie in Bonn der Eindruck entsteht, eigentlich wolle die CDU überhaupt keine Neuwahlen. Appellieren Sie an Herrn Kiep!
Nun zu Ihrer Geschichtsklitterung — darauf habe ich ja förmlich gewartet —, Sie hätten uns, Herr Kollege Dregger, 1969 ein blühendes Land übergeben. Also, Herr Kollege Dregger, ich gehöre dem Bundestag seit 1965 an. Mir können Sie mit derartiger Geschichtsklitterung nicht kommen.
Ich war dabei. 1966 hat am 13. Dezember Herr Kiesinger, der Bundeskanzler der Großen Koalition, im Deutschen Bundestag in einer Regierungserklärung folgendes zu Protokoll gegeben. Ich zitiere:Der Bildung dieser Bundesregierung ... ist eine lange, schwelende Krise vorausgegangen,
deren Ursachen sich auf Jahre zurückverfolgen lassen.
— Herr Dr. Dregger, Sie hätten die Sozialdemokraten, die ja über viele Jahre für Sie der Untergang Deutschlands waren, doch nicht zu Hilfe gerufen, wenn Sie nicht mit Ihrem moralischen und politischen Latein am Ende gewesen wären.
1969 sind Sie in die Opposition gegangen, weil Sie unfähig waren, den Zeichen der Sicherheits- und Ostpolitik und den Notwendigkeiten der Entspannung gerecht zu werden. Sie waren zur Reform unfähig.
Es mußte eine neue Koalition gebildet werden.
Nicht Sie haben uns die vollen Kassen übergeben, sondern Sie haben eine Koalition verlassen, die in der Frage der Nettokreditaufnahme in der Tat sauber dastand.Wenn wir die weitere Entwicklung der Jahre 1970, 1971, 1972, 1973 und auch noch 1974 verfolgen, stellen wir fest, daß diese solide HaushaltspolitikTeil der sozialliberalen Politik bleibt. Die Nettokreditaufnahmen schwanken zwischen 1 und 3 Milliarden DM jährlich.
Dann beginnt allerdings die Weltwirtschaftsrezession.
Und dann kommt es darauf an, massiv gegenzusteuern.
Ich sage Ihnen: Wenn uns eher konservative wirtschaftswissenschaftliche Institute sagen, wir hätten heute dank dieser Politik 900 000 Arbeitsplätze mehr, dann war das gut eingesetztes Geld.
Das ist nämlich ein Grund mehr dafür, daß wir uns von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in vielen Nachbarländern so deutlich unterscheiden.
Heute kommt es darauf an, zu konsolidieren.Der Sachverständigenrat hat im übrigen Herrn Matthöfer und Herrn Lahnstein ein vorzügliches Zeugnis ausgestellt. Er sagt: Es ist 1981 und 1982 in den strukturellen Defiziten konsolidiert worden. Und er erwartet von Ihnen, Herr Stoltenberg, daß Sie dies fortsetzen. Aber er sagt eben auch, daß es darauf ankommt, die konjunkturell bedingten Defizite zu finanzieren, damit die Konjunktur nicht weiter in den Keller rauscht.Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie fahren ja morgen nach Schleswig-Holstein, um sich dort als Landesvater — wie das so schön heißt — zu verabschieden. Nun schauen wir uns doch mal die Entwicklung in Bonn und in Schleswig-Holstein an. Wenn ich richtig rechnen kann, hatten Sie im Jahre 1970 — da waren Sie schon Landesvater — 1,7 Milliarden DM Schulden.
Und 1980 hatten Sie 8 Milliarden DM Schulden. Im vorigen Jahr haben Sie noch 1 Milliarde draufgelegt. Die Schulden des Landes Schleswig-Holstein, die zu den höchsten in der Bundesrepublik Deutschland gehören, haben sich in diesem Jahrzehnt — ich lasse das Jahr 1981 beiseite — um sage und schreibe 444 % gesteigert.
Das ist ein beträchtliches mehr als im Bund, aber ich würde doch nicht auf die Idee kommen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, deswegen davon zu sprechen, daß Sie morgen eine Reise in einen Saustall antreten oder in einen Augiasstall.
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7270 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. ApelIch weiß doch genau, daß Sie gar keine andere Wahl hatten, als eine ähnliche Politik wie in Bonn zu machen.Nun werden Sie sagen: „Ja, aber der Bund hat Lasten auf die Länder gewälzt, und die sind ursächlich." Herr Dr. Stoltenberg, Sie haben doch im Bundesrat über ein Jahrzehnt eine zentrale Rolle in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gespielt, eine durchaus lobenswerte, anerkennenswerte Rolle. Aber von 1978 bis 1983 ist durch die Mehrheit der CDU/CSU bei jeder Vorlage, die aus dem Bundesrat kam, draufgesattelt worden,
ob das im Bereich der Familienpolitik war, ob das im Bereich der Investitionsförderung war, ob das im Bereich der Steuersenkungen war: 15 Milliarden draufgesattelt, und wenn es nach Ihren Wünschen gegangen wäre, wären es 36 Milliarden gewesen. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß in Schleswig-Holstein die Dinge nicht anders sind als in Bonn, und nehmen Sie zur Kenntnis, daß Ihre Rolle als Oppositionspartei nur darin bestanden hat, Ansprüche zu wecken und auf unsere Forderungen zusätzliche zu setzen.
Ich werde mich zur Lage unseres Landes in unserer Zeit nicht äußern. Unsere Bürger wissen, daß sie in einer Republik leben, in der es sich zu leben lohnt. Unsere Bürger nehmen das schwarze Horrorgemälde, das hier heute gezeichnet worden ist, nicht ab.
Ich möchte gerne bei den Fragen der Glaubwürdigkeit bleiben.
Herr Dr. Stoltenberg, der Sie ja nach mir reden, Sie werden Auskunft geben müssen, wie Sie eigentlich Ihre Meinung ändern konnten, wie das möglich war. Ich lege Ihnen Zitate vor, und dann werden Sie sich dazu äußern müssen. Darauf müssen wir bestehen. Es geht nicht nur um Herrn Dr. Stoltenberg, sondern um die Glaubwürdigkeit des Bundesministers der Finanzen.
Herr Dr. Stoltenberg: „Gegen Steuer- und Abgabenerhöhungen", „Falsche Impulse bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit". Ich zitiere aus einer NDR-Sendung vom 16. Februar: „Die Mehrwertsteuererhöhung ist in dieser Form unakzeptabel.
Sie ist eine Belastung für die sozial Schwächeren, und sie erschwert die Tarifverhandlungen."Herr Dr. Stoltenberg am 3. Juli in der „Neuen Osnabrücker Zeitung":Eindeutig kann man heute die geplante Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von über drei Milliarden DM ablehnen.Sie verstößt gegen die erklärten Ziele der Wirtschaftspolitik und der Belastung der Arbeitnehmer.Herr Dr. Stoltenberg, heute tun Sie beides, Sie erhöhen die Mehrwertsteuer, und Sie sagen, es bleibe bei der Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.
Wie wollen sie eigentlich Ihren Meinungswandel erklären, oder geht es hier auch nach der Melodie: „Was kehrt mich das dumme Geschwätz von vorgestern?"
Nun kann man ja sagen — manche Sozialdemokraten könnten auf die Idee kommen —: „Na ja, er setzt ja die Politik der Sozialdemokraten fort."
Herr Dr. Stoltenberg, davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Sie werden übrigens zur Kenntnis nehmen müssen, daß der Sachverständigenrat Ihnen gesagt hat: Grundsätzlich Mehrwertsteuererhöhungen zur Entlastung bei den direkten Steuern ein adäquates Instrument, aber in dieser Zeit, in dieser sich zuspitzenden Depression Gift, weil entweder die Preise steigen und damit die Konsumnachfrage zurückgeht oder weil die Abwälzung der Mehrwertsteuer nicht gelingt und dann die Unternehmen hängenbleiben und eine Verringerung der Gewinnmarge haben. Zumindest werden Sie doch davon ausgehen müssen, daß die Tarifvertragsparteien diese zusätzliche Belastung des Einkommens bei den Tarifverhandlungen berücksichtigen müssen.Das Entscheidende ist aber etwas ganz anderes. Das Entscheidende ist, daß Sie neben der Mehrwertsteuererhöhung, die zweifelsohne die sozial Schwächeren trifft, einen ganzen Katalog von zusätzlichen Maßnahmen beschließen. Hier kommen doch bei den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland täglich neue Horrormeldungen an: höhere Mieten, weniger Rente, weniger Familieneinkommen durch Abbau des BAföG und des Kindergeldes,
weniger Lohn, mehr Arbeitslose.
Ich sage Ihnen: Das, was hier an Kumulation im Bereich der Gesellschafts- und Sozialpolitik stattfindet, erschlägt die Konjunktur. Es erschlägt die Konjunktur!
Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7271Dr. ApelSie werden, wenn Sie diese Politik nicht korrigieren, mit der Nettokreditaufnahme, die Sie jetzt schlank auf etwa 40 Milliarden DM heraufgesetzt haben, nicht auskommen. Sie haben j a im übrigen auch bereits Nachtragshaushalte angekündigt, etwas, was hier vor einigen Wochen noch als Teufelszeug verurteilt wurde. Sie werden die Konjunktur mit diesen Maßnahmen kaputtsparen.
Was mich am meisten stört, ist aber etwas völlig anderes. Zwar entnehme ich der Koalitionsvereinbarung, daß Sie durch die Kürzung des Wohngeldes 100 Millionen DM einsparen, aber ansonsten ist dies doch nichts weiter als die Bestrafung derer, die auf das Gut Wohnung angewiesen sind und die sich nicht jede Wohnung leisten können.
Wenn der Wohnungsbauminister in der Bild-Zeitung schlank sagt, 20 % Mieterhöhung seien ja nicht so schlimm,
wundere ich mich und frage mich nur, wo hier soziales Gewissen pocht.
Oder nehmen wir die Umstellung des StudentenBAföG völlig auf Darlehen. Dadurch sparen Sie, Herr Dr. Stoltenberg, nicht eine Mark! Sie müssen das Geld einstellen. Sie bekommen es vielleicht in 5 oder 10 oder 15 Jahren über eine unglaubliche Bürokratisierung zurück. Aber das, was Sie wollen, ist auch etwas ganz anderes. Sie wollen wie beim Schüler-BAföG in die alte Klassengesellschaft zurückkehren, zur Trennung derer, die reiche Eltern haben,
die Chancen haben und studieren können, von den anderen, die bleiben sollen, wo sie wollen.
Hier ist heute morgen von Bundeskanzler Dr. Kohl in bewegten Worten über Jugendarbeitslosigkeit geredet worden. Herr Dr. Kohl hat dieses Problem als eine Herausforderung dargestellt, und wir stimmen dem Bundeskanzler Dr. Kohl ausdrücklich zu. Aber was wird denn nun eigentlich konkret getan?
Ich habe genau zugehört, und mir ist zweierlei aufgefallen. Es gibt erst einmal einen Appell an die Verbandsvorsitzenden. Das ist die alte Seelenmassage à la Erhard: Die Unternehmen mögen bitte mehr Ausbildungsplätze bereitstellen! Dann wird ein Gesetzentwurf angekündigt, der den Abbau hemmender Vorschriften im Bereich der Berufsausbildung vorsehen soll. Dadurch entsteht dochnicht eine einzige Lehrstelle mehr, nicht eine einzige!
Aber ich sage Ihnen: Durch den Abbau des SchülerBAföG werden Sie weitere Hunderttausende junge Leute in das Nichts stürzen, werden Sie ihnen die Chancen zur Berufsausbildung nehmen,
weil die Eltern nicht in der Lage sind, diese zu finanzieren. Sie tun also genau das Gegenteil von dem, was geboten ist; Sie werden die Jugendarbeitslosigkeit nicht bekämpfen, sondern erhöhen.
Wie geht das alles eigentlich einher mit der großen Wende,
mit der geistigen Führung, mit dem Prinzip der Solidarität der katholischen Soziallehre? Tatsache ist doch, daß, wie Professor Ehmke gesagt hat, hier entsolidarisiert werden soll. Sie wollen — das ist für mich deutlich sichtbar — eine Politik betreiben, bei der Sie Arbeitslose gegen Arbeitnehmer stellen, mit der Sie Steuerzahler gegen BAföG-Studenten stellen, mit der Sie Deutsche gegen Ausländer stellen.
Sie wollen eine Entsolidarisierung betreiben,
indem Sie ununterbrochen den Eindruck erwecken, als gäbe es in unserem Lande breite Gruppen, die in einem hohen Maße nichts weiter täten, als öffentliche Kassen zu plündern und auszunutzen. Es gibt solche; es gibt solche auch im Bereich der Sozialpolitik. Dies bestreite ich überhaupt nicht. Horst Ehmke hat darüber gesprochen. Aber fangen Sie erst einmal an, dort zu regeln, wo in einem unglaublichen Maße Kassen geplündert werden: bei den Abschreibungsgesellschaften,
überall dort, wo die Steuerlöcher
in einem hohen Maße Ausweichmöglichkeiten geben.
Dieser Homunkulus Zwangsanleihe, den Sie jetzt geboren haben, wird doch am Ende dazu führen, daß die besser bezahlten Arbeitnehmer diese Zwangsanleihe bezahlen, während viele kluge Unternehmer in der Lage sein werden, unter Ausnutzung der steuerlichen Gegebenheiten selbst diesem bescheidenen Beitrag zu entgehen.
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7272 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. ApelNun sagen Sie, wir hätten das verhindern sollen. Sie sind uns regelmäßig in den Arm gefallen. Als wir vorgeschlagen haben, wenigstens die Anrechnung des privat genutzten Firmen-Pkw von 20 auf 40% zu erhöhen, haben Sie schon diese bescheidene Maßnahme mit „sozialistischen Neidkomplexen" abgetan. Das ist Ihre Politik.
Herr Dr. Stoltenberg, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie — und auch der Bundeskanzler und der Sachverständigenrat — sagen, die Investitionen seien die strategische Größe für Wirtschaftswachstum. Das stimmt. Insofern ist einiges von dem, was Sie vorschlagen, Fortsetzung unserer Politik. Das gilt z. B. für die Hilfen bei Neugründung von Unternehmen; sicherlich in Ordnung. Wenn Sie die Gemeinschaftsaufgaben hochfahren können, mag das ein Beitrag zur Überwindung der Arbeitslosigkeit sein. Das wird öffentliche Investitionen stärken können.Allerdings ist der Sinneswandel erstaunlich. Haben Sie nicht bisher immer massiv darum gekämpft, zu einer deutlichen Trennung der Aufgaben von Bund und Ländern zu kommen? Aber, bitte schön, wenn Sie, Herr Dr. Stoltenberg, jetzt eine andere Meinung vertreten, ist das in Ordnung. Mir liegt jetzt daran, daß wir öffentliche Investitionen bekommen. Wenn das auf diesem Wege möglich ist, ist das gut. Nur, lassen wir uns doch nicht dem Irrglauben hingeben, daß die Förderung der Privatinvestitionen die Konjunktur aus dem Tal herausbringt.
— Ich werde Ihnen das gerne sagen.Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat unter seinen Mitgliedern eine Umfrage durchgeführt. Das Ergebnis ist am 4. Oktober in der „Welt" veröffentlicht worden. Da steht: Als wichtigsten Gesichtspunkt für Investitionsentscheidungen haben die Unternehmen immer wieder hervorgehoben, daß es um Absatz und Ertragserwartungen gehe. Wenn Sie durch Ihre Maßnahmen 200 000 Arbeitslose zusätzlich produzieren und einen Nachfrageausfall von mindestens 20 Milliarden DM erzeugen, wie wollen Sie dann eigentlich diese zusätzliche Nachfrage bewirken?
Wie wollen Sie eigentlich die binnenwirtschaftliche Konjunktur ankurbeln?Ich stehe auf dem Standpunkt, daß wir bei den Investitionen etwas tun müssen. Wenn Sie uns Vorschläge machen, werden wir sie prüfen, unter Umständen auch übernehmen. Aber Ihr eindeutiges Setzen auf Förderung der privaten Investition kann nur mit einem Fehlschlag enden. Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen, daß die vielfältigen Abschreibungserleichterungen und Investitionszulagen im Jahre 1982 eben nicht zu einer Belebung der Konjunktur geführt haben.Ich halte es mit dem Sachverständigenrat, der uns folgendes Zeugnis ausgestellt hat: Die außenwirtschaftliche Flanke ist geschlossen. Wir können wieder alles das bezahlen, was wir im Ausland kaufen; auch die Transferleistungen der ausländischen Arbeitnehmer in ihre Heimatländer, auch die Auslandsreisen. Die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt ist gegeben. Die Lohnpolitik ist ausreichend flexibel. Alles das reicht aus — sagt der Sachverständigenrat —, um zusammen mit anderen Ländern sowohl auf der Angebots- wie der Nachfrageseite etwas zu tun.Herr Stoltenberg, dasselbe Problem der Glaubwürdigkeit stellt sich den Sozialdemokraten in Hinsicht Staatsdefizit. Ich darf Ihren Parlamentarischen Staatssekretär, Herrn Dr. Häfele, zitieren, der zu diesem Thema wie viele andere im Bundestag und auch draußen immer wieder explizit Stellung genommen hat. „Eine Steigerung" — ich zitiere Herrn Häfele — „der Neuverschuldung kommt für die CDU/CSU angesichts der beängstigenden Schuldenentwicklung nicht in Betracht." Ihr erster Schritt, Herr Dr. Stoltenberg, besteht darin, daß Sie die Nettokreditaufnahme für das Jahr 1983 um 10 Milliarden DM erhöhen.
Ich werfe Ihnen das nicht vor. Sie sind angewiesen auf die Zahlen des Bundeswirtschaftsministers. Wenn der Bundeswirtschaftsminister seine Erwartungen herunterschraubt, müssen Sie daraus die finanzpolitischen Konsequenzen ziehen. Ich finde eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme auch angesichts der Ansichten des Sachverständigenrats geboten. Nur: Dann sollten Sie mit der Polemik aufhören und zugeben, daß überall dort, wo in dieser schwierigen Zeit Politik gemacht wird, die Nettokreditaufnahme erhöht werden muß, wenn die ökonomischen Erwartungen nicht eintreten. Dann muß Schluß sein mit dieser Art von Polemik. Dann müssen Sie sich zu dem bekennen, was Sie in Schleswig-Holstein als Erbe hinterlassen, ebenso sehr wie zu dem, was Sie in Bonn als Bundesfinanzminister machen müssen.
Wie ist das mit dem Bundesbankgewinn? Ich lese in der Koalitionsvereinbarung: Es werden weitere 2 Milliarden DM eingestellt. Wie war das denn hier? Hat nicht Herr Häfele gesagt, daß die Abführung des Bundesbankgewinns und die Einstellung in den Haushalt haushaltspolitisch sogar schlimmer sei als eine Neuverschuldung? Das hat er am 15. September 1982 hier im Deutschen Bundestag erklärt, also vor einem Monat. Gilt das heute alles nicht mehr? Wie ist es mit Ihrer Glaubwürdigkeit? Wie wollen Sie diesen Meinungswechsel erklären?
Meine Damen und Herren, über die Zwangsanleihe will ich nicht länger reden. Sie ist nur ein Beispiel dafür — damit bin ich schon bei den Konsequenzen dessen, was Sie uns vortragen —, daß Sie die Probleme in die Zukunft wälzen. Sie wollen jetzt bei den Besserverdienenden eine Zwangsanleihe aufnehmen und ihnen augenzwinkernd sagen: Ihr
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7273
Dr. Apelbraucht keine Zinsen zu bezahlen, ihr kommt gut weg.
Daß aber, Herr Dr. Stoltenberg, Ihr Nachfolger in einigen Jahren diese vielen Milliarden zurückzahlen und damit die Nettokreditaufnahme nach oben treiben muß, ist einfache finanzpolitische Logik. Insofern erhöhen Sie die Nettokreditaufnahme, statt den Mut zu haben zu sagen: Wir müssen von den Besserverdienenden auch ein Solidaropfer in Form der Ergänzungsabgabe verlangen.
Herr Dr. Stoltenberg, was ist eigentlich aus der „Rasenmäher-Methode" geworden, aus den 5 % oder 8 % Subventionskürzung?
Wir haben das immer für sehr unrealistisch gehalten. Jetzt steht in der Koalitionsvereinbarung, ganze 500 Millionen DM sollten hier gekürzt werden; wo genau, wissen wir noch nicht.Sie verschieben Lasten auf die Rentenversicherung. Sie haben überhaupt kein geschlossenes Konzept, wie Sie mit dieser finanzwirtschaftlichen Problematik fertig werden sollen. Mich wundert das nicht. Sie haben die Sonthofen-Strategie bis zum Exzeß verfolgt, sich Denkverbote auferlegt und im übrigen personalpolitisch mit Herrn Genscher gekungelt. Sie haben wertvolle Zeit vertan; Sie sind den Herausforderungen unserer Zeit nicht gewachsen!
Meine Damen und Herren, ökonomisch sinnvollen Vorschlägen werden wir zustimmen — nicht alles in den Vorschlägen des Herrn Dr. Kohl ist a priori abzulehnen; einiges ist Fortsetzung vergangener Politik, anderes müssen wir prüfen —, aber sinnlosen Maßnahmen werden wir uns widersetzen, insbesondere solchen Maßnahmen, die diese Konjunktur kaputtsparen werden. Wir werden deutlich machen, daß Sie für die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr durch Ihre verfehlte Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik ein hohes Maß an Verantwortung tragen!
In der Gesellschaft- und Sozialpolitik werden Sie unsere größten Widerstände und Gegensätze zu verzeichnen haben.
— Wissen Sie, durch solche billigen Zwischenrufe, Herr Geißler, können Sie mich überhaupt nicht aus der Verantwortung bringen. Es kommt doch jetzt darauf an, daß Sie genauso zuhören, wie es demokratischer Brauch ist, wie wir heute morgen zugehört haben. Wenn Sie das nicht können, dann sage ich Ihnen: Ich habe hier die Mikrofone und im übrigen notfalls auch den Präsidenten auf meiner Seite.
In der Gesellschaftspolitik wird es zu dem größten Konflikt kommen. Das, was sich hier an Ellbogengesellschaft anbahnt, macht uns allergrößte Sorgen. Der Arbeitsminister hat in einem Interview der „Welt" am 6. Oktober den Satz geprägt: Es kommt darauf an, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, die dann selbst entscheiden, für wieviel Geld sie wieviel Gegenleistung haben wollen.Meine Damen und Herren, dies ist die Aufkündigung einer solidarischen Sozialpolitik. Dies ist nichts weiter als die Rücknahme der katholischen Soziallehre aus der Politik. Hier wird deutlich, daß es darum geht den Schwächsten nicht mehr helfen zu wollen. Das machen Sie auch deutlich, indem Sie dort zulangen, wo man sich nicht helfen kann. Die Sozialhilfeempfänger, die im nächsten Jahr ein Minus von 3 % in ihrem Einkommen haben können, werden sich nicht helfen können;
die Rentner, die im nächsten Jahr real weniger haben werden, können sich nicht helfen; die BAföG-Empfänger, die Studenten und Schüler können sich nicht helfen. Hier steht überhaupt nicht zur Debatte, daß Sie aus Beitragszahlern Beteiligte machen können, hier greifen Sie brutal zu,
hier verletzen Sie unverzichtbare Grundlagen unserer Sozialstaatlichkeit, meine Damen und Herren.
Wir stellen dagegen die Aussage von Helmut Schmidt, die Horst Ehmke bereits zitiert hat. Die in aller Welt gegebene Stagnation der Wirtschaft oder ein zu geringes Wirtschaftswachstum machen die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung schwierig. Die Dynamik dieser Systeme muß deshalb begrenzt werden. Dies darf aber nicht so weit gehen, daß die Lebensrisiken auf den einzelnen zurückgewälzt werden.
Das Prinzip der Solidarität mit den Schwächerendarf nicht außer Kraft gesetzt werden. Sie setzendas Prinzip der Solidarität mit den Schwächeren —
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7274 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Dr. Apeldenjenigen, die sich nicht wehren können — außer Kraft.
Wir werden am 6. März den Deutschen Bundestag wählen. Wir sind jedoch nach Ausführungen von Herrn Dr. Dregger und auch von Herrn Dr. Kohl nicht sicher, ob es dazu kommen wird. Aber wir werden Sie zwingen, Ihre Vorschläge vorzulegen. Wir sind nicht der Büttel Ihrer Versprechungen. Sie müssen sie schon selber vorstellen.
Wir werden dem deutschen Volk sagen, was es nach dem 6. März erwartet; denn eine ganze Reihe von schwerwiegenden Entscheidungen vertagen Sie j a aus wahltaktischen Gründen auf die Zeit nach dem 6. März. Wir werden dem deutschen Volk sagen müssen, daß am 6. März eine Entscheidung fällt zwischen Fortsetzung der Politik der sozialen und gesellschaftlichen Solidarität, der Sicherung der Mitbestimmung, des sozialen Friedens und des Wirtschaftswachstums
und einer Politik, die zurück in die 50er und 60er Jahre will, die die Ellbogengesellschaft etablieren will.
Ich sage Ihnen: Sie werden in den nächsten Wochen einen schweren Stand haben, nicht nur die FDP, sondern auch Sie, die Sie permanent und ununterbrochen jetzt gegen alles das verstoßen,
was Sie vorher als Ihre politische Meinung verkündet haben. Das Dokument, das uns vorliegt — sowohl die Regierungserklärung als auch die Koalitionsvereinbarungen —, ist ein Dokument der Ahnungslosigkeit, der Hilflosigkeit,
aber auch der Böswilligkeit. Dieses werden wir entlarven.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war zu erwarten, daß in den Reden der Sprecher der Fraktionen die Fragen der Finanz-, der Wirtschaftspolitik und der Gesellschaftspolitik im Zentrum vieler Überlegungen und mancher kritischer Anmerkungen von seiten der Sozialdemokratischen Partei stehen würden. Natürlich ist dies auch in dem Sachzusammenhang, den die Regierungserklärung so stark betont hat, das zentrale Thema, die zentrale Herausforderung der kommenden Monate und Jahre.Aber ich will Ihnen, Herr Kollege Apel, und Ihnen, Herr Kollege Ehmke, einen persönlichen Eindruck nicht verhehlen, bevor ich zu den Sachfragen komme. Ich habe die Ehre, seit 25 Jahren an den Debatten dieses Hohen Hauses teilzunehmen: fast 14 Jahre als gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages und über 11 Jahre als Mitglied des Bundesrates von jener Bank. Aber ich habe niemals in der großen Auseinandersetzung und auch in der harten Kontroverse nach einem Neubeginn im Wechsel der Regierung ein solches Maß an Polemik, an Gehässigkeit, an Niedertracht erlebt,
wie Sie es gegenüber Mitgliedern der Bundesregierung, insbesondere den Kollegen Genscher und Zimmermann, hier in einer konzertierten Aktion gezeigt haben. Ich nehme zur Kenntnis, Herr Kollege Apel, daß es zu Ihrer neuen Form der Darstellung gehört,
das war auch — wenn ich Ihnen meinen persönlichen Eindruck schildern darf, nachdem ich Ihre und die Rede von Herrn Ehmke gehört habe — wohl ein verdeckter Wettbewerb um die Nachfolge von Herbert Wehner,
wobei ich fast den Eindruck hatte, daß Sie im Unterbewußtsein in diesen Wettbewerb noch die Herren Hansen und Coppik als potentielle Fraktionsmitglieder einbezogen haben.
Was die Glaubwürdigkeit betrifft — um diesen oft verwandten Ausdruck einzubeziehen —, werde ich Ihnen Punkt für Punkt nachweisen, wo Sie und Herr Ehmke fahrlässig oder bewußt die Unwahrheit gesagt haben.
Ich will zunächst einige Bemerkungen zu den Aufgaben der Finanzpolitik machen, wie ich sie in der vor uns liegenden Zeit sehe. Die Finanzpolitik des Bundes hat eine zentrale Aufgabe von eigenem
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Bundesminister Dr. StoltenbergRang, aber sie ist nicht Selbstzweck, sie hat auch eine instrumentale Aufgabe, eine dienende Aufgabe. Der erste Grundsatz, der für mich, für alle Mitglieder der Bundesregierung und für das ganze Hohe Haus gelten sollte, ist nach meiner Überzeugung: Der Bürger als Steuerzahler soll die Gewißheit haben, daß seine Steuern und Abgaben sparsam, sorgfältig und überprüfbar für die Staatsaufgaben, d. h. für die großen Gemeinschaftsaufgaben unseres Volkes, verwandt werden.
Die erste aktuelle Aufgabe ist, den verlorengegangenen Spielraum gestaltender Politik auch durch den richtigen Einsatz der öffentlichen Mittel wiederzugewinnen. Dieser Spielraum ist durch die Regierungspolitik der letzten Jahre, insbesondere durch die Position der Sozialdemokratischen Partei zunächst verlorengegangen.Ich will Ihnen das an Hand einer Äußerung meines Vorgängers, des Bundesministers Lahnstein, vom Juni dieses Jahres in Erinnerung rufen, eine Äußerung, die sich dann auch auf konkrete Zahlen bezieht. Das gesamte damals von Ihnen geplante Wachstum des Haushaltsentwurfs für 1983 wird durch die steigenden Zinsausgaben des Bundes in Anspruch genommen. Sie, Herr Kollege Apel — daran muß man Ihre großen Reden und Anschuldigungen einmal messen — haben im Kabinett einen vorgesehenen Ausgaberahmen für 1983 mit einem Wachstum der Bundesausgaben von 4,5 Milliarden DM beschlossen. Der eingeplante Zuwachs der Zinsausgaben für 1983 betrug 4,6 Milliarden DM. Das heißt, Sie haben sich aus Ihrer Verantwortung für das nächste Jahr mit seinen bedrängenden Problemen für eine Politik des nominellen Nullwachstums in den Bundesausgaben entschieden. Real bedeutet es nach Abzug der Inflationsrate ein empfindliches Minuswachstum.
Aus diesen Ausgangsdaten Ihrer eigenen Entscheidung werden wir Sie nicht entlassen, wenn wir Ihre großen Sprüche hier hören und hier im einzelnen zur Kenntnis nehmen und uns im kommenden Wahlkampf mit Ihnen auseinandersetzen müssen.
Natürlich ist Ihnen als dem Bundesminister der Verteidigung der letzten Jahre, der etwas selbstkritischer auch seine eigene Bilanz in jenem Hause betrachten sollte,
bekannt, daß es nach den Entscheidungen der alten Regierung unabweisbare politische und rechtliche Verpflichtungen gab, die z. B. dazu führten, daß Sie im Kabinett Schmidt für 1983 eine Ausgabensteigerung für den Verteidigungshaushalt von 4,1 %, d. h. um knapp 2 Milliarden DM, eingeplant haben. Natürlich wissen Sie, daß die geltenden Leistungsgesetze, die Geldübertragungsgesetze — sicher weithin auch im sozialen Bereich anzusiedeln — nach geltendem Recht zu einer noch höheren Ausgabensteigerung für 1983 führen. Das bedeutet bei einem nominalen Nullwachstum nach Ihren Beschlüssen,daß in allen anderen Bereichen nachhaltigste und schwerste Einsparungen vorgesehen waren, die nach Ihrer Beschlußlage auch mit großen sozialen Härten verbunden gewesen wären.Vor allem aber bedeutet diese Beschlußlage, daß nach Ihren Entscheidungen die schlimme Talfahrt der realen öffentlichen Investitionen des Bundes weitergegangen wäre. Unter der Verantwortung sozialdemokratischer Bundeskanzler und Finanzminister ist ja diese Investitionsquote von 18,4 % im Jahr 1971 auf — nach Ihrem Beschluß — 13,1 % im Jahr 1983 abgesunken.
Nach Ihren Entscheidungen würden 1983 also rund 13 Milliarden DM weniger an Investitionsförderungsmitteln und Investitionen des Bundes zur Verfügung stehen als bei einer gleichförmigen Politik in der Gewichtung, wie wir sie bis 1969 betrieben haben. Hier kann ich Ihnen nur sagen: Zwischen den Reden, auch den ernsthaften Reden — wenn ich einmal Ihre verbalen Exzesse von heute niedriger hänge —, Ihrer Partei in den letzten Jahren und dem Handeln ergibt sich hier eine immer größere Kluft, die Ihre Glaubwürdigkeit schon lange erschüttert.
Nach sozialdemokratischem Verständnis, nach sozialdemokratischer Beschlußlage geben Sie öffentlichen Investitionen im Verhältnis zu den privaten eine noch höhere Priorität als wir. Beides ist wichtig. Aber die privaten Investitionen betragen 84 % der Gesamtinvestitionen in der Bundesrepublik Deutschland, auch nach über 13jähriger sozialdemokratischer Regierungsführung, und die öffentlichen Investitionen 16 %.Wenn Sie die Gewichte im einzelnen hier anders setzen als wir, müssen Sie sich aber mit der Tatsache auseinandersetzen, daß in der Zeit der dramatisch steigenden Arbeitslosigkeit und der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit Ihre Beschlußlage zu einem weiteren Verfall der öffentlichen Investitionen führen würde und daß Sie damit eine Hauptverantwortung für Arbeitslosigkeit und Firmenzusammenbrüche zu übernehmen haben, die Sie auch durch einen noch so hemmungslosen Wahlkampf der nächsten fünf Monate nicht abschütteln können.
Das ist die Frage der Glaubwürdigkeit, Herr Kollege Apel.
— Die Entscheidung über die Investitionen hat doch nicht der Bundeswirtschaftsminister getroffen. Die Richtlinienkompetenz lag immer noch beim sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Das ist die Frage der Glaubwürdigkeit, und der Begriff Glaubwürdigkeit hängt auch mit Wahrhaftigkeit zusammen.7276 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Bundesminister Dr. StoltenbergNun haben Sie, Herr Kollege Apel, wie es gelegentlich hier auch in meiner Abwesenheit geschehen ist, vor allem wenn die Fernsehkameras liefen, über die Schulden der Bundesländer gesprochen. Sie sind mit den Einzelheiten nicht gut vertraut.Es ist unwahr, daß sich die schleswig-holsteinische Landesregierung jemals für die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben ausgesprochen hätte.
— Erlauben Sie mir, eine der vielen Unwahrheiten von Herrn Apel hier richtigzustellen, ohne sich gleich zu erregen, meine Damen und Herren; ich stelle jedem von Ihnen die Dokumente zu dem zur Verfügung, was ich sage. Wahr ist, daß wir uns nach langer Diskussion im Kreis der elf Bundesländer, unter denen es unterschiedliche Auffassungen gab
— hören Sie den zweiten Teil —, auf ein Verhandlungskonzept geeinigt haben — das war vor zwei Jahren —, das davon ausgeht, daß regionale Wirtschaftsförderung, Agrarstruktur, Küstenschutz, Hochschulbau und andere zentrale Bereiche der Gemeinschaftsfinanzierung weiterhin gemeinsame Aufgaben bleiben, und daß wir, Herr Kollege Matthöfer, einige wenige Punkte außerhalb von Art. 91 und am Rande von Art. 104 a des Grundgesetzes definiert haben. Mit diesem Konzept sind wir damals mit Herrn Kollegen Matthöfer in eine Erörterung über Abbau von Mischfinanzierung eingetreten, die aus Gründen, die ich hier nicht zu schildern brauche, nicht zu einem Ergebnis führte. Aber es ist unwahr, zu behaupten, daß zwischen meiner Position als Ministerpräsident in der Frage der Gemeinschaftsaufgaben und dem, was der Bundeskanzler heute über die Verstärkung dieser zentralen Bereiche gesagt hat, auch nur im Ansatz ein Widerspruch bestehe. Sie sollten sich besser informieren, bevor Sie derartige Reden noch einmal im Deutschen Bundestag halten.
Und Sie sollten sich besser informieren, ehe Sie über Verschuldung der Bundesländer und ihrer Bürger reden. Ich habe jetzt die amtliche Statistik des Bundes nicht zur Hand. Ich schicke sie Ihnen zu. Sie können dieser amtlichen Statistik des Bundes, also meiner Vorgänger, entnehmen — ich nenne nicht Zahlen, sondern Tatsachen —
— ich nenne nicht Zahlen, sondern für jedermann verständliche Tatsachen —, daß ich als schleswigholsteinischer Bürger eine niedrigere Pro-KopfVerschuldung als Sie als Hamburger Bürger habe.
— Die Wahrheit ist — hören Sie zu Ende —, daß mein bisheriger Kollege Koschnick als Bremer Bürger
— ich komme zunächst zum Abschluß und möchte Sie bitten, im Augenblick auf eine Zwischenfrage zu verzichten —, daß mein bisheriger Kollege Börner als hessischer Bürger, mein bisheriger Kollege Rau als Bürger von Nordrhein-Westfalen, aber auch mein bisheriger Kollege Werner Zeyer im Saarland und Bernhard Vogel in Rheinland-Pfalz jeweils eine höhere Pro-Kopf-Verschuldung haben als die Bürger des Landes Schleswig-Holstein. Nur in zwei Bundesländern haben die Bürger eine niedrigere Verschuldung — wenn ich Berlin auf Grund seiner besonderen Situation draußen vor lasse —, nämlich in Bayern und Baden-Württemberg.Das von Ihnen gepflegte Mißverständnis beruht auf folgendem. Die schleswig-holsteinischen Bürger haben, was die kommunalen Schulden angeht, die niedrigsten Schulden unter allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland, niedrigere Schulden als die Bürger Bayerns und Baden-Württembergs. Das Land Schleswig-Holstein hat demgegenüber eine überdurchschnittliche Verschuldung. Dies ist aus der Finanzkraft des Landes heraus erklärbar
— ich bitte Sie um Entschuldigung, Herr Apel; ich möchte den Gedankengang zu Ende führen — und aus einer Politik erklärbar, zu der ich mich bekenne und die den finanziellen Spielraum der kommunalen Selbstverwaltung nachhaltiger gestärkt hat als jedes andere Bundesland in der Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, zu den Gipfelpunkten der Unverfrorenheit gehört es, die neue Bundesregierung und den neuen Bundesfinanzminister für die Neuverschuldung im Jahre 1982 verantwortlich machen zu wollen.
— Entschuldigen Sie, Herr Apel, ich möchte jetzt im Zusammenhang reden.
Ich schätze die guten parlamentarischen Gepflogenheiten. Nachdem Sie aber die Regierungserklärung als Dokument der Bösartigkeit bezeichnet haben, möchte ich heute keine Zwischenfrage von Ihnen beantworten.
Die Wahrheit ist doch, daß die deutsche Öffentlichkeit zwei Tage nach dem Regierungswechsel dietatsächlich zu erwartende Neuverschuldung für das
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Bundesminister Dr. StoltenbergJahr 1982 erstmals durch eine Pressekonferenz, die ich im Auftrage des Kabinetts gab, erfahren hat. Auch viele von Ihnen haben sie erst dann erfahren, denn die Vertuschung unangenehmer Tatsachen ist ja bis in die Reihen der Sozialdemokratischen Partei hinein gegangen. Man braucht nicht ein Mitglied des Haushaltsausschusses zu sein, um zu wissen, daß eine Regierung, die die Amtsgeschäftes 80 Tage vor Jahresende übernimmt, auf den tatsächlichen Ablauf des Haushaltsgeschehens und den Umfang der Neuverschuldung in diesem Jahr keinen gestaltenden Einfluß mehr hat.
Das gehört zu den elementaren Tatsachen politischer Bildung, die meine Tochter in der Oberstufe eines Gymnasiums in Kiel gelernt hat und die auch der Abgeordnete Apel kennt. Insofern ist das, was er dazu gesagt hat, reine Demagogie.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Matthöfer?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Matthöfer, bitte sehr.
Herr Kollege Stoltenberg, es geht um folgendes. Gestatten Sie mir zwei Vorbemerkungen.
— Lassen Sie doch Ihre albernen Bemerkungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wäre dankbar, wenn Herr Matthöfer seine Frage formulieren könnte.
Nicht Sie, sondern der jetzige Bundeskanzler und der Innenminister haben zusammen mit den anderen Kollegen der CDU/CSU-Fraktion eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht, bei der sie die Höhe der Investitionen zum Maßstab für die Höhe der Verschuldung machen. Jetzt frage ich Sie als ehemaliger Bundesfinanzminister, der weiß, daß ein Bundesfinanzminister, wenn er dies will und wenn er die Mehrheit hat, sehr wohl in der Lage ist, 5 Milliarden DM durch sofortige Sperren und durch Ausnutzung der Jahreswendeklausel in das nächste Jahr zu bringen
— dann hätten Sie ein Jahr Zeit, das zu bewältigen —, folgendes: Was ist denn in dem einen Monat passiert, das es einerseits rechtfertigt, uns zu sagen, die jetzige Verschuldung sei schon verfassungswidrig, und Sie andererseits veranlaßt, diese angeblich verfassungswidrige Verschuldung jetzt noch einmal um 5 Milliarden DM zu erhöhen, obwohl Sie etwas anderes tun könnten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Matthöfer, ich kann die Wertung, die in Ihrer Frage eingeschlossen ist, nicht teilen. Nach meiner Überzeugung — ich habe mich von den Ihnen ja überwiegend gut vertrauten leitenden Beamten des Finanzministeriums natürlich sehr sorgfältig beraten lassen — gibt es bei einer Eröffnungsbilanz im Oktober, deren hier vorgetragene Zahlen ja nicht von mir, sondern aus den sorgfältigen Berechnungen des Hauses stammen — ich habe sie auch dem Kabinett vorgetragen —, haushaltsrechtlich keine andere Möglichkeit, als den Weg eines Nachtragshaushaltes zur Ermächtigung für eine leider unvermeidlich gewordene weitere Verschuldung zu gehen. Dies ist doch nicht eine politische Ermessensfrage, sondern eine Frage der Anwendung des geltenden Finanz- und Haushaltsrechts. Das ist doch der Punkt.
Alle Spielräume bei außerplanmäßigen und überplanmäßigen Ausgaben, die Sie kennen, und die ich im Amt auch noch besser kennenlernen werde als bisher — da konzediere ich Ihnen einen Vorsprung— können doch nicht ein Problem von 5 Milliarden DM lösen.Eine Übertragung ins nächste Jahr — ich habe es nicht ganz richtig verstanden, aber es klang so — kann keine Lösung sein, weil — das ist eine der wenigen zutreffenden Vorstellungen von Herrn Apel — sich natürlich die Ausgangsdaten für das nächste Jahr auch im Lichte dieser Entwicklung drastisch verschlechtert haben. Ich komme darauf noch zu sprechen, ich werde nur durch ihre lebhaften Interventionen ein bißchen aufgehalten. Eine Übertragung ins nächste Jahr würde nach meiner Überzeugung weder von Herrn Lahnstein noch von Ihnen vorgeschlagen werden, wenn Sie sich Anfang Oktober mit diesen Zahlen auseinandersetzen müßten.
— Herr Kollege Matthöfer, Sie haben in Ihrer Frage im Grunde zwei Probleme angesprochen. Ich habe zu dem aktuellen Problem Stellung genommen und darf mir erlauben, im Rahmen der Haushaltsdebatte im November noch einmal auf die Grundsatzfragen einzugehen, die mit der Verfassungsklage der CDU/CSU verbunden ist. Ich werde das nicht vermeiden. Ich sage Ihnen dazu, daß ich in der ausführlichen Haushaltsdebatte, die wir im November haben werden — am 12. oder 14. November, ich kann es nicht auf den Tag genau sagen, es ist zwischen den Fraktionen besprochen —, zu dieser Frage im Gesamtzusammenhang Stellung nehmen möchte, aber nicht jetzt in einer Erweiterung des wichtigen Themenkatalogs der aktuellen Probleme.Meine Damen und Herren, es ist eine schlichte Wahrheit: 80 Tage vor Jahresschluß und 65 Tage, bevor das Parlament in die verdienten Weihnachtsferien geht, können wir im Haushalt 1982 nur noch vollziehen, was durch Entscheidungen der Regierung Schmidt für dieses Jahr vorprogrammiert ist.
7278 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Bundesminister Dr. StoltenbergDas ist doch eine vollkommen unpolemische Feststellung. Aber ich bitte Sie, Herr Apel und Herr Ehmke, herzlich, mit dieser Polemik über den Haushalt 1982 mit dem heutigen Tage Schluß zu machen, wenn Sie ein bestimmtes Maß an Anspruch auch in Ihrem eigenen Standard in der deutschen Öffentlichkeit wahren wollen. Ich werde Ihnen auch in der Öffentlichkeit eine Antwort auf diese Polemik nicht schuldig bleiben, wenn Sie sie fortsetzen.
Nun zu den anderen Märchenerzählungen. Die beiden Herren, also Apel und Ehmke — es hat wohl derselbe Mitarbeiter aufgesetzt — haben es fertig gebracht, zu behaupten — —
Ich habe die beiden Herren nie im Vermittlungsausschuß gesehen. Ich war j a meistens da, wenn es um Finanz- und Steuerfragen ging. Deswegen vermute ich, daß das ein Sekundärwissen ist,
so ähnlich wie Oscar Lafontaine von den Sekundärtugenden des Bundeskanzlers Helmut Schmidt gesprochen hat. Meine Damen und Herren, etwas auf derselben Ebene, ein solches Sekundärwissen vermute ich.Es ist eine Groteske — auch wenn Sie sich auf Berechnungen des Herrn Walther und des von mir besonders geschätzten Kollegen Posser berufen —, zu behaupten, die Bilanz unserer Tätigkeit im Vermittlungsausschuß sei, daß wir den Bundeshaushalt im Laufe der Jahre um mindestens 20 Milliarden DM belastet hätten.Ich will Ihnen, sehr verehrte Frau Kollegin, meine Bilanz darstellen. Es ist richtig, daß wir im Vermittlungsausschuß und im Bundesrat Steuererhöhungen, die von Ihnen ohne gleichgewichtige Rückgabe an die Bürger vorgesehen waren, mehrfach abgelehnt haben. Dazu bekenne ich mich, und ich sage etwas zu dieser Kontinuität der Politik, die Herr Apel so polemisch angesprochen hat. Aber was sie bei dieser Rechnung verschweigen, ist, daß wir im Bundesrat und im Vermittlungsverfahren unter meiner Mitwirkung, zu der ich mich bekenne, kostenwirksame Gesetze — es ging um Milliarden — zu einem Zeitpunkt abgelehnt haben, als jeder wußte, daß sie nicht mehr solide und ehrlich finanziert werden können.
Zu meiner Bilanz als Ministerpräsident und der Bilanz meiner Kollegen der CDU/CSU gehört, daß wir im Juni 1980, drei Monate vor der letzten Bundestagswahl, das Verkehrslärmschutzgesetz, das Strafvollzugs-Fortentwicklungsgesetz, und das Jugendhilfegesetz in offener Abstimmung abgelehnt haben, weil sie die Haushalte des Bundes, der Länder und Gemeinden zusammen nach den damaligen Berechnungen nach einer Übergangszeit in einer Größenordnung von 6 bis 8 Milliarden DM belastet hätten.
Herr Apel, es war damals eine verantwortungslose Politik, als jeder die Finanzkrise erkennen konnte, diese Gesetze in dieser Form, mit diesen finanziellen Auswirkungen — ich bestreite nicht die im Kern vorhandenen Probleme — zur Abstimmung zu stellen. Die Mehrheit hat das vor der Bundestagswahl gemacht, und die Minderheit in diesem Hause hat die Entscheidung der Ministerpräsidenten der CDU/CSU mitgetragen, einen solchen Beschluß aus finanzpolitischer Verantwortung auch vor der Bundestagswahl zu fassen. Ich bitte Sie deshalb, mit den Märchenerzählungen auch in diesem Punkte künftig Schluß zu machen.
Wir stehen in der Kontinuität einer Politik. Es ist richtig — das gilt für jeden von uns —, daß Sie nicht jeden Nebensatz oder jede aktuelle Feststellung nach zwei, drei Jahren so unterschreiben können. Hier unterliegen wir alle dem Irrtum.
— Ja, Gott, Sie haben nach dem Rentenbetrug von 1976 gerade Grund zum Lachen.
Da ging es ja nicht um Nebensätze, sondern da ging es um die schlimmste Täuschung, die die Sozialdemokratische Partei ihren Wählern und jenen sozial Schwachen überhaupt jemals zugefügt hat, von denen Sie hier heute so beredt reden und die Sie mit Ihrer Politik über Jahre hinweg mit Füßen getreten haben, meine Damen und Herren; um Ihnen das in aller Deutlichkeit zu sagen.
Aber ich persönlich lasse mich von Ihnen nun nicht mit ausgewählten einzelnen Interviewsätzen, sondern nur im Gesamtzusammenhang meiner Reden und Erklärungen auf die Kontinuität der Politik ansprechen.
— Ich nehme zu den genannten Punkten Stellung, auch wenn es durch Ihre Zwischenrufe noch etwas länger dauert. Meine Damen und Herren, ich muß aber doch einige der gröbsten Unwahrheiten hier korrigieren können, die Sie und Herr Ehmke hier vorgetragen haben. —(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe vonder SPD)Sie haben Kritik an unseren Entscheidungen zum Nachtragshaushalt geübt. Sie haben uns hier — Herr Ehmke hat das getan — einen krassen Widerspruch in der Frage der Beamtenbesoldung vor und nach dem Regierungswechsel vorgeworfen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7279
Bundesminister Dr. Stoltenberg— Herr Kollege Apel, darf ich meine Argumente dazu hier noch einmal vortragen, weil Sie vielleicht etwas übersehen haben. Vielleicht kommen wir doch noch in eine ruhigere Debatte, bevor Sie in dieser Frage Ihr endgültiges Urteil fällen. — Es ist richtig, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und auch die Mehrheit des Bundesrates in Reden und Stellungnahmen die unterschiedliche Behandlung von Beamten, Angestellten und Arbeitern kritisiert haben.
Das war in unseren Reden der Bezugspunkt, nicht die Höhe des Steigerungssatzes; ich kann Ihnen ja die Stellungnahme des Bundesrates vorlegen.
— Ja, gut, gut; ich kann Ihnen die Stellungnahme des Bundesrates j a noch einmal vorlegen.
— Darf ich das einmal in Ruhe zu Ende führen, damit wir überhaupt einmal Sachverhalte klären können. — Das war der Punkt: die unterschiedliche Behandlung durch das weite Auseinanderklaffen der Termine. Ich will Sie darauf verweisen, daß wir nach einer sorgfältigen Berechnung und Erörterung auch im Koalitionsausschuß zu folgendem Ergebnis gekommen sind: Da die Arbeiter und Angestellten durch die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und andere Entscheidungen, die ja in der Kontinuität Ihrer Politik stehen, die Sie veranlaßt haben — ich komme darauf noch zu sprechen —, stärker betroffen sind als die Beamten — Ihnen allen ist das Problem vertraut —, gibt es Gründe für einen verringerten Zeitraum hinsichtlich der Anpassungssätze, auch nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung.
Wir verändern aber — klatschen Sie bitte nicht zu früh! — Ihre Beschlußvorlage für 1982 nach der Koalitionsvereinbarung dadurch, daß wir die Beamtenbesoldung 1982 um einen Monat vorziehen und damit im Hinblick auf die Belastung der Arbeiter und Angestellten die Gleichstellung erzielen. Es ist der für 1982 einzige finanzwirksame Beschluß auf der Basis der Koalitionsvereinbarungen. Nun können wir über einen Monat oder zwei Monate diskutieren. Nun können wir über einen Monat oder zwei Monate diskutieren. Aber Sie können, wenn Sie diesen Text gelesen haben, doch nicht behaupten, daß wir das Gegenteil von dem machen, was wir vorher gesagt haben.
Wissen Sie, Herr Ehmke, die Erklärung des Bundeskanzlers, die ja klar sagt, daß aus den genannten Gründen die Anpassung in der Rentenversicherung um 5,6 % zwar hinausgeschoben wird, daß es aber bei den 5,6 % bleibt — mit dem Krankenversicherungsbeitrag, den Sie ja eingeführt haben und den wir übernehmen —, als einen Roßtäuschertrick zu bezeichnen ist j a ein tolles Stück. Es ist in der Sache und in der Sprache eine eindeutige Erklärung. Man braucht j a kein Rentenexperte zu sein, um zu wissen, daß es ein entscheidender Unterschied für die Rentner ist, ob es ab 1. Januar 2,8 % oder ab 1. Juni 5,6% — um Ihr Zahlenspiel aufzunehmen — geben wird. Denn die 5,6 % bleiben j a die Grundlage für die nächste Rentenanpassung. Insofern sollten Sie auch hier zur Wahrhaftigkeit und Klarheit zurückkehren.
Ich möchte, nachdem ich nur einige der gröbsten Unwahrheiten und Unrichtigkeiten hier richtiggestellt habe, zur Sache zurückkehren.80 Tage vor dem Beginn des Jahres 1983 sind wir gewillt und entschlossen, in kürzester Zeit die dringendsten Entscheidungen zu treffen: für die Wiederbelebung der Wirtschaft, für die Wiederbelebung besonders des Wohnungsbaus, für die steuerliche Entlastung auch der Betriebe in einer ersten Stufe und, was besonders schwerwiegend ist, für die Verringerung des strukturellen Defizits beim Bundeshaushalt 1983 über Ihre Beschlußlage hinaus, um mehr als 5,5 Milliarden DM, d. h. nach einer ersten Schätzung, die noch verfeinert werden muß, eine Entlastung von Bund, Ländern und Gemeinden in der Größenordnung von 8 bis 9 Milliarden DM.
— Ich komme auf den Punkt zu sprechen. — Natürlich tun wir das, um die Nettoverschuldung zu begrenzen, aus der Sorge um den Zielkonflikt und mit der vorrangigen Hoffnung, daß die Entwicklung der Kapitalmärkte der Bundesbank den Spielraum eröffnet, möglichst bald und hoffentlich dann weiter im nächsten Jahr die Zinsen zu senken. Die Frage, ob die Bundesbank, deren Autonomie wir nicht nur formal, sondern auch inhaltlich — das ist ein Unterschied zu einigen von Ihnen — anerkennen, in ihrer autonomen Entscheidung die Unterstützung durch die staatliche Haushalts- und Finanzpolitik sieht, ist von entscheidender Bedeutung in den ökonomischen und auch in den sozialen Auswirkungen.Natürlich haben wir — Herr Kollege Dregger hat es gesagt — in der CDU/CSU-Fraktion eine lange Debatte über die vorgesehenen Einschränkungen — man kann j a nicht von einer generellen Kürzung sprechen — und Korrekturen beim Kindergeld gehabt. Natürlich bewegt das viele unserer Freunde und auch mich. Aber ich habe mir erlaubt, in dieser Debatte darauf hinzuweisen, daß — dies sind geschätzte Zahlen, aber in der Größenordnung stimmen sie —, so bitter auch für die Besserverdienenden eine Einschränkung beim Kindergeld ist, für die Millionen
— darf ich das erst zu Ende führen —, die in den letzten Jahren Häuser gebaut haben — und das sind j a nicht nur die großen Villen, sondern auch die Kleinsiedlungen, und das sind ja auch die Arbeiter, die entscheidend am Familienheimbau beteiligt waren —, z. B. die Frage der Hypotheken mit Gleitzinsen wichtig ist. Sie alle wissen, was das an Schrecklichem in den letzten 18 Monaten bedeutet. Die Frage, ob die Bundesbank in der staatlichen Finanzpolitik eine Unterstützung sieht, die Zinsen7280 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Bundesminister Dr. Stoltenbergum 1% zu senken, bedeutet für das Familieneinkommen, für die Belastung dieser Menschen gerade in den mittleren und unteren Einkommensgruppen 150, 200, 250 DM im Monat und ist viel wichtiger als manches, was wir im Für- oder Miteinander an Korrekturen an direkten staatlichen Transferleistungen sehen.
Herr Bundesminister — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich erst noch einen Satz sagen. — Diesen ernsthafteren und vertiefteren Zusammenhängen der Wirkungen staatlicher Haushaltspolitik auch in ihrem unangenehmen Teil der Kürzung müssen Sie sich in den kommenden Monaten in einer ernsthafteren Form stellen als mit den Holzhammer- und Schlagtotmethoden der Herren Ehmke und Apel heute in ihren Reden zu dieser Sache.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie sich an die schwierige und richtige Aufgabe des einkommensbegrenzten Kindergeldes heranmachen, wäre es dann nicht unter dem Gesichtspunkt des Abbaus von Bürokratie der richtige Schritt, gleich zur Finanzamtslösung zu kommen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich auf die Frage, weil ich noch ein paar Sätze zum Kindergeld sagen wollte, zurückkommen. Ich werde sie mit Sicherheit aufnehmen, ich bin aber noch im anderen Duktus meiner Stichworte.
Wir müssen also den Handlungsspielraum für verantwortliche Politik wiedergewinnen. Von diesen Feststellungen des Bundesfinanzministers Lahnstein, meines Vorgängers, in Verbindung mit dem Haushaltsentwurf 1983 Ihrer Koalition kommen Sie nicht weg, auch nicht bis zum März und darüber hinaus. Nach den von Ihnen, Herr Apel, unter Ihrer Mitwirkung festgelegten Zahlen war der Handlungsspielraum für das nächste Jahr Null und real ein Minus in allen Fragen, die uns bewegen, von der Beschäftigungspolitik bis zur Sozialpolitik.
Das ist das Dokument vom Juni, von dem wir mittlerweile wissen — das ist richtig —, daß es auf noch zu optimistischen Annahmen beruhte — ich komme darauf zu sprechen — und daß wir die Annahmen leider zunächst noch finanzwirtschaftlich verschlechtern müssen.
65 Tage hat dieses Hohe Haus Zeit, daß wir Elemente und Beschlüsse der alten Regierung aus dem Zeitnotstand übernehmen und die zusätzliche Entlastung für politisches Handeln mit den Kürzungen von fünfeinhalb bis sechs Milliarden DM — acht bis neun Milliarden für alle drei Ebenen — für eine Politik, die stärker der Beschäftigung und der Wirtschaft dient, gewinnen. Das sind die Grundfakten.
Herr Kollege Ehmke, ich habe mir erlaubt, das vor einer Pressekonferenz in einem Bild zu sagen: 65 Tage haben wir Zeit. — Herr Ehmke ist, glaube ich, im Augenblick nicht da. Das ist sehr bedauerlich, muß ich sagen, aber gut, ich sage es dann Herrn Apel und den anderen Kollegen: 65 Tage haben wir Zeit.
— Wenn wir Neuwahlen gehabt hätten, wären wir mit einer vorprogrammierten Verschuldung von 55 bis 60 Milliarden DM in das nächste Jahr hineingegangen. Das will ich Ihnen sagen.
Wenn wir Ihrem Konzept gefolgt wären — sofortige Bundestagsauflösung —, dann wären doch nicht einmal die alten Begleitgesetze der Koalition mit achteinhalb Milliarden DM Entlastung, weitgehend über Abgabenerhöhungen, durchgekommen.
Dann hätten Sie bei den Zahlen vom Juni, die ich Ihnen beschrieben habe, nicht ein Minus von drei oder fünf Prozent am staatlichen Beitrag für Investitionen, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik erlebt, sondern eines von zwölf bis 15 Milliarden DM, um Ihren Horrorzahlen über Nachfrageentzug einmal mit einer ernsthaften vorläufigen Schätzung zu begegnen. Finanzwirtschaftlich wäre die Realisierung der sozialdemokratischen Forderung nach Neuwahlen ohne die dringendsten Beschlüsse eine Politik der verbrannten, der zerstörten Erde gewesen. Das will ich Ihnen hier noch einmal in aller Klarheit sagen.
Deswegen stellen wir uns dieser schweren Aufgabe, die mit den Einsichten fast jeden Tages noch schwerer wird, auch für den Finanzminister, diese Erblast zu übernehmen — das ist ein vornehmer Ausdruck — und das Notwendigste zu tun.
— Das ist ein sehr vornehmer Ausdruck, selbst nach normalen Standards. Ich brauche nicht einmal die Standards von Herrn Ehmke und Herrn Apel, die in der Vornehmheit etwas anderes sind als mein sonstiger Bekanntenkreis, zugrunde zu legen. Ich muß das einmal in aller Deutlichkeit sagen. Nach dem, was sie sich hier geleistet haben, will ich Ihnen hier freimütig und offen noch einmal meine Empfindungen zum Ausdruck bringen über den Stil, in dem hier geredet wurde.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7281
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, gerne.
Herr Stoltenberg, das Argument kam heute schon so oft, man habe Neuwahlen nicht machen können, weil man vorher die Spargesetze verabschieden müsse. Was hätte denn eigentlich dagegen gesprochen, wenn wir gemeinsam vor sofortigen Neuwahlen, wie es ja schon der Zeitplan des Bundestages war, die eingebrachten Spargesetze verabschiedet hätten — Sie wissen, da war der 8. Oktober im Deutschen Bundestag vorgesehen — und, wenn Sie und wir alle der Meinung gewesen sind, auf Grund der neuen Zahlen müßten zusätzliche Einsparmaßnahmen vorgenommen werden, auch das bereits gemacht hätten und trotzdem die, wie ich finde, erforderlichen Neuwahlen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Schönen Dank. Verehrte Frau Kollegin, Sie haben jetzt mit einem Nebensatz zwei Probleme angesprochen. Es ist schon ein Stück Geschichte, aber ich will das aufnehmen. Es wäre vollkommen unvorstellbar gewesen — Sie haben das Thema zusätzliche Einsparungen gebracht —, in einem Verfahren bis zum 8. Oktober zusätzliche Einsparungen zu definieren, in eine Rechtsform zu bringen, in die Form von Gesetzen, soweit es gesetzliche Dinge sind, und auch nur mit einem Mindestmaß an parlamentarischem Verfahren zu verabschieden. Aber ich habe selbst bei den alten Begleitgesetzen meine Zweifel. Dies müssen Sie der CDU/CSU konzedieren, daß sie sich zwar auf wenige begrenzte Änderungen an den alten Begleitgesetzen in ihren Vorstellungen aus der terminlichen Notsituation heraus beschränkt hat, in der wir uns befinden, daß aber einige Änderungen notwendig waren. Da geht es eben nicht um das Ehegatten-Splitting, das die Sozialdemokraten erregt. Ich hätte — und zwar sowohl im Interesse der Betriebe als auch im Interesse der Arbeitnehmer — in keinem Falle einer Lösung zustimmen können, mit der die Betriebspensionen rechtlich noch einmal schlechtergestellt worden wären.
Verehrte Frau Kollegin, ohne an allen Geschäftsordnungs- oder internen Überlegungen des Bundestages beteiligt gewesen zu sein, sage ich Ihnen: Es ist vollkommen unvorstellbar, daß dies von der zweiten Septemberhälfte bis zum 8. Oktober hätte interfraktionell entschieden, mit dem Bundesrat abgestimmt und hier in einem ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden können.
Herr Bundesminister, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hölscher?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte gern fortfahren, weil ich die Sorge habe, daß ich sonst heute die restliche Redezeit beanspruche.
Die Redezeit der Mitglieder der Bundesregierung ist nicht begrenzt. Ich wollte sie nur fragen. Es liegt in Ihrer Hand, ob Sie eine Zwischenfrage annehmen oder nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gut, sehr gerne.
Bitte, Herr Kollege Hölscher.
Herr Bundesfinanzminister, auch wenn Ihre Möglichkeiten, was die Redezeit angeht, unbegrenzt sind, darf ich Sie in bezug auf Ihr Selbstverständnis, auf das eines Parlamentariers — zumindest bis zu dieser Stunde in Schleswig-Holstein —, fragen: Ist es nicht das primäre Recht eines Parlaments, das Haushaltsgesetz zu verabschieden, und wäre es bei einem Einvernehmen zwischen allen Fraktionen des Bundestages nicht möglich gewesen, eben auch die Nachbesserung noch zu verabschieden, ohne daß wir dem Wähler gegenüber durch den Verzicht auf Neuwahlen in diese für uns alle ja unangenehme Situation hineingekommen wären?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hölscher, nach meiner Überzeugung ging es nicht nur um den Haushalt,
sondern auch um die Begleitgesetze. Darf ich — auch mit Ihrer freundlichen Zustimmung — den Rückblick nun mit der folgenden Bemerkung beenden: Stellen Sie sich einmal vor, in dem hier angedeuteten Verfahren wäre am 8. Oktober der Haushalt verabschiedet worden, und am 10. Oktober wären die Zahlen bezüglich der drastischen Verschlechterung der Ausgangsbedingungen, von denen ich gesprochen habe und die ich im Hause vorgefunden habe, auf den Tisch gekommen!Meine Damen und Herren, darf ich nun aber mit Ihrer freundlichen Nachsicht fortfahren: Herr Kollege Ehmke, Ihre Rede ist mir in der Tat als ein Dokument der Flucht aus der Verantwortung erschienen.
Daß sich das in diesem blitzartigen Tempo vollziehen würde, habe ich allerdings nicht vermutet.
Nach meiner Überzeugung ist vieles, was Sie und auch Herr Apel an groben klassenkämpferischen Tönen gebracht haben, eine Rückkehr in die 50er Jahre, in die Zeit vor Godesberg!
Das läßt bezüglich der inneren Probleme der Sozialdemokratischen Partei Schlimmes befürchten.Wir werden Sie aus der Haftung nicht entlassen. Umverteilung von oben? Nun wollen wir einmal über das Kindergeld reden, Herr Kollege Apel.7282 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982Bundesminister Dr. StoltenbergNach meiner Erinnerung haben Sie als Sozialdemokraten ohne Zustimmung des Bundesrates in der „Operation '82" das Kindergeld für alle nach der Rasenmähermethode gekürzt,
für die Witwe mit 700 DM Rente — die gibt es ja in jungen Jahren auch — genauso wie für den Großverdiener mit 200 000 DM, von dem Sie so gerne reden, wobei ich Sie am Rande einmal bitten möchte, bei zukünftigen Bemerkungen über hohe Einkommen von dem Selbstverständnis auszugehen, daß wir alle in diesem Hause, meine Damen und Herren, dazugehören. Wir alle gehören dazu!
— Ich sage das nur deswegen, weil diese Bermerkungen gelegentlich auch gewisse abwertende Nebentöne haben.Das, was wir vereinbart haben — was uns schwergefallen ist —, ist demgegenüber ein qualitativer Unterschied, weil wir durch die Einführung einer Einkommensgrenze nicht nur die Bezieher ganz kleiner Einkommen, sondern auch die qualifizierten Facharbeiter — also eine soziologisch bis weit in die Mittelschichten reichende Gruppe — freistellen. Wenn Sie hier von Klassenkampf und von Umverteilung von oben reden, muß ich Sie schon einmal fragen: Warum haben Sie als Sozialdemokraten nicht das fertiggebracht, was die CDU/ CSU in Partnerschaft mit der FDP in 14 Tagen fertigbringt, und zwar unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit?
— Jawohl, Herr Kollege Matthöfer, ich gebe Ihnen darin recht, daß dies in der Verwaltung einen gewissen Preis fordert. Ich habe mich über diesen Preis sachkundig gemacht und werde ihn nach sorgfältiger Prüfung auch hier vortragen. Aber ob es nun 130 oder 160 Millionen DM sind, ich als Ihr Nachfolger sage Ihnen: Die will ich dann nach einem Kabinettsbeschluß woanders einsparen, um die unteren Einkommensgruppen von einer Kürzung des Kindergeldes freizustellen.
Das habe ich schon begriffen.
In diesem Kernbereich der Familienpolitik haben wir die sozial angemessene Regelung gefunden. Hören Sie mit den Sprüchen von der Umverteilung von oben auf, wenn wir zu den konkreten Fragen deutscher Politik kommen!
— Ich darf um Entschuldigung bitten: Ich möchte gerne gleich zum Schluß kommen. Ich bitte um Verständnis.Ich sage Ihnen auch — ich kann das jetzt nicht im einzelnen ausführen; im November wird Gelegenheit sein, das zu vertiefen —: Im Prinzip gilt das Gesagte auch für die von Ihnen und anderen heftig kritisierte Investitionshilfe. Nur, Herr Ehmke, sie wird ja aus verschiedenen Motiven kritisiert. Ich bin nicht ganz sicher, ob der Journalist, den Sie zitiert haben, sie aus denselben Motiven kritisiert hat wie Sie. Den einen ist sie zu niedrig, und den anderen ist sie zu hoch, um es kurz zu sagen. So ist es. Wir sollten uns über den Ausgangspunkt wechselnder Kritik einig sein.Natürlich ist das eine Vereinbarung von Koalitionspartnern, zu der wir alle stehen und die nach meiner Überzeugung — der Bundeskanzler hat es gesagt — schon an ein bemerkenswertes Konzept Ludwig Erhards aus dem Jahr 1952 anknüpft; nicht in der Ausgestaltung, aber im Grundgedanken eines Solidarbeitrages. Aber wenn Sie nun in dem Zusammenhang — nicht Sie heute, aber manche von Ihnen — von dem Spitzensteuersatz und von der steuerlichen Belastung der Höchstverdienenden oder Hochverdienenden reden, dann müssen wir in einer anderen Debatte auch einmal auf die Probleme der Kapitalflucht aus der Bundesrepublik Deutschland eingehen.Der Niedergang des Wohnungsbaus — wir wollen ja in zwei Jahren mit dem jetzt vom Finanzministerium, glaube ich, doch ernsthaft geschätzten Aufkommen von 2,5 Milliarden DM bei Freistellung der Investitionen den Wohnungsbau fördern — liegt doch weithin in Ihrer politischen Verantwortung. Um es kurz zu sagen: 1980 sind in der Bundesrepublik Deutschland kaum mehr als halb soviel Wohnungen und Häuser gebaut worden wie im Jahr 1970 oder 1971, Herr Roth. Diese Zahl kann auf 53, 55 % steigen. Da müssen Sie sich doch wirklich einmal fragen, ob eine Politik, die sozial sein wollte und bei der immer nur von Umverteilung im mechanistischen Sinne und von Belastungsproblemen die Rede war, im Ergebnis nicht höchst unsoziale Konsequenzen gehabt hat für die vielen Wohnungssuchenden, für die vielen arbeitslosen Bauarbeiter, deren Situation Sie doch sicher genauso bedrückt wie uns, und — auch das füge ich hinzu — für die vielen Selbständigen, die in den Konkurs gehen.Sie haben den Sachverständigenrat selektiv zitiert. Ich will nur sagen: Für mich war es sehr beachtlich, daß der Sachverständigenrat dieses Konzept begrüßt und sogar gesagt hat, wir sollten es für die unteren Einkommensbereiche hinsichtlich dieser Lösung erweitern — was wir aus Gründen nicht tun werden, die Sie nicht kritisieren werden—, um eine zusätzliche Finanzierung für die gewerbliche Wirtschaft zu erzielen.Im Zusammenhang mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer hat Herr Ehmke von „Steuergeschenken an Gutverdienende" gesprochen.
Mit den „Gutverdienenden" will ich mich noch einmal auseinandersetzen. Aber ich will Ihnen zunächst in aller Kürze sagen: Sie können das gerne noch ein paarmal vorbringen. Es hat keinen einzigen Gesetzentwurf der alten Bundesregierung ge-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7283
Bundesminister Dr. Stoltenberggeben, in dem die Erhöhung der Mehrwertsteuer mit einer dauerhaften und gleichwertigen Steuersenkung verbunden war. Was Sie über die Lohn-und Einkommensteuer vorgetragen haben, war eine Absichtserklärung in der Fußnote oder in der Begründung eines Gesetzentwurfs. Mein Verständnis ist, daß wir über Gesetzestexte und nicht über Absichtserklärungen abstimmen. Dazu bin ich lange genug Parlamentarier.
Die Investitionszulage wäre eine einmalige Finanzierung, aber nicht eine dauerhafte gewesen. Sie können den qualitativen Unterschied nicht bestreiten.Herr Kollege Apel hat gesagt, daß einige von uns bei der früheren Ablehnung auf die sozial schädlichen Auswirkungen hingewiesen hätten. Das ist sicher richtig, das können Sie uns vorhalten. Nur ist es ja sehr erstaunlich, daß er anschließend als neuer Oppositionssprecher beklagt, wie schlimm die sozialen Wirkungen der Mehrwertsteuer seien, deren Erhöhung er als Kabinettsmitglied zweimal beim Bundestag eingebracht hat, um dann im Bundesrat zu unterliegen.
Auch hier ist der Rollenwechsel etwas zu stürmisch verlaufen, Herr Apel; wie überhaupt heute.
Nun komme ich zur Sache mit den Steuergeschenken für die — wie heißt das? — „Gutverdienenden". Ich habe auch die Informationsmaterialien für die Funktionäre und Abgeordneten draußen im Lande über diese Beschlüsse gelesen, Herr Kollege Wehner. Da ist alles noch schlimmer, als es hier vorgetragen wird.
— Weil wir daraus ein Familiensplitting machen wollen.
— Dürfen wir das im November diskutieren. Ich möchte jetzt im Kontext meiner Ausführungen bleiben.
— Entschuldigen Sie, Sie werden mir doch konzedieren, daß ich auch bereit wäre, eine solche Debatte aufzunehmen. Aber ich möchte zumindest noch einem Kollegen die Chance geben, bis 20 Uhr zu reden. Das entspricht auch meinem Verständnis als Parlamentarier.
Meine Damen und Herren, „Steuergeschenke an Gutverdienende" — Sie kennen die Regierungserklärung, Sie kennen die Überlegungen der Koalitionsregierung —, was heißt das? Wir setzen dasAufkommen aus der Mehrwertsteuererhöhung vorgezogen ein, um einen Schuldzinsenabzug im Wohnungsbau, und zwar für die Errichtung von eigengenutztem Wohnungseigentum, zu ermöglichen. Wollen Sie das alles — ich kenne doch die schleswigholsteinischen Kleinsiedler, und das ist in anderen Bundesländern nicht anders; ich kenne doch die Leute, die ein Familienheim bauen wollen, und auch manche, die eine Eigentumswohnung haben wollen, und ich kenne die jungen Familien, die danach suchen — unter Ihr klassenkämpferisches Motto mit den „Gutverdienenden" bringen?
— Die Gesamtüberschrift bei Ihnen lautete „Umverteilung von oben".
— Herr Kollege Apel, Sie können doch in einer Debatte nicht im Ernst diese Absicht, die, wie ich vermute, von einigen Ihrer Wohnungsbaupolitiker im Innersten durchaus positiver gesehen wird, unter diesem Begriff „Umverteilung von oben" oder „Steuerentlastung für Gutverdienende" einbringen.
Ich kann Ihnen hier sagen — ich begrüße es, daß ich das im Einvernehmen mit dem Herrn Bundeskanzler sagen kann —: Ich werde dem Kabinett vorschlagen, daß diese Ihnen bekannte und im einzelnen ausformulierte Neuregelung für den Schuldzinsenabzug bei selbstgenutztem Wohnungseigenturn bereits mit dem 1. Oktober 1982 in Kraft treten möge, damit die Impulse kommen und der Attentismus aufhört.
Ich bin sicher, daß die Koalitionsfraktionen dem Termin zustimmen können — ich greife der Beschlußfassung nicht vor, Herr Kollege Mischnick —, die steuerliche Regelung ab 1. Oktober 1982 gelten zu lassen. Wir brauchen die Impulse sofort und wollen deshalb nicht auf einen späteren Termin warten, auch wenn uns die Mehrwertsteuererhöhung erst in der zweiten Hälfte 1983 Geld in die Kasse bringt.Es geht nicht um die Gutverdienenden, es geht nicht nur um diejenigen, die es nutzen; es geht vielmehr darum, daß wir in der Wohnungswirtschaft einen Impuls setzen wollen, um die katastrophale Lage der mittelständischen Firmen, auch der größeren Firmen, ihrer Mitarbeiter und der arbeitslosen Bauarbeiter zu beseitigen.
Dort haben sich, wie jeder von Ihnen aus seinem Wahlkreis ebensogut wie ich weiß, Hoffnungslosigkeit und Pressimismus ausgebreitet.
— Ich kann den Zwischenruf in diesem Zusammenhang nicht einordnen.Meine Damen und Herren, ich komme nun auf die andere entscheidende und finanziell noch wichtigere Maßnahme, nämlich die Absicht, bei der Ge-
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7284 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Stoltenbergwerbesteuer eine Entlastung durch die Verringerung bei den Dauerschuldzinsen vorzunehmen. Herr Kollege Ehmke, da reden Sie von „Steuergeschenken für die Gutverdienenden".
— Sie haben gesagt, in Verbindung mit der Mehrwertsteuererhöhung sollten die Gutverdienenden Steuergeschenke erhalten. Das muß ich inhaltlich an Hand unserer Maßnahmen überprüfen, wofür wir das Aufkommen aus der Mehrwertsteuererhöhung verwenden wollen. Das ist der zweite und in der Größenordnung noch wichtigere Punkt, Herr Ehmke. Darauf müssen Sie sich ansprechen lassen; entschuldigen Sie.Wieviel Konkurse müssen wir in diesem Land noch erleben, wieviel hunderttausend Arbeitnehmer müssen ihre Existenz durch Konkurse noch verlieren, bis Sie mit solchen Sprüchen endlich aufhören, meine Damen und Herren?
Herr Kollege Ehmke — ich spreche hier auch Herrn Matthöfer an, weil ich hier sozusagen in der Tradition des Amtes stehe — —
— Gut, das können Sie als schwachen Einstand empfinden. Die Meinungen im Haus sind da geteilt, wie ich den Reaktionen entnehme.
Das spielt jetzt auch keine Rolle, Herr Conradi. Ich gehe darauf nicht ein.Ich will jetzt einmal ein Problem ansprechen, das uns alle wirklich bewegen sollte. Zu meinen Erfahrungen in den ersten Tagen gehört eben nicht nur— das galt für Herrn Lahnstein so, das galt für Herrn Matthöfer so; denn unabhängig von allen politischen Gegensätzen gibt es ja auch eine Kontinuität in der Verantwortung —, daß wir diese gewaltigen, drückenden Haushaltsprobleme haben, sondern daß sich die Zahl der Fälle häuft — ich kann das nach einer Woche sagen —, in denen die Bundesregierung und dann irgendwo in der Verantwortung für das Finanzressort der Bundesfinanzminister gefordert wird, schnell — oft ohne die nötige Zeit zur Prüfung — Bürgschaften, Gewährleistungen und Finanzhilfen für notleidende Betriebe zu unterschreiben. Ich weiß, daß das alte Kabinett aus Gründen, die ich überhaupt nicht zu kritisieren habe— ich bin mit dem Thema nicht genügend vertraut, aber ich muß mich in den nächsten Tagen neben aller Tätigkeit damit genau vertraut machen —, vor wenigen Monaten, vielleicht nur Wochen, noch einmal eine erhebliche finanzielle Hilfe für einen Bereich der notleidenden Stahlindustrie im Saarland beschlossen hat. Ich weiß, daß die Betriebe in Nordrhein-Westfalen nach einer kurzen zeitlichen Verzögerung mit Wünschen und Vorstellungen kommen. Ich weiß auch, daß das zu den schwersten Entscheidungen der Bundesregierung gehört — der alten wie der neuen. Das kann ich hier sagen, ohne eine Indiskretion zu begehen: Imersten Gespräch, das der Herr Bundeskanzler mit dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes geführt hat — ich war dabei —, wurden trotz der begrenzten Zeit doch konkret Unternehmen angesprochen. Die alte Bundesregierung hat doch diese Milliardenbürgschaft — abgerundet gesagt — für AEG beschlossen aus Gründen, die ich jetzt gar nicht bewerten und kritisieren will. Ich habe keinen Grund; ich bin nicht genügend vertraut mit den Einzelheiten. Ich muß mich vertraut machen, weil ich sozusagen das Risiko im Finanzministerium erbe. Wir haben die Entscheidung in diesen Tagen vollzogen, in wenigen Stunden. Ich habe auf den Vorgang geschrieben: Da die Entscheidung der alten Bundesregierung gefallen ist und die zuständigen Herren jetzt empfehlen, sie zu vollziehen, kann ich mich dem Vollzug nicht widersetzen. — Da gibt es ja bei aller politischen Gegnerschaft auch Kontinuität.Nur, Herr Ehmke, das sage ich zu Ihrer Bemerkung: Wenn dies eine problematische Praxis — aber manchmal eine unvermeidliche Praxis — der schnellen Einzelhilfe für Unternehmen ist, dann wissen Sie doch genau, daß die Hilfe rechtlich und materiell den Anteilseignern gegeben wird, auch wenn die Aktien — wie bei der AEG — einen Kurssturz gemacht haben. Die Hilfe geht dem Unternehmen zu, im gesellschaftsrechtlichen Sinne den Anteilseignern, aber doch nicht, weil meine Vorgänger und ich Anteilseignern — also Unternehmern, wie immer das konstituiert ist — Geschenke machen wollen, sondern weil wir wissen, daß mit dem Konkurs schreckliche weitere Wirkungen für den Arbeitsmarkt verbunden sind. Wenn das aber die Praxis war, im Einzelfall gerade jetzt einem großen Unternehmen eine Bürgschaft bis zu einem Milliardenbetrag zu bewilligen — wir müssen versuchen, neue Kriterien zu entwickeln; wir müssen wahrscheinlich die Bedingungen für solche Hilfen etwas verändern; das ist meine erste Vorstellung; ich kann derartige Hilfen in dieser schlimmen Zeit doch nicht ausschließen —, dann sollten Sie, Herr Kollege Ehmke, die Entscheidung der neuen Bundesregierung, dem gesamten Bereich des Mittelstandes und auch Teilen der Industrie, die heute weithin auch in Schwierigkeiten sind, eine Steuerentlastung von netto 1,5 Milliarden DM im ersten Jahr über die Dauerschuldzinsen bei der Gewerbesteuer zu geben, doch nicht in dieser Form hier kritisieren.
Sie haben gesagt, das seien alles — Sie haben vielleicht nicht „Geschenke" gesagt — Leistungen an Gutverdienende. Es ist doch richtiger — ich sage das auch für die Debatten vor der Bundestagswahl —, daß wir den begrenzten Spielraum ausnutzen, durch Senkung von ertragsunabhängigen Steuern weitere Konkurse, wenn möglich, zu vermeiden und dafür zu sorgen, daß der Bundesregierung und den Landesregierungen nicht jede Woche zwei Unternehmen ins Haus stehen, wo wir vor die Frage gestellt werden, entweder mit Steuergeldern Risiken einzugehen oder den Konkurs hinzunehmen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982 7285
Bundesminister Dr. StoltenbergMan muß versuchen, die Ursachen für dieses Übel ein Stück zu verringern.
Dafür ist die Senkung einer ertragsunabhängigen Steuer doch eine absolut legitime und berechtigte Maßnahme. Im einzelnen kann man fachlich darüber reden.Ich sage es auch deshalb, weil wir aus dem dann vollen Jahresaufkommen der Mehrwertsteuer im Jahre 1984 — mit Wirkung vom 1. Januar — einen weiteren Schritt in diese Richtung gehen wollen, wobei wir uns fünf Monate Zeit nehmen wollen, zu entscheiden, wo wir im einzelnen wirksam ansetzen.Die vom Bundeskanzler vorgetragenen Überlegungen für eine weitere Umstrukturierung der Haushalte und Rückführung des strukturellen Defizits, Herr Kollege Ehmke und Herr Kollege Apel, sind keine „finsteren Geheimpläne", wie Sie das offenbar im Wahlkampf nach Ihrem Probelauf sagen wollen. Sie beruhen auf der schlichten Tatsache, daß eine neue Regierung, die 80, 90 Tage vor Jahresende ihr Amt aufgenommen hat, die aus dem Stand schwerwiegende Entscheidungen in wenigen Tagen treffen mußte, die der Sachverständigenrat in der Gesamtrichtung als richtig
und in Einzelfragen als kritikwürdig bewertet hat.
— Herr Kollege Apel, wir können über dieses Dokument im November ausführlicher reden.Der angesehene Kommentator der „Stuttgarter Zeitung" — Herr Kollege Roth, das sage ich zu Ihrem Zwischenruf — hat zu Ihrem Kommentar jedenfalls gesagt, der Herr Kollege Roth müsse ein vollkommen anderes Buch als das gelesen haben, das der Sachverständigenrat vorgelegt hat.
Das war auch mein Eindruck. Das können Sie ineiner bekannten liberalen Zeitung unseres Landesnachlesen. Nächstes Mal vergleichen wir die Texte.Meine Damen und Herren, die Ausgangsdaten haben sich drastisch verschlechtert. Ich will es jetzt kürzer fassen und Ihnen sagen: Sie können im Ernst von mir heute noch nicht erwarten, daß ich eine sichere Prognose für den Haushaltsrahmen und die Neuverschuldung 1983 abgebe,
wie ich auch die Ausfüllung der Gemeinschaftsaufgaben natürlich nachholen werde, wenn wir im Parlament beschlossen haben, wie wir das machen.
Herr Ehmke wird gegen Abend — das muß ich anerkennen — wesentlich sachbezogener. In unserem Dialog hat er nämlich auch einige etwas merkwürdige Bemerkungen gemacht. Ich gehe darauf nicht mehr ein; Sie können das nicht erwarten.Wir haben seit dem Wochenende das Gutachten des Sachverständigenrates. Sie kennen die Verfahren in der Regierung. Die interministeriellen Arbeitskreise sind tätig. Wir möchten gern das Gutachten der Institute abwarten. Das wird in der zweiten Oktoberhälfte knapp werden, und wir sind bestrebt, eine Steuerschätzung vor dem 28. Oktober 1982 zu haben, dem spätesten Termin für die Kabinettsberatungen. Natürlich braucht die Bundesregierung — dies kann bei der Bedeutung der Frage gar kein einzelner Ressortminister allein — diese Unterlagen, um ihre Entscheidungen über den Rahmen und die Neuverschuldung zu treffen, und natürlich wird es ein höheres konjunkturelles Defizit geben, allein durch die Entwicklung der Bundesanstalt für Arbeit. Deswegen wird im Lichte Ihrer eigenen Beschlüsse vom Juni dieses Schlagwort vom „Totsparen" noch einmal sehr kritisch zu überprüfen sein. Natürlich wird es ein höheres konjunkturelles Defizit gegenüber dem geben, was Sie im Juni beschlossen haben. Das ist vollkommen unvermeidbar, wie jeder Kollege in diesem Hause weiß. Aber wir bemühen uns, es einzugrenzen, und daran werden sich unsere Beschlüsse ausrichten, die ich im November hier vortragen werde.Meine Damen und Herren, ich hätte noch manches mehr im Stichwortkatalog. Ich möchte Ihnen für die Aufmerksamkeit danken und Ihnen sagen: Wir stellen uns der entschiedenen Auseinandersetzung. Wir sind zur harten Auseinandersetzung bereit. Ich lade Sie ein, nach der heutigen doch noch durch Leidenschaft und Erregung bestimmten ersten Runde, was sich auch in vielen Bemerkungen zur Finanz- und Wirtschaftspolitik, z. B. des Kollegen Apel, der in den letzten Jahren durch andere Aufgaben stark in Anspruch genommen war, und des Herrn Ehmke, widerspiegelte, die Ernsthaftigkeit unserer Überlegungen und unserer Politik mehr in die Waagschale zu legen, auch in der Art, wie Sie sich dazu äußern. Dann wird es uns vielleicht gelingen, einmal wieder so zu diskutieren, wie Politiker der CDU/CSU — ich darf mich dazurechnen — in den Jahren nach 1969 mit bedeutenden Finanzpolitikern und Finanzministern der SPD diskutiert haben, mit Alex Möller — bei aller Kritik an seiner Politik, er war eine bedeutende Persönlichkeit — oder mit Karl Schiller — lesen Sie noch einmal die Protokolle nach —, von unserer Seite und von Ihrer Seite. Daran sollten Sie denken, bevor wir die nächste Runde hier aufnehmen, meine Damen und Herren!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Westphal.
Ich darf denjenigen, die die Absicht haben, bis zum Ende der Sitzung hierzubleiben, mitteilen, daß soeben vermutlich der letzte Redner das Wort erteilt bekommen hat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie haben eine Fülle von Einzelbemerkungen zu vielfältigen7286 Deutscher Bundestag — 9.Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982WestphalEinzelthemen gemacht und Argumentationen meiner Vorredner aus der sozialdemokratischen Fraktion sowie auch Polemik abgewehrt. Aber ein Konzept der Finanzpolitik des neuen Bundesfinanzministers hat gefehlt. Wir haben eigentlich erwartet — gerade von Ihnen, Herr Stoltenberg —, ein solches hier heute abend vorgetragen zu bekommen.
Ich muß auf Einzelfragen, die Sie aufgeworfen haben, mit ein paar Stichworten Antworten geben.Erstens. Herr Stoltenberg, gewiß ist es so, daß Hamburg, gerechnet auf seinen einzelnen Bürger, höher verschuldet ist als Schleswig-Holstein. Aber Hamburg ist Land und Gemeinde zusammen. Da müssen Sie schon anders rechnen.Zweitens. Gewiß ist es so, Herr Stoltenberg, daß Sie in der Frage der Gemeinschaftsaufgaben zu rudern hatten, um die anderen Länder der CDU/CSU-Seite dazu zu bringen, sich Ihrer Auffassung anzuschließen. Heute ist Herr Strauß als Ministerpräsident von Bayern sicher froh darüber; denn das ermöglicht die Mittelerhöhung beim Kanalbau. Mir ist schon klar, daß hier ein Zusammenhang besteht.Drittens. Dem, was auf Ihrer Seite zum Thema Einsparung und Rückgängigmachen durch Bundesratsentscheidungen bei milliardenschweren Gesetzen, die aus diesem Hause kamen, gesagt worden ist, ist doch wohl folgendes hinzuzufügen — nehmen wir nur das eine heraus —: Die Tatsache, daß wir kein Lärmschutzgesetz bekommen haben, heißt für die Gemeinden draußen in Zukunft, höhere Belastungen tragen zu müssen. Und zu der zweiten Tatsache, die mit dem nichtvorhandenen Lärmschutzgesetz zusammenhängt, ist zu sagen: Ihr Koalitionspartner wollte es noch teurer.Viertens. Herr Stoltenberg, jetzt komme ich zum Stichwort Rentenbetrug 1976. Ich stelle hier noch einmal fest: Die Rentner haben damals 10 % Erhöhung ihrer Renten bekommen. Von Betrug kann keine Rede sein.
Fünftens. Ich möchte gern aufgreifen, was die Kollegin Matthäus-Maier hier in ihrer Zwischenfrage verdeutlicht hat. Hier hinzugehen und zu sagen, Neuwahlen jetzt hätten bedeutet, daß es keine Möglichkeit der finanzpolitischen Entscheidungen gegeben hätte, ist in der Sache falsch. Hier hätte es eine handelnde Regierung gegeben, die bereits Gesetzentwürfe vorgelegt hatte, über die Entscheidungen möglich gewesen wären, die für 1983 tragfähig geworden wären.Wenn Sie, Herr Stoltenberg, hier sagen, Sie könnten für die Schuldenhöhe des Jahres 1983 keine sichere Prognose geben, dann nehmen wir Ihnen das ab. Aber Sie sind es gewesen, der, obwohl Sie noch gar nicht ganz im Amt waren, schon Zahlen genannt haben, ohne daß es bereits neue Wirtschaftsdaten gegeben hätte. Sie haben dabei Größenordnungen genannt, die Sie schon jetzt wieder korrigieren, ohne daß irgendeiner zur Zeit einensicheren Schluß daraus ziehen kann. Was Sie bewirkt haben, ist, Ängste zu erzeugen im Hinblick auf die Frage hoher neuer, zusätzlicher Verschuldung. Statt dessen hätten Sie warten müssen, bis Sie Fakten auf dem Tisch haben, um dann danach zu handeln.
Im übrigen: Herr Stoltenberg, Sie haben das Argument der Vertuschung — das hat mich am meisten getroffen — verwendet. Lassen Sie sich dazu bitte sagen, daß — falls Sie nicht auch davon ausgehen, daß Sie selber oder Ihr Vertreter des Landes Schleswig-Holstein im Finanzplanungsrat mit entschieden hat — als Grundlage für die Aufstellung des Haushalts 1983 die Juni-Zahlen von allen gemeinsam benutzt worden sind, auch seitens des Landes Schleswig-Holstein. Wenn Sie das schon nicht als Grundlage nehmen wollen, dann lassen Sie sich bitte von jemand, der dabei war, sagen: Ihr Kollege, der auch zu dieser neuen Regierung gehörende Wirtschaftsminister ist es, der die Verantwortung für das Korrigieren oder das Vortragen von Wirtschaftsdaten hat, aus denen die Finanzminister die Folgerungen zu ziehen haben, die sich für den Haushalt ergeben.
Ich bin damals, noch in einer gewissen Unschuld des Neuen im Amte des Ministers, im Bundeskabinett an einer sehr konkreten Stelle vorstellig geworden, als ich Sorgen hatte, daß es vielleicht mit dem Wirtschaftswachstum, das für das nächste Jahr genannt worden war, nicht stimmen könnte. Es war Herr Lambsdorff, der daraus eine Szene machte, die dazu führte, daß der „Bayernkurier" die Behauptung aufstellte, der Westphal sei noch schlauer als der Herr Lambsdorff. Ich habe das so nie geglaubt. So übermäßig möchte ich mich nicht einordnen.Aber Tatsache bleibt: Wir haben von Wirtschaftsdaten auszugehen, die uns Fachleute liefern, die die Ministerien kontrollieren. Das Wirtschaftsministerium ist es, das auch die Vorgaben dafür zu liefern hatte, daß wir heute vor neuen Zahlen stehen. Wir ahnten, daß es solche geben würde. Wir haben deshalb — das war die Anregung des Bundeskanzlers Schmidt — ein zusätzliches Gutachten verlangt, das jetzt erst vorgelegt wurde. Es gibt uns im Vergleich zu dem, was Sie uns gerade in der letzten Woche an Zahlen für Arbeitslosigkeit und Verschuldung gesagt haben, wieder neue Daten vor.
Nun zu den anderen Themen. Herr Stoltenberg, es gibt konkrete Stichworte, an denen man Glaubwürdigkeit messen kann. Inwieweit entsprechen, so möchte ich fragen, die Maßnahmen, mit denen Sie unsere kritische Situation meistern wollen, dem Grundgedanken sozialer Gerechtigkeit? Gucke ich mir an, was heute Bundeskanzler Kohl vorgetragen hat, was in der Koalitionsvereinbarung der beiden neuen Partner steht, komme ich zu der nüchternen Feststellung: Es fehlt bei der vorgesehenen Bela-
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Westphalstungsverteilung jegliches Zeichen sozialer Ausgeglichenheit.
Die Kappung des Ehegatten-Splittings ist zurückgenommen. Bei der Zwangsanleihe wird zwar der Anspruch erhoben, die Besserverdienenden in die Belastungen einzubeziehen; Tatsache ist aber: Sie soll zurückgezahlt werden. Die Kürzung der Sozialhilfe jedoch, die Verschiebung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr, die Erhöhung der Bezüge der Beamtenwitwen um 24)/0 auch erst ab Mitte des nächsten Jahres sind endgültig; da wird nichts zurückgezahlt. Wo ist da die soziale Ausgewogenheit?
Da Sie hier auf das Thema Kindergeldkappung bei Überschreiten einer gewissen Einkommensgrenze zu sprechen gekommen sind und dies als den Ausdruck sozialer Ausgewogenheit Ihres Gesamtpaketes zur Darstellung gebracht haben, lassen Sie mich dazu sagen: Wenn es um das Kappen des Kindergeldes bei Beziehern höherer Einkommen geht, würden viele von uns sehr schnell und sehr gerne ja sagen. Für den Bürger muß allerdings plausibel sein, daß das, was an Verwaltungskosten daraus entsteht, auch in einem sinnvollen Verhältnis zu der tatsächlichen Einsparung im Bundeshaushalt steht. Dies war für uns der Punkt, der uns dazu brachte, dies Instrument dann doch wegzupakken und zu sagen: Lieber keine weitere Kürzung beim Kindergeld überhaupt. Aber dies ist doch nicht Ihr Konzept. Die Diskussion über das Konzept haben Sie auf den November verschoben, Herr Stoltenberg. Das Konzept sagt: Neben dem, was Sie dort groß als soziale Ausgewogenheit verkaufen, daß nämlich die Besserverdienenden beim Kindergeld herangenommen werden, steht weiterhin der Kinderbetreuungskostenbetrag.
Und für diesen soll der Steuerpflichtige von seinen Nachweispflichten entbunden werden. Das heißt, aus ihm wird ein reiner steuerlicher Freibetrag.
Dessen Wirkung ist doch ganz eindeutig: diejenigen, die die höheren Einkommen haben, werden für ihre Kinder höher entlastet.
Das, was beim Kindergeld oben weggenommen wird — dabei wird gesagt: Guckt einmal, wie sozial wir sind! —, kriegt er auf andere Weise wieder dazu.Das geht ja weiter so. Wenn auch die Idee des Familien-Splittings in das Verfahren der umgekehrten Wirkung der Progression im Steuertarif — es geht um Entlastung nicht nur für den Ehegatten, sondern auch für die Kinder — eingeordnet bleibt, dann bleibt auch die Konsequenz — selbst wenn Sie eine kostenneutrale Lösung anstreben; man kann sich das so allerdings noch nicht vorstellen —, daß auch durch dieses Mittel die Reichen reicher gemacht werden.
Herr Kollege Westphal, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Cronenberg?
Ich habe leider keine Zeit. Sonst würde ich Herrn Cronenberg gerne eine Zwischenfrage gestatten. Die Zeit ist zu knapp.
Herr Abgeordneter Westphal erlaubt keine Zwischenfrage.
Das müssen wir ein andermal machen, Herr Cronenberg. Wir hatten ja viel Zeit zu diskutieren.
Auch die Einhaltung des Grundgedankens der Solidarität kann man als Meßlatte für Belastungsvorhaben Ihrer neuen Koalition wählen. Was ist das erste, was wir von Ihnen, von Ihren Ministern dazu hören? Da sollen, so sagt Herr Blüm, aus Betroffenen Beteiligte gemacht werden. Mir fallen dabei immer die 5 DM ein, die pro Krankenhaustag gezahlt werden sollen. Die Betroffenen, die vom Arzt ins Krankenhaus geschickt werden, sollen dadurch Beteiligte werden, daß sie nunmehr 5 DM pro Tag — und zwar 14 Tage lang — zahlen. Ich habe damals deutlich gemacht — deswegen kann ich das hier in dieser Klarheit sagen —, daß ich für die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme nicht in Anspruch genommen werden will. Ich habe sie mit zu tragen gehabt. Ich kann mich nicht aus der Verantwortung drücken. Das tue ich auch nicht. Die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme ist aber nicht einmal für diejenigen einsehbar, die im Gesundheitswesen wirklich Kostenbewußtsein zustande bringen wollen.
Jetzt kommt es: Aus Betroffenen Beteiligte machen — so lautet die Formulierung — bedeutet, daß „diese dann selbst entscheiden, für wieviel Geld sie wieviel Gegenleistung wollen". Das heißt doch: Nach der Beitragszahlung an die Krankenversicherung folgt die nochmalige Beteiligung an den Kosten der konkreten Gesundheitsleistung, und dabei bekommt dann derjenige mehr und bessere Gesundheitsleistungen, der dafür mehr zu zahlen in der Lage ist. Dies ist der Inhalt Ihrer Absichten, Herr Blüm. Das strebt die neue Regierung an. Mit Solidarität hat das nichts zu tun. Wenn das dann noch mit der Rücknahme der neuen Gebührenordnung für Ärzte einhergeht, weil man die Chefärzte doch ein bißchen besserstellen möchte, die technischen Leistungen also doch anders berücksichtigt werden sollen, damit sie ein bißchen mehr Geld in die Kasse des einzelnen bringen, dann hat das mit Solidarität nichts mehr zu tun.
Das läßt sich bei „Solidarität" nicht einordnen. Wenn Sie das bei „Subsidiarität" einordnen sollten, kann ich Ihnen nur empfehlen, einmal beim Nell-Breuning nachzulesen, was er unter Subsidiarität
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versteht. Dem könnte nämlich jeder Sozialdemokrat gern und sofort zustimmen.
Meine Damen und Herren, ich bin hier der Zeit nach begrenzt. Im Hinblick auf das, was hier noch vorgetragen werden könnte, fiele mir noch eine Menge ein. Ich habe in den letzten Wochen bei den Gesprächen draußen keine Leute getroffen, die — wie Herr Genscher uns das hier vorgehalten hat — die Ablenkungsthese bejaht hätten, erst müsse der Haushalt vorgelegt werden, erst müsse, wie es so schön hieß, „das Haus in Ordnung gebracht" werden; dann könne gewählt werden. Ich habe keine Leute getroffen, die dieses Argument akzeptiert oder mir gar entgegengehalten hätten. Mir sind immer nur Leute begegnet, die ihr Bedauern darüber zum Ausdruck brachten, daß und in welcher Manier Helmut Schmidt sein Amt als Bundeskanzler entzogen bekommen hat.
Herr Genscher, diesbezüglich hat der Wähler ein feineres Gespür für das, was zutreffend ist. Das haben die hessischen Wahlen j a wohl mit Deutlichkeit gezeigt. Der Wähler hat auch ein feineres Gespür für das Verhalten von Personen. Herr Genscher, die Glaubwürdigkeit, die Sie hier vorgeführt haben, war gleich Null. Das war doch mit Händen zu fassen. Man muß nicht den „Spiegel" gelesen haben, um zu wissen, welches Spiel Sie gespielt haben. Man braucht nur auf die Gesichter der Mitglieder der FDP-Fraktion zu gucken, die in dieser Phase politischer Auseinandersetzungen gleich uns gesagt haben: Jetzt ist der Zeitpunkt da, zu dem der Wähler das Wort haben muß. Daraus kann man erkennen, daß das, was Sie hier vortragen, nur noch die Meinung von 1,5%, aber nicht mal mehr von 3 % der Wähler ist.
Wenn ich das zusammenzufassen versuche, was seitens der neuen Koalition im Hinblick auf die Frage „Wie wollen Sie mit der kritischen Lage fertig werden?" inhaltlich gesagt worden ist, dann ist es, Herr Stoltenberg, falsch beurteilt, wollte man es als nur relativ schlimmer als die von uns mitverantworteten Einschnitte bezeichnen. Nein, dies ist eine andere, eine negative Qualität von Politik.
All Ihre Vorwürfe, die wir von CDU und CSU monatelang hören mußten, richten sich nun gegen Sie selbst: Sie wollen Steuern erhöhen, und das gleich doppelt; Sie wollen die Kreditaufnahme erheblich steigern; Sie wollen — selbstverständlich — den Bundesbankgewinn ganz einsetzen.
Sie schneiden in einer Weise in soziale Leistungsgesetze ein, daß sowohl die Rentenfinanzen — dies muß ich jetzt sagen — in Gefahr geraten als auch dabei die Last auf die Sozialhilfe übergehen kann.
Ich habe sofort gemerkt, daß Sie nun noch einmal im Unterschied zu dem Koalitionspapier nachgegriffen haben. Es steht jetzt also neu in der Regierungserklärung von heute, daß die Rentner in den nächsten Jahren einen Krankenversicherungsbeitrag tragen sollen, der gleich 2% pro Jahr gesteigert wird. Mir scheint, dahinter steckt die Erkenntnis, daß Sie dabei waren, die Rentenfinanzen in Unordnung zu bringen. Alle Achtung, Sie haben es noch rechtzeitig gemerkt — hier ist jemand, der aufgepaßt hatte —, daß die Beschlüsse, die die Sozialdemokraten mit zu verantworten haben, so gestaltet waren, daß bei den Reserven der Rentenversicherung Wasser unter dem Kiel geblieben ist. Jetzt war das so nicht mehr der Fall. Was tun Sie? Sie greifen noch einmal bei den Rentnern zu.
Sie verschieben die Lasten zwischen den sozialen Sicherungssystemen. Auch dies war ein Vorwurf, den wir von Ihnen vorgetragen bekommen haben, bis hin zu dem — das empfand ich immer als den schlimmsten Vorwurf —, der da hieß, wir würden einen Griff in die Rentenkasse machen. Was tun Sie? — Sie tun nicht nur dasselbe, Sie tun das doppelt so hoch. Sie tun es doppelt so stark.
Entscheidend aber ist: Ihr Ansatz der Politik ist ökonomisch falsch. Wir sind nicht auseinander, wenn es um die Anregung von Investitionen — private und öffentliche — geht. Darum brauchen wir uns nicht zu streiten.
Mit einiger Wehmut sehen wir, daß jetzt in dem Paket Dinge drin sind, die die Liberalen uns gegenüber nicht mitgemacht haben. Ich denke zum Beispiel an Zwischenfinanzierung von Bausparverträgen, ich denke an den sozialen Wohnungsbau in Ballungsgebieten. Dies waren ja Dinge, die zu unserem Konzept gehörten. Gucken wir auf die jetzige Lage: Was soll denn ein Unternehmer mit Förderungsmitteln des Staates machen, wenn er sieht, was mit seinen potentiellen Käufern nächstes Jahr geschieht? Der neue Arbeitsminister verkündet als erste seiner Ideen einen Lohnverzicht. Die Renten sollen erst im Juli ihre Anpassung bekommen, die Beamten nur 2% und — das habe ich schon gesagt — das erst ab Mitte nächsten Jahres. Wer ist denn dann Käufer für das, was ein Unternehmer produziert?
Wer in dieser Konjunkturentwicklung bei den Masseneinkommen Kaufkraft entzieht, der handelt ökonomisch falsch, der vertieft die Krise, der produziert nun zusätzliche Arbeitslosigkeit, statt sie zu beseitigen.
— Sie fragen mich: Was wollen Sie tun? Herr Geißler, Sie sitzen am falschen Platz.
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Das, was Sozialdemokraten tun würden, läßt sich sehr einfach in einer knappen Form zusammenfassen: Erstens. Wir stehen zur Notwendigkeit von Einschränkungen und auch von Umschichtungen in den öffentlichen Haushalten.
Das haben wir deutlich gemacht; davon weichen wir keinen Schritt ab. Nur, solchen Unsinn, wie ich ihn vorhin angesprochen habe, nehmen wir natürlich raus. Als Beispiel hierfür sei die Beteiligung der Patienten an den Krankenhauskosten genannt.
Zweitens. Wir würden in dieser Lage konjunkturelle Einnahmeausfälle und Mehrausgaben durch Kredite decken. Dies ist die sinnvolle Verhaltensweise in dieser Situation.
Drittens. Wir würden nicht erneut, so wie Sie es tun, tiefer in soziale Leistungen einschneiden. Aber wir würden zu unserem Wort stehen, die sozialen Sicherungssysteme an die veränderten Bedingungen von geringerem Wachstum und sich ungünstig entwickelndem Bevölkerungsaufbau langfristig anzupassen.
Viertens. Wir würden die von uns eingeleiteten Förderungsmaßnahmen für mehr Beschäftigung verstärken und dafür eine echte Ergänzungsabgabe zur Lohn- und Einkommensteuer erheben. Dies heißt also eben auch soziale Ausgewogenheit dadurch hinzufügen, daß diejenigen, die zu den Bes-
serverdienenden gehören, auch tatsächlich etwas beizutragen haben.
Sie haben es bei uns mit Realisten, nicht mit Illusionisten zu tun. Wir reden hier so, daß wir morgen wieder Regierungsverantwortung übernehmen können.
Dies ist unsere Position. Sie, meine Damen und Herren von der neuen Regierung, sind eine Übergangsregierung. Ob im Straußschen Sinne oder in dem Sinne, wie wir es Ihnen hier verdeutlicht haben, wird sich zeigen. Wir wollen die Wähler zu ihrem Recht bringen. Wir müssen darüber eine Entscheidung unseres Volkes, der Wähler bei Wahlen, schnell herbeiführen. — Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, für die heutige Sitzung liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor.
Zur Fortsetzung der Aussprache über die Regierungserklärung rufe ich die nächste Sitzung auf morgen, Donnerstag, den 14. Oktober, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.